Gedächtnis des Unerinnerbaren: Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse [1. Aufl.] 9783839403860

Trotz der Konjunktur der Gedächtnisthematik ist das psychoanalytische Denken erstaunlicherweise sowohl für die philosoph

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Gedächtnis des Unerinnerbaren: Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse [1. Aufl.]
 9783839403860

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Vorwort
1. Das Gedächtnis als Problem des Wissens in der Moderne. Zur Einleitung
1.1 Historisierung und Gedächtnis als Probleme der Philosophie
1.2 Zur Begriffsklärung: Speicher – Gedächtnis – Erinnerung
1.3 Medientheoretische Perspektive
2. Psychoanalyse zwischen Wissenschaftsanspruch und Medialität
2.1 Die Spannung zwischen Gedächtnis und Erinnerung in konstruktivistisch-systemtheoretischer Sicht
2.2 Jenseits von Natur- und Geisteswissenschaft? Der sinnkritische Sinn-Begriff der Freudschen Psychoanalyse
2.3 Der psychoanalytische Prozeß als Medium des Psychischen
3. Zur Theoriegeschichte des Begriffs der Assoziation und seiner Aufnahme in der Psychoanalyse Freuds
3.1 Theorie und Begriffsgeschichte der Assoziation: Vom englischen Empirismus bis zur Psychophysik
3.1.1 Assoziation als Teilvermögen der Seele: Aristoteles
3.1.2 Die Assoziation einfacher Elemente als Grundvermögen des Seelenlebens: Der englische Empirismus
3.1.3 Theoretische Konzeptionen der Assoziationsproblematik im 19. Jahrhundert
3.2 Zur Frühgeschichte der Psychoanalyse: Die Wiederkehr der Ähnlichkeit in der Hysterie
3.2.1 Psychophysik – Voraussetzung und Korrelat der Psychoanalyse: Hermann Ebbinghaus
3.2.2 Die anatomische Ortlosigkeit der psychischen Funktionen: Zur Auffassung der Aphasien
3.2.3 Unbewußte Determination von Körper und Bewußtsein: Die Studien über Hysterie
3.2.4 Foucault und Freud: Formen der Ähnlichkeit und der Assoziation
3.3 Traum und Gedächtnis: Freuds Traumdeutung und ihr Konzept einer anderen Assoziation
3.3.1 Die Bedeutung von Deutung: Verfahren der Traumdeutung
3.3.2 Assoziation und Darstellung 241 | 3.3.3 Das Subjekt des Wunsches als Subjekt der Sprache
3.4 Schlußbetrachtung: Historische Medienanalyse und Metaphorologie
4. Der psychische Apparat als Technik des Gedächtnisses
4.1 Kybernetik als Steuerung des psychischen Apparats
4.2 Übertragung
5. Aufzeichnungsmodelle des Gedächtnisses: Rilke, Schreber, Freud
5.1 Die Aufzeichnung des Unerhörten als Ausgangspunkt produktiver Assoziation. Rilkes Ur-Geräusch (1919)
5.2 Konkurrenz zwischen »Aufschreibesystem« und Schreiben. Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903)
5.3 Die Darstellung des psychischen Apparats als Erscheinung der Schrift. Freuds Notiz über den »Wunderblock« (1925)
5.4 Schlußbetrachtung
6. Vergänglichkeit. Geschichtsphilosophische und medienwissenschaftliche Perspektiven
6.1 Zur Frage des Unerinnerbaren. Hegel und Freud
6.2 Medien-Symptome. Medientheoretische Perspektiven in den psychoanalytischen Überlegungen zur KulturTechnik
6.3 Tod und Gedächtnis
7. Literaturverzeichnis
8. Personenverzeichnis

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Erik Porath Gedächtnis des Unerinnerbaren

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Erik Porath (Dr. phil.), Philosoph und Medienwissenschaftler, lebt in Berlin.

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Erik Porath Gedächtnis des Unerinnerbaren. Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse

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Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Max Geldner-Fonds und des Rektoratsfonds der Universität Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Marie José Paz: »Hier« (1994). Aus: Octavio Paz/Marie José Paz: Figuren und Variationen. Zwölf Gedichte und zwölf Collagen, Frankfurt a.M./ Leipzig 2005, S. 31. Mit freundlicher Genehmigung des Insel-Verlags. Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-386-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Danksagung 9 Vorwort 11 1. Das Gedächtnis als Problem des Wissens in der Moderne. Zur Einleitung 19 1.1 Historisierung und Gedächtnis als Probleme der Philosophie 19 1.2 Zur Begriffsklärung: Speicher – Gedächtnis – Erinnerung 36 1.3 Medientheoretische Perspektive 45 2. Psychoanalyse zwischen Wissenschaftsanspruch und Medialität 55 2.1 Die Spannung zwischen Gedächtnis und Erinnerung in konstruktivistisch-systemtheoretischer Sicht 56 2.2 Jenseits von Natur- und Geisteswissenschaft? Der sinnkritische Sinn-Begriff der Freudschen Psychoanalyse 97 2.3 Der psychoanalytische Prozeß als Medium des Psychischen 118

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3. Zur Theoriegeschichte des Begriffs der Assoziation und seiner Aufnahme in der Psychoanalyse Freuds 133 3.1 Theorie und Begriffsgeschichte der Assoziation: Vom englischen Empirismus bis zur Psychophysik 135 3.1.1 Assoziation als Teilvermögen der Seele: Aristoteles 137 | 3.1.2 Die Assoziation einfacher Elemente als Grundvermögen des Seelenlebens: Der englische Empirismus 142 | 3.1.3 Theoretische Konzeptionen der Assoziationsproblematik im 19. Jahrhundert 175 3.2 Zur Frühgeschichte der Psychoanalyse: Die Wiederkehr der Ähnlichkeit in der Hysterie 187 3.2.1 Psychophysik – Voraussetzung und Korrelat der Psychoanalyse: Hermann Ebbinghaus 187 | 3.2.2 Die anatomische Ortlosigkeit der psychischen Funktionen: Zur Auffassung der Aphasien 191 | 3.2.3 Unbewußte Determination von Körper und Bewußtsein: Die Studien über Hysterie 198 | 3.2.4 Foucault und Freud: Formen der Ähnlichkeit und der Assoziation 212 3.3 Traum und Gedächtnis: Freuds Traumdeutung und ihr Konzept einer anderen Assoziation 224 3.3.1 Die Bedeutung von Deutung: Verfahren der Traumdeutung 224 | 3.3.2 Assoziation und Darstellung 241 | 3.3.3 Das Subjekt des Wunsches als Subjekt der Sprache 265 3.4 Schlußbetrachtung: Historische Medienanalyse und Metaphorologie 283 4. Der psychische Apparat als Technik des Gedächtnisses 297 4.1 Kybernetik als Steuerung des psychischen Apparats 299 4.2 Übertragung 326

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5. Aufzeichnungsmodelle des Gedächtnisses: Rilke, Schreber, Freud 353 5.1 Die Aufzeichnung des Unerhörten als Ausgangspunkt produktiver Assoziation. Rilkes Ur-Geräusch (1919) 354 5.2 Konkurrenz zwischen »Aufschreibesystem« und Schreiben. Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) 375 5.3 Die Darstellung des psychischen Apparats als Erscheinung der Schrift. Freuds Notiz über den »Wunderblock« (1925) 415 5.4 Schlußbetrachtung 435 6. Vergänglichkeit. Geschichtsphilosophische und medienwissenschaftliche Perspektiven 437 6.1 Zur Frage des Unerinnerbaren. Hegel und Freud 440 6.2 Medien-Symptome. Medientheoretische Perspektiven in den psychoanalytischen Überlegungen zur KulturTechnik 476 6.3 Tod und Gedächtnis 490 7. Literaturverzeichnis 505 8. Personenverzeichnis 535

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DANKSAGUNG

Danksagung

Um nicht dem Ende des Textes vorzugreifen, hier keine Versicherung, diese Studie selbst verfaßt zu haben, was im juristischen Sinne durchaus richtig wäre. Aber im Sinne einer Genese des Textes ist dies alles andere als eine klare Angelegenheit: Denn wer ist dieses Selbst, das da geschrieben hat? Natürlich kann und will ich nicht nahelegen, ich sei es nicht gewesen. Aber wer ich währenddessen gewesen bin, ist nicht leicht zu sagen. Der Text blickt schon von fern zurück, nicht erst vom Papier des Ausdrucks, sondern bereits vom Bildschirm, ganz zu schweigen von den ersten Notizen, die hastig auf einem Zettel zu Papier gebracht wurden. Nachträglich beschleicht einen das Gefühl, es sei ein anderer, der den Griffel geführt und die Tasten gedrückt habe. Oft versteht man sich selbst nicht mehr, und die Erinnerung bringt nicht immer einen deutlichen Zusammenhang zustande. Die Erfahrung des Schreibens legt mir nahe, als hätte weniger ich dem Text vorgeschrieben, vielmehr der Text mir – als folgte man Notwendigkeiten, die man nicht in der Hand hat, denen man sich einfach nur fügen kann. Aber natürlich schreibt sich die Arbeit nicht von selbst. Und es war viel Arbeit – auch für andere. Einiges davon ist tatsächlich in den Text eingegangen, vieles umsonst gewesen und verloren. Das Resultat ist also nur ein unvollkommener Speicher – kein detailgenaues Protokoll, das unlesbar wäre, selbst für den, der es aufzeichnete. Als Aufzeichnung jedoch, die aus Mühe so und nicht anders hervorgegangen ist, gibt der Text hoffentlich nicht nur dem Autor Gedächtnis. Dessen Name muß nun die Verantwortung für jedes Wort und den Text im Ganzen übernehmen, wenn auch nicht alle Aussagen allein aus seiner Feder stammen. Dies gehört schließlich zum wissenschaftlichen Usus, nämlich mit Zitaten an andere zu erinnern. Denen nicht auf diese Weise schon eine Referenz erwiesen worden ist, sei hier herzlich dafür gedankt, daß sie aktiv oder unwissentlich auf die eine oder andere Weise beigetragen haben. Dieses Gedenken kann nur unvollständig und unzureichend sein, nicht nur wegen der Begrenztheit der subjektiven Erinnerung, sondern weil sich die Pfade der Bildung im Unscheinbaren und Ununterscheidbaren verlieren. Ich danke Georg Christoph Tholen und Emil Angehrn (Universität Basel), daß diese Dissertation nach einem langen Weg bei ihnen eine Adresse und die dazugehörige Unterstützung und freundliche Aufmerksamkeit gefunden hat. Unter meinen akademischen Lehrern möchte ich neben Jörg Zimmermann und Martin Suhr besonders Herbert Schnädelbach, der mir die historische Dimension philosophischer Probleme – immer donnerstags, 16.15 bis 17.45 Uhr – 9

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

vermittelt hat, und Bernhard Taureck dankbar erwähnen, der mich in neue Horizonte der Französischen Philosophie eingeführt hat. Ohne langjährige selbstorganisierte Arbeitsgruppen in verschiedenen Konstellationen wäre mein universitäres Studium nicht vorangekommen, wobei als wichtigste das Doktoranden-Kolloquium – mit Kirsten Hebel, Susanne Lang, Margret Lohmann, Angelika Sander, Andreas Schelske, Nicole Schmidt, Christian Thies, Heinz Watzka – zu nennen ist; dann ein Lektürekreis – ausgehend von Winfried Marotzki, mit Kirsten Hebel, Thorsten Meiffert, Walter Reese-Schäfer, Christoph Koller u. a. –, in dem Hauptwerke von Dilthey, Husserl, Lyotard, Hegel, Kant Absatz für Absatz gelesen wurden – der Grundstock meines Ideenfundus; und eine Lacan-Lesegruppe, die mir einen Weg in die Écrits eröffnete und in der mir besonders Karl-Josef Pazzini nachhaltig den Zusammenhang psychoanalytischer mit ästhetischen und bildungstheoretischen Fragestellungen nahegebracht hat. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Gunther Otto und dem Graduierten-Kolleg »Ästhetische Bildung« der Universität Hamburg sowie Sigrid Weigel und dem Zentrum für Literaturforschung Berlin sei für jene Unterstützung herzlich gedankt, die eine Konzentration auf den Schreibtisch ermöglicht hat, die ich nicht ganz konsequent, aber letztlich zielführend nutzen konnte. Die Druckkosten wurden freundlicherweise vom Max Geldner-Fonds und vom Rektoratsfonds der Universität Basel unterstützt. Aufmerksame Lektüren mit hilfreichen Anmerkungen verdanke ich unter anderem Ute Holl und Sam Weber. Auch meinen beiden Familien danke ich sehr für ihren Langmut und ihre Diskretion, mit der sie mein langwieriges Tun ertragen und tatkräftig unterstützt haben. Besonders hervorgehoben sei Kirsten Hebel, der ich ein langes Gespräch verdanke, das trotz allem nie abgerissen ist: Für ›mein Kantverständnis‹ und vieles, vieles mehr, für das Worte nicht ausreichen – herzlichen Dank. Schließlich und am wichtigsten: Ohne Ulrike Vedder wären nicht nur diese Zeilen nicht, sondern der ganze Text und vieles andere nicht so, wie es jetzt ist. Ihrer Geduld und Hartnäckigkeit habe ich es zu verdanken, daß ich in Sachen Promotion zu einem Ende finden konnte. Sowohl in den inhaltlichen Diskussionen wie auch in allen technischen Fragen stehe ich tief in ihrer Schuld. Die aufmerksame Begleitung und die wiederholten Anstöße zum Weitermachen waren der Treibstoff, mit dem ich die Arbeit vollbringen konnte. Ohne geschickte Liebe ging es nicht. Dieses Buch widme ich Dir, liebe Ulrike.

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VORWORT

Vorwort In der nun schon zwei Jahrzehnte andauernden Konjunktur der Gedächtnisthematik – die die Medien des Gedächtnisses einschließt – bleibt die Rolle des psychoanalytischen Denkens an entscheidenden Punkten merkwürdig unberücksichtigt, obwohl kaum eine andere Theorie und Praxis geeigneter scheint, zur Klärung aktueller Probleme beizutragen – seien diese nun auf dem Feld der Politik, insbesondere des Umgangs mit umstrittenen Vergangenheiten, oder der Wissenschaften, wie z. B. der Hirnforschung, angesiedelt. Und kaum eine andere Theorie ist so prädestiniert, erneut einer Aufklärung des Gedächtnisses zuzuarbeiten oder hierfür wenigstens als hervorragendes Beispiel zu dienen, weil die Psychoanalyse sich grosso modo als Erinnerungsverfahren und -theorie begreifen läßt. Ausgehend vom Modus der Erinnerung und seiner Störung entfaltet sie ihre therapeutische Wirksamkeit, und vermittels der Erfahrung des Erinnerns entwirft sie ihre theoretischen Modelle vom Funktionieren der Seele. Dabei kann sie sich auf die lebensweltlich vorfindlichen Phänomene von Erinnerung und Gedächtnis berufen, die in ihrer kultur- und persönlichkeitsbildenden Funktion nicht hoch genug veranschlagt werden können1. Zudem ist sich die Freudsche Psychoanalyse – im Gegensatz zu den meisten Strömungen der modernen Psychologie – der historischen Bezüge ihrer eigenen Forschung bewußt (man lese z. B. den fast hundertseitigen Überblick über »Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme« zu Beginn der Traumdeutung). In dieser historischen Dimension ist ein bleibendes Verdienst der Psychoanalyse ihre Neuformulierung des Unbewußten, die bis heute immer wieder Anlaß zu kontroversen Stellungnahmen bietet, denn mit ihr sind weitreichende Konsequenzen für das Erinnern und die Verfassung des Gedächtnisses im engeren Sinne verbunden, aber auch für das Wissen des Menschen im allgemeinen, wie es sich in der Praxis und den Hervorbringungen der Kultur dokumentiert. Eine von aktuellen Theorieentwicklungen und Problemstellungen ausgehende Erörterung psychoanalytischer Denkmodelle kann wichtige Beiträge leisten: einerseits zur Rekonstruktion der ›ungeschriebenen‹ Freudschen Gedächtnis-

1. So setzt z.B. Richard Rorty die Genese des Gewissens mit Erinnerung in einen Zusammenhang, der von psychoanalytischen Einsichten erhellt werden könne (vgl. Rorty 1984). 11

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

theorie2, andererseits zur Bereicherung der gegenwärtigen Perspektive auf die Erinnerungs- und Gedächtnisproblematik. Durch eine historische Perspektivierung und den Bezug auf den gegenwärtigen Theoriestand soll die ›Entdeckung‹ Freuds genauer verortet werden, um zugleich andere Aspekte für die aktuelle Theorielandschaft zu gewinnen. Findet man nämlich auf der einen Seite eine neue (medientheoretisch informierte) Herangehensweise an die Entwicklung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud, indem man sie nicht nur vor dem Hintergrund zeitgenössischer Konkurrenzmodelle, sondern auch mit heutigen Debatten um Systemtheorie, Konstruktivismus und Medienwissenschaft liest, so ergeben sich umgekehrt wichtige Einsichten für die heutigen Theoriekonstellationen. Denn mit der Denkfigur des Unbewußten hat Freud einen nachhaltigen Denkanstoß gegeben, der sich – wenn auch nicht ohne Verluste an praktischen und theoretischen Erfahrungen sowie an sprachlichen und visuellen Thematisierungs- und Darstellungsmöglichkeiten – in andere Theoriefelder übertragen läßt. Damit können Freuds Strategien bei der Entwicklung eines theoretischen Verständnisses für die Phänomene, mit denen ihn zunächst seine Praxis als Arzt konfrontierte, als medial vermittelt lesbar gemacht werden: Der psychoanalytische Prozeß selbst läßt sich als ein mediales, vorrangig sprachvermitteltes Geschehen auffassen, und die Modelle, die Freud für den sogenannten ›psychischen Apparat‹ entwirft, nutzen oft technische Metaphern und sind nicht ohne Bezug auf Kommunikationsmedien und Modellbildungen in den Wissenschaften zu Freuds Zeiten denkbar. Insofern setzt sich diese Arbeit zum Ziel, einen Beitrag zur Medien- und Diskursanalyse der Psycho-Logik des Gedächtnisses um 1900 zu leisten. Anhand von Praxis und Theorie Freuds, die als Ansatzpunkt dienen, sollen zunächst die diskursiven Bedingungen der Psychoanalyse wie umgekehrt die (außerdiskursiven) Voraussetzungen ihres Diskurses auf dessen Möglichkeiten hin befragt werden. Die Abhängigkeit der Psychoanalyse von geltenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Praktiken und von Technik wird zugleich als Hinweis zur Befra-

2. Damit ist keine Rekonstruktion i.S. der Wiederherstellung oder des Nachvollzugs von etwas gemeint, daß es ›eigentlich‹ geben müßte oder sollte (was Freud ja selbst im Hinblick auf die Frage des Gedächtnisses für eine ernsthafte psychologische Theorie gefordert hatte). Vielmehr geht es um das Aufzeigen der Gründe, die Freud nicht zur Ausformulierung einer eigenen psychoanalytischen Gedächtnistheorie geführt haben. An die Stelle einer der psychologischen Theorie des Gedächtnisses äquivalenten psychoanalytischen Gedächtnistheorie ist eine Praxis der psychoanalytischen Kur getreten, für die »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« als die Modi des psychoanalytischen Prozesses benannt werden. Dabei wird das Verhältnis von begründender (oder grundlegender) Theorie, welche der Therapeutik logisch und praktisch vorgeordnet wäre, und einer daraus abzuleitenden Praxis der psychoanalytischen Arbeit von Freud nicht einfach umgekehrt, sondern selbst neu in Beziehung gesetzt. Das berühmte ›Junktim‹ von ›Heilen und Forschen‹ ist dabei die wissenschaftstheoretische Chiffre, unter der diese Beziehung in der Psychoanalyse erscheint. 12

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VORWORT

gung psychologischer und philosophischer Modelle der Seele um 1900 dienen, die in ähnlicher Weise von Bedingtheiten innerhalb der zeitgenössischen Diskursformation getragen sind, weil sie sich als zum selben Dispositiv zugehörig erweisen. Hierbei ist an die sich institutionell durchsetzende empirische Psychologie zu denken, wie sie z. B. Ebbinghaus im deutschen Sprachraum vertritt, sowie an den Dichter Rilke und den paranoischen Gerichtspräsidenten Schreber. Deshalb gilt es im Zusammenhang dieser Arbeit, eine medientheoretische Lektüre der Psychoanalyse des Gedächtnisses und von Erinnerungsvorgängen zu unternehmen, um die psychoanalytische Erfahrung an die aktuellen Überlegungen zur Medialität des Gedächtnisses anzuschließen. Zugleich soll der konstruktivistischen Sicht auf das ›System des Psychischen‹ eine gleichsam dekonstruktive Strategie entgegengesetzt werden, die dem Verdrängten, d. h. dem Unbewußten – das als Begriff auch theoretisch bzw. wissenschaftsgeschichtlich verdrängt ist –, als demjenigen Geltung verschafft, das eine Schließung des Psychischen immer wieder hintertreibt, sei es eine operationale Schließung von Systemen oder eine theoretische Schließung von Modellen. Um die damit angezeigte unvermeidliche Unvollständigkeit zu begründen, sind medientheoretische Überlegungen mehr als geeignet. Denn um der Eingebundenheit psychischer Subjekte in kommunikative und soziale Zusammenhänge, in denen Erinnerungsprozesse vollzogen werden, nachzugehen und so dem »methodischen Solipsismus« (Karl-Otto Apel) zu entgehen, muß gezeigt werden, inwiefern Subjektivität immer schon vermittelte, nämlich durch Medien vermittelte Subjektivität ist. Dabei kann dann um den Begriff der Übertragung herum die spezifische Arbeitsweise der medialen Selbstund Weltgestaltung psychischer und sozialer Subjekte erforscht werden. Nicht nur die Frage nach der Subjektivität, sondern insbesondere die Gedächtnisproblematik wird ja seit längerem in der Perspektive der Medienwissenschaft betrachtet: Der in den letzten zwei Jahrzehnten entstandene interdisziplinäre Boom des Gedächtnis- und Erinnerungsthemas in den natur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen (von der Medizin über die Psychologie bis zu Politik und Geschichte) hat auch die Medien des Gedächtnisses thematisiert.3 Damit sind zugleich Fragen der Materialität der Artikulation4 angesprochen, die als individuell und gesellschaftlich relevante Vermittlungsinstanz nicht nur für eine Praxis von Handlungen aufgezeigt werden kann, sondern die selbst eben immer auch eine stofflich-technische Seite aufweist. Der Begriff der Medien, der hier im Ausgang von Fritz Heiders bahnbrechendem – und selten rezipiertem – Aufsatz aus dem Jahr 1926 gefaßt wird,5 bietet sich hier als derjenige an, der die Vielschichtigkeit dieser Problematik am ehesten aspektreich zur Darstellung zu bringen vermag.

3. Vgl. zusammenfassend Assmann/Assmann 1994. 4. Der Begriff der Artikulation geht nicht vollständig im Begriff der Kommunikation auf, da nicht alles, was überhaupt differenziert ist, schon der komplexeren Sphäre der Kommunikation zugeschrieben werden kann. 5. Heider 1926, vgl. Kap. 1.3. 13

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

In der Arbeit an Problemen der Gedächtnistheorie drängen sich auch (radikal-)konstruktivistische Ansätze auf. Dabei lassen sich in konstruktivistischer Perspektive einige der klassischen philosophischen und psychologischen Problemstellungen bzgl. Erinnerung und Gedächtnis in neuem Licht betrachten, ohne daß hiermit allzu hohe Erwartungen verbunden werden müssen.6 Insbesondere scheint sich jedoch eine größere Nähe zwischen empirisch arbeitenden Ansätzen (z. B. in Hirnforschung und Psychologie) und methodologisch-reflexiven Theorieansätzen zu ergeben, was einen bedingten Vorteil darstellen kann, solange es sich nicht schlechthin um eine Naturalisierung des Geistes oder eine Empirisierung der Erkenntnistheorie handelt.7 Vorteilhaft erscheint zudem, daß philosophische und psychoanalytische Überlegungen sich ihrerseits auf eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Wissenschaftsentwicklungen einlassen müssen. Aber ebenso ist ein höheres Reflexionsniveau in den Wissenschaften insgesamt gefordert. Lektüren radikalkonstruktivistischer Ansätze können nicht nur zu weiteren (z. B. erkenntnistheoretischen) Fragen führen, sondern zu einer vertiefenden Auseinandersetzung mit den methodologischen Grundsätzen in den Gedächtnistheorien herausfordern. Die Problemstellung von Gedächtnis und Erinnerung hat in den letzten zwei Jahrzehnten sowohl für konstruktivistische als auch für systemische Modellbildungen Anlaß gegeben, eröffnet jedoch auch eine für diese Arbeit interessante neue Perspektive auf die Psychoanalyse (Kap. 2). Um allerdings nicht von vornherein in zu große Nähe zu psychoanalytischen Positionen zu kommen, werden zeitgenössische Positionen aufgesucht, die produktiv in einen theoretischen Dialog mit den psychoanalytischen Problemstellungen gebracht werden können. Hierfür bieten sich der Radikale Konstruktivismus und die Medientheorie an, da sie als theoretische Bezugsgrößen bei der Modellbildung sowohl in der Hirnforschung (Roth) als auch in der Soziologie (Luhmann), Psychologie (Stadler/Kruse) und Geschichtsschreibung herangezogen werden, sobald es um Fragen der Beziehung zu Zeit und Vergangenheit geht. Deshalb wird es im folgenden unternommen, die systemtheoretischen Möglichkeiten zur Thematisierung des Psychischen zu entwickeln und dabei eine Orientierung an den Grundbegriffen Bewußtsein, Kommunikation und Erinnerung zu finden. Dabei treten gewisse Unvollständigkeiten auf, die jedoch nicht einfach als Fehler dieses Ansatzes, sondern als systematische Schwierigkeiten jeglicher Theoriebildung zum Psychischen ausgewiesen werden können. Hier kommt dann auch eine Verbindung von Psychoanalyse und Systemtheorie bzw. Konstruktivismus und Medientheorie zum Zuge, die verschiedene Möglichkeiten bie-

6. Die oft behauptete Innovativität des Radikalen Konstruktivismus hat ihm zwar zu einer beträchtlichen Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen und mehr noch in der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit verholfen, vieles davon läßt sich jedoch, wie zumeist bei solch aufgeregten Debatten um das Neueste vom Neuen, mit älteren Traditionen in Verbindung bringen. 7. Vgl. hierzu die kleine Debatte am Beispiel der Hirnforschung: Wendel 1994, Roth 1995, Rusch 1995; s.a. Keil/Schnädelbach 2000. 14

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VORWORT

tet: Einerseits können bestimmte Fragestellungen der Psychoanalyse vor der zeitgenössischen Diskussion um Selbstorganisation (Autopoiesis) und Medialität reformuliert werden, um aufzuzeigen, daß Freud methodisch weder so naiv ist, wie er oft gelesen wird, noch daß er hinter den heute anerkannten Standards erkenntnistheoretischer Fragen der Wissenschaft(en) des Psychischen zurückbleibt (man denke an konstruktivistische Momente und mediale Modellbildungen in Freuds Denken); dabei geht es also darum, die Potentiale psychoanalytischen Denkens, wie man sie im Werk Freuds finden kann, wieder in die gegenwärtige Diskussion einzuführen. Andererseits läßt sich eine gewisse Kritik von der Psychoanalyse aus an bestimmten Einseitigkeiten sowie an der Konjunktur des Radikalen Konstruktivismus formulieren (Stichworte: Kognitivismus und Pankonstruktionismus) (Kap. 2.1). Trotz aller theoretisch-konstruktiv(istisch)en Radikalität, die sich gänzlich auf internalistische Begriffe und Operationen zu stützen versucht, führt die Gedächtnis-Problematik jenes Moment der Andersheit in alle hinreichend komplexen Formen der Selbstorganisation des Lebendigen bzw. selbstreferentieller Systeme ein, das deren tatsächliche Dezentrierung bedeutet. Einen zentralen Fokus der theorie- und wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung der Psychoanalyse Sigmund Freuds bilden Phänomen und Begriff der Assoziation (Kap. 3). Die kleine begriffsgeschichtliche Studie zur Vorgeschichte und Theorie des modernen Begriffs der Assoziation (Kap. 3.1) mündet in eine detaillierte Darstellung der psychoanalytischen Assoziationstheorie (Kap. 3.2 und 3.3), die insofern notwendig ist, als es zu verstehen gilt, auf welche Traditionen Freud die Erfahrungen in seiner eigenen Praxis beziehen konnte und wie er diesen theoretischen Bestand zugleich transformierte. Die Analyse der Assoziation stellt außerdem ein zentrales Moment jeglicher Gedächtnis- und Erinnerungsproblematik dar, da man einerseits von einer vielfältigen Phänographie psychischer Erlebnisse ausgehen kann, um deren Strukturmuster, Dynamik und Antriebsmomente sowie Ökonomie herauszuarbeiten; andererseits gibt es eine philosophische und psychologische Tradition der Assoziationstheorie, wodurch im historischen Vergleich Elemente für eine systematische Theorie des Psychischen gewonnen werden können, in deren Rahmen dann auch eine angemessene Beurteilung dessen geleistet werden kann, was Freud mit seiner Psychoanalyse beigetragen hat. Insbesondere in der Traumdeutung entwickelt Freud sein Modell der Assoziation als integrales Moment der Problematik des Träumens (Kap. 3.3). Schon in Freuds frühen Veröffentlichungen der 1890er Jahre kann man nachweisen, daß die Analyse der Assoziation sowohl in sprachlicher und sprachlich-pathologischer Hinsicht (Zur Auffassung der Aphasien, 1891) wie in psychopathologischer Hinsicht (Studien über Hysterie, 1895, später Psychopathologie des Alltagslebens, 1901/ 1904) entfaltet werden kann (Kap. 3.2). Aber erst mit den Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912) und den anderen sog. behandlungstheoretischen Schriften der Folgezeit tritt der praktische Bezug der psychoanalytischen Erfahrung und Theoretisierung, der implizit und faktisch seit Beginn des Freudschen Wegs wichtig war, angemessen in den Horizont einer theoretisch-reflexiven Einschätzung der Psychoanalyse. Erst mit der Ausarbeitung der Übertra15

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

gungsproblematik und ihrer praktisch-therapeutischen Dimension bekommt die Freudsche Psychoanalyse ein angemessenes Verständnis und Instrumentarium für den Umgang mit den Phänomenen der analytischen Kur an die Hand (Kap. 4.2). Als Ergänzung dessen ist – einerseits erweiternd und andererseits rahmend – der Begriff des Gedächtnisses nötig, um Assoziationsvorgänge innerhalb eines Modells des Psychischen zu erörtern, wie es in der Psychoanalyse vorgelegt worden ist, deren theoretische Potentiale – insbesondere für die aktuellen Debatten – ich für nicht ausgeschöpft ansehe. Deshalb ist das zentrale Anliegen dieser Arbeit eine philosophische und medientheoretische Relektüre der ungeschriebenen psychoanalytischen Gedächtnistheorie im Werk Freuds. Bei Freud findet man viele Einsichten und Beobachtungen zu Phänomenen des Erinnerns und Vergessens, ja sogar die Forderung, daß eine einigermaßen respektable psychologische Theorie immer auch eine Erklärung des Gedächtnisses liefern können müsse (so im Entwurf einer Psychologie, 1895). Was man jedoch nicht findet, ist eine ausgearbeitete Darstellung der Gedächtnisproblematik. Die Implikationen allerdings der Freudschen Einsichten, zunächst gewonnen aus seiner psychoanalytischen Praxis, erscheinen mir wichtig genug und zugleich zu wenig berücksichtigt, als daß man sie einfach ignorieren sollte oder könnte. Vielmehr können psychoanalytische Einsichten die zeitgenössische Debatte zu Fragen von Erinnerung und Gedächtnis bereichern. Im einzelnen wird hier eine Analyse der Freudschen Idee des psychischen Apparats vorgelegt, in der die systematischen Anstrengungen Freuds zur Darstellung des psychischen Geschehens kulminieren (Kap. 4.1). Auch der sog. Entwurf einer Psychologie (1895) bildet einen frühen systematischen Versuch zu einer Gesamtdarstellung psychischer Vorgänge und Strukturen, der allerdings in Anlehnung an streng naturwissenschaftliche Prinzipien in mehrerlei Hinsicht hinter den späteren Einsichten Freuds (seit der Traumdeutung 1900) zurückbleibt: Weder die praktische Dimension der psychoanalytischen Erfahrung noch die kulturtheoretischen Voraussetzungen des psychischen Geschehens finden dort gebührend Berücksichtigung, obwohl Freud sie doch vor deren Hintergrund entwickelt hat. Diese Beobachtung gründet sicher in seinem damaligen Vorhaben, eine »Psychologie für Physiologen« zu schreiben, die sich allein auf die – in der Naturwissenschaft seiner Zeit – anerkannten Paradigmen theoretisch-experimenteller Methoden und Wissensbestände stützen sollte. Interessant ist allerdings, auf welche Art und Weise Freuds Unternehmung 1895 scheitert und von ihm aufgegeben wird.8 Zur historischen Verortung der Psychoanalyse im diskursiven Umfeld um 1900 dienen drei exemplarische Untersuchungen in medientheoretischer Perspektive, die zeitgenössische Verfahren und Phantasmen der Aufzeichnung als Modelle des Gedächtnisses analysieren. Hierbei handelt es sich um je spezifische Apparate (den phonographischen von Rilkes Ur-Geräusch, den bürokratisch-phan-

8. Vgl. hierzu Wegener 2004. 16

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tasmatischen von Schrebers Aufschreibesystem und den Wunderblock Freuds), die den technisch-medialen Aspekt der Thematisierung des Gedächtnisses und den pragmatischen Gebrauchsaspekt des Medialen mit der Frage nach dem Subjekt verbinden (Kap. 5). Im abschließenden Kapitel wird dann die Verbindung zwischen der eher individualpsychologischen Perspektive, die ja zunächst den Ausgangspunkt psychoanalytischer Forschung bildete, und dem Feld sozialer und kollektiver Phänomene hergestellt. Eine begriffliche Unterscheidung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Vergangenheitsbezug führt in die Problematik ein, die sich zwischen einer philosophischen und einer psychoanalytischen Rekonstruktion des Erinnerns, genauer gesagt zwischen einer geschichtsphilosophischen und einer individualpsychologischen Perspektive (Hegel und Freud) ergibt (Kap. 6.1). Als Ausblick fungieren dann eine Darstellung der Freudschen Auffassung der Technik als Element der Kultur sowie eine Erörterung von Freuds Überlegungen – um nicht zu sagen: Meditationen – über Endlichkeit, Tod und Gedächtnis (Kap. 6.2 und 6.3). In allen drei Abschnitten geht es letztlich um Probleme der Bildung von Traditionen und einer zeitübergreifenden Kontinuität in der Kultur. Diese Fragen werden jedoch in die Perspektive des einzelnen Subjekts gestellt und auf die radikale Möglichkeit der Vergänglichkeit bezogen. Tod und Gedächtnis sind die Instanzen, an denen sich für den Einzelnen wie für Kollektive in radikaler Weise das Überleben entscheidet.

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1. Das Gedächtnis als Problem des Wissens in der Moderne. Zur Einleitung 1.1 Historisierung und Gedächtnis als Probleme der Philosophie »Jede gemeinschaftliche Untersuchung leidet am Anfang durch die schwere Aufgabe, einen Anknüpfungspunkt zu finden.« Friedrich Schleiermacher Die Konzepte der Erinnerung und des Gedächtnisses bezeichnen nicht nur einige der faszinierendsten psychischen Phänomene überhaupt. Vielmehr sind die mit ihnen verbundenen philosophischen Problemstellungen Grundfragen, die sich durch den Wandel der Zeiten erhalten haben, weil die Antwortversuche sich als vorläufig oder unbefriedigend erwiesen, aus welchen Gründen auch immer. Um die Frage nach dem Gedächtnis philosophisch neu zu stellen, ohne sich in unverbindlicher Allgemeinheit zu verlieren, zu der der bloße Begriff einladen mag, gilt es, mit spezifischen Leitkategorien einen problemorientierten Zugriff zu ermöglichen und innerhalb der Vielfalt theoretischer Positionen, die für das Nachdenken über Gedächtnis und Erinnerung relevant sind, Schwerpunkte zu setzen, um die herum sich Darstellung, Analyse und Problematisierung orientieren und organisieren lassen. Eine befriedigende elaborierte Theorie des Gedächtnisses liegt gegenwärtig in keiner wissenschaftlichen Disziplin vor.1 Dies – so eine der Ausgangsthesen der vorliegenden Arbeit – gründet sicher auch darin, daß in der Entwicklung der wissenschaftlichen Gedächtnisforschung im 20. Jahrhundert der verbindende Faden zur philosophischen Tradition (wenn auch einst mit guten Gründen) durchschnitten wurde und erst seit wenigen Jahren wieder aufgenommen worden ist. Zur philosophischen Gedächtnistheorie bemerkte Glanville noch 1988 trok-

1. Vgl. Baecker 1991, 341 sowie Schmidt 1991. Zur neueren Literatur zum kulturellen, kommunikativen, kollektiven, sozialen, biologischen und psychischen Gedächtnis vgl. Kap. 1.2. 19

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ken: »Dieser Ansatz ist in letzter Zeit nicht mehr sehr entwickelt worden.«2 Stattdessen haben sich sowohl die medizinisch-naturwissenschaftliche Hirnforschung, die stark kognitionswissenschaftlich-experimentell orientierte Psychologie und – mit einer weiten Streuung – die ehemals als Geisteswissenschaften zusammengefaßten und heute zumeist unter dem Oberbegriff der Kulturwissenschaften firmierenden Disziplinen dem Thema des Gedächtnisses zugewandt und eine Flut von Publikationen hervorgebracht.3 Wie ist dieses starke, breitgestreute Interesse an Gedächtnis und Erinnerung zu erklären?

Zu Aktualität und Vorgeschichte der Reflexion über Gedächtnis und Erinnerung Unmittelbare Gründe sind sicher in der aktuellen geschichtlichen Situation zu suchen, die sich als eine Umbruchphase begreifen läßt – und auch als solche empfunden wird. Im politischen Sinne markiert der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus das Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit für Europa, das sich durch die Blockkonfrontation in einer weltpolitischen Pattstellung der Systeme festgefahren hatte. Die historischen Zeitgenossen des Zweiten Weltkriegs und der Shoa, die ihre Erfahrungen weitergeben könnten, sind eine aussterbende Generation. Die wirtschaftlich und technisch bedingten Umbrüche in globaler Perspektive (Globalisierung, neue elektronische Medien) lösen ältere gesellschaftliche Bande auf, ohne daß sich eine verschiedentlich geforderte, hier und da schon angekündigte Neue Weltordnung wirklich etabliert hätte. Alle genannten Faktoren tragen dazu bei, daß die nachfolgenden Generationen sich fragen müssen, wie sie mit ihrer geschichtlichen Herkunft, ihren Traditionen und ihrem Erbe umgehen wollen, da nur die Überlebenden qua Zeitzeugenschaft eine Erinnerung an das Vergangene wachzuhalten vermögen. Gedächtnis für andere hingegen kann durch Aufzeichnungen und Dokumente gestiftet werden, es vermittelt also ein Wissen von Vergangenem, ohne subjektive Erinnerung des Vergangenen zu sein (zur Begriffsklärung vgl. Kap. 1.2). Mit der Umstellung auf neue kulturelle Leitmedien wie die computergestützte elektronische Kommunikation zeichnet sich zudem in aller Dramatik das Problem der Überlieferung und Übertragung von Wissensbeständen ab. Das Fortleben von Kulturen und Gesellschaften ist mit Fragen von Identität und Differenz konfrontiert, welche sich nicht ohne den Rückgriff auf das Gedächtnis der Vergangenheit klären lassen. Je schneller

2. Glanville 1988, 30. Auch in Assmann/Harth 1991 findet sich die Klage gegenüber philosophischen Ansätzen, sie würden in der Regel den Kontakt zu den avancierten Wissenschaftsentwicklungen vernachlässigen und sich im Allgemein-Unverbindlichen aufhalten. 3. Hier in gebotener Kürze einen Überblick geben zu wollen, ist aussichtslos. Ich nenne nur einige wichtige Bände: Schmidt 1991, Haverkamp/Lachmann 1991, Assmann/Hölscher 1988, Assmann/Harth 1991, Pöppel 2000, Welzer 2002, Echterhoff/Saar 2002, Markowitsch 2002. Neuere Beiträge von Fachphilosophen sind vergleichsweise rar, vgl. z.B. Ricœur 1998, Theunissen 2001. 20

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sich die geschichtlichen Veränderungen vollziehen, desto größer ist der Bedarf an epochenübergreifenden Perspektiven und damit an historischem Bewußtsein. Neben diesen grundlegenden Orientierungsfragen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenlebens sind es darüber hinaus auch wissenschaftlichtechnische Entwicklungen, die das Interesse an Erinnerung und Gedächtnis befördert haben. Die rasanten Fortschritte in der medizinisch-biologischen Technologie in den letzten drei Jahrzehnten lassen neue Darstellungs- und Behandlungsverfahren auf dem Feld der Hirnforschung auftauchen, die den Zugriff auf das Organ der Erinnerung immer detaillierter und das entsprechende Wissen umfangreicher machen. Auch die Entzifferung des genetischen Codes wird immer wieder als eine Arbeit am sog. Gedächtnis der Natur beschrieben (vgl. Kap. 1.2). Je größer die Möglichkeiten der Verfügung auch über die natürlichen Grundlagen des menschlichen Seins erscheinen, desto nötiger wird eine Vergewisserung über die zur Verfügung stehenden Ressourcen empfunden. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts müssen Denken und Vorstellen in Philosophie und Wissenschaft von einem gewandelten Verständnishorizont ausgehen: »Ein Paradigmenwechsel hat statt: nicht mehr Erinnerung und Gedächtnis, sondern Vergessen setzen Nietzsche und Ebbinghaus voraus, um auch das Medium Seele vor den Hintergrund einer Leere und Erosion zu stellen.«4 Während die kulturell dominante Tradition das Gedächtnis als Selbstverständlichkeit und das Vergessen als Unfall angesehen hatte, wird jetzt das Vergessen zum Normalfall und die Erinnerung zur unwahrscheinlichen Ausnahme. Zugleich gelten nunmehr das Auftauchen und die Fortdauer von Kulturleistungen in der Geschichte als hochgradig kontingent. Kaum eine andere Vertauschung von kulturbestimmenden Grundpositionen wie die von Erinnern und Vergessen, von Gedächtnis und Leere zeitigt so unmittelbar durchgreifende Wirkung auf den Status des Wissens im allgemeinen sowie die Modi seiner Erzeugung, Erhaltung, Verteilung und seines Gebrauchs im einzelnen. Konstituierte sich jahrhundertelang das reflektiert-reflektierende Selbstverständnis von »Menschen«5 im unbefragten

4. Vgl. Kittler 1985, 212. Vgl. auch Kittler 1979 sowie die gänzlich anders ansetzenden Analysen Arnold Gehlens, die die Anthropologie vor dem Hintergrund eines humanen Verlustes im eigentlichen Sinne gegenüber der animalischen Instinktverfassung entwickeln: Instinktreduktion und Verhaltensenthemmung müssen erst durch starke Institutionen begrenzt und eingeschränkt werden (z.B. Gehlen 1956). 5. Wenn im folgenden immer wieder vom »Menschen« die Rede ist, so meint dies nicht »Den Menschen«, wie z.B. Michel Foucault ihn als Effekt einer Wissensformation (episteme) versteht, die sich um 1800 herausgebildet hat und die von jenem aufklärerischen, moral-politischen Humanismus begleitet wird, der nicht zuletzt in Gestalt der ›Humanwissenschaften‹ der anthropologischen Grundverfassung dieses Wissens eine glanzvolle ideologische Rechtfertigung verlieh. Vielmehr wird hier das Wort ›Mensch‹ schlicht als Bezeichnung für jene lebenden Wesen gebraucht, die sich von der Welt der Dinge und Maschinen ebenso unterscheiden wie von anderen lebendigen Organismen; 21

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Rückgriff auf die Fähigkeiten, etwas zu behalten und es gegebenenfalls zu reproduzieren, so verändert sich die Lage – gemäß der begriffsgeschichtlichen These Kosellecks von der Verzeitlichung6 – seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Dynamisierung aller Lebensverhältnisse, aus deren Wandel sich das Geschichtlichwerden von Welt als eine unvermeidliche Konsequenz aufdrängt. Die universelle Historisierung erfaßt nicht nur alle Bereiche des natürlichen und kulturellen Lebens, welche mit zunehmender Relativität ›kontaminiert‹ werden, sondern zieht alle grundlegenden Begriffe des menschlichen Selbstverständnisses in den Sog dieser Dynamik.7 So wandelt sich – im Umschwung von der Selbstverständlichkeit des Gedächtnisses zur grundsätzlichen Infragestellung seiner Möglichkeit(en) – das Bild vom Menschen als Subjekt von Erinnerung und Wissen sowie von dessen praktischen Kontexten, in denen diese Ressourcen gebraucht werden. Vielmehr kann jetzt die Frage in der Weise reformuliert werden, daß es von heute aus durchaus als rätselhaft erscheint, daß das Subjekt von Erinnerung und Gedächtnis umstandslos mit Menschen identifiziert worden ist.8 Den schon in der Antike gewärtigen Gefahren des Verlustes von Erinnerung, d. h. von Wissen als Mittel der Orientierung und des Überlebens, begegneten die historischen Subjekte mit den pragmatischen Strategien der ars memoria9

jene Wesen, die einzeln und in Massen vorkommen, also jene, die Friedrich Kittler »Leute« nennt. 6. Koselleck 1979. 7. »Erst der Durchbruch der Moderne um 1800 in der Kultur des Okzidents mit der rasch zunehmenden Umgestaltung aller politischen Verhältnisse und sozialen Bindungen und mit der Heraufkunft des modernen Historismus als der universalen Historisierung des Denkens und der Welt ließ die Forderung nach einer Kultur des Vergessens (Friedrich Nietzsche) laut werden, hat jedoch zugleich auch eine permanente Faszination durch Gedächtnis und Erinnerung konstituiert.« (Oexle 1999, 297f.) 8. Eine Vorstufe des Bewußtseins vom prekären Status des menschlichen Subjekts in der Geschichte hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet. In einer bemerkenswerten Ambivalenz formulierte Karl Marx, daß die Menschen ihre Geschichte zwar selbst, aber nicht mit Bewußtsein machen. Die eingesehene Dezentrierung der menschlichen Subjekte soll im Prozeß einer Emanzipation der Gattung überwunden werden, so daß sie zu freien, selbstbestimmten Autoren ihrer Geschichte zu werden vermögen – eine Transformationsgestalt der Hegelschen Geschichtsphilosophie. 9. Die immer wieder erzählte Urszene der Mnemotechnik ist eine des Überlebens der Katastrophe, nämlich des Entronnenseins ihres Erfinders Simonides von Keos. Als einzig überlebender Zeuge einer Festgesellschaft, deren Gastgeber durch frevelhaftes Verhalten den Zusammensturz des Gebäudes provoziert, gelingt es Simonides, der, gänzlich ahnungslos, durch göttliche Fügung noch rechtzeitig den Ort der Vernichtung verlassen konnte, allein aufgrund seiner Erinnerung an die Sitzordnung, die Toten zu identifizieren, nach denen deren Angehörige suchen (vgl. Yates 1966). 22

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oder externen Speichern10 als auch mit Theoriekonzeptionen, die z. B. Wiedererinnerung (anamnesis) zur Wesensbestimmung des Seelenlebens ontologisierten und Wissen als prinzipiell gesichert ansahen in der Vorgegebenheit unwandelbarer Ideen11. Wie aber können – nach der Erschütterung der mnemonischen Gewißheit – Erinnerung und Gedächtnis unter Bedingungen der Geschichtlichkeit des Seins12 gedacht werden? Sind Menschen Träger eines Gedächtnisses? Und wenn ja, in welcher Weise haben sie Gedächtnis? Lassen sie sich als lebendige Speicher von Erfahrung und Wissen begreifen? Inwieweit können sie auf Erfahrung zurückgreifen und über Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, die sie einst besaßen? Sind menschliche Subjekte eher als selbstbestimmte Akteure in jeweiligen Kulturen des Wissens und Handelns zu verstehen, die sich ein Gedächtnis machen oder es aufgrund widriger Umstände wieder verlieren? Oder als unselbständige Agenten, die auf Medien, Institutionen oder göttlichen Beistand angewiesen sind und sich in komplexen Funktionszusammenhängen von Gesellschaft und Technologie herauskristallisieren?

Bewusstsein, Gedächtnis und Erinnerung als Grundbegriffe von Geist und Seele All diese Fragen nach der Rolle von Erinnerung und Gedächtnis betreffen auch das Problem menschlichen Bewußtseins. Dessen tiefgreifende, irreversible Transformationen interessieren in diesem Zusammenhang besonders, sind sie es doch, die die in modernen Verhältnissen lebenden Individuen sowie das Gesamtbild gegenwärtiger Gesellschaften und Kulturen entscheidend mitbestimmt haben. Je wandelbarer die Welt ist, in der Individuen zurechtkommen müssen, desto nötiger wird es für diese, zur eigenen Orientierung zügig auf vielfältige Wissensbestände zurückgreifen zu können, um sich ein Bild zu Zwecken der Situationsbestimmung zu machen, in der sie sich befinden.13 Die Dynamisierung und Verzeitlichung der Kategorien, die sich auf Geistiges bzw. Seelisches, im (engeren oder weiteren Sinne) auf Bewußtsein beziehen, sind immer auch Fragen nach der Vernunft – in jenem doppelten Sinne von Vernunft in der Welt bzw. Vernünftigkeit des Menschen einerseits und andererseits der methodischen Analyse und vernünftigen Argumentation über Seele und Geist. Hier scheint ein systematischer Zusammenhang vorzuliegen zwischen dem Thema und seiner Thematisierung, dem Gegenstand und seiner Beobachtung, nicht zuletzt wegen der scheinbar so naheliegenden Koinzidenz von Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Das Wissen vom Subjekt muß auf Gedächtnis und Erinnerung setzen, denn Erkenntnis und Forschung setzen immer schon etwas Erinnerbares voraus, mit dessen

10. Der Brand der Bibliothek von Alexandria sei hier stellvertretend als ein Ereignis für Kulturgütervernichtung aufgerufen, das sich als emblematisches Bild ins Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hat. 11. Vgl. Flusser 1989. 12. Heidegger 1927. 13. Zu dieser chiastischen Gegenstrebigkeit vgl. Marquard 1994. 23

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Hilfe sie hervorgebracht werden können, während umgekehrt das Wissen nur dann über den Augenblick hinaus eine Existenz haben kann, wenn es in die Form von Gedächtnissen und Speichern gebracht werden kann, aus denen es sich jedoch für ein Subjekt erst durch Erinnerung aktualisieren läßt. Der seit der Renaissance zu beobachtende und, wenn auch nicht mit souveränem Bewußtsein, selbst betriebene Epochenwandel – noch einmal vorübergehend beruhigt im Horizont des Entwurfs einer perspektivisch auf den Endpunkt gelingender Menschheitsentwicklung zulaufenden Weltgeschichte, dessen letzte Kulminationspunkte die Philosophie Hegels, vielleicht noch des Marxismus bilden – gibt den Menschen ein Bewußtsein ihrer Historizität14 und Individualität. Das ›je schon‹ in Geschichtlichkeit15 versetzte Dasein läßt sich auch als Historisierung des Bewußtseins ›von innen‹ beschreiben: daß nämlich das Bewußtsein (resp. der Geist) selbst (unter Absehung aller vielfältig bestimmten Inhalte und wechselhaften konkreten Erfahrung) in seiner Verfaßtheit nicht unwandelbar sei – weder als die unterschiedslose Leere des Anfangs noch als die immer gleiche Reproduktion einer ursprünglichen Matrix noch als unausweichlich finaler Konvergenzpunkt eines absoluten Wissens.16 Weil Erfahrung ihren unabdingbaren Anteil an der Konstitution des Bewußtseins als solchem, mehr noch: an dessen fortgesetzter Bildung hat, müßte Bewußtsein anders vorgestellt werden denn als bloße gleichbleibende Funktion bzw. als formale Selbigkeit, die sich wesentlich unberührt durch allen Wandel erhält oder vereinigungsteleologisch nach ein und demselben strebt.17 Tatsächlich läßt sich Bewußtsein als psychische Funktion

14. Die Geschichtsschreibung entwickelt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, am Vorbild der philologischen Kritik orientiert, zur Disziplin mit wissenschaftlichem Anspruch (vgl. hierzu die erste umfassende, systematische Methodologie der Geschichtsschreibung von Johann Gustav Droysen: Droysen 1858/1868). Der damit einhergehende Historismus ist dann auch schon früh von Nietzsche als Hypertrophie der Vergangenheitsorientierung einer ganzen Kultur kritisiert worden (Nietzsche 1874). 15. Vgl. Heidegger in Bezug zur »Historischen Schule« und zu Dilthey in: Heidegger 1927, 372ff. (§§ 72-77). 16. Das philosophische Nachdenken über Grundbegriffe des Geistes (wie Bewußtsein, Gedächtnis, Phantasie, Einbildungskraft, Verstand, Gefühl, Wille) befindet sich gegenwärtig in einer Situation, die weder platonisch-kartesianisch auf eingeborene Ideen noch empiristisch auf eine tabula rasa als sicheren Ausgangspunkt setzen kann. Beide Ansatzpunkte nehmen eine Selbigkeit in Anspruch, die einmal mit unvergänglichen Ideen besetzt, das andere Mal als eine ursprüngliche Leere behauptet wird, ohne deren Legitimität wirklich begründen zu können. Wenn jedoch Erfahrung für Bewußtsein konstitutiv ist, kann das Apriori nicht allein ›in‹ der Seele (ob als eingeborene Idee oder als ursprüngliche Leere) liegen, sondern in der je konkreten Konstellation, die Erfahrung als Erfahrung von etwas (einem ›Gegenstand‹) durch etwas (ein ›Subjekt‹) ermöglicht und in der ›Bewußtsein‹ entstehen kann bzw. für einen Beobachter wiederum bestimmbar wird. 17. Adorno hat in diesem Zusammenhang von einer »Reziprozität« – ein seinerseits fragwürdiger Begriff – der Vermitteltheit von Subjektivität und Objektivität gespro24

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bestimmen, aber doch immer nur im Ausgang von beobachtbaren Phänomenen, deren Funktionalität als Funktion bestimmbar ist, ohne sich darauf reduzieren zu lassen. Auch wenn sich der Kreis dadurch schließen läßt, daß man die für die Beobachtung der Phänomene in Anspruch genommenen begrifflich-diskursiven Unterscheidungen selbst wieder systemischen Funktionszusammenhängen zurechnen kann, bleiben funktionale Bestimmungen in jedem Fall ein Akt der Zuschreibung und Interpretation durch Beobachtung, der irgendwo, irgendwann und irgendwie von irgendwem vollzogen wird – also selbst immer nur einen relativen Ausgangspunkt in historischer, sprachlicher, sozialer und ökonomischer Hinsicht bildet.

Geschichtlichkeit und Medialität als Dezentrierung Nimmt man also einen zeitlich-geschichtlichen Ursprung des Bewußtseins an, dann impliziert das, daß es – welche Entwicklung es im einzelnen auch genommen haben mag – sich noch immer weiter wandeln kann und tatsächlich wandelt.18 Dadurch wären alle Funktionen, Aufgaben und Fähigkeiten, die man gemeinhin dem Bewußtsein (bzw. dem Psychischen, zu dem es gezählt wird) zuschreibt, in den Sog der Veränderung hineingerissen.19 Und es tritt ein Mißtrauen gegenüber aller Erinnerung auf den Plan: Wenn alles unter Bedingungen der Veränderlichkeit stehe, dann sei auch auf das Gedächtnis kein Verlaß, und Wissen werde ungewiß. Mit allem anderen verändert sich auch das Gedächtnis und vergeht wohlmöglich vollkommen. Solche Skepsis gegenüber der Individual- oder Kollektiverinnerung kann temporalen Fatalismus, gar historischen Nihilismus provozieren. Der generelle Argwohn gegenüber der Verläßlichkeit von Geschichtsschreibung und Autobiographik wächst aber so lange nicht über das Maß der Entwicklung historisch-philologischer Kritik und anderer korrigierender Hilfsmittel hinaus, wie diese die Methoden und Techniken zur systematischen Durcharbeitung und Korrektur des von Verfälschung und Verlust bedrohten Gedächtnisses bereit-

chen, »weil nicht nur die gegenständliche Erkenntnis, die gegenständliche Welt durch das Subjekt vermittelt sind, sondern ebenso auch […] die Subjektivität und ihre Kategorien umgekehrt vermittelt sind durch den Inhalt und durch die gegenständlichen Momente der Erkenntnis.« (Adorno 1973, 174) 18. Im Rahmen seiner tatsachengesättigten »empirischen Philosophie« hielt es Gehlen für nötig, sich »der außerordentlichen Mühe der Kategorienforschung« in einem starken historischen, nämlich menschheitsgeschichtlichen Sinne zu befleißigen: »Als eines ihrer Ergebnisse soll noch bemerkt werden, daß es über den Gang der Menschheitsgeschichte hinweg eine Änderung der Bewußtseinsstrukturen selber, nicht bloß natürlich unendliche Änderungen der Inhalte des Bewußtseins gegeben hat.« (Gehlen 1956, 10) 19. Das Problem des Ursprungs läßt sich jedoch nicht so leicht historisch reduzieren. Denn umgekehrt kann man die Frage nach der Herkunft selber befragen auf »die Möglichkeit von Bedingungen« (vgl. Taureck 1988, 120) hin, unter der sie überhaupt stellbar ist. 25

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zustellen in der Lage ist. Gewährleistet wäre dies, wenn die Medien des Gedächtnisses (etwa Schrift, Bild, Musik etc.) dem »Organ der Leitung«20, wie Nietzsche das Bewußtsein doppelsinnig nannte, zur kontrollierten Verfügung untergeordnet werden könnten. Der Subjektstatus von Gedächtnis und Erinnerung ist aber fragwürdig geworden, spätestens im Moment der Entdeckung des Eigensinns der Artikulations- und Gedächtnismedien. Gerade in dem Moment, in dem sich die Medien, die von Individuen oder Bewußtseinen genutzt werden, im Laufe des 19. Jahrhunderts durch technische Materialisierung mechanisch und elektrisch offensichtlich zu verselbständigen beginnen, wird der Leitungsanspruch eines sich in souveräner Willensäußerung wähnenden Subjekts zunehmend obsolet. Dessen Wille zur ubiquitären Präsenz im Wissen als Bewußtsein wird endgültig erschüttert, weil der vermeintliche Gewinn an Objektivität von Speichermedien und Archiven zugleich deren bedingte Unabhängigkeit gegenüber den sie wahrnehmenden Subjekten, den vermeintlich Entscheidenden und Handelnden, bedeutet. Es ist nicht nur die Fülle des Aufgezeichneten, die von den Subjekten nicht mehr bewältigt werden kann. Denn je objektiver, geregelter, selbstläufiger die mit Aufbau und Verwaltung des Aufgezeichneten beauftragten Instanzen sind, desto widerständiger werden sie gegenüber jedem Zugriff – je organisierter die Systeme, desto größer deren interne Notwendigkeiten. Und dennoch erwächst gerade aus dieser bedingten Selbständigkeit jenes Maß an Sicherheit und Verläßlichkeit von Gedächtnismedien, das Individuen, Gesellschaften und Kulturen – als komplexe Organisationsformen betrachtet – zu ihrer Reproduktion brauchen, denn nur auf diese eigensinnig selbstorganisierende Weise ist der Willkür des interessegeleiteten Eingriffs von außen in Bestände der Vergangenheit, d. h. der Manipulation von Speichern und Archiven, ein Widerstand entgegengesetzt. Gerade weil die Archive nach eigenen Regeln ihrer Aufgabe nachgehen, werden sie unabhängiger von Einzelsubjekten und können das Prozedere des aktuellen Rechtssystems oder das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft unterstützen, ohne sich den individuellen Interessen oder systemischen Imperativen schlicht unterzuordnen.21 Die seit der Aufklärung beanspruchte Mächtigkeit und Selbstbestimmtheit der Subjekte verwandelt sich in die Einsicht ihrer konstitutiven Abhängigkeit und partiellen Blindheit bezüglich derjenigen Institutionen und Instanzen, die ihnen zu dienen bestimmt scheinen. Die Mittel, welche zur Befreiung von Abhängigkeit, Aufhebung von Ungerechtigkeit und allgemeinen Erhöhung der Lebensqualität eingesetzt wurden, geben zugleich den Grund ab für zunehmende Abhängigkeit, Ungerechtigkeiten und Lebensüberdruß.22 Diese Denkfigur der Abhängigkeit von den Unabhängigkeit verschaffenden Hilfsmitteln wiederholt sich als subjektinterne »Dialektik der Aufklärung«, indem das Bewußtsein sich

20. Nietzsche 1980, KSA 13, 68. 21. Vgl. Ernst 2000. 22. Dieser klassische Gedanke der Dialektik der Aufklärung (1947) von Horkheimer und Adorno sei hier nur kurz angerissen. 26

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nicht mehr als Herr im eigenen Hause erfährt.23 Damit geht eine veränderte Verfassung des Selbstkonzepts des Subjekts einher, das von vielfältigen Dezentrierungserfahrungen erfaßt worden ist.24 Die Frage allerdings, welche Rolle – trotz dieser Depotenzierungen des Subjekts – das Gedächtnis auf den je unterschiedlichen Feldern des Wissens und der Praxis eigentlich spielt, zählt zu den notwendigen Aufgaben, die es zu klären gilt, will man eine umfassende Bestimmung der Situation der gegenwärtigen Zeit geben.25 Einen entscheidenden Ausgangspunkt für diese weitgestreute Problematik und den Fokus für die folgenden Überlegungen bildet allerdings die Frage nach dem Subjekt des Gedächtnisses – und im engeren Sinne die Frage, was aus Gedächtnis und Erinnerung nach der Subjektkritik der Psychoanalyse wird.

Philosophie, Wissenschaften und Perspektivenpluralisierung Skepsis gegenüber Unwandelbarkeit und Identität26 kennzeichnet die philosophische Verfassung der Moderne bis in die Gegenwart. Es ist wohl nicht überzogen, von einer Identitätskrise des Denkens, vom Glaubwürdigkeitsverlust der Vernunft oder vom Aufbrechen des Universalismus zu sprechen, die zum latenten Bewußtsein in der Philosophie – selber seit über einem Jahrhundert begleitet von Prophezeiungen ihres Endes27 – geworden sind und es zunehmend schwieriger, gar unmöglich erscheinen lassen, die Zeit in Gedanken zu fassen. Im Zuge der Durchsetzung der neuzeitlichen Wissenschaften waren seit Hegels Tod im-

23. Freud spricht vom Ich im Verhältnis zur Seele (Freud 1916-1917, 284). 24. Die mit den Namen Kopernikus (terrestrisch), Kant (erkenntnistheoretisch), Schopenhauer (willensmetaphysisch), Darwin (entwicklungsgeschichtlich), Nietzsche (machttheoretisch), Dilthey (historistisch), Freud (egologisch), Einstein (relativitätstheoretisch), Lévi-Strauss (ethnologisch), Luhmann (systemtheoretisch), Blumenberg (kosmologisch) etc. verbundenen Desillusionierungen prägen das Gesicht der Moderne, indem das Subjekt unter Bedingungen gestellt erscheint, die es, ausgehend von sich selbst, als diejenigen Voraussetzungen entdeckt, welche seine Existenz erst ermöglichen. 25. Was Karl Jaspers sich 1931 als alleiniger Autor noch zutraute, wagen heute nur noch stichwortgebende oder berichterstattende plurale Autorschaften (vgl. Jaspers 1931, Habermas 1979, Sloterdijk 1990). 26. Im Rahmen einer relationalen Begrifflichkeit, die sich gegenüber allen Verabsolutierungen aufdrängt, können Grundbegriffe wie Subjekt, Bewußtsein, Individuum etc. nicht mehr als in sich geschlossene Einheiten unabhängig von jeglicher Bezüglichkeit, in der das mit diesen Begriffen Bezeichnete steht, konzipiert werden. Identität kann z.B. dem Bewußtsein nicht ursprünglich, sondern bloß als nachträglicher Effekt zugeschrieben werden, da es sich offenbar immer schon einer Bezugnahme auf Anderes verdankt. 27. Vgl. Adorno 1966, 15; Sloterdijk 1983, 7; Martens/Schnädelbach 1985, 25-27. Ob das gegenwärtige Zeitalter als postmodern oder nachmetaphysisch, als postsäkular oder schlicht profan zu bestimmen ist, bleibt hier undiskutiert, da es der vorliegenden Arbeit um eine von einer konkreten historischen Konstellation ausgehende Problematik geht, deren wichtigste Zäsur das Auftauchen der Psychoanalyse um 1900 bildet. 27

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mer bescheidenere Ansprüche mit Philosophie verbunden. Auch das aufkommende Bewußtsein der ›Krise der europäischen Wissenschaften‹ (Husserl), das die Philosophie mit neuen Fundierungsansprüchen und Begründungsprogrammen wieder auf den Plan rief, konnte an der grundsätzlichen Situation der Zurückstellung von Philosophie in die Konkurrenz der vielfältigen Wissensformen, Diskurse und Disziplinen nichts ändern. Als einziger Trost der Philosophie könnte es da erscheinen, daß der im Namen einer bestimmten Wissenschaftlichkeit vorgebrachte Sinnlosigkeitsverdacht gegenüber der Philosophie28 sich letztlich auch wieder gegen die zu Hilfe geholten Wissenschaften selbst wendet. Der Mainstream der auf Allgemeinheit zielenden wissenschaftlichen Begründungsprogramme hatte sich seit dem 19. Jahrhundert stark am Vorbild der mathematisierenden Naturwissenschaften orientiert. Erst die Grundlagenkrise der Mathematik, namentlich die Arbeiten Kurt Gödels, haben gezeigt, daß es eine voraussetzungsfreie, selbstkonsistente, widerspruchsfreie Begründung von Wissenssystemen nicht geben kann. Darüber hinaus gibt es einen grundsätzlichen, nicht aufhebbaren Widerstreit zwischen den Zweigen der Vernunft, die seit Kant durch Fragen nach der Erkenntnis, der Gerechtigkeit und des guten Lebens unterschieden werden. Solange die auf Probleme des (wissenschaftlichen) Erkennens bezogenen Disziplinen von sich aus jene Fragen, die sich aus nicht-epistemischer, nicht-kognitiver Perspektive, sondern aus ästhetischer und ethisch-moralischer Dimension stellen, nicht angemessen zu beantworten vermögen, wird ihr – als universalistisch behaupteter – Führungsanspruch suspendiert bleiben. Das bleibt nicht nur aus philosophischer Perspektive unbefriedigend und alles andere als ein Trost, weil sich der Sache nach keine prinzipiellen Lösungen für die anstehenden Probleme abzeichnen. Die Wirklichkeiten, in denen wir leben, scheinen nach gangbaren Wegen zu verlangen, und der wachsende Problemdruck zwingt vermeintlich zu einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte. Es ist allerdings äußerst fraglich, ob dieser desillusionierte »pragmatische Pragmatismus« (Schnädelbach) auf Dauer ohne Visionen und übergreifende theoretische Perspektiven auskommen kann. Mit dem Offenbarwerden der Inkongruenz kognitiver, ethisch-moralischer und ästhetischer Diskurse in der Moderne29 zeigt sich das Subjekt, dem seit dem 18. Jahrhundert der Titel »Der Mensch«30 verliehen wurde, weniger als eine Einheit, denn als Feld von Differenzen. Die überkommene Überblendung von Begrif-

28. Vgl. Carnap 1928 u. 1931. 29. Vgl. Lyotard 1983. 30. Eine klare Kritik an diesem Kollektivsingular als bloßer Abstraktion haben bekanntlich schon lange vor Foucault Marx und Engels formuliert: »Die Individuen, die nicht mehr unter die Teilung der Arbeit subsummiert werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen ›der Mensch‹ vorgestellt, und den ganzen, von uns entwickelten Prozeß als den Entwicklungsprozeß ›des Menschen‹ gefaßt, so daß den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe ›der Mensch‹ untergeschoben und als treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde.« (Marx/Engels 1845/1846, 69) 28

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fen wie Subjekt, Geist, Bewußtsein, Mensch weicht der Frage nach deren Unterschieden und den irreduziblen Hinsichten, unter denen sie thematisiert werden können. Diese Diagnose kann – mit aller Vorsicht – für die meisten gegenwärtigen philosophischen Strömungen geltend gemacht werden: Einheitswissenschaftliche Programme31 stehen nach der Jahrtausendwende nicht hoch im Kurs. »Die Frage nach dem Subjekt«32 läßt sich zuallererst als Indikator von Unsicherheit über das (Selbst-)Verständnis des Subjekts auffassen. Der gesellschaftliche Komplexitätszuwachs und das Übermächtigwerden der technischen Produkte gegenüber ihren Erzeugern spiegeln sich in den sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen und den medial-kommunikativen Verhältnissen als Identitätsbedrohung der historischen Subjekte, so daß im Zuge einer nicht allein theoretischen, sondern praktisch umgreifenden Dezentrierung des Subjekts, ob als Mensch, Person oder Bewußtsein aufgefaßt, sich auch die Fragestellungen, die sich mit diesen Konzepten verbinden, verändern müssen. Das Wissen vom Menschen ist in dem Maße problematisch geworden, wie die (auch wissenschaftlichen) Bedingungen, unter denen es sich angesammelt hat, einem Wandel unterlagen. Je mehr die selbst historisierten Wissenschaften die Erforschung »des Menschen« vorangetrieben haben, desto weniger vermag sich das Alltagsbewußtsein mit dem Bild, das die Wissenschaften von ihm zeichnen, zu identifizieren.33 Dies wirft immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang von Wissenschaft und Subjektivität auf, deren Verhältnis als andauernde Krise beschrieben wird – was den Begriff der Krise selbst kritisch werden läßt.34 Indem ›der Mensch‹ zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung geworden ist, scheinen ihm die Fähigkeiten, welche ihm die längste Zeit mit Exklusivitätsanspruch zugeschrieben worden waren – Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung, Verstand, Urteilskraft, Wille, Selbstbewußtsein, Entscheidungsvermögen – abhanden zu kommen. Auch dort, wo er vom »Dasein« abgelöst worden ist, setzt ein Zug der Entfremdung ein. Zwar ließe sich sagen, daß die Lektionen der modernen Welt jenes Wesen, das sich Mensch nennt, darüber belehrt haben, daß es auch dann noch, wenn es mit den Mitteln der Wissenschaft erforscht und so zum wissenschaftlichen Gegenstand wird, sich selbst thematisiert – wenn auch in szientifischer Einseitigkeit. Die sowohl ›dem Menschen‹ wie ›dem Dasein‹ zugeschriebene Möglichkeit des Selbstverhältnisses35 wäre durch einen ausschließ-

31. Offenbar eine Denkfigur, die selbst schon historisch geworden ist (was allein ihre Möglichkeit noch nicht widerlegt) und heute als historische Frage behandelt wird (vgl. Schulte/McGuinness 1992). 32. Frank/Raulet/van Reijen 1988. 33. Vgl. Schnädelbach 1989. 34. Vgl. Husserl 1935/36 und Heidegger 1947 bis zu Sloterdijk 1999. Zur Krisendiagnostik und -rhetorik vgl. Taureck 1992a. 35. Vgl. Martin Heideggers Fassung des »Daseins« als ausgezeichnetes Sein desjenigen Seienden, dem es um sein Sein als Jemeiniges geht und das sich auf diese Weise zu sich selbst verhält (Heidegger 1927, § 9, S. 41f). Auch Michel Foucault thematisiert 29

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lich wissenschaftlichen Zugang zu sich verengt, insofern auf diese Weise z. B. eine kognitive Verobjektivierung des Gegenstands Mensch betrieben würde, dessen Subjektivität doch schließlich nicht nur von Verstand und Begriff, sondern auch von Sinnlichkeit, Imagination, Begehren und Entschlußkraft gekennzeichnet ist. Gegen einen solchen Reduktionismus wäre die Vielfalt menschenmöglicher Erfahrung ins Spiel zu bringen. Um aber eine kontrastreiche Erfahrung aller Aspekte von Subjektivität überhaupt machen zu können, bedarf es einer Bezugnahme, eines Vergleichs, einer Konfrontation des Verschiedenen vermittels der Sprache und im (letztlich individuell instantiierten) Bewußtsein. Wenn denn das individuelle Bewußtsein die nötige Instanz eines möglichen Einspruchs gegen Reduktion sein sollte und nicht schon vor dem Einwand grundsätzlicher Überforderung angesichts der Komplexität gegenwärtiger Lebensverhältnisse kapituliert, dann bedarf es einer genaueren Bestimmung der Bedingungen des Operierens von Bewußtsein. Dieses muß sich zur Orientierung nicht nur auf die natürlichen, sozialen und sprachlichen Bedingungen seines Seins stützen, sondern notwendigerweise aus Erinnerungen speisen, da angesichts der »Enge des Bewußtseins«36, d. h. der Unfähigkeit, vieles zugleich im Bewußtsein präsent zu haben, die bewußte Erfahrung als Intentionalität immer nur auf Ausschnitte aller möglichen Erfahrung ausgerichtet ist. Diese Beschränkung gilt in räumlicher, sozialer wie zeitlicher Hinsicht und kennzeichnet Bewußtsein als standort- und zeitpunktgebunden. Erst in der Vergewisserung der eigenen Geschichte und der Vertrautheit der jeweils nächsten Orte kann sich eine gewisse Konstanz eines – sicherlich selbst nicht unwandelbaren – Erfahrungskerns, eines Ich, herausbilden, der den Bezug zum anderen als anderem in temporaler, topischer und sozialer Hinsicht voraussetzt und ermöglicht. Die für die nachfolgende Untersuchung im Zentrum des Interesses stehende Frage konzentriert sich dabei besonders auf die medientheoretischen Aspekte der temporalen Erschlossenheit von subjektiver Erfahrung, wie sie sich in Bezug auf Erinnerung und Gedächtnis zeigt.

Medien und Technik als Bedingung des Wissens vom Gedächtnis Die fällige Transformation37 eines philosophisch stichhaltigen Gedächtnisbegriffs ist vergleichbar mit denjenigen Reformulierungen von Grundbegriffen der

explizit in seinen späten Schriften zur Antike die Selbstsorge (epimelea heautou) als die Weise, wie der Mensch der griechischen Antike sich auf sich als Körper und als begehrendes Wesen bezog, um durch Selbstbeherrschung der Lüste Herr über sich zu werden und so eine Autonomie zu erreichen, die im Gemeinwesen der Polis als vom Subjekt ausgehende Gegenmacht des Einzelnen wiederum auf die Gemeinschaft einzuwirken vermochte (vgl. Foucault 1984a und 1984b). 36. Das Verdienst, dem psychologischen Gehalt dieser Erfahrung nachgespürt zu haben, kommt Dilthey und Freud zu (vgl. Dilthey 1894 und Freud 1895 sowie Kap. 3.2). 37. Apel 1973. 30

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1. DAS GEDÄCHTNIS ALS PROBLEM DES WISSENS IN DER MODERNE. ZUR EINLEITUNG

Philosophie, wie sie sich im 20. Jahrhundert im Zeichen des sog. linguistic turn38 gezeichnet haben. Hierbei handelt es sich bekanntlich um eine Reflexion auf Möglichkeiten der Sprache und des Sprechens sowie der vielfältigen Verwendungsweisen dieser Möglichkeiten, die – in bemerkenswert historisch verspäteter Einsicht – als konstitutiv für das Sprachgeschehen und deshalb für alle auf es aufbauenden geistig-kulturellen Leistungen aufgefaßt werden können. Die Konsequenz für das philosophische, wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Denken und Handeln zeigt sich darin, daß Vernunft (bzw. alles der vernünftigen Reflexion Gegebene) sich im Verhältnis zum Horizont der Sprache verorten muß. Im strengen Sinne geht es also nicht bloß um die Erweiterung des mentalistischen Paradigmas der Philosophie (das, nebenbei bemerkt, selbst schon als Transformation des älteren, am ontologischen Paradigma orientierten Philosophierens begriffen werden kann)39 um jene sprachlichen Möglichkeiten als Bedingungen der Einlösung von Erkenntnisansprüchen. Die berechtigte Kritik des Erkennens hatte einem Mentalismus Vorschub geleistet, der die kognitiven Aspekte der Vernunft überbetonte und priorisierte. Entsprechend ging es in der Frühphase der sprachanalytischen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um eine Kritik an ungerechtfertigten Erkenntnisansprüchen mit Mitteln der Sprachkritik bis hin zur radikalen Zuspitzung eines generellen Sinnlosigkeitsverdachts gegen alle Philosophie. Durch die sinnkritische Metaphysikkritik sollten alle sprachinduzierten Mißverständnisse aus dem Sprachgebrauch ausgetrieben werden und Wissenschaft an die Stelle von Metaphysik treten. Gegenüber einem solchen Versuch zur Klärung des Sprachgebrauchs geht es der hier vorgelegten Arbeit um eine generellere Perspektive, nämlich um die Frage nach den – nicht nur sprachlichen – Artikulationsmitteln. Damit sind jene Zugangs- und Erzeugungsweisen zu und von Gegenständen, Sachverhalten oder Ereignissen gemeint, die für endliche, mit dem Anspruch auf Erkenntnis auftretende und deshalb auf Erfahrung angewiesene Subjekte möglich sind. Wenn der Begriff der Vernunft eine Fähigkeit meint, über Denken und Handeln Rechenschaft geben zu können, dann muß sich die Selbstbegrenzung von Vernunftansprüchen auch auf die sprachlichen Möglichkeiten beziehen, diese Vernunft überhaupt und ihre Ansprüche i.E. (auf Erkenntnis und Moralität) zu artikulieren. Vernunft wird sprachlich. Im Zusammenhang einer möglichen »Beschreibbarkeit«, die er vor dem

38. Unglücklicherweise hat man auf eine passende Übertragung ins Deutsche verzichtet, eine direkte Übernahme des fremdsprachigen Terminus oft vorgezogen und damit vielleicht unnötige Verwirrung gestiftet. Was im Englischen unspektakulär sich bloß als Adjektiv zu language, Sprache, verstehen läßt, kommt im Deutschen in einen veränderten Kontext, den der Linguistik. Da es sich bei dem Gemeinten nicht um eine vermeintliche Reduktion von Philosophie oder Wissenschaft auf Linguistik, auf Sprachwissenschaft handelt, wäre der genauere Titel sicher sprachliche Wende oder Wende zur Sprache. Vgl. Taureck 1991, 62, der von sprachbezogener Wende (tournant langagier) spricht. 39. Vgl. Schnädelbach 1985, 39ff. 31

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Hintergrund der Sprache als »Sprachapriori« versteht, zielt Karl-Otto Apel auf eine sprachphilosophische Umdeutung des für die Kantsche Kritische Philosophie zentralen Gedankens, »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«40. »Er lautet dann etwa so: Die Bedingungen der Möglichkeit der Beschreibung der erfahrbaren Tatsachen [...] sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der beschreibbaren Tatsachen.«41 Diese erkenntniskritischen Analysen auf logischsemantischem Niveau sind in der zweiten Phase der sprachanalytischen Philosophie um die pragmatische Dimension erweitert worden: Nicht nur die logischsemantischen Formen und deren interne Notwendigkeiten begrenzen mögliche Erkenntnis, sondern ebenso muß, um Erkenntnis überhaupt zu verstehen, ihr Sinn aus einem pragmatischen Horizont heraus verstanden werden. Hierbei handelt es sich um den Übergang von einer idealsprachlichen Konstruktion zu einer alltagssprachlichen Rekonstruktion, mithin um einen Wechsel von begrenzten zu offenen Kontexten.42 Da jegliche Analyse, sofern sie Idealisierungen vornimmt, die dafür nötigen Restriktionen des Kontextes begründen können muß, und da diese sich nicht auf etwas wiederum durch die Wissenschaft selbst Konstituiertes berufen sollen (Zirkelschluß), sondern stattdessen auf außerwissenschaftliches Wissen zurückgreifen müssen, ist es einleuchtend, daß die pragmatische Dimension unausweichlich zu berücksichtigen ist. Nicht nur die Regeln selbst43, sondern ebenso

40. Kant 1781/1787, B 197, vgl. auch A 111. 41. Apel 1990, 20. Bei Apels Formulierung: »beschreibbaren Tatsachen« handelt es sich nicht um eine Tautologie, sondern eine sprachliche Verkürzung, die eventuell zu Mißverständnissen Anlaß geben mag. Gemeint ist allerdings – streng Kant analog –, daß es sich um »Tatsachen der Beschreibung« handelt, also die in der Beschreibung zugänglichen Tatsachen. 42. Vielleicht läßt sich der sog. Radikale Konstruktivismus als der Versuch verstehen, streng am Gedanken der Konstruktivität von Erkenntnis und Wissen festzuhalten, gleichzeitig jedoch den sozialen, sprachlichen und geschichtlichen Prozeß selber als Teil der Konstruktion zu beschreiben. Was die Kontextualisierung und pragmatische Reformulierung des Wissens aus unabschließbaren Horizonten für den Status des Wissens und die Wissenschaftlichkeit bedeutet, kann hier nicht weiter erörtert werden, ebensowenig die Problematik und Konsequenzen, die sich mit einer Unterscheidung zwischen Positionen der angemessenen Berücksichtigung von Kontexten und dem von Jürgen Habermas so bezeichneten »radikalen Kontextualismus« abzeichnen (in Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, vgl. Habermas 1988, 153-186). 43. Alle idealisierenden Modelle (z.B. das Schachspiel sowohl bei Wittgenstein wie auch bei Saussure) bleiben hinter der Komplexität des tatsächlichen Sprachgeschehens zurück. Auch das interne Funktionieren eines Spiels aufgrund festgelegter Regeln setzt schon das Verstehen des Regelbegriffs voraus. Was eine Regel ist, läßt sich durch die Benennung einer Regel eben nicht einführen. Analog kann die Bedeutung eines Wortes in der Sprache nur unter Voraussetzung des Verständnisses anderer Worte erfolgen. Be32

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deren Verwendung entscheidet darüber, ob Sinnverstehen zustande kommt oder nicht. Gebrauch, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen schreibt, läßt sich nicht auf den Begriff der Regel (bzw. des Regelfolgens) reduzieren. Das Wie der tatsächlichen Verwendung von Regeln in der Sprache entscheidet letztlich mit über deren Sinn, so wie Sprachregeln erst im Zusammenhang der Sprache (mit-)bestimmen, welcher Sinn dabei entsteht oder nicht entsteht. »Letztlich« heißt hier nachträglich, denn es wird immer noch woanders und später entschieden, was der Sinn gewesen sein wird. Eine solche Zeitstrukturiertheit semiotischer Artikulation und Kommunikation erfordert einen Rahmen, in dem diese Prozesse und ihre Relationen zusammengedacht werden können, um Kommunikationsprozesse überhaupt kalkulierbar oder wenigstens bis auf weiteres absehbar und einigermaßen wahrscheinlich zu machen. Um die Generierung einer so strukturierten Zeitlichkeit nicht auf individuelle Bewußtseine und deren Intentionalität zu verweisen, sondern deren Zusammenspiel als eigene intersubjektive Wirklichkeit zu beschreiben, die über Elemente, Teilnehmer und jeweilige Artikulationen hinausgeht, ist der Gedächtnisbegriff geeignet: Das Gedächtnis tritt in dieser Perspektive als ein Feld möglicher Praktiken hervor, die sich in der zeitlichen Dimension entfalten. Und qua Erinnerung können Subjekte sich bewußt und aktiv auf Vergangenheit beziehen, wenn auch bei weitem nicht alle Vergangenheitsbezüge des Subjekts zu Bewußtsein kommen. Der pragmatic turn (der ebensowenig mit Pragmatismus im engeren Sinne, sondern mit Handlung und Praxis zu tun hat, wie der linguistic turn mit Linguistik, sondern mit Sprache) kann jedoch nicht als ausreichende kritische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit angesehen werden. Wenn es tatsächlich um die Artikulationsmittel geht, dann mögen noch nicht einmal transzendental- oder fundamentalsemiotische Überlegungen hinreichend sein, die freilich in verdienstvoller Weise an eine allgemeine Semiotik nach Peirce oder de Saussure anschließen. Vielmehr gilt es, den Verbindungen nachzuforschen, die unseren Zeichengebrauch im allgemeinen wie besonderen bedingen: Es geht also auch um Technik und Medialität. Dafür sei hier der Terminus ›Medientechnologie‹44 vorgeschlagen, um

deutungsverstehen setzt Bedeutungsverstehen voraus. Damit wird das Funktionieren der Sprache in den Horizont eines allgemeinen (Sprach)Verstehens eingerückt, welches erst die Bedeutung einzelner Regeln und Worte der Sprache eröffnet. Für Termini der Wissenschaft gilt dasselbe. Deswegen ist schon die Redeweise von »den Regeln selbst« eine Idealisierung. Strengenommen kann man nur dann wissen, was eine Regel ist und wie sie funktioniert, wenn man den Kontext kennt, in dem sie steht. Deshalb setzt jedes einzelne Verstehen einer Regel, einer Bedeutung immer schon einen Rahmen, einen Zusammenhang voraus, auf den bezogen sie verstanden werden kann. 44. Analog zur Reformulierung des »klassisch-mechanischen zum transklassischen Maschinenbegriff« (vgl. Bammé u.a. 1983) sei hier Technik nicht als ein materialistischreduktionistisches Konzept verstanden, sondern eher i.S. von Technologie. »Eine Maschine ist zunächst ein abstraktes (Denk-)Modell – nur im Kopf vorhanden –, das mate33

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philosophische Analysen in die Pflicht zu nehmen, von den technischen Bedingungen des geistig-kulturellen Selbstverständnisses von Subjektivität und dessen tatsächlicher Praxis Kenntnis zu nehmen. Der entsprechend anzusetzende Kommunikationsbegriff umfaßt deshalb sowohl materiell-stoffliche wie geistig-formale Dimensionen, die erst in ihrer jeweils bestimmten Kopplung eine spezifische Gestalt der ›MedienTechnik‹ ergeben. Damit ist zugleich ein Grund dafür angegeben, warum sich die Metaphorik im Bereich der Medialität ansiedelt: weil beständig Übertragungen aus der einen Sphäre in die andere stattfinden (müssen).45

Lektüren der Psychoanalyse Als wichtigste analytische Versuche in dieser Hinsicht können sowohl technikgeschichtliche wie -philosophische Ansätze, aber auch metaphorologische und eher von Fragen nach den allgemeinen Grundlagen der Kommunikation ausgehende informationstheoretische oder medienanalytische Ansätze gelten. Für die Problematisierung des Gedächtnisses ist also generell nicht nur eine sprach- oder zeichenphilosophische Reflexion vonnöten, sondern es gilt die technologischen Grundlagen und Mittel des kulturellen Selbstverständnisses als konstitutiv für den Gedächtnisbegriff in Anschlag zu bringen. Die Idee des Gedächtnisses bildet selbst eine bestimmte techne des Denkens für jene Phänomene des Erzeugens, Sammelns, Behaltens, Verarbeitens und Wiedergebens von Wissen unter zeitlichen und geschichtlichen Bedingungen. Was ein solcher Ansatz für die Einschätzung älterer Wissensbestände und Kulturtechniken bedeutet, hat etwa Friedrich Kittler mit Blick auf die Psychoanalyse deutlich gemacht. Hatte Freud noch an der strikten Distinktion von Gedächtnis und Bewußtsein angesetzt, um seinem psychischen Apparat auf die Schliche zu kommen, so macht die Erfindung des Computers die Einführung einer ganz neuen, jetzt »realistischen« Metaphorik möglich, um das Psychische zu verstehen: »Psychoanalyse unter High-Tech-Bedingungen baut deshalb psychische Apparate (wenn es denn noch psychische sind) nicht mehr nur aus Speicher- und Übertragungsmedien auf. Sie durchmißt vielmehr die technische Dreiheit von Speichern, Übertragen, Berechnen im ganzen. Nichts anderes besagt Lacans ›methodische Distinktion‹ zwischen Imaginärem, Reellem und Symbolischem.«46

rialisiert werden, das heißt, körperliche Gestalt annehmen kann, aber nicht muß.« (Bammé u.a. 1983, 106) Umgekehrt setzt das Denken der Maschine eine »Abstraktion vom lebendigen Körper des Menschen« voraus. Geistiges und Körperliches verweisen so auf einander und können sich wechselseitig erläutern – wenn auch nicht vollständig. So wie es ein Nachdenken über Technik gibt, das seinen Gegenstand nie vollständig begreift, so gibt es auch Techniken des Denkens, die nie das Ganze des Denkens zu beschreiben vermögen. 45. Vgl. Tholen 2002, besonders das 1. Kap.: »Metaphorologie der Medien« (1960). 46. Kittler 1989b, 65. Auf die zahlentheoretischen Probleme gehe ich hier nicht ein. 34

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Der Wunderblock – ihn hatte Freud gerade in seiner Doppeldeutigkeit genutzt: als technische Analogie zur Darstellung eines psychischen Apparats, die sowohl bleibend aufzeichnet als auch immer wieder gelöscht zu werden vermag, um für erneutes Aufzeichnen bereit zu sein; und als irreale Fiktion einer selbstlaufenden Maschine, die die erforderlichen Vollzüge von allein bewerkstelligt. Dieses Wunder wird in gewisser Weise durch den Computer entzaubert und auf das Niveau technischer Simulation gebracht. Allerdings ist die Einführung eines dritten Registers erforderlich: Denn nicht allein die Vereinigung zweier Funktionen in einem maschinellen System, das algorithmisch-automatisch funktioniert, reicht hin, um die neue computationale Metaphorik auszuloten. Zur universellen Maschine, zu der sie Alan Turing im Jahre 1937 erklärt hat47, wird der Computer erst durch die symbolische Ebene: Auf ihr kann alles für alles stehen und so eine Manipulation aller möglichen Phänomene stellvertretend durchgeführt werden;48 und zudem wird damit eine Selbststeuerung möglich, die die Autonomie der Maschine gegenüber ihrer Umwelt aufrechterhält und zugleich flexiblisiert. Wie kann sich nun die philosophische und medientheoretische Reflexion der Assoziations- und Gedächtnisproblematik zu den Vorgaben der Tradition und den Erfahrungen der Psychoanalyse verhalten? Inwieweit muß sie sich auf die hier in Rede stehenden Gegenstände – die Assoziation, die Erinnerung, das Unbewußte, die Psychoanalyse – einlassen, inwieweit kann sie es überhaupt? Die philosophische Aufmerksamkeit hat sich in erster Linie auf bestimmte, der Psychoanalyse eigentümliche Erfahrungen, auf deren Interpretation sowie auf die Theorie, die sie ihnen gibt, gerichtet. Wenn Psychoanalyse jedoch auch im Hinblick auf ihre Theorie nicht völlig losgelöst von der ihr eigenen Erfahrungsform in der Praxis betrachtet werden kann,49 dann muß diese Erfahrungsform ausgehend von den historisch spezifischen Bedingungen der Medialität analysiert werden, welche sie möglich gemacht hat.50 Was heißt es also, von einer Bedingung der Möglichkeit psychoanalytischer Erfahrung zu sprechen oder davon, die Medialität des psychoanalytischen Prozesses zur Geltung zu bringen? – Als theoretischer Diskurs kann die Vorgehensweise dieser Arbeit nur die Psychoanalyse von ihrem eigenen Verfahren her beschreiben, aber nicht sich der Ebene der Erfahrung der analytischen Situation selbst anvertrauen. Damit situiert sie sich auf dem Feld des philosophischen und medientheoretischen Diskurses, will selbst

47. Vgl. Turing 1937. 48. Die Probleme, die sich beim Übergang von einem Medium in ein anderes (z.B. vom analogen zum digitalen) stellen, können an dieser Stelle nicht erörtert werden. Erst seit einigen Jahren zeichnet sich ein allgemeines Bewußtsein davon ab, daß diese simulative Transgression die gängige Unterscheidung von ›real‹ und ›virtuell‹ außer Kraft zu setzen vermag. 49. Scheidt 1986, 137. 50. Es geht also darum, dem Diskurs der Psychoanalyse mit Diskursanalyse im Sinne Foucaults oder – im Anschluß daran – mit Medienanalyse, wie sie Friedrich Kittler vorführt, auf die Schliche zu kommen (vgl. als Modelle Foucault 1966 und Kittler 1985). 35

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also keine Psychoanalyse sein oder betreiben. Das ruft folglich Probleme zweierlei Art auf den Plan: Zum einen wird die Psychoanalyse zum Gegenstand einer philosophisch-medientheoretischen Analyse, die den Kenner, erst recht den Praktiker psychoanalytischer Verfahren mindestens skeptisch stimmen kann. Fehlende Nähe zum psychoanalytischen Diskurs, für den Adepten ein Mangel, erscheint aus philosophischem und medienwissenschaftlichem Interesse jedoch ratsam. Umgekehrt mag der Theoretiker die Versuchung spüren oder die Verführung fürchten, sich dem assoziativen Denken des psychoanalytischen Diskurses auszuliefern und die Schärfe des Begriffs wie auch die Strenge der Argumentation aufzugeben. Um »die Frage nach dem epistemologischen (Selbst-)Verständnis der Psychoanalyse zu diskutieren«, ist die Bereitschaft gefordert, »den eigenständigen und eigensinnigen Status psychoanalytischer Methoden und Theoreme zu durchdenken«.51 Deshalb wird es hier darum gehen, anhand detaillierter Lektüren eine Nähe zur beschriebenen psychoanalytischen Erfahrung anzustreben und durch Bezugnahmen auf theoretische Kontexte, die nicht der Psychoanalyse entstammen, die nötige Distanz zu wahren. Es gilt also, gegenüber den Traditionen der Philosophie wie auch der Psychoanalyse eine gewisse Reserve ins Spiel zu bringen, die durch theoretische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts möglich geworden ist. Wenn im folgenden immer wieder ausführliche Lektüren, v.a. von Freuds Werken, unternommen werden, so geschieht dies weniger, um langwierige Exegesen abzusichern, als vielmehr, um die – auch theoretisch relevanten – jeweiligen Schreib- und Lektüreverfahren der Freudschen Texte von Fall zu Fall auszuführen und in diesem Sinne eine Philologie zu betreiben, die sich ihrer eigenen Medialität ›bewußt‹ ist. Denn auch Wissenschaft und Theorie der Medien reagieren heute auf jene Omnipräsenz der Medien, die sich mit dem Aufkommen von Massenmedien verstärkt seit dem 19. Jahrhundert als Gegenstand der Reflexion ankündigt.

1.2 Zur Begriffsklärung: Speicher – Gedächtnis – Erinnerung Mit der allgemeinen Konjunktur des Gedächtnis-Begriffs seit den 1980er Jahren (vgl. hierzu das Vorwort u. Kap. 1.1) ist eine Tendenz zur Metaphorisierung aller möglichen kulturellen Phänomene als Gedächtnisphänomene zu beobachten. Gedächtnis ist zu einer kulturellen Leitmetapher avanciert. Vom »Gedächtnis der Natur« (Rupert Sheldrake) ist ebenso die Rede wie vom »Gedächtnis der Kunst« (so die gleichnamige Frankfurter Ausstellung 2000). Da alles und jedes auf einmal in den Sog dieser Metaphorisierung zu geraten scheint, ist die Unterscheidungskraft des Begriffs selbst bedroht. Deshalb haben sich terminologische Differenzierungen herausgebildet, die mit der Rede vom kulturellen, kommunikativen,

51. Tholen/Schmitz/Riepe 2001, 9. 36

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kollektiven, sozialen, biologischen, psychischen Gedächtnis angezeigt werden.52 Außerdem wird das (bewußte) Erinnerungsvermögen vom (auch unbewußten) Gedächtnis unterschieden. Oder dem allgemeinen Begriff des Gedächtnisses werden verschiedene Teilfähigkeiten wie das (lexikalisch-)semantische, das episodische, das prozedurale und andere Teilgedächtnisse gegenübergestellt. Im folgenden sei zunächst eine Diskussionslinie skizziert, in der Fragen nach zeitlichen Zusammenhängen und Herkunft im Bereich der Natur immer wieder auch als Fragen des Gedächtnisses aufgefaßt worden sind. Die Rede vom biologischen Gedächtnis bzw. von (v)ererbten Eigenschaften provoziert allerdings – gerade im Bereich der höher organisierten Lebewesen – Unklarheiten, gar fatale Verwechslungen, was hier zum Anlaß genommen sei, Konzepte von Speicher, Gedächtnis und Erinnerung voneinander zu unterscheiden und miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei werden die Begriffe der Wiederholung und des Bewußtseins eine entscheidende Rolle spielen. Im weiteren hier interessierenden Zusammenhang der Fragen der Konstitution zeitlicher, zeitübergreifender Zusammenhänge, einer den Augenblick überschreitenden Kontinuität und Anknüpfung an Vergangenes, kann man beobachten, wie unterschiedliche Redeweisen und Wortverwendungen durcheinandergehen. Wenn also nach individuellen Fähigkeiten des Zeitbewußtseins und insbesondere des Erinnerns ebenso wie nach kollektiven Leistungen der Erhaltung und Fortführung, Überlieferung und Bewahrung von Kultur(-gütern), von Traditions- und Geschichtsbildung gefragt wird, müssen die Begriffe, will man nicht Verwirrung stiften bzw. aneinander vorbeireden, in ihrer jeweiligen Verwendungsweise geklärt werden.

Gedächtnis der Natur? Evolutionstheorie und Speicherfunktion Spätestens seit dem 18. Jahrhundert, dann grundlegend und allgemein kulturprägend seit Charles Darwins bahnbrechenden Veröffentlichungen befaßt sich die Naturforschung systematisch, auf empirische Beobachtung und Experiment gestützt, mit den Fragen der Entstehung der Lebewesen. Dabei hat sich immer wieder die Frage des Origin of Species als Frage nach der Abstammung, Ausdifferenzierung und Genese der einzelnen Lebewesen und ganzer Populationen gestellt. Ein wichtiges Kriterium zur Bestimmung von Individuen und Arten sind die spezifischen phänotypischen Merkmale. Dabei geht man von der Hypothese aus, daß gleich bzw. zumindest ähnlich aussehende Einzelwesen zu einer Art gehören, miteinander verwandt sind und voneinander abstammen, hingegen bei größeren Unterschieden, daß sie sich – als Arten – auseinander entwickelt haben. Wenn man z. B. von der Form eines Lebewesens im allgemeinen53 spricht, so wie sie

52. Vgl. hierzu im Überblick Schmidt 1991; Assmann/Assmann 1994; Echterhoff/ Saar 2002; Welzer 2002; A. Assmann 1999; J. Assmann 1992; Weigel 1994. 53. In seinem klassischen Werk On Growth and Form (1917) erörtert D’Arcy W. Thompson die unterschiedlichen Aspekte des Zusammenhangs von biologischer Formkonstanz und evolutionärer Transformation: Einerseits habe eine (von Darwin inspirier37

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sich im Körperbau, in der Anatomie, in der Anordnung seiner Organe, zeigt, dann wird heutzutage in der Regel davon ausgegangen, daß es sich bei dieser im Individuum verkörperten Form im Wesentlichen um die Reproduktion der in seiner Art festgelegten vererblichen Eigenschaften handelt. Allerdings gehen die Formulierungen oft weiter und sprechen bezüglich des Erbgutes von einem biologischen Gedächtnis, welches durch die Fortpflanzung reproduziert, d. h. für ein neues Individuum kopiert und durch die Ontogenese in seiner spezifischen Wirkung entfaltet, also in gewisser Weise als ›Entwicklung‹ wiederholt wird. Genauer gesagt: Das Genom gestattet, die ontogenetische Entwicklung der Individuen vorhergehender Generationen durch ein neues Individuum zu wiederholen.54 Dieser Zusammenhang wird zur Erklärung der große Zeiträume überbrückenden Kontinuität, ja Konstanz der Arten in der Natur herangezogen.55 In diesem Sin-

te) Tradition mit dem biogenetischen Grundgesetz (Ernst Haeckel) »angenommen, dass die allmähliche Entwicklung und zunehmende Kompliziertheit des Individuums im Verlauf seines eigenen Lebens eine zumindest teilweise Wiederholung der unbekannten Geschichte seiner Rasse und seines Stammes ist« (Thompson 1917, 246); andererseits gibt es andere, (dem Biologischen) äußerliche Faktoren, mit denen sich die Formbildung, ihre Verstetigung und Abwandlung in direkte Abhängigkeit setzen läßt: »Insofern als wir aber feststellen, dass die Formen vom Spiel physikalischer Kräfte abhängig und die Formvarianten eine direkte Folge einfacher quantitativer Änderungen im Bereich dieser Kräfte sind, müssen wir dem Begriff der Blutsverwandtschaft vorsichtiger gegenübertreten und sind genötigt, die unsicheren Regeln zu revidieren, die systematische Ordnung und Phylogenie verkoppeln.« (Thompson 1917, 247/248) Heutzutage kann Rupert Sheldrake als einer der Vertreter gelten, die der Natur selbst ein Gedächtnis zuschreiben, welches sich auf allen Ebenen ihrer Erscheinungen, allen Stufen des Seins als Organisationsprinzip auswirke. Es handelt sich um ein Selbstorganisationsmodell der von Sheldrake sog. »morphogenetischen Felder« (vgl. Sheldrake 1988; und: Duerr/Gottwald 1997). 54. Dabei können je nach Variation der konkreten, inneren und äußeren Bedingungen des Entwicklungsprozesses mehr oder weniger große Veränderungen auftreten, d.h. es kann – trotz genetischer Disposition – Abweichungen, Fehler, neue Entwicklungen geben. 55. Selbst wenn im Bereich der Biologie nach physikalischen Faktoren gesucht wird, die in ihrer grundsätzlich gleichbleibenden Wirkungsweise für die konstante Formbildung der Organismen verantwortlich gemacht werden, kann die Vererbung als Faktor nie vollkommen ausgeschlossen werden. D’Arcy Thompson hat den analytischen Elementarismus in der Biologie mit dem Hinweis auf den systematischen, d.h. einen Gesamtzusammenhang bildenden Charakter des Organismus kritisiert, denn die Analyse von Einzelteilen, so notwendig sie sei, kann nicht die Analyse des gemeinsamen Wirkungszusammenhangs ersetzen. Sein Beispiel ist das Skelett als Ganzes: »Es wäre meiner Meinung nach übertrieben, in jedem Knochen nichts anderes zu sehen als ein Ergebnis momentaner und unmittelbarer physikalischer und mechanischer Bedingungen; denn das hiesse in diesem Zusammenhang das Prinzip der Vererbung leugnen. Und obgleich ich in 38

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ne habe oder bilde die Natur ein ›Gedächtnis‹, denn sie vermag sich zu re-produzieren und die Form vergangener, grundsätzlich vergänglicher Individuen über lange Zeitspannen hinweg zu bewahren. Dem Konzept des Genoms, genauer: seiner Funktion bzw. Wirkungsweise im Zusammenhang der biologischen Fortpflanzung von Individuum und Gattung, kommt nun aber ausschließlich eine Rolle bei der Aktualisierung, Verwirklichung einer Disposition bzw. (seit Durchsetzung der Computer-Metaphorik) des Abrufs eines Programms zu. Damit verbleibt das Konzept des Genoms ganz in der Form der Wiederholung (wenn auch nicht unbedingt der einer identischen, sondern durchaus variierenden Wiederholung, wie Mutation und Modifikation zeigen), nimmt jedoch nicht den Charakter der Erinnerung an: Das Genom erinnert nicht Vergangenes, sondern kommt als ein aktueller Faktor im Wirkungsgefüge der Ontogenese (also auch in Interaktion mit Umweltfaktoren) zum Tragen – so sehr auch sein bloßes Vorhandensein auf Fragen der Entstehung und Herkunft, also auf seine Vorgeschichte und Vergangenheit verweisen mag.56 Zugespitzt formuliert: Genome haben eine Vergangenheit, aber sie vergegenwärtigen sie nicht als Vergangenheit. Sie sind ein Ergebnis vergangener Entwicklungen, nicht deren zusammenfassende oder auswählende virtuelle Darstellung (Erinnerung). Insofern kann in Bezug auf das Genom von einer bestimmten Anordnung, Konstellation, Konfiguration gesprochen werden, die ›Information enthält‹, ›gespeichert‹57 hat, welche für den Lebensprozeß des aktuellen Individuums einen de-

diesem Buch immer wieder versucht habe, die unmittelbare Wirkung von anderen Ursachen als der Vererbung zu betonen, kurz, diesen Begriff auf eine Arbeitshypothese in der Morphologie zu beschränken, ist doch die Vererbung fraglos ein äußerst wichtiges wie auch geheimnisvolles Faktum; sie ist einer der grossen Faktoren in der Biologie – wie auch immer wir versuchen mögen, uns eine ihr zugrundeliegende physikalische Erklärung vorzustellen, oder wie sehr uns das auch misslingen mag.« (Thompson 1917, 321/ 322) 56. Diese Vergangenheit läßt sich jedoch nur als kausale Ereigniskette rekonstruieren, die Zeit gebraucht hat, um sich im gegenwärtigen Geschehen zur Geltung bringen zu können. Nur in der Perspektive eines Beobachters, also mit Distanz zum Geschehen, von außerhalb und in einem gewissen räumlichen und zeitlichen Überblick, kann überhaupt der Zusammenhang zwischen längst vergangenen und aktuellen Situationen (z.B. Systemzuständen) hergestellt werden und ein Vergleich gezogen werden, der Übereinstimmung oder Unterschied feststellt. In diesem Sinne ist Geschichte, sind Entwicklung und Erzählung gleichermaßen eine immer schon nachträgliche Konstruktion. Auch hier bestätigt sich der Grundsatz, daß Beobachter- und Teilnehmerperspektive einander in der Weise ausschließen, daß man jeweils nur eine Perspektive bewußt einnehmen kann, während man sich jedoch zugleich immer auch der anderen zurechnen könnte – in einem anschließenden Akt des Beobachtens oder Verhaltens. 57. Vielleicht sollte zurückhaltender davon gesprochen werden, daß Information sich nicht in den Gegenständen, im Objekt befindet, sondern erst in der Relation zu einem Beobachter für diesen entsteht, nämlich durch seine spezifischen Bedingungen, die 39

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terminierenden, programmierenden, oder vorsichtiger ausgedrückt: einen konditionierenden Einfluß ausübt.58 Bei solcherart gespeicherten Informationen bzw. bestimmten materialisierten Formen (die sowohl in Selbstorganisationsprozessen im allgemeinen wie auch in der artspezifischen Reproduktion im besonderen zu finden sind) läßt sich von einer »wiederholbaren Materialität« (Foucault)59 sprechen, sofern Informationen bzw. Formen in den aktuellen Zusammenhang quasi perfomativ wiederaufgenommen werden können.

Erinnern und Wiederholen Anders als der biologische Begriff des (irgendwie verkörperten) ›Gattungsgedächtnisses‹60 verdankt sich die gängige Redeweise von Gedächtnis der Nähe zum Begriff des Erinnerns als einer Fähigkeit von Individuen, sich vergangene Ereignisse zu vergegenwärtigen, etwas als Vergangenes in der Gegenwart vorzustellen.61 Dabei ist es nicht nötig, das, was erinnert wird, in actu zu wiederholen; die

eine Differenz als Differenz wahr- (und man könnte sagen: wichtig-) nehmen. Insofern gibt es da draußen, als Objekt, quasi natürlich, keine Information (vgl. Janich 1994). Vielmehr scheint sie erst im Auge des Betrachters zu entstehen – aber dies wäre nur die Umkehrung der vorhergehenden Einseitigkeit. Die Auffassung, die hier vertreten wird, versteht sich weder als ein informationstheoretischer Objektivismus (nicht Ontologie oder Materialismus der Information) noch als informationstheoretischer Subjektivismus: letztere Position ist deshalb abzulehnen, weil auch die Konstitution von Information im Beobachter unweigerlich auf etwas, einen Erfahrungsgehalt, eine Wahrnehmung, ein Erleben, z.B. ein Gefühl, bezogen ist, dem eine bestimmte entscheidende Rolle beigemessen wird. Information ist also, noch einmal mit Gregory Bateson gesagt, derjenige Unterschied, der einen Unterschied macht, also nur kontextuell bestimmbar. 58. Die Konditionen, welche durch das Genom gesetzt sind, wirken sich als organisierender Faktor für die Entwicklung aus, die ein werdendes Individuum durchläuft, obwohl auch diese Entwicklung wiederum verändernd auf das Genom zurückwirken kann. 59. Foucault 1969, 149. 60. Es gibt andere Bedeutungen dieses Begriffs in der Kulturtheorie und Philosophie (z.B. bei Jürgen Habermas 1976), die in der Anwendung dieses Terminus auf das »Menschengeschlecht« (im Englischen hieße das ›human race‹) den Akzent gerade nicht auf das Biologische, sondern auf das spezifisch Menschliche, nämlich seine Sprach-, Kultur- und Vernunftbefähigung legen und somit das ›Gattungsgedächtnis‹ als fundamentale Kategorie der Geschichte verstanden wissen wollen. 61. Hans-Georg Gadamer unterscheidet eben Erinnerung (und dazugehörig: Gedächtnis) von Geschichte, indem er die Erinnerung als memoria vitae an ein individuelles Erleben einzelner Personen knüpft, zugleich jedoch das zu Erinnernde als einen Stoff einführt, der als Erlebtes etwas Erzählbares ist, eine Geschichte, die anderen mitgeteilt werden kann und insofern eine soziale Dimension eröffnet, die ja schon durch die Sprachlichkeit der Artikulation der Erzählung für das zu Erinnernde konstitutiv ist. »Geschichte als Erinnerung durchlebten Lebens« ist also zunächst eine erzählte Geschichte und wird erst durch einen verwickelten Prozeß »›zur Geschichte‹« (Gadamer 1996, 12). 40

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Vorstellung einer vergangenen Handlung muß nicht ihren aktuellen Vollzug (oder Nachvollzug im Erleben) bedeuten. Man kann also den Begriff des Erinnerns von dem der Wiederholung unterscheiden:62 Wiederholung ist demnach die Aktualisierung des Vergangenen als gegenwärtiges Ereignis, während Erinnern nicht Wiederholen des vergangenen Geschehens bzw. Erlebens, sondern eine Vorstellung des Vergangenen ist, die aber ebensowenig bloß wiederholt wird: Im Erinnern verbindet sich mit dem Vorstellen des Vergangenen ein Wissen davon, daß es Vergangenes ist, was gegenwärtig vorgestellt wird, d. h. keine Aktualität von der Art, die sich wie andere Gegenwart handelnd und eingreifend (kausal) beeinflussen läßt. Allerdings kann die Betrachtungsweise die mit dem vergangenen Geschehen verbundenen Einschätzungen, Wertungen und vermeintlich zwingenden Konsequenzen und damit auch den Rahmen für gegenwärtiges Entscheiden und Handeln verändern (bekanntlich eine der basalen Erfahrungen, die in der Psychotherapie gemacht werden können). Die Rückkehr des Vergangenen als Vorstellung, d. h. als Erinnerung, ist deshalb immer eine gebrochene. Wiederholung kann vollkommen ohne Erinnerung (ohne Vergangenheitsbewußtsein, d. h. ohne Wissen, daß es sich um Vergangenes handelt) geschehen, aber durchaus für die Erinnerung einen Anlaß bieten, des Vergangenheitscharakters des Wiederholten eingedenk zu werden. Dies impliziert das zweite Charakteristikum des Erinnerns: Erinnern ist immer ein subjektiver Vorgang, der als eine Realisierung eines spezifischen Selbstbezuges des Subjekts verstanden werden

Die Geschichte, welche aus der objektivierenden Tätigkeit der Geschichtswissenschaft hervorgeht, ist dann eben »überindividuell« und abgelöst von einer bestimmten, einzelnen Subjektivität. Deshalb kann sie keine Erinnerung mehr sein. Nur in einem übertragenen Sinne kann sie die kulturelle Funktion übernehmen, uns z.B. an die Toten zu gemahnen. Dies kann Vorstellungen beim Individuum wachrufen, die von Ähnlichkeit zwischen seiner eigenen Lebensgeschichte und den objektiven bzw. von anderen erlebten Ereignissen gezeichnet sind. Jedoch wird und kann sich ein Individuum immer nur an seine eigene, durchlebte Geschichte erinnern, nie an die der anderen. Fremdes Leben läßt sich nur imaginieren. 62. In ähnlicher Weise Margalit 1997: »In der Bibel wird von den Kindern Israels verlangt, sich des Sabbat und des Passah zu erinnern und beide zu bewahren. Die Bibel scheint beides gleichzusetzen; ich will zwischen beiden unterscheiden. Die Tradition bewahren bedeutet, sie mit normativer Kraft zu versehen. Das heißt u.a., eine hinreichende Rechtfertigung einer Handlung besteht darin zu zeigen, daß sie ›im Einklang mit der Tradition‹ steht. Sich der Tradition zu erinnern, impliziert so etwas dagegen nicht. Es ist mir möglich, mich des Sabbats zu erinnern, ohne mich den dazugehörigen Einschränkungen zu unterwerfen. Natürlich beinhaltet die Bewahrung der Tradition immer auch, sich ihrer zu erinnern: das Gegenteil gilt jedoch nicht.« (Margalit 1997) Bedenkt man jedoch, wie oft man mit einer überkommenen Praxis konfrontiert ist, deren Akteure kaum oder gar kein Bewußtsein, also keine Erinnerung an das haben, was das bedeutet, das sie vollziehen, so scheint die Einschätzung, daß Wiederholung Erinnerung einschließt, in Frage gestellt. 41

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kann. Erinnern heißt immer Sich-Erinnern: Auch wenn man durch etwas an etwas anderes erinnert wird, kann letztlich nur das Subjekt selbst das Erinnern vollziehen. Es ist unmöglich, sich erinnern zu lassen, wenn man selbst nicht fähig oder in der Lage ist, sich zu erinnern. Darin zeigt sich auch die Gegenwartsgebundenheit des Erinnerns: Es vollzieht sich immer aus der Gegenwart eines Subjekts heraus, indem es etwas zeitlich Nichtgegenwärtiges, Vergangenes in der Gegenwart vorstellt, d. h. in einer virtuellen oder imaginären Präsenz, die – für ein Subjekt, einen Beobachter – nicht in gleichem Maße den Status von Wirklichkeit beanspruchen kann wie eine aktuelle Wahrnehmung eines anwesenden Gegenstandes.63 Während also, um mit Kierkegaard64 zu sprechen, die Wiederholung an einem Vergangenen festhält, indem sie es nach vorne – in die Gegenwart – (wieder-)holt und gleichsam noch einmal – als Fortsetzung der Gegenwart bzw. als Gestaltung einer möglichen Zukunft – im Hier und Jetzt zu verwirklichen versucht, wäre die Erinnerung eine rückwärts gewandte Wiederholung, die das Vergangene als Vergangenes bewahrt und sich mit der Retrospektive begnügt, ohne die gegenwärtige Wirklichkeit selbst zu verändern. Mit beiden Versionen der Wiederholung ist das Moment der Auswahl verbunden, denn es gibt immer Alternativen, die auch hätten gewählt werden können: Ob die Erinnerung an diesen oder jenen Moment der Vergangenheit bzw. nur an einen bestimmten der vielen Aspekte des Vergangenen erfolgt oder ob eine bestimmte Idee oder Tradition aufgegriffen wird, um sie zu verwirklichen oder fortzusetzen – immer bedarf es der Selektion zwischen Alternativen.65 Dieses Aussortieren und Nichtberücksichtigen von Alternativen ist konstitutiv dafür, daß Gegenwart durch Wiederholung (verwirklichende oder erinnernde) bestimmt und konkretisiert wird. Das ist jenes Vergessen, von dem Nietzsche gesprochen hat, als er die Lebensfähigkeit von Individuen wie Kulturen angesichts ihrer histor(ist)ischen Erkrankung beschwor.66 Dadurch erweist sich Gedächtnis als ein Differenzbegriff, der sich nur innerhalb des Spannungsfeldes von Erinnern und Vergessen überhaupt entfaltet und verstanden werden kann.

Gedächtnis und Bewusstsein Während also die Kennzeichnung des Genoms als einer Matrix ausreicht, die zu bestimmten Wiederholungen innerhalb einer ontogenetischen Entwicklung Anlaß geben kann und deren Speicherfunktion als Erhaltung von Informationen für den Reproduktionsprozeß der spezifischen Eigenschaften von Individuen einer

63. Es sei denn unter dem Vorzeichen der Halluzination, welche sich jedoch als Pathologie erweisen und zumindest von Dritten als eine solche Täuschung, Verwechslung mit Realität erkannt werden kann. 64. Kierkegaard 1843 (vgl. a. Strowick 1999). 65. Die Bestimmtheit von Alternativen erscheint so als Reservoir von Möglichkeiten, als Gedächtnisraum, in dem das, zwischen dem gewählt werden kann, soll und muß, als schon vorhanden angesehen werden kann. 66. Vgl. Nietzsche 1874. 42

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Art zu begreifen ist, müssen Gedächtnisse hingegen als etwas gefaßt werden, das prinzipiell erinnerbar ist, das mithin einen retrospektiven Bezug auf Vergangenes herzustellen erlaubt. Gedächtnis ist also bezogen auf mögliches Bewußtsein, und zwar von Vergangenem, d. h. es ist bezogen auf Erinnerung, die im Bewußtsein vollzogen wird. Diese Bedingung der Erinnerbarkeit bedeutet nicht, daß alles, was ›in‹ einem Gedächtnis ist, tatsächlich wenigstens einmal erinnert werden muß oder auch nur erinnert werden kann – es kann unbewußt bleibende Gedächtnisinhalte geben. Offenkundig unmöglich wäre jedoch die Erwartung, ein Individuum solle sich an verkörperte Formen, z. B. an seine Knochen oder an seine Leber, erinnern, weil sie sich aufgrund eines genetischen Programms, also gespeicherter Information, in ihm gebildet haben. Zwar sind die Form und die damit verwobene Funktionsweise der körperlichen Organe auch eine Bedingung der mentalen Existenz, des psychischen Seins. Aber diese Bedingungen können nie direkt Gegenstand des Bewußtseins werden, sie sind nur in eingeschränktem Maße der unmittelbaren Empfindung zugänglich bzw. dem Subjekt allein als vermittelte, auf Dritte oder Techniken gestützte Erfahrung gegeben. Wenn Gedächtnisse als Speicher bezeichnet werden, dann kann sich das nur auf Speicher ganz spezifischer Art beziehen: Ihre Speicherfunktion ist immer auf Erinnern bezogen, also auf das Herstellen – qua Vorstellung – von Bezügen auf Vergangenheit als vergangene, kann also nur in Zusammenarbeit mit dem Bewußtsein ihre spezifische Funktion für das Erinnern erfüllen.67 Gedächtnisse stehen somit zwischen der ›Äußerlichkeit‹ von Speichern und der ›Innerlichkeit‹ des Bewußtseins. Sie lassen eine (unbewußte) Aufzeichnung zu, aber ihre reproduktive Funktion realisiert sich im Bewußtsein. Als Registratur der Erfahrung überschreiten Gedächtnisse die bewußte Wahrnehmung und können so zu Erinnerungen Anlaß geben, die noch nie zu Bewußtsein gekommen sind. Die Unterscheidung von Speicher, Gedächtnis und Erinnerung läßt sich also folgendermaßen treffen: Speicher können – in konstruktivistischer Sicht – als Unterscheidungsanlässe für Prozesse eines Systems fungieren, durch die es bestimmte vergangene (System-)Zustände oder Entwicklungen zu wiederholen in der Lage ist bzw. die Steuerung aktueller Prozesse ausrichten kann; Erinnerungen hingegen sind Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse bzw. mit ihnen verbundener Erlebnisse im psychischen Modus des Vorstellens (virtuelle Präsenz); und Gedächtnisse wiederum sind dasjenige, was prinzipiell erinnerbar ist und für das Erinnern vorausgesetzt werden muß, sofern dieses sich eben nicht auf die Ausführung eines Programms zurückführen läßt, auf die Reproduktion als (auch variierende) Wiederholung eines Prozesses, als stetige, rhythmische bzw. zyklische Repetition (etwa Herzschlag) oder auf die Wiederkehr des Gleichen (näm-

67. Foerster 1985 hat vor Bibliothekaren darauf aufmerksam gemacht, daß Archive, welcher Art auch immer, noch keine Erinnerung sind. Dazu bedarf es immer einer supplementierenden Aktivität, eines anderen, für den irgendetwas etwas bedeutet. 43

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lich: des Vergangenen als Aktuelles – gleichsam unterschiedslos, ohne Zeitstellenindex) von Außen, in der Wahrnehmung.68 An dieser Stelle läßt sich ein psycho-logischer69 Begriff des Gedächtnisses von allen anderen, z. B. biologischen oder naturwissenschaftlichen, Gebrauchsweisen unterscheiden, die beliebige Speicher ebenfalls mit dem Begriff des Gedächtnisses belegen. Ranulph Glanville unterscheidet entsprechend drei Ansätze der Gedächtnisforschung: den physischen, der z. B. die Neurologie des Gehirns, dessen chemische und elektrische Analyse und generell jede (naturwissenschaftliche) Beschreibung der physischen Konstitution des Gedächtnisorgans umfaßt; den psychologischen, der das Gedächtnis daraufhin analysiert, wie es sich im Rahmen eines umfassenderen Modells des Psychischen nach Funktionen unterscheidet und seinerseits andere psychische Phänomene erklärt; und den philosophischen, der sich mit den logischen Bedingungen, der Beschreibung der Kriterien sowie mit der Einführung von konzeptionellen Systemen beschäftigt, »innerhalb derer die Erfahrung, die wir vom Gedächtnis haben, im Zusammenhang eines besonderen Diskursuniversums beleuchtet werden kann.«70 Ich werde mich im Rahmen dieser Arbeit auf die naturwissenschaftliche Gedächtnisforschung nur insoweit beziehen, als dort empirische Ergebnisse vorliegen, die zugleich auch für die psychologischen Theorien zu berücksichtigen sind. Diese beiden Ansätze zusammengenommen werden wiederum für meine philosophischen und medientheoretischen Überlegungen hauptsächlich dann in Betracht gezogen, wenn sie für die grundlegende begriffliche Orientierung und die allgemeine theoretische Modellbildung einer philosophischen und medientheoretischen Rekonstruktion der psychoanalytischen Gedächtnistheorie relevant sind. Eine solche psycho-logische Perspektive auf das Gedächtnis ist immer

68. Für letzteres ist es besonders einsichtig, daß zur Identifizierung des jetzt Wahrgenommenen als ein Gleiches schon die Kenntnis dessen vorausgesetzt werden muß, wozu das Aktuelle in einer Gleichheits-, mindestens Ähnlichkeitsbeziehung steht. Wenn ich mich des Vergangenen nicht von selbst erinnern könnte, wüßte ich nicht, ob es sich bei dem aktuell Gegebenen um das handelt, was schon einmal wahrgenommen wurde: Es wäre einfach ein nächstes Ereignis. 69. Wenn ich von psycho-logisch spreche, dann beziehe ich mich nicht auf den eher wissenschaftlich verengten Begriff der universitär-akademischen Disziplin, sondern auf einen relativ unspezifisch gehaltenen, das Psychische im allgemeinen und seine Ordnung, seine Organisation, seine Formen und Funktionen betreffenden Begriff. Neuere Entwicklungen innerhalb der Psychologie geben allerdings Anlaß zur Hoffnung, daß die Psychologie sich von ihrer naturwissenschaftlichen, an experimentellen und statistischen Verfahren orientierten Methodologie einem breiteren Verständnis des Psychischen, seiner Geschichtlichkeit und Geschichte (auch der Disziplin Psychologie selbst), seiner Sozialität und Kulturabhängigkeit zuwendet (vgl. zur historischen u. historisierten Psychologie Jüttemann 1991; zur sozialen Dimension Flick 1995). 70. Vgl. Glanville 1988, 30. 44

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auch eine medientheoretische, insofern an der Geschichte der Psychologie der Wandel technisch-medialer Bedingungen, der die Methoden und Theorien ermöglicht, ablesbar ist. Darüber hinaus ist der Gegenstand der Psychologie, die Psyche, immer schon medial vermittelt, da Individuen nie isoliert von sprachlichen, geschichtlichen, sozialen, kulturellen Kontexten existieren. Und nicht zuletzt ist auch das Gedächtnis selbst – nicht erst seine Erforschung – strukturell immer schon auf Medien – angefangen mit Sprache oder einer bestimmten Bildlichkeit – angewiesen. Diese Zusammenhänge seien im folgenden genauer erläutert.

1.3 Medientheoretische Perspektive Gedächtnis und Medialität Als forschungswissenschaftliches Problem, dem auch mit experimentellen Methoden nachgestellt wird, existiert das Gedächtnis seit gut hundert Jahren.71 Wie schwer faßbar der Gegenstand Gedächtnis ist und welche Probleme er als Gegenstand aufwirft, läßt sich am Konflikt der Thematisierungs- und Behandlungsweisen von Gedächtnis im Moment der Konstituierung der Disziplin Psychologie als Wissenschaft verfolgen. Psychologie im modernen Sinne etabliert sich als akademische Disziplin um 1880, also in der Zeit der Elektrifizierung der Medien. Gerade in dieser Perspektive muß man fragen, welchem Bedürfnis oder welcher Angst diese neue Wissenschaft entsprang und welche Funktion sie im gesellschaftlichen Zusammenhang, im Wissenschaftsbetrieb und speziell für die klassische Disziplin des Geistes, die Philosophie, erfüllte. In welch relativ kurzem Zeitraum aus den Programmen der reinen Forschung verwertbare Strategien entwikkelt wurden, die als Psychotechnik und Taylorismus Einzug in fast alle Lebensbereiche gefunden haben, die für den politisch-sozialen Machterhalt oder ökonomische Optimierung eine Rolle spielen, zeigt sich gerade an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die akademische Psychologie bildet bei weitem nicht die einzige Bestre-

71. Zuvor gab es nur Fremd- und Selbstbeschreibung, die sich auf akkumulierte (Lebens-)Erfahrungen, also auf Introspektion und Beobachtungen anderer Personen berufen konnten. Als experimentelle Versuchsreihen unter kontrollierten Bedingungen werden diese Untersuchungen erst im Zuge der ›Vernaturwissenschaftlichung‹ der psychologischen Fragestellungen durchgeführt, die letztlich am Modell der Biologie, Physiologie und Medizin zur Etablierung der Psychologie als eigenständiger universitärer Disziplin führen. Da jedoch zeitgleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, orientiert am Methodendualismus von Erklären/Verstehen, entwickelt wird (Dilthey), gibt es ein Festhalten am Anspruch der philosophischen Fakultäten, auch für die alten Fragen der Seele zuständig zu sein (auf institutionen- und fachgeschichtlicher Ebene vgl. hierzu Nicole D. Schmidt 1995). 45

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bung in dieser Zeit, die sich dem Psychischen widmet. Neben den Darstellungen der zeitgenössischen Literatur, Musik und Malerei72 versuchen sowohl die Geisteswissenschaften73 – in Reaktion auf die nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Forschung zunehmende Verwissenschaftlichung von Themen, die traditionell der Philosophie vorbehalten waren – als auch die Psychoanalyse – aus medizinischen Schwierigkeiten erwachsen, bestimmte Krankheitsphänomene nachzuvollziehen und zu behandeln –, Beschreibungen der psychischen Phänomene zu entwickeln, um jene Probleme formulieren und bearbeiten zu können, die sich der »Seele im technischen Zeitalter« (Arnold Gehlen)74 aufdrängen. Diese scheinbar bloß zeitbedingte Perspektive zum Ende des 19. Jahrhunderts wirft jedoch sofort die Frage auf, ob sich in den neuartigen Erscheinungsformen vielleicht nur altbekannte Probleme artikulieren, die sich traditionell mit dem Thema »Seele« gestellt haben, oder ob der mediale, d. h. auch technische Charakter des Psychischen dessen Auffassung grundlegend verändert. Ein Argument gegen die Neuartigkeit der Phänomene liefert die Frage nach dem Ursprung von Technik75 und nach dem Bedürfnis, aus dem heraus Menschen sich ihrer zu bedienen beabsichtigen. Das Gedächtnis bietet sich gerade deshalb als Untersuchungsgegenstand zur Beantwortung dieser Frage an, weil es zwei Aspekte impliziert und ineinanderfügt: Einerseits hat das Gedächtnis Bezug zum natürlichen inneren Vermögen der Erinnerung, ist nur über dieses dem Bewußtsein zugänglich und muß doch zugleich als Bedingung und Voraussetzung fast aller anderen höheren psychischen Leistungen angenommen werden. In dieser Hinsicht kann man Gedächtnis als Konstituens für wesentliche Charakteristika des Psychischen oder des Mentalen ansehen, ein Konstituens, das es erlaubt, Infor-

72. Vgl. den reichhaltigen Ausstellungskatalog Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele (Clair/Pichler/Pircher 1989). 73. Vgl. Dilthey 1883. Im Fragment gebliebenen Werk »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« nimmt er sein Bestreben der Kritik der historischen Vernunft noch einmal auf (vgl. Dilthey 1910). Gerade als »Verstehen versus Erklären«-Debatte hat sich der Gegensatz in den letzten Jahrzehnten zunehmend entschärft. 74. Gehlen 1957. Vgl. auch Freuds frühe kulturkritische Schrift »Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Sexualität« (Freud 1908), in der er – bezugnehmend auf konservative Autoren wie Krafft-Ebing und Erb – die damals weitverbreiteten Argumente gegen die Modernität in allen ihren Erscheinungen aufnimmt (vgl. hierzu Glaser 1976, 51ff.). 75. Außer von Heidegger (Heidegger 1949b) ist die Technik auch von Ernst Jünger in metaphysischen Bezug gesetzt worden: »Nun kann zwar die Maschine niemals Kunstwerk werden, wohl aber kann der metaphysische Antrieb, der die gesamte Maschinenwelt befeuert, im Kunstwerk höchsten Sinn erhalten und damit Ruhe in sie einführen.« (Jünger 1950, 58). Zu diesem Problemkomplex, den man mit dem Schlagwort »Technik als Hermeneutik der Natur« belegen kann, vgl. Schönherr 1989; Schirrmacher 1983. Und allgemeiner Baruzzi 1973; Bammé 1983; Bahr 1983. 46

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mation zu speichern und weiterzugeben.76 Hiermit ist ein wesentlicher methodischer Zug des Nachdenkens über das »System der Erinnerung«, das Gedächtnis, angesprochen, innerhalb dessen jedes Eingedenken der Ursprünge, aber auch nüchterne Ursachenforschung sich bewegen muß, die etwas zur Erforschung und Aufklärung des Gedächtnisses beitragen will: Jeder Ansatz trifft auf ein mehr oder weniger gewisses Vorverständnis, das hinsichtlich seiner Tragfähigkeit und Produktivität zu prüfen ist, d. h. ausgehend von bestimmten Annahmen über Fähigkeiten, Leistungen, Aufgaben, Schwächen des Gedächtnisses sind diese einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Eine der wichtigsten Vorbestimmungen liegt darin, daß dem Gedächtnis ein Zweck zugeschrieben wird, der seine Existenz verständlich und nachvollziehbar macht. Oft genug ist dem Gedächtnis in Bezug auf die Seele, die individuelle Person bzw. den Organismus eine dienende Rolle verordnet worden, die man kritisch als dessen »Werkzeugcharakter« ansprechen kann, in welchem das Gedächtnis sich erschöpfen soll. Andererseits bringt der Begriff »Gedächtnis« unmittelbar seinen medialen Charakter ins Spiel, der sich in verschiedenen Sinnessphären entfaltet und vom Wechselspiel der Innen/Außen-Dichotomie beherrscht zu sein scheint. Welche Ebene man auch immer zu erfassen trachtet, sei es die Physiologie des Nervengewebes bzw. des Gehirns, die Wortsprache in Schrift und Sprechen, das Motorische in Gestik, Mimik und Handlung aller Art, sonstige visuelle, akustische, taktile, geruchs- und geschmacksbezogene Merkzeichen oder das psychische Erleben und Bewußtsein – man ist genötigt, sowohl »Inneres« wie »Äußeres« zu thematisieren, da sinnvollerweise ein beständiger Verweisungszusammenhang zwischen diesen Polen besteht. Er-Innerung findet nur im Rückgriff auf (Ver-) Äußerlich(t)es statt, d. h. in einem gemeinsamen Medium. Mit diesem Grundsatz sind die Kennzeichen der Medialität angesprochen, die sich einerseits in (Ent-) Äußerung, Gestaltung und (Ver-)Objektivierung, andererseits in Konsumtion, Verarbeitung und Verinnerlichung in Bezug zu Menschen wiederfindet. Als Marshall McLuhan Medien als ›jede Ausweitung unserer Person über uns hinaus‹ bündig definierte,77 griff er ältere Konzeptionen auf, läßt sich doch die Reihe derer, die in ähnlicher Richtung gedacht haben, gerade im Hinblick auf Gedächtnis und Schrift bis in die griechische Antike zurückverfolgen.78 In medientheoretischer Perspektive sind bisher vielfach die »Medien des Gedächtnisses« als Bedingungen der Realisierung von Bezügen einerseits zur Zukunft (Weitergabe, Vermächtnis, Erbschaft, Vererbung, Überlieferung, Tradierung, Übertragung an nachfolgende Generationen), andererseits zur Vergangenheit (Andenken und Eingedenken, Traditionspflege, Lektüre und Interpretation

76. Auch das Organische wurde – nicht zum letzten Mal – um 1900 (vgl. Semon 1904) als eigentliche Basis der psychischen Funktionen angesehen, welche also erst unter Rückführung auf organische Substrate vollständig zu erklären wären (Dawkins 1976). Aus gänzlich anderem Kontext heraus Lacan 1936, 21. 77. Vgl. McLuhan 1964, 11ff. 78. Auch bei Freud tauchen vergleichbare Überlegungen auf (vgl. Kap. 6.2). 47

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der Überlieferung bzw. historischer Quellen, Ausgrabung i.S. der Archäologie, Spurensuche, -sicherung und -entzifferung) thematisiert worden.79 Alle diese Medien des Gedächtnisses lassen sich als technische Dispositive fassen, die immer nur als Anlässe eines Erinnerns fungieren können, das letztlich von Subjekten vollzogen werden muß. Alles öffentliche Gedenken bleibt bekanntlich folgenlos, wenn sich niemand mehr dabei etwas denkt. Gedenken ohne Erinnerung läuft tendentiell leer, verkommt zu einem bloß äußerlichen Ritual. Aber umgekehrt ist auch die individuelle Erinnerung, so vielfach sie auch vollzogen werden mag, sozial und politisch folgenlos, wenn sie nicht zu einem öffentlichen Medium der gemeinschaftlichen Selbstverständigung wird. Deshalb kommt es darauf an, wie die individuellen Vollzüge mit den kollektiven, die privaten mit den öffentlichen verknüpft werden – und dies ist nicht zuletzt eine mediale Frage. Wenn sich also der spezifische Charakter der Medialität der Gedächtnismedien erst in einer ›Kopplung‹80 von (technisch-apparativen und praktisch-performativen) Dispositiven mit einer irreduziblen Subjektivität zeigt, welche die Dispositivität in konkrete Vollzüge, in eine praktische Aktualität einmünden läßt, die zwar nicht von souveränen Subjekten beherrscht wird, sondern jene notwendigen, historisch jeweils spezifischen Bedingungen ihrer Möglichkeit bereitstellt, in denen sich Subjektivität artikuliert und sich zu sich und anderem ins Verhältnis setzen läßt, dann kann man hierin einen verallgemeinerbaren Grundzug der Medialität erkennen.

Übertragungen Was also mit der Frage nach dem Gedächtnis seit 1900, d. h. im Zeitalter der Technifizierung und des »wiederkehrenden Historizismus«81 auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit von Philosophie und Wissenschaft schlechthin, da allein Gedächtnis, und letztlich erst als kulturelles, den Anstrengungen der Erkenntnis auf allen Gebieten einen nachhaltigen Sinn gibt, indem es Sinn überhaupt zu möglicher Dauer verhilft. Ohne Gedächtnis keine (individuelle wie kulturelle) Kontinuität, Tradition und Transformation, und d. h. keine (Lebens-)Geschichte. Gerade wenn man sich nicht am engeren geistesgeschichtlichen Kontext allein orientiert, um der Frage nachzugehen, wie Wissen auf Dauer gestellt werden kann, scheint es im ersten Überblick sinnvoll zu sein, die größere Zäsur im Übergang zur gegenwärtigen Epoche nicht mit Figur und Werk Kants zu verbinden, sondern den offensichtlichen Einbruch neuer Techniken in das Psychische zum Ende des 19. Jahrhunderts wichtiger zu nehmen. Es liegt auf der Hand, in diesem Kontext nach Medialität und Medium der Psychoanalyse zu fragen, die als Erinnerungstheorie und -verfahren aus jener

79. Vgl. hierzu Assmann/Assmann 1994. 80. ›Kopplung‹, ›Verknüpfung‹, ›Verschaltung‹ sind die gängigen technischhandwerklichen Metaphern, welche zur Darstellung der komplexen Verhältnisse der Lebenswelt in modernen Gesellschaften herangezogen werden. 81. Vgl. Marquard 1962, 29ff. 48

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Epoche des Umbruchs hervorgegangen ist. Die Psychoanalyse beschreibt die Wiederkehr des Verdrängten – als Entstelltes –, um die pathologischen Wirkungen durch Erinnern aufzuheben oder in andere Bahnen zu lenken. Dabei zeichnet sie die Bahnen der Wiederholung in der Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit. Insofern Medien eine gezielte, technische Manipulation der Sinnlichkeit und des Imaginären ermöglichen – indem sie Ab- und Anwesenheit, Leere und Fülle verbinden –, lassen sie sich in dieser Hinsicht als Produktion, Distribution und Konsumtion des Fort/Da verstehen82. Aus dieser Bestimmung heraus läßt sich die Bedeutung der Psychoanalyse fassen: Ihr Medium, ihr einziges, wie Lacan betont, ist das Sprechen, und sie läßt es zunächst vor einer Leere vernehmen, als »ein Sprechen vor dem Echo seines eigenen Nichts«83. Daß das Medium selbst immer Resultat bestimmbarer Bedingungen ist, die man einerseits als intersubjektive Situation, andererseits als technische Materialität im weitesten Sinne bezeichnen kann, lautet eine weitere These, von der ausgegangen und die hier vertreten werden soll. Mit ihr ist die Frage nach der Darstellung der Medien verbunden, d. h. der Perspektivismus, der allem Verstehen vorausgeht und eingeschrieben bleibt, so daß Dargestelltes immer nach Maßgabe des Darstellenden erscheint. Darstellung des einen Mediums durch ein anderes meint zugleich eine Zäsur, die bloß unter Verlust, mit Auslassungen, überschritten werden kann84. Jedoch ohne den Übergang, das heißt Kontrast der Medien gäbe es keine Darstellung und folglich kein Dargestelltes. Es ist nicht mehr Übersetzung im hermeneutischen Geist, sondern Medientransposition unter technischen Bedingungen, die die durch die zeitgenössische Datenverarbeitung gesetzten Standards erfüllt. Denn auf Grund des Nichts, der Leere, die sich zwischen unterschiedlichen Medien auftut, läßt sich kein universelles wie punktuell gemeinsames Medium positiv benennen, das Überbrückung durchgängig zu leisten vermag. Unter Bedingungen des Verlustes

82. Vgl. hierzu die Ausführungen McLuhans über Narkose und Narzißmus, in: McLuhan 1964, 49ff. Und natürlich Freud 1920, S. 224f. 83. Lacan 1953, 84f. Daß hier nicht einfach das Schweigen zwischen den Äußerungen der Analysanten gemeint ist, sondern die notwendige Leere und Bedeutungslosigkeit, der Nichtsinn und das Nichtsprechen der Natur, verweist sowohl auf eine grundsätzliche Zäsur zwischen Sprache und Sein als auch auf jene technischen Dispositive, die in verschwiegener Weise die jeweilige historische Formation von Diskursen, von kulturellen Systemen und den in ihnen zirkulierenden Bedeutungen mitbestimmen. 84. Was bei McLuhan soviel heißt wie, daß der Inhalt eins Mediums immer ein anderes Medium sei, wird von Kittler (1985, 271) in die Formel gebracht: »Gegeben sei ein Medium A, organisiert als abzählbare Menge diskreter Elemente E(a1)...E(aa), dann besteht seine Transposition ins Medium B darin, die internen (syntagmatischen und paradigmatischen) Beziehungen zwischen seinen Elementen auf die Menge E(b1)...E(bm) abzubilden. Daß die Elementenanzahlen n und m und/oder die Verknüpfungsregeln kaum je identisch sind, macht jede Transposition zur Willkür oder Handgreiflichkeit. Sie kann nichts Universales anrufen und muß, heißt das, Löcher lassen.« 49

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des einen Kontinuums im Moment der Medientransposition müssen Berührungen des Verschiedenen in Zeit und Raum genügen, um den Bezug über Grenzen hinaus zu gewähren, ohne diese zu tilgen. Damit rückt der Begriff der Übertragung in allen seinen Bedeutungen ins Zentrum der Problematik (vgl. Kap. 4.2). Insofern Freud beständig mit dem Problem der Darstellung gerungen hat, die er dem Psychischen als »Apparat« oder »Triebgeschehen« zu geben trachtete, erweisen sich seine Versuche als »metaphernpflichtig«85 gerade gegenüber der Technik seiner Zeit. Eine bemerkenswerte Ambivalenz kennzeichnet das psychoanalytische Vokabular, so daß man behaupten kann, das Unbewußte der Psychoanalyse seien die Medien, aus deren metaphorischem Vorrat sie sich wiederum ungeniert bedient86. Übertragung, mehr als bloß ein analytischer Terminus, heißt ihr Prinzip, da es sowohl die Therapie als auch die theoretischen Modelle beherrscht.

Fritz Heider: »Ding und Medium«. Eine exemplarische Lektüre Um nun den abstrakt-allgemeinen Charakter der Medialität weiter zu bestimmen, greife ich auf einen medientheoriegeschichtlich frühen Definitionsversuch aus dem Jahre 1926 zurück, der für die hier zu diskutierenden Zusammenhänge außerordentlich produktiv ist. Fritz Heiders durch Niklas Luhmann wieder bekannt gewordener Aufsatz »Ding und Medium«87 geht von wahrnehmungspsychologischen Fragestellungen aus, wie sie sich einem Psychologen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stellen konnten. Einerseits stellt sich dem Meinong-Schüler die Frage nach der Konstitution von Gegenständlichkeit in einer ereignisoffenen Wahrnehmungssituation, die die endlichen Subjekte prinzipiell mit einem ständigen Wandel konfrontiert. Diese erkenntnistheoretische Perspektive der Philosophie wird von Überlegungen aus der psychologischen Tradition der Gestalttheorie ergänzt: Die Formwahrnehmung, welche wesentlich zur Gegenstandskonstitution beiträgt, läßt sich mit Hilfe der von der Gestaltpsychologie seit Christian von Ehrenfels (1890) erforschten Prinzipien konkretisieren. Als genereller Hintergrund der Heiderschen Ausführungen kommt zudem ein wie selbstverständlich genommener, nicht weiter problematisierter Bezug auf Grundvorstellungen der Physik des 19. Jahrhunderts hinzu: Ausgehend von der Gültigkeit der Kausalität und einer elementaristischen Mannigfaltigkeit (in Analogie zu den Atomen) beruft sich Heider letztlich auf einen statistischen, wahrscheinlichkeitstheoretischen Wirklichkeitsbegriff, zu dem jene Gesetzmäßigkeiten der Gestaltwahrnehmung hinzukommen, die Umrisse, Lagen, Übergänge konstituieren.88 Das für die aktuelle Diskussion um die Grundlagen der Medientheorie und ihre Grundbegriffe Relevante ist nun allerdings die (insbesondere von Luhmann

85. 86. 87. 88.

Vgl. Marquard 1962, 20. Vgl. Derrida 1966; Rickels 1988. Heider 1926; Luhmann 1988. Vgl. Heider 1926, 131. 50

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emphatisch aufgenommene) Unterscheidung von fester und lockerer Kopplung89 zwischen Elementen, die den ganzen Unterschied von Ding und Medium ausmachen soll. Dies ist keine metaphysische bzw. ontologische Unterscheidung, sondern eine beobachtungstheoretische, denn hier wird nichts über eine Natur der Gegenstände an sich gesagt, sondern eine perspektivengebundene, relationale Unterscheidungsmöglichkeit angeboten, um die Frage zu beantworten, wann der Beobachter ein Phänomen als Ding, wann als ein Medium bezeichnet.90 Heider spricht auch von »innenbedingter« und »außenbedingter« Schwingung: So wird der Dingcharakter einem Phänomen dann zugesprochen, wenn seine Festigkeit, Kompaktheit und Undurchdringlichkeit, sein Zusammenhalt, seine Konstanz, seine Selbständigkeit, seine Selbstbezüglichkeit größer sind als die der Umgebung bzw. als die von der Umgebung ausgehenden Wirkungen (Störungen). Hingegen ist das Medium dadurch ausgezeichnet, daß es einen Einfluß der Umgebung aufzunehmen, weiterzuleiten und wieder abzugeben in der Lage ist, d. h. es ist durchlässig für die Einwirkungen von außen. Das Medium (was immer es sei)91 als Medium ist idealerweise ganz Vermittlung, das Ding in seiner Dinglichkeit durch und durch Selbstbezug – Heider spricht in diesem Kontext von »Eigenschwingung« (des Dings) im Gegensatz zu (dem Medium) »aufgezwungenen Schwingungen«.92 Wenn sich allerdings Medien durch eine Aufnahmefähigkeit für Außenwirkungen auszeichnen, dann bleibt die Frage der Speicherung noch ungeklärt, da mit Vermittlung – als wesentliches Charakteristikum der Medien – zunächst eine unbegrenzte Aufnahmefähigkeit, Formbarkeit des Mediums gemeint ist. In diesem Kontext ist es aufschlußreich, daß Heider im Abschnitt »Spuren als Vermittlung« auf das Problem eingeht, wie Medien trotz ihrer grundsätzlichen Formbarkeit durch äußere Einflüsse, d. h. durch von außen aufgezwungene Muster, dennoch eine statische Form annehmen können, die gleichwohl noch eine Vermittlungsfunktion zu erfüllen in der Lage ist: »Auch etwas Statisches kann Vermittlung sein, und wir nennen diese Vermittlung dann meist Spur. Veränderungen in der Lage der Festkörper, Veränderungen an weichen Dingen sind Spuren, durch die hindurch wir das verursachende Geschehen erkennen können. […] die Spur wird um so charakteristischer sein, je mehr Freiheiten das Medium in dem Moment hat, in dem ihm die Spur eingedrückt wird.« Und Heider fährt fort: »Freilich ist es gut, wenn das Spursubstrat dann das Mediumhafte verliert und zu einem Festkörper wird; dann erst wird die Spur zu etwas Dauerndem. Das Medi-

89. Vgl. Heider 1926, 135. 90. Es ist also nicht ein für allemal ausgemacht, was Medium, was Ding ist: Gegenüber der Luft ist Glas kein Medium (sondern Ding, d.h. undurchdringlich und nicht zu einer Übertragung fähig), wohl aber gegenüber dem Licht. 91. »Was in den Medien geschieht, ist von der Form der ankommenden Energie abhängig, die spezielle Beschaffenheit des Mediums ist für die Form des Geschehens weitgehend gleichgültig.« (Heider 1926, 116) 92. Heider 1926, 117. 51

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um ist erstarrt, es kann keiner neuen Vermittlung mehr dienen. Die Spur ist nun etwas Eigenbedingtes«.93 Mit Hilfe der Spur, die zugleich zeichenhafte Vermittlung als auch fixierte Speicherung bedeutet, bringt Heider also das Prinzip der festen bzw. lockeren Kopplung in Anschlag, um den Übergang vom Medium zum Ding als eine Verhältnisbestimmung von absoluter Vermittlung zu dinghafter Unveränderlichkeit zu illustrieren. Damit läßt sich hier die Frage nach Gedächtnisfunktionen anschließen: Speicherung als funktionale Bestimmung der Medialität – neben Aufnahme (Datengenerierung), Transformation (Datenumformung wie z. B. Rechnen) und Übertragung (Datentransport) – ist selbst als relationaler und beobachtungstheoretischer Begriff aufzufassen, als ein Mehr oder Weniger von Fixierung bzw. Verlust von (Ein-)Wirkung. Eine solche relationale Definition des Mediums bei Heider ist deshalb für den hier zu erörternden Kontext gut zu gebrauchen, weil sie die unabhängig davon formulierten Thesen Freuds zum Charakter des Psychischen in vielen Punkten erhellt (vgl. Kap. 3.1). Wo Heider von fester und lockerer Kopplung von Elementen spricht, geht es Freud um die psychischen Elemente, die den Prinzipien des Primär- oder des Sekundärprozesses unterworfen sind; wo Heider von Fixierung von Spuren spricht, geht es Freud um den Unterschied von Bewußtsein und Gedächtnis. Man könnte also den Unterschied zwischen Bewußtsein und Gedächtnis als den von lockerer und fester Kopplung reformulieren: Den bewußten Prozessen des Psychischen kommt dann ein wesentlich medialer, fluider, veränderlicher Charakter zu, der für die ständige Neuaufnahme von Erfahrung bereit ist, während dem Gedächtnis der Charakter von fixierten, festgekoppelten Elementen des Psychischen entspricht.94 Fragt man vor diesem Hintergrund nach Verbindungen zwischen Medientheorie und Freudscher Metapsychologie, so läßt sich festhalten, daß die Kategorien einer metapsychologischen Analytik mit vollem Recht auf Fragen der Medialität anzuwenden sind, daß aber das Umgekehrte ebenso möglich ist: nämlich das »psychische Geschehen«, wie Freud es nennt, als ein mediales Geschehen zu thematisieren. Die Frage nach den topischen, dynamischen und ökonomischen Aspekten in der Metapsychologie beantwortet Freud mit Hilfe folgender Erklärungsmodelle: Die Topik des Psychischen wird in einem Strukturmodell des psychischen Apparates (Traumdeutung 1900 u. Das Ich und das Es 1923) dargestellt; die Dynamik der seelischen Ereignisse wird im allgemeinen auf zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911) (Lustprinzip und Realitätsprinzip) zurückgeführt;

93. Heider 1926, 139f. 94. Damit ergibt sich allerdings die Widersprüchlichkeit, daß einerseits dem Primärprozeß der Charakter des Beweglichen (im Gegensatz zum durch Widerstände gekennzeichneten, dem Realitätsprinzip unterworfenen Sekundärprozeß) zugeschrieben wird, während andererseits der Wahrnehmung (als Aufnahmesystem des psychischen Apparates für äußere Reize) die Frische und unbegrenzte Aufnahmefähigkeit zugesprochen wird. 52

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und die Ökonomie wird letztlich von der Dualität von Eros und Todestrieb (1920) beherrscht. In vergleichbarer Weise kann man von einer Topik, Dynamik und Ökonomie der Medien sprechen. Von einer abstrakteren Begrifflichkeit aus, wie sie Fritz Heiders Ansatz entwickelt hat, lassen sich nicht nur die technischen, sondern ebenso die natürlichen Medien (Luft, Licht, Wasser etc.) in die Überlegungen zu einer allgemeinen Charakteristik der Medialität einbeziehen, die also die Reflexion der »Natur der Medien« betreffen – im doppelten Sinne: Einerseits geht es um die Materialität der Medien, nämlich als eine notwendige Bedingung der Bestimmung von Medialität, als jenen ›Stoff‹, der in den technischen Dispositiven jeweils zur Disposition steht und durch den sie sich verwirklichen (d. h. auch, aus denen sie selbst bestehen bzw. gebaut sind); und andererseits um die Medialität, welche Natur in Erscheinung treten, zur Darstellung kommen und somit Natur für uns als solche sein läßt.95 Diese beiden irreduziblen Aspekte der Medialität müssen in ihrer Unterschiedenheit zusammengedacht werden, um die »Zäsur der Medien«96 in ihrer auch begrifflich-argumentativen Differentialität deutlich werden zu lassen, in der Bestimmtheit und Unbestimmtheit sich überkreuzen. Denn alle Bestimmungen, die Begriff und Sache der Medien zugeschrieben werden können, verdanken sich einem komplexen Arrangement, dessen Voraussetzungen nicht gänzlich und gleichzeitig in die Reflexion über Medien hineingenommen werden können. Jede Beobachtung der Medien schreibt also ihren blinden Fleck fort, indem sie selbst auf Voraussetzungen beruht, die sie in ihrem Fortgang reproduziert und nicht im selben Moment in Frage stellen kann. Die Materialität der Medien bleibt als ausschließlich objektive Bestimmung von Gerätschaften, Apparaten, Arrangements, Dispositiven immer dann unterbestimmt, wenn der praktische, performative, subjektbezogene Aspekt der Verwendung als ein vollkommen abgetrenntes Moment der Medialität behandelt wird. Denn gerade im Gebrauch der Medien zeigen sich Unbestimmtheitsmomente, die aus der verdinglichten Materialität nicht abzuleiten sind.

95. Natur ist also nicht schlicht, unvermittelt gegeben, sondern immer schon das, was sie ist, in einer Konstellation von Unterschiedenem, von Beobachter und Beobachtetem, von Bewußtsein und Gegenstand, von Subjekt und Objekt. Natur an sich mag sein, was sie will, wir werden es nie wissen und dem nichts hinzufügen können – auch die Zuschreibung eines ewigen, unabhängigen Charakters bleibt eine Zutat des Beobachters, die seinen Denknotwendigkeiten entspringt. So hatte Kant auch von der für die Erkenntnis notwendigen Denkfigur des Dings-an-sich nur als einem denknotwendigen Postulat gesprochen. Das Wegdenken der Beobachtung, um ein Ding-an-sich zu postulieren, setzt immer noch das Denken voraus. 96. Vgl. Tholen 2002. 53

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

2. Psychoanalyse zwischen Wissenschaftsanspruch und Medialität »Lesen heißt borgen, daraus erfinden, abtragen.« Georg Christoph Lichtenberg Seit ihrem Auftreten ist die Psychoanalyse als Provokation für Philosophie und Wissenschaft verstanden worden. Dementsprechend ist sie für ihre Unwissenschaftlichkeit abgelehnt oder im Namen eines wie auch immer gearteten Wissenschaftsanspruchs kritisiert worden, um ihr ein ›ordentliches‹ Fundament zu geben. Wollte man sie als Wissenschaft begreifen, so stand vor allem in Frage, welcher Status ihr überhaupt zugestanden werden sollte: der einer Natur- oder der einer Geisteswissenschaft. Im Rahmen einer Aufarbeitung der Trennungsgeschichte von Geistes- und Naturwissenschaften, wie sie aktuell betrieben wird, steht das Schema dieser Unterscheidung selbst zur Debatte.1 Diese Trennung, die sich seit 1800 auch als universitär-disziplinärer Kanon etabliert hat, ist jedoch immer schon unterlaufen worden – wie z. B. in der Romantik. Auf der Suche nach solchen Momenten der Wissenschaftsgeschichte kommt der Psychoanalyse eine besonders prominente Rolle zu. Um die Zwei-Kulturen-These nicht einfach fortzuschreiben, soll im folgenden im Anschluß an allgemeine Überlegungen zur konstruktivistisch-systemtheoretischen Begriffsbildung ein nicht-hermeneutischer, formaler Sinn-Begriff (Luhmann) ins Spiel gebracht werden. In Kap. 2.1 wird gezeigt, daß eine rein konstruktivistische Konzeptualisierung von Erinnerung und Gedächtnis die dekonstruktive Einsicht hervorbringt, daß Nichtkonstruierbares ein unhintergehbares Moment psychischer Prozesse darstellt. Die konstruktivistische Auslegung des Erinnerns setzt immer schon Unerinnerbares voraus, weswegen gegenüber dem Erinnern am Gedächtnis als eigenständiger Kategorie festgehalten werden muß. Wenn die psychischen Operationen in ihrer wechselseitigen Bezüglichkeit aufeinander als eine stetige Zusammenhangsbildung erscheinen, dann eignet sich der sinnkritische Sinn-Begriff der Luhmannschen Systemtheorie auch als Grund-

1. Vgl. hierzu das Projekt »Leonardo-Effekte. Exemplarische Konstellationen aus der Trennungsgeschichte von Natur- und Geisteswissenschaften« (Leitung: Karlheinz Barck) am Zentrum für Literaturforschung, Berlin. 55

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

begriff für die Thematisierung der wissenschaftstheoretischen Stellung der Psychoanalyse (Kap. 2.2). Das grundlegende Phänomen der Assoziativität des Psychischen, wie es Freud von Anfang an in seiner Praxis begegnet ist, wird als prozessuales Geschehen der Zusammenhangsbildung und -unterbrechung dargestellt. Damit wird das Psychische als mediales Phänomen – im Anschluß an Heider – zur Geltung gebracht (Kap. 2.3).

2.1 Die Spannung zwischen Gedächtnis und Erinnerung in konstruktivistisch-systemtheoretischer Sicht Funktionale Analyse des Psychischen: Phänomene, Begriffe, Operationen Im folgenden sollen einige – im Leben und Erleben menschlicher Subjekte zu findende – Phänomene des Psychischen, die mit dem Erinnern in Zusammenhang stehen, einer funktionalen Analyse unterzogen werden, welche sich an der avancierten soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, der AutopoiesisTheorie Humberto Maturanas bzw. am sog. Radikalen Konstruktivismus der »österreichischen Barone« Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster orientiert. Die Begrifflichkeit dieser Ansätze kann dazu genutzt werden, eine weiterführende funktionale Deutung der dem Erinnern zugrundeliegenden Vorgänge zu eröffnen. Alle drei Theoriestränge bieten eine methodische Distanzierung von der alltäglichen, lebensweltlichen Erfahrung durch begriffliche Abstraktion an. Deren konstruktiver Charakter ist, wie schon einleitend angedeutet und im folgenden zu zeigen sein wird, dem von Erinnerung und Gedächtnis sowie der Theoriebildung der Freudschen Psychoanalyse in gewissen Aspekten nicht unähnlich, obwohl gerade letztere einen gänzlich anderen Umgang mit Unbestimmtheit und Andersheit entwickelt. Dafür steht die Psychologie des Unbewußten ein, die sich – erst recht als Praxis der Psychoanalyse – nicht mit der funktionalen Bestimmung unbewußter Phänomene zufrieden geben kann. Deswegen wird es in diesem Kapitel darum gehen, die konstruktivistische Vorgehensweise soweit wie möglich voranzutreiben, um den Punkt der Nichtkonstruierbarkeit herauszuarbeiten, also der beanspruchten Radikalität des Konstruktivismus eine ebenso radikale Dekonstruktion an die Seite zu stellen. Ziel ist es, das Gedächtnis struktur-funktional im Rahmen einer Theorie der operativen Bezüglichkeit zu reformulieren, wobei der Akzent auf einer Dezentrierung der auf Selbstreferenz fixierten Selbstorganisations- bzw. Autopoiesistheorien liegt. Nimmt man Immanuel Kants Bestimmung des ›Begreifens von etwas‹2 als Maxime der Theoriebildung an, dann geht es darum, einen möglichst klaren Zusammenhang von Begriffen und Sätzen dadurch zu entwickeln, daß zugleich

2. Nur »soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann« (Kant 1790, § 68). 56

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

der Gebrauch dieser Begriffe und Urteile selbst verstanden wird. Das heißt, daß die Mittel des Begreifens selbst den Maßstäben genügen müssen, die an Theoriebildung überhaupt gestellt werden, nämlich möglichst überschaubar und letztlich definierbar zu sein. Es geht also nicht nur um ein Erkennen der Sache, sondern immer auch um die Funktion, welche Begriffe und Urteile im theoretischen Zusammenhang ausüben. Kant hat bekanntlich daraus die Konsequenz gezogen, Begriffe als Produkte des Verstandes und als »Funktionen der Spontaneität (Selbsttätigkeit)«3 zu untersuchen. Begriffe sind demnach »Einheiten, unter die verschiedene, zusammengehörende Vorstellungen untergeordnet werden, sie bestimmen die Regel dieser Zusammenfassung zur Einheit.«4 Die Aufgabe, die die Begriffe im Denken übernehmen, läßt sich also als eine Funktion dieser geistigen Tätigkeit beschreiben: Ihre Funktion ist »die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.«5 Damit ist aber schon angedeutet, daß letztlich ihr Gebrauch im Kontext die Begriffe definiert und dafür die Funktion angegeben werden muß, welche die jeweilige Operation6 bestimmt. Funktional zu nennen ist die Analyse von Phänomenen, wie sie für den hier zu verhandelnden Kontext wichtig sind, dann, wenn sie hinsichtlich ihrer Bestandteile, Strukturen und zu erfüllenden Zwecke analysiert werden. Dabei entwickelt die funktionale Analyse ihre begrifflichen Unterscheidungen nicht in einer von vornherein festgelegten bzw. ein für allemal vorgegebenen Methodologie, z. B. einer hierarchischen oder linear-genetischen Anordnung (erst Definition der Elemente, dann Aufbau der Strukturen und zuletzt Funktionszuschreibungen), sondern in einem wechselseitigen Bezug der Begriffe und theoretischen Sätze zueinander.7 Dies hat natürlich Konsequenzen für das Verständnis, welches man von einer Sache entwickelt, die analysiert wird. Eine solche funktionale Bestimmtheit des Gegenstands der Erkenntnis ist insofern nicht mit dem Wesen der Sache selbst, dem Ding an sich, dem Sein als solchen gleichzusetzen, als immer nur spezifische Hinsichten des Erkenntnisgegenstands thematisiert werden: »Denn alles unser Begreifen ist nur relativ, d. h. zu einer gewissen Absicht hinreichend, schlechthin begreifen wir gar nichts.«8 Bei dieser Strategie der funktionalen Deutung von Phänomenen handelt es sich nicht um Reduktionismus, sondern um einen Wechsel der Fragestellung:

3. Eisler 1930, 58. Vgl. Kant 1781/1787, B 93. 4. Ebd. 5. Kant 1781/1787, B 93. 6. Der Begriff der Operation ist ein abstrakter Terminus, der sowohl für konkrete Handlungen von Individuen wie auch für technische Vorgänge in Apparaten (der Industrie, der Wissenschaft, der Verwaltung, des Militärs etc.) stehen kann. 7. Der Begriff des Elements läßt sich nicht ohne den der Struktur und den der Funktion bestimmen, der der Struktur nicht ohne den des Elements und den der Funktion, und der der Funktion nicht ohne den des Elements und den der Struktur. 8. Kant 1800, VIII A 97. 57

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

(ontologische) Was-Fragen werden in (methodologische) Wie-Fragen verwandelt und beziehen sich damit auf eine eher intern zu nennende Betrachtungsart, die ein Phänomen9 in seinen Strukturen, Elementen und Funktionen zu analysieren versucht und ihm seine Bestimmung unter Hinzunahme des Zusammenhangs, in dem es steht, zukommen läßt (anstatt über das Phänomen in der Weise hinauszugehen, daß externe Gesichtspunkte als das ›eigentliche, dahinterliegende‹ Geheimnis aufgerufen werden, die das ›wahre Wesen‹ offenbaren). Die Perspektive des Beobachtens rückt damit als relationales Korrelat der Beobachtung von Phänomenen notwendigerweise ebenfalls in den Fokus der Aufmerksamkeit und bedarf der (Selbst-)Reflexion. Bei diesem Vorgehen handelt es sich also um eine komplexe Verschränkung, ein Aufeinanderbezogensein von Voraussetzung, Analyse und Konstruktion – sei es des Gegenstands, sei es des erkennenden Beobachters bzw. seiner Beobachtungsperspektive. Diese wechselseitige Bezüglichkeit von Bewußtsein und Gegenstand, Subjekt und Objekt, System und Umwelt, Beobachter und Beobachtetem, Erkennen und Erkanntem, Mittel und Zweck kann als zirkuläre Struktur beschrieben werden, in der das jeweils Unterschiedene sich wechselseitig voraussetzt. So kann z. B. der Begriff der Kausalität, obwohl auf Objektivität zielend, als eine Funktion des Verstandes betrachtet werden, die als solche keinen anderen Grund als eben den Verstand hat. Dieser erzeugt als das Vermögen zu Begriffen und Urteilen jenen Begriff, der eine bestimmte Erfahrung (etwa die der Natur als Gegenstand der Wissenschaft) zu ordnen und im Sinne einer erkenntnisleitenden Idee auszurichten, d. h. letztlich zu verstehen gestattet. Damit erweist sich die Vernunft menschlicher Subjekte als ein zirkuläres Unternehmen, bei dem der Verstand die Mittel, mit denen er sich in der Welt orientiert und die Dinge erkennt, selbst hervorbringt, um sich an ihnen auszurichten und sich dadurch selbst einen (von mehreren) möglichen Maßstäben zu setzen: »Diese Art der Zirkularität ist ein unvermeidliches Kennzeichen nicht nur der Transzendentalphilosophie Kants, sondern jedes Versuchs, ein rationales Modell unserer Erzeugung eines kohärenten Weltbildes auf der Basis unserer Erfahrung zu konstruieren. Es ist das Mittel, um die Lücken zu überbrücken, die der Mystiker mit einer poetischen Metapher schließt. Der Konstruktivist ist sich durchaus im klaren, daß diese Zirkularität nicht vermieden werden kann – er möchte sie lediglich auf ein Minimum reduzieren.« 10 Um einen Gegenstand zu beobachten und zu analysieren, muß also beobachtet und analysiert werden, d. h. es müssen Mittel und Wege für den Beobachter und

9. Unter Phänomen darf man sich nicht ein karges und vereinzeltes Moment vorstellen, denn das wäre schon eine Abstraktion und damit eine Verwechslung des Abstrakten mit dem Konkreten (vgl. Whitehead 1929, 60). Und etwas Unmittelbares ist es nur in Bezug auf den jeweils gewählten Ausgangspunkt: Jede weitergehende Analyse, sofern sie überhaupt möglich ist, wird die Vermitteltheit des scheinbar Unvermittelten erweisen, wie Hegel es in seiner Phänomenologie des Geistes vorgeführt hat. 10. Glasersfeld 1995, 83. 58

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

Analytiker zur Verfügung stehen (bzw. er muß sie sich herstellen oder aneignen können), um Beobachtung und Analyse durchzuführen. Neben den natürlichen Fähigkeiten der Sinnesorgane, mit denen menschliche Subjekte ausgestattet sind, ist es die Denkfähigkeit, mit deren Hilfe das Beobachten und Analysieren zustande gebracht wird. Im Rahmen der generellen Fähigkeit, Unterschiede festzustellen und Unterscheidungen zu treffen, können im einzelnen das Sprachvermögen – zum Hervorbringen und Verstehen von Äußerungen in Worten und Sätzen – und das damit zusammenhängende Vermögen zur Begriffs- und Urteilsbildung, der Verstand, hervorgehoben werden. In aufeinander aufbauender, ansteigender Komplexität können mit Hilfe dieser Kompetenzen – ausgehend von einfachen Benennungen, expressiven Äußerungen, direkten Willensbekundungen und Anweisungen an andere – ganze Diskurse ausgearbeitet werden. Im Zuge dieser Komplexitätssteigerung, aber auch schon zuvor situationsabhängig, können sich die Bedeutungen, d. h. der Gebrauch der verwendeten Wörter und Sätze, verändern. Deshalb wäre im Rahmen der Analyse von Diskursen auf den verschiedenen Ebenen der Elaboration darauf zu achten, ob es sich um Termini handelt, die für die der einfachen, lebensweltlichen Beobachtung zugänglichen Phänomene verwendet werden, oder ob es sich um die entsprechenden Reformulierungen im Vokabular der betreffenden Theorien handelt. Mit dieser anfänglichen Unterscheidung wird in unspektakulärer Weise an eine gängige diskursive Praxis angeknüpft, die den Bereich der (elaborierten, z. B. wissenschaftlichen oder philosophischen) Thematisierung gegenüber der (alltäglichen, auch unspezifischen) Sprachpraxis der Lebenswelt – die wiederum den Gegenstand der ersten bilden kann – unterscheidet. In dieser theoretischen Perspektive muß gleichermaßen der Welt-Begriff als ein subjektrelativer Begriff verstanden werden, auch wenn er auf Objektivität aus ist. Deshalb wird hier vom Lebenswelt-Begriff11 ausgegangen, weil er am geeignetsten erscheint, das Gewöhnliche und Konkrete zum Ausgangspunkt zu machen und nicht mit einer abstrakten Kategorie zu beginnen. Als Terminus und als Titel für ein Gesamtphänomen ist der Begriff der Lebenswelt natürlich selbst schon eine Abstraktion, aber eine, die für jenen den Subjekten unmittelbar vorfindlichen Bereich steht, in dem sich ihr alltägliches Leben abspielt. Insofern jedoch der Begriff der Welt überhaupt verwendet wird, stellen Subjekte zugleich den Anspruch, über ihre bloß subjektive Perspektive hinauszugehen: Welt (auch als Teilkompositum) ist ein Totalitäts- und Grenzbegriff für denjenigen Bereich, der Objektivität beanspruchen können soll in dem Sinne, daß hier alle Dinge und Ereignisse enthalten sind, die intersubjektive Anerkennung finden können. Demnach benötigt man nicht unbedingt einen Bezug auf die Realität an sich, um vom Terminus Objektivität in dieser subjektrelativen Weise vernünftigerweise Gebrauch machen zu können. Die alltägliche Selbstverständlichkeit, daß Wirklichkeit einfach gegeben ist, verschwindet in dem Moment, wo die (Selbst-)Reflexion einsetzt, aufgestört

11. Vgl. Husserl 1935/36. 59

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

durch Inkohärenzen, Mißverständnisse, Fehlschläge. Mit dem Nichtverstehen von (Lebens-)Welt steht auch die Perspektive des Beobachters bzw. sein eigenes Operieren in Frage, denn was Welt jeweils ist, hängt immer auch mit der Perspektive zusammen, die jene auf den Begriff bringt.12 In reflektierter Sicht konstituiert sich so ein Wissen davon, daß schon die Lebenswelt als gestaltete Wirklichkeit kein schlicht natürliches Phänomen in dem Sinne ist, wie es Sachverhalte der natürlichen Umwelt zu sein scheinen. Die Wissenschaften können als ein je besonderer Bereich von der Lebenswelt unterschieden werden, in dem eigene Formen des Umgangs mit auftretenden Phänomenen oder Fragestellungen entwickelt werden. Die Bestimmung der speziellen Verfahren der Forschung und deren (mindestens wissenschafts-)öffentliche Dokumentation, die wissenschaftliche Disziplinen untereinander differenzieren, aber auch Wissenschaft im ganzen von anderen Disziplinen des Wissens und der Praxis (Arbeit, Handel, Kunst, Sport, Spiel etc.) unterscheiden, können dazu verwendet werden, jene Distanzen zu betonen, die zwischen den Wissenschaften und zwischen Wissenschaft und Leben bestehen. In umgekehrter Perspektive können die Wissenschaften als eine Differenzierung der Lebenswelt selbst bestimmt werden, wodurch deren Zusammenhang herausgearbeitet wird. Es hängt von der jeweiligen Perspektive der Untersuchung ab, welcher Aspekt in den Vordergrund rückt. Die Redewendung von den ›vorgefundenen‹, ›gegebenen‹ Phänomenen kann also – konstruktivistisch – reformuliert werden durch ›ausgewählte‹ oder ›konzipierte‹ Phänomene. Im Akt der Unterscheidung und Auswahl, des Festhaltens und Hervorhebens, konstituieren sich aber nicht nur die bestimmbaren Phänomene als Gegenstände des Wissens und der Wissenschaft. Sondern deren genaue Untersuchung fordert die Wissenschaft zur Entwicklung von Begriffen, Methoden, Geräten und Theorien heraus, welche wiederum die Gestalt bestimmen, in der die Phänomene im Forschungsprozeß erscheinen.13

12. Edmund Husserl gehört in den Kreis derjenigen Denker, die vom mentalen Aufbau geistiger Gegenstände sprechen. Er stellte fest, »daß die Operation, die in unserem Wahrnehmungsfeld diskrete einheitliche Objekte schafft, im wesentlichen derjenigen gleicht, die dem Begriff der ›Eins‹ zugrundeliegt. Er fügte die wichtige Einsicht hinzu, daß die gleiche Operation uns auf der nächsten Ebene der Abstraktion instandsetzt, eine beliebige Ansammlung solcher ›Einsen‹ selbst zu einer diskreten einheitlichen Entität zu machen, die wir sodann ›Zahl‹ nennen« (Glasersfeld 1995, 46; vgl. Husserl 1887). 13. Diese vielschichtigen Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Wissenschaft sind wechselseitig: Bestimmte Vorannahmen des wissenschaftliche Wissens verdanken sich dem Alltagswissen, weshalb lebensweltlich gelebte Orientierungen im ganzen und einzelnen Einfluß auf Wissenschaft haben können, wie umgekehrt die Ergebnisse und Methoden wissenschaftlicher Prozesse in die Lebenswelt zurückwirken und dort alltägliches Verständnis zu prägen vermögen. Wichtig für die hier vorgeführte Argumentation ist der praktische, konstruktive Aspekt des aktiven Hervorbringens, Herstellens und Gestaltens der Welt, egal ob es sich nun um den Bereich der Wissenschaft handelt oder um Alltagswelt. 60

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

Gleichwohl ist die begriffliche, theoretische Darstellung eines Problemzusammenhangs nicht das Phänomen selbst, von dem die Forschung und Analyse ihren Ausgang nahm. Begriffe sind nicht das, wofür sie stehen – wobei sich durchaus die Verwicklung ergeben kann, daß die Erklärung eines Problems, seine Theorie, zum dargestellten Problem dazugehört und somit die Darstellung selbst Teil des Problems ist, das sie darstellt. Dies ist in den sog. Geistes- und Sozialwissenschaften der Fall. In deren Bereich bedarf das Dargestellte (z. B. gesellschaftliche Subjekte) tatsächlich selbst seiner Darstellung (z. B. durch die Sozialwissenschaft). Diese wechselseitige Verweisungsstruktur von Untersuchung und Gegenstand – die Rückkopplung des soziologischen Wissens mit der Gesellschaft, die es auf den Begriff zu bringen versucht – kommt auch im Bereich der Gedächtnisforschung zur Geltung. Die wissenschaftliche Darstellung von Gedächtnis und Erinnerung verändert auch die Auffassung, die die Träger dieser Kompetenzen von sich selbst, also ›ihrem‹ Gedächtnis, haben. Die Erwartungen und Hoffnungen, die sich mit dem Zuwachs an wissenschaftlichem Wissen verbinden, verändern das Selbstbild der Individuen schon allein dadurch, daß das Verhältnis zur eigenen und kollektiven Vergangenheit z. B. mit technischen Visionen belegt und zur Verfügungsmasse von Planungsprozessen erklärt wird. Allerdings eröffnen neue (wissenschaftliche) Entwicklungen auch die gegenläufige Perspektive, so daß die Darstellung, Beobachtung, Konzeptualisierung als Teil der dargestellten Phänomene selbst begriffen und somit andere Freiheitsgrade ermöglicht werden. Die wissenschaftlich initiierte Zuschreibung von Eigenschaften und Fähigkeiten wäre also nicht nur als Fremdbestimmung durch Wissenschaft, sondern zugleich als Einschreibung von Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu begreifen. Ohne die subjektiven Kompetenzen Wahrnehmung, Verstehen, Kommunikation, Bewußtsein und Erinnerung – die zugleich notwendige Momente des Wissenschaftsprozesses selbst sind – wäre Gedächtnis als subjektives Vermögen nicht denkbar. Deswegen muß ein zu entwickelndes Modell des Psychischen in konstruktivistischer Perspektive so komplex sein, daß es in der Lage ist, sein eigenes Vorkommen in theoretischer Weise einzubeziehen: Das Gedächtnis (als theoretisches Konstrukt einer psychischen Kompetenz) kommt im Psychischen (als anzunehmende Voraussetzung) vor.14 Die Idee des Gedächtnisses gehört also zum Verständnis des Psychischen dazu, muß jedoch vom Psychischen selbst nicht nur praktisch ausgeübt, sondern als solches gedacht bzw. vorgestellt werden können, also als ein Produkt eben dieses Psychischen, das sich selbst zu begreifen versucht, darstellbar sein – als theoretische Konzeption des Psychischen selbst. Die Freudsche Psychoanalyse hat den Begriff des psychischen Apparats,

14. Gleichwohl ist eine Beschreibung möglich, wenn es gelingt, die »fundamentale Komplexität« (Cramer 1988, 277) zu reduzieren, indem die Fragestellung eine sinnvolle Einschränkung der Aspektfülle ermöglicht. Deshalb ist die funktionale Analyse gut geeignet, die Hinsichten möglichst genau zu bestimmen, in welchen ein Phänomenbereich untersucht werden soll. 61

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

der sich aus unterschiedlichen (Teil-)Systemen zusammensetzt, geprägt. Freud unterscheidet verschiedene Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Denken, Erinnerung, Handlungssteuerung, die dieser Apparat leistet. Er spricht von den verschiedenen Erinnerungssystemen, die ein Gedächtnis insofern bilden, als sie verschiedene Niederschriften der aufgenommenen und zu verarbeitenden Reize und Reizkonstellationen enthalten, die nach jeweils anderen Kriterien angefertigt worden sein müssen (vgl. Kap. 4.1). Damit nähert sich Freud einer funktionalen Betrachtungsweise, indem er die psychischen Systeme durch ihre verschiedenen Aufgaben zu definieren versucht, so wie sie sich aus den Äußerungen des Subjekts, seiner Rede, seinem Verhalten, seinen Symptomen, seinen Träumen und Wünschen rekonstruieren lassen. Die konstruktive Systemtheorie bietet sich also als wissenschaftliche Methode an, um die unterschiedlichen Phänomene des Psychischen zu thematisieren und auf den Begriff zu bringen, soweit es eine systematische Betrachtung zuläßt.

Zum Verhältnis von lebensweltlich erfahrenen und systemtheoretisch gefassten Phänomenen des Psychischen Mit Selbstverständlichkeit geht das alltägliche Bewußtsein im Lebenszusammenhang von seinen Erinnerungsfähigkeiten aus. Schon etwas weniger selbstverständlich ist ihm das Vergessen, das nötig ist, um Erfahrung machen, das heißt: Neues wahrnehmen zu können. Die lebensweltliche Erfahrung bedarf sowohl des Kontinuität stiftenden Erinnerns wie des diskontinuierenden Vergessens, nicht nur um sich im Fluß der Ereignisse zu orientieren, sondern um diesen überhaupt zu haben. Vergessen steht hier als Bezeichnung für jenen fundamentalen Zug des Bewußtseins, ja vielleicht des Psychischen im Ganzen, daß der Übergang von einem Zustand zum nächsten nicht einfach als ein Ein- und Hinzutreten eines neuen Zustands aufgefaßt werden kann, sondern zugleich als ein Verlassen bzw. Loslassen des alten angesehen werden muß. Jede Veränderung en détail betrifft zugleich den gesamten Zusammenhang des Bewußtseins, dem deshalb eine psychische Funktion zugeordnet werden kann, die – ebenso wie das Erinnern – dem Erleben zugrundeliegt: eine Funktion Vergessen.15 In konstruktivistischer Perspektive müssen dem Psychischen selbst jene Vermögen, Funktionen und Fähigkeiten zugeschrieben werden, die der Analyse zugänglich sind, d. h. das Bewußtsein als Moment des Psychischen stellt den Ort dar, von dem aus ein begreifendes Argumentieren über sich selbst systematisch für möglich gehalten werden kann. Psychisches ist also nicht einfach ein Gegen-

15. Die basale Funktion Vergessen geht dem mentalen Zustand des Sich-geradenicht-erinnern-Könnens (so eine Alltagsbedeutung von Vergessen) voraus, denn ohne die Veränderung des Bewußtseins, die gerade darin besteht, etwas nicht mehr im Bewußtsein zu haben, wäre die Feststellung nicht nötig, daß man etwas nicht erinnern, ins Bewußtsein zurückrufen könne, es also vergessen habe, da man es ja dann noch im Bewußtsein hätte. Die Vergänglichkeit oder das Vergehen des Bewußtseins sind Ausdruck des stetigen Vergessens. 62

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

stand der Beobachtung wie andere, sondern es ist derjenige ›Gegenstand‹ einer Analyse, der selbst analysieren können muß. In dieser Perspektive ergibt sich dann eine Korrespondenz zwischen der Beobachtung und dem Beobachteten, da der Beobachter ›seinem Gegenstand‹ (also sich selbst) genau das zuschreiben muß, was er für sich selbst reklamiert, wenn er zu beobachten und zu analysieren beansprucht. Die Vorannahmen zur Beschaffenheit des Psychischen speisen sich also zum einen aus der lebensweltlichen Erfahrung, aus den (auch intersubjektiv-institutionell gebildeten) Fähigkeiten und Strukturen der Individuen, sich in einer Welt zurechtzufinden und zu agieren. Zum anderen verdanken sie sich der Methodologie eines wissenschaftlichen Zugriffs, der versucht, Schritt für Schritt Rechenschaft von seinem Vorgehen zu geben. Durch den Bezug von lebensweltlicher Erfahrung und wissenschaftlichem Zugriff zueinander lassen sich verschiedene Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen, Erinnern, Antizipieren, Entscheiden, Kommunizieren, Handeln etc. unterscheiden, die sich alle wesentlich mit dem Psychischen in Verbindung bringen lassen.16 In konstruktivistisch-systemtheoretischem Sinne führen diese Unterscheidungen im Psychischen zu der Frage, welche Verhältnisse und Mechanismen eigentlich vorliegen müssen, um dieses reichhaltige Repertoire an psychischen Leistungen bereitzustellen. Da Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist, kann es ohne Erfahrung von etwas kein Bewußtsein geben, auch dann, wenn Bewußtsein sich selbst zum Gegenstand wird. Selbst wenn Bewußtsein als spezifische Funktion des Psychischen nicht als ausschließlich an sinnliche Wahrnehmung (äußerer Gegenstände) angeschlossen gedacht werden muß und stattdessen ein Begriff der ›inneren‹ Erfahrung, der Selbsterfahrung des Psychischen, ja des Bewußtseins selber, als eigenständige Leistung angesetzt würde, bedarf es notwendig einer Gegenstandsrelation, eines Bezugspunkts der Vergegenständlichung, zumindest dafür, daß sich Bewußtsein überhaupt konstituieren kann. Denn ohne dieses Moment von Vergegenständlichung (von etwas) könnte Bewußtsein nicht einmal seiner selbst inne werden.17 Da mit dem Begriff der Erfahrung immer schon so etwas wie

16. Das soll natürlich keine Vorentscheidung für oder gegen den Ausschluß des Somatischen bedeuten. Ebensowenig wird behauptet, daß Handeln oder Kommunikation (ausschließlich) ins Psychische fallen oder einzig und allein von diesem determiniert werden. 17. Kant hat die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung des Verstandes, d.h. einer unmittelbaren (Selbst-)Erkenntnis der menschlichen Seelenvermögen bestritten und stattdessen auf die Notwendigkeit einer vermittelten Erkenntnis, d.h. einer auf sinnliche Anschauung bezogenen Verstandestätigkeit verwiesen: »Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein. Im Menschen erfordert dieses Bewußtsein innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subjekt vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne Spontaneität im Gemüte gegeben wird, muß um dieses Unterschiedes willen, Sinnlich63

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

eine Mehrzahl von inneren, psychischen Zuständen gemeint ist18, müssen Zustandsveränderungen angenommen werden, die sich im Bewußtsein bzw. im Psychischen vollziehen und diesem wiederum nachträglich präsent werden können. Erfahrung sei hier also als genereller Terminus verstanden, der zur Zusammenhangsbildung des Psychischen beiträgt und als solcher unter bestimmten Umständen zu Bewußtsein kommen kann. Die dabei feststellbare Veränderung und Beständigkeit beruht auf den psychischen Grundoperationen Vergessen und Erinnern. Darüber hinaus setzt die Rede über Erfahrung schon eine systematische Differenz zwischen Ort und Zeit einer Erfahrung (bzw. Teilen von ihr) voraus: Nur wenn eine operationale Differenz, die sich z. B. als funktional-zeitliche bzw. -räumliche Distanz zwischen der Thematisierung und ihren Themen, dem Beobachten und seinen Gegenständen zeigt, der Möglichkeit nach besteht, kann Erfahrung als Erfahrung19 bestimmt werden. Diese zweite ›Ebene‹20 – die der Beobachtung, Thematisierung oder Darstellung – kann zunächst als sprachlich-begriffliche und als kommunikativ-mediale bestimmt werden.21

keit heißen. Wenn das Vermögen sich bewußt zu werden, das, was im Gemüte liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muß es dasselbe affizieren und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen, deren Form aber, die vorher im Gemüte zugrunde liegt, die Art, wie das Mannigfaltige im Gemüte beisammen ist, in der Vorstellung der Zeit bestimmt, da es denn sich selbst anschaut, nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist.« (Vgl. Kant 1781/1787, B 68f.) 18. Auch wenn man sich auf nur einen Zustand konzentrierte, setzte diese Fokussierung immer schon einen Unterschied zu anderen möglichen psychischen Zuständen voraus, der es erlaubt, den einen als diesen spezifischen Zustand von anderen zu unterscheiden. Darüber hinaus, was noch wichtiger ist, müssen ein anderer Zustand bzw. eine andere Operation des Psychischen vorausgesetzt werden, die die Konzentration aufbringen, etwas (von ihnen Unterschiedenes) zu fokussieren. 19. Hiermit mag an ein phänomenologisches und hermeneutisches Grundprinzip erinnert sein, das da besagt, daß etwas immer als etwas gegeben bzw. verstehbar ist. 20. In logisch-funktionaler Hinsicht ist dieser andere Ort gefordert, aber ontologisch noch unbestimmt. D.h. die Metaphorik (»Ort«, »Ebene«) dient der Ordnung des Denkens und ist nicht gleichzusetzen mit der Ordnung von Gegenständen der realen Welt. 21. Die strikte kategoriale Trennung von Kommunikation und Bewußtsein, die Luhmann theoriebaustrategisch viel Ordnung und Klarheit einbringt, kann im Ausgang von der lebensweltlich vertrauten Phänomenalität nicht sofort einleuchten. Dieses Problem der Luhmann-Exegese kann in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden (vgl. Luhmann 1988). Plausibel wird die strikte Unterscheidung dadurch, daß niemand das Innere des anderen beobachten, sondern nur dessen Zeichen und Verhalten auf Psychisches hin interpretieren kann. Diese Interpretationen können jederzeit kommunikativ thematisiert werden und sind dann als Äußerung den Bedingungen der Kommunikation zwischen (einander weiterhin beobachtenden) Subjekten/Systemen unterworfen, selbst 64

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

Da Beobachtung sowohl als Funktion des Psychischen bzw. des Bewußtseins bestimmt werden kann wie umgekehrt als Funktion der Kommunikation und der Sprache, bedarf Beobachten einer abstrakteren Bestimmung, die beide Dimensionen umfaßt: Luhmann schlägt hier in Anknüpfung an das Forschungsprogramm der cognitive science den Begriff der Kognition vor, den er als »das rekursive Prozessieren von (wie immer materialisierten) Symbolen in Systemen, die durch die Bedingungen der Anschlußfähigkeit ihrer Operationen geschlossen sind«22, definiert. Der Beobachter – als Ergebnis der Zurechnung der Beobachtung zu einer Instanz, die früher philosophisch Subjekt23 genannt wurde und in der Systemtheorie nicht anders als System heißen kann – muß als reines theoretisches Konstrukt verstanden werden, mit dessen Hilfe die Beobachtung sich selbst koordiniert und bestimmt. Bewußtsein oder Kommunikation sind demgegenüber zusätzliche Differenzierungen für die Beobachtung, aber im Rahmen von Beobachtung. Nicht nur Kommunikation, sondern auch das Psychische (einschließlich Bewußtsein) bedarf der Artikulation, einer grundlegenden (Selbst-)Strukturierung. Die verbreitetste Modellvorstellung hierfür geben die Sprache und das Sprechen ab. Allgemeiner kann von einer Zeichenbedingtheit solcher Artikulationsprozesse gesprochen werden, die mit dem Peirceschen Terminus der Semiose gefaßt worden sind.24 In dieser Perspektive kann es keine asemiotischen Vorstellungen bzw. nichtsprachlichen Gedanken geben.25 Da es jedoch in operationali-

jedoch unmittelbar kein Element des Psychischen mehr, also keine Vorstellung, kein Gedanke. Erst in einem weiteren, davon zu unterscheidenden psychischen Akt können kommunikative Vollzüge wiederum Gegenstand des Bewußtseins werden – usw. usf. Gleichwohl sei hier an der begrifflichen Unterscheidung von Kommunikation und Psychischem festgehalten und sie innerhalb des Problemfeldes Gedächtnis und Erinnerung selbst verwendet. Dadurch taucht die Differenz zwischen Kommunikation und Psychischem auf beiden Seiten der Unterscheidung wieder auf: Über Bewußtsein bzw. Psychisches wird mindestens ebenso viel gesprochen wie über die Kommunikation selbst; und die Aufmerksamkeit des Bewußtseins richtet sich nicht nur auf die ständig weiterlaufende Kommunikation, sondern ebenso oft auf das eigene oder fremde Erleben. Deshalb kann leicht der Eindruck entstehen, Kommunikation, in ständiger Begleitung und Voraussetzung des Bewußtseins, sei eine Angelegenheit, die hauptsächlich vom Ort des Bewußtseins aus gesteuert werde. Gegen eine solche instrumentalistische Auffassung der Kommunikation muß daran festgehalten werden, daß Bewußtsein nicht mit Kommunikation und Kommunikation nicht mit Bewußtsein identisch ist. 22. Luhmann 1988, 885. 23. In der klassischen Formulierung Arthur Schopenhauers: »Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, ist das Subjekt.« (Schopenhauer 1818, I, 2, 31). 24. Peirce 1907, 520; vgl. a. Franz 1999. 25. Sprache muß hier in einem weiten Sinne verstanden werden, gibt es doch Bewußtseinszustände, die sich nicht ausdrücken, nicht kommunizieren lassen. Aber es läßt sich durchaus mit Lacan behaupten, Psychisches sei wie eine Sprache strukturiert, womit 65

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

stischer Sichtweise nicht einfach Elemente und Strukturen gibt, sondern nur sofern sie mit bestimmbaren Vollzügen bzw. funktionalen Aktivitäten verbunden sind, die (konstruktivistisch-systemtheoretisch) von dem in Rede stehenden System (oder Organismus) selbst ausgeführt werden müssen, steht also im Hintergrund dieser Modellbildungen ein allgemeiner Begriff der Operationalität. Der abstrakt gefaßte Begriff der Kognition als Operieren mit Differenzen kann auf verschiedene Medien angewendet werden. Und obwohl Bewußtsein wie auch Kommunikation unter der Anforderung von Anschlußfähigkeit stehen, also sinnhaft prozessieren, wie Luhmann26 es genannt hat, operieren sie in unterschiedlichen Medien, deren Elemente sich als Vorstellungen, Gedanken, Gefühle auf der einen Seite, als Signifikanten, Zeichen, Symbole, Worte auf der anderen Seite bestimmen lassen. Hierbei handelt es sich nicht um ein instrumentelles, unilaterales oder hierarchisches Verhältnis, vielmehr operieren Bewußtsein und Kommunikation im Medium.27 Die Elemente, aus denen sich Psychisches und Kommunikation aufbauen und die sie selber als mediale Phänomene erscheinen lassen, können ihrerseits relational bestimmt werden.28 Medium und Form bzw. Element verhalten sich zueinander wie lockere Bindung zu fester Kopplung. In dieser Rückbindung ans Medium besteht die Materialität29 der Kommunikation und des Psychischen. Das hat auch unmittelbar ›inhaltliche‹ Konsequenzen, denn die Bestimmung der für diese Untersuchung gewählten Gegenstände – hier: Phänomene des Erinnerns, des Bewußtseins und der Kommunikation – hängt vom Fortgang und Stand der Theorieentwicklung und der Selbstthematisierung dieser (wissenschaftlichen) Prozesse und ihrer Voraussetzungen ab. Diese selbstbezügliche Theorieanlage hat zur Konsequenz, daß ein gewisses Maß an Unbestimmtheit, das den Theorieprozeß für nachträgliche Modifikationen offen hält, auch den Charakter der korrespondierenden Gegenstände tangiert. Es zeigen sich Ähnlichkeiten von Theorieaufbau und Gegenständen, hier zunächst des Psychischen und seiner Instanzen, insbesondere Gedächtnis und Bewußtsein. Die drohende Fixierung des Bewußtseins durch einmal gemachte

auf die grundlegende Artikulationsfunktion der Sprache als einer Ordnung der Signifikanten verwiesen ist, die in der Tat nicht identisch ist mit der Ordnung der Kommunikation, gar der Verständigung. 26. Sinn als Grundbegriff der Soziologie, vgl. Luhmann 1971 und Luhmann 1984. 27. Vgl. hierzu Kap. 1.3. 28. Zum methodologischen Relationalismus vgl. die differentielle Linguistik Ferdinand de Saussures 1916 oder Luhmanns (1988, 890f.) Bezugnahme auf den Medienbegriff bei Fritz Heider (1926). 29. Damit ändert sich auch der Begriff der Materialität, der nicht unabhängig von ihrer ›Gegebenheitsweise‹ (Husserl 1935/36) eingeführt werden kann, die nicht nur objektive Bestimmungen umfaßt, sondern – wie in Kap. 1.3 angedeutet – immer einen relationalen, d.h. letztlich einen auch subjektiven Bezug impliziert. 66

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

Vorstellungen (bzw. der Kommunikation durch ebensolche Äußerungen) wird durch das regelmäßige Vergessen aufgeschoben. Nur wo vergessen wird, gibt es Erinnern und vice versa; nur wo Worte verklingen und weitergesprochen wird, kann auf schon Gesagtes zurückgegriffen werden. Beides kann jedoch nur vermittels des Bewußtseins gemerkt und mit Hilfe der Kommunikation koordiniert werden. Hierzu müssen Medien beansprucht werden, welche Kommunikation und Erleben (Wahrnehmen, Denken, Fühlen) ermöglichen.30 Die Prozeßhaftigkeit, derer die mediengestützten Systeme der Kommunikation und des Psychischen durch Bestimmung ihrer Momente (Elemente, Strukturen, Operationen) habhaft zu werden versuchen, bedeutet also ein beständiges, wechselhaftes Geschehen von Bezugnahme und -auflösung, ein Geflecht von Vollzügen oder Aktivitäten, zu dem in direkter oder indirekter Weise jeder Bestimmungsversuch wieder etwas beiträgt.31

Funktionen und Strukturen des Bewusstseins Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, fundamentale Leistungen des Psychischen, die – wie Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Bewußtsein – mit Selbstverständlichkeit in Anspruch genommen werden, in systemtheoretischer Perspektive zu erfassen. Dadurch soll die spezifischere Frage nach dem Erinnern vorbereitet und auf die Notwendigkeit der Kategorie des Gedächtnisses verwiesen werden. Zugleich soll deutlich werden, wie weit die Konzeptualisierung dieser psychischen Phänomene mit systemtheoretischen Mitteln führen kann. Da das Bewußtsein als derjenige Fokus in Erscheinung tritt, der Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Absichten etc. in der Weise miteinander in Beziehung zu setzen gestattet, daß sie als solche selbst dem Subjekt präsent werden, geht es zunächst darum, die verschiedenen Anforderungen für das begriffliche Profil zu bestimmen, die mit dem Phänomen Bewußtsein in Zusammenhang gebracht werden. Bewußtsein als psychische Funktion läßt sich als ein relationaler Kontrastbegriff bestimmen, der die Synthese unterschiedlicher, ja gegenstrebiger Aspekte oder Tendenzen bildet.32 (Selbst-)Bewußtsein bildet ei-

30. Kommunikation stellt für Bewußtsein eine Dimension der Perturbation, der Unruhe, der Faszination und der Inbeschlagnahme dar (vgl. Luhmann 1988, 887). 31. In diesem Sinne spricht Freud noch der Speicherfunktion des Gedächtnisses einen dynamischen Charakter zu, wenn er von den »Umschriften des Gedächtnis« (Freud 1950, 52. Brief) spricht, die es konstituieren und ständig in Bearbeitung halten. Das Palimpsest der verschiedenen Versionen, die sich nachträglich durch Analyse zur Darstellung bringen lassen, ist bloß das Ergebnis einer fundamentalen psychischen Tätigkeit oder »Arbeit«, wie Freud gesagt haben würde. In ähnlicher Weise spricht Israel Rosenfield davon, daß Erinnern nichts anderes sei als ein beständiges Umarbeiten des Erinnerten; daß es strenggenommen unzureichend ist, von einem statischen Verständnis solcher Begriffe wie Speicher auszugehen (vgl. Rosenfield 1993, 16). 32. Die komplexe Begriffsbestimmung muß das Bewußtsein sowohl als durchgän67

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

nerseits jenen Fluchtpunkt der Beobachterperspektive, der alles, was in ihr vorkommt, auf ein Subjekt beziehbar macht, das sich in ihm wiedererkennt.33 Als solche rückbezügliche Perspektivität erscheint Bewußtsein als irreduzibel, hermetisch, subjektiv, eine zunächst nur dem Subjekt selbst zugängliche Dimension (Teilnehmerperspektive der 1. Person). Andererseits jedoch ist Bewußtsein dort für jemand anderen indirekt faßbar, ›wo es sich ausdrückt‹ bzw. in und mit Sprache kommuniziert, d. h. es bildet für die Beobachterperspektive der 3. Person ein Postulat, ohne das bestimmte Phänomene nicht verständlich zu machen sind. So wie die Selbstgegebenheit des Psychischen im Bewußtsein der Bedingung der möglichen Anschaulichkeit genügen muß, kann Bewußtsein sich selbst gegenüber die distanzierende 3. Person-Perspektive einnehmen und wird dadurch sich selbst in dem Maße verständlich, wie es auch zum Gegenstand für andere werden kann. Der Bezugspunkt des Anderen – ob auch ein Bewußtsein oder die Sphäre der Intersubjektivität oder der Objektivität – eröffnet unterschiedliche Weisen der Selbstbestimmung. Wichtig ist jedoch, daß diese Indirektheit der Selbstgegebenheit mit der möglichen Gegebenheit für andere koinzidiert. Demnach ist Bewußtsein strukturell sowohl von Selbstreferenz wie auch von Fremdreferenz gekennzeichnet. Zu den idealen Bedingungen der Form der Selbstreferenz gehören Kontinuität und Veränderung (Bewußtsein setzt sich fort, ohne eine starre, ruhende Form zu sein, und es wandelt sich, geht zu anderen Zuständen über, ohne vollständig abzureißen), Selbigkeit und Synthese (Bewußtsein identifiziert sich mit sich sowie mit vergangenen Zuständen qua Erinnern, mit gegenwärtigen qua Selbstpräsenz und mit zukünftigen qua Antizipation, die es zu einer Einheit versammelt), Unterscheidung (Bewußtsein unterscheidet sich von sich sowie von seinen vergangenen, zukünftigen und anderen gegenwärtig möglichen Zuständen), Aufmerksamkeit (Bewußtsein spürt und weiß, daß es etwas spürt, weiß und sich darauf konzentrieren kann). Die Form der Fremdreferenz des Bewußtseins zeigt sich in seiner Intentionalität, d. h. seiner Gerichtetheit auf etwas, die eine Beziehung zu anderem als es selbst herzustellen gestattet. Dies ermöglicht ihm Distanz, indem es sich von seinen je einzelnen Inhalten, Gegen-

gige, zumindest anschlußfähige Aktivität, die sich jedoch aus einzelnen, unterscheidbaren Akten aufbaut, beschreiben können wie auch als einen selbstbezüglichen Prozeß, der sich ebenso auf Gegenstände bezieht, die als außerhalb seiner liegend gesetzt sind. 33. Man kann davon ausgehen, daß alle anderen Beobachtungsperspektiven (sprachlicher, medialer, technischer Art) letztlich auf ein Bewußtsein (situiert in Sprache, in Sozialität, in Raum und Zeit) zurückverweisen, welches sich selbst zum Beobachteten und darüber hinaus zu seinen Beobachtungen ins Verhältnis setzt. Denn nicht anders ließe sich der Prozeß der (reflexiven und kommunikativen) Selbstverständigung darüber, was eine sinnvolle Perspektive der Beobachtung ist und was nicht, verständlich machen: Nur ein Subjekt, dem ein mögliches Bewußtsein unterstellt werden kann, wird als Instanz adressiert, von der man annimmt, sie wisse, worum es geht. 68

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ständen, Zuständen, aber auch von äußeren Bezugspunkten unterscheidet. Dabei verwirklicht es seine Modalitäten, die verschiedene Weisen sind, sich auf etwas zu beziehen,34 und die eine determinierende, steuernde und auslösende Rolle für den psychischen Prozeß haben. Damit ist die evaluative Funktion des Psychischen benannt, insofern im Bewußtsein Wertungen und Entscheidungen zur Geltung kommen.35 Bewußtsein schafft also Kontinuität für sich (und damit für anderes) und Diskontinuität zu seiner Umwelt bzw. seinen Gegenständen (und damit für und zu sich selbst). Bewußtsein ist Einheit in der Vielheit und Differenz im Selben. Das Bewußtsein muß also die nötige Unruhe und Varianz36 ebenfalls selbst aufbringen, um der strukturellen Überkomplexität seiner Umwelt gerecht und ihr genügend Eigenkomplexität37 entgegenhalten, um überhaupt eigene Möglichkeiten

34. Kognitiv: Wissen von... oder Einsicht haben in...; voluntativ: etwas beabsichtigen, vorhaben, wollen oder wünschen; emotiv: Gefühle und Stimmungen als Wahrnehmung der Eigenzustände des Psychischen oder der körperlichen Bedürfnisse und (An-) Triebe. 35. Damit ist keineswegs gesagt, daß diese Funktionen ausschließlich im Bewußtsein realisiert würden. Auch die aktuelle Hirnforschung setzt in ihren Analysen nicht auf eine Priorität des Bewußtseins: Handlung (Motorium) Wahrnehmung (Sensorium) Aufmerksamkeit

Bewertung (Gefühl) Gedächtnis

Dieses Schema – von Gerhard Roth auf dem Kongreß »Die Wirklichkeit des Radikalen Konstruktivismus« (Heidelberg, 15.-18.10.1992) vorgestellt (vgl. auch Roth 1994, 220) – mag von seiten der gegenwärtigen Hirnforschung aus die verschiedenen funktionalen Differenzierungen des Gehirns zur Darstellung bringen und zugleich darauf aufmerksam machen, daß dem Bewußtsein – wenn es nicht mit der Aufmerksamkeit gleichgesetzt wird – kein besonderer funktionaler Ort zugewiesen wird (vgl. hierzu Kap. 4) und stattdessen wohl eher von einem bereichsunspezifischen Effekt gesprochen werden muß, der sich innerhalb dieses kreisförmig geschlossenen Modells einstellt, in dem Motorium, Sensorium und die weitergehenden Verarbeitungsprozesse (Gefühl, Gedächtnis und Aufmerksamkeit) in wechselwirkendem Bedingungsverhältnis stehen. 36. Bedarf für spezifische Instabilisierungen, vgl. Luhmann 1984, 476. 37. Luhmann 1971b, 292ff. Mit Heinz von Foerster mag man an eine Eigenwertfunktionalität denken, die durch rekursive Schließung die Tendenz bezeichnet, (relative) Stabilitäten auszubilden, die nicht von außen induziert bzw. kausal determiniert werden 69

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des Operierens in einem ereignisoffenen Horizont in ausreichender Menge zur Verfügung zu haben. Dabei handelt es sich nicht einfach um ein quantitatives, sondern um ein qualitatives Problem in dem Sinne, daß die Bandbreite eigener Operationen jener Andersheit und Fremdheit, die sich ›von außen her‹ ereignet, gewachsen sein muß. Dieser prinzipiell offene Ereignishorizont (als ›absolut‹ erfahrenes Außen) wird durch die notwendigerweise geringere Systemkomplexität (strukturelle Asymmetrie) für das System begrenzt, also zur Umwelt. Es gibt durch die systeminternen Beschränkungen, die mit der Selbstausgrenzung des Systems aus der (Um-)Welt vollzogen werden, eine unausweichliche Perspektivierung von Welt. unbegrenzter Möglichkeitsraum38 Differenzierungsgeschehen universaler Ereignisraum (= WELT) System Operationen: Unterscheiden Selegieren (Reduktion) Anschließen (Akkumulation) Erfahren: Selbstbezug (Erleben, Erinnern) Fremdbezug (Wahrnehmen) Kommunizieren (Sprechen, Schreiben etc.) Handeln (Arbeiten etc.)

(Um-)Welt Komplexitätsüberschuß (Perturbation, Interferenz) Selbst, Personen Gegenstände Medien Institutionen

Die für diese theoretische Konzeption vorauszusetzende Idee eines unbeschränkten Ereignisraums, einer reinen Unbestimmtheit, einer ungefaßten Komplexität, wo alles und zu jeder Zeit möglich wäre, wird zur WELT der immer irgendwie beschränkten – wenn auch vielleicht unüberschaubaren – Möglichkeiten. Das psychische System bewerkstelligt die Reduktion von Komplexität der WELT bzw. Umwelt39 am einfachsten mit Generalisierungsmechanismen, die über »Vieles

(vgl. »Eigenwert« bzw. »Eigenverhalten« bei Foerster 1984, 133ff.). Dieser Bruch mit der Determination »von außen« bedeutet zudem, daß Komplexität nur ein verhältnismäßiger Begriff ist, der nicht für Umwelt reserviert werden kann. Luhmann (1984, 484f.) nennt den Aufbau von Komplexität innerhalb eines Systems auch Akkumulation von Unwahrscheinlichkeit. Die Existenz des Systems, sein Funktionieren und seine Selbsterhaltung erscheinen in höchstem Grade unwahrscheinlich. Existenz und Kontinuität eines Systems münden grundsätzlich in Kontingenz – jedoch als Operieren in der Zeit selbstdeterminiert, mit Zwängen belegt, die sich nach einem Wenn-Dann-Schema organisieren. Selektion und Anschluß sind Notwendigkeiten des Systems, denen es nur ausweichen kann durch Aufhören bzw. Selbstaufgabe (a.a.O., 475). 38. Im Gegensatz zum Platonischen Ideenhimmel, der das Modell eines immer schon begrenzten Möglichkeitsraumes bildet. Die absteigende Ebenengliederung kann als Stufen der abnehmenden Abstraktion und zunehmenden Konkretion oder Ausdifferenzierung gelesen werden. 39. Im Gegensatz zum stark biologisch geprägten Umwelt-Begriff, der als organismusrelativer Begriff eingeführt worden ist (Jakob von Uexküll) und eben die durch 70

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hinwegsehen« (Nietzsche)40, Verschiedenes als das Selbe behandeln und so den Erfahrungsraum des Subjekts erst konstituieren. Zu diesen basalen Reduktionsleistungen gehören ebenso die Nebeneinanderordnung des Verschiedenen im Raum und das Nacheinander von Ereignissen in der Zeit (Kants Anschauungsformen). Zwar bleibt trotz Reduktion die Unerwartbarkeit im Spiel. Aber das psychische System hat seine Welt – eine Welt, die auf es selbst bezogen ist und sich für es im Bewußtsein darstellt – gefunden, wenn auch nicht ausgelotet, indem es sie durch Beschränkung begründet. Was immer auch in dieser Welt sich zuträgt, es geschieht in seiner Welt und läßt sich auf dieses System rückbeziehen. Weltoffenheit kommt durch das Zusammenspiel von Selbstbeschränkung und Unabschließbarkeit, Nichtfestgestelltheit und Bedingtheit von Subjekt und Welt zustande. Hierin liegt ein Zugzwang für Systeme, den sie schwerlich – bei Strafe des Untergangs – verweigern können: Alles, was geschieht, wird dabei entweder als Teil des Systems oder der Umwelt behandelt. Die Wahl einer solchen Zurechnung ist unabweisbar.41 Das, was die ›äußeren‹ Ereignisse als solche nicht zu leisten vermögen, nämlich eine verständliche Ordnung zu konstituieren, die es dem Bewußtsein erlaubt,

die organische Ausstattung festgelegte Bezüglichkeit zur Außenwelt des Tieres meint, wird hier der Begriff der Welt vorgezogen, der Offenheit, Veränderlichkeit, Geschichtlichkeit mitzudenken gestattet, wie sie für das menschliche Subjekt in der Tradition von Nietzsche und Heidegger in existentieller Radikalität ins Spiel gebracht worden sind. Ich unterscheide vom gewöhnlichen Wortgebrauch des Begriffes Welt, der offensichtlich auch subjektrelativ verwendet wird (oft in der Kombination als Lebenswelt), den Horizont-Begriff WELT, der zwar nicht einfach absolute Objektivität oder Totalität meint, sondern immer der Horizont einer bestimmten (wenn auch nicht vereinzelten) Perspektive bleibt, aber als subjektrelativer einen Begriff des Wissens darstellt, mit dessen Hilfe das Subjekt seinen Erkenntnissen eine Gesamtperspektive auferlegt, die über seine konkret je vereinzelte Sichtweise hinausgeht auf das Ganze möglicher Erkenntnisse von Welt. Die damit vom Subjekt abgezielte Objektivität seines Wissens im Ganzen hat einen transzendentalen Status, insofern WELT also ein Begriff wäre, an dem sich das Subjekt der Erkenntnis in seinem Anspruch, etwas zu wissen, selbst zu orientieren hätte, wenn es um Fragen der Totalität des möglichen Wissen geht. 40. Nietzsche betont immer wieder die Notwendigkeit für das Bewußtsein, zu vereinfachen und zu vergröbern, Disparates sich anzugleichen und Unterschiede zu nivellieren: »Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn...« (Nietzsche 1980, XIII, 193). 41. Wenn auch noch dies als Option des Systems verstanden wird, ergibt sich die Möglichkeit, ethische Konsequenzen zu ziehen wie Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld oder Humberto Maturana es getan haben. Sie berühren sich dann mit allen Philosophien, die die Irreduzibilität der ethischen Perspektive oder sogar die Unvertretbarkeit, Nichtaustauschbarkeit, Unzurückweisbarkeit des ethischen Subjekts vertreten (wie z.B. Lévinas 1968, 74ff.). 71

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sich selbst in einer ihm mitunter chaotisch erscheinenden Umwelt zu verorten und dafür in ›seiner Welt‹ Ordnung zu stiften, muß das psychische System selbst leisten.42 Im WELT-Begriff – als zusammenfassender Grenzbegriff aller möglichen Ereignisse – liegt zugleich eine Paradoxie beschlossen: Das (psychische) System hat zwar Einsicht in seine Welt, d. h. es weiß, daß diese Welt durch seine Perspektive konstituiert ist und somit nur die seine und keine andere ist (subjektiv-relativ nach Husserl). Aber zugleich ist diese Welt nur dadurch als WELT im allgemeinen und objektiven Sinne und insofern dem abstrakten Begriffe entsprechend als universal zu verstehen, wenn damit eben auch diejenigen Ereignisse in ihren Horizont fallen, die nicht als vom System (bzw. vom Beobachter) hervorgebrachte aufgefaßt werden können. Es müssen also noch andere Bedingungen und Faktoren als die des Systems/Beobachters selbst angenommen werden, die dem Begriff von Welt entsprechen – und doch derselben Welt zugerechnet werden müssen. So kann nicht direkt Beobachtbares aus der Nachträglichkeit erschlossen werden und etwas als Teil der Welt erkannt werden, was zuvor nicht zu ihr zu gehören schien. Die Differenz von Blindness and Insight (Paul de Man)43 oder von Sicht und Einsicht (Heinz von Foerster)44 ist nicht aufzuheben, sondern eine Quelle der Erfahrung und der Wissensgenerierung. Auch Bewußtsein hat seinen blinden Fleck: Es kann zwar den Glauben zu wissen genau dann bestreiten, wenn es zu wissen nicht glaubt beanspruchen zu können (Sokrates), aber es entgeht dem »Double Blind« des Wissens nicht: »Man sieht nicht, was man nicht sieht.«45 Der Begriff der Welt ist also einer, der Transzendenz beinhaltet, wenn etwa das System seinen eigenen Ursprung nicht durch Beobachtung fassen kann, jedoch sein eigenes Zum-Existieren-Kommen dem universellen Welthorizont zuordnen muß, will es nicht ohne Not Inkonsistenzen und ungedeckte Hypothesen bemühen. Ein im starken Sinne »extramundaner« Subjektpol46 ist systemtheoretisch nicht vorgesehen. Die Welt als das, was beobachtet wird, konstituiert sich im Verhältnis zur Beobachtung des Systems, welches sich durch den Akt des Beobachtens zugleich unterscheidet und in Beziehung zur beobachteten Welt setzt:

42. Francisco Varela (1990, 101) wendet sich gegen eine von selbst vorhandene Merkmalhaftigkeit der Welt – dies sei ein empiristischer oder rationalistischer, jedenfalls repräsentationistischer Mythos. Bei Michel Foucault (1970, 36) heißt es etwas poetischer: »Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist nicht Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht.« 43. de Man 1971. 44. Foerster 1985. 45. Foerster 1993b. Nebenbei bemerkt läßt sich die Sokratische Haltung dem Wissen gegenüber (vgl. Platon: Apologie 21d) dadurch anreichern, daß man die Ironie, das Spiel mit der aufgehobenen Identifikation mit dem Nicht-Wissen in die Betrachtung hineinnimmt. 46. Husserl 1935/36. 72

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Die konstitutive Differenz von Beobachter und Beobachtetem kann sich als Operation des Systems nicht der (Um-)Welt zurechnen, fällt jedoch als Differenz von System und (Um-)Welt immer noch unter den Begriff von WELT.47 Begrenztheit und Überschreitung, Beobachtung und Unbeobachtbares, Transzendentalität und Transzendenz sind als Differenz sowohl dem Welt- als auch dem Horizont-Begriff eingeschrieben. Beobachtung beobachtet, was sie beobachtet, und nicht, was sie nicht beobachtet – aber in der Rückbezüglichkeit auf den Zusammenhang des Ganzen kann das Subjekt der Beobachtung nur WELT voraussetzen.48 Gegenüber seinem ereignistranszendenten, weltoffenen Charakter ist das Bewußtsein andererseits gegenständlich fokussiert, thematisch konzentriert und kann nur unter großer Anstrengung und mit viel Übung an verschiedenen Aufmerksamkeitspunkten zugleich sein. Dies ist auch ein Grund, weshalb das Bewußtsein in seiner (Um-)Welt keinen vollständigen Überblick zu gewinnen vermag, nicht einmal über die Situation, in der es gerade steckt.49 Mit dem psychischen System des Bewußtseins wird die Funktion der Aufmerksamkeit (awareness) in Verbindung gebracht, welche sie im Zusammenhang anderer geistiger (oder, wie in der Hirnforschung, zerebraler) Leistungen erfüllt. In der Konzentration auf Bestimmtes, die etwas aus dem Erfahrungsstrom herausgreift und festhält, ist es dem Bewußtsein gerade nicht möglich, alle möglichen anderen (psychischen oder zerebralen) Funktionen wahrzunehmen. Bewußtsein nimmt nur das wahr, was es wahrnehmen kann: Wahrnehmung im Sinne von »etwas bewußt haben«, »seine Aufmerksamkeit gerichtet haben auf...« ist eine seiner wichtigsten Funktionsbestimmungen; alles andere, was sonst zur Erzeugung von Wahrnehmung im Sinne von »sich auf Phänomene der Sinnlichkeit, der Umwelt, äußere Gegenstände beziehen« nötig sein mag, fällt nicht in seinen Aufgabenbereich. Dafür sind andere funktionale Einheiten zuständig. Als

47. Luhmann schreibt von der »Selbstbeschreibung der Welt in der Welt« (1984, 105), spricht aber auch von einer fiktionalen Beobachterposition, die den Anspruch stellt, die Welt wie von außen zu beschreiben. Wie man an den begrifflichen Operationen verfolgen kann, hilft auch die Unterscheidung von WELT und Welt nicht über die Ambivalenz und Unschärfe hinweg. 48. Hier wiederholt sich das begründungslogische Dilemma jeder reflexionstheoretischen Begründung. 49. Damit ist wiederum nicht nur die Unübersichtlichkeit der komplexen äußeren Umwelt gemeint, die mit den Sinnen erfaßt wird – und auch die Sinne sind schon selektiv –, sondern neben den eingeschränkten und einschränkenden Sinnesorganen, deren Perspektivität für den Organismus jede Totalisierung seines Verhältnisses zur Welt ausschließt, ist das Unvermögen gemeint, das, was vom Auge gesehen wird, auch vollständig im Blick zu haben. Lacans Unterscheidung von Auge und Blick macht deutlich, daß das anatomisch-funktionale Phänomen des sog. blinden Flecks sich auf der Ebene der psychischen Funktion des Bewußtseins wiederholt. Lacan verwendet deshalb die medizinische Metapher des Skotoms für das Bewußtsein (vgl. Lacan 1964 sowie Kap. 3.3.3, Abschnitt Zur Wahrnehmung des Subjekts: Die Differenz von Auge und Blick). 73

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Teilfunktion des Psychischen kann Bewußtsein deswegen keine omnipräsente Leitungsposition beanspruchen. Das Bewußtsein ist nicht (absoluter) Herr im eigenen Haus, sondern verläßt sich wie jedes andere ›Organ der Leitung‹ (Nietzsche) auf die Delegierung von Aufgaben auf andere Funktionsträger.50 Wenn in den Modellbildungen der zeitgenössischen Hirnforschung, die sich am Selbstorganisationsparadigma orientieren und deswegen flache Organisationsmuster stark machen, gleichwohl bestimmte hierarchische Funktionsabhängigkeiten vorkommen, so läßt sich dies in zweierlei Weise begreifen: Zum einen ist für das System Bewußtsein eine operative Entlastung qua Delegation von Aufgaben erreicht, die es nun nicht selbst erledigen muß; zum anderen steigt die Abhängigkeit von den Zuarbeiten anderer funktionaler Einheiten. Einerseits gewinnt das Bewußtsein an Unabhängigkeit, denn es wendet sich den Gehalten der Erfahrung zu, in dem es sich ganz auf sich konzentriert; andererseits muß es den am Zustandekommen einer differenzierten Erfahrung beteiligten Systemen blind vertrauen. Zu diesen Systemen gehört auch das Gedächtnis: Als wiederum selbstorganisiertes System steuert es das nötige Material sowohl zur Erinnerung (des Bewußtseins) als auch zum unbewußten Handeln in (Sub-)Routinen bei.51

Die zeitliche Dimension des Bewusstseins Aufgrund der oben skizzierten basalen Paradoxie, die im Welt-Begriff als Einheit der Differenzen und als Differenz zur Einheit immer mitgeführt wird,52 können weitere Unterscheidungen getroffen werden, die explizit den zeitlichen Rahmen thematisieren, in dem die Anschlußoperationen von Bewußtsein und Kommunikation stattfinden. Damit ist ein komplexes Gefüge der Beobachtung angesprochen, in dem nicht nur etwas, das als Wahrnehmung im Bewußtsein ist, aus ihm wieder verschwindet, also vergessen werden kann, sondern in dem dieses ›dieselbe‹ Etwas wieder ins Bewußtsein treten kann, ohne eine aktuelle Wahrnehmung zu sein, also erinnert wird. In diese Prozesse des Beobachtens, Vergessens und Erinnerns sind, wie bei den meisten psychischen Erscheinungen, immer schon verschiedene andere Operationen des psychischen Systems involviert: Zum einen muß das psychische System sich zunächst von seinen wahrgenommenen, vorgestellten, gedachten Gegenständen unterscheiden, mit denen es nicht identisch ist, obwohl es als intentionales Bewußtsein immer auf Gegenstände gerichtet ist, also immer Bewußtsein von etwas ist. Desweiteren muß es sich von sich selbst unter-

50. Die beständige Verwechslung des (Selbst-)Bewußtseins mit dem Ganzen der Psyche oder mit dem Wesentlichen an ihr kommt sicher durch die Zentrierungsleistung zustande, die das Bewußtsein vollbringt: Bewußtsein ist nicht nur auf sich zentriert, sondern führt verschiedene Funktionseinheiten (Wahrnehmung, Gedächtnis, Gefühl und Bewertung) zusammen. 51. Zum Stichwort Subroutinen vgl. Kittler 1985. 52. Einheit der Differenzen: Totalitäts- und umfassender Grenzbegriff; Differenz zur Einheit: als Umwelt des Systems, als abgegrenzter Entgegensetzungsbegriff, der dann einer des Nicht-Alles wäre. 74

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scheiden: Das heißt, daß es sich nicht mit sich verwechselt in der Zeit und sich dennoch mit einem vergangenen Zustand seiner selbst identifizieren kann. Als Gegenwartsbewußtsein unterscheidet es sich von seinen vergangenen oder zukünftigen Zuständen.53 Denkt man den Gesichtspunkt der Kontinuität bzw. der Einheit der verschiedenen Momente des bewußten Seins hinzu, so tritt ein ähnliches Paradox hervor: Bewußtsein konstituiert und generiert sich aufgrund von Differenz(en), kann dies jedoch nur als deren vorauszusetzende Einheit, nicht bloß als nachträgliche Synthese.54 Bewußtsein läßt sich sowohl als die Einheit der Differenz als auch als Differenz der Einheit bestimmen (diese Kennzeichnung korrespondiert der des Welt-Begriffs). Aber erst das Zusammennehmen der verschiedenen Momente in der Einheit eines Prozesses, der als beständige Umstellung55, als konservierende Konversion seiner Momente auftritt, gibt die treffendere operationale Bestimmung des Bewußtseins. Ein solches Herstellen von Zusammenhang56 als Vereinigung verschiedener Momente der Erfahrung begründet erst die Redeweise von einem Selbst, wie es sich im Bewußtsein darstellt. Dieses Selbst wiederum

53. Derrida hat im Anschluß an Husserls Bemühungen zur Klärung der Zeitlichkeit des Bewußtseins auf die Problematik aufmerksam gemacht, das Bewußtsein mit einem Vorrang zur Gegenwart auszuzeichnen. Gegenwart (ebenso wie Gleichzeitigkeit) bedarf zur begrifflichen Bestimmung selbst schon eines Bezugs auf einen unterschiedenen Zeitmodus (vgl. Derrida 1967a). Deshalb bleibt auch die Bezeichnung von Zuständen bzw. von Bewußtsein problematisch, sofern die Dauer selbst für die Theorie des Bewußtseins keine Selbstverständlichkeit darstellt. 54. »Indem sie die Intentionalität auf dem Grunde der Praxis und der Affektivität entdeckt hat, bestätigt die phänomenologische Bewegung die Tatsache, daß das Selbstbewußtsein – oder die Identifikation des Selbst – nicht unvereinbar ist mit dem Bewußtsein von… oder dem Bewußtsein des Seins.« (Lévinas 1963, 210f.) Lévinas ist es auch, der gegen den neutraleren Heideggerschen Terminus Sein zum Begriff des Existierens übergeht. 55. Vgl. Luhmanns Bemerkungen zu Derrida, in: Luhmann 1992, und Rosenfield 1993, 16. 56. Vgl. hierzu die alte logos-Bedeutung, die eben auch Sammlung meint (Heidegger 1949, vgl. dazu Porath 2002). Oder modern: »Nur bei psychischen Systemen besteht die Einheit des Widerspruchs darin, daß das sich Widersprechende in der Unmöglichkeit seines Zusammenbestehens zugleich bewußt ist und als ›bloßes‹ Bewußtsein reflektiert wird.« (Luhmann 1984, 497) Rosenfield spricht vom Körperschema, das es dem Gehirn erst ermöglicht, Kontinuität auszubilden. Hierbei handelt es sich nicht um eine petitio principii, wobei die Einheit des Körpers für das Psychische (oder das Gehirn) vorausgesetzt wäre, obwohl sie doch erst durch das Gehirn zustandegebracht würde. Vielmehr macht Rosenfield klar, daß das Gehirn sich von Anfang an nur unter Körperkontakt in der Weise organisieren und orientieren kann, daß es eine Einheit des Körpers bzw. des Körperganzen ausbildet, mit deren Hilfe es sich selbst wiederum nur verorten kann (vgl. Rosenfield 1993, 16). 75

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kann nur bestimmt werden als ein sich Unterscheidendes (das heißt auch: sich Veränderndes, z. B. als ein biographisches Ich) und zugleich als ein sich auf sich Beziehendes, Einheit Herstellendes, d. h. als transzendentale Synthesisfunktion des reinen Bewußtseins bzw. als Einheit der Person, auf die sich ein ganzer biographischer Prozeß bezieht. Um den Vollzugscharakter deutlicher zu machen, wäre es richtig, vom Bewußtwerden zu sprechen, denn es sind die aneinander anknüpfenden psychischen Akte, die immer wieder Bewußtheit herstellen. Erst diese zeitliche Überspannung und Zusammenhangsbildung macht also das Bewußtwerden, das wir ständig als Bewußtsein identifizieren. Als Selbstbewußtsein wendet Bewußtsein beim Erinnern diejenige Differenz, die es selbst überhaupt konstituiert – die es unterscheidet von allem anderen –, noch einmal auf sich selbst an. Das Bewußtsein seiner selbst ist eine in sich unterschiedene Einheit: Es ist die Einheit der Differenz von gegenwärtigem und vergegenwärtigtem Bewußtsein. Diese Operationen der Differenzierung und Synthese nehmen selbst wieder Zeit in Anspruch, d. h. sie können nur dann aufeinander Bezug nehmen, sofern sie als vergängliche Ereignisse in eine Ordnung des Nacheinander kommen, so daß eine Operation – im Vollzug – die andere zum Gegenstand – als abgeschlossene Einheit – nehmen kann. Das Vergehen der Episoden stellt zugleich die Bedingung dar, überhaupt abgeschlossene Einheiten zu bilden und Erlebnisse zu unterscheiden, an die angeknüpft werden kann.57 Auch Selbstbewußtsein als emergente Einheit, die auf elementare psychische Operationen aufbaut, ist also auf Erinnern, auf das Festhalten bzw. Zurückholen der ständig vergehenden und vergangenen psychischen Ereignisse verwiesen und damit auf Gedächtnis. Indem Bewußtsein sich aber erinnert, muß es sich zugleich mit dem Erinnerten in der Weise identifizieren, daß es ein psychisches Ereignis als eigenen Zustand erkennt, auch wenn es nicht das gegenwärtige ist. Vollends paradox wird diese Figur, wenn das Bewußtsein – verstanden als Einheit seiner zeitlich verschiedenen Momente – sich selbst wiederum als Gegenwartsbewußtsein lokalisieren kann, obwohl es doch eine zeitübergreifende Einheit repräsentiert. Dafür orientiert sich das Bewußtsein an der zeitlichen Unterscheidung von Gegenwart und Vergangenheit und rechnet dem Vergangenheitsbewußtsein als Bedingung seiner Möglichkeit Gedächtnis zu. Die Entparadoxierung läuft auf Verzeitlichung hinaus: Indem Bewußtsein das, was es nicht gleichzeitig sein kann, in eine Reihenfolge bringt und auf verschiedene Zeitstellen verteilt, kann ein solcherart von seiner Vergangenheit unterschiedenes Bewußtsein sich auf seine vergangenen Erlebnisse als die seinen beziehen. Durch die zeitliche Ebenentrennung, d. h. durch eine differenzierte Chronologie und Semantik der Zeit, wird das Paradox also behandelbar. Aber auch wenn sich das Bewußtsein in zeitlicher Hinsicht von seinen verschiedenen Erlebnissen unterscheidet, so ist es doch in operationaler Hinsicht strikt auf Gleichzeitigkeit verpflichtet, insofern alles, was erinnert wird, simultan

57. Zum »Drei-Sekunden-Fenster« vgl. Pöppel 1985, 165 und den übernächsten Abschnitt: »Der Vorgang der Erinnerung«. 76

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zum erinnernden Bewußtsein ist.58 Und so gehört seine Betrachtung als logische oder funktional-operative Einheit, als ein Bewußtsein, nicht in die Kategorie Zeit, sofern es sich um die unwiderrufliche Vergänglichkeit ihrer Momente handelt.59 Dieses Operieren des Bewußtseins in der Gleichzeitigkeit einer Gegenwart reicht jedoch zur Identifikation des psychischen Systems als eines Selbst nicht hin. Ein System, das sich nur auf seinen aktuellen Zustand und die Situation, in der es sich augenblicklich befindet, zu beziehen vermag, kann sich in biographischer und historischer Hinsicht nicht als unverwechselbares Individuum identifizieren. Zwar könnte es seine Eigenart gegenüber allen anderen feststellen, so wie es auch ein beliebiger Beobachter aus der 3. Person-Perspektive kann, aber eine solche Feststellung bliebe ohne jene ›innere‹ Verbindung, die die Merkmale mit dem System in der Weise identifiziert, daß es selbst sich in ihnen wiederzuerkennen vermag. Hierzu ist nicht nur die direkte Rückkopplung des eigenen Operierens mit der Beobachtung nötig, die das System nahezu gleichzeitig durchführt, sondern erst wenn es sein eigenes Prozessieren in einen zeitlich übergreifenden Zusammenhang einzuordnen vermag, kann es sich die Motive und Vorentscheidungen selbst zurechnen, welche seinem augenblicklichen Zustand, seinen aktuellen Handlungen und Entscheidungen vorausgehen. Indem es diese als vergangene Systemzustände erinnert, bekommt es seine Geschichte in den Blick, die es ihm ermöglicht, sich selbst als ein Gewordenes zu begreifen, das trotz aller Kontingenzen, die sich ereignet haben mögen, jene spezifische Art und Weise repräsentiert, wie es selbst in unterschiedlichen Situationen erlebt, entschieden, reagiert und so dazu beigetragen hat, was und wie es jetzt ist. Obwohl also die strukturelle Gleichzeitigkeit auf operativer Ebene eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren des Systems darstellt, muß das gleichzeitige Prozessieren sich dennoch auf Ungleichzeitiges beziehen, das nicht zu seinen aktuellen Vollzügen gehört. Erst die Spezifizierung durch gehabte und antizipierte Ereignisse konstituiert ein unterscheidbares Selbst als dasjenige der Gegenwart, mithin jene Individualität, die sich als in der Zeit vollziehende zu bestimmen beansprucht. Hierzu benötigt es den ›Fundus‹ der eigenen Erfahrungen, also Erinnerung und Gedächtnis.

58. Niklas Luhmann: »Alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig.« (Vgl. Luhmann 1992) Die behauptete Gleichzeitigkeit setzt jedoch schon einen Begriff von Zeit voraus und ist in argumentiver, begründungslogischer Hinsicht kein absoluter Anfang. 59. Gregory Bateson (1979, 79) macht auf die Zeitlosigkeit bzw. Außerzeitlichkeit der logischen Betrachtung und die Schwierigkeiten, in die sie führen kann, aufmerksam. Lebensweltlich, d.h. nach dem Weltverständnis der Systemtheorie, gehört jedoch auch die Logik zur Welt. Die Unterscheidung von logischen Ebenen bzw. Typen der Argumentation oder Analyse fällt letztlich in die Welt. Damit bleibt die grundlegende Paradoxie erhalten, sofern Philosophie und Wissenschaft mit ihrer logischen Analyse den Kontakt zur Welt nicht völlig aufgeben wollen. 77

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Bewusstes Erinnern und nichtbewusstes Gedächtnis Um seine Funktionen situationsabhängig mit der nötigen Flexibilität ausführen zu können, bedarf das (psychische) System der Erinnerung. Die Funktion des Erinnerns, die als Vergegenwärtigung eine Fähigkeit des Bewußtseins ist, bezieht sich hierzu auf das Gedächtnis, das als psychische Leistung nicht auf Bewußtsein angewiesen ist: Das Gedächtnis bildet ein eigenes System des Psychischen, wodurch das Bewußtsein von der Merkaufgabe entlastet wird. Durch diese systemische Delegierung verschiedener Funktionen braucht das Bewußtsein nicht alles, nicht stetig und nicht voraussetzungslos aus sich selbst zu konstituieren, was in ihm und im Psychischen überhaupt vorkommt. So wie die Wahrnehmung dem Bewußtsein die aktuellen Eindrücke der Außenwelt durch Anschauung vermittelt, so kann das Gedächtnis für die Vergegenwärtigung des Bewußtseins die Erinnerungen bereitstellen. Das Gedächtnis fungiert so als ein selbst nicht bewußtes Parasystem der Erinnerung des Bewußtseins, an das die Aufgabe delegiert wurde, dem Erinnern jenes ›Material‹ zur Verfügung zu stellen, aus dem die bewußten Erinnerungen hervorgehen, ohne daß auf aktuelle äußere Erfahrung Bezug genommen werden müßte. Je komplexer sich die Leistung des Gedächtnisses darstellt – angesichts der Verschiedenartigkeit von Erlebnissen und der Fülle von Informationen –, desto schwieriger und aufwendiger sind die diesen Leistungen zugrundeliegenden Operationen zu erbringen. Wie wichtig das Gedächtnis für die Erinnerung ist, zeigt sich an den unterschiedlichen Erfahrungen, die das Bewußtsein mit dem Erinnern machen kann. So folgt das Gedächtnis oft nicht den für das Erinnern nötigen Aufgabenstellungen, so daß das Erinnern dann ins Leere geht, oder es vollzieht sich unwillkürlich aufgrund der selbstregulativen Gedächtnisaktivität. Das Erinnern wird also durch das eigenwillige System des Gedächtnisses angeregt oder blockiert. Im engeren Sinne auf die hier interessierende systemtheoretische Perspektive bezogen meint Erinnern das Verhältnis des Bewußtseins zum Gedächtnis. Es geht also darum, wie das Psychische sich zur Vergangenheit in Beziehung setzen kann, indem es sich zu sich selbst verhält, denn nur aus systemeigenen Operationen kann es seinen Vergangenheitsbezug für sich realisieren. Dabei ist Erinnern als Operation des Bewußtseins bewußt und hat den Charakter einer Fokussierung, wobei es nicht mit der Einbildungskraft oder der Antizipation zu verwechseln ist, die ihre Gegenstände relativ ungebunden erzeugen, bezieht es sich doch immer auf das Gedächtnis als eine Fähigkeit, Erlebtes ohne Zutun des Bewußtseins behalten zu können. Nur insofern Bewußtsein immer schon medial strukturiert ist, also auf ›Spuren‹ oder ›Muster‹ bezogen ist, die es – auch von woanders her, z. B. aus der Wahrnehmung – (auf-)liest und interpretieren kann, kann es seinerseits auch ›behalten‹, d. h. indirekt aufgezeichnet werden: Die Reizmuster beispielsweise, welche die sinnliche Wahrnehmung liefert und die als solche nicht die Qualität von Bewußtheit haben, wandern ins Gedächtnis und können ›von dort wiedergeholt‹ werden. Hierfür treten die Muster nicht von der Seite der Sinnesorgane in den Modus Wahrnehmung, sondern dienen dem Bewußtsein dazu, einen wahrnehmungsähnlichen Zustand zu erzeugen. Diese Bezugnahme auf etwas vom Bewußtsein verschiedenes Psychisches ist nötig, um die 78

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Selbstbezüglichkeit des Bewußtseins so zu stören, daß eine minimale Differenz eingefügt und der tautologische Charakter des Selbstbewußtseins, nur Bewußtsein seiner selbst zu sein, aufgeschoben wird: Der unendliche Regress, Selbstbewußtsein nur als Bewußtsein von Bewußtsein sein zu können, das sich ausschließlich auf nicht von ihm Unterschiedenes, also wiederum nur auf Bewußtsein beziehen könnte, wird durch Bezugnahme auf das Gedächtnis aufgebrochen.60 Die Erinnerung, die sich ja nicht auf aktuell in der Wahrnehmung Gegebenes, das eine Fremdreferenz hergäbe, stützt, wird durch Bezugnahme auf Gedächtnis enttautologisiert und auf das »innere Afrika« (Freud) verwiesen. Wenn das Gedächtnis, wie eben postuliert, als eine Art von ›Wahrnehmungsmusterspeicher‹ arbeitet, dann ist festzuhalten, daß ›Speicher‹ weder etwas Statisches noch etwas Substanzhaftes meint, sondern im Rahmen selbstorganisierter Systeme gänzlich auf operationaler Basis gedacht werden muß (vgl. auch Kap. 1.2).61 Das Festhalten von Erregungsmustern als Funktion des Gedächtnisses muß selbst als eine Dauerfunktion beschrieben werden, die vergleichbar einer elektronischen Schaltung zwar hardware-basiert ist, jedoch nicht als materielle Einschreibung zu begreifen wäre, welche prinzipiell irreversibel und also als einmalig-endgültige Festschreibung verstanden werden könnte. Das Gedächtnis stellt eine nicht bewußtseinsgebundene Dauerfunktion für Sinnesreizmuster dar, die sowohl direkt der Wahrnehmung als auch dem Bewußtsein entstammen und unter bestimmten Bedingungen (wieder) zu Bewußtsein kommen können.62

60. Luhmann (z.B. 1984, 183) wählt die psychopathologische Metapher »Autismus« und zeigt zugleich, wie viable Systeme sich dieser Falle der zirkulären Selbstabschließung entziehen: Im Falle der Psychoanalyse handelt es sich um die Einführung der Differenz ›bewußt/unbewußt‹ im Psychischen, die sich in unterscheidungslogischer Hinsicht als ein re-entry (i.S. von Spencer-Brown 1969) beschreiben läßt, nämlich als die Wiedereinführung einer Unterscheidung von zwei Bereichen in einen der beiden unterschiedenen Bereiche. Was zunächst als ›Innen/Außen‹-Differenz Psychisches von der physischen Umwelt, das Erleben vom Handeln unterscheidet, wird im Bereich des Psychischen erneut angewendet, erscheint dort allerdings unter der Benennung ›Bewußtes/ Unbewußtes‹, was sich vom Standpunkt des Bewußtseins aus als eine Innen/Außen-Differenz darstellt. 61. Das Gedächtnis »kann nicht aus einer statischen Menge von Aufzeichnungen bestehen (denn das Fassungsvermögen menschlicher Köpfe ist auch auf der molekularen Ebene nicht groß genug), es muß vielmehr dynamisch gesehen werden, das heißt als ein Mechanismus, der rekonstruiert und nicht bloß speichert.« (Glasersfeld 1995, 152) 62. In der aktuellen Diskussion der Gehirnforschung ist man sich weitgehend einig darüber, daß die Anatomie bzw. die Architektur des Gehirns sowohl durch genetische Vorgaben eingeschränkt ist wie auch durch die einsetzende Erfahrung modelliert und festgelegt wird. Deshalb läßt sich nicht einfach nach der natürlichen Anatomie des Gedächtnisses fragen. Umgekehrt ist damit jedoch noch nicht vollständig klar, welche Rolle die genetischen Determinationen tatsächlich für das spätere Erleben spielen und 79

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Mit der Übertragung der Wahrnehmungsmuster ins Gedächtnis geht eine entsprechende Vereinfachungsleistung der Vielfalt der Sinnesreize einher, die selbst schon Muster, also reduzierte Komplexität darstellen. Schematisierung, Kategorisierung und Standardisierung der Reizflut werden beständig geleistet. Erst für das Bewußtsein werden dann aus einer relativ dekomplexierten Datenmenge wieder differenzierte Wahrnehmungen erzeugt, die es erlauben, Welt und Dinge mit ihren unterschiedlichen Aspekten zu beobachten.63 Dieser Aufbau der Wahrnehmung für das Bewußtsein läßt sich als ein Akt der Interpretation im Nietzscheschen Sinne verstehen. Angesichts der Selektivität der Reizverarbeitungsmechanismen – angefangen mit den Sinnesorganen über das Nervensystem bis zum Gehirn, welche sich medientheoretisch als Kanäle von bestimmter Bandbreite und Verarbeitungskapazität pro Zeiteinheit beschreiben lassen64 – ist es eine erstaunliche Leistung des Psychischen, eine derart differenzierte ›Darstellung‹65 von Welt im Bewußtsein zu erzeugen. Dies geschieht durch einen beständigen Austausch von bestimmten Mustern zwischen Bewußtsein (=Wahrnehmung), Sinnlichkeit (=Wahrnehmung)66

ob die im Laufe des Lebens festgelegten Verbindungen zwischen Hirnzellen nicht doch als Determinanten geistiger Prozesse aufzufassen sind (vgl. Niemitz 1987). 63. Vgl. das Mißverhältnis der 100.000 mal größeren Verarbeitungskapazität des Gehirns gegenüber den durch die Sinneszellen vermittelten Impulsen (Foerster 1973, 51). 64. Seitdem im 19. Jahrhundert die Hirnforschung als Neurologie betrieben wird, hat sich das »Prinzip der undifferenzierten Codierung« (vgl. Foerster 1973, 43) durchgesetzt, welches besagt, daß alle Nervenimpulse von der gleichen elektro-chemischen Natur sind und keinen Unterschied bezüglich der Sinnessphären und der in ihnen vorkommenden Qualitäten machen: Es ist an einem Nervenimpuls als solchem nicht ablesbar, welche Herkunft er hat und was er codiert überträgt. 65. Es dürfte durch das bisher Gesagte klar geworden sein, daß es sich nicht um ein einfaches Abbild- oder Repräsentationsverhältnis handelt. Die Konstruktivität der Systeme im Verhältnis zu ihrer Umwelt erstreckt sich auf alle Parameter (von Wahrnehmung, Bewußtsein und Kommunikation) nach dem Grundsatz: Nur was ein System als Datum, Form, Differenz für sich bestimmt, wird auch als solches im System relevant. Damit sind selbstorganisierte, operational geschlossene Systeme zugleich umweltoffen, denn sie setzen etwas voraus, das sie nicht selbst sind und das noch nicht einmal in dem Bild, welches sie sich von ihrer Umwelt machen, aufgeht. Die unbekannte Außenwelt dient den Systemen als Quelle jener Reize, die ihren jeweiligen Zuständ stören, aus dem Gleichgewicht bringen und so als Anlaß dienen, sich zu reorganisieren. Wie sonst wären Lernprozesse, die Überwindung der faktischen Bestimmtheit des Ist-Zustands möglich, konzipierte man sie nicht als autonome, selbstbestimmte Reorganisation des Systems? Die konstitutive Beschränktheit und damit einhergehende Blindheit des Systems kann nicht vollständig sein, denn es würde ihm an Flexibilität mangeln, auf veränderte Situationen zu reagieren. 66. Insofern läßt sich Wahrnehmung in zwei Teilfunktionen zerlegen: 1) die Auf80

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und Gedächtnis. Diese Muster nehmen für das Bewußtsein eine bestimmte Bedeutung an und können diese deshalb auch, aus dem Zusammenhang herausgelöst, in dem sie mit dem Bewußtsein standen, verlieren. Wenn einem – als eine Einheit aufgefaßten und als Element in einem größeren Zusammenhang verwendeten – Muster kein Platz im aktuellen Zusammenhang des Bewußtseins zugewiesen werden kann, an den es paßt, muß es fremd und unverständlich bleiben. Die Bedeutung eines Musters kann in Vergessenheit geraten: Wenn z. B. ein Zeichen im aktuellen Lebenszusammenhang, in dem das Bewußtsein sich zu orientieren versucht, nicht mehr benötigt wird oder aus sonstigen Gründen nicht integriert werden kann, verliert es seine Aufgabe, seine Funktion und sein Gebrauch unterbleiben und werden schließlich vergessen. Dem Gedächtnis fällt in diesem (geschichtlich-kulturellen) Austauschprozeß die Rolle der bewußtseinsunabhängigen Verstetigung zu. Deshalb können Individuen sich manchmal an etwas erinnern, woran sie die längste Zeit nicht mehr gedacht haben. Ja, sie erinnern sich sogar an Dinge, denen sie keinen genauen Ort oder eindeutigen Zeitpunkt im vergangenen Leben zuordnen können. Diese Funktion des Auf-DauerStellens im Gedächtnis kann einerseits als nutzloser Ballast des psychischen Systems angesehen werden: Es hält bereit, was momentan eben nicht gebraucht wird. Andererseits dient das im Gedächtnis Behaltene jedoch als jenes Reservoir an möglichen Vergegenwärtigungen, das dem in der Gegenwart operierenden Psychischen Ausweichmöglichkeiten durch Rückgriff auf Vergangenes bereitzustellen vermag. Aber auch das Gedächtnis steht als psychisches System beständig unter In-Formationsdruck, unter Musterungsandrang, denn die Erfahrung geht stetig weiter, was eine andauernde Umarbeitung des Gespeicherten erforderlich macht. Insofern muß von »innerer Formation« statt von bloßer statischer, elementaristischer, von außen bereitgestellter Information gesprochen werden.67 Entgegen dieser konstruktivistischen Sichtweise, in der alle Operationen des psychischen Systems von Moment zu Moment sich reorganisieren, also beständig im Werden sind, kann vom Gedächtnis als einem autonom gesetzten psychischen System gesprochen werden – das es ja für das Bewußtsein auch sein soll, damit es für dessen Erinnerungsleistungen eigenständig etwas beisteuern kann, von dem das Bewußtsein dann im selben Maße entlastet ist. Anders gesagt: Das Bewußtsein kann nur erinnern bzw. zurückrufen, das Gedächtnis hingegen hält fest und merkt dauerhaft. Das in diesem Sinne selbständige Gedächtnis muß

nahme von Reizen ins (Nerven-)System bzw. der Transport und die Registrierung von Differenzen der Umwelt für das System; 2) das Bewußtwerden, das innerpsychische Bemerken bzw. das in den Fokus der Aufmerksamkeit Stellen des psychisch Gegebenen, so daß es als Gegenstand, Inhalt, Thema des Psychischen selbst, d.h. als Teil seines eigenen Zustands erfahren wird. 67. Ernst von Glasersfeld (1990, 37) zitiert Carl Auer: »Inner formation instead of information«. Information ist vor allem keine »objektive« Kategorie und kommt nicht in der Umwelt vor, sondern wird von Systemen erzeugt durch ihr eigenes Operieren mit Unterscheidungen (vgl. Foerster 1972, 133). 81

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sich selbst organisieren. Die anfallende Informationsmenge und die Diversität der Qualitäten, kurz: der Erfahrungsdruck, nötigen auch hier zur Reduktion von Komplexität. So haben sich Stereotypen der Erinnerung herausgebildet, die z. B. mit Redewendungen, Erzählmustern oder Handlungschemata in Verbindung stehen, Formen also, die das Erinnern und Behalten erleichtern. Als Gedächtnis sind sie aber nur insofern zu bezeichnen, als sich das mit ihrer Hilfe Erinnerte von der unmittelbaren bewußten Aktivität der Erinnerung unterscheiden läßt. Das Gedächtnis als solches wird nicht bewußt, sondern es ergänzt und unterstützt das bewußte Erinnern in der Weise, daß Bewußtsein sich auch an etwas zu erinnern vermag, das gerade noch nicht bewußt ist. Demnach stellt Gedächtnis eine gebundene und organisierte Komplexität dar, auf die sich das Bewußtsein stützen kann, ohne direkte Verfügungsgewalt zu haben. Als Aufwandersparnis für das Bewußtsein stellt das Gedächtnis vorbereitete Reduktionen zur Verfügung, auf die zurückgegriffen werden kann, ohne daß die so erscheinenden Muster selbst noch vom Bewußtsein organisiert oder hervorgebracht werden müssen. Dieser Übergang von einem psychischen System zum anderen ist möglich, weil Psychisches insgesamt – wie ein Medium – mit denselben Elementen (Vorstellungen, Gedanken) operiert. Im Sinne des Medien-Begriffs von Fritz Heider kann Psychisches also verschiedene Aggregatzustände annehmen: Lockere oder feste Kopplung von Elementen kennzeichnet auch den Unterschied von Bewußtsein und Gedächtnis. In diesem Sinne kann man vom Gedächtnis als unbewußtem System und von »Auswendigkeit« (Hegel, vgl. Kap. 6.1), die auf dem Gedächtnisvermögen beruht, sprechen: Dem Bewußtsein begegnet das Gedächtnis als – eigenständiger, wenn auch innerer, psychischer – Außenbereich.

Der Vorgang der Erinnerung Für das System Bewußtsein bedeutet Erinnerung, etwas als Vergangenes zu vergegenwärtigen,68 genauer gesagt: Das erinnernde Bewußtsein stellt etwas in (psychisch-mentaler) Anwesenheit als Vergangenes, als Abwesendes und sinnlich Nichtgegenwärtiges vor. Das Erinnern muß dabei mit der Unterscheidung operieren, ob etwas, das als Vorstellung oder Gedanke im Bewußtsein ist, schon einmal sein eigener Zustand gewesen ist oder nicht. Bewußtsein muß also als eine Art Index den eigenen Systemzustand miterinnern, ohne den zwischen einer Erinnerung, einer Antizipation und einer produktiven Phantasie niemals unterschieden werden könnte. Es bedarf also immer eines Bezugs auf den Kontext, um ein psychisches Element zu klassifizieren und zu identifizieren. Voraussetzung hierfür ist die Unterscheidung von Vorstellungen, die sich entweder von der Sinnlichkeit oder dem Gedächtnis her aufbauen. Dem entsprechen Einsichten der Neurophysiologie, die das »Prinzip der undifferenzierten Codierung« – daß nämlich nicht die Qualität, sondern allein die Quantität in Nervenimpulse von bestimmter Fre-

68. Für die Antizipation entsprechend: etwas als Zukünftiges zu vergegenwärtigen. 82

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quenz umgesetzt wird69 – ergänzt durch das Prinzip, daß auch der Ausgangsort innerhalb des Wahrnehmungsapparats (das Sinnesorgan) dem verarbeitenden Organ (Gehirn) bekannt ist. Die Anordnung der Nervenbahnen, die ja durch die Erfahrung selbst bedingt ist, gibt also für alle weitere Erfahrung schon ein Gerüst vor, an dem die Herkunft der Reize hin zu bestimmten Orten auf der Oberfläche des Sinnesapparats interpretativ zurückverfolgt werden kann. Infolge dieser zusätzlichen Information kann das Gehirn nicht nur zwischen Hören und Sehen, Tasten, Riechen und Schmecken, sondern zwischen ›innen‹ und ›außen‹, Gedächtnis und Sinnlichkeit, Erinnern und Wahrnehmen unterscheiden. Insofern Bewußtsein sich erinnert, handelt es sich um einen psychischen Akt, mit dem es sich mit Hilfe der ›im‹ Gedächtnis ›gespeicherten‹ Muster (auf denen sich ebenso das einstige Erlebnis konstituierte) seiner selbst vergewissert. Als Vergegenwärtigung stellen sich Vorstellungen und Gedanken im Bewußtsein ein, die jener sinnlichen Wahrnehmung oder jenem inneren Erlebniszustand in der Vergangenheit so ähnlich sind, daß sie als schon einmal bewußte erkannt werden können. In der Regel werden diese wiederkehrenden Erinnerungen als weniger intensiv erlebt und eingestuft, ja, sie müssen noch nicht einmal den Charakter der ursprünglichen Form der Sinnlichkeit haben. So muß man sich an das Telefonat mit einem Freund nicht in der Weise erinnern, daß er ›vor Augen steht‹ oder seine Stimme innerlich gehört wird. Vielmehr kann eine fast vollständige Desensualisierung mit dem Erinnern einhergehen.70 Dies gilt in ähnlicher Weise für sogenannte ›Gedankenexperimente‹: Selbst wenn man von einer konkreten Gegebenheit ausgeht, kann bei der Erörterung eines Problems in Gedanken der Bezug auf Sinnlichkeit gänzlich in den Hintergrund treten. Dabei wird deutlich, was den allgemeinen Charakter des Bewußtseins überhaupt auszeichnet: Insofern Vorstellungen immer anstelle einer sinnlichen Wahrnehmung stehen, also zur Wahrnehmung geworden sind, heißt Vorstellen nicht nur zu repräsentieren (Stellvertretung), sondern auch zu depräsentieren (Ersetzung). Es wird also mit dem Näherbringen einer Vorstellung zugleich eine Distanz eingeführt, die eine unmittelbare Präsenz des Vorgestellten bzw. des äußeren Gegenstands nicht zuläßt. Diese Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, wie viele operativfunktionale Vorleistungen schon erbracht worden sein müssen, damit Erinnerung möglich wird. Gegenüber einer rein instantanen Autopoiesis, die ohne die Kategorie Gedächtnis auskommen zu können glaubt und gänzlich auf die Aktualität gegenwärtiger Operationen setzt, sei hier die Unabdingbarkeit des Gedächtnisses für eine komplexe Organisation psychischer Systeme betont. Im Begriff des Gedächtnisses lassen sich all jene Funktionen ›parasystemisch‹ (im Verhältnis zum Bewußtsein – wie oben erläutert) zusammenfassen, welche die für den aktuellen Vollzug nötigen Erinnerungsleistungen ermöglichen, indem das Gedächtnis jene

69. Vgl. Foerster 1973, 43. 70. Ayer 1956, 140. 83

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nicht vom Bewußtsein selbst zu erbringenden und deshalb vorauszusetzenden Vorleistungen vollzieht: Die Unterscheidung entspricht dem Unterschied von manifest/latent (aktuell/latent bzw. präsent/latent). Das Gedächtnis, sofern es über das Erinnern dem Bewußtsein erschlossen wird, wäre diejenige Form verfügbarer »Auswendigkeit« (Hegel), wie sie zur nicht nur kognitiven, sondern überhaupt praktischen Bewältigung des Alltags benötigt wird.71 Da der situative, äußere Kontext zwar vermittelt über die Wahrnehmung selbst einen Orientierungspunkt abgibt, aber die spezifische individuelle Charakterisierung des Erlebens eines psychischen Systems nur ungenügend zu klären hilft, bedarf es eines inneren Kontextes, der zur Identifizierung eines psychischen Systems dient. Erst vor dem Hintergrund der eigenen Erinnerung bzw. der gemachten Erfahrung kann Gegenwärtiges in spezifischer Weise für das System Relevanz haben, und erst aus der Erinnerung heraus lassen sich gegenwärtige Beurteilungen, Einschätzungen und Reaktionen als die eines je besonderen Systems begreifen.72 Dies hängt mit der Unvertretbarkeit der Orientierungsleistungen zusammen, die jedes System selbständig zu erbringen hat. So eindringlich ein Dritter auch behaupten mag, wer man sei, solange ein psychisches System diese Identifikationsleistung nicht für sich selbst vollzieht, stimmt die Behauptung in gewisser Weise nicht – denn sie setzt voraus, was offensichtlich nicht mehr zutrifft, nämlich daß jemand sich selbst als dieser oder jener zu identifizieren vermag.

71. Von dieser Version des Gedächtnisses ist strikt zu unterscheiden jegliche Form eines objektivierten, nach außen verlagerten Gedächtnisses, eines materiellen Archivs, einer Institution, eines Dokuments, eines Monuments etc. Diese veräußerlichten Speicherfunktionen bedürfen zum einen irgendeiner materialisierten Form, eines fixierten, eingeschriebenen Musters, also eines Mediums, und zum andern einer spezifischen Gebrauchweise dieser Mittel, d.h. einer Praxis der Aufzeichnung und Lektüre. Sowohl objektive wie subjektive Gedächtnisse (um an die tradierte philosophische Terminologie anzuschließen) sind in funktionaler Perspektive zunächst keine psychischen Funktionen, gar bewußtseinszentrierte Funktionen, sondern unter bestimmten Bedingungen an Bewußtsein anschlußfähige Systemleistungen. Man kann auch ein ›Gedächtnis des Leibes‹ (Weinrich 1988, 92) postulieren, welches kaum und wenn, dann zumeist indirekt zu Bewußtsein kommt, sich in der Regel jedoch strikt unbewußt und automatisch vollzieht, ohne das Bewußtsein zu tangieren. Nietzsche, der sich bekanntlich für die (psychischen) Effekte (physischer) Mnemotechniken interessierte, weist in dieselbe Richtung mit seiner Formulierung von der »großen Vernunft des Leibes« (Nietzsche 1883-1885, 39); Dirk Baecker (1991, 352, Fn. 40) verweist auf Merleau-Ponty. 72. Die Skepsis gegenüber allen objektivistischen, naturwissenschaftlichen Konzeptionen von Geist und Psyche speist sich aus der Vernachlässigung der individuellen Aspekte. Gerade in geisteswissenschaftlicher Tradition wird befürchtet, daß Verwissenschaftlichung nur auf eine Reduktion von Subjektivität hinauslaufe. Allerdings sprechen Mediziner, Neurologen und Hirnforscher selber verstärkt von unhintergehbarer Subjektivität. Prominentestes Beispiel ist sicher Sacks 1985; vgl. auch Henningsen 1993. 84

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Das Zustandekommen von Erinnerung kann also nicht als eine rein konstruktive Tätigkeit des Gegenwartsbewußtseins angesehen werden. Dies soll heißen, daß ein Bewußtsein vergangener Ereignisse zwar vom jeweils gegenwärtigen Bewußtsein verwirklicht werden muß, daß jedoch das Bewußtsein hierzu auf Leistungen des Psychischen zurückgreifen muß, die nicht dem System Bewußtsein als augenblicklich vollzogene Leistung selbst zugerechnet werden können. Erinnerung (als Bewußtseinsakt) kann nicht ohne den Aspekt der relativen Autonomie des Gedächtnissystems erörtert werden. Dementgegen findet sich bei Humberto Maturana die Behauptung dokumentiert, daß es das »Gedächtnis als einen Speicher von Repräsentationen der Umwelt, die für verschiedene Gelegenheiten abgerufen werden können, [...] als neurophysiologische Funktion« nicht gibt.73 Stattdessen gebe es bloß Erinnern, womit eine vollständige funktionale Reduktion der Gedächtnisphänomene auf Bewußtseinsoperationen bezeichnet werden soll. Maturana (und in der Folge Luhmann) wollen mit der Umstellung von Substanzoder Strukturbegriffen auf Funktions- bzw. Operationsbegriffe ihren Theorien grundlegende Dynamik und Ereignishaftigkeit zukommen lassen, womit alles, woraus ein selbstorganisiertes, autopoietisches System besteht (Elemente, Relationen bzw. Strukturen sowie Funktionen), nur durch die operativen Vollzüge des System selbst in Gleichzeitigkeit existiert. Der Begriff des Gedächtnisses hingegen wird in der Regel nicht in dieser Weise funktional als ein eigenes System reformuliert und bildet so innerhalb dieser Theorieanlage einen Gegenbegriff, von dem sich Erinnerung als Funktion (des autopoietischen Bewußtseins) leicht abgrenzen läßt. Allerdings bleibt es in diesem Horizont unklar, warum nicht in dem oben angedeuteten Sinne die Funktion des Gedächtnisses als autonomes System neben dem Bewußtsein konzipiert werden könnte und sollte. Als von der direkten Kontrolle des Bewußtseins entkoppeltes System folgt das Gedächtnis seinen eigenen funktionalen Imperativen, läßt sich jedoch unter bestimmten Bedingungen mit dem Bewußtsein strukturell koppeln, da ja nur in dieser Form einer Delegation das Bewußtsein davon entlastet wäre, alles mögliche Erinnerbare selbst präsent zu halten.74 Es muß schon viel im Gedächtnis vorbereitet sein, damit Erinnerung (als Funktion des Bewußtseins) immer abrufbereit sein kann, ganz abgesehen von komplexeren geistigen Leistungen. Die Konzentration auf die Spanne der Gegenwart, welche nach dem Wissen der aktuellen Hirnforschung maximal drei Sekunden dauert75, bedeutet ge-

73. Maturana 1982, 62. Hierzu auch Schmidt 1991, 24. 74. Dies würde eine begriffliche Inkonsistenz nach sich ziehen, denn das Bewußtsein müßte etwas enthalten können, was gerade nicht bewußt ist. Die Latenz von mentalen Inhalten muß ausgelagert werden in ein anderes psychisches System, eben das Gedächtnis. 75. Vgl. Pöppel 1985, 165. Neben der selektiven zeitlichen Rahmung hatte schon William James auf den generellen Charakter des Bewußtseins zur Reduktion aufmerksam gemacht: »Eine der außergewöhnlichsten Tatsachen unseres Lebens ist, daß wir in jedem Augenblick von Eindrücken unserer gesamten sensorischen Oberfläche über85

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rade Reduktion von Komplexität und zugleich eine Beschränkung der Leistungskapazität eines Systems. Erst vor dem Hintergrund des Gedächtnisses kann also die Komplexität der Traumbildung verstanden werden, wie sie sich für das Bewußtsein darstellt, und zwar als ein nicht bloß absurdes, zufälliges Durcheinander von physiologischen Entladungsvorgängen76, sondern als ein durchaus – wenn auch nicht immer und vollständig – der Deutung zugängliches Geschehen, das sich z. B. bestimmten symbolischen Determinationen verdankt, die das Gedächtnis als Muster bereitstellt oder reproduziert. Vergleichbare Ausführungen lassen sich zum ›genialen‹ oder ›lächerlichen‹ Einfall machen, den man ›mit einem Schlag‹ hat: Wenn sich ein solcher Einfall als eine tragfähige Idee erweist, dann wäre die Berufung auf den bloßen Zufall oder das Nichts als ›Vater/Mutter des Gedankens‹ zwar möglich, aber wenig hilfreich, denn wenn nach der Herkunft eines Gedankens gefragt wird, interessiert man sich für Zusammenhänge und nicht für Sackgassen. Die Antwort auf die Herkunftsfrage soll die Kontingenz eines psychischen Ereignisses reduzieren, wozu sich die Denkfigur einer creatio ex nihilo nicht recht eignet. Wie kann man sich nun aber den Aufbau von geordneter Komplexität vorstellen, wie sie für das Gedächtnis vorauszusetzen ist?

Zu einer Organisationstheorie des Gedächtnisses Als zeichen- bzw. sprachbasierte Selbstverständigung über Zustände, Verhältnisse, Ereignisse oder Vollzüge, in denen Systeme sich befinden oder die sie selbst sind, können rational-argumentative Modelle von Verfahrensweisen entwickelt werden, die der Zusammenhangsbildung dienen. Der hier zu betrachtende Zusammenhang ist der zwischen (bewußter) Erinnerung und (nicht bewußtem) Gedächtnis. Um die eigene Zusammenhangsbildung des Gedächtnisses selbst zu verstehen, ist man auf ›äußere‹ Modelle angewiesen: Da man introspektiv keinen direkten Zugang zum nichtbewußten Gedächtnis hat, sondern nur, sofern Erinnerung sich als Bewußtseinsphänomen auf Leistungen des Gedächtnisses stützt, etwas über die Struktur und Funktion des Gedächtnissystems extrapolieren kann, können die theoretischen Modelle nicht dem Gedächtnis selbst abgeguckt werden. Deshalb tauchen bei der Thematisierung von Gedächtnisleistungen immer wieder die Praktiken des Memorierens, der Aufzeichnung, Aufbewahrung, Speicherung auf, die aus dem beobachtbaren Verhalten rekonstruiert werden können. Alle diese mnemotechnischen Praktiken lassen sich jedoch nur unter Bezugnahme auf die sie begleitenden introspektiven Bewußtseinsphänomene der Erinnerung als Verwirklichung von Vergangenheitsvergegenwärtigungen verstehen. Deshalb bilden die psychische Erfahrung und die psychologische Theoriebildung das relevante Feld von Empirie, auf das sich nicht nur die Philosophie beziehen muß, sondern auch die Neurologie, solange sie ohne methodischen Rückgriff auf

schwemmt werden, und dennoch nur einen so winzigen Bruchteil davon bemerken.« (James 1892, 227) Freud wird dies unter dem Stichwort ›Enge des Bewußtseins‹ wieder aufnehmen (vgl. Kap. 3.2 u. 3.3). 76. Vgl. Hobson 1988. 86

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die Bewußtseinsperspektive keine detaillierten Hinweise darauf geben kann, wie Gedächtnis sich selbst organisiert. Auch die Einführung von Selbstorganisationsmodellen kann über die grundsätzliche Schwierigkeit nicht hinweghelfen, daß Psychisches entweder subjektiv erlebt oder von außen nur indirekt mit Bezug auf das beobachtbare Verhalten interpretativ erschlossen werden kann. Die dabei zur Deutung verwendeten Modelle bleiben in sprachlicher Hinsicht insofern ›äußerlich‹, als sie sich metaphorischer Ressourcen bei der Begriffsbildung und der Übertragung von Modellvorstellungen aus anderen Erfahrungbereichen (aus Alltag, Technik, gesellschaftlichen Organisationsformen wie Verwaltung, Militär, Industrieunternehmen etc.) bedienen. An den beobachtbaren Effekten der Gedächtnisaktivität, d. h. an den bewußtgewordenen Erinnerungen77, lassen sich Hypothesen über die interne Organisation des Gedächtnisses bilden, die sich von schon bekannten Organisationsformen in anderen Bereichen her entwerfen bzw. vergleichen lassen. Den konkreten Aufbau von Gedächtnis im einzelnen wird man jedoch nicht ohne Zuhilfenahme von individueller Erfahrung (Teilnehmerperspektive) und detaillierter Beschreibung von Einzelschicksalen rekonstruieren können. Die neueren Ansätze der Selbstorganisation, der Autopoiesis oder des Radikalen Konstruktivismus lassen sich mit den älteren Theorien der Subjektivität zu diesem Zweck zusammenführen, sofern der Gedanke der (systemischen) Autonomie in den Mittelpunkt gestellt wird. So läßt sich anhand der Bildung von Theorie selbst ein Modell entwikkeln und erproben, das für den kognitiven Aufbau des Gedächtnisses ein funktionales Äquivalent darstellen könnte. Exemplarisch können basale Operationen im Rahmen einer formalen Unterscheidungslogik nachvollzogen werden, die in selbstreferentieller Weise ein System organisieren.78 Mit Dirk Baecker kann man sagen, Sein ist Unterschiedensein, da ohne Unterscheidung nichts ist. Daran läßt sich mit der bereits reflektierten These, daß auch Bewußtsein der Form nach Unterschiedensein ist, anschließen. Das Funktionieren des Bewußtseins korreliert mit diesen fundamentalen Operationen der Unterscheidungslogik. Wie es sich aber tatsächlich organisiert, hängt von seiner ›internen‹ Geschichte ab, ist also nicht nach ›äußeren‹ Kriterien strikt festlegbar oder gar vorhersehbar. Kommunikation und Bewußtsein teilen, laut Luhmann, ein und dieselbe Eigenschaft: Sie operieren mit Sinn. Sinn selbst ist allerdings kein Medium79,

77. In psychoanalytischer Perspektive sind ebenso die Wiederholungszwänge und sonstige Symptombildungen zu nennen, die der Instanz des Bewußtseins nicht bedürfen, um sich anderweitig zu artikulieren und – für andere oder nachträglich für das Subjekt selbst – in Erscheinung zu treten. 78. Vgl. Spencer-Brown 1969 sowie Baecker 1992, 227: Sein ist Unterschiedensein. Problematisch bleibt die Behauptung der Vorgängigkeit des Seins vor der Zeit. Zur Verwechslung von logischer und genetischer Argumentation vgl. Bateson 1979. 79. Baecker bezeichnet auch Sinn umstandslos als Medium, was hier aus den nachfolgenden Gründen nicht geteilt wird. 87

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sondern ein allgemeiner Formaspekt, der die Artikulation/Gestaltung von Medien bezeichnet und nicht nur die Übertragung innerhalb eines Mediums, sondern die Transposition80 von Medium zu Medium ermöglicht. Sinn sagt etwas über Verknüpfbarkeit, Anschlußfähigkeit, Koppelbarkeit aus, während im Begriff des Mediums auch die Materialität steckt. Zugespitzt (im Sinne Fritz Heiders) gesagt: Angesichts des reinen Mediums (lockere Kopplung seiner Elemente) vergeht aller Sinn (feste Kopplung). Die Funktion von Sinn besteht ja gerade in der Selektion und Bestimmung von Möglichkeiten, also Formung: Sinn sichert übergreifende »Interkurrenz«81, so daß Formen auf Formen bezogen sein können. In umgekehrter Hinsicht löst sich ein Medium, das irgend differenziert und unterscheidbar sein soll, auf, wenn es jeglicher Strukturierung entbehrt. Der reine Sinn verflüchtigt sich nicht nur, so als fehlte ihm die nötige stoffliche Schwere, sondern das Medium zergeht ohne ein Minimum an Kopplung seiner Elemente. Damit ist auch schon gesagt, daß Medialität sich nur im Zwischenbereich zwischen den Extremen einer reinen, sinnfreien Stofflichkeit und einer reinen, sinnhaften Form entfaltet. Entsprechend relational ist die Definition bei Heider formuliert: Lockere Kopplung von Elementen ist Medium, feste Kopplung ist Form. Es handelt sich also immer um ein Mehr oder Weniger, das in den Verhältnissen selbst, d. h. in der materiellen Konstellation konkreter Elemente, bestimmt werden muß und das keinen bestimmten Wert von Kopplung als absoluten Maßstab zuläßt. Der reine Sinn als allgemeine Kategorie ist entsprechend der abstrakte, unbestimmte Formaspekt, während bestimmte Form konkreter, situativer Sinn ist. Die reine Unbestimmtheit des Mediums an sich wäre nur als Grenzwert der absoluten Verflüssigung des Sinns und der Form anzusehen. Damit nähert sich der Begriff der Materialität dem der irreduziblen Andersheit an, dem Nicht-Konstruierbaren des Konstruktivismus, dem Unaussprechlichen der Sprache, dem Nichtsinn der Hermeneutik, dem Undenkbaren der Philosophie. Das Bewußtsein braucht also nicht nur irgendein anderes System – im Psychischen Wahrnehmung oder Gedächtnis, im Sozialen Kommunikation und Handlung –, sondern die Möglichkeit, mit dem anderen ein Medium zu teilen, d. h. an einem minimalen Abstand zu partizipieren, über den es dem anderen und sich im anderen begegnet,82 oder aber wenigstens über eine strukturelle Kopplung minimale Anschlußfähigkeit (Sinn) zu gewährleisten. Medien eröffnen nichts anderes als die Möglichkeit der Interkurrenz: so daß Formen auf Formen beziehbar sind, quer zu einer beliebig bestimmten Materialität. Es geht also um Übertragung im Medium bzw. Transposition über Mediengrenzen hinweg.83 Zu-

80. Vgl. Kittler 1985, 271 (vgl. a. Kap. 4 u. Kap. 1.3: »Übertragung«). 81. Freud 1913, 187. Vgl. auch Freud 1923, 243. »Interkurrenz« bezeichnet das Zusammentreffen von (pathogenen) Phänomenen unterschiedlicher Bereiche, wodurch ein bestimmter Gesamteffekt hervorgerufen wird. 82. Zur Funktion des Echos bei Baecker 1992, 218 f. 83. Diesem formalen Übertragungs-Begriff, der nicht im kommunikationstheoretischen Sinne des einfachen Sender-Botschaft-Empfänger-Modells, sondern grundlegen88

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gleich muß Bewußtsein aber auch die (zeitliche) Differenz zu sich selbst in die Differenz zum anderen einbringen, da es nur hierdurch sich selbst als hinreichend verschieden gegenüber dem anderen profilieren kann, nämlich durch Bezug auf die je eigene Geschichte. Erst wenn Bewußtsein sich zeitlich spezifisch in der Gegenwart lokalisieren kann, indem es sich auf seine eigene Vergangenheit – mit deren Kontingenzen – als unverwechselbares Erinnerungsreservoir bezieht, wäre die irrtümliche Identifizierung mit anderem Bewußtsein hochgradig unwahrscheinlich. Die je besondere Perspektive des einzelnen ergibt dabei nicht nur eine unverwechselbare Erinnerung, sondern die immer schon mitgebrachte Vergangenheit beeinflußt qua Erinnerung auch das aktuelle Geschehen und seine Wahrnehmung durch den einzelnen. Deswegen ist Bewußtsein auf Gedächtnis (wie analog Kommunikation auf Sprache) angewiesen und vermag nur in dieser Weise Gegenstand der Kommunikation zu werden, da allein Gedächtnis jenes Reservoir an Mustern oder Formen bereitstellt, die es dem Bewußtsein erlauben, sich selbst zum Gegenstand zu werden, sich zu thematisieren und ins Gespräch zu bringen. Zum einen heißt das, daß Kommunikation nur über Medien (z. B. Wortsprache oder Schrift) vollzogen werden kann und daß Bewußtsein mit deren Hilfe kommunizierbar wird, indem Artikulationen des Bewußtseins in Artikulationen der Sprache transponiert werden. Zum anderen bleibt Bewußtsein immer unterschieden von Kommunikation, operiert mit anderen Elementen (Vorstellungen statt Worten) und geht aufgrund irreduzibel verschiedener Medialität nie gänzlich in Kommunikation auf. Kommunikation vermag allein, die Fokussierung des Bewußtseins anzuregen – ob sich Bewußtsein tatsächlich einstellt, liegt jedoch außerhalb von Kommunikation und Handlung: Nur Bewußtsein selbst verwirklicht Bewußtheit, indem es sich diesem oder jenem zuwendet,84 auch wenn es dazu auf Wahrnehmung oder Gedächtnis angewiesen bleibt, die ihm das ›Material‹ seiner Vorstellung liefern. Die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation besteht demnach in den unterschiedlichen Einheiten ihrer Distinktionen, denen sie sich verdanken: einerseits Bewußtsein als selektive Synthese der Aufmerksamkeit auf Verschiedenes und andererseits Kommunikation als die Synthese der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen.85 Bewußtsein braucht Wahrnehmung, Kommunikation und Gedächtnis, ohne die es leer bliebe, so wie Kommunikation Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewußtsein braucht, ohne die sie blind wäre. Leer bliebe Bewußtsein ohne Kom-

der im Sinne der Bereitstellung von Anknüpfungspunkten und der Herstellung von Verbindungen verstanden werden muß, entspricht auch die psychoanalytische Auffassung von Übertragung (vgl. hierzu Kap. 4.2). 84. Luhmann 1988, 884 ff. 85. Luhmann 1984, 203; a.a.O. 196 f. auch die Hinweise auf übereinstimmende Konzeptionen bei Bühler (1934) und John L. Austins Sprechakttheorie: How to do Things with Words (1955). Eine weitergehende, allgemeine Bestimmung lautet: »Kommunikation ist koordinierte Selektivität.« (212) 89

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munikation aber nicht deswegen, weil es kein Material hätte – liefern doch auch die Sinneswahrnehmungen genügend Stoff –, sondern weil die koordinierte Strukturbildung fehlte, die es dem Bewußtsein erlaubt, das Wahrzunehmende so zu erfassen, daß es anschlußfähig auch für und an andere ist. Und blind bliebe Kommunikation nicht deswegen, weil es ihr an Strukturierungsfähigkeit mangelte, sondern weil das von ihr vollzogene Koordinierungsgeschehen keinen Inhalt hätte, den es zu erfassen gälte, denn sie besitzt keine Sinnesorgane. Der für Kommunikation strukturell notwendige Bezug auf einen anderen, mit dem kommuniziert werden kann, käme gar nicht erst zustande. Die Einheit des Sinns, d. h. seine allgemeine Anschlußfähigkeit, liegt darum in der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation, im unhintergehbaren Verweisungszusammenhang auf anderes und auf die Andersartigkeit der Verweisungen in den unterschiedenen Dimensionen: »Nur an der Verweisung auf Anderes kann Bewußtsein sich selbst realisieren, und dasselbe gilt mit andersartigen Bezügen auch für Kommunikation.«86 Sinn verdankt sich dieser Differenz: einer nicht getilgten und nicht tilgbaren Andersheit. Das Gedächtnis ist jener Ort der internen Andersheit, der Fremdheit und Vertrautheit im Subjekt selbst ermöglicht; es ist das, was es einem autopoietischen Organismus erlaubt, sich selbständig auf anderes zu beziehen, ohne von dessen sinnlicher oder vorstellungsmäßiger Präsenz abhängig zu sein. Gedächtnis verleiht dem selbstbezüglichen Operieren sich selbst organisierender Systeme die Möglichkeit einer begrenzten zeitlichen Autonomie gegenüber der Gegenwart, indem auf andere Zeitpunkte Bezug genommen werden kann. Dieses Gedächtnispotential an Andersheit gegenüber dem In-sich-Kreisen in der Gegenwart, eine Andersheit, die der einfachen Wiederholung der immergleichen Funktionen einen beunruhigenden, zumindest störenden Anstoß gibt, kommt von innerhalb des Psychischen, aber für das Bewußtsein wie von außen. Ohne diese psychogene Perturbation würde das Bewußtsein in einen operativen Leerlauf geraten, in eine ›schlechte Unendlichkeit‹ im Hegelschen Sinne, denn es könnte sich nicht am Psychischen, dessen Teil es ja ist, abarbeiten, da das Psychische ohne Gedächtnis keinen inneren Widerstand zu bilden vermag. Erst über den Umweg des Gedächtnisses ist ein selbstreferentielles System in der Lage, sich ›aus eigenen Stücken‹ zu verändern, unabhängig von der Außenwelt, denn es kann auf die für die Entwicklung benötigten gebundenen Kapazitäten, die nicht unmittelbar ins gegenwärtige Geschehen eingebunden sind, setzen und auf ein Reservoir von Variationen aus dem Gedächtnis zurückgreifen. Die Dezentrierung des Systems wäre in diesem Fall eine interne87, im Gegensatz zur externen der

86. Luhmann 1984, 142. Marshall McLuhans These, daß der »Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist«, gehört genauso in diesen Zusammenhang wie die Einsichten der modernen Hirnforschung (vgl. Rosenfield 1993 u. Ciompi 1993). 87. Luhmann spricht davon, daß die Unterscheidung von System und Umwelt innerhalb des Systems selbst zur Anwendung kommt, und die Psychoanalyse bringt die Rede vom ›inneren Ausland‹ auf. Und während die Systemtheorie von Latenz spricht, um 90

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Kommunikation, die sich durch andere Subjektivität (oder Systeme) determinieren läßt. Die Konditionalisierung des Bewußtseins, das Sich-von-Bedingungenabhängig-Machen, geht beim Erinnern vom Gedächtnis als demjenigen aus, das dem Bewußtsein Anstöße geben kann.

Paradoxien des konstruktivistischen Gedächtnisses in Hinsicht auf eine Ethik des Anderen Die Schwäche des Konstruktivismus liegt gerade in seiner behaupteten Stärke, nämlich eine Theorie der vollständig verantworteten Argumentation über ausschließlich systemeigene Operationen sein zu wollen und nichts vertreten zu müssen, was nicht als selbstgesetzt bzw. konstruiert gedacht werden kann. Dieser hybride Anspruch ist dem konstruktivistischen Denken selbst aufgefallen, im doppelten Sinne: als untragbare Hybris und als Kreuzung bzw. Mischung. In Bezug auf die Überheblichkeit mag man deshalb an Heinz von Foersters einschränkendes Theorem denken: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.«88 Im Rahmen der konstruktivistischen Version von Metaphysik, die den Bereich des Entscheidens von prinzipiell unentscheidbaren Fragen umschreibt, können nur unentscheidbare Fragen von uns – möglichen Beobachtern – entschieden werden, da alle anderen Fragen ja schon entschieden sind. Das Schon-entschieden-Sein wird jedoch hierbei nicht als eine unabhängige, absolute Vorgabe im strikten Sinne verstanden, sondern als die Voraussetzungsstruktur des (nicht nur diskursiven) Operierens beim Beobachten: Jede Beobachtung findet in einem bestimmten Rahmen statt, der sie bestimmt; jede Frage stellt sich innerhalb einer Sprache, die den Bereich möglicher Antworten bestimmt; jede Aufgabe stellt sich innerhalb eines Bereichs von Orientierung gebenden Strukturen, die die möglichen Lösungen bedingen.89 Der Rahmen, in dem sich solche Entscheidungsprobleme stellen, ist also selbst keineswegs eine natürliche Tatsache. Soweit zum Versuch einer Zurücknahme der Hybris, der darauf hinausläuft, daß das Entscheiden (hier stellvertretend für alle Systemoperationen) auf einen Bereich des Unentscheidbaren verweist.90

die nicht aktualisierten, gleichwohl vorhandenen Möglichkeiten des Systems (requisite variety) zu benennen, spricht die Psychoanalyse vom Unbewußten. 88. »Wieso? – Ganz einfach: die entscheidbaren Fragen sind ja schon entschieden, und zwar durch die Spielregeln, in denen Fragen und die Regeln der Beantwortung bestimmt sind.« (Foerster 1988, 30) Es darf also nicht vergessen werden, daß hier eine metaphysische Fragestellung in einem grammatischen, sprachpragmatischen Rahmen reformuliert wird. 89. In vergleichbarer Weise hat Erving Goffman in soziologischer Perspektive eine ›frame analysis‹ vorgeschlagen (Goffman 1974). Interessant wäre hier auch ein Vergleich zu Wittgensteins Auffassung: »Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden.« (Wittgenstein 1921, 84) 90. Das Zwingende dieser Bedingtheit liegt darin, daß das jeweilige einzelne System nicht alle Faktoren sich selbst zurechnen kann und vollkommen zur Verfügung hat, 91

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Damit deutet sich schon jene zweite Wortbedeutung der Hybridität an: Kreuzung und Mischung. Denn indem die Unentscheidbarkeit zugleich als Unbestimmtheit für uns gedeutet wird, stellt sich nicht nur ein erkenntnistheoretisches, sondern auch ein ethisches Problem: »Bei prinzipiell unentscheidbaren Fragen haben wir jeden Zwang – sogar den der Logik – abgeschüttelt, und haben mit der gewonnenen Freiheit auch die Verantwortung der Entscheidung übernommen.«91 Hiermit ist jedoch zunächst nur ein Anspruch auf Freiheit92 gesetzt – ist es doch unmöglich, den allgemeinen Beweis dafür anzutreten, ob es sich bei einer Frage um eine entscheidbare oder eine unentscheidbare als solche handelt. Dies geschieht ja erst durch den nachfolgenden Kontext, d. h. den Rahmen, der implizit oder explizit mit einer bestimmten Frage gesetzt ist. Ebenso unmöglich ist der Schluß von der Behauptung einer Unentscheidbarkeit in gewisser Hinsicht zu der einer prinzipiellen Unentscheidbarkeit. Wird jedoch die Systemreferenz gewahrt, also angegeben, in welchem Kontext sich die Frage stellt, dann verweist diese Rahmenabhängigkeit jegliche Operativität (ob Entscheidung, Beobachtung, Handlung) auf Bedingungen, die nicht in die Verfügbarkeit des Systems (Subjekt, Beobachter, Akteur) fallen. Darum kann nicht von einer Entscheidungsfreiheit im unbedingten Sinne ausgegangen werden. Für die metaphysischen Fragen im Sinne Heinz von Foersters gilt, daß die Möglichkeit ihrer Beantwortung sich immer noch nachträglich erweisen kann, da ja in logischer Hinsicht nur gezeigt worden ist, daß Beobachter augenblicklich keine Argumente zur Verfügung haben, die zu einer ›rationalen Entscheidung‹ von Entscheidbarkeit und Unentscheidbarkeit verhelfen. Die Verantwortung, die dem Beobachter aus dieser Einsicht heraus zugesprochen wird, kann jedoch nur situationsgebunden und d. h. in einer jeweiligen Hinsicht beansprucht werden. Die wichtige Einsicht, daß wir ja gerade nicht sehen können, was wir nicht sehen können (der sog. double blind H. v. Foersters), verbietet abschließende Urteile und Schlußfolgerungen jenseits jeglicher Kontextualität – können doch diejenigen Bedingungen, die die Freiheit vielleicht in weit größerem Maße einschränken als zunächst angenommen (weil sie z. B. jenseits des Beobachterhorizonts liegen), schon den Anspruch auf Freiheit lächerlich erscheinen lassen. Aus diesem Grunde ist es auch aus Sicht des Konstruktivismus nicht möglich, den metaphysischen Bereich der Entscheidung – das Reich des Unbedingten – als jenes ›Reich der Freiheit‹ zu definieren, das uns letztlich zu-

die zur Verfassung der Situation beigetragen hat, in der es jetzt steckt. Alle kollektiven Phänomene der Kultur und Sprache, Geschichte und Gesellschaft begegnen dem Einzelnen wie objektive Sachverhalte, da sie wenig bis gar nicht von den individuellen Aktivitäten ad hoc verändern können. 91. Foerster 1988, 30. 92. Die implizierte Problematik des Freiheitsbegriffs bleibt hier ausgespart, da es in diesem Zusammenhang nicht mehr um eine metaphysische Fragestellung geht, sondern um eine pragmatisch-operationale Entscheidbarkeit im Rahmen einer Unterscheidungslogik. 92

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komme. Gerade in konstruktivistischer Perspektive könnte sich umgekehrt das Unbedingte jederzeit als möglicher Schein erweisen, als bloß jene Grenze unserer Möglichkeiten, rational zu entscheiden. Insofern bleibt hier auch für den Bereich der Theorie nichts anderes als jenes Viabilitätsprinzip (Ernst von Glasersfeld93), das man als pragmatisch-skeptische Maxime des Radikalen Konstruktivismus verstehen kann: Soweit ein Operieren trägt bzw. gangbar ist, kann an ihm festgehalten werden, insofern sich die sonstigen Parameter und Voraussetzungen seiner Gültigkeit nicht geändert haben. Und wenn z. B. nicht mehr dasselbe beabsichtigt ist oder neue Informationen die Sicht auf die Lage verändert haben, kann es angemessen sein, die Strategie zu wechseln oder andere Mittel zum Einsatz zu bringen. Diese pragmatisch-skeptische Selbstbegrenzung des Radikalen Konstruktivismus bedeutet zweierlei: zum einen Systeme nicht mit unermeßlichen Ansprüchen zu konfrontieren und mit absoluter Verantwortung zu belasten94; zum anderen Operationen, Strategien, Prinzipien nicht absolut zu setzen, sondern nur kontextabhängig deren Geltung zu diskutieren, wie umfassend auch immer diese Kontexte sein mögen. Dabei ist der Kontext vorläufig, d. h. er ist abschließbar und unabschließbar zugleich: Denn ein ›prinzipiell‹ offener Horiziont bleibt als solcher solange bestehen und zugleich so lange unkalkulierbar, wie ein System beobachtet und weiteroperiert (bzw. ein Bewußtsein wahrnimmt und reflektiert), um seine eigenen Determinanten, Konditionalisierungen, Vorentscheidungen zu bearbeiten und zu revidieren. Soweit die Sicht reicht, vermag ein System kalkuliert zu operieren – aber es vermag nicht zu sehen, was es nicht sieht. Man könnte paradox formulieren: Jedes System konstruiert sich indirekt ein Unkonstruierbares, das seine Grenze bildet, da es mit jeder getroffenen Entscheidung und jeder vollzogenen Operation eine andere ausgeschlossen hat. Es gibt also zu jeder Vor-

93. Glasersfeld 1981; vgl. auch Glasersfeld 1995, 43: »Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ›korrekte‹ Abbildung der Realität bestimmt.« 94. »Man muß nun aber feststellen, daß es unfair ist, das System für Veränderungen im gesamten Universum verantwortlich zu machen« (Foerster 1960, 212). Das ultimative Unvermögen eines Systems korreliert mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, daß die Entropie in geschlossenen Systemen unweigerlich zunimmt. Betrachtet man die System-Umwelt-Relation als geschlossenen Bereich, dann muß die Unordnung der Umwelt zunehmen, sofern das System seinen Ordnungsgrad steigert. In einer räumlichen Metaphorik ausgedrückt: Das, was an einem Ort an Ordnung aufgebaut wird, zersetzt sich an einem anderen mindestens im gleichen Maße. Diese Einsicht läßt sich auf das operierende System selbst noch einmal anwenden: Auch das System selbst (als geschlossenes) kann nur unter Preisgabe von Ordnungsgraden seine Entropie verringern. In moralischer Hinsicht könnte das heißen, daß die berühmten guten Absichten immer auch unbeabsichtigte schlechte Nebenwirkungen zeitigen. 93

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derseite eine Rückseite, selbst wenn es sich um ein Möbiusband95 handeln sollte, denn es kommt immer auf den Rahmen an, in dem die Frage nach der Vielseitigkeit bzw. Mehrdeutigkeit eines Gegenstands oder einer Situation gestellt wird. Darauf muß ein einigermaßen viables selbstorganisiertes System sich einstellen können, indem es sich selbst konditioniert und so versucht, sich mit seiner Umwelt zu arrangieren. Die Strukturbildung des Systems, d. h. seine innere Differenzierung, verdankt sich ausschließlich Festlegungen, die vom System operativ selbst vollzogen werden. Wie es das im einzelnen macht, ob durch Einwirkung auf oder durch Anpassung an die Umwelt, ist ›prinzipiell‹ unabsehbar vielfältig, im Einzelfall jedoch immer schon eingeschränkt in seinen tatsächlich realisierbaren Möglichkeiten. In diesem Zwischenraum von Möglichkeit und Unmöglichkeit entsteht die Wirklichkeit von Systemen – als verwirklichte Operativität und als Beobachtungskonstrukt. Und die Voraussetzungsstruktur des Operierens – daß Operationen immer schon an etwas anschließen, das sie nicht selbst sind, stellt die fundamentale Notwendigkeit dar, unter der die Wirklichkeit eines Systems prozessiert wird. Gerade an der Frage des Gedächtnisses zeigt sich dieses nichtkonstruierbare Moment deutlicher als in anderen Zusammenhängen. Demnach ist nicht alles, was in der Theorie konstruktivistisch konzipiert werden kann, schon alles, was es zu bedenken gilt. Zwei Einschränkungen müssen aus konstruktivistischer Sicht zugestanden werden, die sich als offene Stellen jeder Theoriebildung erweisen: (1) Auch der Radikale Konstruktivismus, will er sich nicht als omnipotente Totaltheorie gerieren, muß etwas voraussetzen, ein X, wie schon Kant formulierte. Dieses Unbestimmte wirkt sich wie ein Widerstand aus, da es sich der Konzeptualisierung gerade im Moment seines Bestimmtwerdens entzieht. Das ist durchaus paradox: Das vorausgesetzte Unbestimmte ist als Unbestimmtes bestimmt und entgeht gerade dadurch aller weiteren Bestimmung. Darin liegt der Widerstand allen weiteren Denkens in Bezug auf das Unbestimmte, denn das Denken selbst unterliegt dem Zug zur Bestimmung dessen, was es denkt, auch wenn es mit jeder Bestimmung Unbestimmtes voraussetzt – und dies wiederum mitdenkt. Es vermag also das Andenken an das Unbestimmte zu wahren – eine Leistung des Gedächtnisses. (2) Der Akt des Setzens, der Unbestimmtes in Bestimmtes zu verwandeln trachtet, ist selbst von jener Unbestimmtheit gekennzeichnet, die er abzutragen angetreten ist. Denn erst nachträglich kann eine Operation – durch eine anschließende – für dieses System zu Bewußtsein gebracht bzw. retroaktiv eingeholt werden, und zwar als immer schon bestimmendes Moment der anfänglichen Aktivität des Setzens. Diese Unfaßbarkeit der gegenwärtigen Vollzüge, die sowohl an

95. Trotz der nachweislichen Einflächigkeit von Möbiusbändern – sie bestehen aus nur einer einzigen Fläche, die jedoch zugleich ihre eigene Vorder- und Rückseite bildet – gibt es Möbiusbänder nur im dreidimensionalen Raum. Aber an jeder konkreten Stelle im Raum hat das Möbiusband Vorder- und Rückseite. 94

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Gegenständen der Beobachtung wie an den Operationen der Beobachtens, d. h. auch an der Theorie selbst merklich wird, entgeht der naiven Auffassung eines vermeintlich reinen Konstruktivismus, ja, sie läuft diesem Selbstverständnis geradezu entgegen: Ohne den Gedanken einer Dezentrierung der Selbstreferentialität der Systeme kippt die konstruktivistische Theorie in einen Pankonstruktivismus um, der Sein als Konstruiertsein für das Ganze hält. Die Begründungsproblematik des Radikalen Konstruktivismus nähert sich damit Fragestellungen der philosophischen Tradition: Das konstruktivistische System ähnelt einer – quasi transzendentalen – stiftenden Subjektivität, die vor aller Unterscheidung von Bewußtsein und Gegenstand, Ich und Welt, System und Umwelt liegt. Das konstruktivistische Denken droht, insofern es seine eigenen Voraussetzungen vollständig mitzudenken und d. h. radikal konstruktiv einzuführen versucht, unmittelbar ins Absolute umzuschlagen. Auf zweierlei Weise kann die angestrebte Radikalität des Konstruktivismus fehlgehen: zum einen, indem dem Selbstmißverständnis Vorschub geleistet wird, daß alles, was konstruiert werden kann, ausschließlich Konstruktion sei, und zum anderen, daß alles, was ist, Konstruktion sei. Das wäre das gleiche Fehlgehen wie das des subjektiven Idealismus, der meint, er könne aus der subjektiven Verfaßtheit aller möglichen Phänomene die ausschließlich subjektive Verfassung aller Phänomene und damit der Wirklichkeit schlußfolgern.96 In diesem Selbstabschließungsargument97 liegt die Gefahr, die sich bei allen von einer fundierenden, gar bewußtseinsförmigen Subjektivität ausgehenden Ansätzen stellt. Die Konsequenzen für die Verbindung dieser Ansätze mit den Fragen einer Ethik liegen auf der Hand: Die Einführung der Kategorie des Anderen kann nur als Bruch in der streng selbstreferentiellen Theoriebildung erfahren werden. Der Verantwortungsbegriff tritt erst in dem Moment auf den Plan, wo überhaupt mit der Möglichkeit eines eigenständigen Anderen gerechnet wird. Die Ethik – wie laut Nietzsche die Wahrheit – fängt mit zweien an. Die bloße Verantwortlichkeit für sich selbst, in Bezug auf mögliches beabsichtigtes oder unabsichtliches Handeln, entbehrt nicht nur jeglichen Verpflichtungscharakters gegenüber dem Anderen, sondern ist als Denkfigur lediglich dann plausibel, wenn der Bezug zum Anderen schon auf den Plan getreten ist. Die reine Selbstbestimmung bindet die Verantwortung für Denken und Handeln strikt zurück an die Perspektive selbst, die beobachtet, entscheidet und handelt. Diese Selbstbestimmung drückt zwar die Unausweichlichkeit und Unvertretbarkeit der Subjektivität sich selbst gegenüber aus, liefert jedoch den Anderen der Willkür oder dem Wohlwollen des Selbst (oder des Systems) aus – es sei denn, daß gezeigt werden kann, daß dieses Selbst (System, Subjekt) sich nicht ohne die Voraussetzung des

96. Bzw. daß Wirklichkeit subjektive Konstruktion sei und nichts außerdem. 97. Dies ist eine klassische Figur der Selbstimmunisierung, die nichts, was die eingenommene Perspektive verunsichern oder stören könnte, zulassen kann, d.h. ›wegarbeitet‹ im Sinne entweder einer Ignoranz oder eines Rechtbehaltens. 95

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Anderen konstituieren könnte. Denn insofern stünde dieses Selbst immer schon in der Verantwortung des Anderen und verdankte sich gleichermaßen der Möglichkeit einer Fremdreferenz. Eine solche Dezentrierung des Selbst zeigt sich in der Intentionalität des Bewußtseins auf Gegenstände genauso wie in der Transitivität des Handelnden auf Handlungsziele und Mithandelnde oder in der gleichursprünglichen, wechselseitigen Bezogenheit von System und Umwelt. Damit hat die Theorie eine Möglichkeit, ihren solipsistischen Selbstabschluß, ihre argumentative Immunisierungsstrategie zu durchbrechen.98 Hier ist an ein Einbringen der Bedingungen sozial-intersubjektiver oder symbolisch-sprachlicher Konstitution von Subjektivität zu denken, an die Koevolutivität von Systemen99 oder an die notwendige temporale Voraussetzungsstruktur der Nachträglichkeit. Eine Ethik des Anderen hätte diese Einsichten einzubeziehen, will sie den Diskurs der Nichtkonstruierbarkeit in argumentativer Weise führen. In zeitlicher Dimension ist es das Gedächtnis – als Vermögen zum Behalten des Vergangenen –, das sich als ein interner Ort der dezentrierenden Konstitution von Subjektivität begreifen läßt: Über das Gedächtnis steckt Andersheit immer schon im Psychischen bzw. in Systemen überhaupt. Diese innere Unterscheidung des Psychischen in Bewußtsein und Gedächtnis konstituiert eine interne Fremdheit, insofern das, was einst eine gegenwärtige Erfahrung, ein Gegenstand des Bewußtseins oder der Wahrnehmung gewesen ist, für die Erinnerung bereitgehalten wird. Das Bewußtsein kann sich mit Hilfe des Gedächtnisses an etwas erinnern, das bis dahin nicht mehr zu ihm gehörte. Die Erinnerung präsentiert damit Vergangenes wie eine aktuelle Vorstellung, aber im Modus einer zeitlichen, logisch-symbolischen bzw. bildlich-räumlichen Anwesenheit des Abwesenden. Die imaginäre Gegenwärtigkeit des Vergangenen ist demnach eine Leistung des Vorstellungsvermögens, das ja tatsächlich als ein aktueller Vollzug des Bewußtseins begriffen werden muß. So bleibt die zeitliche Unterschiedenheit des Vergangenen vom gegenwärtigen Bewußtsein als Index erhalten und kann jederzeit explizit zum Thema gemacht werden. Die Spur oder das Muster als Modus der Repräsentation des Vergangenen stellt sich dabei für das Bewußtsein wie eine Derepräsentation einer Erfahrung dar. Erinnerung kann also vom Gegenwärtigen zeitlich Verschiedenes nur im Modus der Nichtgegenwart, eben als Vergangenes

98. Das Relativitätsprinzip Heinz von Foersters muß hier angeführt werden, welches den Realitätsgrad des Selbst, des Ichs, des vorstellenden Bewußtseins mit seinen Vorstellungen von einem Anderen, der mir ähnelt, gleichsetzt, da es unsinnig ist, mich selbst als vorstellendes Bewußtsein für realer zu halten als das, was dieses Bewußtsein sich vorstellt. Und zwar aus dem Grunde, daß ich mir selbst als solipsistische Monade, die keine andere Realität als sich selbst zugesteht, nicht mehr Gewißheit verschaffen kann, als ich mir selbst zugestehe, jedoch über die Figur des Anderen eine konsensuelle, wechselseitige Konfirmation dessen möglich wird, was als real angesehen wird. Vgl. Foerster 1960, 215-217. 99. Luhmann 1984, 92. 96

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präsentieren. Vor dem Hintergrund des zuvor Gezeigten, daß nämlich die Konstitution von Gegenwart eines Bezugs zu anderen Ekstasen der Zeit (Vergangenheit bzw. Zukunft) bedarf, wird hier deutlich, daß die Präsenz des Nichtgegenwärtigen eine immer schon gebrochene ist und nie als einfacher, sondern als komplexer Modus von unterschiedlichen psychischen Akten aufgefaßt werden muß. Dies gilt aus den genannten konstitutionstheoretischen Gründen der Gleichursprünglichkeit von Ich und Anderem, Bewußtsein und Gegenstand, System und Umwelt, Gegenwart und Vergangenheit/Zukunft in gleicher Weise für die Begriffe Selbst, Bewußtsein, System und Gegenwart. Auch deren Präsenz ist immer schon eine gebrochene: eine symbolisch, sozial und zeitlich vermittelte. Von hier aus wird klar, daß es ohne Erinnerung und Gedächtnis keine Ethik geben kann, aber ebenso, daß damit zunächst nur das Feld zu ihrer Konzipierung eröffnet worden ist.

2.2 Jenseits von Natur- und Geisteswissenschaft? Der sinnkritische Sinn-Begriff der Freudschen Psychoanalyse Disziplin und Unbestimmtheit Wie im Falle der Philosophie ist es unmöglich, von der Psychoanalyse als einem klar umrissenen Wissensgebiet oder einer einheitlichen wissenschaftlichen Methode auszugehen. Beide lassen sich zunächst nur als Tradition von bestimmten Fragestellungen nachzeichnen, die mit gewissen Grundproblemen zusammenhängen, mit denen sich menschliche Subjekte konfrontiert sehen. Während in der Geschichte der Philosophie die Fragen nach dem Sein und der Vernunft (ontologisches Paradigma, vorherrschend in der griechischen Antike), nach der Erkenntnis und ihrem Subjekt (mentalistisches Paradigma des neuzeitlichen Philosophierens ausgehend von Descartes über Kant bis zu Hegel) sowie nach dem Sinn und der Sprache (linguistisches Paradigma im Anschluß an Humboldt, Wittgenstein und Heidegger)100 immer wieder andere Antworten provoziert haben, stellt für die Psychoanalyse die Entdeckung des Unbewußten jenen neuralgischen Punkt dar, der sich mit der Beantwortung der Fragen, die sich mit seinem Auftauchen stellen, nicht beruhigen läßt. Philosophie und Psychoanalyse sind die nicht festgestellten Wissensformen par excellence. Das Selbstverständnis der neuzeitlichen Wissenschaften ist genau gegen eine solche – mit der Nichtfestgestelltheit verbundene – Unsicherheit im Wissen mit einem Anspruch auf Universalität angetreten, der sich wesentlich über die Methode einlösen lassen sollte. Darin verbirgt sich die These, daß nicht von den Inhalten ausgegangen werden könne: weder direkt von den Gegenständen oder den intuitiven Einsichten noch dem traditionell autorisierten Wissen selbst. Vielmehr solle der Weg zu Einsicht, Erkenntnis und Wissen in kontrollierbarer Weise über eine tatsächlich machbare Erfahrung beschritten werden, die prinzipiell je-

100. Vgl. Schnädelbach 1985. 97

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der nachvollziehen können müsse. Skepsis gegenüber dem Selbstverständlichen, dem unkritisch Tradierten und Alltäglichen, erst recht gegenüber der bloßen (nichtdiskursiven) Intuition und dem (vor allem religiösen) Dogmatismus, all das verbindet sich in der Entwicklung der Wissenschaften in der Frühen Neuzeit mit einer pragmatischen Orientierung an Erfahrung und Experiment. Die Idee der rationalen Erkenntnis, vornehmlich am Beispiel der Naturwissenschaften ausgearbeitet, besteht in einer im ganzen kontrollierbaren Verbindung von Erfahrung und Theorie, wobei das methodologisch abgesicherte Experiment und der logische Aufbau der Theorie (ob induktiv oder deduktiv) das Organon der Rationalität bilden.101 Insofern tritt der Begriff der Rationalität erst in einer denkgeschichtlichen Situation mit nachmetaphysischem102 Impetus auf den Plan, um den Verlust des alten Seins-Vernunft-Fundamentalismus zu besiegeln, der im logos das universale, ordnende Medium sowohl des (menschlichen) Geistes wie des Kosmos schlechthin meinte. Im Zeichen einer durch menschliche Subjekte zu vollbringenden Aufklärung der wahren Verhältnisse in der Welt konnte die göttliche Gesichertheit der Verbindung aller möglichen Phänomene im Gedanken der Einheit der Schöpfung nicht länger einfach unterstellt werden, sondern war aus der Fraglichkeit erst zu erarbeiten.103 Deshalb bedarf die funktionierende Wissenschaft, die bis heute im wesentlichen an diesen beiden Polen der Rationalität – Subjektivität und Objektivität, Erkenntnis und Gegenstand, Vernunft und Phänomen, Verstand und Sinnlichkeit – festgehalten hat (wenn auch in unterschiedlichen Relationierungen), der prinzipiellen Klärung von Gegenstandsbereichen und Methoden. Aber gerade dadurch droht beständig eine wissenschaftliche Reduktion von konkreter Subjektivität: Das, was einst als unbefragtes fundamentum inconcussum den – nachträglich als solchen entdeckten – Ausgangspunkt jeglichen Welt- und Selbstverständnisses bildete, wird nun ebenfalls den Formen und gegenstandsbezogenen Grenzziehungen methodischer Erkenntnis unterworfen. Hatten die Cartesischen Meditationen auf dem Weg des universalisierten Zweifels jenes unbestreitbare Moment in den philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs über Wahrheit und Gewißheit eingeführt, der noch aller methodischen Konstruktion des Wissens als unhintergehbarer Ausgangspunkt diente, so bildete dieses Ego cogito doch eine Irreduzibilität, der nicht einmal ein täuschender Gott sollte beikommen kön-

101. An dieser Stelle kann sowohl auf René Descartes’ Discours de la méthode (1637) wie auf Francis Bacons Novum organum scientiarum (1620) als Gründungstexte eines neuen wissenschaftlichen Weltverhältnisses verwiesen werden. 102. Vgl. hierzu Habermas 1988. Und zur Problematisierung des ›nach-‹: Henrich 1987. 103. Darin sind sich Bacons Maxime »Wissen ist Macht«, Vicos Prinzip »verum et factum convertuntur« und Kants Feststellung, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (Kant 1781/1787 B XIII), einig. Sowohl der Pragmatismus als auch der Konstruktivismus lassen sich als Fortsetzung dieser Tradition verstehen. 98

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nen. Der kritische Versuch einer methodischen Fundierung aller Erkenntnis mündet so in einen Subjektfundamentalismus im Sinne einer epistemischen Unhintergehbarkeit. Das scheinbar »Selbstverständliche verständlich machen«, wie Husserl bündig formuliert104, bedeutet aber zugleich die Einführung einer entfremdenden Distanz, die erst über den Weg des Zweifels das Subjekt der Erkenntnis restituiert. Wenn auch nicht in allen wissenschaftlichen Ansätzen ein fundamentaler Grundlegungs- und Begründungsanspruch in einen universalen, einheitswissenschaftlichen umgemünzt wurde, so stellt doch das überaus erfolgreiche Auftreten von Naturwissenschaften und den mit ihnen einhergehenden Technologien eine äußerst starke Tendenz dar, im Zuge der Weltaneignung auch aller Subjektivität im Medium wissenschaftlicher Thematisierung Herr zu werden, und das möglichst innerhalb eines gleichförmigen und kohärenten Rahmens, der idealerweise Theorie und Praxis der gesamten menschlichen Existenz umgreifen können sollte.105 Hiergegen wenden sich – im Zuge des Bedenkens der Kosten des Fortschritts, der Säkularisierung und Modernisierung – sowohl die älteren Kräfte aus Mythologie, Theologie und Kunst als auch die Philosophie, aber ebenso die kritische Wissenschaft selbst, sofern sie sich nicht auf den Totalitätsanspruch der Erkenntnis, auf Weltbemächtigung durch Wissenschaft und Technik oder auf Selbstermächtigung der Subjektivität festlegen lassen wollen. Das Programm der Aufklärung wird im Zuge seiner Durchsetzung und Etablierung mit den Grenzen des eigenen Prozedierens bekannt. Diese doppelte Tendenz von wissenschaftlich aufklärendem und kritisch aufgeklärtem Selbstverständnis kennzeichnet das moderne Denken quer durch alle Disziplinen.106 »Selbstaufklärung der Vernunft« lautet deshalb die moderne Devise spätestens seit Kant, die sich als Kritik im Doppelsinn von Beurteilung und Begrenzung, Selbstbeschränkung entfaltet.

Wissenschaftstheoretische Stellung der Psychoanalyse In diesen weitgefaßten Rahmen von Aufklärung fügen sich wesentliche Tendenzen der Psychoanalyse. Jedoch bewahrt sich die Psychoanalyse ihre Unabhängigkeit darin, daß sie sich nicht vollständig mit den Begriffen von Aufklärung und Selbstaufklärung identifizieren läßt – darin einig mit allen eindeutig vernunftkritischen Ansätzen in nachhegelscher Zeit (z. B. Schopenhauer, Nietzsche, Horkheimer/Adorno). Durch die Einsichten der Psychoanalyse ist der Blick für die Dialektik der Aufklärung107 geschärft worden, die im unbedingten Willen zur Aufklärung jenen Totalitätsanspruch aufspürt, gegen den das kritische Geschäft der Aufklärung angetreten war: Die Verabsolutierung bestimmter Grundannahmen

104. Husserl 1935/36. 105. Kritische Auseinandersetzungen mit diesem (Selbst-)Bild der Neuzeit finden sich z.B. bei Blumenberg 1966; Schäfer 1993. 106. Vgl. Schnädelbach 1987. 107. Horkheimer/Adorno 1947. 99

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und Verfahren läßt Aufklärung in Mythologie umschlagen. Aus dem gleichen Grund gerät aber auch die Psychoanalyse in wiederkehrende Befragungen, nach welchen Kriterien sie sich denn eigentlich richte, wie sie ihr praktisches und theoretisches Vorgehen rechtfertigen könne und dergleichen mehr. Die hier vertretene Auffassung von Psychoanalyse versteht sie als eine sinnkritische108 Disziplin unter dem Vorzeichen der Moderne, die nicht erst mit ihren kulturtheoretischen Schriften, wenn auch ganz besonders dort, auf die inneren Widersprüche und Grenzen jenes menschheitlichen Projekts der Zivilisierung und Vergesellschaftung des Subjekts als eines animal rationale hinweist. Allerdings handelt es sich hier nicht einfach um eine destruktive Strategie der grundsätzlichen Verabschiedung des Vernunft- oder Sinn-Begriffs109, geht es doch darum, eine konstruktive Reformulierung der Konzeption des Sinns als Anschlußfähigkeit bzw. Zusammenhangsbildung – psychoanalytisch: Phänomen und Begriff der Assoziation – in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, und zwar für die hier durchgeführte Untersuchung auch in wissenschaftstheoretischer und -historischer Hinsicht. Damit stellt sich die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Ort der Psychoanalyse in einer veränderten Perspektive. Denn zur Rekonzeptualisierung der Psychoanalyse wird hier eine medientheoretische Herangehensweise gewählt, die ausgehend von Phänomen und Begriff der Assoziation die Medialität der psychoanalytischen Arbeitsweise hervorstreicht, sowohl was die Praxis der Kur (freie Assoziation lt. Grundregel) als auch was den Stil und Inhalt ihrer Theoriebildung betrifft, die als zentrales Element der psychoanalytischen Auffassung das Psychische als Assoziationsapparat beschreibt. Damit wird das Erfahrungsfeld der Psychoanalyse als ein mediales Geschehen beschrieben, von dem aus sich das Wissen des Subjekts erschließen läßt, also zu einem wie immer partiellen, irrtumsanfälligen und revisionsbedürftigen Wissen über das Subjekt transformiert wird. In den bisherigen Debatten um die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse ging es zumeist darum, die Psychoanalyse als eine beschreibbare Disziplin in das System der Wissenschaften einzuordnen, wie es anderweitig schon herausgearbeitet worden war. Dabei wurde nicht auf die eher soziologisch begründete

108. Analog zur sinnkritischen Metaphysikkritik der sprachanalytischen Philosophie unter dem Vorzeichen des linguistic turn (vgl. das eingangs genannte linguistische Paradigma nach Schnädelbach 1985 sowie Apel 1973; vgl. auch Kap 1.1) 109. Ganz im Gegenteil kann die Psychoanalyse als Advokat der Strukturiertheit, Artikulation, Sprachlichkeit der Seinsweise menschlicher Subjekte herangezogen werden: Die Strukturiertheit menschlichen Seins, d.h. seine grundlegende Sprachlichkeit erweist sich als der unhintergehbare, gleichsam transzendentale Horizont noch dann, wenn der Versuch einer radikalen Hinterfragung des Daseins, so wie es sich hier und jetzt zeigt, unternommen wird: »Die psychotherapeutische Praxis bestätigt dies tagtäglich: wieweit Analysand und Analytiker auch vorwärts bzw. rückwärts dringen, in die Geschichte des Menschen hineinhorchen, es begegnet schon immer Artikuliertes, begegnen Bedeutungen, Phantasien, begegnen Diskurse.« (Lang 2000, 10) 100

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Zwei-Kulturen-These C.P. Snows110 eingegangen, die sich ja vor dem Hintergrund der angloamerikanischen Wissenschaftstradition versteht. Vielmehr wurde fast ausschließlich im Ausgang von der wesentlich durch Wilhelm Dilthey ausgelösten Erklären-Verstehen-Kontroverse zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage danach gestellt, ob die Psychoanalyse Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft sei – und damit oft in eins: ob sie überhaupt Wissenschaft sei.111 Umgekehrt spielt die Psychoanalyse keine prominente Rolle in der Debatte um die Zwei Kulturen, weder in diagnostisch-analytischer Hinsicht noch als widerborstiger Gegenstand, der sich dieser Unterteilung nicht recht fügen will.112 So ist in wissenschaftstheoretischer Perspektive gegen die Psychoanalyse und ihr Wissensmodell eingewendet worden, daß die empirische Validität psychoanalytischer Aussagen ungesichert sei, da weder der wissenschaftstheoretische Status des mit ihnen verbundenen Wahrheitsanspruchs geklärt noch die empirische Nachprüfbarkeit nach intersubjektiven Kriterien gewährleistet, gar – wegen der Bedingung der Verschwiegenheit des settings – überhaupt möglich wäre. Auch wird bestritten, daß Psychoanalyse Wissenschaft sein könne, da sie eine fundamentale Bedingung von Wissenschaftlichkeit schlechthin, nämlich Falsifizierbarkeit ihrer Behauptungen, nicht erfülle. Ein Grundzug psychoanalytischer Deutungen sei als Immunisierungsstrategie zu entlarven, da alles, was gegen bestimmte Behauptungen eingewendet werde, nur als Widerstand gegen die Deutung und darum als Bestätigung der psychoanalytischen Sichtweise verbucht werde (Karl R. Popper). Gegen eine hermeneutische Lesart der Psychoanalyse, wie sie Jürgen Habermas113 vertritt, hat etwa Adolf Grünbaum114 behauptet, daß Freuds Begriff der Verdrängung kausalistisch sei und daß zudem auch der Bedeutungsbegriff kausal im Sinne der Verursachung natürlicher Zeichen konzipiert sei. Nimmt man allerdings die – nicht-hermeneutische – Sinn-Orientierung der Psychoanalyse ernst115, dann muß zunächst betont werden, daß Freud eine »Theorie der Bedeutung, die Unbewußtes erschließt«,116 vertritt. Wenn es jedoch um Sinn-Orientierung geht, dann steht gerade nicht der Aspekt der (objektivierbaren) Genese – ob kausal oder nicht – im Vordergrund, sondern die Auffassung von Ereignissen durch ein Subjekt, also deren Interpretation und Deutung.117 Denn selbst wenn

110. Vgl. Snow 1959. 111. Dilthey 1883 und Dilthey 1894; Windelband 1894; Rickert 1899; Ricœur 1965; Habermas 1968; Apel 1979; Grünbaum 1984; Köhler 1987. 112. Lepenies 1985 hat die Soziologie jenseits der Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaft als eigenständige Disziplin dargestellt. 113. Habermas 1968. 114. Grünbaum 1984. Vgl. hierzu Taureck 1992b, 15. 115. Vgl. Khurana 2002. 116. Taureck 1992b, 7. 117. Den wissenschaftstheoretischen Status der theoretischen Behauptungen Freuds muß man als weder zwingend beweisbar noch klar widerlegbar im Sinne einer 101

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im Einzelfall eine kausalistische Erklärung für (lebensgeschichtliche) Ereignisse möglich ist und tatsächlich gelingt, so sagt das noch nichts darüber aus, wie diese in den Lebenszusammenhang eines Subjekts aufgenommen worden sind und welche Rolle sie in seinem Seelenhaushalt spielen. Insofern muß noch das Anführen von (objektiven) Ursachen und kausalen Erklärungen als ein diskursives Element der Anstrengungen des Subjekts angesehen werden, sich selbst bzw. sein Leben – auch anderen gegenüber – verständlich zu machen.118

Psychoanalyse als sinnkritisches Verfahren Grünbaums zweite These vom »kausalen Bedeutungsverhältnis« erklärt neurotische Symptome zu natürlichen Zeichen: »Natürliche Zeichen – z. B. Fußspuren im Sand, Blut im Taschentuch – bilden Zeichen von etwas, nicht für etwas wie sprachliche Zeichen. Fußspuren im Sand z. B. werden als Zeichen von etwas, vom Beobachter als Glieder einer Zurückverfolgung und der Entdeckung früherer, kausal geordneter Ereignisse genommen. Die Übertragung natürlicher Zeichen auf neurotische Symptome wird mit dem Argument bestritten, daß die Symptome zugleich für etwas stehen, nämlich, daß sie dasselbe bedeuten wie die Vorstellungen, die sie ersetzen.«119 Genau das ist es aber, was Freud behauptet, wenn er von »Überdeterminierung« und »Kompromißbildung« spricht.120 Denn um die Rolle von Symptomen im Krankheitszusammenhang verständlich zu machen, reiche es nicht aus, auf deren Verursachung, das sog. pathogene Ereignis bzw. Erlebnis hinzuweisen. Schließlich gibt es nicht nur eine oder mehrere Ursachen, sondern auch Sinn, der sich aus dem psychischen Zusammenhang ergibt, in dem etwas als Ursache für ein Subjekt eingesetzt und diskursiv ins Feld geführt wird. Zusätzlich beharrt Freud darauf, daß der psychische Zusammenhang von einer Tendenz

empirisch-experimentellen Überprüfbarkeit bezeichnen. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß die Psychoanalyse als Theorie widerlegt wäre bzw. ihre theoretischen Aussagen als sinnlos erachtet werden könnten. Vielmehr kann man von »grammatischen Bemerkungen« der Art sprechen, »was der Begriff des Traums, so wie er in unseren Praktiken (gerade auch: psychoanalytischen) realisiert ist, impliziert.« Anders, d.h. »operationaler gesagt: Wie könnten und sollten wir den Traum sehen, um ihn einer Deutung fähig zu machen?« (Khurana 2002, 35 Fn. 22) Es kommt den psychoanalytischen Aussagen also auch eine »erschließende Funktion« (Khurana 2002, 44) zu. 118. Damit ist Kausalität als Welt- und Lebensdeutung nicht ausgeschlossen, stellt aber, wie gesagt, nur ein, wenn auch lebenspraktisch unverzichtbares Modell unter anderen dar, Leben und Welt als Zusammenhang darzustellen. 119. Taureck 1992b, 17f. 120. Im Zusammenhang der Erörterung des Unbewußten als handlungsanaloger Instanz wendet Bernhard Taureck ein, daß im Falle der Psychoanalyse monokausale bzw. unilineare Ursache-Wirkungs-Relationen überhaupt unangemessen seien: »Vielleicht muß die Psychoanalyse ohnehin als Entdeckung von Mehrfachidentitäten oder Mehrfachinstanzen in der phänotypischen Personidentität verstanden werden.« (Taureck 1992b, 17) 102

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beherrscht wird, die Freud Wunsch nennt und die sich aller Möglichkeiten und Gelegenheiten bedient, um sich zu artikulieren, besonders auch gegen den Widerstand der Verdrängung und an der (grammatischen, logischen, moralischen) Zensur vorbei. Es geht beim Wunsch (in vergleichbarer Weise wie beim Trieb) um ein Anlehnungsverhältnis: Während jedoch die Sexualtriebe auf die Möglichkeiten des Körpers, seiner Anatomie und Funktionen verwiesen sind, um sich Orte zu suchen, an denen sie zum Ausdruck kommen, ist der Wunsch jenes transnaturale Moment des Psychischen, welches sich auf alle psychischen Elemente (Vorstellungen, Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle, Erinnerungen) beziehen kann, um sie seinen Zwecken unterzuordnen: Dem Wunsch sind alle ›Ursachen‹ willkommen, und Gelegenheitssymptome, die sich einem (auch im kausalen Sinne) anderen Zusammenhang verdanken, können so einen Sinn annehmen, der ihnen bisher nicht zukam.121 Damit ist der Weg zu einer anderen Auffassung der Symptomatik und des unbewußten Zusammenhangs eröffnet, der zu einer Streuung von Ursache-Wirkungs-Relationen führt. In diesem Sinne hat Thomas Khurana von der »Dispersion des Unbewußten« gesprochen, d. h. von der Verstreuung bzw. Verteilung von Operationen, Funktionen und Effekten – die sich ohne Beteiligung des Bewußtseins vollziehen – auf verschiedene systematische ›Orte‹ des Psychischen (topischer Gesichtspunkt). Damit sind sowohl die unterscheidbaren und relativ autonomen Funktionalitäten verbunden (dynamischer Gesichtspunkt) sowie die Möglichkeit der mehrfachen Determination psychischer Phänomene, d. h. der Koexistenz verschiedener Ursachen (Freuds Überdeterminierung und Kompromißbildung). Es geht Khurana mit Freud also nicht um eine irgend physikalistische Reformulierung im Sinne einer Theorie der Feinstofflichkeit,122 sondern um eine – im Verhältnis zum Bewußtsein – topische Dezentrierung und um die Einführung eines komplexitätssteigernden Modells von Verknüpfung in einer Logik des Psychischen.123 Damit ist die Frage der Stofflichkeit zunächst abgelöst durch die der Relationen und Funktionalitäten und deren Kombination. Da die Begriffe der Relation und Funktion sich jedoch auf etwas beziehen, das sie relationieren und zum Funktionieren bringen, kehrt die Frage des ›Stoffs‹ in Gestalt der Frage nach den Elementen zurück, aus denen das Psychische aufgebaut ist. Wenn es stimmt, daß die Elemente eines sich selbst organisierenden Systems von diesem System selbst bestimmt bzw. (im Falle der Autopoiesis) hervorgebracht werden, dann

121. Freud spricht in diesem Kontext von »sekundärem Krankheitsgewinn«. 122. In diesem Sinne definiert der Fremdwörter-Duden ›Dispersion‹ als die »feine Verteilung eines Stoffes in einem anderen«. 123. Entscheidend ist also – wie zumeist bei funktionalistischen Modellen – nicht, wie die beobachteten bzw. rekonstruierten Funktionen stofflich realisiert sind bzw. werden. Genau diese Differenz markiert auch bei Freud den Übergang von einer neurologisch-lokalisationistisch basierten Theorie des Psychischen hin zu einer nicht an anatomische Korrelate gebundenen, eher psychologischen denn naturwissenschaftlich-medizinischen Psychoanalyse. 103

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kommen die Funktionen und Relationen selbst wieder ins Spiel, die im System verwirklicht sind: Die Elemente können dann nicht unabhängig von den sonstigen Bestimmungen des Systems als System definiert werden. Insofern sind die Begriffe des Elements, der Relation und der Funktion nicht unabhängig voneinander und nur systembezogen zu definieren.124 Deshalb bietet sich für eine – die vielschichtige, wechselseitige Bestimmtheit eines systemischen Zusammenhangs berücksichtigende – wissenschaftliche Perspektive der Sinn-Begriff an, wie ihn Niklas Luhmann schon recht früh in seine Konzeption einer soziologischen Systemtheorie eingeführt hat.125 Die Konzeption eines nicht-substantialistischen Unbewußten, das »als ein Implikat des als sinnhaft verstandenen psychischen Operierens«, jedoch nicht »als Korrelat eines hermeneutisch erschlossenen Sinngeschehens«126 aufgefaßt werden soll, markiert genau den Unterschied zwischen Hermeneutik und funktionaler Analyse.127 Der systemtheoretische Sinn-Begriff ist zunächst – abstrakt gefaßt – ein formaler Begriff der Anschlußfähigkeit, also der Verknüpfung bzw.

124. Hier handelt es sich um eine relationale Begrifflichkeit, insofern es sich um keine ontologischen Festlegungen handelt, was etwas ein für allemal ist, sondern um kontextabhängige, wechselseitige Bestimmungen in Hinsicht darauf, welche Rolle etwas für etwas anderes spielt. Damit ist gesagt, daß etwas, was in einer Hinsicht eine Funktion darstellt, in einer anderen das Element z.B. einer Struktur sein kann, die ihrerseits eine Funktion für etwas drittes erfüllt. 125. Luhmann 1971a. Später dann unter autopoietischen Vorzeichen: Luhmann 1984, 92-147. 126. Khurana 2002, 13 u. 14. 127. Das Unbewußte ist ein »Strukturmoment« psychischer Systeme und als solches jedoch bloß »Implikat ihrer sinnhaften Operationsweise.« Deshalb kann man Unbewußtes weder direkt »als eine kausale Ursache von Verhalten« noch ausschließlich »als hermeneutisch erschlossenen Grund von Verhalten« ansehen (Khurana 2002, 14), denn der funktionale Sinn-Begriff, von dem her es erschlossen wird, steht quer zur traditionellen Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaft. Das unbewußte Psychische, von dem hier die Rede ist, ist alles andere als eine naturhafte, physisch-physikalische Entität, die im Verborgenen wirkt und die bewußten Erscheinungen des Seelenlebens hervorbringt. Stattdessen ist Unbewußtes funktional-operationalistisch eher zu denken »als das Moment des Überschusses und der Unverfügbarkeit, das sich im Prozedieren eines Bewußtseins zeigt« und das daran gebunden ist, »daß alle bewußten Elemente auf eine spezifische Weise sinnhaft sind: daß sie als selektive Vorkommnisse vor dem Hintergrund uneingeholter Möglichkeiten erscheinen und daß sie als Vollzüge (als Operationen) geschehen und mithin eine Ebene des Nicht-Sinns implizieren.« (Khurana 2002, 14f.) Die systemtheoretische Perspektive erlaubt es, beliebige Verknüpfungen von Elementen zu analysieren, ohne daß ein Verstehen (im starken Sinne der Kohärenz) vorauszusetzen wäre. Daraus folgt: »Die Psyche kann nicht als eine Trivialmaschine, die nach wie immer umfassenden Transformationsregeln Inputs in Outputs verwandelt, gedacht werden.« (Khurana 2002, 14; vgl. Luhmann 1985) 104

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der Assoziation von Elementen. Die Zusammenhangsbildung durch Elementverknüpfung läßt sich weder in systemtheoretischer noch in psychoanalytischer Sicht auf Versteh- und Deutbarkeit reduzieren. Weil Sinn schlicht »das Operationsmedium empirischer Systeme (psychischer und sozialer Systeme)« ist, aber »nicht als die Form des Geistes«128 betrachtet wird, welche immer schon auf Verstehen, d. h. auf Integration in einen ausschließlich auf Kohärenz hin angelegten Zusammenhang, zielt, sondern ebenso Diskontinuitäten, Lücken und Brüche beinhaltet, kann man von einem »irreduziblen Moment des Widerstands gegen jede hermeneutische Schließung«129 sprechen. Der nicht-hermeneutische Sinn-Begriff der Systemtheorie, also die Kategorie der Anschlußfähigkeit, eignet sich deshalb als Grundbegriff einer nicht bewußtseinszentrierten, nicht-homogenistischen Analytik des Psychischen.130 Kann man also für die ältere Debatte um die natur- oder geisteswissenschaftliche Ausrichtung der Psychoanalyse resümieren, daß ein breiter Konsens

128. Khurana 2002, 14. »Die transzendentale Tradition hatte es nahegelegt, die Klärung des Sinnbegriffs im Subjektbezug zu suchen und Sinn durch subjektive Intention zu definieren. Sinn sei gekennzeichnet durch den bewußten Vollzug der intentionalen Struktur des Erlebens, in dem das reflektierend aufhellbare Bewußtsein der Vorgegebenheit und Einzigheit (Ichhaftigkeit) des erlebenden Subjekt mitschwinge.« (Luhmann 1971a, 26f.) Luhmann geht es um einen formalen, nicht ausschließlich auf Subjektivität oder Psychisches verpflichteten funktionalen Begriff des »Sinnzusammenhangs« (Luhmann 1971a, 29). 129. Khurana 2002, 14. 130. Der Sinn-Begriff Luhmanns ist als ein inklusiver Letztbegriff angelegt, zu dem es keinen kontrastierenden Gegenbegriff auf gleicher Abstraktionsstufe gibt. Luhmann spricht von nicht negierbarer Leitdifferenz, die ohne ein benennbares Außen, eine Gegenposition vorkommt und somit eine umfassende Einheit von Sinn und Nichtsinn bildet, welche die Negation von Sinn, den Nichtsinn als eine Möglichkeit des Anschließens von Operationen, immer schon mit einschließt. Nur auf der internen Ebene des Sinns, der der Anschlußoperationen, kommen gleichermaßen Position und Negation als bestimmte und bestimmbare Operation vor. Die Negation überhaupt des sinnhaften Operierens führt ins unbestimmte Außen: Die Gegenposition zur Totalität des Sinns wäre ein bestimmungsloses Nichts, an das nicht weiter angeknüpft werden könnte – außer durch eine Setzung, die sich jedoch nicht als Anknüpfung definieren könnte. Erst auf einer schon als Bereich des Sinns konstituierten Ebene – also nach einer Setzung – kann vom Standpunkt des Bewußtseins und seiner Sinnorientierungen aus die Negation als bestimmte auftreten – und als solche immer nur die Anschlußfähigkeit bestätigen. Diese dezisionistische Anfangssetzung schließt allerdings nicht die Rückfrage nach dem setzenden Akt und nach den ihn seinerseits determinierenden Unterscheidungen aus: Nur wenn der erfolgte Setzungsakt als absolut aufgefaßt werden würde, scheint sich die Rückfrage zu verbieten – aber die Verabsolutierung läßt sich selbst wiederum als Setzung, als eine weitere Operation verstehen, die ihrerseits Bedingungen unterliegt, die nicht allein in ihr selbst festzumachen sind. 105

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weder über den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse noch über ihren legitimen Ort im Gefüge der gesellschaftlich-kulturellen Aktivitäten besteht, so kann im Anschluß an die systemtheoretische Reformulierung des Sinn-Begriffs die psychoanalytische Tätigkeit als sinnkritisches Operieren unter Einbeziehung der Möglichkeit des Nichtsinns aufgefaßt werden. Im folgenden soll die Psychoanalyse als ein Unternehmen jenseits von Natur- und Geisteswissenschaft umrissen werden, da es hier nur darum gehen soll, die Entwicklung der Psychoanalyse durch Freud und seine methodische Vorgehensweise im Zusammenhang mit der Entdeckung des psychoanalytischen Unbewußten zu erörtern. Das wiederkehrende Interesse131 an dieser Frage mag man mit der Eigen- oder Unart der Psychoanalyse selbst in Verbindung bringen, sich der Kategorisierung von außen zu entziehen, sowie mit ihrem internen scheinbaren Unvermögen, aus eigenen Kräften der Anforderung zur Klärung ihres Status gerecht zu werden. Dennoch soll der nötige Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses der Psychoanalyse zu anderen Diskursen gemacht werden, ohne dem Glauben zu erliegen, endgültige Feststellungen getroffen zu haben.

Der psychoanalytische Diskurs im Feld des zeitgenössischen Wissens Hierzu soll eine von der Psychoanalyse her entwickelte Logik ihres Diskurses bestimmt werden, wobei von der Strukturanalyse dessen auszugehen ist, was den anfänglichen Gegenstand der Erfahrung Freuds darstellt. Die Überschreitung des medizinisch-naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses der zeitgenössischen psychiatrischen und physiologisch-neurologischen Klinik speist sich zum einen aus den zum Ende des 19. Jahrhunderts verdeckten Wurzeln der sog. Romantischen Naturphilosophie132, die im Denken Freuds eine Wiederaufnahme und einschlägige Umwertung erfährt, zum anderen aus der akademischen Etablierung der wissenschaftlichen Psychologie133 und einer wohlverstandenen Abgrenzung von ihr, sowie zudem einer Belebung dessen, was man ein relativ breitgestreutes literarisch-kulturwissenschaftliches Interesse des Begründers der Psychoanalyse nennen könnte.134

131. Seit Kant wird ein Wiederkehren verschiedener, die ursprüngliche transzendentale Fragestellung bedrohender Wissensfiguren diagnostiziert, die da heißen: Historizismus, Psychologismus, Soziologismus (vgl. hierzu Marquard 1962; Foucault 1966, z.B. S. 415). Und schon Freud hat sich Gedanken über das Interesse gemacht, das Nichtpsychoanalytiker an der Psychoanalyse haben können (Freud 1913). 132. Vgl. Marquard 1962; Orzechowski 1993. 133. Vgl. Nicole D. Schmidt 1995. 134. Hierin am ehesten vergleichbar der Bestimmung der Soziologie, wie sie Lepenies gibt, als einer Disziplin zwischen »harten« (Natur-)Wissenschaften und »weicher« Literatur (Lepenies 1985). Vielleicht ist das bemerkenswerte Schwanken zwischen eindeutigen Paradigmenzuordnungen eher als Vorteil denn als Nachteil anzusehen: Liegt darin nicht gerade die erstaunliche Flexibilität und Entwicklungsmöglichkeit zunächst des Freudschen, dann des psychoanalytischen Denkens überhaupt, welches sich seit ei106

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

Was jedoch als zentrales Motiv der Konstitution des psychoanalytischen Diskurses angesehen werden kann, ist ihre strukturwissenschaftliche Wende. Hierunter ist der beharrliche Versuch zu verstehen, den unverständlichen und/oder zu Psychopathologien kategorisierten Phänomenen, mit denen die klinische Erfahrung sich seinerzeit konfrontiert sah (ohne mit diesen fertig zu werden wie im Falle der Hysterie), mit einer These der theoretischen Nachvollziehbarkeit und praktisch-therapeutischen Behandelbarkeit zu begegnen. Dieser Versuch konvergiert darin, daß alles psychische Geschehen sich – orientiert am Modell der Sprache als dem hervorragendsten Zeichen- oder Symbolprozeß der menschlichen Existenz – sowohl der Theoretisierbarkeit wie der Therapierbarkeit zuführen lasse. Insofern fühlt sich Freud genötigt, seiner These von der psychischen ›Zweisprachlichkeit‹ des Traumgeschehens und des sich im Dazwischen vollziehenden Übersetzungsprozesses folgend, seine Theorie auf die Ausformulierung bestimmter Strukturannahmen und -prinzipien hinzuführen. Nicht die Entdeckung des Unbewußten, die schon lange vor Freud stattgefunden hatte135, sondern seine besondere Thematisierungsweise kennzeichnet das Verdienst der Psychoanalyse. Freud macht mit der Konzeption ernst, daß es Psychisches außerhalb des Bewußtseins gebe, das selbst wiederum von einer spezifischen, durchaus andersartigen Rationalität beherrscht sei, die dem Bewußtsein fremd erscheine und doch mittels geeigneter Methoden wenigstens indirekt zugänglich gemacht werden könne. Deshalb muß Freud ein selbst rationales Modell der Wahrnehmung und Konzeptualisierung der vom Unbewußten ausgehenden psychischen Erscheinungen sowie des praktischen Umgangs mit diesen Phänomenen entwickeln, um ein von der bewußt-reflektierten Rationalität unterschiedenes psychisches Geschehen in seiner Eigendynamik und Eigenlogik zu begreifen. Ein weites Verständnis von Rationalität läßt sich am ehesten strukturbzw. funktionswissenschaftlich entfalten und koinzidiert mit Bestrebungen von Wissenschaften und Philosophie um 1900.136 In diesem Sinne wäre eine archäologische Analyse der Diskursformation quer durch alle Disziplinen denkbar, um nach jenen gemeinsam geteilten, jedoch im zeitgenössischen Denken nicht explizit thematisierten fundamentalen Strukturen137 zu forschen, die allen positiven

nem Jahrhundert nicht in einer wirklichen Dogmatik zu beruhigen vermochte, sondern nicht aufgehört hat, ein lebhafter Diskurs zu sein? Man mag sich auch an Ricœurs Doppelbestimmung erinnern, Psychoanalyse sei ein gemischter Diskurs, der einerseits nach dem energetischen Fundament in Gestalt der Triebe forsche, andererseits die Orientierung an der Sinnhaftigkeit des unbewußten Geschehens niemals aus den Augen verliere. Energetik und Hermeneutik sind irreduzible Momente innerhalb der Psychoanalyse, die jedoch erst in ihrem Bezug zueinander überhaupt das Feld konstituieren, auf welchem das psychoanalytische Vorgehen möglich und sinnvoll wird (Ricœur 1965). 135. Lütkehaus 1989; Ellenberger 1985. 136. Man denke an die berühmte Umstellung von Substanzbegriffen auf Funktionsbegriffe, wie sie Ernst Cassirer propagiert. 137. Soweit das Programm einer ›Archäologie‹ bei Foucault 1966; ähnlich der Be107

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Ausgestaltungen der Wissenschaft, ja, sogar der sonstigen Kulturproduktionen zu gegebenen Zeitpunkten zugrundeliegen. Erst mit dieser Annahme eines internen Zusammenhangs des Wissens über Disziplingrenzen hinweg kann die Psychoanalyse in ihrer eigentümlichen Verknüpfung von klinisch-therapeutischer Praxis und Theoretisierung begriffen werden, deren beide Pole in wechselseitigem An- und Abstoßen das Feld der psychoanalytischen Erfahrung konstituieren, ohne auf eines dieser Momente reduzierbar zu sein.138 Der Praxisbegriff der Psychoanalyse kann deshalb prinzipiell nicht auf die Klinik bzw. die Erfahrung des settings beschränkt werden – wie umgekehrt das reine Theoretisieren ohne Bezugnahme auf die nicht nur klinische, sondern überhaupt psychoanalytische Erfahrung (z. B. der Textlektüre) die Psychoanalyse zu einer Psychologie unter anderen verkürzt, in der das Subjekt der Forschung nicht selbst thematisch wird, sondern immer nur Gegenstände von Verfahren als Objekte der Methode in Erscheinung treten. Denn das Funktionieren des settings setzt nicht nur die Möglichkeit des nicht-therapeutischen, lebensweltlichen Verstehens und Intervenierens voraus, sondern es bedarf des involvierten Subjekts, das den Wirkungen der Übertragung ausgesetzt ist. Die »Handhabung der Übertragung« (Freud) läßt sich nicht auf einen Standard des Umgangs und ein definitives Set von Regeln (Kodex des Verhaltens, Manual der Deutung etc.) reduzieren, was in der Folge immer wieder Anlaß zu historischen Revisionen der Psychoanalyse gegeben hat: So wie sich der geschichtlich-gesellschaftliche Rahmen der Psychoanalyse verändert – auch durch sie selbst! –, so muß sich das Selbstverständnis psychoanalytischer Arbeit ändern, wohlgemerkt: nicht unbedingt anpassen. Je grundsätzlicher und abstrakter, d. h. in diesem Falle: philosophischer angesetzt wird, um zu verstehen, wie Psychoanalyse in bestimmten Konstellationen funktioniert, desto eher kommt man zu einer weitgreifenden, gleichwohl tragfähigen Kennzeichnung – allerdings um den Preis mangelnder Konkretion. Unter diesem Vorbehalt mag eine typologische Beschreibung der Situation gerechtfertigt sein, in der sich die Psychoanalyse im Feld des Wissens befindet. Michel Foucault räumt der Psychoanalyse den Status einer Gegenwissenschaft im Verhältnis zu den Humanwissenschaften ein. Im sogenannten Triëder des Wissens muß man »sich das Gebiet der modernen episteme als einen voluminösen und nach drei Dimensionen geöffneten Raum vorstellen.«139 Die erste Dimension wären mathematische und nicht-mathematische Naturwissenschaften, »für die die Folge stets eine deduktive und lineare Verkettung evidenter oder verifizierter Aussagen ist; es gäbe in einer zweiten Dimension Wissenschaften (wie die der Sprache, des Lebens, der Produktion und Distribution der Reichtümer), die diskontinuierliche, aber analoge Elemente in Beziehung setzen, so daß

griff des ›Paradigmas‹ bei Kuhn 1967 oder die ›Leitdifferenz‹ bei Luhmann 1984. 138. Vgl. das Freudsche »Junktim von Forschen und Heilen« (Freud 1927, 347). 139. Foucault 1966, 416f. 108

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sie untereinander kausale Relationen und Strukturkonstanten errichten können.«140 Als dritte Dimension tritt die philosophische Reflexion141 auf die Bühne. Zwischen diesen Dimensionen ergeben sich gemeinsame Zwischenbereiche wie die der Mathematisierung der empirischen Wissenschaften (1. und 2. Dimension), die der Formalisierung des Denkens (1. und 3. Dimension) und schließlich die der regionalen Ontologien bzw. der Bindestrichphilosophien Lebensphilosophie, Philosophie des durch Arbeit entfremdeten Menschen, Philosophie der symbolischen Formen (2. und 3. Dimension). Die Humanwissenschaften sind nun nicht eindeutig in diesem Schema zu lokalisieren, obwohl sie von den Methoden und Begriffen der aufgeführten Wissensbereiche zehren. Die klassischen Humanwissenschaften entfalten sich wesentlich in Beziehung zu den drei genannten Dimensionen, ohne ihnen selbst anzugehören: die Psychologie von der Biologie (Leben), die Soziologie von der Ökonomie (Arbeit) und die (Wiederkehr der Sprache in der) Literatur von den klassischen Philologien her. Das wichtigste Kennzeichen der Humanwissenschaften besteht darin, daß sie sich im Verhältnis zu den Positivitäten der Naturwissenschaften hinsichtlich des reflexiven Selbstverständnisses desjenigen distanzieren, der sowohl Gegenstand wie Subjekt der wissenschaftlichen Betrachtung ist und unter dem Titel Mensch sein Selbst- und Weltverhältnis zusammenzudenken trachtet.142 Die Humanwissenschaften füllen also unter Bezug auf die Ergebnisse der modernen Wissenschaften jene Lücke aus, die sich aus dem Nebeneinander der vielen Beobachterperspektiven im Verhältnis zum Subjekt der Erkenntnis gebildet hat. Diese Lücke soll überbrückt werden, indem die Beobachterperspektive in die eine kohärente Teilnehmerperspektive hineinge-

140. Ebd. 141. Daß die Reflexion, mit der das Denken der Philosophie hier identifiziert wird, »sich als Denken des Gleichen entwickelt« (ebd.), hängt mit der von Foucault in seiner »Archäologie der Humanwissenschaften« grundsätzlich verfolgten Linie zusammen, eine »Geschichte der Ähnlichkeit« zu schreiben. Damit scheint jedoch die Festschreibung der Eigenart des philosophischen Diskurses auf Reflexion beschlossen zu sein, und zwar einer Reflexion nicht über beliebige Themen oder Gegenstände, sondern allein der dem Subjekt bzw. Bewußtsein gegebenen. Dies läßt wiederum erkennen, daß Foucault hier noch unter dem Eindruck der das Frankreich der Nachkriegszeit beherrschenden Richtungen der Phänomenologie (insbesondere Husserls und Merleau-Pontys) und des Existentialismus (Sartres) steht. 142. Diese Tendenz wird von Foucault mit dem kritischen Terminus der »empirischtranszendentalen Dublette« (Foucault 1966, Kap. 9: »Der Mensch und seine Doppel«, hier insbesondere: »Das Empirische und das Transzendentale«, 384ff.) belegt, welche entweder zu einer prinzipiellen Verwechslung bzw. Identifizierung des Subjekts der Erkenntnis mit dem empirisch vorfindlichen, psychologischen Individuum führt oder zu einer unaufhebbaren Dialektik/Oszillation zwischen Bedingung und Bedingtem bzw. Grund und Begründung der Erkenntnis (vgl. »Das Zurückweichen und die Wiederkehr des Ursprungs«, 396-404). 109

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nommen wird: »Die Humanwissenschaften nehmen also die Entfernung ein, die die Biologie, die Ökonomie und die Philologie [...] von dem trennt, was sie im Sein des Menschen selbst ermöglicht.«143 »Man sieht, daß die Humanwissenschaften nicht die Analyse dessen sind, was der Mensch von Natur aus ist, sondern eher die Analyse dessen sind, was sich zwischen dem, was der Mensch in seiner Positivität ist (lebendiges, arbeitendes, sprechendes Wesen), und dem erstreckt, was demselben Wesen zu wissen (oder zu wissen zu versuchen) gestattet, was das Leben ist, worin das Wesen der Arbeit und ihre Gesetze bestehen und auf welche Weise es sprechen kann. [...] Es wäre also unrichtig, aus den Humanwissenschaften die in die Spezies Mensch, in ihren komplexen Organismus, in ihr Verhalten und ihr Bewußtsein hineingezogene Verlängerung der biologischen Mechanismen zu machen.«144 Foucault bestimmt also das Feld, in dem sich die Humanwissenschaften entfalten, als Zwischenraum, der die Positivitäten (das Gegebene für die wissenschaftlichen Forschungen) in Beziehung zu setzen vermag mit den transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis dieser Positivitäten. Hiermit behauptet Foucault den holistischen Charakter der Humanwissenschaften und unterwirft sie einer fundamentalen Kritik, die in vielen Zügen Argumente wiederholt, die in den Debatten um Historizismus, Psychologismus, Soziologismus gefallen sind. Mit der Psychoanalyse verhält es sich jedoch noch etwas anders. So wie Psychologie eine Humanwissenschaft darstellt, die sich in einer Distanz zur Biologie konstituiert, so nimmt die Psychoanalyse selbst noch einmal eine besondere Stellung zu dem Verhältnis Biologie-Psychologie ein: »Aber diese Beziehung der Psychoanalyse zu dem, was alles Wissen im allgemeinen in den Humanwissenschaften möglich macht, hat noch eine weitere Konsequenz. Sie kann sich nämlich nicht als reine spekulative Erkenntnis oder allgemeine Theorie vom Menschen entfalten. Sie kann nicht das ganze Feld der Repräsentation durchqueren, ihre Grenzen zu umgehen versuchen und auf das Grundlegendere in der Form einer empirischen Wissenschaft hinzielen, die von sorgfältigen Beobachtungen aus errichtet ist. Dieses Eindringen kann nur innerhalb einer Praxis vollzogen werden, in die nicht nur die Kenntnis vom Menschen einbezogen ist, sondern der Mensch selbst, der Mensch mit jenem Tod, der bei seinem Leiden am Werk ist, jener Lust, die ihren Gegenstand verloren hat, und jener Sprache, durch die hindurch und mit Hilfe derer sich schweigend sein Gesetz artikuliert. Alles analytische Wissen ist also unüberwindlich mit einer Anwendung verbunden, mit jenem Abwürgen der Beziehung zwischen zwei Individuen, von denen das eine die Sprache des anderen hört und so sein Verlangen nach dem Objekt, das es verloren hat, freisetzt (indem es es hören läßt, daß es es verloren hat) und es aus der wiederholten Nachbarschaft des Todes befreit (indem es es hören läßt, daß es eines

143. Foucault 1966, 424. 144. Foucault 1966, 423f. 110

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Tages sterben muß). Deshalb ist der Psychoanalyse nichts fremder als etwas wie eine allgemeine Theorie oder eine Anthropologie.«145 Als Gegenwissenschaften werden nun neben der Psychoanalyse auch die Ethnologie und die Linguistik, alle drei im wesentlichen in ihrer strukturalen Gestalt (bei Lacan, Lévi-Strauss, de Saussure), angesetzt. Was die Psychoanalyse in eine kritische, auszehrende Position gegenüber den Humanwissenschaften bringt, ist ihr antianthropologischer Zug, den sie mit der strukturalen Ethnologie und Linguistik teilt.146 Die strukturwissenschaftliche Betrachtung des psychischen Apparats und die der differentiellen Linguistik de Saussures vergleichbare Methode der Traumdeutung sind weder anthropomorph noch anthropozentrisch und dennoch an eine Praxis gebunden, die es mit einem bestimmten Menschen zu tun hat, der in seiner Beziehung zum Anderen begehrt, spricht und von seiner Sterblichkeit erfährt. Deshalb ist es wohl berechtigt, von einem theoretischen Antihumanismus in diesem Zusammenhang zu sprechen, der allerdings durchaus mit dem Eintreten für einen praktischen Humanismus vereinbar ist147 – was jedoch nicht mit Foucaults theoretischer und politisch-praktischer Position zur Deckung kommt. Die Psychoanalyse ist also nicht ausschließlich auf die Konstitution eines allgemeinen Wissens aus, sondern muß sich auf den Einzelfall, auf dieses Phänomen einlassen. Die Engführung der psychoanalytischen Erfahrung bedeutet nicht nur einen unvermeidlichen Bezug zur Aktualität, zur konkreten Situation, zum Anderen, sondern zugleich eine Involvierung des Erfahrenden in konstitutiver Weise für den analytischen Prozeß. Die Kontaktierung zweier individueller Existenzen im Setting vollzieht sich als Übertragung. Alles, was sich in diesem Zusammenhang ereignet, ist weder auf die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt beschränkt, noch kann die Erfahrung der Psychoanalyse auf einen verallgemeinernden theoretischen Rahmen verzichten, um vorangetrieben zu werden. In der diskursanalytischen Perspektive wird allerdings deutlich, daß die Psychoanalyse zum einen weder als Lehre vom ganzen Menschen148 im Sinne einer »umfassenden wissenschaftlichen Anthropologie«149 figurieren kann noch sich als reine Spekulation, d. h. ohne Bezug zu den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften, entfalten kann und daß sie zum anderen ihre geschichtlichen und diskursiven Voraussetzungen hat, die in einer kulturwissenschaftlichen

145. Foucault 1966, 450. 146. Vgl. Foucault 1966, S. 450. Man kann jedoch schon für die Humanwissenschaften Tendenzen feststellen, die deutliche antianthropologische Züge aufweisen: So ist von einer »Psychologie ohne Seele« (Wilhelm Wundt), einer »Soziologie ohne Menschen« (Niklas Luhmann) oder vom »Tod des Autors« (Roland Barthes) in der Literatur die Rede gewesen. 147. Schnädelbach 1989 unterscheidet verschiedene Positionen des Antihumanismus. Vgl. a. Lévinas 1968. 148. Rössner 1986. 149. Weizsäcker 1977, 17. 111

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Perspektive thematisch werden. Kann man einerseits darauf verweisen, daß erst mit der Einführung des Cartesischen Ego cogito die korrelative Denkfigur des Unbewußten der Möglichkeit nach auf den Plan treten konnte (Lacan)150, so kann man in diskursanalytischer Hinsicht das Ungedachte und Den Menschen – als eine epistemische Gestalt – als Zeitgenossen betrachten, die seit dem Geschichtlichwerden der Welt mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Frage nach dem Subjekt umkreisen: »Ist das Unbewußte nicht das, was sich notwendig dem wissenschaftlichen Denken gibt, das der Mensch auf sich selbst anwendet, wenn er aufhört, sich in der Form der Reflexion zu denken?«151 Selbes (»Mensch«) und Anderes (»Unbewußtes«) stellen sich so als konstellativer Effekt einer Diskursformation dar, nicht als schlichte Gegebenheit der Natur oder der Geschichte.152 Damit verschwindet zwar Bewußtsein als Instanz der Reflexion nicht, aber es rückt aus dem Zentrum des Nachdenkens über Subjektivität und entdeckt seine eigene Randständigkeit angesichts seiner Stellung in der Welt (kosmologische Dezentrierung), in der Natur (evolutionistische Dezentrierung) und im Psychischen (psychoanalytische Dezentrierung). Diese Dezentrierungserfahrung ist dem zeitgenössischen Wissen strukturell eingeschrieben. Die Psychoanalyse geht von einer Erfahrung des Nichtwissens aus und versucht, dessen Theorie zu entwickeln. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine bloße Unkenntnis, sondern spezifischer um das Nichtwissen eines Wissens, das als unbewußt gekennzeichnet wird. Der Übergang vom Nichtwissen zum Wissen ist zugleich – chiastisch – einer des Unbewußten ins Bewußtsein: Denn sofern ein zunächst nicht näher gekennzeichnetes Unbewußtes als ein Wissen des Subjekts aufgefaßt wird, das nur aus Sicht des Bewußtseins ein Nichtwissen darstellt, eröffnet sich die Möglichkeit, das Nichtwissen des Bewußtseins durch das Wissen des Unbewußten aufzuheben. Sofern das Unbewußte sich dem oder im Bewußtsein zeigt, ist es ein Wissen, dessen man sich zuvor eben nicht bewußt gewesen ist. Was aber war es dann zuvor? Ist nicht gerade unbewußtes Wissen ein Paradox, eine contradictio in adjecto? Und: Faßt man den Begriff des Unbewußten strikt, dann kann unbewußtes Psychisches nie bewußt werden – außer um den Preis, nicht länger Unbewußtes, sondern Bewußtsein zu sein. Um von solchen Kennzeichnungen im Subjekt-Prädikat- bzw. SubstanzAkzidenz-Schema Abstand zu nehmen, ist es nötig, die Frage anders zu stellen: Wie zeigt sich das Unbewußte, wie wirkt es? Das Unbewußte hat gerade die Eigenschaft, sich auf Umwegen, in Fehlleistungen, körperlichen Symptomen, Träumen und Wahn zu äußern, so daß es sich – als aus diesen beobachtbaren Phänomenen abgeleitetes Postulat eines unbewußten Wunsches bzw. Wissens des Subjekts – als das dem Subjekt Unterstellte auf das Erleben und Handeln auswirken kann. Dabei eröffnet eine folgenreiche Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen, von Substanz- oder Wesensfragen auf Funktionsfragen eine an-

150. Lacan 1964. 151. Foucault 1966, 393. 152. Foucault 1966, 394. 112

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dere Redeweise über das Unbewußte: Es wird zum Grenzbegriff einer systemischen Funktionalität des Psychischen.153

Funktionsbestimmungen des Unbewussten: Sprachlichkeit, Verneinung, Irreduzibilität Das Unbewußte verliert um 1900 seine mystische, dämonische oder romantische Wesensbestimmung dadurch, daß es von Freud in den Status des Wissens versetzt wird: keiner intuitiven, paranormalen Ahnung, sondern eines sprachlich strukturierten Wissens, ›von dem ich nichts weiß‹, also zunächst keine Ahnung habe. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es damit alle Effekte einbüßt, die als unheimliche beeindrucken. Freud spricht von »Traumgedanken«, die der »Traumerzählung« und dem durch sie geschilderten Traumgeschehen, dem Traumvorgang selbst zugrundeliegen. Dieser Traumgedanke kann als propositionaler Gehalt erst eines Erzählers im Wachzustand aufgefaßt werden. Es gibt ihn demnach nur als Rekonstruktion, aus der nachträglichen Perspektive der AnalysantInnen und AnalytikerInnen, und erst die Feststellungen der Sprache geben ihm seine verfügbare Gestalt, die dann der Deutung zugeführt werden kann. Das Traumgeschehen selbst ist nicht anders denn als subjektive Erinnerung gegeben, d. h. – wissenschaftlich streng betrachtet – ein Postulat aus der rekonstruktiven Perspektive, dessen Plausibilität nicht mehr oder weniger Gewicht beanspruchen kann als eine historische Rekonstruktion angesichts einer beliebigen individuellen Erinnerung. Das Traumgeschehen ist jedoch das Wichtigste, worauf es der Psychoanalyse bei der Traumdeutung ankommt: Nicht die Rekonstruktion des latenten Traumgedankens, sondern die Umsetzung des unbewußten Wunsches in einen manifesten Trauminhalt, also die Traumarbeit steht im Mittelpunkt des psychoanalytischen Interesses. In entscheidender Weise wird diese Zäsur zwischen Traum und Deutung von Freud zum Spielraum einer Übersetzung und Übertragung (Freud) bzw. Transposition (Kittler) erklärt und von hier aus die gesamte Theorie der Psychoanalyse entfaltet. Philosophisch relevant sind die Erfahrungen und Ergebnisse des psychoanalytischen Verfahrens, da sich hier einige für die Bestimmung der Vernunft des Subjekts wichtige Einsichten ergeben. Gerade wenn man den Begriff der Vernunft, im Gegensatz zu den technischen Bestimmungen des Verstandes (Begriffe zu haben und urteilen zu können), als die Funktion der Überschreitung154

153. Das bedeutet, nicht danach zu fragen, was das Unbewußte ist: »Unsere Frage muß sich vielmehr darauf richten, wie das Unbewußte von diesen [Theorien] beobachtet wird: Mit welchen Unterscheidungen, mit welchen Motiven, mit welchen Folgen wird hier Unbewußtes gefordert? Welchen theoretischen Aufbau setzt das voraus oder zieht das nach sich?« Es geht um »Beobachtung zweiter Ordnung«, also darum, »theoretische Beobachter [zu] beobachten.« (Khurana 2002, 22) Von hier aus liegt dann eine medientheoretische Reflexion der Theoriebildung nahe, welche die materiellen und technischen Bedingungen der Artikulation der Theorie, also die tatsächlich durchgeführten theoretischen Operationen als Medien des Vollzugs theoretischer Reflexion thematisiert. 113

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ansetzt, die auf Totalität hin zielt und mit jedem Schritt in diese Richtung Unvollständigkeit demonstriert, leuchtet ein, daß die psychoanalytische Vernunft als eine ihrer hervorragenden Repräsentanten angesehen werden kann. Der transgressive Charakter der psychoanalytischen Erfahrung stellt also das Subjekt als ein wesentlich von Unbestimmtheit und Überschreitung gekennzeichnetes dar.155 In diesem Zusammenhang sei an den spezifischen Charakter des Unbewußten erinnert, wie er von der Freudschen Psychoanalyse ins Spiel gebracht worden ist. Zunächst setzt die Freudsche Wende gegen die romantische Vorstellung des Unbewußten als (Schopenhauerscher) blinder Wille oder dunkler Trieb der Natur gerade auf eine theoretische Unanschaulichkeit und Undarstellbarkeit des Unbewußten – trotz der imaginären Dimension des Traums, seiner Sinnlichkeit und insbesondere Bildlichkeit (»Rücksicht auf Darstellbarkeit« wird das Die Traumdeutung nennen). Freuds Wende ist als eine gegen die Reduktion von ›X‹ auf ›Vorstellungen von X‹ und zugleich als Entsubstantialisierung zu verstehen. Das Konzept des Unbewußten ist nicht identisch mit der Vorstellung, die sich das Bewußtsein von ihm macht. Das Unbewußte geht insofern über das Imaginäre hinaus – Freud spricht nicht nur von seinem dynamischen Charakter, sondern von Prozessen der Übersetzung zwischen verschiedenen Zustandsformen des psychischen Geschehens. Das Unbewußte erweist sich als ein sprachliches, insofern es »wie eine Sprache strukturiert« (Lacan) ist.156 Gegenüber einer verabsolu-

154. Dies meint nicht Vernunft als ein metaphysisches Vermögen zur Transzendenz bzw. Vollkommenheit, sondern als eines zur Zusammenhangsbildung bzw. Überbrückung zwischen den unterschiedlichen Diskursen und Disziplinen, ohne daß sich damit die Zwischenräume schließen würden. Vernunft hat somit eine produktive, poietische Dimension. Zurecht kann Kant als Vertreter einer Suche nach dem Dritten Weg jenseits von Empirismus und Rationalismus verstanden werden, denn »weder Erfahrung noch bloße Begriffe allein geben wissenschaftliche Erkenntnis. […] Kant setzt auf nicht-empirische Elemente, sofern sie Voraussetzungen von Erfahrung bilden. Der Status erfahrungsüberschreitender (›transzendenter‹) Bestimmungen wandelt sich zu erfahrungskonstitutiven (›transzendentalen‹) Größen.« (Taureck 1992b, 10) 155. Geht man zunächst von einer Orientierung am Bewußtsein und dessen Sinnverstehen aus, dann zeigt sich sehr schnell, daß das Verständnis empirischer Subjektivität immer begrenzt ist und zugleich mit der Thematisierung seiner Grenzen über das Verstandene strukturell hinausweist. Es ist somit an der Doppelbestimmung des Sinn-Begriffs festzuhalten, »daß Sinn immer in abgrenzbaren Zusammenhängen auftritt und daß er zugleich über den Zusammenhang, dem er angehört, hinausweist: andere Möglichkeiten vorstellbar macht.« (Luhmann 1971a, 30) Der Sinn realisiert sich also als transzendierender Verweisungszusammenhang. 156. In der Regel wird ihre Sprachlichkeit als die kritische Marke betrachtet, an der sich entscheidet, ob die Psychoanalyse Natur- oder Geisteswissenschaft ist. Dagegen sei Norbert Haas‘ Beobachtung angeführt: »Daß Freud von der Behauptung der Möglichkeit einer an den Naturwissenschaften orientierten Darstellung des psychischen Funktionalismus nicht abließ, sie 1938 noch bekräftigen sollte, war von entscheidender Bedeu114

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tierten (romantischen) Irrationalität bzw. reinen Unberechenbarkeit des Unbewußten, die eben nichts anderes zuläßt als das Schweigen der Theorie, setzt Freud eine Konzeption, die eine zunächst einzelfallorientierte Erforschung des Unbewußten ermöglicht.157 Ebenso muß die Triebtheorie Freuds, welche sich auf energetische Modelle beruft, die der Physik des 19. Jahrhunderts entlehnt sind,158 unterschieden werden von seiner Auffassung des unbewußten Psychischen als durch symbolische Intervention allein verständliches und unverständlich bleibendes Wunschgeschehen – um dann in einem zweiten Schritt wieder aufeinander bezogen zu werden. Insofern steht und entsteht das Freudsche Unbewußte an der Zäsur, die zwischen psyche und physis, zwischen Kultur und Natur, zwischen Sinn und Sinnlosem klafft. Da das Unbewußte nicht in den Bereich der Natur fällt, wie er sich für die Naturwissenschaften zeigt, es aber auch nicht im Bereich der Kultur seinen bestimmten Ort finden kann – da es sich gerade nicht als eine der Positivitäten der Sprache, der Tradition, der gesellschaftlichen Institutionen, als unmittelbar sinnvoll erweist und dingfest machen läßt, sondern allenfalls indirekt, an diesen Positivitäten oder mit Bezug zu ihnen aufgezeigt werden kann –, fällt das Unbewußte aus den gängigen Wissensformen heraus. Deshalb läßt sich die Psychoanalyse dem traditionellen Schema der zwei – wenn es denn zwei sind – Wissenskulturen nicht unterordnen, sondern steht zwischen den etablierten Kulturen des Wissens. Insofern das Unbewußte in seinen Bestimmungen, so wie sie sich für ein rational operierendes Bewußtsein ergeben, nicht aufgeht, stellt es eine Form des Entzugs dar. Es ist demnach nicht endgültig zu verorten, weswegen seine biologisch-physiologische Festlegung genau dasjenige verfehlen muß, was nicht in seiner Naturbestimmung aufgeht. Ansonsten wäre man genötigt, den Naturbegriff selber zu transformieren und ihm den antiken Charakter der physis zu neh-

tung dafür, daß etwas in die Beobachtung treten konnte, ohne welches die Psychoanalyse sich nicht herausgebildet hätte: das Feld der Sprache und das Feld des Sprechens. Ich denke sogar, daß der Szientismus Freuds die Bedingung dafür war. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß in der Geschichte der Psychoanalyse die Verkennung der Funktion von Sprache und Sprechen stets von der Nichtbeachtung oder Abwertung des Freudschen Szientismus begleitet ist.« (Haas 1985, 17) 157. Das psychoanalytische Unbewußte ist weder einseitig rationalistisch noch emotivistisch aufzufassen: »Es kann sich dabei jetzt weder um ein Chaos undifferenzierter Triebe und Emotionen handeln, noch um eine rein intelligible Struktur gehen, deren Regelwerk unsere Verlautbarungen steril formalisierte. Unter dem psychoanalytischen Begriff des Unbewußten sind vielmehr differenzierte Diskurse zu sehen, die wegen ihrer Konflikthaftigkeit nicht unabhängig von Emotionen angesetzt werden können. Deshalb vermögen gerade ›Affekte‹, die in ihrem Erscheinungsbild, ihrer ›Maßlosigkeit‹ in einem bewußten Kontext nicht zu rationalisieren sind, auf unbewußte Implikationen aufmerksam zu machen.« (Lang 2000, 118) 158. Elkana 1986. 115

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men, d. h. nicht mehr das zu bezeichnen, was aus sich selbst wächst, sich erhält und vergeht, sondern etwas zu sein, das immer zugleich auch als ein Gesetztes und deshalb Veränderlich-Abhängiges aufgefaßt werden muß. Diese Möglichkeit scheidet hier aus, da am Ende einer solchen Transformation sich nur eine veränderte Positivität, d. h. eine andere Natur ergeben könnte, während das Un-bewußte jedoch wesentlich als Verneinung159 bestimmt bleibt. Das Unbewußte gibt es nicht – diese besonders für Psychoanalytiker provozierende These Jacques Derridas160 weist auf die mißliche theoretische Situation hin, daß dem Unbewußten im Rahmen der alltäglichen oder (traditionellen) wissenschaftlichen und philosophischen Ontologie kein Platz zukommt. Das Unbewußte ist jener paradoxe Zwischenbereich: Weder nur Kultur noch nur Natur, sondern wesentlich keines von beiden zu sein – in der Weise eines ausgefallenen Restes, eines Zwischenraums: Grenze der Hermeneutik des Sinns, sofern mit dem Konzept des Unbewußten gerade Verbindungen, Verknüpfungen, Assoziationen im Psychischen auftauchen, die für das Bewußtsein unverständlich und für das bewußte Verstehen nicht direkt anschlußfähig sind, ja disparat bleiben. Hierin ist der wichtigste Grund zu sehen, warum der Konstruktivismus der Wissenschaften zu keiner Reformulierung des psychoanalytischen Unbewußten kommen kann: Denn das Unbewußte läßt sich nicht vollständig funktionalisieren oder operationalisieren. Wer das behaupten würde, hätte die entscheidende Pointe von Freuds Denken verkannt und stünde nicht auf der Höhe der philosophischen Diskussion um das Unbewußte. Schon Sartre161 hatte gegen ›sein‹ Freud-Verständnis eingewendet, daß es das Unbewußte der Psychoanalyse überhaupt nicht geben könne, da man ja schon in dem Moment, in dem man darüber rede oder es zu Bewußtsein komme, nicht mehr Unbewußtes vorliegen habe. Dieser vermeintliche Einwand gegen Freud hangelt sich jedoch nur an der deskriptiven Problematik des Unbewußten entlang, die auch Freud selbst – erkenntnistheoretisch keineswegs naiv – bedacht hat. Die phänomenologische Kritik vermag jedoch nicht über ihren Schatten, der der des Bewußtseins ist, zu springen: Sie muß alles, was dem Bewußtsein gegeben ist, als Teil des Bewußtseins, als aus subjektiven Leistungen hervorgegangen denken. Begriffliche Hilfskonstruktionen wie das »präreflexive Cogito« können das Problem phänomenologisch nicht lösen: Es entsteht dann das Dilemma, daß dieses Cogito – immerhin ein ›Ich denke‹ – nicht bewußt ist, sofern es der Reflexion vorhergeht, andererseits aber ein Bewußtsein darstellt, welches sich in der Reflexion erst bewußt wird. Die Fundierung in einer (transzendental-phänomenologisch) stiftenden Subjektivität begeht den gleichen Fehler wie derjenige, welcher meint, er könne aus der subjektiven Verfaßtheit aller möglichen Phänomene die ausschließlich subjektive Verfassung aller Phänomene schlußfolgern. Aus den genannten Gründen bildet die Psychoanalyse keine vollkommen

159. Freud 1925a. 160. Derrida 1966. 161. Sartre 1947. 116

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autochthone, sondern eine ›jeweils dritte Kultur‹ neben anderen, denn weder hat sie ihren Gegenstand in der Weise wie andere Wissenschaften genau umreißen können, noch ist es ihr gelungen, sich theoretisch vollkommen auf eigene Füße zu stellen, d. h. nicht von den anderen wissenschaftlichen Disziplinen und außerwissenschaftlichen Wissensfeldern zu zehren.162 Trotzdem, ja, vielleicht gerade deshalb bewahrt sie ihren radikalen Eigensinn, zeichnet es doch die psychoanalytische Perspektive aus, sich auf das je andere Wissen in spezifischer Weise zu beziehen. Freud wählt wissenschaftstheoretisch einen »Dritten Weg« jenseits von empiristischem und transnaturalistischem Dogmatismus, der den Traum »als bloße Restaktivität des Gehirns« oder aber als »›Pforte zur Welt der Mystik‹« begreift.163 Weil Freud nicht reduktionistisch argumentieren will, kann man seine Strategie als eine des Sowohl-als-auch verstehen: Seine Theoriebildung will weder auf eine empirische Bestätigung noch auf die Konstitutionsfragen nach der Voraussetzungshaftigkeit der Erfahrung verzichten. Dabei ist seine letztliche Positionsbestimmung weniger durch bloße positive Setzungen von Gewußtem als vielmehr durch Figuren der Verneinung gekennzeichnet – nämlich durch solche »Mahnung zur Einkehr« wie die bezüglich des Ich, »daß es nicht einmal Herr im eigenen Hause« sei.164 Und erst in Bezug auf diese Einschränkungen der Souveränität des Ichs, gar seiner Omnipotenzphantasien, werden die empirischen Belege ins Feld geführt: »es scheint uns [Psychoanalytikern] beschieden, sie am eindringlichsten zu vertreten und durch Erfahrungsmaterial, das jedem einzelnen nahegeht, zu erhärten.«165 Freud kommt es also nicht vorrangig auf eine empirische Absicherung an noch darauf, allgemeingültige Belege im Sinne eines wissenschaftstheoretischen Ideals von zeit- und ortsunabhängiger Geltung von Behauptungen zu präsentieren. Wenn vom »Erfahrungsmaterial, das jedem einzelnen nahegeht«, die Rede ist, so geht es Freud methodologisch weniger darum, alle (d. h. ein prinzipiell anonymes, abstraktes Subjekt der Wissenschaft bzw. die große Masse)166 von der Existenz des Unbewußten zu überzeugen, sondern den einzelnen mit den angeführten Erfahrungen zu erreichen.

162. Man kann durchaus bezweifeln, ob es überhaupt eine Disziplin geben kann, die nicht schon unter der Voraussetzung irgendeiner anderen Disziplin bzw. eines anderen Wissens sich auch nur hätte konstituieren können. 163. Taureck 1992b, 11; vgl. Freud 1916-17; mit der letztgenannten Position ist auch die analytische Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs gemeint, von der sich Freud nach anfänglicher Nähe seines Schülers und vorgesehenen Thronfolgers in aller Deutlichkeit distanziert hat. 164. Freud 1916-17, 284 (Hvh. E.P.). 165. Ebd. 166. Auch wenn diese Adressaten immer Ziele des Freudschen Ehrgeizes gewesen sind. 117

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

2.3 Der psychoanalytische Prozeß als Medium des Psychischen Erfahrung und Darstellung des analytischen Prozesses Wie soll über das, was der Psychoanalytiker ›tut‹, was die Psychoanalyse ›bewirkt‹, berichtet und Rechenschaft gegeben werden? Was kann vom psychoanalytischen Geschehen demjenigen vermittelt werden, der nicht unmittelbar an ihm teilhat? Läßt sich die psychoanalytische Praxis überhaupt rechtfertigen? Diese Schwierigkeiten lassen jede Darstellung der Psychoanalyse ihre Grenze darin finden, daß sie nicht mit dem zur Deckung kommt, worauf sie sich bezieht. Schnell, vielleicht allzu schnell ist man versucht, von einer Undarstellbarkeit dessen zu sprechen, was das ›eigentliche‹ Herzstück psychoanalytischer Arbeit ausmacht. Für einen Unbeteiligten scheint jedenfalls das psychoanalytische setting unerreichbar zu sein. Ein Unbehagen begleitet also jegliche darstellende Bemühung um die Psychoanalyse: daß die Effekte der psychoanalytischen Arbeit – wie strenggenommen jeder Psychotherapie167 – auf dem Wege des Berichts, er mag detailliert, distanziert oder engagiert sein, und auf der Ebene der Theorie, mag sie auch noch so komplex argumentieren, nicht einzuholen seien. Dabei zeigt sich ein Dilemma: Ohne theoretische Begründung und Verallgemeinerung kann der Praktiker nie mehr Orientierung erreichen als die Hoffnung, daß helfe, was er versucht. Um jedoch ein mehr als fallweises Wissen über die kalkulierbare Wirksamkeit seines Tuns zu erlangen, ja, um diese überhaupt abschätzen zu können, bedarf es der Verallgemeinerung, auch wenn sie immer in der Gefahr steht, das Spezifische des konkreten Falls zu vernachlässigen, gar zu verfehlen. Und für den Außenstehenden bleibt das Berufen auf die Erfahrung (des Analytikers wie des Analysanten) und das besondere Beispiel (eines bestimmten Falls) so glaubwürdig oder zweifelhaft wie jedes individuelle Zeugnis. Wie könnte also überhaupt eine Überzeugung für den Gehalt des Dargestellten, hier für die psychoanalytische Erfahrung vom Unbewußten, die nicht bloß Wirksamkeit, sondern ebenso Bedeutsamkeit (Signifikanz) ist, bei einem Laien oder skeptischen Experten erreicht werden? Auf welche Plausibilitäten kann sich der Apologet psychoanalytischer Erfahrung berufen? Damit stellt sich – hier am Beispiel der Psychoanalyse – die Frage der

167. Dies gilt trotz anderweitiger Behauptungen, ja trotz der Versuche, psychotherapeutische Gespräche, psychiatrische Behandlungen etc. mit technischen Medien wie Tonband oder Video aufzuzeichnen. Berühmtestes Beispiel für die Wirkung solcher medialen Möglichkeiten ist das Gespräch zwischen einem Insassen der Psychiatrie und seinem zuständigen Arzt, das von Jean-Paul Sartre veröffentlicht wurde: Die Situation verkehrt sich vollständig, als der Patient ein Tonbandgerät mitbringt, um die Rede des Psychiaters zu dokumentieren. Schon das moralisch neutrale Tonband eröffnet den Weg zum Dritten und ist deshalb eben nicht belanglos für die Situation, in der es mitläuft (vgl. Sartre 1969). 118

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Konstitution und Übermittlung von Wissen. Im Zusammenhang mit Fragen nach den psychischen Prozessen (z. B. des Träumens, vgl. Kap. 3.3) und dem Funktionieren des psychischen Apparats (vgl. Kap. 4) werden Probleme der Übertragung (nicht nur als terminus technicus der Psychoanalyse, vgl. Kap. 4.2) und Übersetzung/Transposition (vgl. Kap. 3.3) noch ausführlich zu erörtern sein, ohne dabei im speziellen auf den Unterschied zu Begriffen der Vermittlung (Lehre)168 und der Überlieferung (Tradition)169 sowie deren Zusammenhang einzugehen. Deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß psychoanalytische Lehre sich weder auf bloße Wissensvermittlung und Kenntnis der Theorie beschränken noch eine wirkliche Erfahrung des (klinischen oder sonstwie praktischen) psychoanalytischen Prozesses ›vermitteln‹ kann, ohne daß das wißbegierige Subjekt tatsächlich selbst eine Erfahrung in den jeweiligen Bereichen der Praxis macht.170 Insofern spielt die Übertragung nach psychoanalytischer Auffassung immer in die Vermittlung hinein. Es gibt in diesem Sinne keine neutrale Lehre – schon gar nicht, wenn es um Belange des ›Erlernens‹ der Psychoanalyse geht, also um die Bildung des Analytikers. Erst wo es auf diese ›Wirkung‹ in der Erfahrung des Subjekts ankommt, also die Souveränität des Subjekts in Frage steht und es (mit sich, mit dem anderen, im Prozeß) seine Erfahrung machen kann, die immer wieder anders verläuft als erwartet, besteht die Chance, sich auf die eigenartige Bewegung einzulassen, von der Freud Zeugnis gegeben hat. Freud selbst ist sich der Übermittlungs- als Darstellungsproblematik stets bewußt. Psychoanalyse weiterzugeben, gar zu lehren, unterscheidet sich von der Vermittlung anderer Wissensbestände und Fähigkeiten schon dadurch, daß ihr ›Gegenstand‹ sich nur in einer Erfahrung entfaltet, welche exemplarisch an die analytische Situation gebunden ist – aber sich ebenso in allen weiteren Anwendungen171 der Psychoanalyse aufzeigen läßt. Ebenso weiß Freud, daß die Befähi-

168. Vgl. Pazzini 2000. 169. Vgl. hierzu ausführlich Tholen/Schmitz/Riepe 2001. 170. Es ist wichtig zu betonen, daß psychoanalytische Erfahrung eben nicht auf die Klinik, die »Kur«, wie Freud sagt, allein beschränkt werden kann, wenn auch deren besonderer Stellenwert nicht unterschätzt werden soll. Vieles, was sich exemplarisch in der Redekur zeigt, kann in anderen Erfahrungsbereichen aufgezeigt werden. Den besonderen Stellenwert hat die Kur nicht nur, weil sie therapeutische Effekte zu erzielen vermag, sondern weil sie für PsychoanalytikerInnen eine besondere Erfahrungsform bildet, in der sie sich und ihren psychischen Apparat wie ein Instrument einsetzen und in der »Heilen und Forschen« miteinander verbunden sind. 171. Anwendung meint hier nicht die bloße Applizierung eines kanonischen Wissens oder die strikte Befolgung eines vorformulierten Regelwerks, sondern zielt darauf, daß Psychoanalyse nur als angewandte jene lebendige, unvorhersehbare Erfahrung darstellt, welche in den Lehrbüchern nicht enthalten sein kann. Gleichwohl sind Lehrbücher notwendig sowie universitäres Studium und akademische (Aus-)Bildung eine wichtige Voraussetzung für die Bildung des Analytikers. Aber das Spezifische des psychoanalytischen Wissens liegt darin, daß die theoretischen Elemente sich von der Ebene ihres 119

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gung zur Psychoanalyse sich in ihrer Erprobung zeigt, also letztlich allein in der und durch die Praxis entschieden wird. Für die »analytische Kur« (so Freuds Wendung), die ein wesentliches, unverzichtbares Modell dieser Erfahrung abgibt, sind die Grundregeln konstitutiv, wie Freud sie in Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung172 formuliert hat. Dabei ist die vereinbarte Intimität des settings konstitutive Voraussetzung des analytischen Prozesses: Die Verschwiegenheit des Psychoanalytikers gegenüber Dritten ermöglicht Äußerungen seitens des Patienten, die sonst nicht gemacht worden wären. Aber diese Verschwiegenheitsverpflichtung läuft der Rechenschaftsforderung gegenüber Dritten zuwider (zumindest schränkt sie sie stark ein), an die das Ethos der Wissenschaftlichkeit appelliert. Schon hierin zeigt sich, daß die in diesem Rahmen möglichen und tatsächlich gemachten Erfahrungen nur bedingt losgelöst von dieser Situation betrachtet und verstanden bzw. zu einem beliebig verfügbaren Wissen transformiert werden können.173 Jede Anwendung der Psychoanalyse bedeutet ihre Modifikation – nicht nur jeder einzelne psychoanalytische Prozeß kann seine eigene, spezielle Handhabung und Theoretisierung erfordern, sondern jede theoretische Ausarbeitung transformiert das Wissen der Psychoanalyse.

Im Medium der Sprache An dem für Freud nicht beliebigen Beispiel der Konkurrenzdisziplin Medizin, der er selbst entstammt, erläutert er den Unterschied zur Psychoanalyse: »Sie sind im medizinischen Unterricht daran gewöhnt worden zu sehen.[174] Sie sehen das anatomische Präparat, den Niederschlag bei der chemischen Reaktion, die Verkürzung des Muskels als Erfolg der Reizung seiner Nerven. Später zeigt man Ihren Sinnen den Kranken, die Symptome seines Leidens, die Produkte des krankhaften Prozesses, ja

praktischen Bezugs her oft überhaupt erst einführen, verständlich machen und rechtfertigen lassen (vgl. hierzu Freuds Überlegungen im Zusammenhang mit der Frage der Laienanalyse [1926a]). 172. Freud 1912a. 173. Aber ebenso könnte aus dieser psychoanalytischen Notwendigkeit der Grundsatz für eine allgemeine Konzeption des Verstehens gewonnen werden, daß die Situativität des Verstehens auf alle Fälle berücksichtigt zu werden verdient. 174. Eine bemerkenswerte Feststellung, die Freud zur Charakterisierung der Medizin gibt, denn würde man nicht zunächst an das Hantieren mit medizinischen Geräten, das Verabreichen chemischer Wirkstoffe oder die Beherrschung operativer Methoden selbst für das wesentliche dessen halten, was einen Mediziner auszeichnet, nicht jedoch das visuelle Erkennen von Präparaten, von Niederschlägen chemischer Reaktionen etc.? Wer würde schon die unscheinbare Fähigkeit des Sehens als Voraussetzung überhaupt bedenkenswert finden? Daß es sich hierbei um eine bestimmte, ausgebildete Fähigkeit zu sehen handelt, den sog. ärztlichen Blick, der das Erkennen (Anamnese, Diagnose, Klassifikation, Prognose etc.) als Vorbedingung für die Behandlung wesentlich ermöglicht, darauf hat insbesondere Michel Foucault hingewiesen (vgl. Foucault 1963). 120

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in zahlreichen Fällen die Erreger der Krankheit in isoliertem Zustande. In den chirurgischen Fächern werden Sie Zeugen der Eingriffe, durch welche man dem Kranken Hilfe leistet, und dürfen die Ausführung derselben selbst versuchen.«175 Was also diese am Paradigma der Naturwissenschaft orientierte Medizin – wohlgemerkt nicht die gesamte Medizin – auszeichnet, ist, daß Laien, die qua Ausbildung zu medizinischen Experten werden, »eine unmittelbare Beziehung zu den Objekten gewinnen und sich durch eigene Wahrnehmung von der Existenz der neuen Tatsachen überzeugt zu haben glauben«, da der medizinische Lehrer in der »Rolle eines Führers und Erklärers, der Sie durch ein Museum begleitet«, verfahren kann.176 In genau diesem Sinne fehlt der Psychoanalyse das Anschauliche. Eine Vorführung im eigentlichen Sinne kann es nicht geben, die Vermittlung psychoanalytischer Erfahrung muß andere Wege beschreiten, als sie der direkte Augenschein gewährt. Eher tritt man in Kontakt zur Psychoanalyse durch die Verführung zum Denken per Ohrenzeugenschaft. Denken aber weiß sich von vornherein auf die Sprache verwiesen, denn nur im Medium der Sprache kann es sich artikulieren.177 Deshalb wird es hier im weiteren auch weniger darum gehen, die Probleme der Lehre als vielmehr das Eigentümliche der psychoanalytischen Denkungsart zu beleuchten, und das heißt: ihre Bewegung im Medium der Sprache. Nur über diesen Weg des Denkens in Sprache bzw. als sprachliche Artikulation kann etwas von der Erfahrung der Psychoanalyse weitergegeben werden, da schon der psychoanalytische Prozeß selbst sich im Medium des Sprechens vollzieht. Es ist zu vermuten, daß Freud an die Objektivierbarkeit medizinischer Tatsachen erinnert, um den Kontrast zum Verfahren der Psychoanalyse hervorzukehren. Dabei spielt er mit dem Stichwort Museum auf eine Institution an, die im wesentlichen gehortete Bestände, tote Materialien, konservierte Exponate präsentiert und sich in einem beständigen Kampf um deren Erhaltung befindet: Die immanente Dynamik der Objekte, ihr natürlicher Zerfallsprozeß, muß stillgestellt oder verlangsamt werden, so daß die angesammelten Werte sich nicht verflüchtigen. Der künstliche Raum des Museums zeigt seine Exponate losgelöst von ihrer natürlichen, angestammten Umgebung bzw. ihrem historischen Zusammenhang, während konventionelle didaktische Aufbereitung zur Kompensation dieses Defizits z. B. den Weg beschreitet, diesen Kontext selbst noch mit den Mitteln des Arrangements oder der Ausstellungsarchitektur zu simulieren. All dies ist im Bereich der Medizin ebenso fragwürdig wie im Bereich der Kultur, aber gleichwohl notwendig, will man nicht gänzlich auf die Anstrengung der Vermittlung verzich-

175. Freud 1916-17, 42. 176. Ebd. 177. Sprache wird hier stellvertretend für die symbolischen (bzw. semiotischen) Artikulationsmedien genommen und soll keinen absoluten Vorrang des (gesprochenen) Wortes z.B. gegenüber der Schrift oder der Geste implizieren. In philosophischer Hinsicht sei hier auf die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts verwiesen, in der Sprache als Organon des Gedankens gefaßt wird (Humboldt 1827-29, 146). 121

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ten. Die Isolation der Gegenstände (bzw. Tatsachen) von ihrem Zusammenhang, in welchem sie entstanden sind und ihren Sinn haben, ist und bleibt problematisch, da die Dinge am Zusammenhang (und dieser an ihnen) in einer Weise teilhaben, die konstitutiv und wesentlich ist – auch wenn dies nicht im ersten Moment erkennbar sein mag. Die Erfahrung, die, wie vermittelt auch immer, gleichwohl an den ausgestellten Objekten gewonnen werden kann, ist in jedem Falle eine andere als die des ursprünglichen Kontextes. Anders ausgedrückt: Die Isolierung von Einzelstücken, von Tat-sachen wie z. B. Präparaten, ist irreführend, sofern man diese mit der Existenzform verwechselt, welche sie in der Ausgangslage bzw. den ›natürlichen‹ Verhältnissen hatten. Der Effekt der Objektivierung widerstreitet dem lebendigen Austausch, den die Dinge untereinander haben, ebenso wie die Abtrennung und Vereinzelung von Phänomenen dem Zusammenhang, in dem sie existierten. Deshalb enthält jede Präsentation schon einen epistemologischen Einschnitt, eine Entscheidung für einen bestimmten Abschnitt und eine Interpretation, warum etwas in dieser Weise vorgestellt werden soll. Dies bezeichnet die untilgbare Differenz von Ausgangspunkt und Ergebnis der Darstellung, handele es sich nun um wissenschaftliche Forschung, um Arbeit im Museum oder um Psychoanalyse. Eine solche eher skeptische Haltung erinnert in psychoanalytischen Kontexten daran, daß jede Einsicht, sei sie auch noch so plausibel theoretisch begründet oder für den ›Einzelfall‹ zutreffend, bei nächster Gelegenheit wiederum modifiziert werden muß, um dem Material und der besonderen Konstellation gerecht zu werden. Auch wenn dies für jede differenzierte, gewissenhafte Forschung gilt, so ist doch die psychoanalytische Herangehensweise von der objektivierenden Wissenschaft durch die Rolle, die der Subjektivität zukommt, zu unterscheiden. Und diese kommt auf grundlegend andere Weise ins Spiel (der Psychoanalyse), insofern sich nicht der ganze Ehrgeiz darauf richtet, mit methodischer Absicherung alles Subjektive als Störfaktor möglichst herauszuhalten.178 Die Forschungsmethode der Psychoanalyse kennt keine Neutralität in dem Sinne, daß sich der Psychoanalytiker aus allem heraushalten könnte, was während der Analyse passiert: Er ist nicht der blanke, homogene Spiegel des Begehrens des Analysanten, wie zuweilen behauptet. Umgekehrt bilden gerade die Effekte der Übertragung die wichtigste Dimension, in der die Psychoanalyse ihre Wirksamkeit entfalten kann – und dies hat noch Auswirkungen auf deren Theoretisierung. Freud spricht deswegen von einem »Junktim zwischen Heilen und Forschen«.179 Der Analytiker ist unausweichlich ins Geschehen einbezogen, ohne sich in plumper Weise einzumischen, z. B. dem Analysanten das ›Richtige‹ zu empfehlen, ohne darauf zu setzen, daß dieser es in gewisser Weise selbst schon wüßte; dessen ›Krankheit‹ heilen zu wollen, ohne daß der Leidende selbst den Weg zu beschreiten wünschte; oder dessen Leben einen Sinn anzubieten, den dieser nicht selbst wählen würde. Die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« ermahnt den Analytiker nur dazu, seine eigenen

178. Vgl. Devereux 1967. 179. Freud 1927, 347. 122

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Idiosynkrasien nicht einfach auszuagieren, sondern sie wahrzunehmen, um an und mit ihnen zu arbeiten. Die aufkommenden Gefühle und Erinnerungen sind keine Nebeneffekte, deren Störung es zu vermeiden oder zu übergehen und übersehen gilt. Sie sind – im Medium der Sprache artikuliert – der Gegenstand, um nicht zu sagen: der Widerstand des psychoanalytischen Prozesses. Deshalb kann der Analytiker keine ideale Distanz wahren, sondern wird gleichsam selbst zum Instrument der Forschung. Dieses »Instrument«180 ist allerdings ein besonderes, denn es ist keine zu vergegenständlichende Maschine, kein Gerät, das unabhängig davon arbeitet, ob jemand dabei ist oder nicht, sondern ein »Instrument«, das unmittelbar die Subjektivität der AnalytikerInnen impliziert (wie auf der anderen Seite desselben Prozesses die Subjektivität der AnalysantInnen). Freud bezeichnet das Unbewußte als dieses Instrument, das, wie noch zu zeigen sein wird, in ein Ensemble gehört, genannt der psychische Apparat, in dem es eine besondere Funktion für den analytischen Prozeß erfüllen kann, wenn das Bewußtsein der AnalytikerInnen seinerseits entsprechend in der Lage ist, auch auf die unerwarteten Impulse und Zeichen zu reagieren. PsychoanalytikerInnen spielen auf zwei Registern, der Beobachter- wie der Teilnehmerperspektive: Setzt die Beobachtung einerseits einseitig auf Distanz (um gleichzeitig ihre Relation zum Gegenstand zu verkennen, die alles andere als ausschließlich distanziert ist), so mangelt es der Teilnahme andererseits gerade an ihr (so daß der engagierte Teilnehmer nicht in der Lage ist, genügend zwischen sich und dem anderen, seinem eigenen und dem Beitrag des anderen zu unterscheiden). Zwischen diesen beiden Extremen gibt es keinen idealen Ausgleich, keine generelle Haltung, die immer angemessen wäre, egal, was gerade passiert und welche Konstellation vorliegt. Zunächst bleibt also festzuhalten, daß Freud einen gravierenden Unterschied darin sieht, daß das Sehen in der Psychoanalyse nicht vollständig die Rolle der Orientierung übernehmen kann, wie es für die Alltagswelt fälschlicherweise in der Regel vermutet wird.181 Desweiteren wird jede isolierende Betrachtungsweise vereinzelter Phänomene als ungenügend angesehen.182 Obendrein können Ana-

180. Siehe zur Problematik von Instrument, Maschine, Apparat, System weiter unten im Abschnitt über den psychischen Apparat; vgl. auch Mai 1981, 39ff. 181. Das klassische setting verzichtet schließlich auf den Augenkontakt zwischen Analytiker und Analysant. 182. In Die endliche und die unendliche Analyse spricht Freud von der homogenisierenden Tendenz des ichgeleiteten Denkens und seiner Theoriebildung, das auf Kosten der widerspenstigen Details lieber ein geordnetes und überschaubares, d.h. verständliches Ganzes präsentiert: »Wir wissen, es ist der erste Schritt zur intellektuellen Bewältigung der Umwelt, in der wir leben, daß wir Allgemeinheiten, Regeln, Gesetze herausfinden, die Ordnung in das Chaos bringen. Durch diese Arbeit vereinfachen wir die Welt der Phänomene, können aber nicht umhin, sie auch zu verfälschen, besonders wenn es sich um Vorgänge von Entwicklung und Umwandlung handelt. Es kommt uns darauf an, eine qualitative Änderung zu erfassen, und wir vernachlässigen dabei in der Regel, wenig123

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lytikerInnen sich nicht auf die reine Beobachtungsposition zurückziehen und die ideale Distanz einnehmen, um sich herauszuhalten. Vielmehr geht es um ein kalkuliertes Spiel von Distanz und Nähe, mit der Betrachtung von Einzelnem und Zusammenhang sowie der Zurückhaltung und dem unvermeidlichen Eingreifen in die Situation. Ob allerdings der Graben zu den Naturwissenschaften183 damit schon so breit aufklafft, daß gesagt werden kann: »Das ist leider alles anders in

stens zunächst, einen quantitativen Faktor. In der Realität sind die Übergänge und Zwischenstufen weit häufiger als die scharf gesonderten, gegensätzlichen Zustände. Bei Entwicklung und Verwandlung richtet sich unsere Aufmerksamkeit allein auf das Resultat; wir übersehen gern, daß sich solche Vorgänge gewöhnlich mehr oder weniger unvollständig vollziehen, also eigentlich im Grunde nur partielle Veränderungen sind.« Es gibt also in der Regel weder eine vollständige Beobachtung, wir halten das beobachtete Geschehen nur für vollständig, noch entgehen wir mit unserer nötigen Reduktion von Komplexität der Verfälschung. Freud beschließt diese Passage mit einem Zitat J. Nestroys: »›Ein jeder Fortschritt ist nur immer halb so groß, als wie er zuerst ausschaut.‹ Man wäre versucht, dem boshaften Satz eine recht allgemeine Geltung zuzusprechen. Es gibt fast immer Resterscheinungen, ein partielles Zurückbleiben.« (Freud 1937a, 368f.) Freud hält beharrlich an seiner Skepsis fest, ohne sich seine Anstrengung im Ringen um Erkenntnis billig abkaufen zu lassen. 183. An die erkenntnistheoretischen Reflexionen, welche durch die Quantenphysik in den Naturwissenschaften ausgelöst wurden, soll hier nur kurz mit dem Grundsatz erinnert werden: keine Beobachtung ohne Beeinflussung des Beobachteten. Stattdessen kann es immer nur ein bestimmtes Arrangement der Beobachtung geben, welches entsprechende Effekte zu registrieren gestattet, die nur aufgrund dieser Beobachtungsanordnung für einen Beobachter gegeben sind. Was für bestimmte Bereiche der Naturwissenschaft gilt, kann, ohne in einen beobachtungstheoretischen Relativismus zu verfallen, erst recht für die Geistes- oder Kulturwissenschaft in Anspruch genommen werden. Eine angemessene Berücksichtigung der Relationalität des Beobachtens kann hingegen einen Skeptizismus verhindern. Im Rahmen dieser Relationalität könnte von einer genaueren Bestimmung der Beziehung zwischen Erkennendem und Erkanntem eine Einschätzung der hiermit zusammenhängenden Wirkung des Beobachtens gewonnen werden. Lévi-Strauss hat in diesem Zusammenhang folgenden Vergleich gewählt: So wie in den Naturwissenschaften die Beeinflussung des Erkenntnisgegenstands durch den Experimentator dann zu gering und also vernachlässigbar ist, wenn die Wirkung des Beobachtens um mehrere Größenordnungen kleiner ist als die zu messenden Beträge, so ist es in den Sozialwissenschaften vertretbar, das Verhalten des Individuums gegenüber den Verhältnissen einer Gesellschaft als ganzer zu vernachlässigen (es mag Ausnahmen geben). Solange der Gegenstand der Erkenntnis sich in einer anderen Größenordnung befindet (z.B. in der Astronomie), ist nicht damit zu rechnen, daß die Beobachtung (der Blick des Astronomen) das Beobachtete (den Gang der Sterne) beeinflußt. Die Schwierigkeiten steigen, wenn sich Beobachter und Beobachtetes – und dies ist in der Psychologie die Regel – auf einer Ebene befinden und einander prinzipiell in gleicher Weise beeinflussen können. 124

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der Psychoanalyse«184, wurde hier schon mit der Positionsbestimmung der Psychoanalyse jenseits von Natur- und Geisteswissenschaften angedeutet (vgl. Kap. 2.2). Freud gibt sich bescheiden, aber seiner Sache sicher: »In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt.«185 Daß es hier nicht um einen symmetrischen Austausch geht186, wird schnell deutlich: »Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen Eindrücken, klagt, bekennt seine Wünsche und Gefühlsregungen. Der Arzt hört zu, sucht die Gedankengänge des Patienten zu dirigieren, mahnt, drängt seine Aufmerksamkeit nach gewissen Richtungen, gibt ihm Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder von Ablehnung, welche er so beim Kranken hervorruft.«187 Dies sei alles, was die Psychoanalyse dem enttäuschten Publikum zu bieten habe und was den Unglauben der Laien provoziere: »Die ungebildeten Angehörigen unserer Kranken – denen nur Sichtbares und Greifbares imponiert, am liebsten Handlungen, wie man sie im Kinotheater sieht – versäumen es auch nie, ihre Zweifel zu äußern, wie man ›durch bloße Reden etwas gegen die Krankheit ausrichten kann‹.«188 Was das Kino, so wie es Freud als Jahrmarktsattraktion und in den soap operas seiner Zeit vor Augen gehabt haben mag, bietet, ist ja vornehmlich eine dramatische Handlung ohne Tonspur, action, derer sich die psychoanalytische Situation strikt zu erwehren sucht. Es ist aber eben dennoch nicht Nichts, was in der Analyse statthat. Grundsätzlich unvergleichlich ist dieses gewisse Etwas, das in der Analyse vorgeht, nur solange mit dem Film, wie dieser stumm bleibt.189 Wenn auch alle

184. Freud 1916-17, 42. 185. Freud 1916-17, 43. 186. Vgl. hierzu Porath 1992b. 187. Freud 1916-17, 43. 188. Ebd. Ohne beckmesserische Kleinlichkeit darf ein Verdikt Kittlers leicht korrigiert werden, welches von Freud behauptet: »Das Wort Kino kommt in seinen Schriften nicht vor.« (Kittler 1993, 95) Fazit: Das Wort zwar schon, jedoch die Sache kaum, sofern sie eine technische Angelegenheit ist – darin behält der medientheoretische Ansatz sein Recht. Zur genaueren Analyse des Zusammenhangs von Kino und Psychoanalyse sei auf Kittler 1993 und Rath 1997 verwiesen. 189. Gänzlich tonlos bzw. sprachlos war auch der Stummfilm praktisch nie, denn es gab während der Vorführung des Bilderstreifens – Attraktion von Jahrmarktsbuden – zumeist Kinoerzähler und -musiker. Schon in Vor- und Abspann wie auch in Zwischentiteln kommt die Schrift ins Spiel, auch eine Brücke zur Sprache. Solange jedoch die Sprache im wesentlichen nur kommentierenden Charakter hat, ist ihre Rolle eine andere in Bezug auf die dargestellte Handlung und die Bilder. Es kann keine unmittelbare Identifikation von Sprache und agierenden Personen in der gesprochenen Sprache, mittels Stimme, vorgeführt werden. Sie muß imaginativ vom Zuschauer geleistet werden, weswegen eine andere Ausdrucksdimension in den Vordergrund tritt: der Körper als sprechender. Gestik und Mimik übernehmen die Hauptrolle, und es entwickelt sich eine eige125

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Sinnessphären mit ins Geschehen hineinspielen, so ist doch gerade das Wort oder besser: die Rede des Patienten der ›Gegenstand‹ der Psychoanalyse, das Medium, in welchem sie ihren Einsatz bringt.

Sehen und Sprechen in Medizin und Psychoanalyse Es kommt also nicht von ungefähr, daß eine Sichtbarkeit – die des ärztlichen Blicks – auf der einen Seite dem Hörbaren – der vom Ohr des Analytikers vernommenen Stimme des Analysanten – auf der anderen Seite gegenübersteht: Von dieser Konstellation, die für die Psychoanalyse konstitutiv ist, wird noch zu sprechen sein. Von der Sichtbarkeit jetzt soviel: Worauf in der Regel Tatsachen gegründet sind, die sich intersubjektiver Anerkennung gewiß sein können, ist ihre Dokumentierbarkeit oder Wiederholbarkeit ›vor aller Augen‹ (oder sonstigen Sinnen). Eine an Zeit und Raum mit einmaligen Marken gebundene Rede war bis kurz vor Freuds Wirken als Psychoanalytiker ein nicht festzuhaltendes Ereignis, das durch seine Flüchtigkeit den Charakter der Aura entfaltete, so wie Walter Benjamin sie für die Kunstwerke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit beschrieben hat.190 Diese Auszeichnung des Sprechens und Hörens bzw. der Stimme verliert erst an Attraktivität, wenn sie zur allgegenwärtigen Aufzeichnung wird. Das Geistige, welches sich in der Stimme ausdrückt, kehrt in den technischen Apparaten als das Geisterhafte, Gespenstische wieder.191 In der (metaphorischen) Rückwendung der Technik auf die Subjekte, welche sie hervorgebracht haben, erfährt dann auch ihr Sprechen eine Umwertung: Nicht mehr ein Geist, sondern neurophysiologische Prozesse, die wie eine Technik aufgefaßt werden können, bringen eine Artikulation hervor, die von Intelligenz ebenso zeugt wie von Krankheit und Unfällen. Freud weiß um die Wirkung der sprachlichen Aura: »Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt.«192 An dieser Stelle verrät Freud nichts weiter über seine Auffassung von der nachlassenden Magie der Worte.193 Was für ihn feststeht, ist jedoch eine Erfahrung, deren Ernstnehmen in gewissem Sinne Privileg der Psychoanalyse ist:

ne Leinwandsprache der Körper. Erst die synchronisierte Tonspur ermöglicht die Emanzipation der Wortsprache im Film, die auch zu einem Zurückdrängen der dann als übertrieben empfundenen Ausdrucksskala der Stummfilmstars führt. 190. Vgl. Benjamin 1936. 191. Zum Okkultismus der Medien und der Wissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. z.B. Hagen 2001. 192. Freud 1916-17, 43. Schon früh stellt Freud die Bedeutung des Wortes für die »Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)« – so der Titel der Arbeit von 1890 (!) – heraus, vgl. Freud 1890, 17. 193. Man kann dies mit der These Freuds vom kulturgeschichtlichen »Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit« (Freud 1900, 268) in Verbindung bringen. 126

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

»Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander. Wir werden also die Verwendung der Worte in der Psychotherapie nicht geringschätzen […]«194 Grob gesprochen sind Medizin und Psychoanalyse mit dem gleichen Problem konfrontiert: einem als krank eingeschätzten oder sich selbst als krank einschätzenden195 bzw. leidenden Subjekt zu helfen. Die Lösungswege hingegen sind gänzlich verschieden: Während die medizinische Therapie die Symptome des Kranken als Anzeichen einer Krankheit versteht, deren organische Ursachen es aufzuspüren und zu beseitigen gilt und sich dabei in den meisten Fällen chemischer, chirurgischer oder anderer physi(kali)scher Mittel bedient, beschränkt sich der Analytiker allein auf die Macht der Worte – in Zusammenarbeit mit Aufmerksamkeit, Beobachtungsgabe und theoretischer Verarbeitung, die jeder andere Wissenschaftler auch für sich in Anspruch nehmen würde. Natürlich sind die Phänomene, auf die sich die Psychoanalyse beruft, der Beobachtung prinzipiell zugänglich (so wie die Fakten anderer Disziplinen auch)196 und ebenso überzeu-

194. Freud 1916-17, 43. Freud nimmt hier unausgesprochen ältere Traditionen der Rhetorik auf und legt großen Wert auf die affektive Komponente des rhetorischen Geschehens, die bei den Begründern der modernen Linguistik zu kurz kommt. Ferdinand de Saussures strukturale Sprachwissenschaft mag hier als Beispiel herhalten für eine Betrachtung der Sprache, die an den Formbestimmungen des Sprachgeschehens mehr interessiert ist als an den mit der Formbildung verbundenen psychischen Phänomenen (Saussure 1916). Über die Anknüpfung an antike Rhetorik- und frühneuzeitliche Memoria-Konzepte wird der Zusammenhang zwischen Sprachgeschehen und Erinnerungsphänomenen einerseits und der psychodynamischen Affektivität andererseits deutlich (vgl. Antoine 1991). 195. Allerdings ist es gerade die Freudsche Psychoanalyse gewesen, die den Krankheitsbegriff massiv in Frage gestellt hat und eher von einem kontinuierlichen Übergang von sog. normalen zu pathologischen Zuständen und Verhaltensweisen ausgeht. Deshalb ist es in der Sicht der Psychoanalyse immer problematisch, eine definitive Klassifikation zu wagen, zu der der Analytiker im Zweifelsfall dennoch gezwungen sein kann. – Eine ganz andere Sache ist es allerdings, daß die Psychoanalyse sich nie auf therapeutische Interessen beschränken wollte und immer Anwendungen in nichtklinischen Bereichen bzw. im Felde der Normalität angestrebt hat. Als interpretatives Verfahren beansprucht die Psychoanalyse in der Tat, einen Beitrag zur Deutung individuell-biographischer wie kollektiv-kultureller Phänomene jenseits der Unterscheidung normal/pathologisch zu leisten. 196. »Ich habe es immer als eine grobe Ungerechtigkeit empfunden, daß man die Psychoanalyse nicht behandeln wollte wie jede andere Naturwissenschaft«, sagt Freud in der Selbstdarstellung (Freud 1925c, 85), womit er zum Ausdruck bringen will, daß ihre 127

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

gend, »wenn wir Zuhörer der Worte sein können, die zwischen dem Analytiker und seinem Patienten gewechselt werden.«197 Was also macht den Unterschied zur psychoanalytischen Therapie aus? Nicht allein, daß es sich um Worte handelt, worauf sich das Interesse des Analytikers richtet. Was man einerseits schlicht als verbal behaviour unter anderem möglichen Verhalten einordnen könnte, erscheint andererseits in einer psychologischen Perspektive als Ausdruck des ›Inneren‹ eines Menschen, seines Geistes oder seiner Psyche, bliebe aber als Beobachtbares Gegenstand einer Wissenschaft. Jene Wissenschaft, die sich dem Seelischen des Menschen zuwendet und in der Zeit Freuds einen zuvor nie erreichten Höhepunkt erreicht, was die Anwendung und Ausbreitung sowie die akademische Reputation anbelangt, ist die an naturwissenschaftlicher Methodologie orientierte Psychiatrie. Als Teil der Medizin gehört auch sie für Freud zu jenem Bereich, der Sichtbares und Greifbares an beliebigen Einzelfällen vorführen kann: »Selbst in der Psychiatrie führt Ihnen die Demonstration eines Kranken an seinem veränderten Mienenspiel, seiner Redeweise und seinem Benehmen eine Fülle von Beobachtungen zu, die Ihnen tiefgehende Eindrücke hinterlassen.«198 Ja, Freud gesteht sogar zu: »Man kann natürlich auch einen Neurastheniker oder Hysteriker in einer psychiatrischen Vorlesung den Lernenden vorstellen. Er erzählt dann von seinen Klagen und Symptomen, aber auch von nichts anderem.«199 Es kann also dahingehend spezifiziert werden, daß die Rede des Patienten für PsychoanalytikerInnen nur unter einem bestimmten Aspekt interessant ist: »Die Mitteilungen, deren die Analyse bedarf, macht er nur unter der Bedingung einer besonderen Gefühlsbindung an den Arzt, er würde verstummen, sobald er einen einzigen, ihm indifferenten Zeugen bemerkte. Denn diese Mitteilungen betreffen das Intimste seines Seelenlebens, alles was er als sozial selbständige Person vor anderen verbergen muß, und im weiteren alles, was er als einheitliche Persönlichkeit sich selbst nicht eingestehen will.«200 Die nur unter dem Mantel der Verschwiegenheit sich offenbarende Gefühlsbindung an den Psychoanalytiker ist eine für den Fortgang der Analyse notwendige Bedingung, deren Ambivalenz zu betonen ist: Im allgemeinen ist Vertrauen zum

Ansprüche an Überprüfbarkeit und Hypothesenbildung genauso streng zu verstehen sind wie bei den Naturwissenschaften, obwohl ihr Gegenstand ein anderer ist. In diesem Punkt vergleicht Freud Psychoanalyse mit Naturwissenschaft, er identifiziert sie nicht einfach als Wissenschaft von der Natur (zum Wissenschaftsstatus der Psychoanalyse vgl. Kap. 2.2). 197. Freud 1916-17, 43. 198. Freud 1916-17, 42. 199. Freud 1916-17, 43. 200. Ebd. 128

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

behandelnden Arzt einerseits Voraussetzung jeder Therapie, auch der medizinischen, während andererseits aber das Vertrauensverhältnis als ärztliche Schweigepflicht kein integraler Bestandteil der Behandlungsmethode und Werkzeug des Arztes ist.201 Der ärztliche Praktiker entwickelt seine Methoden gerade unter Vernachlässigung dieses subjektiven und schwer kalkulierbaren Faktors, um größtmögliche Effizienz durch Allgemeingültigkeit des Verfahrens zu gewährleisten. Daß er sein Ziel der Heilung oft nicht erreicht, da sich der ›Störfaktor‹ Patient nicht beseitigen läßt, ist inzwischen zur Erfahrung der Medizin geworden und hat, nicht zuletzt durch Freuds Entdeckungen, zur Entwicklung der Psychosomatik geführt.202 In der Psychoanalyse hingegen baut die Therapie ihre Wirksamkeit auf diese (inter-)subjektive, ›persönliche‹ Bindung auf.203 Das Vertrauensverhältnis steht nicht nur am Anfang, gleichsam zur Eröffnung und Einleitung der Behandlung, und bleibt weithin unangetastet außerhalb der therapeutischen Maßnahmen, als ein konstitutiver Vertrag zwischen zwei Individuen, wie in der Medizin204, sondern die Psychoanalyse arbeitet mit und in dieser Beziehung. Der Terminus Übertragung steht für den Effekt, der aus dem Vertrauen in die Verschwiegenheit der Situation entspringt, der allerdings weder auf das analytische setting zu beschränken noch hinreichend mit psychodynamischen Kategorien zu fassen ist. Im Sinne der Übertragung betreffen die Mitteilungen des Patienten nicht nur das Intimste, das er vor anderen verbirgt, sondern alles, was er als ›Einheit der Person‹, als ein Ich, sich selbst nicht eingestehen will. Damit zielt die Analyse auf einen Bereich, der zwar zum Patienten dazugehört (oder umgekehrt: dem der Patient angehört),

201. In vergleichbarer Weise konstitutiv, in der Regel gleichwohl unhinterfragt vorausgesetzt, bleibt das Vertrauensverhältnis zu Priestern, Anwälten, Lehrern. 202. Vgl. hierzu die maßgeblichen Arbeiten von Weizsäcker 1940 und Mitscherlich 1967 zur Einführung des Subjekts in die Theorie und Praxis der Medizin. 203. Als implizite Bedingung gilt dies sicher auch für die genannten Berufsgruppen der Priester, Anwälte, Lehrer. Daß Lehr-Lern-Prozesse sich gerade dieser Dimension nicht entziehen können bzw. – positiv gewendet – sich in ihrer Wirkung auf sie stützen könnten, gehört zu den Schwierigkeiten der Pädagogik. Die Übertragung im psychoanalytischen Sinne interveniert unablässig in der alltäglichen Praxis der genannten Arbeitsfelder. Sie ist wesentlicher Teil dessen, was heimlicher Lehrplan genannt worden ist und oft genug die guten Absichten zunichte macht. Nicht zuletzt deswegen spricht Freud von den drei ›unmöglichen Berufen‹ des Politikers, des Pädagogen und des Psychoanalytikers (Freud 1937a, 388). 204. Allerdings werden viele dieser Vertragsverhältnisse zwischen Arzt und Patient stillschweigend eingegangen, ohne ausdrückliche Zustimmung des einzelnen Betroffenen, wenn dieser verletzungsbedingt gar nicht in der Verfassung zu einer freien Willensentscheidung ist. Deshalb gibt es einen Hippokratischen Eid für Ärzte, der diese zu Hilfeleistungen im Sinne der Gesundheit des Patienten unabhängig von dessen konkreter Zustimmung verpflichtet. 129

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

der ihm aber in gewisser Weise entgeht. Nicht die Geheimnisse des Patienten, die er verheimlicht oder verheimlichen will, sondern das, wovon er selbst im eigentlichen Sinne nichts weiß (oder eben nicht wissen kann), sein Unbewußtes, steht ja im Fokus der psychoanalytischen Aufmerksamkeit. Genau hier ist auch der Grund zu sehen, warum der Analysant sich (andern) verrät, ohne es möglicherweise auch nur im geringsten zu bemerken, während für einen äußeren Beobachter jedes noch so scheinbar nebensächliche Detail eine deutliche Sprache spricht, auch wenn es ihm nicht gelingt, diese ad hoc zu verstehen. Solche kleinen, unfreiwilligen Offenbarungen können erste Anhaltspunkte für eine Deutung abgeben.

Beschreibung des Unbewussten Die Frage nach dem ›Gegenstand‹ der Psychoanalyse zielt ins Unbestimmte, Leere, das – so eine Ausgangsthese – durch Psychoanalyse erst bestimmt wird. Denn nichts läge der psychoanalytischen Arbeit ferner, als sich ausschließlich auf eine bloße Intuition, auf die Unwägbarkeit einer persönlichen, individuellen Bindung oder – so das entgegengesetzte Extrem – auf eine strikt allgemeingültige Theorie zu verlassen, würde nicht zumindest im Fortgang entweder ein allgemeinerer, theoretischer Rahmen entwickelt, auf den sich eine Deutung, eine analytische Konstruktion bzw. der psychoanalytische Prozeß im allgemeinen beziehen und zugleich intersubjektiv verständlich machen läßt, oder aber die theoretischen Verallgemeinerungen für den Einzelfall sich als zutreffend erweisen. Das individuelle Unbewußte erweist sich der Psychoanalyse als das, was im allgemeinen unterstellt werden kann – allerdings eingedenk der Differenz, daß das Unbewußte als theoretischer Terminus nichts von der individuellen Konstellation aufnimmt, die einem einzelnen Subjekt zukommt. Die Verschränkung von individuellen Phänomenen mit allgemeinen ›Gesetzmäßigkeiten‹205 ermöglicht erst die analytische Erfahrung, die ansonsten entweder bloß objektivierend das Allgemeine eines Phänomens zu thematisieren in der Lage wäre oder sich in der schlichten Wiederholung seiner Einmaligkeit erschöpfen würde. Beschreibung des Unbewußten im doppelten Sinne – einerseits Beschreibung dessen, was sich zeigt, aber auch Einschreibung ins Unbeschriebene – kennzeichnet das psychoanalytische Verfahren und dessen Theoriebildung: Richtet sich die Aufmerksamkeit des Analytikers ohne besonderes Interesse, eben gleichschwebend, auf alles, was zum Diskurs des Analysanten gehört, um es im Rahmen des settings zur Darstellung kommen zu lassen, so stellt doch jede Reaktion – schon die schlichte Wiederholung des Geäußerten, eine weitere Frage oder

205. Wenn hier von Gesetzmäßigkeit die Rede ist, dann, wie gesagt, nicht spezifisch im Sinne der Naturwissenschaften, sondern in allgemeiner Weise, wie Freud davon spricht, »Allgemeinheiten, Regeln, Gesetze heraus[zu]finden, die Ordnung in das Chaos bringen« (Freud 1937a, 368). Zur Vielfalt des Begriffs vgl. Joachim Jungius-Gesellschaft 1948. 130

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2. PSYCHOANALYSE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSANSPRUCH UND MEDIALITÄT

ein beharrliches Schweigen – eine Akzentuierung für alles weitere und vorhergehende des psychoanalytischen Prozesses dar, von der die Darstellung des Unbewußten bedingt ist. Deskriptive und präskriptive Aspekte sind untrennbar im analytischen Geschehen miteinander verbunden, gleichwohl lassen sich diese beiden Aspekte unterscheiden. Im Ausgang von beobachtbaren Phänomenen (der Rede und dem Verhalten eines Analysanten, der Komposition eines Kunstwerks, ob Text- oder Musikstück, Skulptur oder Bild, der Unübersichtlichkeit einer komplexen sozialen Situation etc.) eröffnet sich das Feld des Unbewußten in einer doppelten Bezüglichkeit von Beobachtung und Theorie. Jede Beobachtung beruht auf expliziten oder impliziten Unterscheidungen, die in den Bereich der Theorie fallen, jedenfalls nicht selbst dem Beobachteten als Gegenstandspol zuzurechnen sind. Umgekehrt machen theoretische Unterscheidungen nur dann Sinn, wenn sie ›greifen‹, d. h. sich an den Phänomenen bewähren, sich als produktiv und anschlußfähig erweisen. Aussagen über Unbewußtes oder auch nur über den psychischen Zustand des Gegenübers enthalten so einen normativen Anspruch, der sich nicht auf die Eigenschaft des Gegenstands – die Psyche der Analysierten – reduzieren läßt. Vielmehr enthalten sie einen Anspruch auf Interpretation, auf Deutung, der letztlich von der Bestätigung der Analysierten abhängt. Da diese Bestätigung nicht als bloße Zustimmung zur Wahrheit, wie sie der Analytiker ausspricht, aufzufassen ist, sondern sich im psychoanalytischen Prozeß als anknüpfende Assoziation, als verstocktes Schweigen oder affektgeladenes Ausagieren zeigen kann, entfaltet sich die psychoanalytische Beziehung, die Relation zwischen Analytiker und Analysant, immer schon in ethischer Dimension. Wenn also das Unbewußte, so wie es sich im Prozeß der Analyse darstellt, immer auch ein Effekt der gewählten begrifflichen Unterscheidungen sowie der Reaktionen und Interventionen des Analytikers ist, dann hängt alles von der Verschränkung der Beobachtungen und Interaktionen der AnalytikerInnen mit denen der AnalysantInnen ab. Es handelt sich also beim psychoanalytischen Prozeß um das Zusammenwirken von gesetzten Bedingungen (Grundregel, setting) und erfahrenen Phänomenen (Fehlleistungen, Symptome, Träume), so daß sich das Unbewußte in ganz spezifischer Weise ›zeigt‹. Auf der anderen Seite kann man sagen, daß das Unbewußte selbst produktiv und konstruktiv sei, da die zur Deutung und Konstruktion in Anspruch genommenen Unterscheidungen oft erst im nachherein als solche deutlich werden, d. h. nachträglich zu Bewußtsein kommen. Damit erweisen sich alle eben angeführten, für den psychoanalytischen Prozeß konstitutiven Faktoren also selbst als ein Teil dieses Prozesses, den zu rekonstruieren sie herangezogen worden sind. Die Stimmigkeit ex post einer Interpretation wird also gleichsam vom Prozeß selbst nahegelegt, so daß gesagt werden könnte, das Unbewußte habe eine gewisse Vorarbeit geleistet, die es ermöglicht, bestimmte Dinge so zu sehen, wie man sie sieht. Damit begibt sich die Psychoanalyse an einen Punkt, der die beherrschende Position eines souveränen, selbstbewußten Subjekts der Erkenntnis unterläuft oder zumindest in Frage stellt. Die psychoanalytische Erfahrung tritt also mit dem Anspruch auf, sich an den Phänomenen zu orientieren, die von der Struktur des Unbewußten determiniert sind, und vermag 131

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deshalb auch die erkennende Subjektivität nicht als gänzlich getrennt von den Effekten des Unbewußten zu betrachten. Die hier zu entfaltende Auffassung positioniert Subjektivität also im Verhältnis zu einem medialen Geschehen, das sich nicht auf die Intentionalität des Bewußtseins oder die vereinheitlichende Perspektive eines Ichs reduzieren läßt.

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

3. Zur Theoriegeschichte des Begriffs der Assoziation und seiner Aufnahme in der Psychoanalyse Freuds Die Methode der freien Assoziation kann als operatives Kernstück der psychoanalytischen Erfahrung des Unbewußten angesehen werden. Wenn dieses Verfahren insbesondere im Zusammenhang der Traumdeutung von Freud als einer der frühesten Bestandteile psychoanalytischer Praxis in Absetzung von der Hypnose entwickelt wurde und bis heute als eines ihrer unverzichtbaren Elemente angesehen wird, so müßte dies auch auf Seiten der psychoanalytischen Theorie eine entsprechende Berücksichtigung und Rechtfertigung finden. Damit wird ein theoretisch vorbelasteter, traditionsreicher Begriff, nämlich der der Assoziation, in das Zentrum der Darstellung der Psychoanalyse gerückt. Im Zusammenhang mit der Geschichte und Analyse dieses Begriffs stößt man unweigerlich auf die weitergehenden Fragen einer allgemeinen Psychologie, die Freud insbesondere unter dem Terminus Metapsychologie zusammengefaßt hat: In welchem Rahmen spielt sich die Assoziation ab, und welchen methodologischen Stellenwert hat sie für den erkenntnistheoretischen Status der Psychoanalyse? Welche Mechanismen liegen assoziativen Vorgängen zugrunde, nach welchen Regeln vollziehen sie sich? Wie ordnet sich die Assoziation in unser Bild vom Psychischen, ins Panorama der anderen seelischen Phänomene (insbesondere der Erinnerung)? Welche Schlußfolgerungen für unser Verständnis des Psychischen im allgemeinen verbinden sich mit dieser Konzeption (Frage nach dem Gedächtnis)? Damit sind Themenstellungen berührt, die in der Geschichte der Philosophie seit der Antike ihren Ort hatten. Aber nicht nur aus historischem Interesse oder überkommener Konvention soll auf dem philosophischen Charakter der angerissenen Fragen bestanden werden, vielmehr dient die historische Nachzeichnung und Analyse eher dazu, die systematischen Probleme, die sich der zeitgenössischen Reflexion einer Philosophie der Psyche (Hinderk Emrich)1 stellen, zu beleuchten und deren Diskussion zu befruchten. Angeregt von Alfred Schöpfs Bemerkung, die Grundregel der psychoanalyti-

1. Emrich 1990. 133

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

schen Therapie – der Analysant wird aufgefordert zu sagen, was er denkt und empfindet, ohne auszuwählen und ohne etwas auszulassen, egal wie nebensächlich, unangenehm oder lächerlich es ihm auch erscheine, kurz: frei zu assoziieren – könne »gewissermaßen [als] die ›transzendentale Bedingung‹ eines kommunikativen Verhältnisses«2 verstanden werden, scheint es angemessen, die Assoziation als den Königsweg der philosophischen und medientheoretischen Herangehensweise zum Verständnis der Psychoanalyse aufzufassen. Deshalb sollen im folgenden Kapitel die theoretischen Implikationen des Begriffs der Assoziation erarbeitet werden, der sich sowohl in philosophischen, psychologischen wie physiologischen Kontexten nachzeichnen läßt. Dazu wird ein längerer begriffsgeschichtlicher Exkurs unternommen, um den innovativen Charakter der psychoanalytischen Konzeption von Assoziation deutlich werden zu lassen. Die Geschichte des Assoziationsbegriffs wird wirkmächtig für den psychoanalytischen Ansatz um 1900 durch die empiristische Philosophie, wie sie sich in der frühen Neuzeit und im Zeitalter der Aufklärung insbesondere im englischen Sprachraum ausgebildet hat (Kap. 3.1). Als Frage nach den Grundmechanismen und -strukturen der Seele und des Lebendigen geht das assoziationistische Wissen in die biologischen, im engeren Sinne physiologischen und psychologischen Forschungen ein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts sich als akademische Disziplinen an den Universitäten etablieren (Kap. 3.2.), die unmittelbaren Einfluß auf den Bildungsweg des Begründers der Psychoanalyse hatten. Damit soll allerdings eine möglichst geringe theoretische Verengung verbunden sein, die andere wichtige Dimensionen des Psychischen dem Begriff der Assoziation opfern würde. Gerade umgekehrt wäre zu zeigen, daß dem Begriff der Assoziation eine Vielschichtigkeit innewohnt, die erst im Durchgang durch die verschiedenen Aspekte des psychischen Geschehens deutlich werden. Daß Assoziation sich weder auf ein flüchtiges Phänomen noch auf einen statischen Strukturbegriff reduzieren läßt, muß eine detaillierte und eindringliche, auf Bedingungen und Voraussetzungen gehende Analyse zeigen. Entsprechend der Freudschen Forderung, ein psychisches Phänomen sei erst dann verstanden und aufgeklärt, wenn die verschiedenen es betreffenden metapsychologischen Fragestellungen ausreichend beantwortet sind, muß also nicht nur die Topik, sondern müssen auch die Dynamik und Ökonomie der Assoziation erörtert werden, um dann im allgemeineren Rahmen einer Theorie des Gedächtnisses verortet zu werden.

2. Schöpf 1982, 79. Allerdings darf man sich nicht verleiten lassen, die psychoanalytische Erfahrung des Unbewußten allein in die Perspektive einer ›transzendentalpragmatischen Kommunikationstheorie‹ einzurücken, denn die Sprachlichkeit des Psychischen läßt sich gerade nicht auf die kommunikativen Aspekte reduzieren. 134

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

3.1 Theorie und Begriffsgeschichte der Assoziation: Vom englischen Empirismus bis zur Psychophysik Das Phänomen der Assoziation bezeichnet zunächst ganz unspezifisch die Aufeinanderfolge und Verbindung von Vorstellungen und Gedanken, den Elementen des Mentalen. Im engeren Sinn ist mit Assoziation eine besondere Art und Weise von Abfolge und Verknüpfung sowie eine Erklärung der zugrundeliegenden Mechanismen gemeint, aber auch das Ergebnis eines Assoziationsvorganges, nämlich die jeweils erreichte Konstellation, das Zusammentreffen oder die direkte Aufeinanderfolge zweier mentaler Ereignisse. Assoziation in diesem engeren Sinne meint also nicht einen einfach phänomenbezogenen Begriff, sondern ist ein Erklärungsbegriff, dem die Annahme vorausgeht, daß Assoziation nicht etwa bloß ein zufälliges, unerklärliches Geschehen sei, sondern einer Gesetzmäßigkeit unterliegt, die erkannt werden kann und den Vorgang in seinem Sosein erklärlich macht. Allerdings stellt sich schon hier die Frage auch als erkenntnistheoretische Problematik: Sind es nur die im Nachhinein getroffenen Feststellungen einer formalen bzw. inhaltlichen Übereinstimmung, das Geschehen selbst jedoch nur ein Spiel des Zufalls – so wie die Phantasie in Wolken oder Holzmaserung bedeutungsvolle Figuren zu erkennen in der Lage ist? Oder ist das Geschehen selbst einem Gesetz bzw. einer Regel unterworfen, die die Abfolge bestimmter Konstellationen in einer Weise determiniert, so daß sogar sichere Voraussagen über zukünftige Ereignisse zu treffen wären? Der Unterschied zwischen bloßem Zufall und regelhafter Folge ist darin zu sehen, daß die Reihe der mentalen Ereignisse in einem Bereich angesiedelt ist, in dem mit einer Selbstbezüglichkeit der Ereignisse bzw. deren wechselseitiger Rückkopplung in einem systematischen Zusammenhang zu rechnen ist. Dies ergibt sich aufgrund des Charakters des mentalen Zusammenhangs, der jedes Ereignis in einer grundlegenden Weise und zugleich in verschiedenen Hinsichten auffaßbar erscheinen läßt: Zum einen kann jedes mentale Ereignis als dem Zusammenhang zugehöriges behandelt werden, wodurch es überhaupt als ein mentales Ereignis konstituiert wird, und zum anderen wird es nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert: nach Intensität, Dauer, Ähnlichkeit, Nachbarschaft, Bedeutung für den Zusammenhang, als bloß ›inneres‹ oder als auch ›äußeres‹ Ereignis, nach spezifischen Sinnesqualitäten etc. Diese selbstbezügliche Einbettung in einen mentalen Zusammenhang unterscheidet sich etwa von Naturereignissen insofern, als mentale Ereignisse von Anfang an auf eine Sinndimension bezogen werden (selbst wenn es nicht gelingt, sie tatsächlich in einen sinnvollen Zusammenhang für das Alltagsbewußtsein zu bringen), die sich selbst in der Relationalität solcher Ereignisse fortwährend bestimmt und insofern eine in sich dynamische Einheit bildet, die auf alle möglichen Aspekte des Geschehens Bezug nehmen kann. Ereignisse in der Natur hingegen – was hier keine ontologische, sondern eine beobachtungstheoretische Bestimmung ist, also die Hinsicht betrifft, unter der ein Ereignis aufgefaßt wird – müssen nur in einer bestimmten Hinsicht (z. B. als meßbare Größe oder als kausale Ursache-Wirkungs-Relation) thematisiert werden, um eine für den Naturfor135

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

scher hinreichende Erklärung innerhalb eines gewählten theoretischen Modells zu finden. Insofern reicht für die Beschreibung und Erklärung von Naturereignissen eine kausal-funktionale Bestimmung aus, die für die mentalen Ereignisse ungenügend wäre, da deren semantische Dimension ausgeblendet bliebe, die doch als eines ihrer wesentlichen Kennzeichen angesehen werden muß.3 Die moderne Hirnforschung, die auf eine Verknüpfung der Paradigmen von Messen und Deuten in empirisch-experimenteller und semantischer Hinsicht zielt,4 bringt – mit Bezug auf die grundlegenden Prinzipien der (umwelt-)erfahrungsbezogenen und zugleich genetisch determinierten Selbstorganisation der Gehirnentwicklung – zwei Hauptkategorien der Assoziation zur Geltung: (1) Kontiguität in Zeit und Raum und (2) Ähnlichkeit. Beide Kategorien sollen hier interessieren, weil sie einerseits den sprachtheoretischen Kategorien Metapher und Metonymie bzw. der paradigmatischen und syntagmatischen Dimension (i.S. der Tradition Saussures und Jakobsons) entsprechen und sich andererseits mit den psychoanalytischen Kategorien Verdichtung und Verschiebung verbinden lassen (vgl. Kap. 3.3). Vor allem die erste Kategorie, die Kontiguität, steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen des Hirnforschers Wolf Singer zur Assoziation und deren Regelhaftigkeit: »Gene legen [...] die Art der Beziehungen fest, die aufgrund von Erfahrungen zwischen unterschiedlichen Sinnesqualitäten entstehen können. Das fängt bereits damit an, daß Assoziationen nur zwischen solchen Neuronengruppen entstehen können, die auch miteinander verbunden sind. Darüber hinaus bestimmt das Genom die Regeln, nach denen unter den vorgegebenen Verbindungen einige selektiv stabilisiert werden. Wir haben gesehen, daß solche Modifikationsregeln eine Verknüpfungsfunktion besitzen: sie verstärken Verbindungen immer dann, wenn zwei Ereignisse räumlich und zeitlich zusammenfallen. Diese Kohärenz ist eines der fundamentalen Prinzipien, nach denen die Bausteine des Gehirns miteinander verknüpft werden. Sie ist ebenfalls ein Kriterium, um Verbindungen zwischen Phänomenen der Außenwelt herzustellen. Durch die selektive Stabilisierung kohärent aktivierter neuronaler Verbindungen erzeugt das Gehirn eine interne Repräsentation solcher Beziehungen. Objekte und in einem allgemeineren Sinn alle räumlichen oder zeitlichen Muster lassen sich nur deshalb vom ›Hintergrund‹ unterscheiden, weil sie kohärente Eigenschaften besitzen. Die einzigartige Fähigkeit des Nervensystems, solche Kohärenzen einzuschätzen, ist im Grunde also eine äußerst gelungene Anpassungsleistung.«5 Singers Überlegungen werfen im hier interessierenden Zusammenhang die Frage auf, ob Kohärenz letztlich auf raum-zeitliche Kontiguität zurückgeführt wird oder ob die Übereinstimmung bzw. Ähnlichkeit dasjenige zusätzliche Prinzip ist, das sich nicht auf Kontiguität reduzieren läßt. Insofern Kohärenz hier als die je-

3. Vgl. Giegel 1969, besonders 8/9 u. 92ff. 4. Zu Analyse und Kritik der diesbezüglichen Verfahren vgl. etwa Weigel 2004. 5. Singer 1989, 176. 136

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

weils relativ höhere Stabilität, Stetigkeit im Verhältnis zum weniger kontinuierlichen, inhomogenen Hintergrund angesehen wird, handelt es sich tatsächlich ›bloß‹ um eine forcierte Kontiguität. Ähnlichkeit hingegen ist eine Funktion von logisch komplexerer Form, denn sie vollzieht einen Vergleich zwischen zwei Figurationen bzw. Konstellationen, während die einfache Assoziation nach der Relation der Kontiguität bloß zwei Elemente (der Wahrnehmung, des Vorstellens) miteinander verknüpft – ungeachtet ihrer Ähnlich- oder Unähnlichkeit: Jede Assoziation als faktische ist schon eine Exemplifikation der Regel der Kontiguität, der Verbindung zweier Elemente in Raum und Zeit, nämlich in der Aktualität des assoziativen Vollzugs, im Hier und Jetzt bzw. Nacheinander des Denkens und Vorstellens. Die Feststellung einer Ähnlichkeit hingegen ist ein Vollzug zweiter Ordnung, denn er bezieht sich – in der Logik der Assoziativität einfacher Elemente – auf schon gebildete Assoziationskomplexe, denn nur diese lassen aufgrund ihrer höheren Komplexität die Frage der Ähnlichkeit (z. B. als die der mehr oder weniger großen Übereinstimmung) sinnvoll erscheinen.6 Ausgehend von diesen ersten Überlegungen zu Gesetzmäßigkeiten und Vollzug der Assoziation seien nun tradierte Konzepte der Assoziation in den Blick genommen, die in der Geschichte der Philosophie und Psychologie prominent geworden sind, um einerseits die lange Geschichte des Nachdenkens über die Grundoperationen des Geistes vorzustellen und um andererseits auf die Psychoanalyse der Assoziation hinzuführen, die in differenzierter Weise eine Anknüpfung an und einen Bruch mit der Tradition des Assoziationismus vollzieht.

3.1.1 Assoziation als Teilvermögen der Seele: Aristoteles In der Mehrzahl der Darstellungen zur Geschichte der Psychologie, aber auch der Begriffsgeschichte der Assoziation, die auf antike Vorläufer zurückverweisen,7 wird Aristoteles als wichtigster Ausgangspunkt dafür genannt, daß drei Gesetze der Assoziation formuliert und für die Tradition bestimmend wurden. Diese Gesetze tauchen im Kontext des Aristotelischen Erinnerungs-Konzepts auf, das zunächst skizziert sei – zumal Aristoteles, folgt man seinen Schriften, keineswegs als der Assoziations-Theoretiker schlechthin oder gar als der »Vater der Assozia-

6. Hält man an der Anfangsvoraussetzung fest, daß Komplexität und Mannigfaltigkeit der Erscheinung sich aus einfachen Elementen aufbaut, dann nimmt man entweder eine einzige Klasse von Elementen an, was den Vergleich zwischen ihnen überflüssig machen würde, oder man postuliert eine möglichst gering zu haltende Anzahl von unterschiedlichen Klassen von Elementen, die jedoch aufgrund mangelnder interner Differenzierung für eine Ähnlichkeitsfeststellung ebensowenig geeignet erscheinen. Insofern kann man die Relation der Kontiguität als zweistellige, die der Ähnlichkeit hingegen als dreistellige fassen, denn die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen zwei Elementen bedarf eines Kriteriums, eines Bezuges auf ein drittes. 7. Vgl. die einschlägigen Darstellungen von Hofstätter 1957, 29 und Hehlmann 1963, 20, Fröhlich 1987, 58. 137

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

tionspsychologie« neuzeitlichen Stils gelten kann, als den ihn die Rezeption so oft dargestellt hat.8 An prominenter Stelle zu Beginn der Metaphysik, Buch A9, wird die Erinnerungsfähigkeit (mneme) zu den wichtigsten Elementen gezählt, aus denen sich das Erkenntnisvermögen der Menschen zusammensetze. Ihrem natürlichen Streben nach Wissen, von dem Aristoteles ausgeht, können die Menschen nur im Verein verschiedener Funktionen der Seele, die ihnen als einem lebendigen Naturwesen gegeben sind, nachkommen. Ausgehend von der Sinneswahrnehmung (aisthesis) summieren sich Sinneseindrücke durch das Erinnerungsvermögen zu einer Erfahrung, sei es zur Erfahrung überhaupt, sei es zur spezifischen Erfahrung einer bestimmten Sache, die sich in immer neuen Facetten darstellt. Dabei wird Wahrnehmung selbst als ein Unterscheidungsvermögen angesetzt, das sich auf Empfindungen bezieht und mit Hilfe der Einbildungskraft (phantasia) Wahrnehmungsbilder (phantasmata) erzeugt10, während die Erinnerung (mneme) die verschiedenen Eindrücke und Bilder behalten, zu einer Erfahrung versammeln und dem einzelnen Lebewesen verfügbar machen kann: »Aus der Wahrnehmung also entsteht das, was wir Erinnerung nennen; und aus der Erinnerung (wenn sie oftmals in Verbindung mit demselben Ding auftritt) die Erfahrung – denn die der Zahl nach vielen Erinnerungen bilden eine Erfahrung.«11

8. In extensiver Weise hat Wolfgang Welsch die aisthesiologische Grundlegung der Philosophie im Ausgang von Aristoteles entfaltet und in differenzierter Weise »Vielfältigkeit und Feldcharakter« des Sinnlichen in der Wahrnehmung gegenüber dem »Daten-Elementarismus« herausgearbeitet, der sich zwar auf die aristotelische Festlegung der Aisthesis als »Basalfunktion der Erkenntnis«, unverzichtbar insbesondere für die »Erkenntnis des Einzelnen«, berufen kann, die zu einer »externen Logifizierung des Aisthetischen« (Welsch 1987, 434) im Aristotelischen Denken führt und einem »Elementarismus und Divisionismus« (Welsch 1987, 435) Vorschub leistet. Diese Feststellung wird jedoch erst dann interessant, wenn man die gegenläufigen Tendenzen in der aristotelischen Konzeption der Aisthesis mit berücksichtigt, die man als die »immanente Logizität des Aisthetischen« bzw. als dessen »innere Logomorphie« fassen kann: »Das Überraschende dieser These liegt zunächst darin, daß das einfach Scheinende in Wahrheit gar nicht einfach, sondern komplex ist.« (Welsch 1987, 436/437). Wobei das moderne Denken sich in dem Punkt vom Aristotelischen Ansatz entfernt hat, als die »Bestimmtheit« des wahrnehmungsmäßig Gegebenen »nicht [mehr] im Lichte eines unwandelbaren Typus [erscheint], sondern auf der Folie vielfältiger Bestimmungsbahnen und als Bündelung eines je konkreten Bestimmungsgeflechts.« (Welsch 1987, 242) 9. Aristoteles’ Schriften werden in deutschen Übersetzungen abgekürzt zitiert mit Titel, römischer Bandnumerierung, arabischer Kapitelnummer, der entsprechende Abschnitt mit Seite, Spalte und Zeile nach der Standardausgabe des griechischen Textes von Immanuel Bekker, hier Met I 1, 980 a 21ff. 10. Vgl. a. Analytica posteriora (Apo) II 19, 99 b 35 – 100 a 9; s.a. Barnes 1992, 93. 11. Apo II 19, 100 a. 138

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Der Erinnerung kommt also nicht nur das Behalten und Verfügbarmachen von Eindrücken im Geiste zu, sondern ebenso die Zusammenfassung von Bildern des Wahrgenommenen auf ihren allgemeinen Charakter hin sowie die Konstitution einer zusammenhängenden Erfahrung. Diese Erfahrung muß nun durch Kunstfertigkeit und Wissenschaft weiter geordnet werden, ohne deren Strukturierung die Erfahrung des Menschen dem Zufall ausgeliefert wäre. Erinnerung schafft also nicht rationale Ordnung, sondern nur einen Fundus der Erfahrung, auf den sich die Vernunft beziehen kann, um z. B. eine Lebensform für Menschen zu gestalten.12 Erst in zwei weiteren Schritten also wird die Erfahrung ausdifferenziert: zum einen als schon geordneter Zusammenhang von Erfahrungswissen, zum anderen systematisch allgemein als theoretisches Wissen (episteme): »Und aus der Erfahrung, oder aus dem ganzen Allgemeinen, das im Geist zur Ruhe gekommen ist – entsteht ein Prinzip der Kunst (techné) und des Wissens.«13 Was dem Erfahrenen als solchem, sei er Handwerker oder Heilkundiger, zukommt, ist ein breites Wissen von unterschiedlichsten Beobachtungen, die er unter einem allgemeinen Gesichtspunkt, einer allgemeinen Regel beurteilt. Dieses macht ihn jedoch noch nicht zu einem Kunstfertigen i.S. des Beherrschens von Kunstgriffen, von Technik, die den Einzelfall zum Exemplar einer Klasse von gleichen Sachverhalten erklärt und so ein gezieltes, hilfreiches Handeln aufgrund einer allgemeinen Klassifikation ermöglicht. Seine Kenntnisse kann der Kunstfertige dann als (an-)leitender Künstler weitervermitteln, wenn er die Gründe und Ursachen dieses ihm vertrauten praktischen Wissens kennt, also auch Kenntnis der Sachverhalte hat. Aber erst derjenige, der auch zu lehren versteht, warum etwas eine bestimmte Ursache hat, und dieses Wissen in einem allgemeineren Rahmen argumentativ zu rechtfertigen versteht, der also auch theoretisches Wissen von höherem Abstraktionsgrad besitzt, kann als Wissenschaftler gelten. Diesen Aufbau des Wissens aus den komplexitätsansteigenden Stufen von Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung, (praktischer) Kunstfertigkeit, (anleitender) Kunstverständigkeit und (theoretischem) Wissen resümiert Aristoteles mit den folgenden Worten: Man sei allgemein der Ansicht,

12. Im Anschluß an Met A, 980 a-b könnte man bei Aristoteles von einer weiteren Differenzierung der Erinnerungsfähigkeit ausgehen, nämlich »zwischen dem Vermögen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, das der Mensch mit vielen (andern) Tieren teilt, und dem bereits reflexiven Vermögen, dieses Vergegenwärtigte wiederum als vergangen, d.h. zeitlich bestimmt, einzuordnen, welches letztere dem Menschen allein gegeben zu sein scheint.« (Zemb 1961, 53) Das automatische, nicht-bewußte Vergegenwärtigen, das Wiederholen eines Gewesenen, das als die Hauptleistung des Gedächtnisses angesehen werden kann, muß vom Bewußtwerden des Vergegenwärtigten als Vergangenem unterschieden werden. Reflexiv ist es insofern, als es keine einstellige, sondern die zweistellige Relation des Etwas-als-etwas darstellt. 13. Apo II 19, 100 a. 139

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»die sogenannte Weisheit [sophia i.S. von Philosophie] drehe sich um die ersten Ursachen und Prinzipien. Deshalb gilt [...] der Erfahrene für weiser als der, der lediglich über eine Sinneswahrnehmung verfügt; der Künstler für weiser als der Erfahrene; der leitende Künstler für weiser als der Handwerker, und schließlich gelten die betrachtenden Wissenschaften mehr als die bewirkenden. Es ist also klar, daß die Weisheit eine Wissenschaft von gewissen Prinzipien und Ursachen ist.«14 Die Rolle, die der Erinnerung in der aristotelischen Philosophie zugeschrieben wird, ist unverzichtbar: Sie setzt zwar die Wahrnehmung und mit dieser die bilderschaffende Einbildungskraft voraus, doch kann es ohne ihre Leistungen keine Erfahrung und deren weitere Verarbeitung bis hin zum Wissen geben. Der Erinnerung kommen verschiedene Funktionen zu: eine Kontinuitätsfunktion, da sie die wechselhaften und flüchtigen Sinneseindrücke für den Geist fest- und verfügbarzuhalten in der Lage ist; eine Synthesefunktion, denn sie stiftet so etwas wie die Einheit von Erfahrung und von Gegenständen der Erfahrung; und eine Abstraktionsfunktion, da sie nach allgemeinen Gesichtspunkten zusammenfaßt und strukturiert (und aussortiert, wie man hinzufügen muß). Als viertes kann man ihre mediale Funktion nennen, welche die aus der Wahrnehmung gewonnenen Bilder auf die leere Tafel der Seele einzutragen gestattet, wie es schon bei Aristoteles heißt.15 Wie arbeitet nun das mit Erinnerung bezeichnete Vermögen im einzelnen? Im Zusammenhang der Erörterung der Seelenvermögen führt Aristoteles bezüglich des Gedächtnisses drei Grundsätze an, die das willkürliche Sich-Erinnern erleichtern: »Erstens: Das Sich-Erinnern erfolgt, wenn sich Vorstellungen ähnlich sind. […] Zweitens: Vorstellungen von entgegengesetzten Dingen (Kontrastverhält-

14. Met I 1, 981 b 29-982 a. Es handelt sich bei Aristoteles nicht um eine einfache Vorrangstellung von theoretischer vor praktischer Vernunft. Die überfliegende Reichweite des bios theoretikos bleibt machtlos ohne die mühselige Erfahrung des Einzelnen, dem Aristoteles ja gerade im Bereich der pragma eine besondere Bedeutung zumißt. Die Stellung der Philosophie im Zusammenhang der Wissenschaften hängt von der jeweiligen Definition ab, der man sich anschließt: Allgemein gesprochen kann Philosophie soviel wie Wissenschaft überhaupt bedeuten; begreift man sie als Erste Philosophie, so wäre sie zum einen Wissenschaft, die Seiendes qua Seiendes untersucht (Metaphysik), zum anderen Wissenschaft von den ersten Ursachen und Prinzipien der Dinge (Theologie) (vgl. Barnes 1982, 39-45). Barnes argumentiert dafür, daß Metaphysik nicht die Untersuchung einer getrennt existierenden, höchsten Entität sei (der christliche Schöpfergott) und damit im eigentlichen Sinne Theologie, sondern vielmehr, daß die Untersuchung der ersten Ursachen und Prinzipien mit dem allgemeinen Programm einer Metaphysik zusammengehe, weil »man dann, wenn man die ersten Substanzen, von denen alle anderen Entitäten abhängig sind, untersucht, implizit alles, was existiert, qua existierend untersucht.« (Barnes 1982, 44) 15. De anima III 4, 429 b 31-430 a. 140

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nis) werden leicht erinnert, weil die Gegensätze zugleich (háma) gegeben sind. […] Drittens: Wenn die durch Vorstellungen repräsentierten Gegenstände miteinander verwandt sind, so lassen sie sich leicht wiedererinnern.«16 Das griechische Wort syneggis für ›verwandt‹ umfaßt ebenso die Bedeutung ›räumlich nahe‹, ›zeitlich nahe‹ und ›qualitativ gleich‹.17 Also läßt sich formulieren: Sich-Erinnern erfolgt nach Ähnlichkeit, Kontrast und Kontiguität. Ein solches Sich-Erinnern aber ist als willkürlich, als absichtlich gedacht, d. h. die Assoziation als Grundprinzip aller psychischen Vorgänge (vgl. in den folgenden Abschnitten Hume et al.) ist für Aristoteles undenkbar. Für ihn sind die Assoziationsprinzipien nur Funktionen eines Seelenvermögens, das sich ins Ganze der Seele einordnet. 18 Es läßt sich also in Bezug auf die Assoziationspsychologie keineswegs von einer einfachen Fortsetzung oder Anknüpfung der Aristotelischen Tradition sprechen19, wie dies oft getan wurde. In der Schrift Über die Seele (Peri psyches/De anima) definiert Aristoteles »die Seele (psyché) als ›die erste Entelechie (entelécheia próté) des natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben (zoé) besitzt‹«20, im Unterschied zu unbelebten Naturgegenständen. Insofern entelécheia aus en ›in‹, telos ›Ziel‹ und echein ›haben‹ besteht – sein Ziel in sich selbst haben –, »ist Entelechie die Form, die sich im Stoff verwirklicht, das aktive Prinzip, welches das Mögliche erst zum Wirklichen macht und dieses zur Vollendung seines Daseins bringt.«21 Dementsprechend begreift Aristoteles die Seele als »die ›Entelechie eines organischen Körpers‹ vom Ganzen des organischen Daseins her, wobei das ›Wesen‹ des Körpers nicht als abgetrennte Substanz verstanden wird, sondern als das Wesen dieses Leibes selbst, der sonst nur der Möglichkeit nach, nicht aber wirklich existieren würde.«22 Diese Einbettung von einzelnen Seelentätigkeiten in einen natürlichen, als teleologisch zu bezeichnenden Gesamtzusammenhang fehlt ausdrücklich im englischen Empirismus. Dies mag sicher auch mit dem mangelhaften Wissenstand der unter neuen Bedingungen operierenden experimentellen Erfahrung und den veränderten methodologischen Maßstäben des wissenschaftlichen Wissens der frühen Neuzeit liegen, die noch kein umfassendes biologisch-medizinisches Bild des Menschen als natürlich-kulturel-

16. Amin 1973, 36; vgl. De memoria 452 a 15 u. 451 b 21. 17. Amin 1973, 36. 18. »Jetzt sei nur soviel gesagt, daß die Seele das Prinzip der genannten Funktionen ist und durch sie bestimmt wird: Ernährung, Wahrnehmung, Überlegung, Bewegung.« (De anima 413 b [Gigon]) 19. »Bei den Assoziationstheoretikern [des 17. und 18. Jahrhunderts], die diese drei Gründe als die erste Formulierung der Assoziationsgesetze bezeichnen, sind diese Gesetze als die Verbindung der verschiedenen einzelnen Elemente des Seelenlebens gedacht. [...] Völlig fremd ist ihm [Aristoteles] aber die Reduzierung des Seelischen auf Einzelerlebnisse, die miteinander verknüpft oder assoziiert werden.« (Amin 1973, 38) 20. De anima 412 a 27f., 412 a 13. 21. Amin 1973, 25. 22. Amin 1973, 27. 141

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les Wesen gewonnen hatten, um daraus ein integrales Modell zu entwickeln. Der eigentliche Grund dürfte jedoch in der zur vorherrschenden Orientierung von Wissenschaftlichkeit sich durchsetzenden analytisch-konstruktiven Methode zu suchen sein (vgl. Kap. 3.2).

3.1.2 Die Assoziation einfacher Elemente als Grundvermögen des Seelenlebens: Der englische Empirismus Einbildung, Erinnerung, Traum, Zeichen: Thomas Hobbes’ »train of thoughts« In der Neuzeit ist es Thomas Hobbes, der an einflußreicher Stelle im dritten Kapitel seines Leviathan (1651) das Konzept der Assoziation, jedoch noch nicht ausdrücklich unter diesem Begriff, aufgreift. Im Rahmen seiner anthropologischen Vorüberlegungen entwickelt Hobbes eine Konzeption vom Gedankengang (train of thoughts, Zug oder Kette der Gedanken23), die für den hier zu erörternden Zusammenhang allein interessieren soll. Das Streben der Individuen nach Selbsterhaltung (negativ gefaßt: die Furcht vor dem Tode) und nach Lustgewinn (Begierde nach angenehmen Dingen) ist die anthropologische Grundtendenz, mit der Hobbes alle Menschen von Natur ausgestattet weiß, wodurch sie prinzipiell einander gleichgestellt sind. Neben diese Leidenschaften stellt Hobbes die Vernunftfähigkeit, die für die mit den natürlichen Bedürfnissen und Leidenschaften verbundenen Probleme Lösungen suchen und für deren Erreichung sich jener Anlagen bedienen kann. Ohne den Antrieb der Leidenschaften allerdings wäre die Vernunft nicht in der Lage, tatsächliche Lösungen zu verwirklichen, da sie als eine rein zweckrationale Kalkulation, als Berechnung gefaßt wird.24 Die Gegenstände, d. h. die konkreten Inhalte der jeweiligen Leidenschaft können nicht von der Vernunft gesetzt werden, sondern sind durch die Natur und Lebensbedingungen der Menschen bedingt. Die drohende Anarchie der Interessen wird erst durch die übermächtige Todesfurcht in ihre Schranken verwiesen und zwingt die leidenschaftlichen Individuen zur Einsicht und letztlichen Anerkennung des ersten allgemeinen Vernunftgesetzes, nämlich des Friedensgebotes gegeneinander. Diesen sozialphilosophischen Überlegungen kann hier nicht weiter nachgegangen werden, vielmehr sei das Interesse auf den Übergang von den anthropologischen Bestimmungen zur Deutung der mentalen Vorgänge, insbesondere des Vorstellungsverlaufs, konzentriert. Hobbes betrachtet dabei die physischen wie die psychischen Ereignisse unter ein- und derselben Perspektive einer Mechanik der Körper und ihrer Interaktion. Anthro-

23. Hobbes spricht dort auch von consequence. 24. »Denken heißt nichts anderes als sich eine Gesamtsumme durch Addition von Teilen oder einen Rest durch Subtraktion einer Summe von einer anderen vorstellen. [...] Kurz: Wo Addition und Subtraktion am Platze sind, da ist auch Vernunft am Platze, und wo sie nicht am Platze sind, hat Vernunft überhaupt nichts zu suchen.« (Hobbes 1651, 32) 142

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pologische und psychologische (bzw. mentallogische) Überlegungen können für Hobbes im selben theoretischen Rahmen und in derselben Sprache verhandelt werden, was ihm in der Rezeption immer wieder den Vorwurf eingebracht hat, er behandele den Menschen in entwürdigender Weise als bloß physischen Gegenstand. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß Hobbes mit Vehemenz einen empirischen Ansatz vertritt, wodurch er sich gegen jede scholastische Bevormundung zur Wehr setzt und alle vorurteilsbehafteten Bestimmungen des Menschseins zurückweisen kann, die sich nicht empirisch plausibilisieren lassen. Die menschliche Natur kann nur qua Vergleichung und Feststellung der vorhandenen Ähnlichkeiten aus dem tatsächlichen Verhalten der Menschen, auch und gerade gegeneinander, herausgelesen werden. Die empirische Vielfältigkeit des menschlichen Verhaltens kann jedoch unter Zuhilfenahme der subjektiven Kenntnis, der Selbsterkenntnis, durchschaut und nach bestimmten charakteristischen Eigenschaften geordnet werden: »Es sollte uns vielmehr lehren, daß jedermann, der in sich selbst blickt und darüber nachdenkt, aus seinem Denken, Meinen, Schließen, Hoffen, Fürchten, usw., und deren Gründen lesen und erkennen wird, welches die Gedanken und Leidenschaften aller anderen Menschen bei den gleichen Anlässen sind; dies wegen der Ähnlichkeit von Gedanken und Leidenschaften eines Menschen mit denen eines anderen.«25 Entsprechend ganz eingebunden in einen empirischen Zusammenhang werden Gedanken als »Darstellung oder Erscheinung« von äußeren Gegenständen bzw. deren Eindrücken auf die Sinne unseres Körpers angesehen. Die Erscheinungen der Objekte sind in ihrem Ursprung für uns eine »Empfindung«, »denn es gibt keine Vorstellung im menschlichen Verstand, die nicht zuerst ganz oder teilweise in den Sinnesorganen erzeugt worden war.«26 (Dagegen Leibniz: Nihil est in intellectu, quod non prius fuit in sensu, sive intellectus ipse.) So bringt der Lauf der Dinge »durch die Verschiedenheit der Einwirkungen Verschiedenheit der Erscheinungen hervor.«27 Die erkenntnistheoretische Fragestellung mündet also ein in eine der internen Dynamik des Geistes: Nicht um das Erkennen der äußeren Gegenstände, wie sie an sich sind, geht es Hobbes; vielmehr thematisiert er sie, wie wir im folgenden noch beobachten können, immer in Hinsicht auf die Perspektive, in der sie für den menschlichen Geist von Interesse sind und die im folgenden als eine vorrangig mediale Perspektive gefaßt werden soll. Die Ausgesetztheit der sinnlichen Natur des Menschen gegenüber den Reizen der Empfindung ist keine vollkommene Passivität. Vielmehr kommt dem

25. Hobbes 1651, 6. Zum Problem von Herrschaft und Selbstbeherrschung als Bedürfnis nach Sicherheit vgl. Angehrn 1993. 26. Hobbes 1651, 11. Zum Vergleich: Hobbes 1839-1845, Bd. III, 1: »The original of them all, is that which we call sense, for there is no conception in a man’s mind, which hath not at first, totally, or by parts, been begotten upon the organs of sense. The rest are derived from that original.« 27. Hobbes 1651, 11. 143

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Körper eine mediale Funktion zu, insofern er der Erfahrung ausgesetzt ist und andererseits eine Eigendynamik bildet, die sich nicht bloß als direkte Reaktion auf Erfahrung verstehen läßt: Denn der Erfahrungsdruck »setzt sich durch die Vermittlung der Nerven und anderer Stränge und Membranen des Körpers nach innen bis zu dem Gehirn und Herzen fort und verursacht dort einen Widerstand oder Gegendruck oder ein Bestreben des Herzens, sich davon freizumachen.« Der Entlastungsdrang führt zu einem unausweichlichen Schein: »Da dieses Bestreben nach außen gerichtet ist, scheint es auch eine äußere Materie zu sein. Und dieser Schein oder diese Einbildung ist das, was die Menschen Empfindung nennen und besteht für das Auge in einem Licht oder einer vorgestellten Farbe, für das Ohr in einem Ton, für die Nase in einem Geruch« etc. Diese sinnlichen Qualitäten des Gefühls »stellen in dem Objekt, das sie verursacht, nichts anderes dar als lauter verschiedene Bewegungen der Materie, durch die es auf unsere Organe verschiedenartig drückt.«28 Insofern verhält sich der menschliche Körper eben wie sonst ein Körper, wie ein physischer Gegenstand, der auf Druck und Stoß reagiert, aber darüber hinaus entwickelt er zudem eine eigenwillige Tendenz, die einen irreduziblen Faktor im Gesamtzusammenhang der Erfahrung ebendieses Körpers darstellt. Hobbes formuliert in Anlehnung an die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise eine Art Energieerhaltungssatz für die Wahrnehmungsvorgänge: Jeder Zustand bleibt erhalten, solange er von keiner äußeren Ursache verändert

28. Hobbes 1651, 11. Auf dieses Problem wird zurückzukommen sein, da es Freud im Entwurf ebenso beschäftigen wird, wie man in einer rein topologischen Darstellung den Übergang von Energiequantität zu Qualität, von Kraftbeträgen, Mengen- und Größenangaben zu Eigenschaften und Werten, zu Güte und Rang verständlich machen kann (vgl. Searle 1996, 40: »wie gelangt man von all den Strukturen und ihren Funktionen zu den qualitativen Zuständen der Empfindungsfähigkeit oder des Gewahrseins, die wir alle haben und die manche Philosophen ›Qualia‹ nennen?«). Hobbes übergeht dieses Problem einfach: »Sie [die Bewegungen der Dinge] sind auch in uns, auf die ein Druck ausgeübt wird, nichts anderes als entsprechend viele Bewegungen, denn eine Bewegung bringt nichts anderes hervor als Bewegung. Aber ihre Erscheinung ist für uns Vorstellung« (11f.). Der Unterschied von Objekt und Vorstellung soll also nichts anderes sein als der Unterschied von Bewegung außer uns und Bewegung in uns. Dies erinnert daran, daß Emotion sich von lateinisch movere ableitet. – Die erkenntniskritische Konsequenz bezüglich der Rede vom Objekt wird allerdings erst bei Kant und Nietzsche in aller Klarheit gezogen: Der Status dessen, was der Erfahrung zugrundegelegt wird, ist nicht zu bestimmen unabhängig von den Möglichkeiten, die dem erkennenden Subjekt zur Verfügung stehen. Hobbes sieht allerdings – gegen die wirkmächtige Aristotelische Tradition –, daß die Dinge nicht durch sich selbst einen Eindruck zu uns senden, der durch unsere Sinnesorgane nur aufgenommen würde, sondern daß erst wir den Sinneseindruck als Sinneseindruck haben und in gewisser Weise machen: »Sind doch das Objekt und das Bild oder die Vorstellung zwei verschiedene Dinge.« (12) Nur der »Druck« vermittelt uns das Objekt, das Bild machen wir uns vermittelst seiner Bewegung selbst. 144

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wird.29 Mit Hilfe dieses quasi naturgesetzlichen Grundsatzes deutet Hobbes die Veränderung in Wahrnehmung und Erfahrung in analoger Weise zur Bewegung der Körper in der physischen Welt: »Denn nach Entfernen des Objekts oder Schließen der Augen behalten wir immer ein Bild des gesehenen Dings zurück, wenn auch dunkler als im Augenblick des Sehens.«30 Der Vorgang der Einbildung des Objekts, der uns Bilder, Vorstellungen oder Erscheinungen der Dinge gibt, ist ein abgeschwächteres Abbild des Originaleindrucks, das wiederum von stärkeren Eindrücken übertönt, überblendet, verdunkelt wird, allerdings nicht zugleich mit dem Original verschwindet – »die materiale Voraussetzung des Gedächtnisses«31: »Diese zerfallende Empfindung nennen wir, wenn wir die Sache selbst (nämlich die Vorstellung) bezeichnen wollen, Einbildung [...]. Wollen wir den Zerfall ausdrücken und andeuten, daß die Empfindung blaß, alt und vergangen ist, so spricht man von Erinnerung. So sind also Einbildung und Erinnerung einund dasselbe, das hinsichtlich verschiedener Betrachtungsweisen verschiedene Namen trägt.«32 Sowohl zur gegenwärtigen Kombination von Vorstellungen zu einer Vorstellungseinheit (zusammengesetzte Vorstellung) wie schon zur Bezugnahme auf eine einfache, vergangene Vorstellung bedarf es der Erinnerung. Nur mit Hilfe der Erinnerung kann es also eine momentane Einheit von Verschiedenem geben. Aber auch die kontinuierende Erfahrung, in der (zeitlich) Verschiedenes aufeinander bezogen wird, verdankt sich dieser Fähigkeit. Damit hat Hobbes die empirische Entstehung der Vorstellungen und Gedanken und ihren Wechsel als Folge von wechselnden Eindrücken beschrieben und wendet sich nun der Organisation solcher Folge zu: »Unter Gedankenfolge oder -reihe [train of thoughts] verstehe ich jene Folge eines Gedankens auf einen anderen, die man, um sie von einem in Wörtern geäußerten Denken zu unterscheiden, sich im Geist abspielendes Denken [mental discourse] nennt.«33 Wie oben schon angedeu-

29. Sein Energieerhaltungssatz lautet: »Ist ein Körper einmal in Bewegung, so bewegt er sich ewig, bis ihn etwas anderes bremst, und alles, was die Bewegung bremst, kann sie nicht auf einmal, sondern nur in einer bestimmten Zeit und schrittweise völlig auslöschen.« (13) Damit wird einerseits eine Trägheit von in Bewegung oder in Ruhe befindlichen Gegenständen gesetzt und andererseits jede Veränderung von Zuständen selbst als ein Aufwand bestimmt. ›Nichts kann sich selbst ändern‹ (vgl. 13) und alle Veränderung des Bewegungs- oder Ruhezustands eines Dings kann nur durch äußere Ursache erfolgen. Den unbelebten Dingen kommt also kein natürlicher Trieb oder Kenntnis dessen zu, »was für ihre Selbsterhaltung gut ist.« (13) Damit kann dann auch die Autonomie der modernen Individuen insofern begründet werden, als sie in ihrem Verhalten nicht mehr moralisch-metaphysisch eingebunden sind. – Gleichwohl hält Hobbes ein Beispiel für die Eigendynamik des menschlichen Organismus bereit: das Träumen (vgl. 15f.). 30. Hobbes 1651, 13. 31. Wahrig-Schmidt 1994, 80. 32. Hobbes 1651, 14. 33. Hobbes 1651, 19. 145

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tet, bringt Erfahrung »durch die Verschiedenheit der Einwirkungen Verschiedenheit der Erscheinungen hervor.«34 Da also in der Erfahrung genügend Kontingenzen enthalten sind, so daß nicht per se gewiß ist, wie sich das weitere entwikkeln wird, muß die Ordnung oder der bestimmbare Zusammenhang in der Erfahrung durch eine dem Geist innewohnende Tendenz hervorgebracht werden. Dies ist jedenfalls der Einsatzpunkt, an dem Hobbes seine Analyse des Gedankenverlaufs ansetzt. Gestützt wird dieser Ansatz der subjektiven Determination von Erfahrung bei Hobbes auch von seiner These, daß der Mensch die Doppelrolle des Werkstoffs und des Konstrukteurs zugeschrieben bekommt: »beides ist der Mensch.«35 Wie bestimmt Hobbes diese subjektiven Momente und die Regelhaftigkeit der Assoziationsfolgen? »Wenn ein Mensch an irgend etwas denkt, so ist sein nächster Gedanke durchaus nicht so zufällig, wie es zu sein scheint. Es folgen nicht alle Gedanken unterschiedslos aufeinander. Aber wie wir keine Einbildung von etwas haben, wovon wir nicht zuvor ganz oder teilweise eine Empfindung hatten, so gibt es in uns auch keinen Übergang von einer Einbildung zur anderen, ohne daß in unseren Sinnen zuvor das Gleiche stattgefunden hätte. Folgendes ist der Grund: Alle Vorstellungen sind Bewegungen innerhalb von uns, Reste derer, die in der Empfindung verursacht worden waren. Und diese Bewegungen, die in der Empfindung unmittelbar aufeinander folgten, setzen sich nach der Empfindung ebenfalls zusammen fort: Insofern sich die erste wiederholt und vorherrschend wird, folgt die spätere auf Grund des Zusammenhangs der bewegten Materie nach, wie Wasser auf einem ebenen Tisch auf dem Weg nachgezogen wird, den man einen Teil von ihm mit dem Finger leitet.«36 Hobbes’ Modell scheint demnach vollständig deterministisch zu sein: Auf Eindruck folgt Einbildung, und Einbildung erzeugt Vorstellung, je nach der Ordnung der Eindrücke müßte sich also auch die Ordnung der Vorstellungen ergeben und ein getreues Abbild der ersten, natürlichen Ordnung der Eindruckswelt geben. Dieser Eindrucks-Vorstellungs-Mechanismus wird jedoch unterbrochen durch mangelnde Voraussicht, unsicheres Wissen über die zukünftigen Ereignisse: »Aber da in der Empfindung auf ein- und dasselbe wahrgenommene Ding einmal dies, einmal jenes nachfolgt, kommt es bald dazu, daß wir uns bei der Einbildung eines Dings nicht sicher sind, was wir uns als nächstes einbilden werden. Es ist nur gewiß, daß es etwas sein wird, das dem vorangegangenen Ding irgendeinmal nachgefolgt war.« 37

34. Hobbes 1651, 11. 35. Hobbes 1651, 5. Auf den konstruktivistischen Zug im Hobbesschen Philosophieren wurde bereits hingewiesen. 36. Hobbes 1651, 19. Vgl. auch den Hinweis bei Wahrig-Schmidt 1994, 93 auf Hobbes 1640, 9f. 37. Hobbes 1651, 19. 146

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Obwohl also anzunehmen ist, daß das jeweils Nachfolgende etwas ist, das schon zu einem früheren Zeitpunkt nachgefolgt ist, kann das begrenzte subjektive Wissen niemals vollkommene Sicherheit erreichen. Die Täuschung liegt demnach allein im Bereich des Denkens, d. h. nicht im Vorstellen als solchem, sondern in der Verknüpfung von Vorstellungen, die das Denken selbständig und mittelbar vollzieht. Soll das Denken dies können, muß ihm also eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der auf Eindrücke reagierenden Einbildung zugestanden werden. Hobbes hatte ja schon beim Übergang vom Eindruck zu Empfindung und Vorstellung auf die Eigentätigkeit des Körpers hingewiesen und einen Widerstand gegen die Reizüberflutung, gegen den Andrang von Eindrücken postuliert. Dieser unausweichliche Entlastungsdrang ist der Einsatzpunkt für die menschlichen Leidenschaften. Auch das Träumen wird von Hobbes als Beispiel für die Eigentätigkeit des Körpers angeführt, wie wir noch sehen werden. Die Eigentätigkeit des Körpers bildet jenen Widerstand gegen die von außen kommenden Reize, der zugleich die Möglichkeit ihrer Verarbeitung bedeutet, so daß die Denktätigkeit als eine Äußerung der Unabhängigkeit des Subjekts aufgefaßt werden kann. Die hiermit angedeutete Selbstorganisation des menschlichen Organismus (gegenüber seiner Umwelt) läßt sich auch als eine mediale Qualität des Körpers beschreiben, Reize aufzunehmen, weiterzuleiten, umzuformen, wobei dem Denken eine wichtige Rolle zukommt, da hier das Subjekt ›berechnen‹ (ratio) kann, wie die durch die Reize vermittelte Situation einzuschätzen und welche Reaktion angemessen ist. Im folgenden unterscheidet Hobbes zwei Arten von Gedankenfolgen: die einen sind »ungesteuert, absichtslos und unbeständig«38, die »zweite Art ist beständiger, denn sie wird von einem Verlangen und einer Absicht geregelt.«39 Dabei liegt der ersteren »kein leidenschaftlicher Gedanke zugrunde, der die folgenden auf sich selbst als Ziel oder Gegenstand eines Verlangens oder einer anderen Leidenschaft lenkte oder richtete.«40 Dieses zusammenhanglose Umherschweifen der Gedanken läßt sich dennoch entgegen dem ersten Anschein oft rekonstruieren: »Aber selbst in diesem wilden Durcheinander des Geistes kann man oftmals den Weg der Gedanken und ihre gegenseitige Abhängigkeit erkennen.«41 Das Beispiel, an dem Hobbes seine Behauptung demonstriert, ist eine rein inhaltsgesteuerte, semantische Assoziationskette: »Denn was schiene in einem Gespräch über unseren gegenwärtigen Bürgerkrieg unangebrachter als zu fragen, wie dies einer tat: ›Was war denn ein römischer Silberling wert?‹ Doch mir war der Zusammenhang deutlich genug. Denn der Gedanke an den Krieg führte zu dem Gedanken an die Auslieferung des Königs an die Feinde, das Denken daran erinnerte an die Auslieferung Christi, dieses an die dreißig Silberlinge, die der Lohn dieses

38. 39. 40. 41.

Hobbes 1651, 19. Hobbes 1651, 20. Hobbes 1651, 19. Hobbes 1651, 20. 147

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Verrats waren, und daraus entstand leicht diese boshafte Frage, und zwar all dies in der Zeit eines Augenblicks, denn die Gedanken sind schnell.«42 Hobbes generelles Bestreben einer realistischen Pazifizierung des von Gegensätzen individueller Interessen durchzogenen gesellschaftlichen Zusammenlebens figuriert hier als Assoziationshintergrund. Die für das Zeitalter der Religionskriege weitverbreitete Erfahrung der Gesellschaft als Ort der unkalkulierbaren, anthropologisch vielleicht unvermeidlichen Gewaltausübung determiniert den Gedankengang: Im Kontext der Kriegserfahrung ist schon die bloße Erwähnung von Silberlingen ein unruhestiftender Kristallisationspunkt, den es besser zu vermeiden gilt. Denn die Frage nach dem Wert des Silberlings läßt an den Lohn des Verrats denken, mit dem die Auslieferung Christi vergolten worden sein soll, was wiederum den allgemeinen Gedanken der Auslieferung des Königs an die Feinde aufruft. In Zeiten des Krieges aller gegen alle kann schon eine einfache Nachfrage nach historischem Wissen sehr »schnell«, wie Hobbes betont, zu einer gefährlichen Überlegung führen. In dieser Perspektive gerät »leicht« alles Denken unter Verdacht und mit unschuldigen Äußerungen ist es endgültig vorbei: Deshalb kann es sich unter gegebenen kriegerischen Umständen nur um eine »boshafte Frage« gehandelt haben, »denn was schiene in einem Gespräch über unseren gegenwärtigen Bürgerkrieg unangebrachter« als diese Frage zu stellen? Ein komplexeres Feld dieser ersten Art eines ungerichteten train of thoughts ist der Traum, der durchaus die Leidenschaften – wenn auch ziellos – ebenso einbezieht wie den Körper. Hobbes’ Traumkonzept hebt hervor, daß das Material der Traumeinbildungen letztlich und in toto aus früheren Eindrücken stammt und durch die Eigenbewegung des Körpers und seiner Teile (wieder) hervorgerufen wird. Dabei können die Traumbilder sich sogar deutlicher als andere Einbildungen zeigen, da sie durch keine neuen Eindrücke von außen abgeschwächt werden, und infolge dessen ergeben sich leicht Verwechslungen zwischen Traum und Wirklichkeit: »Daher kommt es, daß die genaue Unterscheidung zwischen Empfindung und Traum ein schwieriges Problem ist und von manchen für unmöglich gehalten wird. Wenn ich meinesteils bedenke, daß ich im Traum weder oft noch ständig an die gleichen Personen, Orte, Gegenstände und Handlungen denke wie im Wachen, daß ich mich im Traum auch nicht an so lange zusammenhängende Gedankenfolgen erinnere, wie zu anderer Zeit, und weil ich wachend oft die Widersinnigkeit der Träume bemerke, aber nie von der Widersinnigkeit meiner Gedanken beim Wachen träume, so bin ich sehr zufrieden, daß ich im Wachen weiß, daß ich nicht träume, obwohl ich mich im Traum für wach halte.«43 Offensichtlich ist Hobbes davon überzeugt, daß die Logik der Gedankenführung das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung von Wachen und Träumen

42. Ebd. 43. Hobbes 1651, 15. 148

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

ist. Dazu paßt auch, daß die Wirrheit der Träume ein durch und durch physiologisches Problem ist: nämlich hervorgerufen durch eine »Störung eines der inneren Körperteile«. Kaltes Liegen z. B. verursacht Angstträume. Diese Physiologie bezieht sich zwar auf kontingente Ursachen, ist jedoch nicht vollkommen irrational: Denn »das Bild eines gefährlichen Gegenstandes [wird] hervorgerufen, da die Bewegung vom Gehirn zu den inneren Teilen und von den inneren Teilen zum Gehirn umkehrbar ist.«44 Normalerweise erhitzt Zorn das Gemüt, während umgekehrt Hitze den Träumenden in zornige Stimmung versetzt und »im Gehirn die Einbildung eines Feindes entstehen«45 läßt. Aus der gewöhnlichen Verbindung von empirisch-kontingenten Eindrücken und den Leidenschaften ergibt sich auch für den Traum eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Kombinatorik: Wie im alltäglichen Wachzustand ein Eindruck die Leidenschaften reizt und dadurch den Körper in Erregung, in Hitze versetzt, so kann umgekehrt die körperliche Erhitzung im Schlaf eine mit einer Leidenschaft verbundene Vorstellung und den dazugehörigen Affekt hervorrufen. Dieses Prinzip der Reversibilität der Vorgänge spielt später für die Psychotherapie, namentlich bei Freud eine wichtige Rolle.46 Die theoretische Annahme wird benötigt, um die Tätigkeit des Therapeuten in einen sinnvollen praktischen Rahmen zu stellen. Man fühlt sich an die funktionelle Regression im Modell des psychischen Apparats erinnert, wenn es bei Hobbes heißt: »Unsere Träume stellen die Umkehrung unserer Einbildungen beim Wachen dar; wenn wir wachen, beginnt die Bewegung an einem Ende, wenn wir träumen, an einem anderen.«47 Deshalb hat der Traum zwar kontingente, körperliche und schlafbedingte Ursachen, aber gleichwohl enthält er eine Determination in der Weise, daß zu bestimmten Empfindungen des Körpers entsprechende, gewohnte Vorstellungen hervorgerufen werden. Vor diesem Hintergrund erstaunt Hobbes’ Erläuterung der zweiten Art der Gedankenfolge – der beständig-geregelten consequence – umso mehr, daß es paradoxerweise gerade die gefährlichen Leidenschaften sind, die eine gewisse Beständigkeit in den wechselhaften Geist bringen. Das Verlangen der Menschen nach bestimmten Dingen gibt ihrem Denken und Erleben eine Richtung und darüber hinaus die Möglichkeit, eine Ordnung gemäß diesen Leidenschaften zu stiften. Damit ist ein Anhaltspunkt gegeben, an den sich immer wieder anknüpfen läßt – sowohl für das denkende Subjekt als auch für das hier zur Diskussion stehende Verhältnis von Assoziation und Medialität: »Aus dem Verlangen entsteht der Gedanke an ein Mittel, von dem wir gesehen haben, daß es etwas von der Art des Angestrebten hervorbringt, und aus dem Gedanken daran der Gedanke für ein Mittel für dieses Mittel, und so geht es beständig weiter, bis wir auf einen Anfang

44. 45. 46. 47.

Ebd. Hobbes 1651, 16. Freud 1900, 518 [Zusatz 1914], Anm. 2. Hobbes 1651, 16. 149

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kommen, der in unserem Machtbereich liegt.«48 Diese Art zu denken, ein Nachdenken über Mittel und Wege zur Erreichung eines Zieles, ist also ebenso ein Vorausdenken, ein Probehandeln im Freudschen Sinne. Je stärker der mit dem Ziel verbundene Eindruck, desto stärker zieht es das Denken immer wieder zu ihm hin. »Respice finem!«49 lautet das Motto, unter dem dieses Denken steht, dessen zielgerichtete Folge die Medialität des Körpers für Erfahrung und Erinnerung zugunsten einer Medialität des Denkens ablöst: »Das soll heißen: Bedenke bei all deinen Handlungen immer wieder das, was du haben möchtest, da dies das Ding ist, das alle deine Handlungen auf den Weg lenkt, auf dem es zu erreichen ist.«50 Um angemessen zu handeln, bedarf es der Erkenntnis der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Zwei Schlußarten stehen zu Gebote, wenn jeweils nur ein Glied der möglichen Verknüpfung bekannt ist: Ausgehend von einer bekannten (Hobbes spricht vorsichtig von »eingebildeten«) Wirkung die vermutliche Ursache zu finden, setzt auf »Suchen oder die Fähigkeit des Erfindens« (»sagacitas und solertia«).51 Da »das Aufspüren der Ursachen einer gegenwärtigen oder vergangenen Wirkung oder der Wirkungen gegenwärtiger oder vergangener Ursachen« von einem Nacheinander der Ereignisse auszugehen hat und sich deshalb in zeitlicher Dimension erstreckt, bedarf es der Erinnerung und der Voraussicht. Ein »methodisches Nachsuchen« im Geiste, vergleichbar der Suche nach einem verlorenen materiellen Gegenstand, kehrt also zu den vorgestellten Orten zurück, »um herauszufinden, welche Handlung oder welch anderer Umstand ihn veranlaßt haben könnte, den Gegenstand zu verlieren.«52 Mit dieser handlungstheoretischen Deutung der mentalen Operation ist auch schon der Horizont deutlich geworden, in dem der Geist für Thomas Hobbes politische Philosophie wichtig ist, nämlich letztlich als Element des »Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates«, wie der ausführliche Titel des Buches lautet. Wenn also zur kognitiven Orientierung auch der Zugriff auf die zeitliche Dimension gehört, dann handelt es sich also in assoziationstheoretischer Hinsicht darum, »einen sicheren und begrenzten Ort und Zeitpunkt zu finden, um dort ein methodisches Nachsuchen zu beginnen.«53 Ausgehend von einem solchen Anknüpfungspunkt kann die Kette der Ereignisse qua Vorstellungstätigkeit abgesucht bzw. selbst erst herausgefunden werden: »Dies nennen wir Erinnerung oder In-den-Geist-rufen: die Lateiner nennen es reminiscentia, als handelte es sich um ein Zurückleiten unserer früheren Handlungen.«54 In vergleichbarer Weise erschließen »Voraussicht, Klugheit oder Vorsehung und manchmal Weisheit« die Zukunft, indem die Erinnerung an vergleichbare Ausgangslagen auf die gegen-

48. 49. 50. 51. 52. 53. 54.

Hobbes 1651, 20. Ebd. Ebd. Hobbes 1651, 21. Ebd. Ebd. Ebd. 150

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

wärtige Konstellation übertragen wird, um eine Extrapolation nach Analogie des von damals bekannten Falls zu bewerkstelligen.55 Klugheit erweist sich darin, wie wenig einen »seine Erwartungen täuschen«.56 Bündig und illusionslos formuliert Hobbes: »Nur die Gegenwart existiert in der Natur, die Vergangenheit existiert nur in der Erinnerung, aber zukünftige Dinge existieren überhaupt nicht, da die Zukunft nur eine Fiktion des Geistes ist, der die Folgen vergangener Handlungen auf eine gegenwärtige anwendet.«57 Und so nimmt die Kenntnis und Lehre von den Zeichen eine zentrale Rolle für das Kalkulieren in zeitlicher Hinsicht ein, sowohl für die »Mutmaßung der Zukunft« wie die der Vergangenheit. In jedem Fall kommt dem Zeichen eine prognostische Funktion zu, denn es vermag auf Ereignisse hinzuweisen, die gegenwärtig nicht gegeben sind: »Ein Zeichen ist ein Ereignis, das dem folgenden vorausgeht und, im Gegensatz dazu, die Folge des vorausgegangenen Ereignisses, wenn die gleichen Folgen schon vorher beobachtet worden sind.«58 Und wie wichtig diese laut Hobbes natürlichen menschlichen Fähigkeiten sind, wird deutlich, wenn vom begrenzten Wesen des menschlichen Geistes die Rede ist: »Alles, was wir uns vorstellen, ist endlich. Deshalb gibt es weder Idee noch Vorstellung von etwas, das wir unendlich nennen. Niemand kann in seinem Geist ein Bild von unendlicher Größe besitzen oder sich unendliche Geschwindigkeit, unendliche Zeit, unendliche Kraft oder unendliche Macht vorstellen.«59 Diese Redeweise vom Unendlichen ist ein reiner Negationsbegriff und damit eher ein Ausdruck »unserer eigenen Unfähigkeit«, über unsere Endlichkeit hinauszugelangen.60 Deshalb ist auch die philosophische Analyse der menschlichen Natur allein auf die in ihr enthaltenen und beobachtbaren Fähigkeiten ausgerichtet. Beide von Hobbes genannten assoziativen Gedankenfolgen aber spiegeln sich letztlich auch im Medium der Sprache: »Allgemein wird die Sprache dazu gebraucht, unser sich im Geiste abspielendes Denken in wörtlich geäußertes oder die Folge unserer Gedanken [the train of our thought] in eine Folge von Wörtern [a train of words] zu übertragen«.61 Beide hier skizzierten Arten der trains of thoughts beziehen sich auf erinnerte Eindrücke, auf Spuren also, die in unterschiedlicher Weise entziffert und rekombiniert werden und damit stetig neue Beziehungen untereinander und d. h. neue reflexive Strukturen bilden – Eindrücke zweiter Ordnung sozusagen.

55. Welche Wirkung bzw. Folge eine gegebene Ursache zeitigt, erläutert Hobbes am Beispiel der Kriminalität: »So erinnert sich auch derjenige, welcher das Ende eines Verbrechers vorhersieht, daran, was er als Folge eines früheren, gleichartigen Verbrechens gesehen hat, wobei ihm die Reihenfolge der Gedanken vor Augen steht: das Verbrechen, die Polizei, das Gefängnis, der Richter und der Galgen.« (Hobbes 1651, 21) 56. Ebd. 57. Ebd. 58. Hobbes 1651, 22. 59. Hobbes 1651, 23. 60. Ebd. 61. Hobbes 1651, 25. 151

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Diese Prozesse – sei es, daß sie absichtslos umherschweifend oder in gezielten Schritten ablaufen – sind im Medium der Sprache angesiedelt, dem Hobbes mit dem Festhalten und dem Mitteilen zwei fundamentale Zwecke zuschreibt: »Der eine davon ist das Aufzeichnen der Folgen unserer Gedanken. Diese entgleiten leicht unserem Gedächtnis und machen uns neue Arbeit, können aber mit Hilfe der Wörter, durch die sie gekennzeichnet sind, wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden. So werden also die Namen zuerst als Merk- oder Kennzeichen [marks or notes] der Erinnerung gebraucht. Sodann können sich viele Menschen, wenn sie dieselben Wörter gebrauchen, gegenseitig durch Verbindung und Ordnung der Wörter zu verstehen geben, was sie sich unter jeder Sache vorstellen oder was sie über sie denken, sowie, was sie wünschen, fürchten oder sonst für Gefühle haben. Und hinsichtlich dieses Gebrauchs nennt man sie Zeichen [signs].«62 Das Gedächtnis taucht also in Zusammenhang mit den Worten auf und ist der materiale Grund für die Insistenz des Erinnerten. Aber um auch eine Dauerhaftigkeit über den individuellen Geist hinaus zu erlangen, bedarf es der besonderen Leistung der Sprache, sich mit ihrer Hilfe anderen mitzuteilen: »Um Erfahrungen festzuhalten, die der Anfang der Philosophie sind, benötigt der Mensch Merkzeichen (notae). Diese sind ›wahrnehmbare Dinge (res sensibiles), die wir wirklich benutzen, so daß durch ihre Wahrnehmung Gedanken in die Seele zurückgerufen werden können, welche denjenigen ähneln, denen wir sie zugeordnet hatten.‹ […] Sollen diese Erfahrungen anderen mitgeteilt werden, dann müssen die Zuordnungen allgemein verstanden werden; solche Zeichen nennt Hobbes Anzeichen (signa).« 63 Die im zwischenmenschlichen Verkehr gebrauchten Zeichen haben die Doppelfunktion, dem Sprechenden seine Gedanken verfügbar zu machen und dem Zuhörenden zugleich Kunde von diesen sonst nicht wahrnehmbaren inneren Vorgängen zu geben. Die geübte Lektüre der Anzeichen gehört zur Klugheit des sozialen Wesens Mensch, auch in politischen Angelegenheiten einen Ausgleich der Interessen erlangen zu können. Darüber hinaus eröffnet sich eine überindividuelle Perspektive für die Erinnerung und das im Gedächtnis angesammelte Wissen, da jetzt Übertragungsvorgänge von Individuum zu Individuum möglich werden. Die Konstanz der Gedanken durch Merkzeichen beim einzelnen (individuelles Gedächtnis) geht über in eine kollektiv geteilte Form des Wissens (transindividuelles Gedächtnis).64 Damit hat Hobbes einen Übergang von der schnellen Asso-

62. Ebd. 63. Wahrig-Schmidt 1994, 84. 64. »Die Funktion der ›notae‹ als ›res sensibiles‹ ist zunächst, den Gedanken des Menschen, die von Natur aus flüchtig, ›fluxae et caducae‹ sind, Konstanz zu verleihen, indem ähnliche Gedanken denselben ›notae‹ zugeordnet werden und so zum einen dem Gedächtnis und zum anderen auch der Überlegung, dem ›ratiocinare‹, eine Art ›Speicher‹ 152

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ziation im Medium flüchtiger Gedanken hin zur Verstetigung des Wissens im kommunikativ geteilten Medium von Sprache und Sprechen nachgezeichnet.

Die »Assoziation der Ideen« als Wissensproduktion: John Locke John Locke führt den Ausdruck association in die philosophische Tradition ein. Da der englische Empirismus sich gerade in Abgrenzung zum Rationalismus konstituiert und die Herkunft der Idee (ideas) allein aus den Wahrnehmungen der menschlichen Sinne ableiten will, werden – wie schon bei Hobbes – die Erfahrung und mit ihr die Vorstellungsfolgen zum Ausgangspunkt der philosophischen Theorie. Nach Locke gibt es einfache und aus diesen zusammengesetzte Vorstellungen. Die ersteren werden hervorgerufen durch einzelne Sinne (Farbe durch das Auge, Ton durch das Ohr) oder durch das Zusammenwirken mehrerer Sinne (die Vorstellung des Raumes oder der Ausdehnung). Aber auch nur durch Reflexion, d. h. durch Selbstwahrnehmung des Geistes gelangen wir ebenso zu Vorstellungen (z. B. zu der der Wahrnehmung, des Denkens, des Verlangens und Wollens) wie schließlich durch das Zusammenwirken der Sinne und der Reflexion (Freude, Vergnügen, Schmerz, Lust, Kraft, Dasein und Einheit werden genannt)65. Die zusammengesetzten Vorstellungen entstehen durch die Verfahren der Verbindung (= Verschmelzung), der Zusammenstellung (= Komplikation) ohne Verschmelzung und des Abtrennens: Das Abtrennen bringt allgemeine Ideen hervor, das Zusammenstellen betont die Relation zwischen zweien, und das Verschmelzen erzeugt eine komplexe Vorstellung. Das Kapitel Über die Assoziation der Ideen der Schrift Versuch über den menschlichen Verstand erörtert dann dieses Phänomen der Vorstellungsfolge in einem deutlich naturalistischen Kontext, nämlich inwiefern die Assoziation Ursache falscher Urteile, Irrtümer jeder Art, ja des Wahnsinns selber sein könne. Etwas Unvernünftiges steckt in jedem Menschen, und nur Vernunft bewahrt davor. Jede Abweichung von Vernunft ist prinzipiell Wahnsinn, auch wenn er sich in der Regel bloß in abgeschwächter Form äußert.66 Die Stärke der Vernunft beruht nun

zu geben. Diese Speicher sind aber immer noch vergänglich, solange sie individuell bleiben und daher mit dem Tod des Individuums vergehen; erst wenn das Wissen eines Menschen den anderen zugänglich gemacht werden kann, dient es wirklich der Vermehrung der Wissenschaft zum Wohl des ›gesamten menschlichen Geschlechts‹ […]. Dafür muß das Merkzeichen zum Zeichen, muß die nota zum signum werden.« (Wahrig-Schmidt 1994, 85) 65. Vgl. Locke 1690, 2. Bd., III. Kapitel, § 1, S. 129ff.; im folgenden zitiert: Locke 1690, 2. III, 1, 129ff. 66. »Man wird mir verzeihen, wenn ich dieser Erscheinung den harten Namen Wahnsinn beilege, sobald man bedenkt, daß jeder Widerspruch gegen die Vernunft diese Bezeichnung verdient und tatsächlich Wahnsinn ist. Kaum einer ist so frei davon, als daß er nicht eher für das Irrenhaus als für eine gebildete Unterhaltung geeignet erscheinen würde, falls er ständig und bei jeder Gelegenheit so argumentieren und so handeln wollte, wie er unter bestimmten Umständen immer wieder tut. [...] Wenn es sich hier um 153

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darin, richtige von falschen Vorstellungsverknüpfungen zu unterscheiden: »Manche unserer Ideen stehen in natürlicher Wechselbeziehung und Verbindung miteinander. Es ist die Aufgabe und das Verdienst unserer Vernunft, diese aufzuspüren und die Ideen in der Einheit und Wechselbeziehung zu erhalten, die in ihrem besonderen Wesen begründet sind.«67 Daß Locke ohne weiteren Kommentar zum nächsten Punkt übergeht, zeigt, daß er bei aller Skepsis gegenüber angeborenen Ideen, wie er sie wohl aus Descartes’ Philosophie kennt,68 der äußeren wie inneren Wahrnehmung unhinterfragt vertraut – die einfachen Ideen sind keine Täuschungen: »wir haben nur einige wenige, oberflächliche Ideen von den Dingen, die uns ausschließlich durch unsere Sinne von außen oder durch den über seine eigenen inneren Erfahrungen reflektierenden Geist zugeführt werden. Darüber hinaus besitzen wir keine Kenntnis.«69 Da wir nichts über das Wesen der Dinge wissen, sondern nur, wie sie uns durch Sinnlichkeit (Sensation) und Reflexion erscheinen, ist jeder metaphysischen Spekulation in dieser Richtung von Locke das Vertrauen entzogen: »Jedenfalls ist es einleuchtend, daß die einfachen Ideen [...] nichts anderes darstellen als etwas, das wir von der Sensation und der Reflexion empfangen haben.«70 Was also als letzter Grund bleibt, ist die Erfahrung, die bezüglich der Erkenntnis der einfachen Ideen durch Gott qua Vorstellungsfolge »nach feststehenden Gesetzen« im Menschen erzeugt werde: »Unsere einfachen Ideen sind lediglich solche Wahrnehmungen, zu deren Empfang uns Gott ausgerüstet hat. Den äußeren Objekten aber hat er die Kraft verliehen, diese Wahrnehmungen nach feststehenden Gesetzen und auf bestimmten Wegen, die uns zwar unbegreiflich, dennoch aber seiner Weisheit und Güte angemessen sind, in uns zu erzeu-

eine Schwäche handelt, der alle Menschen leicht unterliegen, um einen Makel, der ihnen allgemein anhaftet, so sollte man sich um so mehr bemühen, ihn unter seinem rechten Namen offen darzulegen, damit dadurch eine um so größere Sorgfalt, ihn zu verhüten und zu heilen, erweckt werde.« (Locke 1690, 2. XXXIII, 4, 499) 67. Locke 1690, 2. XXXIII, 5, 499. 68. Das ganze 1. Buch setzt sich mit der Auffassung angeborener Ideen auseinander. 69. Locke 1690, 2. XXIII, 32, 391. »Aus dem, was über unsere einfachen Ideen gesagt wurde, ergibt sich meines Erachtens klar, daß keine von unseren einfachen Ideen in bezug auf die außer uns existierenden Dinge falsch sein kann. [...] Die Wahrnehmungen im Geist sind gerade so, wie sie dort sind.« (Locke 1690, 2. XXXII, 16, 491f.) Locke kommt zu dieser Behauptung im Rahmen der Unüberschreitbarkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens, welches sich eben nur auf die ihm eigenen Fähigkeiten der sinnlichen Wahrnehmung und des reflektierenden Denkens stützen kann. Unwahrheit kommt erst durch falsche Urteile ins Spiel: Tatsächlich ist es so, »daß in allen Fällen, in denen eine Idee wahr oder falsch genannt wird, das auf Grund eines Urteils geschieht, das der Geist fällt oder angeblich fällt und das wahr oder falsch ist.« (Locke 1690, 2. XXXII, 19, 494) 70. Locke 1690, 2. XXIII, 32, 391f. 154

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

gen. Ihre Wahrheit besteht daher in nichts anderem als in den Erscheinungen, die in uns erzeugt werden; diese aber müssen den Kräften entsprechen, die Gott in die äußeren Objekte gelegt hat, denn sonst könnten sie nicht in uns erzeugt werden. Indem sie so diesen Kräften entsprechen, sind sie, was sie sein sollen, nämlich wahre Ideen.«71 Diese gottverbürgte Ordnung der einfachen Ideen, d. h. die Assoziation qua »natürlicher Wechselbeziehung« (s.o.), ist aber beständig bedroht durch die Wechselfälle des Lebens und die Unterlassung des Vernunftgebrauchs aus Bequemlichkeit, die die Assoziation qua »Zufall oder Gewohnheit« provozieren: »Außerdem gibt es noch eine andere Verbindung von Ideen, die lediglich auf Zufall oder Gewohnheit beruht. Ideen, die an und für sich nicht verwandt sind, werden im Geist mancher Menschen für sich verknüpft, daß sie sehr schwer voneinander zu trennen sind. Sie bleiben stets in Gesellschaft; sobald die eine im Verstand auftaucht, stellt sich zugleich auch ihre Gefährtin ein. Sind mehr als zwei Ideen verbunden, taucht die ganze Reihe, die ständig untrennbar ist, gleichzeitig auf.«72 Individuelle Kombinationen sind Produkte geistiger Willkür oder des Zufalls, sofern sie nicht als Schöpfungen der Vernunft auszuweisen sind, die im Rückgang auf die einfachen Ideen den Wahn von evidenter Erfahrung zu scheiden weiß. Diese beiden Arten der Assoziation lassen sich als »eine Art von Ähnlichkeitsassoziation« (natürliche Wechselbeziehung) und »eine Art von Kontiguität« (lediglich Zufall oder Gewohnheit) fassen.73 Die eminente Bedeutung der Assoziation für Weltwahrnehmung und Wissensproduktion, wie sie in Lockes Schriften so folgenreich hergeleitet wird, richtet sich sowohl gegen den Standpunkt des ›reinen Sensualismus‹ als auch gegen die Metapher von der tabula rasa des Geistes. Amin hat betont, daß Locke mit der Herkunft der einfachen Ideen »aus den Sinnes- wie aus der Selbst-Wahrnehmung« den Standpunkt des »reinen Sensualismus« verlasse: »Denn eine tätige Seele, die zusammengesetzte Vorstellungen bildet und sich auch mittels des Erkenntnisvermögens an der Erinnerung aktiv betätigt, paßt nicht zum einseitigen Sensualismus«74. Was den Geist betrifft, so lautet der Titel des 1. Buchs zwar: »Weder Prinzipien noch Ideen sind angeboren«. Das scheint auf die berühmte Annahme einer tabula rasa hinauszulaufen: »Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen«.75 Jedoch wird dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, daß zugleich konzediert wird, daß auch diese Art des Philosophierens etwas voraussetzt. Denn Locke nimmt sich nur vor zu zeigen, »wie sich die Menschen allein durch den Gebrauch ihrer natür-

71. 72. 73. 74. 75.

Locke 1690, 2. XXXII, 12, 489. Locke 1690, 2. XXXIII, 5, 499. Vgl. Amin 1973, 52. Amin 1973, 52. Locke 1690, 2. I, 2, 107. 155

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

lichen Fähigkeiten ohne Zuhilfenahme irgendwelcher angeborenen Eindrücke alle Kenntnisse, die sie besitzen, aneignen und ohne solche ursprünglichen Begriffe oder Prinzipien zur Gewißheit gelangen können.«76 Diese ›natürlichen Fähigkeiten‹ heißen vorzüglich Verstand und Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes mit Hilfe seiner Organe. Erkenntnisvermögen im weitesten Sinne ist demnach vorausgesetzt. Der gesamte Versuch über den menschlichen Verstand richtet sich also hauptsächlich dagegen, daß Ideen, d. h. Vorstellungen eingeboren sind, welche eben das Material jeder Geistestätigkeit darstellen, nicht aber dagegen, daß die Fähigkeit, überhaupt Vorstellungen zu haben und diese reflektieren, also denken zu können, angeboren ist. Diese Fähigkeit muß vielmehr vorausgesetzt werden, da sie selbst nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden kann, sondern Erfahrung erst ermöglicht (wenn auch nicht allein verursacht). Keine Erfahrung ist in der Lage, die für sie notwendigen Bedingungen im Individuum hervorzurufen, die wiederum sie erst möglich machen. Der äußeren Welt begegnet eine innere Natur, Sensationen sind die erste Auffassungsart dieser für jene, Repräsentation der Status der ersten in der zweiten. In gewissem Sinne tautologisch mutet es an, Menschen erst beweisen zu wollen, daß sie »alle Kenntnisse, die sie besitzen«, sich selbst »aneignen«, wenn andererseits die Ideen, auch die sog. »angeborenen«, als »Eindrücke« bezeichnet werden. Eindrücke rühren ja schon immer von etwas her, einer Wahrnehmung des Außen oder des Innen. Ein Aneignungsprozeß verschafft Kenntnis: Wissen bedarf also der Erfahrung. Anders gesagt: Unmittelbares Wissen (nämlich Wissen von der Welt) kann es nach Locke nicht geben: Weder wissen wir immer schon oder mit dem ersten Augenaufschlag etwas von der Welt, noch können wir je etwas wissen oder gewußt haben vom Wesen der Welt, von der Welt und den Gegenständen, wie sie an sich sind. Damit ist das Begründungsproblem der Erkenntnis allerdings nur verschoben. Was Locke auf der einen Seite als angeborene Ideen bekämpft – weil sie spekulativ ohne Berufung auf Erfahrung vorausgesetzt seien –, kehrt – ebenso spekulativ – auf der anderen Seite wieder: Die Natur des Menschen, die »Lebensgeister«77, finden wir in uns vor, und Locke beabsichtigt auch nicht, dies zu bestreiten. »Diese Kräfte des Geistes, nämlich die Kraft der Wahrnehmung und Bevorzugung«, auch »Wille« genannt,78 bleiben allerdings zu unspezifisch, um in Hinblick auf das Phänomen Assoziation und seine Konstitution weiterhelfen zu können.

Assoziationen und Leidenschaften: David Hume In der Nachfolge Lockes kommt David Hume das Verdienst zu, dem assoziationspsychologischen Standpunkt eine breite Wirksamkeit verschafft zu haben, den Assoziationen einen besonderen Platz einzuräumen und eine sorgfältige

76. Locke 1690, 1. I, 1, 29. Vgl. dort auch: Sendschreiben an den Leser a.a.O., S. 17. 77. Locke 1690, 2. VIII, 4, 145. 78. Locke 1690, 2. XXI, 5, 280f. 156

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Klassifikation ihrer Arten vorzunehmen. Seine sich streng deskriptiv verstehende Analyse des menschlichen Geistes – An Enquiry Concerning Human Understanding (1748/58) – unterscheidet die Perzeptionen oder Bewußtseinsinhalte des Geistes (perceptions of the mind) in Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas). Eindrücke sind primäre Perzeptionen von lebhaftem Charakter, »also alle unsere lebhafteren Auffassungen, wenn wir hören, sehen, tasten, lieben, hassen, wünschen oder wollen. Eindrücke sind von Vorstellungen unterschieden, welche die weniger lebhaften Auffassungen sind, deren wir uns bewußt werden, wenn wir uns auf eine jener oben erwähnten Wahrnehmungen oder Regungen besinnen.«79 Erinnerung und Einbildung bedienen sich der Vorstellungen. Wie bei Locke gibt es einfache und zusammengesetzte Elemente im Seelenleben: Die einfachen lassen keine weitere Untergliederung zu, die zusammengesetzten gehen auf jene zurück. Hume behauptet, »daß alle unsere einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrücken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben.«80 Die zeitliche Priorität der Eindrücke beseitigt für ihn das Problem der ideae innatae. Sinneswahrnehmung und Selbstwahrnehmung gelten als die beiden Quellen aller Eindrücke und sind damit letzter Grund der Erkenntnis. Vorstellungen sind Produkte der ebenso wie bei Locke vorausgesetzten Vermögen der menschlichen Natur, der Erinnerung und der Einbildungskraft. Erinnerung reproduziert die Vorstellungen in der Ordnung, in der sie einmal aufgetreten sind, während die Einbildungskraft nicht an diese Reihenfolge gebunden ist. Eine gänzlich zufällige oder willkürliche Arbeitsweise des menschlichen Geistes ist aber nicht behauptet, vielmehr wird eine »regelmäßige Folge oder Kette von Vorstellungen« entworfen: »Es ist offenbar, daß ein Prinzip für die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Gedanken oder Vorstellungen des Geistes besteht, und daß sie bei ihrem Erscheinen im Gedächtnis oder in der Einbildungskraft einander in gewissem Grade methodisch und regelmäßig einführen. Bei ernsthafterem Nachdenken oder Gespräch ist dies so auffallend, daß irgend ein einzelner Gedanke, der die regelmäßige Folge oder Kette von Vorstellungen durchbricht, sofort bemerkt und zurückgewiesen wird. Und selbst in unseren wildesten und schwärmendsten Phantasien, ja in unseren Träumen, läßt die Überlegung uns finden, daß die Einbildungskraft nicht ganz aufs Geratewohl ausschweifte, sondern daß zwischen den verschiedenen einander folgenden Vorstellungen doch noch eine Verknüpfung bestehen blieb.«81 Die Kontinuität des mentalen Geschehens kommt durch Verknüpfung, durch Assoziationstätigkeit zustande, welche sich sogar noch dort nachweisen läßt, wo

79. Hume 1748, 18. 80. David Hume: Treatise, Bk. l, Pt. l, Sect. I, S. 314 (deutsch S. 13) bei Amin 1973, 55. 81. Hume 1748, 24. 157

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

scheinbar kein Zusammenhang, sondern ein Bruch vorzuliegen scheint. Der grundlegende Charakter des Geistes ist seine Zusammenhangsbildung noch über alle Verschiedenheiten und Brüche hindurch – ein methodisches Postulat, an dem selbst die Freudsche Psychoanalyse festhalten wird. Neben dem ›empirischen‹, heute sicher nicht haltbaren Argument, daß selbst in den entferntesten Sprachen, zwischen denen »nicht die geringste Verknüpfung oder Beeinflussung vermutet werden kann, [...] Wörter, die höchst zusammengesetzte Vorstellungen ausdrücken, doch nahezu einander entsprechen«, was Hume als »ein sicherer Beweis« dafür gilt, »daß die einfachen, in den zusammengesetzten enthaltenen Vorstellungen durch irgend ein allgemeines Prinzip verbunden sind, welches auf die ganze Menschheit den gleichen Einfluß übt«, führt er seine Klassifikation der Assoziationsprinzipien an: »Soviel ich sehe, gibt es nur drei Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung, nämlich Ähnlichkeit, Berührung in Zeit oder Raum, und Ursache und Wirkung.«82 Auch diese Prinzipien gründen in der Natur: »Wir finden hier also eine Art prästabilierter Harmonie zwischen dem Laufe der Natur und der Abfolge unserer Vorstellungen; und obgleich die Macht und die Kräfte, welche den ersteren regieren, uns völlig unbekannt sind, so haben doch unsere Gedanken und Vorstellungsbilder, wie wir sehen, dieselbe Bahn verfolgt wie die anderen Naturwerke. Die Gewohnheit ist dasjenige Prinzip, durch welches diese Übereinstimmung bewirkt wurde, die so notwendig ist zur Erhaltung unserer Art und zur Regelung unseres Verhaltens in allen Lagen und Vorkommnissen des menschlichen Lebens.«83 Für Hume genügt die Natur als Ausweis für die Tragfähigkeit seiner Argumentation, da die Newtonsche Physik als legitimes Vorbild der Erkundung der äußeren Welt dazu dient, analog die innere zu erkunden: »Es entspringt mehr der üblichen Weisheit der Natur, einen so notwendigen Akt des Geistes [gleiche Wirkungen aus gleichen Ursachen abzuleiten und umgekehrt] durch einen Instinkt oder eine mechanische Tendenz sicherzustellen; denn diese kann unfehlbar in ihrer Wirksamkeit sein, kann sich beim ersten Auftreten des Lebens und Denkens zeigen und unabhängig von all den mühsam erarbeiteten Deduktionen des Verstandes bleiben. Wie die Natur uns den Gebrauch unserer Glieder gelehrt hat, ohne uns Kenntnis von den Muskeln und Nerven zu geben, die sie bewegen, so hat sie uns einen Instinkt eingepflanzt, welcher unser Denken in einer Richtung vorwärts treibt, die mit jener übereinstimmt, die sie für die äußeren Dinge festgesetzt hat«.84

82. Hume 1748, 24f. 83. Hume 1748, 68. 84. Und noch einmal folgt – quasi als skeptische Zugabe – die Versicherung, all dies geschehe, »obwohl wir die Mächte und Kräfte nicht kennen, von denen diese regelmäßige Reihe und Folge von Gegenständen ganz und gar abhängt.« (Hume 1748, 68f.) 158

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Damit gilt die Herkunft der Vorstellungen des menschlichen Geistes als gesichert. Bliebe es bei dieser Bestimmung des Geistes, das Psychische unterläge einem vollständigen Determinismus. Wie aber zuvor schon erwähnt, gibt es da noch die Einbildungskraft, die sich diesen Vorbestimmungen nicht beugt: »Nichts ist so frei, wie die menschliche Einbildungskraft; kann sie auch den ursprünglichen Vorrat an Vorstellungen nicht überschreiten, den die inneren und äußeren Sinne liefern, so hat sie doch unbeschränkte Macht, diese Vorstellungen zu all den mannigfaltigen Gebilden, die sie dichtet und schaut, zu mischen, zusammenzusetzen, zu trennen und zu teilen. Sie kann eine Kette von Ereignissen erfinden, mit allem Anschein der Wirklichkeit, kann ihnen eine bestimmte Zeit und Stelle zuschreiben, sie sich als daseiend vorstellen und sie sich mit allen Umständen ausmalen, wie sie zu einer geschichtlichen Tatsache gehören, an die sie mit der größten Gewißheit glaubt.« 85 Die Einbildungskraft untergräbt somit die Verläßlichkeit in der Sphäre der Vorstellungen, da nichts den Vorstellungsverlauf, also die Relation zwischen den einzelnen vorgegebenen Elementen für das Spiel der Einbildung vorschreibt. Ein Zusammenhang (conjunction) der Erscheinungen ist der Erfahrung zwar gegeben, nicht aber eine Verknüpfung (connexion), deren logischer Status zwingend wäre und die eine Art inneres Band (tye), eine tatsächliche Kraft oder beobachtbare Energie darstellte zwischen dem, was wir gewöhnlich als Ursache, und dem, was wir als Wirkung zu bezeichnen pflegen.86 Die Vorstellungen der Relation bilden sich allein aufgrund einer Extrapolation weniger Einzelvorkommnisse: »Als zum ersten Male die Mitteilung einer Bewegung durch Stoß, wie etwa bei dem Zusammenpralle zweier Billardkugeln, von einem Menschen beobachtet wurde, konnte dieser nicht aussagen, daß das eine Ereignis mit dem anderen verknüpft, sondern nur, daß das eine mit dem anderen in Zusammenhang stand. Nachdem er mehrere Beispiele dieser Art gesehen hat, erklärt er sie für verknüpft. Was hat sich so geändert, daß diese neue Vorstellung der Verknüpfung entstand? Weiter nichts, als daß er nun diese Ereignisse als in seiner Einbildung verknüpft empfindet [...]. Behaupten wir also, daß ein Gegenstand mit einem anderen verknüpft ist, so meinen wir nur, daß sie in unserem Denken eine Verknüpfung eingegangen sind«. Die Relationen sind Hinzufügungen des Geistes und haben keinen Anspruch auf unbeschränkte Geltung in der Wirklichkeit. »Diese Verknüpfung also, die wir im Geist empfinden«87, entspringt der Gewohnheit, ist mithin bloß subjektiv. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von einem »Assoziationismus, der zeigt, wie sich zwischen diesen Gliedern [den Elementen des Seelenlebens, den Vorstellungen] Relationen herstellen, die diesen Gliedern äußerlich sind und von

85. Hume 1748, 60. 86. Hume 1748, 89f. 87. Hume 1748, 91. 159

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anderen Prinzipien abhängen. Zum einen eine Physik des Geistes, zum anderen eine Logik der Relationen […]. Der Unterschied besteht also nicht zwischen Ideen und Impressionen, sondern zwischen zwei Arten von Impressionen oder Ideen, den Impressionen oder Ideen der Glieder und den Impressionen oder Ideen der Relationen.«88 Der menschliche Geist besitzt zwar ein untrügliches Anzeichen dafür, Erdichtungen und Glauben an die Wirklichkeit zu unterscheiden, nämlich ein Gefühl oder eine Empfindung des Glaubens, jedoch gesteht Hume, »daß es unmöglich ist, diese Empfindung oder diese Art des Vorstellens völlig zu erklären.«89 Bloße Evidenz kann er ins Feld führen. Was aber nützt dieses Kriterium dem Verstand, wenn die Gewißheit (seiner Wahrnehmung) nicht an den Impressionen ausweisbar ist, sondern nur die Empfindung des Geistes bleibt? Impressionen als solche sind weder gewiß noch ungewiß, erst die Urteile des Verstandes mit Hilfe der Relationen machen sie dazu. Die Bedeutsamkeit der Einbildungskraft und der Assoziation läßt sich mit den treffenden Worten von Deleuze folgendermaßen charakterisieren: »Wenn der Geist sich selbst überlassen ist, so geht ihm nicht das Vermögen ab, von einer Idee zu einer anderen zu schreiten, sondern er schreitet zufällig von einer zur anderen und folgt einem Delirium, welches das Universum durchquert und Feuerdrachen, geflügelte Pferde und monströse Riesen bildet. Die Prinzipien der menschlichen Natur nötigen dagegen diesem Delirium konstante Regeln als Gesetze der Weiterbewegung, des Überganges, der Folgerung auf, die im Einklang mit der Natur selbst stehen. Doch von da an entwickelt sich ein seltsamer Kampf. Denn wenn es so ist, daß die Assoziationsprinzipien den Geist festlegen, indem sie ihm eine Natur aufnötigen, welche das Delirium oder die Fiktionen der Imagination disziplinieren, so bedient sich umgekehrt die Imagination dieser Prinzipien, um ihre Fiktionen, ihre Phantasien, zu befördern, um ihnen eine Sicherheit zu verleihen, die sie nicht aus sich selbst heraus hätten. Es gehört also in diesem Sinne zur Fiktion, daß sie die Relationen selbst vortäuscht, daß sie fiktive Relationen eingibt und uns an Verrücktheiten glauben macht [...]. Die Phantasie bedient sich der Assoziationsprinzipien, um diese Prinzipien selbst umzukehren und ihnen eine ungerechtfertigte Ausdehnung zu geben. Hume vollzieht eine zweite große Verschiebung in der Philosophie [die erste war, laut Deleuze, daß er den Glauben im nicht-religiösen Sinne zur Basis und zum Prinzip der Erkenntnis macht], indem er den traditionellen Begriff des Irrtums durch den des Deliriums oder der Illusion ersetzt, demzufolge es keine falschen sondern nur ungerechtfertigte Überzeugungen gibt, ungerechtfertigte Ausübung von Fähigkeiten, ungerechtfertigte Funktionsweisen von Relationen. Wir werden nicht vom Irrtum bedroht, sondern, weit schlimmer, sind vom Delirium durchdrungen.«90 Es ist diese Überlagerung, dieses Ineinandergreifen scheinbar vollkommen gegensätzlicher Dimensionen des menschlichen Geistes, die die Frage nach der

88. Deleuze 1972, 62 f. 89. Hume 1748, 60 und 62. 90. Deleuze 1972, 64f. 160

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Vernunft im Subjekt aufs äußerste zuspitzt. Auf welche Instanz können endliche Subjekte sich eigentlich berufen, wenn die Mittel, mit denen eine Erkenntnis ihrer Situation überhaupt erst ermöglicht wird, in sich den Keim einer radikalen Unvernunft tragen? Die Geschlossenheit der Humeschen Theorie des Seelenlebens erweist sich darin, daß er die Herrschaft der Assoziation auch auf die Gefühle und Affekte ausdehnt. Die Assoziation stellt für alle psychischen Vorgänge das Erklärungsprinzip dar. Ja, man kann umgekehrt sagen: »Die Assoziationsprinzipien erhalten ihren Sinn nur im Zusammenhang mit den Leidenschaften. Nicht nur sind es die affektiven Umstände, welche die Ideenassoziation leiten, sondern die Relationen selbst bestimmen einen Sinn, eine Richtung, eine Irreversibilität, eine Ausschließlichkeit im Dienste der Leidenschaft. Kurz, was die menschliche Natur konstituiert, was dem Geist eine Natur oder Konstanz verleiht, sind nicht allein die Assoziationsprinzipien, aus denen die Relationen hervorgehen, sondern die Leidenschaftsprinzipien, aus denen die ›Neigungen‹ hervorgehen.«91 Die Verbindungen der Gefühle erfolgen ausschließlich nach der Ähnlichkeitsassoziation, der Gewohnheit, wie wir oben sahen. Die beiden Sphären der Vorstellungen und der Gefühle können einander beeinflussen, ja unterstützen und befördern in ihrem Verlauf, wenn beide Assoziationsarten an einem Gegenstand zusammentreffen. Ihre Geltung für den menschlichen Geist ist jedoch unterschiedlich: »Zwei Dinge sind in diesem Hinblick zu erwägen: daß die Leidenschaften den Geist nicht festlegen, ihm nicht wie die Assoziationsprinzipien eine Natur verleihen; und zum anderen, daß die Grundlage des Geistes als Delirium oder Fiktion auf die Leidenschaften nicht ebenso reagieren wie auf die Relationen. Wir haben gesehen, wie die Assoziationsprinzipien und besonders die Kausalität den Geist veranlaßten, das Gegebene zu überschreiten, indem sie ihm Überzeugungen oder Überschreitungen eingaben, die nicht alle ungerechtfertigt waren. Die Auswirkungen der Leidenschaften aber besteht vielmehr in einer Einschränkung der Tragweite des Geistes, in seiner Fixierung auf privilegierte Ideen und Objekte. Denn der Hintergrund der Leidenschaften ist nicht der Egoismus, sondern, weit schlimmer noch, die Parteilichkeit: unsere Leidenschaft gilt zunächst unseren Eltern, unseren Verwandten und Unseresgleichen.«92 Die Einbildungskraft ist nicht an die Folge gebunden – vielmehr betätigt sie sich als freie Assoziation, unterliegt damit aber den Leidenschaften. So findet sich gegen Ende der Enquiry die Mahnung, die ernstzunehmende Forschung müsse eine Einschränkung »auf solche Gegenstande, die sich für die engen Fähigkeiten des menschlichen Verstandes am besten eignen«, hinnehmen. Eine solche »Art des

91. Deleuze 1972, 67. 92. Ebd. 161

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gemäßigten Skeptizismus, die der Menschheit von Vorteil sein könnte«, führt zu einem »gewisse[n] Grad von Zweifel, Vorsicht und Bescheidenheit bei allen Arten von Untersuchungen und Entscheidungen«, um »der allgemeinen Ratlosigkeit und Verwirrung, die der menschlichen Natur anhaftet«93 nicht einfach zu erliegen. Denn: »Die Einbildungskraft des Menschen ist von Natur aus hochfliegend, entzückt sich an allem Entlegenen und Außerordentlichen und stürmt ohne Aufsicht in die weitesten Fernen des Raumes und der Zeit, um den Gegenständen aus dem Wege zu gehen, welche Gewohnheit ihr allzu vertraut gemacht hat.«94 Nicht nur, daß sich die Einbildungskraft den vorgegebenen Assoziationen der Vorstellungen entziehen kann, obwohl sie eine Voraussetzung für ihr Spiel mit ihnen bilden, so zeigt sich jetzt, daß die Gewohnheit, der sie sich beizeiten hingibt, ihr auch Langeweile bereiten kann, die sie dann flieht. Das Gefühl der Vertrautheit, der Wiederholung von einander ähnlichen Gefühlen, wird als Überdruß zum Antrieb für Überschreitungen. Deshalb muß der Verstand beständig korrigierend eingreifen: »Eine gerade Urteilskraft beobachtet die gegenteilige Methode, vermeidet alle weit und hoch führenden Untersuchungen, beschränkt sich auf das gewöhnliche Leben und solche Gebiete, die im täglichen Handeln und in der Erfahrung vorkommen und überläßt die erhabenen Vorwürfe Dichtern und Rednern zur Ausschmückung oder der Kunst der Priester und Staatsmänner.«95 Aber selbst die Vernunft kann zu Schlüssen kommen, deren Unvernunft nicht größer sein könnte: »Gehen wir a priori vor, so scheint jedes Ding fähig, jedes andere hervorzubringen. Das Fallen eines Kiesels könnte, soviel wir wissen, die Sonne auslöschen, oder der Wunsch des Menschen die Sterne lenken.«96 Der Ursache-Wirkung-Schluß zeitigt a priori Ergebnisse, »die sich eine noch so launenhafte Einbildungskraft ersinnen mag.«97 Die Vernunft wird als rein formales Verfahren gekennzeichnet. Nur in Verbindung mit Erfahrung erfüllt sie ihre Aufgabe: »Es ist nur die Erfahrung, die uns über die Natur und die Grenzen von Ursache und Wirkung belehrt und uns befähigt, das Dasein eines Gegenstandes aus dem eines anderen herzuleiten [...] diese Begründungen stützen sich lediglich auf die Erfahrung.«98 Alle Wissenschaften, ja selbst die Theologie, sollten so verfahren: »Sie [haben] in der Vernunft ihre Grundlage, soweit sie durch Erfahrung gestützt wird.«99

93. 94. 95. 96. 97. 98. 99.

Hume 1748, 189. Ebd. Hume 1748, 189f. Hume 1748, 192. Ebd. Ebd. Hume 1748, 193. 162

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Zum Ende findet Hume mit einer berühmt-berüchtigten praktischen Anweisung zu jenem Gebrauch seiner Philosophie, der potentiell Legionen von Bänden in den Bibliotheken der Verwüstung durch einen vom Humeschen Geist erfüllten Adepten preisgibt. Der inquisitorischen Befragung eines Bandes folgt seine Einäscherung auf dem Fuße: »Enthält er irgendeinen abstrakten Gedankengang über Größe oder Zahl? Nein. Enthält er irgendeinen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.«100

Psychologie und Physiologie der Assoziation: David Hartley Wenn in der Geschichte der Philosophie mit Hume jener Schritt vollzogen wurde, der die zentrale Frage des neuzeitlichen Denkens nach dem Sein skeptisch umformuliert in die Frage »Was ist Erkenntnis?«101 – dieser Weg wird von Kant und der Phänomenologie weitergegangen –, so schließt sich ebenfalls in der Nachfolge Lockes eine andere Entwicklungslinie an, deren Bestreben sich dahin wendet, das Phänomen der Assoziation nicht allein als geistiges oder psychisches Prinzip zu beschreiben, sondern darüber hinaus eine grundlegende Fundierung dieser Prozesse in der menschlichen Natur aufzuzeigen. Der Ehrgeiz dieser Theorien richtet sich darauf, die Assoziation gemäß der Auffassung des Menschen als eines Naturwesens im Sinne der Medizin und Biologie wissenschaftlich zu erklären. Der Einfluß Newtons ist schon erwähnt worden. Ein Vertreter dieses Zweiges ist David Hartley, der beinahe zeitgleich mit Hume und gänzlich unabhängig von ihm ein systematisches Lehrgebäude der Psychologie auf assoziationsgesetzlicher Grundlage entwickelt. Selbst praktizierender Arzt, veröffentlicht Hartley 1749 sein Hauptwerk Observations on Man. Der erste Band handelt vom Bau des menschlichen Körpers und Geistes und von deren gegenseitiger Verbindung und Beeinflussung, womit er deutlich auf den somatischen Anteil an mentalen Prozessen hinweist, der bei Locke und Hume vernachlässigt worden ist. Allen geistigen entsprechen physiologische Prozesse, die anatomischen Korrelate werden in den Nervenbahnen lokalisiert, die Schwingungen weiterleiten und uns so über die peripheren Sinnesorgane einen Zugang zur Außenwelt ermöglichen. »Zusammengefaßt lautet Hartleys Vibrationstheorie: Einer Empfindung entspringt eine Schwingung; der schwächeren ins Gehirn geleiteten Schwingung (vibratiuncle) entspricht eine Vorstellung; der physiologischen Assoziation entspricht eine psychologische.«102 Die Entstehung von Vorstellungen wird der Tatsache zugeschrieben, daß »oft wiederholte Empfindungen

100. Ebd. 101. Alquié 1972, 201. 102. Amin 1973, 63f. 163

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gewisse Spuren hinterlassen, welche einfache Empfindungsvorstellungen genannt werden.«103 Der Bestand an psychologischen Grundphänomenen unterscheidet sich in einem Punkt von dem seiner Vorgänger: »Außer den Elementen der Erfahrung – eben den Empfindungen und Vorstellungen – besitzt der menschliche Geist noch andere Fähigkeiten wie: ›Gedächtnis, Einbildung oder Phantasie, Verstand, Affekte und Wille‹, durch welche die Elemente umgeformt werden können.«104 Empfindungen, physiologisch, müssen in die ihnen entsprechenden psychologischen Vorstellungen verwandelt werden. Umgekehrt aber wirken Vorstellungen auf den Körper: »Assoziationen finden sich nicht nur bei Empfindungen und Vorstellungen, sondern ebenso bei den muskulären Bewegungen. ›Wenn irgendeine Empfindung A, Vorstellung B oder muskuläre Bewegung C genügend oft mit irgendeiner Empfindung D, Vorstellung E oder muskulären Bewegung F assoziiert wurde, so wird sie schließlich D hervorrufen, eben die einfache der Empfindung D zugehörige Vorstellung oder die wirkliche Vorstellung E oder die muskuläre Bewegung F‹.«105 Nur ›wirkliche‹ Empfindungen können mittels Assoziation nicht hervorgerufen werden. Die Assoziation der Empfindungen vollzieht sich allein nach dem Gesetz der zeitlichen Kontiguität: »Empfindungen können sozusagen zusammen assoziiert werden, wenn ihre Eindrücke entweder genau im selben Augenblick oder in einander unmittelbar nachfolgenden Momenten (contiguous successive instants) entstehen.«106 Sowohl die Kontiguität des Ortes – da nur unter der Bedingung der Gleichzeitigkeit oder raschen Aufeinanderfolge möglich – als auch die Ähnlichkeitsassoziation – da Ähnliches nur aufgrund der in ihm enthaltenen einfachen Elemente, die in einem Zugleich assoziiert sind, hervorgerufen wird – werden als vernachlässigbar angesehen und auf das eine umfassende Grundgesetz der zeitlichen Koniguität reduziert. Simultane Auffassung von komplexen Erfahrungen, die als Eines erscheinen und deren einzelne Elemente nur noch schwer zu erkennen sind, sind in Hartleys Konzept Produkte von Verschmelzung (coalescence). Dabei werden fünf Fälle unterschieden, in denen einfache Empfindungsvorstellungen zu komplexen Gebilden assoziiert werden: 1. Eine Empfindung A, die mehrmals mit B oder C verknüpft war, kann allein die Vorstellungen b, c, d etc. hervorrufen. 2. Sind A, B, C, D in allen möglichen Kombinationen assoziiert gewesen, so wird A b, c, d, B a, c, d etc. wecken. 3. Wenn A, B, C, D durch sukzessive Eindrücke entstanden sind, so wird A b, c, d, B c, d, etc. erzeugen.

103. 104. 105. 106.

Hartley 1749, 56 (Pt. l, Prop. 8), zit. n. Amin 1973, 63. Hartley 1749, Introduction, S. III, zit. n. Amin 1973, 63. Hartley 1749, 102 (Pt. 1, Prop. 20, Corollary 7), zit. n. Amin 1973, 64. Hartley 1749, 65 (Pt. 1, Prop. 10), zit. n. Amin 1973, 64. 164

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

4. Zusammengesetzte Eindrücke A + B + C + D hinterlassen nach genügender Wiederholung zusammengesetzte Vorstellungen a + b + c + d, welche sich immer enger zusammenschließen. 5. Ist a, b, c, d oft genug miteinander assoziiert worden, so kann a leicht b, c, d hervorrufen.107 Zum einen wird hier deutlich, daß Vorstellungsassoziation ebenso wie bei Hume eine von Elementen ausgehende Kraft der Anziehung ist, die die Mannigfaltigkeit der Eindrücke zu Komplexen verschmilzt. Dies führt sogar soweit, »daß die Assoziationen schließlich uns alle ähnlich machen, so daß, wenn einer glücklich ist, es alle sein müssen.«108 Diese Konsequenz in der fortwährenden Wirksamkeit der Wiederholung ist jedoch weit entfernt vom Menschenbild Humes, wie am Beispiel der Einbildungskraft gezeigt worden ist. Neu und traditionsbildend zeigt sich der Gedanke, daß die Elemente des Seelenlebens selbst durch geistige Prozesse umgebildet werden können. Nicht nur die Beziehungen zwischen den Elementen, sondern diese selbst können ihre Konstanz verlieren. Eine unwahrscheinliche Vision steht am Ende der Entwicklung des Menschen: Die Ähnlichkeit setzt sich gegenüber den kleinen und großen Differenzen durch, ja, sie müßte sich selbst bis zur Unkenntlichkeit eines Einerlei verflüchtigen. Anzumerken bleibt, daß Hartley sich keineswegs als Materialist begreift, besteht er doch auf der Unterscheidung zwischen physiologischen und psychologischen Phänomenen. Die eine Reihe der Phänomene läßt sich nicht aus der anderen ableiten, vielmehr stehen sie in einem Verhältnis der Parallelität zueinander: qua Vibration. »Durch seine Vibrationstheorie hat er eine naturwissenschaftliche Behandlung der Psychologie angeregt und damit den Grundstein gelegt für die Bestrebungen des Assoziationismus, die Psychologie zu einer exakten Wissenschaft zu machen.«109 Erst Hartleys Schüler Joseph Priestley wird dann so weit gehen, die Psychologie zu einem Teil der Physiologie zu erklären, d. h. sie so sehr materialistisch zu fassen, daß die Assoziationspsychologie zu einer ›Physik des Nervensystems‹ wird. Empfinden und Denken aus der Materie abzuleiten wird als Ziel klar ins Auge gefaßt und findet seine Plausibilität in den Läsionen der Hirnanatomie: Priestley »sieht die psychischen Funktionen abhängig von einem organisierten stofflichen System, dem Nervensystem und dem Gehirn. Demgemäß sind das Denken und gewisse Gehirnprozesse stets miteinander verknüpft; wird das Gehirn verletzt, fallen die entsprechenden Denkvorgänge aus.«110 Dieser Ansatz wird für die Psychophysik des 19. Jahrhunderts große Bedeutsamkeit erlangen und zum Kern der ersten Phase der Aphasie-Forschung werden.

107. 108. 109. 110.

Hartley 1749, 73f. (Pt. 1, Prop. 12, Case 1-5), zit. n. Amin 1973, 65. Hartley 1749, 84 (Pt. 1, Prop. 14, Cor. 12), zit. n. Amin 1973, 66. Amin 1973, 66. Amin 1973, 67. 165

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Ausdifferenzierung der Assoziationsgesetze: Thomas Brown Zum Phänomen der Assoziation trägt Priestley nichts über Hartley Hinausgehendes bei. Erst in der sogenannten »Schottischen Schule«, deren wichtigste Vertreter Thomas Reid, Dugald Stewart, Thomas Brown und Sir William Hamilton sind, findet sich eine weitergehende phänomenale Analyse der Assoziationsproblematik bei ihrem wichtigsten und selbständigsten Denker Thomas Brown. Die innere Erfahrung (intuition) rückt in den Mittelpunkt seines Denkens. Aus ihr schöpft er gewisse principles of common sense, die als »Bestandteile unserer ursprünglichen, aus Gottes Hand stammenden Konstitution« gedeutet werden: »Zu ihnen gehören die logischen und mathematischen Axiome wie auch der Glaube an äußere Objekte und das Dasein des Ich.«111 Damit wird deutlich Stellung bezogen gegen die Charakterisierung Lockes, die Seele sei ein »unbeschriebenes Blatt«. Aber auch eine physiologische Fassung der Assoziation lehnt Brown strikt ab, insofern er die geistigen Prozesse – mit denen allein er sich beschäftigt – als Zustände des Geistes begreift, und distanziert sich terminologisch von seinen Vorgängern, indem er anstelle von »Assoziation« von »Suggestion« spricht. In seinen erst postum 1820 veröffentlichten Lectures on the Philosophy of the Human Mind wendet er sich einer genauen Analyse und Klassifizierung der verschiedenen Zustände des Geistes zu, ohne das metaphysische Problem der Seinsweise der Seele zu klären. Wie ein Naturforscher unternimmt es Brown, die Phänomene des Geistes, so wie sie zu Bewußtsein kommen, nach Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit sowie nach ihrer Abfolge zu studieren. Diese Zustände, Affektionen oder Gefühle der Seele (states or affections) machen das subjektive Bewußtsein aus und können nach ihrer Herkunft als äußere oder innere, letztere nach ihrer Art noch in intellektuelle und emotionale geschieden werden. »Das Bewußtsein ist aber nicht nur Inbegriff aller Zustände des Geistes, sondern zugleich auch das Gefühl unserer persönlichen Identität vermittelt durch das Gedächtnis und verstärkt durch den Gebrauch der Fürwörter ›Ich‹ und ›mich‹. Der Inhalt des Geistes wird durch den Wechsel seiner Zustände gebildet, weshalb sich die Begriffe ›Selbst‹, ›Bewußtsein‹ und ›Gedächtnis‹ nur dadurch unterscheiden, daß sich in der Reflexion das Selbst auf das denkende Subjekt richtet, das Bewußtsein auf eine seiner gegenwärtigen Modifikationen und das Gedächtnis auf eine seiner vergangenen Modifikationen.« 112 Suggestion (Assoziation), rein introspektiv gefaßt als »einfache Tatsache des bloßen Vorhergehens eines Gefühls und der Nachfolge des anderen Gefühls«113, führt alle Assoziationsarten in letzter Instanz auf »Proximität«114 zurück. Zur gründlicheren Untersuchung allerdings dehnt Brown seinen Grundbestand wieder auf drei Regeln der Sukzession aus, sich dabei auf Aristoteles’ Konzept der

111. 112. 113. 114.

Amin 1973, 69. Brown 1820, 68 (Lecture 11), zit. n. Amin 1973, 71. Brown 1820, 235 (Lecture 40), zit. n. Amin 1973, 71. Brown 1820, 255 (Lecture 40), zit. n. Amin 1973, 72. 166

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Wiedererinnerung berufend: nämlich Ähnlichkeit, Kontrast und Kontiguität. Diese primären Assoziationsgesetze reichen ihm aber nicht aus, »um alle Umstände oder Bedingungen anzugeben, warum ›sich etwas eher mit dem einen als mit dem anderen assoziiert‹«115. Somit fällt den sekundären Assoziationsgesetzen die Aufgabe zu, den individuellen Differenzen besser gerecht zu werden: 1. Die relative Dauer der ursprünglichen Empfindungen: »Je länger wir bei einem Gegenstand verweilen, desto sicherer können wir uns in Zukunft daran erinnern.« 2. Ihre relative Stärke (liveliness): »Die Glieder einer Assoziationskette scheinen um so enger und stärker miteinander verknüpft zu sein, je lebhafter die ursprünglichen Empfindungen (feelings) waren.« 3. Relative Häufigkeit: »An die Glieder einer Kette erinnern wir uns um so leichter, je häufiger wir dies tun.« 4. Relative Frische (recency): »An Ereignisse, die sich wenige Stunden zuvor zutrugen, erinnert man sich, während Ereignisse, die ein paar Tage zurückliegen, völlig vergessen sind.« 5. Ihre Verknüpfung in der Vergangenheit mit nur wenigen zur Wahl stehenden Assoziationsgliedern: »Ein Lied, das wir immer nur von einer Person gehört haben, wird, so oft wir uns daran erinnern, stets diese eine Person in unser Gedächtnis zurückrufen.« 6. Konstitutionelle Verschiedenheit unterschiedlicher Individuen: »Sie geben bestimmten Assoziationstendenzen eine verhältnismäßig größere Kraft als anderen.« 7. Abweichungen bei ein und demselben Individuum: »auf Grund der verschiedenen Gemütsbewegungen zu der betreffenden Stunde«. 8. Vorübergehende Zustandsänderungen: Rausch, Delirium, Krankheit. 9. Frühere Lebens– und Denkgewohnheiten: der Einfluß der angeborenen Neigungen auf eine gegebene Situation, ganz gleichgültig, wie neu oder beziehungslos die Erfahrung sein mag.116 Mit diesem Katalog an differenzierenden Bestimmungen übertrifft Brown die Leistungen bisheriger Assoziationstheorien bei weitem.117 Die ersten fünf Gesetze finden sich heute in allen Lehrbüchern zur (experimentellen) Lernpsychologie unter dem Stichwort »Gedächtnis« wieder, zumeist ohne Erwähnung ihrer Herkunft von Thomas Brown. Die letzten vier avancieren zum Grundkonzept der

115. Brown 1820, 236 (Lecture 37), zit. n. Amin 1973, 72. 116. Vgl. Amin 1973, 72f. 117. Brown hat »erstmals in der Geschichte der Assoziationspsychologie nachzuweisen versucht, warum Assoziationen in ganz verschiedenen Bahnen verlaufen können, warum z.B. die Vorstellung ›schwarz‹ den einen Menschen an das ›Anschwärzen‹ eines Bekannten, einen anderen an die ›Schwarze Maria‹, wieder andere an die Fußballmannschaft ›Die schwarze Elf‹ und einen vierten an etwas Weißes erinnert, oder warum ›Schmetterling‹, welcher sowohl an einen ›Vogel‹ als auch an eine ›Motte‹ erinnert, in einem Falle die Vorstellung ›Vogel‹, im anderen ›Motte‹ erzeugt.« (Amin 1973, 73) 167

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

psychophysischen Theorien des 19. Jahrhunderts als Erklärung der individuellen konstitutionellen und physiologischen Unterschiede menschlicher Geistesvorgänge. Abschließend muß noch erwähnt werden, daß Brown ähnlich wie Hartley der Verschmelzung einen besonderen Wert zumißt. Jedoch geht er insofern weiter, als komplexe Erfahrungen sich so verändern können, daß sie von den ursprünglichen Elementen ganz verschieden sind: »In der spontanen Chemie des Geistes haben die zusammengesetzten Gefühle, die durch die Assoziation von früheren Gefühlen entstehen, vielfach bei der ersten Betrachtung so wenig Ähnlichkeit mit ihren Elementen in der früheren Form, daß es die aufmerksamste Überlegung braucht, um sie von den Verschmelzungen (assemblages), die in wenigen Jahren entstanden sein können, zu unterscheiden und sie auseinanderzubrechen.«118 Hierin kann man eine seelische Funktion sehen, die derjenigen vergleichbar ist, wie sie später bei Wilhelm Wundt als »schöpferische Synthese« beschrieben wird.

Logik der Assoziation und »moral sciences«: John Stuart Mill Im 19. Jahrhundert findet der englische Empirismus in der Nachfolge Erasmus Darwins und James Mills seine prägnantesten Figuren in John Stuart Mill und Alexander Bain. Während Erasmus Darwin eine biologische Evolutionslehre auf assoziationistischer Grundlage entwickelt, die neben den Vorstellungs- auch Muskular-Assoziationen annimmt wie schon Hartley, und darüber hinaus den Gesichtspunkt der Instinktbildung durch Erfahrung und Assoziation unter dem Einfluß des Selbsterhaltungstriebes und durch Anpassung an die Verhältnisse betont, verwirft James Mill die Möglichkeit der physiologischen Erklärungen. Beiden eignet jedoch ein mechanistischer Zug, der im Falle James Mills den menschlichen Geist als durch äußere Kräfte (sensori stimuli) in Gang versetzt sieht – gemäß den mechanisch aufgefaßten Gesetzen der Assoziation. Humes drei Assoziationsgesetze der Ähnlichkeit, der Berührung in Raum und Zeit und der Kausalität führt er auf die Grundform der zeitlichen Kontiguität nach Hartleys Vorbild zurück. Wie bei diesem ist Verschmelzung ein eigenständiges Phänomen, und von Browns sekundären Assoziationsgesetzen erkennt er nur die häufige Wiederholung und die Lebhaftigkeit an. Alexander Bains Assoziationskonzept sei in diesem Zusammenhang nur knapp skizziert, weil sein Werk zwar den Höhepunkt des englischen Assoziationismus darstellt und »in England das maßgebende Werk bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts« war,119 er aber zu großen Teilen lediglich die Summe aus den Ergebnissen seiner Vorgänger zog. Dem Intellekt schreibt Bain drei Grundfähigkeiten zu: Unterscheidung oder Sinn zur Differenzierung; Ähnlichkeitsauffassung oder Sinn für Übereinstimmung; Behalten oder Gedächtnis und Erinnerung. Die

118. Brown 1820, 62 (Lecture 10), zit. n. Amin 1973, 74. Vgl. hierzu Wundt 1874, II, 778ff. 119. Amin 1973, 79f. 168

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Assoziationsgesetze werden im einzelnen bestimmt nach Kontiguität, Ähnlichkeit, Wirkungsverstärkung durch Komplexbildung und konstruktive Einbildungskraft. Die beiden zuletzt genannten lassen sich als zwei gegeneinander arbeitende, den Gedankenverlauf individuierende Tendenzen begreifen. Die Wirkungsverstärkung meint, daß von zwei konkurrierenden, dem Ausgangselement nachfolgenden Elementen dasjenige den Vorzug erhält, welches mit mehreren assoziativen Verknüpfungen auf ›sich‹ hinlenkt. Konstruktive Einbildungskraft ist in der Lage, ganz neue Assoziationsverknüpfungen herzustellen, die zwar mit den bereits vorhandenen Elementen statthaben muß, jedoch sich deren determinierenden Tendenzen (der Komplexwirkung) zu entziehen weiß. John Stuart Mill gilt vielen als der wichtigste britische Denker des 19. Jahrhunderts. In seinem System of Logic (1843) weist Mill der Logik insofern eine neue Funktion im Zusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnis zu, als er Logik als die »Lehre von den menschlichen Verstandesverrichtungen bei dem Verfolg der Wahrheit« definiert120. Wie bei Hume werden die Ursache–Wirkung–Schlüsse als Hypothesen über gleiche Erfahrungstatsachen aufgefaßt – im Sinne einer Logik der Induktion: »Ein Assoziationsgesetz vermittelt den Anschein, daß Axiome und Postulate a priori notwendig sind […]. Das verhindert die Wahrheit der Deduktionen nicht, die man daraus ableitet, in Ansehung der Notwendigkeit von der logischen Verbindung zwischen Prämissen und Konklusionen. Also wird offenbar eine mangelnde Folgerichtigkeit in die der psychologischen Erfahrung einbeschriebene innere Rationalität resorbiert.«121 Das aber bedeutet, daß die Logik des Geistes von der »Natur« korrigiert wird, deren Verlauf so gleichmäßig ist, »daß alle Phänomene sich dem allgemeinen Gesetz der Kausalität gemäß abspielen.«122 Da jedoch die »Natur« nur in der Erfahrung gegeben ist, ist subjektive Kenntnis auf deren Phänomene begrenzt, mithin letztlich psychologischer Natur. Grundlage aller Philosophie ist so die Psychologie: Wirklich gegeben sind nur die jeweiligen Empfindungen, die Vorstellungen von Übergängen zwischen ihnen sowie die Vorstellungen von künftig möglichen Empfindungen. Mit François Duchesneau ließe sich Mills Grundposition auch als »eine ›phänomenalistische‹ Metaphysik« bezeichnen, die dazu führt, »durch das Gesetz der Ideenassoziation den Glauben an die Realität der Gegenstände unserer Perzeption deutlich zu machen«.123 Über den Status von Hypothesen kommen die Gegenstände der Außenwelt, die mit den Empfindungen korrespondieren, allerdings nicht hinaus. Konsequenterweise nimmt Mill die Position eines rationalen Skeptikers ein: »Was die Existenz eines Gottes mit beschränkter Haftung angeht, so hat er sie auf die Stufe einer einfachen Hypothese ohne jede mögliche Verifikation herabgesetzt.«124 Von solch

120. 121. 122. 123. 124.

Mill 1843, I. Buch, Einleitung, Art. 4. Duchesneau 1973, 122. Duchesneau 1973, 123f. Duchesneau 1973, 125. Ebd. 169

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

bloßer Hypothesenbildung läßt sich wissenschaftliche Erkenntnis dadurch unterscheiden, daß sie einer induktiven Überprüfung zugänglich ist.125 Im VI. Buch seines Werkes System of Logic geht Mill nun der Frage nach, inwieweit die von ihm erarbeiteten Grundsätze der Logik, der Lehre vom richtigen Denken, in den von ihm moral sciences genannten Wissenschaften Anwendung finden können. Diese von Dilthey später unter dem Begriff »Geisteswissenschaften« versammelten Wissenschaften umfassen Psychologie, Ethologie (»oder Wissenschaft von der Bildung des Charakters«126) und Gesellschaftswissenschaft. Wenn auch die Wissenschaften vom Menschen noch keine »exacten« sind, so können sie es doch möglicherweise einmal werden: »Indem wir jedoch die exacten Gesetze der größeren und jene der genügend bekannten kleineren Ursachen mit solchen empirischen Gesetzen oder annähernden Verallgemeinerungen in Betreff der verschiedenen Abweichungen in Verbindung bringen, wie sich diese durch specifische Beobachtung gewinnen lassen: werden wir in den Stand gesetzt, allgemeine Sätze aufzustellen, die sich im Wesentlichen als richtig bewähren werden und auf welche wir (wenn wir den größeren oder geringeren Grad ihrer Ungenauigkeit mit in Anschlag bringen) unsere Erwartungen und unser Verhalten mit Sicherheit zu gründen vermögen.«127 Theoretisch wäre demnach eine vollkommene Vorhersage eines Charakters oder einer Handlung aus gegebenen Daten möglich, jedoch »würden wir noch immer, weil die Daten nie insgesamt gegeben und niemals in verschiedenen Fällen genau ähnlich sind, weder zuverlässige Vorhersagungen treffen, noch auch durchgängig allgemeine Sätze aufstellen können.«128 Die Komplexität der Wirklichkeit veranlaßt so die Wissenschaft, im Fortgang ihre Gesetze zu spezifizieren und zu differenzieren bezüglich der abweichenden Einzelfälle – »wodurch sich jedesmal die Grenzen jener annähernden Wahrheiten nachweisen liessen und wir in den

125. »Für die Interpretation dieser [wissenschaftlichen] Methoden ist es unerläßlich zu betonen, daß Stuart Mill sie zugleich als Ermittlungs– und als Kontroll–Methode verstanden hat. Vor allem war er überzeugt, daß ohne rational durchgeführte experimentelle Nachforschungen keine Hypothese jemals vollkommen in den Stand eines Kausalgesetzes versetzt wird, wodurch ihr faktisch selbst ein explikativer Wert zuwächst.« (Ebd.) 126. Mill 1843, VI, 5, 1. 127. Und Mill fährt fort: »Die Wissenschaft von der menschlichen Natur ist von dieser letzteren Art. Sie bleibt weit hinter dem Maßstab von Genauigkeit zurück, der jetzt in der Astronomie verwirklicht ist; allein es ist kein Grund, weshalb sie nicht ebensogut eine Wissenschaft sein sollte, als es gegenwärtig die Flutlehre ist, oder als es die Astronomie war, so lange ihre Berechnungen nur die Haupterscheinungen und nicht die Störungen bewältigt hatten.« (Mill 1843, VI, 3, 1-2, S. 246f.) 128. Mill 1843, VI, 3, 2, S. 248. 170

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Stand gesetzt würden, andere Gesetze für irgend einen neuen Kreis von Umständen, der specifischen Erfahrung vorgreifend, abzuleiten.«129 Gerade der Psychologie kommt es zu, »Gesetze des Geistes« aufzuzeigen und damit den Menschen als Gegenstand einer moral science zu erweisen, wobei Geist und Gefühl korreliert sind. Die Geistesphänomene sind nämlich »die verschiedenen Gefühle unserer Natur: ebenso jene, die man [...] physische nennt, wie die, die man als die eigentlich geistigen bezeichnet; und unter Geistesgesetzen verstehe ich die Gesetze, nach denen diese Gefühle sich gegenseitig erzeugen.«130 Solche Gleichförmigkeiten der Aufeinanderfolge lassen sich in Gesetze fassen, an deren erster Stelle Mill die Fähigkeit des Geistes nennt, Vorstellungen zu haben und sich ihrer willkürlich erinnern zu können: »Sobald ein Zustand des Bewußtseins einmal, gleichviel durch welche Ursache, in uns erregt worden ist, so kann ein niedrigerer Grad desselben, ein Bewußtseinszustand, der dem ersten gleicht, aber von geringerer Stärke ist, wieder in uns hervorgerufen werden, ohne die Anwesenheit irgend einer solchen Ursache, wie es jene ist, durch die er zuerst erregt wurde [...]. Dieses Gesetz läßt sich mit den Worten Humes so aussprechen: ›Jeder geistige Eindruck (impression) hat seine Vorstellung oder Idee (idea).‹«131 Mill entwirft drei – bekannte – Gesetze der Assoziation, nach denen der primäre Eindruck die sekundären Vorstellungen hervorruft: »Das erste dieser Gesetze ist dies, daß ähnliche Vorstellungen die Tendenz besitzen, einander hervorzurufen. Das zweite besagt, daß, wenn man zwei Eindrücke häufig entweder gleichzeitig oder in unmittelbarer Folge empfangen, oder auch nur in dieser Weise an sie gedacht hat, die Wiederkehr eines der Eindrücke (oder seines Abbilds) die Tendenz besitzt, die Vorstellung des anderen hervorzurufen. Das dritte Gesetz besagt, daß größere Intensität des einen der zwei Eindrücke oder beider in ihrem Einflusse auf ihre gegenseitige Erregung einer häufigen Wiederholung der Verbindung gleichkommt.« 132 Neben diesen klassischen Gesetzen der Ähnlichkeit, der zeitlichen Kontiguität (im Zusammenspiel mit Häufigkeit) und der Intensität (die sich wie die Häufigkeit auswirkt) führt Mill noch die Verschmelzung auf: »Es ist augenfällig, daß zusammengesetzte Gesetze des Denkens und Fühlens durch diese einfachen Gesetze erzeugt werden – nicht nur: können, sondern müssen. Und es muß bemerkt werden, daß dies nicht immer ein Fall von Zusammensetzung der Ursachen ist: d. h. das Ergebnis zusammenwirkender Ursachen ist nicht immer genau die Summe aller Einzelwirkungen dieser Ursachen, ja nicht einmal stets eine Wirkung von gleicher Art wie jene.«133

129. 130. 131. 132. 133.

Mill 1843, VI, 3, 2, S. 249. Mill 1843, VI, 4, 1, S. 250. Mill 1843, VI, 4, 3, S. 253. Ebd. Mill 1843, VI, 4, 3, S. 255. 171

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Diese komplexen Vorstellungen erscheinen demnach nicht als mehrere, sondern als »eine Idee«134, und eine Analyse in ihre ursprünglichen Teilvorstellungen kann nur logische Hypothese, nicht aber phänomenale Erfahrung sein.135 Abschließend sei noch erwähnt, daß Mill die Assoziation auch für das Begehren als wirkend anerkennt, ja, daß sogar bei gründlicher experimenteller Forschung die tierischen Instinkte und das, was beim Menschen davon noch seine Macht behalten hat, einst einer psychologischen Erklärung zugeführt werden könnte, ohne dabei andererseits die physiologische Fundierung und die Bedeutung konstitutioneller Faktoren in Abrede zu stellen.

Zur Kritik einer Rede von den »letzten Elementen« Dieser knappe Abriß der Assoziationsproblematik der englischen Philosophie weist einen zentralen Zug auf, der bei allen hier vorgestellten Denkern anzutreffen ist und der als Atomismus bezeichnet worden ist: Es werden letzte unhintergehbare, der Analyse nicht weiter zugängliche Teile im Seelenleben angenommen. Keine der oben beschriebenen Theorien unternimmt ernsthaft den Versuch, die Elemente, an denen sich die geistigen Prozesse vollziehen, in ihrer Integrität in Zweifel zu ziehen. Auch die Funktion der Verschmelzung, seit Hartley als Phänomen des Mehr- oder Anders-als-die-Summe-der-Teile bekannt, operiert dennoch mit einfachen Ursprungselementen, deren Herkunft, ebenso wie die der Sensationen, in die Erfahrung verlegt wird. Zumeist als sinnliche Empfindung bestimmt, aber auch als Selbstwahrnehmung des Geistes, als Reflexion – letztere würde wohl im heutigen Verständnis schwerlich noch als Erfahrung durch die Sinne gelten können –, geht die Affizierung des Geistes aller Erkenntnis voraus gemäß dem oft zitierten Satz: nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu (Locke). Wie im Text gezeigt, muß die Anfügung von Leibniz: nisi intellectus ipse nicht als bloßer Widerspruch aufgefaßt werden, sondern kann als Ergänzung im Sinne Lockes gelten, wenn auch die Konsequenzen, welche Leibniz zieht, Locke diametral entgegenlaufen. Sensualismus bezüglich aller Erkenntnis, Priorität der Erfahrung vor allem Wissen bleibt der Grundsatz dieser Denker von Hobbes bis Mill und wird nur selten – und wenn, dann wenig – eingeschränkt.136 Korrelativ zum Atomismus müssen Verbindungen zwischen den Elementen gedacht werden, zumeist eben unter dem Begriff Assoziation. Die Kritik hieran

134. Ebd. 135. »Allein gleichwie [...] wenn man sich genau ausdrücken will, sagen muß, daß die sieben Farben, sobald sie einander rasch folgen, weiß erzeugen, nicht, daß sie wirklich weiß sind: so sollte man, wie ich denke, auch sagen, die zusammengesetzte Vorstellung, die durch die Verschmelzung der verschiedenen einfacheren entstanden ist, sei, wenn sie wirklich einfach erscheint (d.h. wenn die gesonderten Elemente im Bewußtsein nicht zu unterscheiden sind), aus den einfachen Ideen entsprungen oder durch sie erzeugt, nicht aber, sie bestehen aus ihnen [...]. Dieses sind Fälle von chemischer Action im Geistesleben.« (Ebd.) 136. Vgl. den obigen Thomas Brown-Abschnitt. 172

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

richtete sich vor allem gegen den Mechanismus der Assoziation, wenn diese im Sinne der Naturwissenschaften als physikalische oder chemische Kraft verstanden wurde. Naturalismus oder Physikalismus sind andere Formulierungen der in die gleiche Richtung zielenden Kritik: das Mißverstehen psychischer Vorgänge als physische. Dem entspricht der Vorwurf des Materialismus: alles Geistige auf materielle Teile, physiologische Substrate, ja Substanzen zurückzuführen, wobei Humes Skepsis ihn davor bewahrt, die bloßen Analogien zur Naturwissenschaft für das Tatsächliche des Seelenlebens zu halten. Ein einschlägiges Urteil Windelbands über den englischen Empirismus lautet deshalb in dieser Hinsicht: »Mechanik der Vorstellungen und Triebe«137. Schließlich ließe sich der Absolutismus der Assoziationspsychologie bemängeln, d. h. genauer: ihr Anspruch, alle psychischen Phänomene aus den von ihr aufgestellten Grundprinzipien herleiten zu wollen. So definiert etwa Dilthey diese Art ›erklärende Psychologie‹: »Unter einer erklärenden Wissenschaft ist jede Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einen Kausalzusammenhang vermittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen (d. h. Bestandteilen des Zusammenhangs) zu verstehen. Dieser Begriff bezeichnet das Ideal einer solchen Wissenschaft, wie es insbesondere durch die Entwicklung der atomistischen Physik sich gebildet hat. Die erklärende Psychologie will also die Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalzusammenhang vermittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen unterordnen.« 138 Ein solches Konzept wird von Hehlmann hinsichtlich seiner Reichweite treffend kritisiert: »Es versteht sich aber, daß dieses methodische Vorgehen keine metaphysische Verabsolutierung verträgt. Mechanische Modelle sind nicht nur erlaubt, sondern gefordert, wenn sie Tatsachenbereiche präzise decken. Sie sind abzulehnen, wo sie diese Grenze überschreiten.«139 Ihren Absolutheitsanspruch büßt die erklärende Psychologie spätestens dort ein, wo sich die Frage nach der Herkunft und der Möglichkeit erster Elemente stellt. Das rein empirische Denken erfährt darin seine Grenze, daß es seine eigenen Grundvoraussetzungen nicht genügend durchsichtig machen kann. In dieser Hinsicht müßte eine transzendentale Fragestellung von philosophischer Seite hinzutreten. Oder für die Psychologie mit Wilhelm Wundt gesprochen: »Die Assoziationspsychologie muß ergänzt werden durch eine Apperzeptionspsychologie.«140 Die Assoziationsgesetzmäßigkeiten sind mithin nichts anderes als formale Bestimmungen der Kopplung von psychischen bzw. mentalen Elementen. Im Gegensatz aber zu Fritz Heiders Überlegungen (vgl. Kap. 1.3) werden die Assoziationsgesetze unvermittelt den Elementen gegenübergestellt, aus deren Anordnung sie abgeleitet werden, ohne daß die Frage der Konstitution der Elemente

137. 138. 139. 140.

Windelband 1878-1880, 311. Dilthey 1894, 139. Hehlmann 1962, 92. Wundt 1896, 16. 173

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selbst wieder auf die Assoziationsgesetze zurückverweist – während Fritz Heider die Unterscheidung, was Ding und was Medium sei, als eine relationale Bestimmung auffaßt, nämlich als das Mehr oder Weniger von fester bzw. lockerer Kopplung. Auch wenn eine detaillierte Einschätzung der bisher dargestellten philosophischen ›Epochen‹ hier nicht geleistet werden kann und soll, so sei doch der englische Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts dem Zeitalter der Aufklärung zugerechnet, so wie es von Michel Foucault als das »klassische Zeitalter« beschrieben worden ist. In Die Ordnung der Dinge analysiert er dessen philosophisches Denken im Hinblick auf das zugrundeliegende Zeichen-Modell: Die »episteme« des klassischen Zeitalters zeigt sich repräsentationistisch, ein duales Zeichenverständnis hat das ternäre System der Renaissance abgelöst. Dort hatten die Beziehungen zwischen Worten und Dingen einerseits und andererseits zwischen den Dingen selbst noch einen eigenständigen Status, der es erlaubte, Ähnlichkeiten aller Arten zu thematisieren und ihnen den Charakter einer von Gott verbürgten Ordnung zuzuerkennen. Selbst noch deren Unlesbarkeit als »Schrift Gottes« ins »Buch der Natur« fügte sich diesem Verständnis: In nachbabylonischer Zeit der Sprachverwirrung stellte sich dann eben die Aufgabe, die verlorene adamitische Namenssprache wiederzufinden, die noch auf dem Grunde der Dinge als verborgene erhalten geblieben war. Die signatura rerum wird von Foucault aus einer Fülle von nebeneinander existierenden Konzeptionen auf vier ihm wesentlich erscheinende reduziert: convenientia, aemulatio, analogia, sympathia sind die Formen der Ähnlichkeitsbeziehung.141 Diese Ordnung löst sich zusammen mit dem Zeichenmodell auf: Im klassischen Denken ist dann die Sprache nicht mehr Zeichen unter Dingen, sondern sie wird ein besonderer Gegenstand der Analyse, der selber auf die Möglichkeit des Funktionierens hin befragt wird. Die Bezeichnungsfunktion tritt in spezifischer Weise in den Mittelpunkt des Sprachverständnisses, nämlich als Repräsentation der Dinge für den menschlichen Geist: »Die fundamentale Aufgabe des klassischen ›Diskurses‹ ist es, den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen.«142 Die Ähnlichkeit zieht sich aus der Welt der Dinge zurück, in der sie einst als Signatur allem eingeschrieben war, und zwar zurück in die Welt des Denkens und der Vorstellungen. In diesem Sinne kann Foucault sagen: »Während zweier Jahrhunderte bildete der abendländische Diskurs den Ort der Ontologie.«143 Am deutlichsten zeigen Humes Relationen diesen diskursiven, vom Sein der Dinge unabhängigen Charakter. Aber schon die Elemente des Geisteslebens, die Vorstellungen, sind demselben Denken verpflichtet: Sie sind bloße Repräsentationen, nicht die Dinge selbst. Das Denken hatte somit jede Einbettung in das Sein der Welt eingebüßt, wäre da nicht doch noch eine untergründige Versicherung: Gott hat die Menschen für den Empfang

141. Vgl. Foucault 1966, 46ff. 142. Foucault 1966, 164. 143. Ebd. 174

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

bestimmter einfacher Ideen ausgerüstet (Locke). Im Grunde lebt darin ein Stück des Denkens aus der Renaissance fort: »Es wäre unmöglich, die Dinge miteinander zu vergleichen, ihre identischen Züge abzugrenzen und einen gemeinsamen Namen zu begründen. Es gäbe keine Sprache. Sprache existiert, weil unterhalb der Identitäten und Unterschiede der Boden der Kontinuitäten, der Ähnlichkeiten, der Wiederholungen und der natürlichen Verflechtungen liegt. Die Ähnlichkeit, die seit dem siebzehnten Jahrhundert aus dem Denken ausgeschlossen ist, bildet immer noch die äußere Grenze der Sprache: den Ring, der das Gebiet dessen umgibt, was man analysieren, ordnen und erkennen kann. Das ist das Gemurmel, das vom Diskurs aufgelöst wird, ohne das er aber nicht sprechen könnte.«144 Das assoziationspsychologische Denken kann in einer so konzipierten ›Diskursformation‹ einen zentralen Ort beanspruchen, wo die programmatisch ausgeschlossene Ähnlichkeit in der Aufklärung fortwirkt (vgl. dazu Kap. 3.2.4).

3.1.3 Theoretische Konzeptionen der Assoziationsproblematik im 19. Jahrhundert Begründung der Erfahrung und Erfahrung als Begründung: Der Gegensatz von Transzendentalem und Empirischem Um das Denken des 19. Jahrhunderts zu begreifen, ist es notwendig, auf den Einschnitt zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückzugehen. Denn die mit Kant vollzogene kritische Wendung in der Philosophie kann als folgenreich für das folgende Jahrhundert angesehen werden, insofern sie transzendentales Philosophieren einerseits und empirische Wissenschaft andererseits sich ergänzend und sich kritisierend einander gegenüberstellt. Im Verhältnis Kants zu Hume läßt sich dieser Umschwung deutlich machen: »Am Ende des 18. Jahrhunderts wird eine neue Konfiguration erscheinen, die für die modernen Augen den alten Raum der Naturgeschichte endgültig trüben wird. Einerseits verlagert sich die Kritik und löst sich von dem Boden, auf dem sie entstanden war. Während Hume aus dem Kausalitätsproblem einen Fall allgemeiner Fragestellung über die Ähnlichkeit machte, kehrt Kant, indem er die Kausalität isoliert, die Frage um. Dort, wo es sich um die Herstellung von Identitäts- und Unterscheidungsbeziehungen auf dem kontinuierlichen Hintergrund der Ähnlichkeiten handelte, läßt er das umgekehrte Problem der Synthese des Unterschiedlichen erscheinen. Im gleichen Zug verlegt er die kritische Frage vom Begriff zum Urteil, von der Existenz der Gattung (die durch die Analyse der Repräsentationen gewonnen wurde) zu der Möglichkeit, die Repräsentationen miteinander zu verbinden, vom Recht, zu benennen, zur Grundlage der Attribution, von der namentlichen Gliederung zum Satz selbst und zum Verb s e i n, das ihn errichtet. Sie wird also absolut verallgemeinert. Statt lediglich Geltung hinsichtlich der Beziehung der

144. Ebd. 175

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Natur und der menschlichen Natur zu besitzen, erfragt sie die Möglichkeit jeglicher Erkenntnis.«145 Damit erfolgt ein erster Angriff auf die klassische Assoziationstheorie seit Locke und Hume: Neben den drei schon genannten Axiomen (Atomismus, Sensualismus, Mechanismus, vgl. Kap. 3.1.2) nennt Karl Bühler noch das »s u b j e k t i v is t i s c h e Axiom« – »der einzig legitime Ausgangspunkt der Psychologie ist die Selbstbeobachtung; ihr Gegenstand sind die Erlebnisse«146 –, »das durch neuere Entwicklungen infragegestellt wird.«147 Kant ist der erste, der hinter die Ebene der Repräsentationen im Geiste selbst zurückgeht, d. h. der nicht mehr allein das Verhältnis der Repräsentationen zueinander befragt: »Statt die Verbindung zwischen den Repräsentationen durch eine Art inneren Aushöhlens zu begründen, das sie allmählich bis zum reinen Eindruck hin aushöhlt, gründet er [Kant] sie auf die Bedingungen, die die allgemeingültige Form davon definieren. Indem er so seine Frage richtet, umgeht Kant die Repräsentation und was ihr gegeben wird, um sich direkt an das zu wenden, von wo ausgehend jede beliebige Repräsentation gegeben werden kann [...]. Jede [repräsentationistische] Verbindung muß, wenn sie universal sein soll, sich jenseits jeder Erfahrung in dem sie ermöglichenden Apriori begründen.« 148 Damit markiert Kants Denken »jenes Ereignis der europäischen Kultur, das am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zeitgenössisch ist: den Rückzug des Denkens (pensée) und des Wissens (savoir) aus dem Raum der Repräsentation.«149 Der ehedem selbstverständliche Ausgangspunkt des Denkens wird selbst Gegenstand des Fragens, und alles Philosophieren, das sich ausschließlich in ihm bewegt, ohne ihn auf seine Ermöglichungsbedingungen hin zu überschreiten, erscheint als »präkritisch«, als Metaphysik im pejorativen Sinne. Der Effekt dieser Gegenüberstellung ist das Nebeneinander zweier konkurrierender Formen des Wissens: »Negativ isoliert sich das Gebiet der reinen Erkenntnisformen, nimmt gleichzeitig Autonomie und Souveränität im Verhältnis zu jedem empirischen Wissen an […]; positiv verbinden sich die empirischen Gebiete mit Reflexionen über die Subjektivität, das menschliche Wesen und die Endlichkeit, nehmen sie Wert und Funktion von Philosophie ebensowohl an wie von Reduzierung der Philosophie oder von Gegenphilosophie.« 150 Für das 19. Jahrhundert kann schematisch eine Gliederung in zwei große Gruppen im Sinne Foucaults vorgeschlagen werden, um die Vielfalt der Forschungen

145. 146. 147. 148. 149. 150.

Foucault 1966, 209. Bühler 1927, Vorwort XI. Vgl. Bühler 1927, 17. Foucault 1966, 298. Foucault 1966, 299. Foucault 1966, 306. 176

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

zur Problematik der Assoziation im Überblick zu erfassen: der transzendentale Ansatz und der empirische Ansatz. Im Mittelpunkt dieses Diskurses taucht ein neues Thema auf: Der Mensch wird zu einer »empirisch-transzendentalen Dublette«151, der, indem er sowohl Gegenstand beider Ansätze werden kann wie auch deren Subjekt ist, den gemeinsamen verbindenden Boden bildet, ohne den die divergierenden Felder des Wissens gänzlich disparat wären. So kann man komplementär zu Kants Transzendentalismus (das Wissen vom Menschen auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin befragt) »neue Empirizitäten« (Arbeit, Leben, Sprache)152 als Gegenstände eines möglichen Wissens auftauchen sehen. Als ein selber der empirischen Analyse zugängliches »Objekt« der Wissenschaften »wird der Mensch durch die Arbeit, das Leben und die Sprache beherrscht: seine konkrete Existenz findet in ihnen ihre Bestimmung. Man kann zu ihm nur Zugang durch seine Wörter, seinen Organismus, die von ihm hergestellten Gegenstände haben. Als hielten sie als erste (und vielleicht allein) die Wahrheit in den Händen.«153 Empirisches und Transzendentales ergänzen und kritisieren einander wechselseitig: Auch die Transzendentalien müssen ihren »Ort« im Verhältnis zum Empirischen, ihren »Angriffspunkt« für die Erfahrung geltend machen können, wollen sie nicht gänzlich der Plausibilität entbehren und zugleich der Willkür entgehen, die ebenso »dogmatisch« wäre, wie es auf der anderen Seite ein Empirismus bleibt, wenn er die Bedingungen seiner Erfahrung nicht reflektierend durchsichtig machen kann: »So errichtet sich von der Kritik her – oder eher von jener Verschiebung des Seins im Verhältnis zur Repräsentation, deren erste philosophische Bestandsaufnahme der Kantianismus ist – eine grundlegende Korrelation: auf der einen Seite Metaphysiken des Objekts, genauer Metaphysiken jenes nie objektivierbaren Grundes, von dem die Gegenstände zu unserer oberflächlichen Erkenntnis kommen; und auf der anderen Seite Philosophien, die sich allein die Beobachtung genau dessen zur Aufgabe machen, was einer positiven Erkenntnis gegeben wird.«154

Der transzendentale Gesichtspunkt der Assoziation bei Immanuel Kant Kant, der auf den Bestand des englischen Empirismus eines Locke oder Hume zurückgreifen konnte, faßt in der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) das Phänomen der Assoziation als den bloß »subjektiven und empirischen Grund der Reproduktion nach Regeln« auf, dem er die »transzendentale Einheit der Apperzeption« als eine apriorische und notwendige voranstellt.155 Kant schneidet damit

151. 152. 153. 154. 155.

Foucault 1966, 384ff. Foucault 1966, 307. Foucault 1966, 378f. Foucault 1966, 302. Vgl. Kant 1781/1787, A 121 und A 100, B 139ff. 177

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

genau das Thema der Konstitution der Gegenstände der Erfahrung an, auf die sich die Empiristen als nicht weiter hintergehbare Gegebenheiten des Bewußtseins berufen hatten. Ganz seiner Einsicht gemäß, daß Begriffe ohne Erfahrung leer, Erfahrungen ohne Begriff blind seien, formuliert Kant für die der Erfahrung gegebene Assoziation deren eigentlichen Grund. Die Apperzeption allein begründet, »daß nur vermittels dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft, sogar die Affinität der Erscheinungen, mit ihr die Assoziation und durch diese endlich die Reproduktion nach Gesetzen, folglich die Erfahrung selbst möglich werde: weil ohne sie gar keine Begriffe von Gegenständen in eine Erfahrung zusammenfließen würden.«156 Das bedeutet, daß Kant, jenseits der empirischen Assoziationsgesetze Humes, »einen objektiven Grund für die Assoziation« in der transzendentalen Affinität fordert: »Die transzendentale Affinität der Erscheinungen liegt in ihrer Zusammengehörigkeit zu einem Objekt überhaupt, das als eine Substanz mit Akzidentien aufgefaßt ist, und gründet letztlich in ihrer Zusammenstimmung zur Einheit der transzendentalen Apperzeption, zum einheitlichen Bewußtsein meiner selbst.«157 Allerdings sind die Leistungen der Assoziation nach Kant begrenzt und bedürfen der transzendentalen Fundierung: »Die Assoziation stiftet nach Kant nur eine subjektive Einheit des Bewußtseins, die empirisch und ›ganz zufällig‹ ist. Diese assoziative Einheit des Bewußtseins ist eine Erscheinung, eine Bestimmung des inneren Sinnes, also keine transzendentale, nur empirische Einheit der Apperzeption. Sie besteht im Bewußtsein dessen, was der Mensch leidet, nicht im Bewußtsein seiner Denktätigkeit. Zu einer objektiven und transzendentalen Einheit kommt das Bewußtsein allein durch die Einheit der Apperzeption des ›Ich denke‹.«158 Während die Kritik der reinen Vernunft sich nur auf einige Beispiele für das Phänomen der Assoziation beschränkt, findet sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/1800) neben einer Aufzählung von Assoziationsgesetzen eine Unterscheidung verschiedener »sinnlicher Dichtungsvermögen«. Nachdem zuerst Verstand als das Vermögen zu denken (durch Begriffe sich etwas vorzustellen) als »das obere Erkenntnisvermögen (zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, als des unteren)«159 abgetrennt worden ist, unterteilt sich die Sinnlichkeit in den Sinn einerseits und die Einbildungskraft andererseits: »Das erstere ist das Vermögen der Anschauung in der Gegenwart des Gegenstandes, das zweite auch ohne die Gegenwart desselben.«160 In seiner Apologie der Sinnlichkeit161 hatte Kant schon die skeptische Anklage

156. 157. 158. 159. 160. 161.

Kant 1781/1787, A 123. Holenstein 1972, 240 und vgl. Kant 1781/1787, A 122f. Holenstein 1972, 244 und Kant 1781/1787, B 139ff. Kant 1798/1800, B § 37, 505. Kant 1798/1800, B § 13, 445. Kant 1798/1800, B § 8ff. 178

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

gegen die Sinnlichkeit abgewehrt. Sinnlichkeit verwirrt nicht den Verstand. Sie stellt bloß das ungeordnete Mannigfaltige dar, was sich dem Verstande und seinen Begriffen darbietet, damit diese über jenes verfügen. Die Verwirrung des Verstandes resultiert allein aus der Unfähigkeit oder einfachen Unterlassung des Verstandes, das Mannigfaltige nach seinen Begriffen zu ordnen. Sinnlichkeit verfügt nicht über den Verstand, sie liefert und ist ihrerseits bloßes, passives Material. Das den Sinnen Entspringende wird erst im Zusammenhang mit dem Wirken der Verstandesbegriffe Erfahrung. Urteile ohne Einmischung des Verstandes gibt es nicht, entspringen also nicht den Sinnen unmittelbar, weshalb der Irrtum immer nur dem Verstande zur Last fällt. Auch noch der Sinnenschein ist nicht den Sinnen zuzurechnen, sondern der Verwechslung des Verstandes, subjektive Vorstellungsart für objektive zu halten und somit Erscheinung als tatsächliche Erfahrung äußerer Gegenstände gelten zu lassen. Der Effekt der Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit besteht in folgendem: »Die Sinnenempfindungen werden dem Grade nach vermehrt durch 1) den Kontrast, 2) die Neuigkeit, 3) den Wechsel, 4) die Steigerung.« Und: »Abstechung (Kontrast) ist die Aufmerksamkeit erregende Nebeneinanderstellung einander widerwärtiger Sinnesvorstellungen unter einem und demselben Begriffe.«162 Die Neuigkeit des Seltenen und verborgen Gehaltenen belebt die Aufmerksamkeit und frischt die Sinnenempfindung auf, die durch Monotonie endlich in Atonie (Ermattung der Aufmerksamkeit) zu versiegen droht. Steigerung bis zur Vollendung meint: »Eine kontinuierliche Reihe dem Grade nach verschiedener auf einander folgender Sinnesvorstellungen hat, wenn die folgende immer stärker ist als die vorhergehende, ein Äußerstes der Anspannung (intensio), dem sich zu nähern erweckend, es zu überschreiten wiederum abspannend ist (remissio). In dem Punkte aber, der beide Zustände trennt, liegt Vollendung (maximum) der Empfindung, welche Unempfindlichkeit, mithin Leblosigkeit, zur Folge hat.«163 So wie Kant hier sein Konzept formuliert, muß es ein Ineinandergreifen von Sinnlichkeit und Verstand geben. Was aber das Einwirken des Verstandes auf die Sinnlichkeit möglich macht, ist das vorhergehende Vermögen der Einbildungskraft, das zwischen Verstand und Sinnen anzusiedeln ist. »Die Einbildungskraft (facultas imaginandi), als ein Vermögen der Anschauung auch ohne Gegenwart des Gegenstandes, ist entweder produktiv, d.i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht; oder reproduktiv, der abgeleiteten (exhibitio derivativa), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt.«164 Phantasie heißt die Einbildungskraft, sofern sie auch unwillkürliche Einbildungen hervorbringt (z. B. das Träumen). Schöpferisch ist sie deshalb aber nicht, denn sie ist

162. Kant 1798/1800, B § 23, 458. 163. Kant 1798/1800, B § 23, 461. 164. Kant 1798/1800, B § 25, 466. 179

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

weder »vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen«, noch erfindet sie das Material der Anschauung, »sondern muß den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen.«165 Neu und wichtig für unseren Zusammenhang ist Kants Fassung der produktiven oder dichtenden Einbildungskraft, da sie den transzendentalen Gesichtspunkt deutlicher werden läßt als die reproduktive, bloß zurückrufende.166 Letztere entspricht in ihren Leistungen dem phänomenalen Bestand der Assoziationspsychologie des Empirismus. »Es gibt drei verschiedene Arten des sinnlichen Dichtungsvermögens. Diese sind das bildende der Anschauung im Raum (imaginatio plastica), das beigesellende der Anschauung in der Zeit (imaginatio associans), und das der Verwandtschaft aus der gemeinschaftlichen Abstammung der Vorstellungen von einander (affinitas).«167 Das erstgenannte Vermögen ist also das der Einbildungskraft, aus sich heraus – unter Rückgriff auf das Material, das direkt den Sinnen oder der Erinnerung an sie entspringt – Bilder, ja räumlichplastische Vorstellungen zu erzeugen. Diese Qualität, Bild oder Gestalt zu sein und als solches als Einheit zu erscheinen, kann nicht dem Stoff der Erfahrung zugeschrieben werden, da Kant diesen allein als Mannigfaltiges ohne formende Kraft begreift. Damit kann dieses Vermögen nur apriorischen Charakter haben, wenn es auch erst mit der Erfahrung für die Analyse bewußt werden kann. Es folgt als zweites das Dichtungsvermögen der Beigesellung, das Kant allein als zeitliche Kontiguität bestimmt: »Das Gesetz der Assoziation ist: empirische Vorstellungen, die nach einander oft folgten, bewirken eine Angewohnheit im Gemüt, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch entstehen zu lassen.«168 Dem bloß empirischen Verlauf der Assoziationen, der sich nach der Regel der zeitlichen Kontiguität vollzieht, korrespondiert die transzendental aufgefaßte Affinität.169

165. Kant 1798/1800, B § 25, 468. 166. Vgl. Kant 1798/1800, B § 25, 466. 167. Kant 1798/1800, B §28, 475f. Zur Problematik der affinitas siehe im folgenden. Die Kategorie der Ähnlichkeit wird bei Kant also von der der Affinität abgelöst. 168. Kant 1798/1800, B §28, 477. 169. »Die transzendentale Affinität unterscheidet sich von der empirischen dadurch, daß für sie die Abhängigkeit von einem apriorischen Grund, für die empirische dagegen von einem bloß erfahrungsmässigen Grund maßgebend ist. Für die transzendentale Affinität ist die Zusammengehörigkeit zu einem Objekt [vgl. Kant 1781/1787, A 113] überhaupt, einer Substanz von Akzidentien, entscheidend, für die empirische die Zusammengehörigkeit zu einem bloß partikularen, empirisch zur Kenntnis genommenen Objekt. Wir könnten nicht der Regel der empirischen Affinität folgend in einem Zuckerwürfel die Eigenschaften weiß, hart und süß assoziieren, hätten wir nicht ein apriorisches Wissen von dem, was ein Objekt überhaupt ist, nämlich die Einheit einer Substanz, deren Akzidentien Quantität und Qualität besitzen und durch kausale Beziehungen zu anderen Substanzen bestimmt sind. Gleicherweise könnten wir nicht zwei Vorstellungen, rot und grün, in einer Kontiguitätsassoziation verknüpfen, verfügten wir nicht a priori 180

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Als drittes nämlich erläutert Kant die Affinität als »die Vereinigung aus der Abstammung des Mannigfaltigen von einem Grunde.«170 Der Sinnlichkeit muß zumindest die Qualität zugesprochen werden, der bloß empirischen Assoziation der Vorstellungen die Möglichkeit zu eröffnen, das Mannigfaltige, Ungeordnete zu ordnen und zu vereinigen: Denn »die regellos herumschweifende Einbildungskraft verwirrt, durch den Wechsel der Vorstellungen, die an nichts objektiv angeknüpft sind, den Kopf so, daß dem, der aus einer Gesellschaft dieser Art gekommen ist, zu Mute wird als ob er geträumt hätte. – Es muß immer ein Thema sein, sowohl beim stillen Denken als in der Mitteilung der Gedanken, an welches das Mannigfaltige angereihet wird, mithin auch der Verstand dabei wirksam sein; aber das Spiel der Einbildungskraft folgt hier doch den Gesetzen der Sinnlichkeit, welche den Stoff dazu hergibt, dessen Assoziation, ohne Bewußtsein der Regel, doch derselben und hiemit dem Verstande gemäß, obgleich nicht als aus dem Verstande abgeleitet, verrichtet wird.«171 Wie dies möglich sein soll, ist heftig umstritten. Zum einen wird die Einbildungskraft als regellos herumschweifende ohne objektive Anknüpfung beschrieben und vor ihren Auswirkungen gewarnt: ein Topos, der die ganze Anthropologie durchzieht. Zum anderen kann die Einbildungskraft »gemäß« dem Verstande verfahren, obwohl sie den »Gesetzen der Sinnlichkeit« folgt. Der zuvor zum bloß Mannigfaltigen der Erfahrung degradierte »Stoff« soll dennoch die Einbildungskraft gleichsam leiten können, so daß eine Gemäßheit zum Verstande sich ergibt, die Kant – zugegebenermaßen – nicht aus dem Verstande abzuleiten weiß. Um dennoch eine gewisse Plausibilität seiner Konstruktion zu erreichen, bemüht Kant eine Analogie: »Das Wort Verwandtschaft (affinitas) erinnert hier an eine aus der Chemie genommene, jener Verstandesverbindung analogische, Wechselwirkung zweier spezifisch verschiedenen, körperlichen, innigst auf einander wirkenden und zur Einheit strebenden Stoffe, wo diese Vereinigung etwas Drittes bewirkt, was Eigenschaften hat, die nur durch die Vereinigung zweier heterogener Stoffe erzeugt werden können. Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich, bei ihrer Ungleichartigkeit, doch so von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntnis, als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbe-

über die objektive Kontiguität, die aus dem Gesetz von Ursache und Wirkung hervorgeht.« (Holenstein 1972, 243) 170. Kant 1798/1800, B §28, 479. 171. Ebd. 181

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

greiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne.«172 Die Brüchigkeit der Kantischen Konstruktion wird besonders anhand der Frage nach dem Status dieser Analogie augenfällig: Ist sie skeptisch aufzufassen, also als bloße Übertragung von einer Sphäre in die andere, eingedenk ihrer Unangemessenheit, ja Kühnheit und Unbegreiflichkeit? Oder ist sie entgegen diesen Versicherungen zu verstehen, als Aussage über den reinen »Stoff« vor aller Erfahrung und Zurichtung durch die Sinnlichkeit und den Verstand? Es lassen sich in der Anthropologie sicher Argumente für beide Deutungen finden.173 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Kategorie der Ähnlichkeit, die den gesamten assoziationstheoretischen Diskurs seit der Antike durchzieht, bei Kant keine explizite Rolle spielt bzw. durch den Begriff der Affinität abgelöst wird. Diesen wiederum paraphrasiert Kant als »Verwandtschaft«, wobei eine zusätzliche Komplikation auftaucht, wenn zum einen das Problem der »Abstammung« damit berührt ist – Herkunft »von einem Grunde« – »zum anderen dasjenige der Fortpflanzung« (wovon die eben zitierte Analogie spricht), nämlich Erzeugung eines Dritten durch Vereinigung. In zeitlicher Hinsicht bzw. als Frage nach der verbindenden Kausalität wird unter ein und demselben Begriff der affinitas also zweierlei thematisiert: zum einen Fragen der Herleitung von einem Ursprung bzw. einer Ursache, zum anderen Fragen der Hinleitung zu einem gemeinsamen Dritten. Damit bleibt unentscheidbar, welche Funktion die produktive Einbildungskraft übernimmt – im Rahmen der Kritik des Erkenntnisvermögens –: Rückführung auf einen vorausliegenden Grund oder Erzeugung einer gemeinschaftlichen Einheit.

172. Kant 1798/1800, B §28, 479f. 173. Hier nur zwei Stellen: »Denn es ist mit jenen inneren Erfahrungen nicht so bewandt, wie mit den äußeren von Gegenständen im Raum, worin die Gegenstände nebeneinander und als bleibend festgehalten erscheinen. Der innere Sinn sieht die Verhältnisse seiner Bestimmungen nur in der Zeit, mithin im Fließen; wo keine Dauerhaftigkeit der Betrachtung, die doch zur Erfahrung notwendig ist, statt findet.« (Kant 1798/1800, B §4, 416) Oder: »Die dichtende Einbildungskraft stiftet eine Art von Umgange mit uns selbst, obgleich bloß als Erscheinungen des inneren Sinnes, doch nach einer Analogie mit äußeren.« (Kant 1798/1800, B §29, 484) 182

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Johann Friedrich Herbarts dynamische Auffassung psychischer Vorgänge Entgegen Kants Diktum, daß die Seelenlehre keine strenge Wissenschaft werden könne, weil – so in Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft – Mathematik nicht auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze anwendbar sei, hat Johann Friedrich Herbart, Lehrstuhlnachfolger Kants in Königsberg, »den Weg zur Konsolidierung der Psychologie als Wissenschaft eingeschlagen und die ersten Schritte unternommen, sie von der Philosophie zu trennen.«174 Er wendet sich scharf gegen die Annahmen einer Vermögenspsychologie, da sie nichts Wesentliches zur Klärung der im Bewußtsein gegebenen Phänomene beitrage. Psychologie entwirft er als »selbständige Erfahrungswissenschaft«175. So formuliert er in Psychologie als Wissenschaft, neugegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824/25): »Die Absicht dieses Werkes geht dahin, eine Seelenforschung herbeizuführen, welche der Naturforschung gleiche; in so fern dieselbe den völlig regelmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen überall voraussetzt, und ihm nachspürt durch Sichtung der Thatsachen, durch behutsame Schlüsse, durch gewagte, geprüfte, berichtigte Hypothesen, endlich, wo es irgend sein kann, durch Erwägung der Größen und durch Rechnung.« 176 Trotzdem lehnt er das Experiment als bedeutendes Hilfsmittel der Erfahrungswissenschaft ab: »Die Psychologie darf mit den Menschen nicht experimentieren; und künstliche Werkzeuge giebt es für sie nicht. Desto sorgfältiger wird die Hülfe der Rechnung zu benutzen sein.«177 Es gilt als ausgemacht, daß Herbart dennoch großen Einfluß auf die spätere Experimentalpsychologie, insbesondere Fechners ausgeübt hat. Die Psychologie geht nach Herbart vom Gegebenen aus: »Die Thatsachen des Bewußtseins sind ohne Zweifel die Anfangspunkte alles psychologischen Nachdenkens«.178 In diesen findet sie allerdings nicht ihren letzten Grund: »Hingegen der Psychologie liegt kein Stoff zum Grunde, der sich klar vor Augen legen, bestimmt nachweisen, einer regelmässig und ohne Sprung von unten aufsteigenden Abstraction unterwerfen liesse. Die Selbstbeobachtung verstümmelt die Thatsachen des Bewußtseins schon in der Auffassung, reisst sie aus ihren nothwendigen Verbindungen und überliefert sie einer tumultarischen Abstraction, welche nicht eher einen Ruhepunkt findet, als bis sie bei den höchsten Gattungsbegriffen, dem Vorstellen, Fühlen und Begehren angelangt ist.«179

174. 175. 176. 177. 178. 179.

Amin 1973, 84. Amin 1973, 84. Herbart 1824/25, 198. Herbart 1824/25, 9. Herbart 1824/25, 203. Herbart 1824/25, 8. 183

2005-09-16 12-49-31 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 183-223) T03_03 kapitel Theoriegeschichte TEIL 4.p 94863182134

GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Was die letzten Elemente des Seelenlebens sind, muß die Metaphysik beantworten, und Herbart verweist zu diesem Zweck auf seine eigenen Ausführungen De attractione elementorum180, in denen er von vielen einfachen, ›wirklichen‹ Dingen – bzw. vom Realen – redet, die man durch das logische Denken und Schlußfolgern genötigt sei anzunehmen und die weder einander berühren noch sich verändern: »Das Reale ist unveränderlich, weil die Störungen, die einem Druck ähnlich sind, und die Strebungen zur Selbsterhaltung, die einem Widerstand gleichen, sich gegenseitig im Gleichgewicht erhalten.«181 Als solche Störungen werden auch die Vorstellungen begriffen, die sich in dem einfachen Realen ›Seele‹ bilden. Aber ganz kantianisch weiß Herbart doch: »Alles unmittelbar Gegebene ist Erscheinung; alle Kenntnis des Realen beruht auf der Einsicht, dass das Gegebene nicht erscheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre.« Dementgegen fährt er allerdings fort: »Die Schlüsse aber von der Erscheinung auf das Reale beruhen nicht auf eingebildeten Formen des Anschauens und Denkens.«182 Deutlich auf Kant anspielend wendet er sich dagegen, Raum, Zeit und Kausalität als Beschränkungen des menschlichen Erkenntnisvermögens mit zufälliger Natur zu sehen: »Wer dieser Meinung zugethan ist, der verfährt consequent, wenn er die Schlüsse von der Erscheinung auf das Reale für ein blasses Ereigniss in unserem Erkenntnisvermögen hält; der Fehler liegt aber daran, dass er die Formen des Denkens bloss empirisch kennt, ohne Einsicht in deren innere und unabänderliche Nothwendigkeit. Wäre ihm diese klar, so würde er auch richtigen Schlüssen vertrauen.«183 Damit ist der Weg eröffnet für eine Forschung analog zur Naturwissenschaft: »Die Psychologie hat einige Aehnlichkeit mit der Physiologie; wie diese den Leib aus Fibern, so construirt sie den Geist aus Vorstellungsreihen.«184 Vorstellungen sind zwar für sich genommen bloße Erscheinungen, aber als Teile der Seele charakterisieren sie deren Wirken und gestatten so Rückschlüsse auf die Seele als ein Reales. Auch wenn die Vorstellungen Herbart zufolge als Kräfte betrachtet werden müssen, »deren Wirksamkeit von ihrer Stärke, ihren Gegensätzen und Verbindungen abhängt, welches alles gradweise verschieden ist«185, so sind sie doch an sich keine Kräfte: »Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen [...]. An sich selbst aber sind die Vorstellungen nicht Kräfte.«186 Das gegenseitige Aufeinandereinwirken führt so dazu, daß einige Vorstellungen anderen gegen-

180. 181. 182. 183. 184. 185. 186.

Vgl. Herbart 1824/25, 111 Fn. 1. Amin 1973, 85. Herbart 1824/25, 201. Ebd. Herbart 1824/25, 192. Herbart 1824/25, 12. Herbart 1824/25, 15. 184

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

über sich durchsetzen und letztere »verdrängt«, aber nicht vernichtet werden: »Das heisst, das wirkliche Vorstellen verwandelt sich in ein Streben vorzustellen.«187 Für diesen Zusammenhang ist es aufschlußreich, wie Herbart im zweiten Kapitel »Vom Gleichgewichte und den Bewegungen der Vorstellungen« seines Lehrbuchs der Psychologie (1816) seine Konzeption von der »Statik und Mechanik des Geistes« entwickelt: »Die Statik des Geistes bestimmt die Gesetze der sich im Gleichgewicht befindlichen Vorstellungen und kennt zwei Größen, die Summe der Hemmungen, d. h. die Summe dessen, was aus dem Bewußtsein gedrängt wurde, und das Hemmungsverhältnis, in welchem sich der Stärkeverlust auf die verschiedenen Vorstellungen verteilt. Mit der Mechanik der Bewegung sollen das Aufsteigen und Sinken der Vorstellungen, deren Assoziation und Reproduktion in mathematischen Formeln erfaßt werden können.« 188 Dabei weist das Bewußtsein, »die Gesamtheit alles gleichzeitigen wirklichen Vorstellens«189, eine Schwelle auf, die von den Vorstellungen überwunden werden muß, ehe man sagen kann, sie seien »bewußt«: »Eine Vorstellung ist im Bewusstsein, in wiefern sie nicht gehemmt, sondern ein wirkliches Vorstellen ist. Sie tritt ins Bewusstsein, wenn sie aus einem Zustande völliger Hemmung sich erhebt. Hier also ist sie an der Schwelle des Bewusstseins.«190 Das Bewußtsein erhebt sich also gleichsam vom Ganzen der Seele, welche seinen Grund bildet. Vorstellungen des Bewußtseins und ebenso aus diesem verdrängte Vorstellungen unterliegen dem Grundprinzip der Selbsterhaltung wie jedes andere Reale auch, ja, sie sind die Selbsterhaltungen der Seele.191 Während jedoch die Vorstellungen außerhalb des Bewußtseins »mit anderen nicht in Verbindung treten, denn sie sind ganz und gar in ein Streben wider bestimmte andere verwandelt und dadurch gleichsam isolirt«192, so erzeugt die Vorstellungsmechanik im Bewußtsein »Complexionen und Verschmelzungen«: »Aber im Bewusstsein verknüpfen sich die Vorstellungen auf zweierlei Weise: erstlich compliciren sich die nicht entgegengesetzten (wie Ton und Farbe), so weit sie ungehemmt zusammentreffen; zweitens verschmelzen die entgegengesetzten, so weit sie im Zusammentreffen weder von zufälliger fremder, noch von der unvermeidlichen gegenseitigen Hemmung leiden. Die Complicationen können vollkommen sein, die Verschmelzungen sind ihrer Natur nach allemal unvollkommen.«193

187. 188. 189. 190. 191. 192. 193.

Herbart 1824/25, 116. Amin 1973, 86; vgl. Herbart 1816, 17ff. Herbart 1816, 18. Ebd. Vgl. Herbart 1824/25, 110. Herbart 1824/25, 21. Ebd. 185

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Komplexion trifft auf synästhetische Verknüpfungen, Verschmelzung auf Verknüpfungen innerhalb eines Wahrnehmungsfeldes zu. Letztere kann als Indiz für die logisch-inhaltlichen Beziehungen von Vorstellungen zueinander gewertet werden, die also entgegen Nowacks Behauptung194, diese finde bei Herbart keine Berücksichtigung, doch bedingt Wirksamkeit zugesprochen bekommt. Auch der Gedanke, daß Verknüpfung mehr als die Summe ihrer Teile ist, findet sich bei Herbart: »Was von mehrern Vorstellungen complicirt oder verschmolzen ist, das ergiebt eine Totalkraft, und wirkt deshalb nach ganz andern statischen und mechanischen Gesetzen, als wonach die einzelnen Vorstellungen sich würden gerichtet haben.«195 Für den Vorgang des Neuauftauchens von Vorstellungen, seien es nun innere oder äußere Wahrnehmungen, im Bewußtsein wählt Herbart den Ausdruck »Perzeption«, welcher durch den der Apperzeption ergänzt wird, was soviel wie die Aufnahme und Integration des Neuen in schon vorhandene Vorstellungsmassen meint. »Die Auffassungen [der Sinne] […] werden appercipirt oder zugeeignet, indem ältere gleichartige Vorstellungen erwachen, mit jenen verschmelzen, und sie in ihre Verbindungen einführen.«196 Herbart legt hier dar, inwiefern das schon im Bewußtsein Vorhandene ein wirksamer Faktor dafür ist, wie das Neue im Bewußtsein aufgenommen und verarbeitet wird. Apperzeption im Verein mit Komplexion und Verschmelzung übernimmt in Herbarts Psychologie eine ähnlich differenzierende Funktion, wie es die sekundären Assoziationsgesetze bei Thomas Brown taten, gehen doch Erwartung und Aufmerksamkeit als Einflußfaktoren des bewußten Erlebens auf die Apperzeption zurück. »So beobachten wir ein Schauspiel, indem gleich der Anfang desselben eine Menge von Vorstellungen in Bewegung bringt, wie das Stück wohl fortgehen könnte; mit welchen alsdann der wirkliche Verlauf in allerlei Verhältnisse der Hemmung und Verschmelzung eintritt.«197 Die klassischen Assoziationsgesetze stellen für Herbart nur eine oberflächliche Form dar, die den tatsächlichen Vorstellungsverlauf nicht zu erklären vermag. Der nämlich wird seiner Auffassung nach eben durch die Mechanik und Statik des Geistes erst durchsichtig: »Gedankenlos steht seit Jahrhunderten die empirische Psychologie vor dem Schauspiel, was die von ihr sogenannte Association der Ideen ihr darbietet; sie erzählt, dass sich die Vorstellungen nach Raum und Zeit associieren; und es fällt ihr nicht einmal ein, dass alle Räumlichkeit und Zeitlichkeit eben nur die näheren Bestimmungen dieser Association sind, die in der Wirklichkeit nicht so schwankend vorhanden ist, wie die gangbare Be-

194. Nowack 1925, 21f. 195. Herbart 1824/25, 22. Vgl. auch Amin 1973, 87, der auch auf die »Inhaltlichkeit« der Assoziation hinweist. 196. Herbart 1824/25, 192. 197. Ebd. 186

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schreibung davon lautet, sondern mit der strengsten mathematischen Regelmässigkeit sich erzeugt und fortwirkt.«198 Die Dynamik der Vorgänge im geistigen Leben in der Psychologie Herbarts tragen zur Klärung des Begriffes der Assoziation einige neue Gesichtspunkte bei, die im 19. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen worden sind, nicht zuletzt durch Freud. Das Psychische im Ganzen wird bei ihm unter die Vorherrschaft eines Regulativs gestellt, welches alle Vorgänge leitet: das Selbsterhaltungsprinzip. Jede Störung tendiert dahin, ausgeglichen zu werden. Als zweites ist der Vorgang der Verdrängung von Vorstellungen zu nennen, die als aus dem Bewußtsein verdrängte sich solange erhalten, bis sie ihre Tendenz, wieder vorgestellt zu werden, geltend machen können und wieder ins Bewußtsein zurücktreten. An dritter Stelle ist sein psychologischer Begriff der Apperzeption zu erwähnen, der für den deutschen Sprachraum neuartig und mit der Einführung der sekundären Assoziationsgesetze zur differenzierteren Beschreibung auch individueller seelischer Phänomene vergleichbar ist. Ein weiteres Verdienst Herbarts ist es, auf dem Gebiet der Psychologie die Begriffe der Hemmung und der apperzeptiven Bindung eingeführt zu haben, was zu einer erheblichen Systematisierung beigetragen hat. Was jedoch den größten Teil seiner heutigen Leser wohl weniger überzeugen dürfte, ist sein Versuch, »alle seelischen Vorgänge, die dem Bewußtseinsleben zugrunde liegen, als eine Vorstellungsmechanik analog der physikalischen Mechanik«199 zu begreifen und sie als von mathematisch erfaßbaren Gesetzen beherrscht zu entwerfen.

3.2 Zur Frühgeschichte der Psychoanalyse: Die Wiederkehr der Ähnlichkeit in der Hysterie 3.2.1 Psychophysik – Voraussetzung und Korrelat der Psychoanalyse: Hermann Ebbinghaus Es dauert fast ein Jahrhundert, bis sich auf dem Feld der empirischen Wissenschaften eine auf das Psychische des Menschen zielende experimentelle Methode etabliert. Die ersten Forschungslaboratorien entstehen um 1880: 1876 richtet William James an der Harvard-Universität einen physiologischen Versuchsraum ein; Wilhelm Wundt gründet 1879 das erste psychologische Laboratorium in Leipzig; im gleichen Jahr beginnt Hermann Ebbinghaus seine berühmt gewordenen Gedächtnisversuche, und Francis Galton entwickelt einen Fragebogen über Vorstellungsbilder; 1883 folgt dann das erste amerikanische psychologische Laboratorium an der Johns-Hopkins University, begründet durch Stanley Hall. Psy-

198. Herbart 1824/25, 200. 199. Amin 1973, 87. 187

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chologische Gesellschaften, Zeitschriften und internationale Kongresse (1889 der erste) weisen auf die rasche Verbreitung des neuen Ansatzes hin, dessen Vorläufer, insbesondere was die Physiologie betrifft, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Das Messen psychischer Phänomene kann man mit dem Physiologen E. H. Weber auf das Jahr 1834 datieren, in dem er seine Untersuchung »De tactu« veröffentlicht, die ein Verhältnis der Abhängigkeit zwischen Reizzuwachs und Empfindungszuwachs aufzeigt. Zum Weber–Fechnerschen Gesetz ist es später von Gustav Theodor Fechner als psychophysisches Grundgesetz verallgemeinert worden.200 Für den Zusammenhang dieser Arbeit interessieren besonders diejenigen Versuche, die sich der Analyse der Vorstellungsverknüpfung zuwenden. Als wichtigster Anreger kann wohl Hermann Ebbinghaus gelten.201 Seine im Selbstversuch durchführten Gedächtnisexperimente, deren Ergebnisse er im Jahr 1885 veröffentlicht, verfolgen das Ziel, zu zeigen, was die ›reine‹ Merkfähigkeit des Gedächtnisses ist – ›rein‹ deswegen, weil er es ablehnt, dem Gedächtnis Merkhilfen jeglicher Form, so wie sie in der langen Tradition der ars memoria entwickelt worden sind, zuzugestehen.202 Durch »Herstellung möglichst konstanter Versuchsumstände«203 und ein quasi neutrales Material, das auswendiggelernt wird, soll eine einzelne Funktion des menschlichen Geistes für sich untersucht werden, ohne daß irgendwelche anderen hineinspielen. Als Material wählt Ebbinghaus von ihm selbst erstellte, sinnlose Silben, die keinen anderen Zusammenhang entstehen lassen als den, der durch ihre zufällige Aneinanderreihung gegeben ist.204 »Das beschriebene, völlig sinnlose Material bietet, zum Teil wegen seiner Sinnlosigkeit, mannigfaltige Vorteile. Es ist zuvorderst verhältnismäßig gleichartig. Bei den zunächst

200. Vgl. die kurze Darstellung bei Hehlmann 1963, 154ff. 201. Im Vorwort zu seinem Abriss der Psychologie bestimmt Ebbinghaus seinen Standpunkt innerhalb der Psychologie als »materialistischen«, wehrt sich allerdings gegen dessen polemische Verkürzung von Seiten der Kritik: »Und so sei der Leser also benachrichtigt, daß es der Materialismus Spinozas, Goethes, Fechners ist, den er bei mir findet.« (Ebbinghaus 1908/1922, 4) Psychophysischer Parallelismus als Grundlage seines methodischen Positivismus im Gedächtnisversuch – für Ebbinghaus durchaus kein unvereinbarer Gegensatz. 202. Ebbinghaus 1885, 22. 203. Ebbinghaus 1885, 21. 204. Steinar Kvale hat darauf hingewiesen, daß diese Fixierung auf sinnfreie Sinnesdaten nicht nur einer statischen, atomistischen, dekontextualisierten, letztlich »metaphysischen« Weltauffassung entspricht, sondern methodologisch die psychologische Forschung in ihrem Geltungsanspruch auf die Künstlichkeit der Laborsituation einschränkt: »Da sinnlose Silben und Listen von unverbundenen Wörtern eine besondere Art des Erinnerns hervorrufen […], ist es möglich, daß einige der theoretischen Probleme innerhalb der metaphysischen Gedächtnisforschung Scheinprobleme und für das Erinnern in natürlichen Kontexten irrelevant sind.« (Kvale 1974, 241) 188

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sich darbietenden Stoffen, Gedichten oder Prosastücken, muß der bald erzählende, bald beschreibende, bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische, dort eine lächerliche Wendung, die Schönheit oder Härte der Metaphern, die Glätte oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim eine Fülle von unregelmäßig wechselnden und deshalb störenden Einflüssen ins Spiel bringen: hin- und herspielende Assoziationen, verschiedene Grade der Anteilnahme, Rückerinnerungen an besonders treffende oder schöne Verse usw. Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen tausend Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die einen Sinn ergeben, und unter diesen wiederum nur einige wenige, bei denen während des Lernens auch der Gedanke an diesen Sinn geweckt wurde.« 205 Mit Kittler kann man sagen: »Zur Isolation des Gedächtnisses von allen anderen Kulturtechniken scheiden Signifikate, weil sie Hermeneutik provozieren würden, von vornherein aus […] all diese einst gepriesenen Seelentätigkeiten waren nur ›störende Einflüsse‹.«206 Wie man an der Fülle der in dieser Zeit entstehenden Versuche und Untersuchungen zu einzelnen Fähigkeiten des menschlichen Geistes sehen kann, besteht das Prinzip dieser Forschungen in der Isolierung, so daß der generelle Ansatz der Psychophysik darauf hinausläuft, »Diskurse in einzelne und diskrete Funktionen zu zerfällen«207. Der für die gesamte Tradition integre Geist wird in den Gedächtnislaboratorien zerlegt und mechanisiert: »Diese Funktionen haben erstens nichts miteinander und zweitens nichts mit einem einheitsstiftenden Bewußtsein zu tun; sie sind automatisch und autonom […]. Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen kommen um 1900 als isolierte Funktionen, ohne dahinterstehendes Subjekt oder Denken, auf den Prüfstand.«208 Die Versuchsanordnung von Ebbinghaus ist eine, die sich, da sie am lebenden Objekt stattfindet, tendenziell sämtlicher Lebensumstände bemächtigen muß, um kontrollierte und vergleichbare Meßbedingungen herzustellen: »Endlich und hauptsächlich wurde darauf geachtet, daß die äußeren Lebensumstände, während der Perioden der Versuche, wenigstens vor allzu großen Veränderungen und Unregelmäßigkeiten bewahrt blieben. Natürlich ist dies im Verlauf vieler Monate nur mit erheblichen Einschränkungen möglich.«209 Sogar die Tageszeit der Versuche wurde auf denselben Zeitpunkt geeicht, Abweichungen hiervon führten zur Unterbrechung der Versuchsreihe: »Bei allzu großen Änderungen des äußeren oder inneren Lebens wurden die Versuche vorübergehend ausgesetzt.«210 Ebbinghaus macht also seinen eigenen Lebenswandel zur Versuchsanordnung: Sich selbst in dieser Weise zu unterwerfen, führt an die Grenze des Menschenmöglichen – als Folge des ununterbrochenen Memorierens »stellten

205. 206. 207. 208. 209. 210.

Ebbinghaus 1885, 20. Kittler 1985, 213 und vgl. Ebbinghaus 1885, 20. Kittler 1985, 218. Kittler 1985, 219. Ebbinghaus 1885, 22. Ebd. 189

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sich manchmal Abspannung, Eingenommenheit des Kopfes usw. ein, welche bei weiterer Steigerung die Versuchsumstände kompliziert hätten.«211 Kittler erinnert in diesem Zusammenhang an Nietzsches Ausführungen in der Genealogie der Moral: »Psychophysik ist also sehr real und zumal für ihren Erfinder, dem sie (wie alle Mnemotechnik laut Nietzsche) physische Beschwerden macht.« 212 Ebbinghaus’ Versuch läuft darauf hinaus, das Gedächtnis nur unter dem Aspekt der Kontiguität zu erfassen, so daß Kontrast und Ähnlichkeit oder die sekundären Assoziationsgesetze ihrer Wirkung und Mithilfe systematisch beraubt werden sollen. Ähnlichkeit des Materials untereinander soll es nicht geben: Alle ca. 2300 Silben sind verschieden, auch wenn sie der gleichen Produktionsregel Konsonant–Vokal–Konsonant entspringen. Jede Ähnlichkeit zur Muttersprache ist getilgt: Alle Silben sind »künstlich« erzeugt, und zufällige Übereinstimmungen werden zusätzlich aussortiert.213 Die Sekundärgesetze können, da sie ja wesentlich dazu dienten, die durch die Lebensumstände verursachten Differenzen verstehbar zu machen, bei der beschriebenen Gleichförmigkeit also keineswegs als Einflußfaktoren geltend gemacht werden. Die Vorstellungen, die Ebbinghaus im Gedächtnis hat, werden auf ihre Haftbarkeit ›an sich‹ getestet: Das, was es sich zu merken gilt, ist das sinnentleerteste Material, das sich denken läßt. In dem Maße, wie das Material komplexer organisiert wird, erscheint auch der Geist, in welchem es gespeichert ist. Der Ebbinghaussche Positivismus besteht in dieser Reduktion aufs Material, und er duldet nichts, was nicht als isolierbares Zeichen aufschreibbar ist. Jede nicht wahrnehmbare Verbindung zwischen den Zeichen (also auf mentalen Prozessen beruhende Beziehung), Bedeutung oder Ähnlichkeit ist zugunsten der Kontiguität suspendiert: Sichtbar im Räumlichen stehen Silben auf dem Papier, hörbar sind sie als zeitliches Nacheinander der Töne: »Sprache gerät in einen artifiziellen Rohzustand.«214 Ebbinghaus macht sich mithin zu jenem »leeren Blatt«, von dem Locke als philosophischem Konstrukt ausgegangen war, indem jetzt ein Positivismus der benennbaren Versuchsbedingungen alle Substantialität, die Geist noch um 1800 für Philosophen hatte, nach außen kehrt und das Innen als Entleertes übrigläßt. Die Vermögen des Geistes, namentlich seine Fähigkeiten des Verstehens und Erinnerns, werden von Ebbinghaus’ Gedächtnisversuch unterlaufen: Was als Rest bleibt, ist eine reine Mechanik des Gedächtnisses. Daß diese Mechanik auch die Kategorie des Sinns kontaminiert, zeigt ein Kontrollversuch an einem Canto aus Byrons Don Juan: Die Differenz der Ergebnisse »zwischen sinnvollem und sinnlosem Material [seien] praktisch bei weitem nicht so groß [...], als man a priori geneigt ist, sich vorzustellen.«215 Diese Nivellierung greift unmittelbar jenes hermeneutische Konzept des Geistes an, das vom

211. 212. 213. 214. 215.

Ebbinghaus 1885, 46. Kittler 1985, 213. Vgl. Ebbinghaus 1885, 19 Fn. Kittler 1985, 213. Ebbinghaus 1885, 20. 190

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Primat des Sinns ausgegangen und das Verstehen als fundamentale Leistung anzusetzen gewohnt war. Vor allem Verstehen tut sich nun aber ein Feld auf, das nicht im Verstehen gründet, vielmehr dieses erst ermöglicht – oder, wie Kittler plastisch formuliert: »Am Horizont des Tests, der Ebbinghaus nichts mehr angeht, wohl aber alsbald Freud und die Schriftsteller, steht also eine Differenzialität vor jeder Bedeutung: die nackte und rohe Existenz von Signifikanten.«216 Eine direkte Konsequenz dieser Unterschiedslosigkeit des Materials besteht für die Psychophysik darin, daß alle Kulturtechniken – egal ob sie nun der hohen Kunst oder den einfachsten Denkleistungen zugerechnet werden können – nach ein und demselben Maß untersucht werden können. In einer weiteren Wendung heißt das auch, daß sie solche Fähigkeiten erforscht, »die unter Alltagsbedingungen überflüssig oder krankhaft oder obsolet heißen müßten.«217 Insofern kann Freuds Psychopathologie des Alltagslebens hier angeschlossen werden, ist sie doch der anschauliche, aber gewagte Versuch, der das Normale und das Pathologische miteinander verquickt und es als prinzipiell vergleichbar hinstellt. Zugleich zeigt sich hier am Beispiel der Gedächtnisforschung, wie die empirische Psychologie in einer historischen Weichenstellung durch Experimentalisierung der subjektiven Erfahrung in eine Verengung und Verarmung des untersuchten Gegenstandsfeldes hineingerät und die eigene Vorgehensweise unter der Rubrik der Objektivierung verbucht, ohne die mit dem experimentellen Prüfverfahren selbst verbundenen (Neben-)Effekte adäquat und möglichst umfassend reflektieren zu können: »Es gibt einige andere Typen des Gedächtnisses, die durch Prüfungen nicht gefördert worden sind. So werden die kollektive Reproduktion in Gruppen [so z. B. Halbwachs 1925], das kreative Erinnern, Erinnern als Wieder-Durchleben oder als erneutes dramatisches In-Szene-Setzen und eine Wieder-Vergegenwärtigung als Mittel zur Lösung von praktischen Aufgaben selten durch die gängigen Prüfungsformen verstärkt. Auch für die psychologische Gedächtnisforschung waren sie nicht von zentraler Bedeutung. Dieses Versäumnis hängt mit der metaphysischen Konzeption eines ›reinen‹, mit den Tätigkeiten von Subjekten in einer spezifischen, sozial-historischen Situation nicht verbundenen Gedächtnisses zusammen.«218

3.2.2 Die anatomische Ortlosigkeit der psychischen Funktionen: »Zur Auffassung der Aphasien« Gerade an den Phänomenen, die unter dem Namen Aphasie zusammengefaßt werden, zeigt sich die Reichweite des psychophysischen Diskurses besonders deutlich.219 In diesen Kontext kann auch eine der frühen Schriften Freuds aus

216. 217. 218. 219.

Kittler 1985, 214. Kittler 1985, 220. Kvale 1974, 252f. »Apoplexien, Kopfschußwunden und Paralysen haben die grundlegende Ent191

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dem Jahr 1891 gestellt werden, die auf den Bestand des Wissens über Aphasie eingeht: Freud rekapituliert darin zuerst Wernicke, Broca und andere Aphasieforscher, um dann zu seiner »Auffassung der Aphasien« überzugehen. Zwar berührt auch eine physiologische Herangehensweise an Sprachphänomene implizit deren psychologische Seite. Freud mißtraut aber psychologischer Evidenz, die von »einfachen Sinnesvorstellungen« spricht und glaubt, damit etwas Elementares gefunden zu haben, welches nun ohne weiteres auf physiologische Korrelate bezogen werden könne: »Wenn der ›Wille‹, die ›Intelligenz‹ u. dgl. als psychologische Kunstworte erkannt sind, denen in der physiologischen Welt sehr complicirte Verhältnisse entsprechen, weiss man von der ›einfachen Sinnesvorstellung‹ denn mit grösserer Bestimmtheit, dass sie etwas Anderes als ein solches Kunstwort ist?«220 Psychisches und Physisches können »wahrscheinlich nicht im Verhältniss der Causalität«221 aufeinander bezogen werden, und Freud erläutert: »In der Psychologie ist die einfache Vorstellung für uns etwas Elementares, das wir von seinen Verbindungen mit anderen Vorstellungen scharf unterscheiden können. Wir kommen so zur Annahme, dass auch deren physiologisches Correlat, die Modification, die von der erregten, im Centrum endigenden Nervenfaser ausgeht, etwas Einfaches ist, was sich an einem Punkt localisiren lässt. Eine solche Uebertragung ist natürlich vollkommen unberechtigt; die Eigenschaften dieser Modificationen müssen für sich und unabhängig von ihrem psychologischen Gegenstück bestimmt werden [...]. Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des Physiologischen«.222 Für den Neurophysiologen Freud besteht also eine irreduzible Trennung zweier Vorgänge, deren Rückführbarkeit aufeinander nicht möglich ist, obwohl sie parallelisiert erscheinen. Im weiteren Fortgang seiner Monographie zeigt Freud als Physiologe, daß es nach dem Stand des Wissens der Hirnanatomie seiner Zeit unmöglich ist, die komplexen Leistungen der Sprache, oder besser: das Ausbleiben dieser, an einem Punkt zu lokalisieren. Nicht nur einzelne Vorstellungen, sondern ebenso die Assoziationen zwischen ihnen fügen sich einer strengen Isolierung und Zuordnung nicht:

deckung ermöglicht, auf die jede Zuordnung von Kulturtechniken und Physiologie zurückgeht. 1861 lokalisiert Broca die motorische Aphasie und d.h. das Unvermögen, trotz Bewußtsein und Hörfähigkeit Wörter zu sprechen, in einer Läsion umschriebener Hirnwindungen. 1874 führt Wernicke den spiegelbildlichen Nachweis, daß sensorische Aphasie oder das Unvermögen, trotz Sprechfähigkeit Wörter zu hören, einem Ausfall anderer Hirnrindenbereiche entspricht. Die Methode, Kulturtechniken gerade an Defiziten isolierbar und meßbar zu machen, führt schließlich zur Zerfällung des Diskurses in lauter einzelne Parameter.« (Kittler 1985, 221) 220. Freud 1891, 56. 221. Ebd. 222. Freud 1891, 57. 192

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»Die Localisation des physiologischen Correlats ist also für Vorstellung und Association dieselbe, und da Localisation einer Vorstellung nichts Anderes bedeutet, als Localisation ihres Correlates, so müssen wir es ablehnen, die Vorstellung an den einen Punkt der Hirnrinde zu verlegen, die Association an einen anderen. Beides geht vielmehr von einem Punkte aus, und befindet sich an keinem Punkte ruhend.«223 Die Lösung, die Freud entwirft, ist eine funktionelle, die ein Ineinandergreifen von für isolierbar gehaltenen Hirnzentren aufzeigt: »Wir weisen also die Annahmen zurück, dass der Sprachapparat aus gesonderten Centren bestehe, welche durch functionsfreie Rindengebiete getrennt sind, ferner dass an bestimmten Rindenstellen, welche Centren zu nennen sind, die Vorstellungen (Erinnerungsbilder), welche der Sprache dienen, aufgespeichert liegen, während deren Association ausschliesslich durch weisse Fasermassen unterhalb der Rinde besorgt wird. Dann bleibt uns nur übrig, die Anschauung auszusprechen, dass das Sprachgebiet der Rinde ein zusammenhängender Rindenbezirk ist, innerhalb dessen die Associationen und Uebertragungen, auf denen die Sprachfunctionen beruhen, in einer dem Verständniss nicht näher zu bringenden Complicirtheit vor sich gehen.«224 Allenfalls lassen sich gewisse Schwerpunkte ausmachen in diesem »Associationsgebiet der Sprache«, das keine ihm eigentümlichen zu- und ableitenden Faserbahnen besitzt, welche ihm eine gesonderte Verbindung zur Körperperipherie ermöglichen würden.225 Der Sprachapparat muß also, wenn überhaupt, »zwischen den Rindenfeldern« der Sinnesnervenbahnen verortet werden.226 Die Unterschiedlichkeit der durch Läsionen verursachten sprachlichen Defizite bestimmt sich also nur durch die Nähe zu der den entsprechenden Sinnen zugeordneten Nervenbahnen. »Verschiebt man die Läsion weiter ins Innere des Associationsfeldes, so wird der Effect ein undeutlicher sein; keinesfalls wird sie alle Associationsmöglichkeiten von einer Art vernichten können.«227 Dieser physiologisch-anatomischen Sprachauffassung entsprechend wird die für die Psychologie der Sprache gültige Einheit der Sprachfunktion, das Wort228, als selber Zusammengesetztes gekennzeichnet, dessen einzelne Anteile psychologisch wiederum einsichtig gemacht werden können. »Man führt gewöhnlich vier Bestandtheile der Wortvorstellung an: ›das Klangbild‹, das ›visuelle Buchstabenbild‹, das ›Sprachbewegungsbild‹ und das ›Schreibbewegungsbild‹.«229 Spra-

223. Freud 1891, 58f. 224. Freud 1891, 64. 225. Vgl. Freud 1891, 68f. 226. Vgl. Freud 1891, 65. 227. Ebd. 228. Diese Meinung Freuds ist durch den historischen Standpunkt bedingt; heutige Sprachpsychologie würde sich kaum damit identifizieren lassen (vgl. Miller 1991). 229. Freud 1891, 75. 193

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che zerfällt demnach in Einzelteile: »in optische und akustische, sensorische und motorische Nervenreize und erst damit in Signifikant/Signifikat/Referent«. Und Kittler fährt fort: »Denn nur auf dem Boden der Psychophysik macht es terminologisch Sinn, daß Saussure zur Begründung einer neuen Linguistik das Sprachzeichen in Gegenstandsvorstellung (Signifikat) und akustisch-sensorielles Bild (Signifikant) zerlegt oder daß Freud, von seinen Schülern mehr abgeschrieben als begriffen, in eben diesem Sinn ›Sachvorstellung‹ und ›Wortvorstellung‹ trennt.«230 Die Verbindung dieser vier Elemente erscheint aber, so betont Freud, »complizirter, wenn man auf den wahrscheinlichen Associationsvorgang bei den einzelnen Sprachverrichtungen eingeht«.231 In Kittlers zugespitzter Formulierung heißt das: »Endlich sind an jeder Kulturtechnik diverse Subroutinen zu scheiden, [...] die alle einzeln ausfallen können. Was im Alltag einfach Sprache heißt, ist also eine komplexe Verschaltung von Hirnzentren über nicht minder zahlreiche, direkte oder indirekte Nervenbahnen.«232 Abgesehen von dem reduktionistischen Unterton gegenüber Phänomen und Begriff der Sprache, wird hier präzise benannt, was das Neuartige in der Problematisierung von sprachlichen Leistungen als Leistungen des Gehirns darstellt: die funktionale Analyse eines komplexen Phänomens. Freud führt das am Beispiel des Sprechens bzw. des Spracherwerbs aus: »Wir lernen sprechen, indem wir ein ›Wortklangbild‹ mit einem ›Wortinnervationsgefühl‹ associiren. Wenn wir gesprochen haben, sind wir in den Besitz einer ›Sprachbewegungsvorstellung‹ (centripetale Empfindungen von den Sprachorganen) gelangt, so dass das ›Wort‹ für uns motorisch doppelt bestimmt ist [...]. Ausserdem erhalten wir nach dem Sprechen ein ›Klangbild‹ des gesprochenen Wortes. So lange wir unsere Sprache nicht weiter ausgebildet haben, braucht dieses zweite Klangbild dem ersten nur associirt, nicht gleich zu sein. Auf dieser Stufe (der kindlichen Sprachentwickelung) bedienen wir uns einer selbst geschaffenen Sprache, wir verhalten uns dabei auch wie motorisch Aphasische, indem wir verschiedene fremde Wortklänge mit einem einzigen selbst producirten associiren.«233 Dieser durchaus nicht klare Absatz des Freudschen Textes lohnt eine ausführlichere Lektüre und läßt sich folgendermaßen begreifen: Ein Klang eines (eigenen oder fremden) Wortes wird zu etwas Gehörtem, dessen so bestimmte Form als ein ›Bild‹ eines Klangs die Vorstellung des geformten Klangs darstellt, ein ›Wortklangbild‹. Wenn dieses mit einem ›Wortinnervationsgefühl‹ im Geist verbunden, assoziiert wird, stellt sich zuerst ein Verweis von einer Sphäre der Wahrnehmung, der des Hörens, zu einer anderen, der des Fühlens, her. Dieser Verweis ist in noch ganz unspezifischer Weise auf die auslösenden Elemente, den

230. 231. 232. 233.

Kittler 1985, 221. Freud 1891, 75. Kittler 1985, 221. Freud 1891, 75f. 194

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geformten Klang, bezogen: Die bestimmte Form geht verloren, und was allein bleibt, ist das Material unter dem Aspekt seiner Zugehörigkeit zu je einem Wahrnehmungsfeld. Aus der Sphäre der Organempfindungen entspringt die Vorstellung von Wortinnervationen, nämlich die sogenannte ›Sprachvorstellung‹, welche wohl noch treffender ›Sprachbewegungsvorstellung‹ heißen könnte, um den Aspekt der Produktion des Lautes analog zum ›Schreibbewegungsbild‹ zu betonen. Die »motorische Doppelbestimmtheit« kann hier wohl nur in der Weise verstanden werden, daß Freud die zweifache Determiniertheit des Motorischen am Sprechakt hervorhebt, nicht aber, daß die Determination eine zweifach motorische ist. Nur das eine der »beiden bestimmenden Elemente« ist motorischer Herkunft: »centripetale Empfindung von den Sprachorganen«. Das andere bestimmende Element ist der Klang des Lautes, den das eigene (oder fremde) Sprechen hervorbringt. Wodurch ordnen sich nun die mannigfaltigen Vorstellungen? Warum verknüpfen sich einige Vorstellungen besser als andere miteinander? Von entscheidender Bedeutung für den Fortgang des Spracherwerbs sind die Klangbilder, da sie der gleichen Sinnessphäre entstammen, dem Gehör, und sich so leichter assoziieren, obwohl ihre Herkunft im eigenen Organismus oder einem noch nicht weiter identifizierten Außen liegt. Assoziation heißt eben noch nicht eine Identifizierung von bestimmten Klangformen. Kategorien wie Gleichheit bzw. Ähnlichkeit innerhalb einer Sphäre, der Klänge untereinander sind hier noch nicht in Anschlag zu bringen. Der Aspekt ihres Geformtseins tritt gänzlich hinter den der Zugehörigkeit zu einem Sinnesfeld zurück, und nur in diesem letzten Sinne könnte von Identifikation die Rede sein. Die Leistung auf dieser Stufe des kindlichen Spracherwerbs besteht darin, Lautvorstellung für Lautvorstellung zueinander zu gesellen. Die Ähnlichkeit konstituiert die verschiedenen Sinnessphären, da sie die Vorstellungen je nach Art ihrer Herkunft von verschiedenen Sinnen zu einer entsprechenden Vorstellungsgruppe assoziiert, d. h. sortiert. Macht das Kind nun die Erfahrung, daß immer mit dem eigenen Sprechen, also dem Wortinnervationsgefühl, ein Wortklang auftaucht, kann es Wortklangbild mit Wortinnervationsgefühl »associiren«. Diese synästhetische, Wahrnehmungsfelder übergreifende Verknüpfung leitet sich allein aus der Gleichzeitigkeit her. Jeder gehörte Laut kann so als selbst hervorgebrachter oder als fremder eingestuft werden: Jedes Hören ohne begleitende Organinnervation ist ein selbständiges, von eigener Aktivität unabhängiges Phänomen und verweist somit auf Fremdes, auf ein Außen, einen Anderen. Die eigene Lautproduktion wird dadurch organisierbar und steuerbar, daß in der Sphäre des Hörens sich die Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten der Laute geltend machen und quasi über den Umweg des Selbersprechens eine Identität der Klangbilder erzeugt werden kann. »Wir lernen die Sprache der Anderen, indem wir uns bemühen, das von uns selbst producirte Klangbild dem möglichst ähnlich zu machen, was den Anlass zur Sprachinnervation gegeben hat. Wir erlernen so das Nachsprechen«.234 Die

234. Freud 1891, 76. 195

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Rückkopplungsschlaufe Hören – Sprechen – Hören ist der Umweg zur Erzeugung der Identitäten, mit denen sich alles weitere Lernen vollzieht. Die Konsequenzen dieses Modells sind sowohl positiver wie negativer Natur. In paradoxer Formulierung könnte man sagen: Sicherheit und Unkontrollierbarkeit gehen Hand in Hand. Denn: »Die Sicherheit unseres Sprechens erscheint so überbestimmt und kann den Ausfall des einen oder des anderen der bestimmenden Momente gut vertragen.«235 Ein und derselbe Effekt (oder Erfolg, wenn man so will) ist doppelt bestimmt, kann sich aus zwei Quellen der Wahrnehmung speisen. Konzentration oder Aufmerksamkeit des Bewußtseins kann sich jedoch zur Kontrolle der korrekten Ausführung einer Leistung nicht aller konstitutiven Subroutinen vergewissern, jedenfalls nicht gleichzeitig, wie Freud am Beispiel des Lesens und dessen keineswegs zwingender Verknüpfung mit dem Verstehen ausführt: »Die Selbstbeobachtung zeigt Jedermann, dass es mehrere Arten des Lesens gibt, von denen die eine oder andere auf das Verständniss des Lesens verzichtet. Wenn ich Correcturen lese, wobei ich vorhabe, den visuellen Bildern der Buchstaben und anderen Schriftzeichen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, entgeht mir der Sinn des Gelesenen so sehr, dass ich für stilistische Verbesserungen der Probe einer besonderen Durchlesung bedarf. Lese ich ein Buch, das mich interessirt, z. B. einen Roman, so übersehe ich dafür alle Druckfehler, und es kann mir geschehen, dass ich von den Namen der darin handelnden Personen nichts im Kopfe behalte als einen verworrenen Zug und etwa die Erinnerung, dass sie lang oder kurz sind, und einen auffälligen Buchstaben, ein x oder z, enthalten. Wenn ich vorlesen soll, wobei ich den Klangbildern meiner Worte und deren Intervallen besondere Aufmerksamkeit schenken muss, so bin ich wieder in Gefahr, mich um den Sinn wenig zu kümmern, und sobald ich ermüde, lese ich so, dass es zwar der Andere noch verstehen kann, ich selbst aber nicht mehr weiss, was ich gelesen habe. Es sind dies Phänomene der getheilten Aufmerksamkeit, die gerade hier in Betracht kommen, weil das Verständniss des Gelesenen erst auf einem Umwege erfolgt. Dass von solchem Verständniss keine Rede mehr ist, wenn der Lesevorgang selbst Schwierigkeiten bietet, wird durch die Analogie mit unserem Verhalten beim Lesenlernen klar, und wir werden uns hüten müssen, den Wegfall eines solchen Verständnisses für ein Anzeichen einer Bahnunterbrechung zu halten.«236 Das Bewußtsein ist also nicht in der Lage, alle sich ihm präsentierenden Vorgänge und deren konstitutive Bedingungen zu »überschauen«. Umgekehrt bedeutet das, daß diese Subroutinen sich auch ohne Aktivität des Bewußtseins vollziehen und das heißt automatisch. In dieser Möglichkeit gründet die Gefahr, das Bewußtsein könnte Prozessen unterliegen, die nicht von ihm gewollt sind. Seine

235. Ebd. 236. Freud 1891, 77f. und Kittler 1985, 231ff., wo ein psychologischer Test mit gleichzeitigem Lesen und Schreiben, Zuhören und Sprechen beschrieben wird. 196

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

vermeintliche Souveränität ist damit beständig in eine Abhängigkeit getaucht, die es nie vollständig abzuschütteln in der Lage ist. Entsprechend den vier Bestandteilen der Wortvorstellung tritt jeweils eine Assoziationsrichtung in den Vordergrund des Bewußtseins und betont dessen Punktualität gegenüber der Vielfalt der bewußtwerdenden Phänomene. Dem Komplex der Wortvorstellung gegenüber konzipiert Freud einen zweiten Assoziationskomplex: den der Objektvorstellung. Dieser setzt sich »aus den verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Vorstellungen zusammen. Wir entnehmen der Philosophie, dass die Objectvorstellung ausserdem nichts Anderes enthält, dass der Anschein eines ›Dinges‹, für dessen verschiedene ›Eigenschaften‹ jene Sinneseindrücke sprechen, nur dadurch zu Stande kommt, dass wir bei der Aufzählung der Sinneseindrücke, die wir von einem Gegenstande erhalten haben, noch die Möglichkeit einer grossen Reihe neuer Eindrücke in derselben Associationskette hinzunehmen (J. S. Mill). Die Objectvorstellung erscheint uns also nicht als eine abgeschlossene, kaum als eine abschliessbare, während die Wortvorstellung uns als etwas Abgeschlossenes, wenngleich der Erweiterung Fähiges erscheint.«237 Bei aller Übereinstimmung, die man zwischen den Voraussetzungen der Freudschen und Saussureschen Zeichenkonzeption ausmachen kann – bezüglich der Unterteilung in Wortvorstellung/Signifikant und Objekt – bzw. später Sachvorstellung/Signifikat –, besteht doch eine entscheidende Differenz darin, wie das bloße Material der Sinne zu den bestimmten Elementen wird, mit denen eine Sprache funktioniert. Freuds Verweis auf J. St. Mills Logik zeigt seinen deutlich empiristisch geprägten Standpunkt, der von einfachen Elementen des Geisteslebens ausgeht. Dieser Elementarismus kann aber gerade das Phänomen Sprache nicht einsichtig machen, da nicht plausibel wird, was das eine Element, z. B. des Akustischen, zu einem distinkten werden läßt, das »uns als etwas Abgeschlossenes« erscheint, nämlich als ein Wort. Den distinkten Charakter der Elemente kann man allein in einem Sprachsystem begründen, so wie es die Linguistik seit Saussure getan hat. Freud wird, wie noch zu zeigen ist, in einem anderen Kontext, dem der Traumdeutung, diese Schwierigkeit der Aphasie-Arbeit einer Lösung zuführen, die der Saussures in manchem verwandt ist.238 Die von Freud hier entwickelte funktionelle Auffassung läßt zwar noch die Rede von bestimmten bevorzugten »Assoziationswegen« zu, deren Lokalisation nur auf ein Ungefähr, ein »Zwischen«, ein Feld von Assoziationsbahnen zurückführt, ohne daß die Assoziationen soweit an ihre organischen Korrelate gebunden sind, daß deren Ort auch den ihren festlegt. Vielmehr können gleiche Assoziationsleistungen von verschiedenen Bahnen kompensiert werden, was im Grunde schon ihre organische Ortlosigkeit zu denken ermöglicht.239 Ein Beispiel für den

237. Freud 1891, 80. 238. Jappe 1971, 91ff. vertritt einen ähnlichen Standpunkt. 239. Vgl. Dahmer 1973, 29ff., besonders S. 40, und Kittler 1985, 284. 197

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Ausfall bestimmter eingefahrener Assoziationsbahnen und deren Kompensation durch andere führt Freud an: »Es ist anzunehmen, dass wir die einzelnen Sprachfunctionen auch späterhin auf denselben Associationswegen ausüben, auf welchen wir sie erlernt haben. Es mögen dabei Abkürzungen und Vertretungen stattfinden, aber es ist nicht immer leicht zu sagen, von welcher Natur. Die Bedeutung derselben wird noch durch die Bemerkung herabgesetzt, dass in Fällen von organischer Läsion der Sprachapparat wahrscheinlich als Ganzes einigermassen geschädigt und zur Rückkehr zu den primären, gesicherten und umständlicheren Associationsweisen genöthigt sein wird. Für das Lesen macht sich bei Geübten unzweifelhaft der Einfluss des ›visuellen Wortbildes‹ geltend, so dass einzelne Worte (Eigennamen) auch mit Umgehung des Buchstabirens gelesen werden können.« 240 Mit diesem Konzept eröffnet Freud der Hirnphysiologie neue Wege, deren Wichtigkeit darin zum Ausdruck kommt, daß keine moderne Theorie über das Gehirn und seine Leistungen ohne den funktionellen Gesichtspunkt auskommt.241 Seine Abhandlung schließt mit der Mahnung, sich nicht zu einer allzu schematischen Deutung der Sprachstörungen verleiten zu lassen. Unter Berufung auf seinen Lehrer Charcot, aber mehr noch auf Hughlings Jackson, da dieser seinen eigenen Konzepten am nächsten kommt, führt Freud aus, daß alles bisher Dargestellte über die Aphasie nur eine »individuelle« Diagnose für jeden Einzelfall zulasse, nicht aber eine allgemeine Theorie der Sprachstörungen von der Neurophysiologie erstellt werden könne. Der funktionelle Standpunkt lasse keine Lokalisation ohne Kenntnis des Einzelfalles zu, da sich dieser durch individuelle Bevorzugung bestimmter Assoziationswege auszeichne und ein Schluß vom Ausfall einer Sprachfunktion auf die Ausdehnung und den Ort der Läsion zu den gröbsten Irrtümern verleite.242

3.2.3 Unbewusste Determination von Körper und Bewusstsein: Die »Studien über Hysterie« Im folgenden sei zunächst die Grundkonzeption der Freudschen Auffassung der Hysterie skizziert, um dann in Kap. 3.2.4 im besonderen die von ihm in diesem Zusammenhang entwickelte Gedächtnistheorie vorzustellen und deren Stellung im Kontext der historischen Entwicklung einer Theorie des Psychischen aufzuzeigen. Die ersten, im eigentlichen Sinne psychoanalytischen Schriften Sigmund Freuds befassen sich mit den Phänomenen, die unter dem Sammelbegriff Hysterie zusammengefaßt worden sind. Ausgehend von der ursprünglich auf den langjährigen Kollegen Freuds, Josef Breuer, zurückgehenden Erkenntnis, daß das

240. Freud 1891, 78ff. und 91. 241. Vgl. z.B. Winson 1985. 242. Freud 1891, 100ff. 198

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Aussprechen und Nacherleben bestimmter Erlebnisse der HysterikerInnen diese von ihren Symptomen befreien kann, entwickelt sich eine für die Psychoanalyse spezifische Auffassung über den Zusammenhang von Psyche und Soma.243 Das hervorstechendste Charakteristikum der Hysterie sind u. a. unerklärbare körperliche Symptome wie Lähmungen, sensorische Unempfindlichkeiten, Schmerzen u. dgl., denen nach dem Stand des damaligen medizinischen Wissens keine körperlichen Ursachen zugeordnet werden konnten. Freuds wichtigster Ansatzpunkt für eine Diagnose und Therapie der Hysterie liegt in der Aufmerksamkeit für die Äußerungen der Patienten selbst, in ihren Selbstbeschreibungen, ihrem subjektiven Erleben, die er auf ihren biographischen Kontext bezieht und nicht einfach als isolierte, wenn überhaupt medizinische Phänomene244 behandelt, deren Relevanz entweder von untergeordneter Bedeutung oder auf naturwissenschaftliche Ursachen zurückzuführen wäre. Freud verläßt an diesem Punkt also für einen Moment den vorherrschenden

243. Entgegen den jeweils einseitigen Einschätzungen über Herkunft und Originalität der Psychoanalyse und ihren Ort innerhalb der Natur- oder Geisteswissenschaften stellt die detaillierte Arbeit Thomas Köhlers eine sehr ergiebige Erörterung dieser Problematik dar, nicht nur was »Das Werk Sigmund Freuds« selbst angeht, sondern ebensosehr bezüglich der kritischen oder apologetischen Rezeptionsgeschichte. Anläßlich eines Versuchs des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Sulloway von 1979, die Psychoanalyse als »Biologie der Seele« zu klassifizieren, bemerkt Köhler: »Was den biologischen Aspekt angeht, so hat ihn Freud selbst nicht verleugnet [...]. Zum zweiten treibt Sulloway die biologische Reduktion zu weit: er übersieht, daß die psychoanalytische Theorie des Seelenlebens von ihren frühesten Formulierungen an als zentralen Kern die Lehre von der Verdrängung enthält, die – wie insbesondere deutlich in der Traumdeutung – überhaupt nur in sprachanalytischen Kategorien ausgedrückt werden kann und so später zu dem Versuch angeregt hat, die Psychoanalyse aus dem Ensemble der Naturwissenschaften herauszunehmen und als Humanwissenschaft neu zu definieren, dabei die Metapsychologie durch Metahermeneutik zu ersetzen. Der Ansatz muß global zwar zwangsläufig fehlschlagen, die Verkürzung der Psychoanalyse auf Hermeneutik kann eben wegen jener biologischen Wurzeln nicht gelingen; daß aber ein solcher Versuch überhaupt unternommen wird – und bezüglich gewisser Teilaspekte der Lehre sogar erfolgreich ist – zeigt deutlich genug, daß Freud in wesentlichen Stücken seiner Theorie gerade über einen biologischen Reduktionismus hinausgegangen ist.« (Köhler 1987, 77) 244. Der Mediziner bezieht die Symptome auf einen Wissenskorpus, der physikalisch-chemisch-biologischen Standards der Naturforschung genügt. Wenn auch die Praxis des Mediziners sich nicht vollständig auf gesichertes naturwissenschaftliches Wissen zu stützen vermag, sondern sich durchaus mit Erfahrungswerten, ob etwas hilft oder nicht, begnügen kann, und in diesem Sinne eher einem Handwerk oder einer Kunst vergleichbar ist, die nicht begründen können muß, warum das, was sie tut, funktioniert, so orientiert sich die Medizin seit der frühen Neuzeit an den Errungenschaften der technisch-naturwissenschaftlichen Weltbeherrschung mit dem Ziel einer möglichst klaren und eindeutigen Ursache-Wirkungs-Kausalität. 199

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

medizinischen Diskurs seiner Zeit. Indem er zugleich in seiner Praxis als Behandelnder ein zentrales Element des Kontaktes zwischen Arzt und Patient anders zur Kenntnis nimmt, verändert sich unmittelbar auch die Praxis des Umgangs mit den Betroffenen, woraufhin die sogenannten psychogenen Faktoren bei der Krankheitsentstehung an Gewicht gewinnen. Um den pathogenen Charakter von bestimmten Elementen der Vorstellungswelt der HysterikerInnen zu untersuchen, sucht Freud deren genauen Entstehungskontext zu rekonstruieren: Die lebensgeschichtliche Verarbeitung spezifischer traumatischer Erlebnisse bzw. die Abwehr von Vorstellungen, die sich diesen Konstellationen verdanken, können – kurz gesagt – zu pathogenen Symptomen führen. Mit dem Topos der Verdrängung wird also ein Vorgang benannt, der theoretische Klärung dafür bringt, »der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen.«245 Dabei wird das Bewußtsein als ein frei verfügbarer, ungehemmter Assoziationszusammenhang beschrieben246, von dem bestimmte krankheitsverursachende Vorstellungen abgetrennt werden: »Also eine psychische Kraft, die Abneigung des Ich, hatte ursprünglich die pathogene Vorstellung aus der Assoziation gedrängt und widersetzte sich jetzt ihrer Wiederkehr in der Erinnerung.«247 Da diese Vorstellungen als mit »psychischer Energie besetzt« gedacht werden, welche in der psychologischen Erfahrung den Affekten des Erlebens entsprechen, zeitigen sie auch verdrängte Wirkungen, die das Bewußtsein stören. Erst wenn die Vorstellung wieder ungehemmt ins Bewußtsein treten kann und es wie »dem normalen Menschen« gelingt, »durch Leistungen der Assoziation den begleitenden Affekt zum Verschwinden zu bringen«248, verschwinden auch die hysterischen Symptome. Die Hartnäckigkeit der aus der Verdrängung wirkenden Vorstellungen erklären Breuer und Freud damit, daß normalerweise jeder Eindruck einer psychischen Verarbeitung bedarf,249 wobei diese Anforderung an das Psychische aufgrund zweier Gruppen von Bedingungen unterbleiben kann: »Zur ersten Gruppe rechnen wir jene Fälle, in denen die Kranken auf psychische Traumen nicht reagiert haben, weil die Natur des Traumas eine Reaktion ausschloß, wie beim unersetzlich erscheinenden Verlust einer geliebten Person, oder weil die sozialen Verhältnisse eine Reaktion unmöglich machten, oder weil es sich um Dinge handelte, die der Kranke vergessen wollte, die er darum absichtlich aus seinem bewußten Denken ver-

245. Freud/Breuer 1895, 10. 246. Vgl. Freud/Breuer 1895, 155 und 135. 247. Freud/Breuer 1895, 216. 248. Freud/Breuer 1895, 12. 249. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Freud sich hier der Analogie zur neurophysiologischen Reiz-Reaktion-Abfolge bedient, wie er sie von seinen medizinischen Lehrern Helmholtz, v. Brücke und Th. Meynert vermittelt bekommen hat, und sie als Grundsatz in den Bereich der Psychologie überträgt. Ausdrücklich verweist Freud auf Charles Darwins Theorie über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (1872) (vgl. Freud/Breuer 1895, 148). 200

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

drängte, hemmte und unterdrückte [...]. Die zweite Reihe von Bedingungen wird nicht durch den Inhalt der Erinnerungen, sondern durch die psychischen Zustände bestimmt, mit welchen die entsprechenden Erlebnisse beim Kranken zusammengetroffen haben. Als Veranlassung hysterischer Symptome findet man nämlich in der Hypnose auch Vorstellungen, welche, an sich nicht bedeutungsvoll, ihre Erhaltung dem Umstande danken, daß sie in schweren lähmenden Affekten, wie z. B. Schreck, entstanden sind, oder direkt in abnormen psychischen Zuständen, wie im halbhypnotischen Dämmerzustande des Wachträumens, in Autohypnose u. dgl. Hier ist es die Natur dieser Zustände, welche eine Reaktion auf das Geschehnis unmöglich machte.«250 Kombinationen aus beiden Gruppen sind durchaus möglich. Gemeinsam ist allen Bedingungen, »daß die nicht durch Reaktion erledigten psychischen Traumen auch der Erledigung durch assoziative Verarbeitung entbehren müssen. In der ersten Gruppe ist es der Vorsatz des Kranken, welcher die peinlichen Erlebnisse vergessen will und dieselben somit möglichst von der Assoziation ausschließt, in der zweiten Gruppe gelingt die assoziative Verarbeitung darum nicht, weil zwischen dem normalen Bewußtseinszustand und den pathologischen, in denen diese Vorstellungen entstanden sind, eine ausgiebige assoziative Verknüpfung nicht besteht […]. Man darf also sagen, daß die pathogen gewordenen Vorstellungen sich darum so frisch und affektkräftig erhalten, weil ihnen die normale Usur durch Abreagieren und durch Reproduktion in Zuständen ungehemmter Assoziation versagt ist.«251 Diese Passage ist in zwei Hinsichten zu kommentieren, zunächst bezüglich der Ätiologie der Hysterie: Freud neigt in dieser Frage schon dazu (entgegen Breuers Auffassung), daß man zur Erklärung der Hysterie auf organisch lokalisierbare Anomalien verzichten könne, läßt diese Frage aber noch offen, da sie Breuers Auffassung der hypnoiden Zustände direkt widersprochen hätte.252 Das zweite betrifft die Anwendung der Hypnose, welche mit der kathartischen Therapie verbunden ist. Pointiert gesagt, ist erst mit dem Verzicht auf Hypnose die Psychoanalyse geboren. Alles, was sich zuvor abgespielt hat, stellt nur eine Vorform der Psychoanalyse dar, wenn auch wesentliche Einsichten und methodische Versatzstücke dieser Periode entstammen und übernommen werden. Überraschend angesichts des Letztzitierten mutet es allerdings an, daß Freud trotz der offensichtlichen Erinnerungs- und Assoziationsstörung der Hysteriker seine Methode der freien Assoziation entwickelt, ja sie sogar in vielen Fällen als vorteilhafter einschätzt. Denn die interne Abwehr pathogener Vorstellungen hat ja

250. Freud/Breuer 1895, 13. 251. Ebd. 252. Diese Ambivalenz entspricht durchaus der Position, die Freud in seinem 1888 erschienenen Artikel für Villarets medizinisches Lexikon schon vertreten hatte (vgl. Dahmer 1973, 36ff.). 201

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zur Folge, daß die zur Heilung benötigten Erinnerungen nicht ›bereitliegen‹. In der Hypnose begegnete der Arzt dieser Schwierigkeit nun damit, daß er dem Patienten – auf dem Wege der Hypnose – das Erinnern befahl und dieser sich dem Zwang beugen mußte, da seine Kontrolle durch das Bewußtsein suspendiert war. Aber der Widerstand gegen das Erinnern zeigte sich bei einigen Patienten schon auf dem Vorwege: Sie ließen sich gar nicht erst oder nur sehr schwer hypnotisieren.253 Ein weiterer Nachteil der kathartischen Methode sei an dieser Stelle auch gleich benannt: Für jedes Symptom konnte zwar eine entsprechende verursachende Erinnerung wiedergefunden werden, aber das dadurch erwirkte Verschwinden des einen schien das Auftauchen anderer Symptome geradezu heraufzubeschwören.254 Im Laufe seiner Praxis hat Freud dann beobachtet, daß, wenn auch nicht direkt und sofort, die Kranken in ihren Erzählungen über mögliche Ursachen ihrer Erkrankungen indirekt auf etwas verweisen, über das sie sich in dem Moment, in dem sie sprechen, nicht im Klaren sind. Ihre Rede selber enthält den Schlüssel, den sie dennoch nicht benennen können. Diese Einsicht bewegt Freud dazu, sich mehr auf die Rede der Hysteriker zu konzentrieren und die Hypnose aufzugeben. Bei der Hypnose mußte sich der Arzt auch immer dem Vorwurf ausgesetzt sehen, daß das, was die Kranken berichteten, durch die Suggestion des Hypnotiseurs beeinflußt sei. Weil aber der Kranke mitunter in der Lage war, sich aus eigenem Antrieb heraus an Geschehnisse zu erinnern, die er selbst für völlig vergessen gehalten hatte, so mußte es noch einen anderen Zugang für die Erinnerung geben. In der Regel war »das Nichtwissen der Hysterischen […] also eigentlich ein – mehr oder minder bewußtes Nichtwissenwollen, und die Aufgabe des Therapeuten bestand darin, diesen Assoziationswiderstand durch psychische Arbeit zu überwinden. Solche Leistung erfolgt zuerst durch ein ›Drängen‹, Anwendung eines psychischen Zwanges, um die Aufmerksamkeit des Kranken auf die gesuchten Vorstellungsspuren zu lenken. Sie ist aber damit nicht erschöpft, sondern nimmt […] im Verlaufe einer Analyse andere Formen an und ruft weitere psychische Kräfte zur Hilfe.«255 Hilft auch dieses Drängen nicht weiter, »muß man auf kräftigere Mittel sinnen«256, so daß ein regelrechter »Kampf zwischen verschieden starken oder intensiven Motiven« entbrennen kann: »Dem ›Assoziationswiderstande‹ bei einer ernsthaften Hysterie ist das Drängen des fremden und der Sache unkundigen Arztes an Macht nicht gewachsen.«257 Was nun von Freud vorgeschlagen und praktiziert wird, scheint sich dem

253. 254. 255. 256. 257.

Freud/Breuer 1895, 205. Vgl. Freud/Breuer 1895, 209f. Freud/Breuer 1895, 216. Freud/Breuer 1895, 217. Ebd. 202

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Verfahren der Hypnose noch einmal anzunähern und das Moment der Suggestion wieder voll in Wirkung zu setzen: »Da bediene ich mich denn zunächst eines kleinen technischen Kunstgriffes. Ich teile dem Kranken mit, daß ich im nächsten Momente einen Druck auf seine Stirne ausüben werden, versichere ihm, daß er während dieses ganzen Druckes eine Erinnerung als Bild vor sich sehen oder als Einfall in Gedanken haben werde, und verpflichte ihn dazu, dieses Bild oder diesen Einfall mir mitzuteilen, was immer das sein möge. Er dürfe es nicht für sich behalten, weil er etwa meine, es sei nicht das Gesuchte, das Richtige, oder weil es ihm zu unangenehm sei, es zu sagen. Keine Kritik, keine Zurückhaltung, weder aus Affekt noch aus Geringschätzung! Nur so könnten wir das Gesuchte finden, so fänden wir es aber unfehlbar [...]. Dieses Verfahren hat mich viel gelehrt und auch jedesmal zum Ziele geführt.«258 Freud gibt auch zu, daß dieses Vorgehen das »Suggestivste und Bequemste«259 ist, was ihm zu jener Zeit zur Verfügung steht. Im Keime enthält es jedoch schon jene später von ihm formulierte Grundregel der Psychoanalyse, aber hier noch deutlich in einer Gestalt, die die ärztliche Autorität »aus dem Spiel läßt«: Der Therapeut fungiert als Versuchsleiter, der zwar die Richtung und den Ablauf des Versuchs bestimmt, selbst aber nicht von diesem bestimmt wird. Person und Rolle des Arztes bleiben der Wirkung der therapeutischen Situation entzogen und stellen einen noch theoretisch unbedachten Faktor dar.260 Den Kranken soll diese Prozedur dazu verleiten, sich von der bewußten Kontrolle seiner Erinnerung ablenken zu lassen und die Aufmerksamkeit nach außen auf das quasi magische Vorgehen des Arztes zu richten: Ganz der Einsicht der Aphasie-Studie gemäß entgeht der Aufmerksamkeit das, worauf sie sich nicht richtet: »Ich meine eher, der Vorteil des Verfahrens liege darin, daß ich hiedurch die Aufmerksamkeit des Kranken von seinem bewußten Suchen und Nachdenken, kurz von alledem, woran sich sein Wille äußern kann, dissoziiere, ähnlich wie es sich wohl beim Starren in eine kristallene Kugel u. dgl. vollzieht.«261 Der magische Schein soll die Aufmerksamkeit fesseln, wie man so sagt, währenddessen sich eine ungehemmte Reproduktionstätigkeit vollziehen kann. So spielt der Psychotechniker Freud eine Funktion der menschlichen Psyche gegen,

258. Ebd. 259. Ebd. 260. Kurze Zeit später wird Freud allerdings schon die Einsicht formulieren: »Das [modifizierte] Verfahren ist mühselig und zeitraubend für den Arzt, es setzt ein großes Interesse für psychologische Vorkommnisse und doch auch persönliche Teilnahme für den Kranken bei ihm voraus.« (Freud/Breuer 1895, 212). 261. Freud/Breuer 1895, 217. 203

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

oder in diesem Falle besser: für eine andre aus. Der Fortgang der Therapie ist gesichert, Erlebnisse werden (re-)produziert: »Die Lehre aber, die ich daraus ziehe, daß sich unter dem Drucke meiner Hand jedesmal das einstellt, was ich suche, die lautet: Die angeblich vergessene pathogene Vorstellung liege jedesmal ›in der Nähe‹ bereit, sei durch leicht zugängliche Assoziationen erreichbar«.262 Jene Assoziationen, welche nicht willentlich sich im Bewußtsein einstellen, spinnen einen anderen Faden und ergänzen den, der gerade »auch bei dem in der ›Konzentration‹ befindlichen Kranken« abreißt.263 Dieser Faden besteht auf der Ebene des Vorstellens aus einer Reihe von Bildern oder Gedanken. Daß der Kranke jetzt in den Stand gesetzt ist, überhaupt viele Vorstellungen zu haben, einen »stream of thought«, zeitigt für sich genommen noch nicht den gewünschten therapeutischen Erfolg. Was noch fehlt, ist die Umsetzung in Worte: »Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab.«264 Nicht allein die affektive Bedeutung des Sprechens, die Gemma Jappe der assoziativen Erledigung als einem Parallelvorgang beigesellt und in dynamischer Hinsicht gleichstellt,265 ist hier hervorzuheben, sondern jene schon an dieser – für Freuds Werk frühen – Stelle zu bemerkende Priorisierung der Wortsprache in der Psychoanalyse. Was unter einem therapeutischen Gesichtspunkt als sinnvoll erscheint, wird unter der theoretischen Perspektive zu einer folgenschweren Einengung der Psychoanalyse führen. An einer anderen Stelle, wo Freud den gleichen Effekt noch einmal in etwas anderen Worten beschreibt, wird deutlicher, um welche Verengung es sich handelt:

262. Ebd. 263. Freud/Breuer 1895, 216f. 264. Freud/Breuer 1895, 10. 265. »Was am Beginn der Psychotherapie unerhört erschien – ein Behandlungsverfahren, das sich auf die Aussagen von Patienten, noch dazu psychisch kranker, statt auf medizinische Fakten gründete –, versteht sich heute von selbst.« (Jappe 1971, 1) Daß diese Wendung hin zum Erhören des Hysterischen doch relativ plausibel erscheint, macht Jappe nicht verständlich. Was sich »heute von selbst versteht«, verdunkelt eher den Zusammenhang, in dem Psychoanalyse sich zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte: Denn es ist nicht einfach die geniale Intuition Freuds, sondern die psychophysische Vorgeschichte, auf die sich diese Therapie gründet. Man könnte eher sagen, Freud ziehe die Konsequenzen aus der Psychophysik für bestimmte Teilbereiche medizinischer Heilverfahren, um an deren Stelle seine eigene Methode zu setzen. 204

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

»Bei der Wiederkehr von Bildern hat man im allgemeinen leichteres Spiel als bei der von Gedanken; die Hysterischen, die zumeist Visuelle sind, machen es dem Analytiker nicht so schwer wie die Leute mit Zwangsvorstellungen. Ist einmal ein Bild aus der Erinnerung aufgetaucht, so kann man den Kranken sagen hören, daß es in dem Maße zerbröckle und undeutlich werde, wie er in der Schilderung desselben fortschreite. Der Kranke trägt es g1eichsam ab, indem er es in Worte umsetzt. Man orientiert sich nun an dem Erinnerungsbilde selbst, um die Richtung zu finden, nach welcher die Arbeit fortzusetzen ist. ›Schauen Sie sich das Bild nochmals an. Ist es verschwunden?‹ – ›Im ganzen ja, aber dieses Detail sehe ich noch.‹ – ›Dann hat dies noch etwas zu bedeuten. Sie werden entweder etwas Neues dazu sehen, oder es wird Ihnen bei diesem Rest etwas einfallen.‹ – Wenn die Arbeit beendigt ist, zeigt sich das Gesichtsfeld wieder frei, man kann ein anderes Bild hervorlocken. Andere Male aber bleibt ein solches Bild hartnäckig vor dem inneren Auge des Kranken stehen, trotz seiner Beschreibung, und das ist für mich ein Zeichen, daß er mir noch etwas Wichtiges über das Thema des Bildes zu sagen hat. Sobald er dies vollzogen hat, schwindet das Bild, wie ein erlöster Geist zur Ruhe eingeht.« 266 Wenn Jappe kommentiert, der klinischen Beschreibung wohne »noch eine gewisse Doppeldeutigkeit inne; der Ausdruck ›dem Affekt Worte geben‹ kann ebensogut einen gestaltenden Akt wie ein bloßes Verpuffenlassen bedeuten. Wo aber der Vorgang theoretisch expliziert wird, wird diese Doppeldeutigkeit mehr und mehr ausgemerzt zugunsten einer einseitigen Betonung der Katharsis im Sinne von Stauungsentladung«267, dann ist vor dieser Dichotomie von hermeneutischem Sprechen als ›gestaltendem Akt‹ und dem energetischen als ›bloßem Verpuffenlassen‹ zuerst der Übergang von Bilderfolgen zu Worten zu thematisieren. Die Umsetzung der Bilder in Worte, hier als therapeutische Notwendigkeit eingeführt, birgt jenes Problem, mit dessen Lösung Freud das Herzstück der Traumdeutung erarbeitet haben wird: Wie können unwillkürlich auftauchende Assoziationsketten, die visuelles und akustisches, codiertes und uncodiertes Material vermischen, als lesbarer Ausdruck einer psychischen Aktivität verstanden werden, die selbst nicht bewußt wird? Um die Frage des Verhältnisses von »Verbalisierung und psychoanalytischer Methode«268 zu behandeln, können nicht nur verschiedene psychoanalytische Konzepte der Verbalisierung daraufhin vergleichend gegenübergestellt werden, inwieweit sie sprachphilosophischen bzw. linguistischen Modellen oder dem Phänomen des Sprechens selbst gerecht werden, sondern es muß gefragt werden, was es überhaupt heißt, daß Verbalisierung sich vollzieht. Die Wortsprache als bevorzugtes Mittel bewußter Kommunikation ermöglicht aufgrund ihrer spezifischen Verknüpfungsregeln und ihrer akustischen Elemente eine nur ihr eigene Codierung, d. h. sie läßt Leistungen erzeugen, die mit keinem anderen Zeichensystem erreichbar wären, und ist andererseits darauf

266. Freud/Breuer 1895, 225f. 267. Jappe 1971, 9f. 268. So der Titel des 1. Kapitels bei Jappe. 205

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

begrenzt, deren Leistungen zu erbringen. Diese Barriere besteht auch zwischen Traumsprache und Wortsprache und erlaubt nur bedingt eine Übertragung von einer Ebene zur anderen. An der Traumdeutung wird diese Schwierigkeit noch ausführlicher zu erläutern sein (vgl. Kap. 3.3). Für die Studien über Hysterie kann jedoch schon festgestellt werden, daß Freud zu einer Favorisierung des Wortes neigt: Die Bilder (oder Gedanken und Zwangsvorstellungen) müssen formuliert, ausgesprochen, in Worte umgesetzt werden, um sie, die sich dem Bewußtsein aufdrängen, ohne daß das Bewußtsein Einfluß auf sie ausüben könnte, als solche zum Verschwinden zu bringen. Nur mit Hilfe der Worte verfügt der bewußte Geist über den Zufluß an Vorstellungen, so daß er sich zur Ruhe erlösen kann. Die Worte werden so Mittel, um andere Vorstellungen oder Bilder zu handhaben, indem sie sie an sich binden bzw. auflösen helfen und zugleich ausschließen. Das Wort vertritt Gedanken und Bild in der psychoanalytischen Konzeption normalen Denkens. Daß dabei die bildliche Qualität der Vorstellungen einseitig zugunsten des akustisch Signifikanten verdrängt wird, verbucht Psychoanalyse als Erfolg einer gelungenen psychischen Bewältigung. Und dieser Normalfall siedelt genau dort, wo Ebbinghaus zwischen den Extremen psychophysisch-psychiatrischer Exempel ihn verortet: »Geordnetes Denken, kann man sagen, ist ein Mittleres zwischen Ideenflucht und Zwangsvorstellungen.«269 Der unüberschaubare, weil noch nicht ins Bewußtsein getretene ›Vorrat‹ an Vorstellungen wird durch Psychoanalyse beständig in einen Redefluß von Worten transformiert. Erst als diese Kette von Signifikanten, welche sich zum bekannten Code der Alltagssprache in ein Verhältnis von Übereinstimmung und Abweichung setzen läßt, wird ein Bewußtseinsstrom lesbar, und seine Abweichungen – schon vor aller Analyse deutlich an den Symptomen – können als Ausdruck des nicht dem Bewußtsein Unterstellten begriffen werden. Dies nennt Freud Unbewußtes, nicht nur im von ihm so bezeichneten deskriptiven Sinn, sondern im dynamischen Sinn, da es sich anders verhält, als bewußtes Vorstellen es von sich zu behaupten können glaubt. Das Bewußtsein begegnet nicht allein einem autonomen psychischen Prozeß, der sich – als Einfall, Wunsch oder Traum – beständig in es hineinmischt. Doch was dabei entsteht, fügt sich nicht ohne weiteres den Vorstellungen des Bewußtseins: Des »Geordneten«, Logisch-Korrekten, Realistischen entbehrt es mitunter völlig. Gerade auf dieses Material aber zielt die psychoanalytische Technik und ihr Bestreben besteht darin, das Bewußtsein soweit zu suspendieren, daß es das Befremdliche überhaupt zuläßt. So wie Ebbinghaus bei seinem Gedächtnisversuch der Schwierigkeit begegnet, daß jedes Material – so sinnentleert dies auch sein mag – durch das Vorstellen tendenziell auf Zusammenhang, auf Sinn hin ergänzt wird, stellt sich der Psychoanalyse die Unmöglichkeit, das pathogene Material ohne Bearbeitung des Bewußtseins gleichsam unverstellt ins Bewußtsein zu rufen. Die erste Aufgabe besteht also in der Unterlassung der Kontrolle durch das Bewußtsein, auch wenn die Hypnose anderen Methoden weicht: »So steht, wie

269. Ebbinghaus 1908/1922, 130. 206

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

die Einfallevokation, am Anfang auch die freie Assoziation noch stark unter dem Zwang, Material gewinnen zu wollen, den Patienten also zum Sprechen bringen zu müssen.«270 Neben diesem Zwang zur Rede steht ebenso von entscheidender Wichtigkeit der Zwang zur Rede: Das Material der Psychoanalyse sind nur Worte, denn nur über Worte kommt Anderes in der Psychoanalyse vor. Ohne die Vermittlung der gesprochenen Sprache sprechen auch die Symptome nicht. Anders gesagt: Nur in der Sprache kommt das ›Sprechen‹ der Symptome als solches an. Erst vor dem Hintergrund einer Wortsprache lassen sich die Körperzeichen, ob Geste oder konversionshysterische Lähmung, als Zeichen verstehen. Damit ist allerdings ihr konkreter Sinn noch nicht entschlüsselt, sondern erst der Anfang einer Deutung erreicht. In welcher Weise nun zeigt sich am gewonnenen Material, an der Rede des Analysanten, das dem Bewußtsein Entzogene? »Wir kennen es natürlich nur als bewußtes, nachdem es eine Umsetzung oder Übersetzung in Bewußtes erfahren hat.«271 So wie es nötig ist, zur Erklärung aller bewußtwerdenden Phänomene die Hypothese des Unbewußten einzuführen, sind andererseits die Brüche des und Einbrüche ins Bewußtsein jene Indizien, die das Wirken unbewußter Seelentätigkeit in bestimmter Weise charakterisieren.272 In der Zeit der Hysterie-Studien, als es ja darum geht, das pathogene Material dem Assoziationszusammenhang des Bewußtseins wieder zugänglich zu machen, führt quasi eine assoziative Kette von Erinnerungen zum gesuchten Ziel: »Die Erinnerungen, welche in den hysterischen Anfällen hervortreten oder in ihnen geweckt werden können, entsprechen auch in allen anderen Stücken den Anlässen, welche sich uns als Gründe hysterischer Dauersymptome ergeben haben. Wie diese, betreffen sie psychische Traumen, die sich der Erledigung durch Abreagieren oder durch assoziative Denkarbeit entzogen haben«.273 Die unbewußten Vorstellungen sind allerdings nicht gänzlich dissoziiert, d. h. völlig vereinzelt, sondern gehören einem psychischen Zustand an, der dem »hypnoider Bewußtseinszustände mit eingeschränkter Assoziation« vergleichbar ist. Genauer heißt es, »daß bei der Hysterie in hypnoiden Zuständen entstandene Vorstellungsgruppen vorhanden sind, die vom assoziativen Verkehre mit den übrigen ausgeschlossen, aber untereinander assoziierbar, ein mehr oder minder hoch or-

270. Jappe 1971, 5. 271. Freud 1915b, 125f. Es handelt sich um eine enge Passage: »Die ganze räumlich ausgedehnte Masse des pathogenen Materials wird so durch eine enge Spalte durchgezogen, langt also, wie in Stücke oder Bänder zerlegt, im Bewußtsein an. Es ist die Aufgabe des Psychotherapeuten, daraus die vermutete Organisation wieder zusammenzusetzen.« (Freud/Breuer 1895, 235) 272. Vgl. Freud/Breuer 1895, 236f., wo Freud von den Lücken in der Darstellung spricht. 273. Freud/Breuer 1895, 16. 207

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ganisiertes Rudiment eines zweiten Bewußtseins, einer condition seconde darstellen.«274 Eine Vorstellung wirkt sich pathogen aus, wenn sie vom Bewußtseinszusammenhang ausgeschlossen ist – andersherum formuliert: Der Assoziationszusammenhang muß dem Bewußtsein zugänglich sein können. Das Ergebnis einer solchen Verdrängung ist eine Teilung der Vorstellungsmassen in jene der Assoziation zugänglichen und jene, die man erst nach langer Analyse bewußtmachen kann und die sich in der Zwischenzeit dissoziiert, d. h. unabhängig vom Bewußtsein assoziiert haben. »Es stellt sich dann häufig eine Art von Gleichgewicht zwischen den psychischen Gruppen her, die in derselben Person vereinigt sind; Anfall und normales Leben gehen nebeneinander her, ohne einander zu beeinflussen. Der Anfall kommt dann spontan, wie auch bei uns Erinnerungen zu kommen pflegen, er kann aber auch provoziert werden, wie jede Erinnerung nach den Gesetzen der Assoziation zu erwecken ist.« 275 Was somit den Kern des pathogenen Charakters krankheitsauslösender Vorstellungen ausmacht, ist nicht das unwillkürliche Auftauchen, wie es den meisten Bewußtseinszuständen eignet, sondern ihre unbewußte Verbindung zu ebenso unbewußten Vorstellungskomplexen, die sich nach bewußtseinsfremden Bedingungen assoziiert haben. »Wenn hier und später von Vorstellungen die Rede ist, die aktuell, wirksam und doch unbewußt sind, so handelt es sich dabei nur selten um einzelne Vorstellungen [...]; fast immer um Vorstellungskomplexe, um Verbindungen, um Erinnerungen an äußere Vorgänge und eigene Gedankengänge. Die in solchen Vorstellungskomplexen enthaltenen Einzelvorstellungen werden gelegentlich alle bewußt gedacht. Nur die bestimmte Kombination ist aus dem Bewußtsein verbannt.«276 Nachträglich läßt sich aber erkennen, daß die verbindende Kette der Assoziation sich nach den klassischen Gesetzen der Ideenassoziation gebildet hat. Als Bestätigung dieser Rekonstruktion kann das psychoanalytische Verfahren angesehen werden, das sich quasi als Umkehrung des krankheitsschaffenden

274. Freud/Breuer 1895, 16f. Freud wird schon recht bald jede Formulierung über ein zweites Bewußtsein, ein Unterbewußtsein etc. scharf ablehnen: »Aus all diesen Ergebnissen des Drückens erhält man den täuschenden Eindruck einer überlegenen Intelligenz außerhalb des Bewußtseins des Kranken, die ein großes psychisches Material zu bestimmten Zwecken geordnet hält und ein sinnvolles Arrangement für dessen Wiederkehr ins Bewußtsein getroffen hat. Wie ich vermute, ist diese unbewußte zweite Intelligenz doch nur ein Anschein.« (Freud/Breuer 1895, 218, auch 231) Vgl. auch das 1. Kap. von Das Unbewußte (in: Freud 1915b, 125ff.). 275. Freud/Breuer 1895, 17f. 276. Freud/Breuer 1895, 173 Fn. 208

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Prozesses erweist, indem es durch Analyse des unwillkürlich reproduzierten Materials mit Hilfe der ›freien‹ Assoziation jene aus dem Unbewußten determinierenden Vorstellungen ins Bewußtsein zurückholt. Die unbewußte Assoziation der Vorstellungen soll einem bewußten Assoziationsvorgang zugeführt werden. Erst die ›freie‹ Beweglichkeit der Vorstellungen ermöglicht ihre assoziative Korrektur. Es ist hierbei die Ambivalenz der Kennzeichnung ›frei‹ zu beachten: Einerseits bedeutet freie Assoziation, daß es sich um einen Vorgang handelt, der sich ohne Beschränkungen der bewußten Kontrolle vollzieht, andererseits heißt frei auch die Freisetzung von den das Bewußtsein determinierenden Einflüssen. Paradoxerweise besteht also die Freisetzung des Bewußtseins gerade nicht in einer verstärkten Zurichtung allen psychischen Geschehens nach Maßgabe des Bewußtseins, sondern in der Erweiterung und Öffnung des Bewußtseins bezüglich des sich in ihm Niederschlagenden. Die Abwehr des Bewußtseins muß aufgehoben werden zugunsten der Anerkenntnis der es determinierenden Tendenzen.277 Das Beharren auf seiner Souveränität würde deren Verlust provozieren. Und den HysterikerInnen droht der Anfall zu den verschiedensten Anlässen: »Die Provokation des Anfalles erfolgt entweder durch die Reizung einer hysterogenen Zone oder durch ein neues Erlebnis, welches durch Ähnlichkeit an das pathogene Erlebnis anklingt.«278 Der Körper des Hysterikers und seine Erinnerungen bilden eigentlich nur zwei Seiten der einen Medaille ›unbewußter Determinismus‹. Der Form nach läßt sich diese Determination mit Assoziationsgesetzmäßigkeiten beschreiben, deren Auswirkungen nicht auf das Psychische beschränkt bleiben. Die Beantwortung der Frage, worin das Wesen des Unbewußten bestehe, ob es als Kraft, materielle Substanz oder sonst etwas aufgefaßt werden könne, wird von Freud vertagt: »Es ist offenbar unmöglich, hierüber, d. h. also über den Zustand des pathogenen Materials vor der Analyse etwas auszusagen, ehe man seine psychologischen Grundansichten, zumal über das Wesen des Bewußtseins, gründlich geklärt hat.«279 Nachdem Breuer den Satz »Alle starken Affekte beeinträchtigen die Assoziation, den Vorstellungsablauf«280 gemäß physiologischem Wissen für die Psychologie übernimmt, geht es also der Psychoanalyse darum, den »eingeklemmten Affekt« zum »Ablauf durch die Rede« ebenso zu bringen wie seine Vorstellung »zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins normale Bewußtsein zieht.«281 Solange ein Erlebnis als unverträglich mit dem bewußten Vorstellungsleben angesehen werden kann, bleibt ein begleitender Affekt bestehen: »So ist die Ausgleichung

277. Vgl. Bolz 1982, 95ff. 278. Freud/Breuer 1895, 18. 279. Freud/Breuer 1895, 243. Dies gegen Tugendhats Einwand (Tugendhat 1979), Psychoanalyse mache den zweiten vor dem ersten Schritt, d.h. beginne mit dem Unbewußten, anstatt zuvor zu fragen, was Bewußtsein sei (vgl. Kap. 4.1). 280. Freud/Breuer 1895, 162. 281. Freud/Breuer 1895, 18. 209

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der Aufregung durch assoziative Tätigkeit unmöglich.«282 Die Hemmung in der Aneignung des Erlebens ist also nichts anderes als eine der Assoziation. Dabei kann Assoziation hier im Sinne von Verbinden, Verknüpfen, Einreihen in einen schon bestehenden Zusammenhang von Vorstellungen verstanden werden und damit im Grunde als das, was schon Herbart Apperzeption genannt hat. Eine Störung der Apperzeption/Assoziation verursacht »Unsinn«: »Man wird ›sinnlos‹ vor Zorn oder Schreck.«283 Die HysterikerInnen leiden an solchen dissoziierten, sinnlosen Reminiszenzen, am Unsinn. Dabei ist Unsinn die nicht verstehbare, nicht assoziierbare Vorstellung und ihr gehemmter Affekt pathogen. Solange eine Wahrnehmung nicht assoziiert wurde und »der Assoziationsablauf dadurch gehemmt wird, daß gleichwertige Vorstellungen unvereinbar miteinander sind; wenn z. B. neue Gedanken mit festgewurzelten Vorstellungskomplexen in Konflikt geraten«284, besteht eine pathogene Wirkung. Diese Assoziationshemmungen lassen sich »nach den allgemeinen Gesetzen der Assoziation«285 beschreiben. So führt Breuer an dieser Stelle die »Wirkung der Gleichzeitigkeit, welche ja auch unsere normale Assoziation beherrscht«, auf.286 Neben der Kontiguität kann aber auch die Ähnlichkeit zur Beschreibung hysterischer Verknüpfung herangezogen werden: »Es sind oft lächerliche Wortspiele, Klangassoziationen, welche den Affekt und seinen Reflex verbinden«.287 Unvereinbarkeit hieße nach assoziationspsychologischen Kategorien Kontrastwirkung und geht allein auf das Bewußtsein zurück, welches durch seine organisierende Tätigkeit die apperzipierenden Vorstellungsmassen »widerspruchsfrei« zu halten versucht. Das Vertrauen zur herkömmlichen Assoziationspsychologie zeigt sich darin als begrenzt, daß die Möglichkeiten dieser Art Erklärung klar erkannt sind: »In sehr vielen Fällen bleibt die Determinierung unverständlich, weil unser Einblick in den psychischen Zustand und unsere Kenntnis der Vorstellungen, welche bei der Entstehung des hysterischen Phänomens aktuell waren, oft höchst unvollständig ist.«288 Breuer schlägt diese Begrenztheit jedoch der mangelnden Kenntnis der Daten zu und erwägt nicht, daß das Unbewußte sich nicht in der Datenerhebung erschöpft. In dieser Hinsicht steht Psychoanalyse therapeutisch für das Konzept »Exhaustion« ein.289 Der hysterische Mechanismus entpuppt sich als durch unbewußte psychische Determination hervorgerufen und nach Gesetzmäßigkeiten der Assoziation bestimmt. Der Vollzug der Assoziation ist allerdings suspendiert: Die Assoziationsfähigkeit des Analysanten muß selbst über die bekannten allgemeinen Gesetze

282. 283. 284. 285. 286. 287. 288. 289.

Freud/Breuer 1895, 162. Ebd. Freud/Breuer 1895, 169. Freud/Breuer 1895, 168. Ebd. und Freud/Breuer 1895, 143. Freud/Breuer 1895, 168. Ebd. Vgl. Kittler 1985, 211ff. 210

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der Assoziation hinaus determiniert sein, so daß letztere sich für den Vorstellungsverlauf im Einzelfall womöglich nicht auswirken können, ja, gerade in ihrer ›Wirkung‹ aufgehoben sind. An diesen Widerständen entlang entwickelt Freud sein Verfahren hin zur freien Assoziation. Als er eine Dame seiner Druckmethode gemäß befragte, »ob sie unter dem Drucke meiner Hand etwas gesehen oder eine Erinnerung bekommen habe, antwortete sie: Keines von beiden, aber mir ist plötzlich ein Wort eingefallen. – Ein einziges Wort? – Ja, aber es klingt zu dumm. – Sagen Sie es immerhin. – ›Hausmeister.‹ – Weiter nichts? – Nein. – Ich drückte zum zweiten Male, und nun kam wieder ein vereinzeltes Wort, das ihr durch den Sinn schoß: ›Hemd.‹ Ich merkte nun, daß hier eine neuartige Weise Antwort zu geben vorliege, und beförderte durch wiederholten Druck eine anscheinend sinnlose Reihe von Worten heraus: Hausmeister – Hemd – Bett – Stadt – Leiterwagen. Was soll das heißen? fragte ich.«290 Wie ein Zufallsgenerator spuckt die Assoziierende Worte aus, die – in einen Zusammenhang eingeordnet – erst nachträglich einen Sinn ergeben, sprich: »Das kann nur die eine Geschichte sein, die mir jetzt in den Sinn kommt.«291 Jedes »Orakel« läßt sich mit Hilfe »anderer Wortreihen«292 an das anknüpfen, was bekannt ist. Freud vermerkt noch als »Sonderbarkeit dieses Falles«, was fürderhin gängige Praxis der Psychoanalyse sein wird: das »Auftauchen von einzelnen Schlagworten, die von uns zu Sätzen verarbeitet werden mußten.«293 Die »Beziehungs- und Zusammenhanglosigkeit« entpuppt sich für den Psychoanalytiker als »Schein«: »Bei weiterer Verfolgung stellt sich dann regelmäßig heraus, daß die scheinbar unzusammenhängenden Reminiszenzen durch Gedankenbande eng verknüpft sind, und daß sie ganz direkt zu dem gesuchten pathogenen Moment hinführen.«294 Über die Eigenart des Materials – »Einfälle und Szenen [...] gerade so wie [...] orakelhaft hervorgestossene Worte«295 – setzt sich Psychoanalyse also willkürlich hinweg. Entscheidend für den Erfolg der Therapie ist, daß ein Sinn, wenn auch ein anderer als der des Alltagsbewußtseins, hergestellt wird. Dieser ist aber nur in der Sprache zu haben. Worte sind das Allheilmittel der Psychoanalyse, sofern sie sich im Zusammenhang der Sprache als Satz organisieren. Aus dem bisher Dargestellten meint Freud einen Gewinn bezüglich einer allgemeinen psychologischen Theorie ziehen zu können: »Ich gehe an dieses letzte Stück der Darstellung mit der Erwartung, die hier aufzudeckenden psychologischen Eigentümlichkeiten könnten einmal für eine Vorstellungsdynamik einen

290. 291. 292. 293. 294. Schreber. 295.

Freud/Breuer 1895, 221. Ebd. Freud/Breuer 1895, 222. Ebd. Ebd. Vgl. zum Stichwort »Verfolgung« Kittler 1985, 286 sowie das Kap. 5.2 zu Ebd. 211

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gewissen Wert als Rohmaterial erlangen«296 – nämlich für ein Gedächtnismodell, wie es im folgenden Kapitel dargestellt und kontextualisiert werden soll.

3.2.4 Foucault und Freud: Formen der Ähnlichkeit und der Assoziation Angesichts der Beobachtung, daß Foucaults Analyse der Ähnlichkeit im Denken der Renaissance auf die Strukturierung von Welt bzw. des Wissens von den Dingen zielt, während es bei Freud um die Strukturierung des Psychischen geht, sollen nun die unterschiedlichen Formen der Zusammenhangsbildung untersucht und in einer vergleichenden Konstellation die funktionalen Äquivalente aufgespürt werden. Während Foucault im dreistelligen Zeichenmodell verschiedene Formen der Ähnlichkeit in ihrer fundamentalen wissensstrukturierenden Bedeutung herausarbeitet und deren untergründiges Fortwirken durch die gesamte Neuzeit (l’âge classique) hindurch behauptet (obwohl hier explizit nur ein zweistelliges Zeichenmodell vertreten worden ist und das Ähnlichkeitsdenken geächtet war), kehrt bei Freud in seinen Analysen der Hysterie das Denken der Ähnlichkeiten in Form einer ›anderen Assoziation‹ wieder, welche er in ihrer Gesamtwirkung unter den Begriff des Unbewußten stellen wird. Diese Zusammenhänge seien im folgenden anhand der zentralen Passage »Die prosaische Welt« aus Foucaults Die Ordnung der Dinge sowie des Freudschen Gedächtnismodells in den Studien über Hysterie entfaltet. Um die moderne von der antiken griechischen Auffassung im menschlichen Vergangenheitsbezug zu unterscheiden, beruft sich Lacan297 auf Kierkegaard (ohne seine Lektüre von Heideggers Kierkegaard-Rezeption in Sein und Zeit zu erwähnen): Nicht mehr die (Wieder-)Erinnerung (anamnesis), sondern die Wiederholung sei das Grundkonzept, in dem sich unser Verhältnis zur (vergangenen und zukünftigen) Zeit in der Gegenwart vollzieht. Kierkegaards Kennzeichnung der Antike kommt allerdings nur auf dem Wege einer Gleichsetzung platonischen Denkens mit dem Ganzen der Epoche zustande. Die Mnemotechnik und Rhetorik bleiben ebenso unberücksichtigt wie die Aristotelische Version des Gedächtnis- und Erinnerungsvermögens als einer Fähigkeit menschlicher Individuen (im Gegensatz zu einem Seelenvermögen zur Erkenntnis der Ideen, wie Platon es konzipierte). Die in Renaissance und Früher Neuzeit noch einmal wiederbelebte mnemotechnische Tradition läßt sich deshalb nicht auf diese Alternative Erinnerung vs. Wiederholung verpflichten. Mit der impliziten Wiederkehr von wesentlichen Kennzeichen dieses Renaissancedenkens in Freuds Gedächtnismodell in den Studien über Hysterie muß also eingeräumt werden, daß das Theoretisieren der Psychoanalyse sich nicht vollkommen der Denkfigur der Wiederholung zuordnen läßt. Freud selbst begreift sich im Kontext der zeitgenössischen Wissen-

296. Freud/Breuer 1895, 231. 297. Lacan 1964, 67. 212

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schaft, d. h. er rezipiert die akademische Philosophie, die, was die Frage des menschlichen Geistes angeht, weitgehend durch eine positivistische Grundhaltung und – wie in Kap. 3.1 dargelegt – durch assoziationstheoretische Modelle beherrscht wird, insbesondere den englischen Empirismus. Da sich kein expliziter Bezug Freuds auf die antiken Traditionen der ars memoria und der Rhetorik, aber ein einziger beiläufiger auf die »Kunststücke der Mnemotechnik«298 nachweisen läßt, ist es um so erstaunlicher, großen Ähnlichkeiten zwischen deren Grundprinzipien und denen der Psychoanalyse zu begegnen. Wenn es keine direkte Rezeption dieser in der Neuzeit eher zurückgedrängten Wissensbestände durch Freud gibt, dann ist die Frage nach dem Grund dieser Ähnlichkeiten zu beantworten, will man hierin nicht eine bloße Zufälligkeit erblicken. Zunächst ist von der These auszugehen, daß tatsächlich eine allen drei Disziplinen gemeinsame Formensprache bzw. Gesetzmäßigkeit zugrundeliegt, nach der sich sowohl die effektvolle Organisation der Rede (Rhetorik), die sichere Beherrschung des Erinnerungsvermögens (ars memoria, Mnemotechnik) sowie die assoziative Vorstellungstätigkeit (»freie Assoziation«) richten, wie sie sich im psychoanalytischen Prozeß ergibt. Dies muß systematisch gezeigt werden, indem auf den verschiedenen Feldern die Grundprinzipien herausgearbeitet und miteinander verglichen werden. Sodann wäre zu fragen, wie Freud auch ohne explizite Bezugnahme, vielleicht sogar ohne genaue Kenntnis dieser älteren Disziplinen zu ähnlichen Ideen kommen konnte. Hierbei ist zu vermuten, daß es eine andere, verdeckte Tradierung dieser Wissensbestände beziehungsweise von Praktiken ge-

298. »Wenn Sie sich an die Kunststücke der Mnemotechnik erinnern, so werden Sie mit einigem Befremden feststellen, daß man Namen infolge derselben Zusammenhänge vergißt, die man absichtlich herstellt, um sie vor dem Vergessen zu schützen.« (Freud 1916-17, 94) Damit ist ebenso beiläufig wie leicht ein Kardinalproblem der Mnemotechnik angesprochen: Daß es nämlich nicht nur eines erheblichen Aufwands an Übung bedarf, um von den Vorteilen dieser mentalen Technik zu profitieren, sondern auch der passenden Gelegenheit, des günstigen Momentes, also des Kairos, um genau im richtigen Augenblick diese mentale Technik zum Einsatz zu bringen. Das bedeutet jedoch, daß der Einsatz einer Mnemotechnik immer schon den Vorsatz und den Entschluß voraussetzt, welcher jedoch von den unterschiedlichsten Einflußfaktoren sabotiert werden kann. Offenbar läßt sich die affektive Dimension der assoziativen Verknüpfungen dafür verantwortlich machen, ob ein Vergessen bzw. Nichterinnern(können) eintritt. Die Entgegensetzung von Willkürlichkeit (Freud spricht von »absichtlich herstellen«) und Unwillkürlichkeit deutet im letzteren Falle auf die »Einmengung eines Unlustmotivs« hin, das jedoch unbewußt bleibt. Das Vergessen/Nichteinfallen von Namen läßt sich als Störung der Assoziation oder Widerstand gegen ein psychisches Element auffassen, welches allerdings bei jedem aufgrund der Lebensumstände unterschiedlich motiviert sein kann: »Nehmen Sie nun an, daß diese assoziative Hemmung mit der Wirkung des Unlustprinzips und überdies mit einem indirekten Mechanismus zusammentreffen kann, so werden Sie erst imstande sein, sich von der Komplikation der Verursachung des zeitweiligen Namenvergessens eine zutreffende Vorstellung zu machen.« (Freud 1916-17, 94) 213

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geben hat, deren Analyse zu denselben theoretischen Einsichten zurückführen. Freud konnte zumindest indirekte Kenntnis von der antiken Mnemotechnik und Rhetorik auf dem Umweg über den englischen Empirismus erhalten, denn dieser hat einige theoretische Elemente, die sich auf dieselben mentalen Grundphänomene bezogen, aus der bis in die späte Renaissance reichenden mnemonischen Tradition aufgenommen. Dieses implizite Wissen läßt sich für das Freudsche Denken insofern plausibel machen, als er tatsächlich – wie schon im vorigen Abschnitt zur Aphasie-Studie gezeigt – Werke englischer Empiristen wie Mill und Bain zitiert und die von ihnen aufgestellten Grundprinzipien der Geistestätigkeit anerkennt, wenn er sie auch für ungenügend hält, um die ganze Bandbreite der psychischen Phänomene zu verstehen. Gerade über die assoziationistische Tradition des englischen Empirismus erbt sich ein Stück älteren mnemotechnischen Wissens fort, jetzt allerdings weder im Zusammenhang anwendungsorientierter Praktiken noch im metaphysischen Gewande, eingebettet in einen Seinszusammenhang, in dem die Dinge, die Zeichen und die Vorstellungen zu einer kosmischen, göttlichen Ordnung gehören, sondern eingegrenzt auf die den Individuen zuzurechnenden Geistesfähigkeiten. Das fast gänzliche Fehlen einer lebenspraktischen Orientierung, wie sie die anwendungsorientierte Rhetorik und Mnemotechnik den Individuen versprechen, hängt mit der Entfaltung der neuzeitlichen Wissenschaft zusammen, die einerseits durch Einführung der experimentell-empirischen Methoden eine neue Art und Weise des Wissenserwerbs fordert, andererseits eine disziplinäre Trennung der Wissensgebiete mit sich bringt und nicht zuletzt eine vollkommen andere Organisation des gesamten Wissenskorpus nach sich zieht. Rhetorik und Mnemotechnik repräsentieren den älteren Kanon des Wissens und seiner Handhabung, der zunehmend in Verruf gerät, da die im Zusammenhang mit der Mnemonik von der Tradition aufgerufenen magischen Qualitäten der Sprache und des Wissens den Anforderungen auf empirisch-experimentelle Nachprüfbarkeit nicht standzuhalten vermögen; ebenso gilt die Rhetorik nun – aus vergleichbaren Gründen – als unseriös, da sich ihre Beherrschung von Wissensgebieten nicht auf eine rationale Konstruktion des Wißbaren beruft, sondern den Wegen der »wilden Ähnlichkeit« (Foucault) folgt, die alles andere als die der Gesetzmäßigkeit der neuen Naturwissenschaft sind. Die analytisch-konstruktiven Verfahren müssen von empirischen Versuchen begleitet und gestützt werden, um wirkliches Wissen von der Welt zu begründen. Aus den Praktiken des Experiments, die aus einer systematischen Beobachtung der Naturvorgänge und des lebensweltlichen Umgangs mit Natur entwickelt wurden, erwächst dann wiederum eine Praxis der Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse in handwerklich-technischen Produktionsprozessen. Entgegen dieser auf die Stetigkeit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit vertrauenden Grundorientierung wies das mittelalterliche Wissen weniger Anschlußmöglichkeiten an eine technisch-wissenschaftliche Praxis auf, die direkte Rückwirkungen auf die allgemeine Lebenspraxis gezeitigt hätte. Vielmehr war der Horizont des Wissens zunächst von einer theologischen Gesamtperspektive geprägt: Die Welt und alles, was irgend zu ihr gehörte, war Schöpfung, die Einheit 214

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der Welt fundiert im Willen Gottes. In nach-paradiesischer und nach-babylonischer Zeit war damit die Situation des Menschen klar vorgezeichnet: Weder konnte sich der Mensch als in der Schöpfung einfach aufgehobenes Wesen begreifen, denn die Vertreibung aus dem Paradies hatte ihm die Beschwerlichkeit der Selbsterhaltung durch Arbeit auferlegt, noch war nach der Sprachverwirrung ein Wissen vom Wesen der Dinge erhalten geblieben. Deshalb strebten die Gelehrten danach, den Ursprung der Sprache(n) zu ergründen, um so das ursprüngliche Wissen Adams wiederzugewinnen, der allen Dingen in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen einen Namen gegeben hatte. Ohne wesentlichen Unterschied gehören Dinge, Worte und lebendige Wesen in den einen Seinszusammenhang, wie ihn die Schöpfung darstellt. Aber weder ihr Wesen noch die vielfältigen Beziehungen zwischen den Dingen, die die Welt in ihrer Spezifik ausmachen, aber auch zwischen den Worten und ebenso zwischen Worten und Dingen, waren in ihrem Sinn noch unmittelbar verständlich. Die Welt der Dinge und der Zeichen wies allerdings eine Ordnung auf, die es nur richtig zu erkennen und auf ihren geheimen Sinn hin zu verstehen galt. Die Möglichkeit hierzu eröffnete sich durch eine genaue Lektüre der Beziehungen zwischen den Dingen, zwischen den Zeichen und den Dingen, zwischen den Zeichen. Der Raum, in dem sich diese Relationen entfalten, ist ein Raum der Ähnlichkeiten. Foucault weist auf vier wesentliche Typen von Ähnlichkeit hin: »Convenientia, aemulatio, Analogie und Sympathie sagen uns, wie die Welt sich verschließen, sich reduplizieren, sich reflektieren oder verketten muß, damit die Dinge sich ähneln können.«299 Die convenientia bezeichnet »die Nachbarschaft von Orten stärker […] als die Ähnlichkeit«300 zwischen ihnen, wie immer diese auch sonst bestimmt sei. Es kann also durch das Nebeneinander der Dinge zu einer wechselseitigen Beeinflussung kommen, zu einem Austausch von Eigenschaften, wie umgekehrt die Bestimmung der Eigenheiten der Dinge sich durch ihre Lage, ihren spezifischen Ort in einer Nachbarschaft erst ergibt. Insofern gibt es auch ein dynamisches Moment in dieser Form der Ähnlichkeit, weil die Nachbarschaft mitunter neue Ähnlichkeiten und neue Eigenschaften erst hervortreten läßt: »Die convenientia ist eine mit dem Raum in der Form des unmittelbar Benachbarten verbundene Ähnlichkeit. Sie gehört zur Ordnung der Konjunktion und der Anpassung. Deshalb gehört sie weniger zu den Dingen selbst als zur Welt, in der sie sich befinden. Die Welt, das ist die universale ›Konvenienz‹ der Dinge.«301 Foucault weist auf die »immense Kette« hin, die die Welt auf diese Weise bildet und die »von Kreis zu Kreis« alle Dinge und Wesen der Welt miteinander und als Geschöpfe mit ihrem Schöpfer verbindet: »So bildet durch die Verkettung der Ähnlichkeit und des Raumes, durch die Kraft dieser Konvenienz, die das Ähnliche in Nachbarschaft rückt und die nahe beieinander liegenden Dinge assimiliert, die Welt eine Kette

299. Foucault 1966, 56. 300. Foucault 1966, 47. 301. Foucault 1966, 47 f. 215

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

mit sich selbst. In jedem Berührungspunkt beginnt und endet ein Ring, der dem vorangehenden und dem folgenden ähnelt.«302 Die Wirkung der convenientia vollzieht sich durch eine ortsgebundene Übertragung von Eigenschaften. Sie beruht auf unmittelbaren Nachbarschaften. Die zweite Form der Ähnlichkeit ist die aemulatio, die nicht ortsgebunden im Sinne der unmittelbaren Nachbarschaft ist, sondern eine »unbeweglich in der Entfernung ihr Spiel entfaltende«, »berührungslose Ähnlichkeit«303 darstellt. Die Fernwirkung wäre z. B. die zwischen einem Gegenstand und seinem Reflex in einem anderen, einem Spiegel. Foucault spricht von einer quasi ursprünglichen und gleichzeitigen »natürliche[n] Zwillingshaftigkeit der Dinge«, wobei die Ringe der aemulatio »keine Kette wie die Elemente der convenientia, sondern eher konzentrische, reflexive und rivalisierende Kreise« bilden.304 Die analogia als dritte Form der Ähnlichkeit bildet sich wie eine Überlagerung von convenientia und aemulatio: »Wie die aemulatio stellt die Analogie die wunderbare Gegenüberstellung der Ähnlichkeiten durch den Raum sicher, aber sie spricht wie die convenientia von Anpassung und von einem Gelenk.«305 In diesem Raum der Analogien »mit in jede Richtung laufenden Furchen« existiert jedoch ein privilegierter Punkt, und diesen Punkt nimmt der Mensch ein: »Der Raum der Analogien ist im Grunde genommen ein Raum der Strahlungen. Von allen Seiten wird der Mensch davon betroffen, aber dieser gleiche Mensch vermittelt umgekehrt die Ähnlichkeiten, die er von der Welt erhält. Er ist der große Herd der Proportionen, das Zentrum, auf das alle Beziehungen sich stützen und von dem sie erneut reflektiert werden.«306 Hierbei ist auch an die Mikrokosmos-Makrokosmos-Entsprechung zu denken. Die vierte der von Foucault behandelten Ähnlichkeiten, die sympathia, ist ungeregelter als die vorherigen: »Kein Weg wird darin von vorneherein festgelegt. Keine Entfernung wird angenommen, keine Verkettung vorgeschrieben.« Und zugleich zeigt sie sich machtvoll, bedrängend, kraftvoll, angleichend, assimilatorisch, ja sogar identitätsbedrohend, verfremdend, verwandelnd, für diejenigen Dinge und Wesen, die in ihren Bann geraten. Kurz gesagt: »Die Sympathie ist eine Instanz des Gleichen (Même). […] Sie verändert, aber in der Richtung des Identischen.«307 Es sind also weniger die Dinge, die zueinander im Verhältnis stehen, die sich wechselseitig prägen, sondern es ist das Verhältnis zwischen ihnen, das beide gleichermaßen zu einem gemeinsamen Dritten macht. Die vier Typen der Ähnlichkeit lassen sich also zusammenfassend benennen: (1) convenientia: Berührung durch Nachbarschaft des Ortes (Kontiguität); (2) aemulatio: Entfernungsähnlichkeit (konzentrische Kreise); (3) analogia: Verhältnisver-

302. 303. 304. 305. 306. 307.

Foucault 1966, 48. Foucault 1966, 48 f. Foucault 1966, 49 f. Foucault 1966, 51. Foucault 1966, 53. Foucault 1966, 54. 216

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

wandtschaft (Strahlung); (4) sympathia: freie Ähnlichkeit auf ungeregelten Bahnen (Assimilation, Transformation). Mit der wachsenden Autonomisierung des Individuums in der Frühen Neuzeit ist es theoretisch erforderlich, seinen Weltbezug mehr und mehr von diesem Einzelwesen in seiner natürlichen Umwelt her zu deuten und den göttlichen Einfluß soweit zurückzunehmen, wie er für endliche Einzelwesen überhaupt erfahrbar und verstehbar werden kann. Allein die grundlegenden Voraussetzungen des Seins schlechthin gehen auf Gottes Schöpfung zurück, nicht jedoch die konkreten Ausformungen, wie sie in den Individuen in all ihrer Unterschiedlichkeit begegnen. Die Entdeckung der Naturgesetze und die Anwendung der Mathematik als diejenige Sprache, die die Natur der Natur zum Ausdruck zu bringen vermag, weil sie von der Natur selbst (oder ihrem Schöpfer) verwendet wird, zeigt einen Weg auf zu verstehen, wie die Natur auch ohne expliziten Bezug auf den Schöpfungsgedanken bzw. das nachhaltige Einwirken einer göttlichen Instanz für sich selbst sorgt. Die Mathematisierung und Nomologisierung der Natur läßt deren Eigentätigkeit, deren Selbstorganisation verstehbar werden. Auch das jeweilige Einzelwesen Mensch bildet so immer das Ergebnis des Zusammenwirkens von bereits gegebenen natürlichen Voraussetzungen (z. B. Körperbau, Verdauungsvorgänge, Fortpflanzungsmöglichkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Vorstellungskraft, Denkvermögen etc.) und einer kontingenten Erfahrung seiner vielfältigen Um- und Lebenswelt (Klima, Landschaft, Kultur, Sprache, soziale und ökonomische Verhältnisse, historische und biographische Zeitalter etc.). Auf dem Boden einer grundlegenden Ähnlichkeit der Einzelwesen ist es also möglich, durch die Unterschiedlichkeit der Phänomene hindurch deren gesetzmäßige Gemeinsamkeiten festzustellen, auf daß ein sinnvoller Aufbau von Strukturen, seien diese nun sozialer, politischer, ökonomischer, religiöser oder wissenschaftlicher Art, erfolgen und auch begründet werden könne. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß alle diese Umschwünge im System des Wissens (von der Renaissance zur (früh-)neuzeitlichen Wissenschaft) gestützt und zum Teil überhaupt erst ermöglicht wurden durch die Erfindung und Etablierung neuer Medientechniken. Mit der Einführung und Durchsetzung des Buchdrucks sind ganz andere Geschwindigkeiten und Reichweiten der Speicherung und Verbreitung von Wissen möglich, die allerdings von einer entsprechenden kapitalistischen Entwicklung, die die neue Technologie als einen Wirtschaftsfaktor aufgreift und trägt, und von einer Bildungsoffensive, die das Lesen als Kulturtechnik fördert, begleitet sein muß.308 Michel Foucault ist es gewesen, der die Beobachtung gemacht hat, daß trotz der durch die Aufklärung bewirkten Reorganisation des neuzeitlichen Wissens und der gleichzeitigen Verdrängung älterer, zum Teil esoterischer Wissenstraditionen auf dem Grunde der neuen, binären Zeichenordnung eine gleichsam wilde Ähnlichkeit fortwuchert, die, und zwar unthematisiert von dieser Wissensorganisation, ihre neue Ordnung erst ermöglicht und sichert. Es gibt keinen systemati-

308. Giesecke 1992. 217

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schen Ort im âge classique, wo die zweiwertige Konstellation von Signifikat und Signifikant, von Sache und Wort, als eigenständige Problematik verhandelt werden könnte. Vom ternären Denken der Ähnlichkeiten bleiben in der Episteme des klassischen Zeitalters, nämlich im Bereich der Assoziationspsychologie, nur zwei Termini übrig: Ähnlichkeit und Kontiguität. Dabei ist bemerkenswert, daß die Ähnlichkeit selbst nie als problematisch gesehen wird und deshalb einer genaueren Analyse unterzogen würde, sondern daß sie gleichsam als Natur bzw. als Gottes Werk hypostasiert wird. Gerade in diesem untergründigen Fortdauern der älteren Wissensstrukturen liegt die Möglichkeit ihrer Wiederkehr begründet. Und ebenso die ihrer Archäologie.309 Es ist aufschlußreich, vor diesem Hintergrund Freuds Überlegungen einer ›anderen Assoziation‹ im Kontext seines Gedächtnismodells, wie er es in HysterieStudien entwickelt, zu untersuchen, zunächst hinsichtlich des Vorstellungsverlaufs in der analytischen Erfahrung. Bezogen auf eine Zielvorstellung, den »Kern« oder »die pathogene Idee«, gelangt man von Vorstellung zu Vorstellung. Dieser Fortgang unterscheidet sich in drei Weisen, entsprechend denen sich ein »mehrdimensionales psychisches Gebilde von mindestens dreifacher Schichtung« postulieren ließe: »Erstens ist eine lineare, chronologische Anordnung unverkennbar.«310 Diese gleicht einem Archiv, bei dessen Betreten man die jüngste Erinnerung zuerst, die ältesten der selben Reihe zum Schluß erfährt. Für die Analyse bedeutet das »die Eigentümlichkeit, daß sie die Reihenfolge ihrer Entstehung bei der Reproduktion umkehren.«311 Dabei hat Freud »die Gruppierung gleichartiger Erinnerungen zu einer geschichteten Mehrheit, wie es ein Akten Bündel, ein Paket und dergleichen darstellt«, als »Bildung eines Themas« bezeichnet.312 Eine solche Gleichartigkeit – nicht zu verwechseln mit Ähnlichkeit, sondern eher als faktisch sich präsentierender Zusammenhang – stellt sich allein aus der Kontiguität des zeitlichen Nacheinander her, bedarf jedoch einer ›Vorsortierung‹ nach einem thematischen Gesichtspunkt.

309. Peter Bürger (Bürger 1987) weist in einem kurzen Beitrag darauf hin, daß Manfred Franks Lektüre der Foucaultschen Schriften auf der Mißdeutung beruht, Foucault habe mit seiner emphatischen These von der »Wiederkehr der Sprache« in ihrem »rohen Sein« an die Zeichentheorie des »âge classique« anknüpfen wollen. Eher schon handelt es sich um eine Wiederkehr von Auffassungen des Renaissance-Denkens, welches Worte und Dinge und deren Relationen in einem einzigen Raum der Ähnlichkeiten ansiedelt, der eben zugleich der der göttlichen Schöpfung ist und so die Lesbarkeit der Welt (Blumenberg) garantiert. Allerdings würde man Foucaults Intention einer kritischen Analyse von Diskursformationen gründlich mißverstehen, wollte man hierin eine weisende Geste zur Rückkehr in die Vergangenheit vermuten. 310. Freud/Breuer 1895, 232. 311. Ebd. 312. Freud/Breuer 1895, 233. 218

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Eine gewisse Ähnlichkeit des Materials muß also vorausgesetzt sein, ohne die auch der chronologische Aspekt sich nicht als solcher darstellen würde. »Diese Themen nun zeigen eine zweite Art von Anordnung, sie sind […] konzentrisch um den pathogenen Kern geschichtet.«313 Je mehr man sich dem Kern annähert, desto größer wird der Widerstand, von einer Vorstellung assoziativ zur nächsten zu gelangen. Freud benennt hier eine sich in der Erfahrung dynamisch ausdrückende Anordnung des Materials: »Es sind Schichten gleichen, gegen den Kern hin wachsenden Widerstandes und damit Zonen gleicher Bewußtseinsveränderung.«314 Diese bildliche Darstellung des dynamischen Aspektes der Erinnerungsarbeit als eine energetische Topographie setzt das Bewußtsein als peripher, von ›außen‹ auf ein unbekanntes ›Innen‹ voranschreitend, wobei die Zugänglichkeit des Materials zum Kern hin abnimmt, bis schließlich Vorstellungen auftauchen, »die der Patient noch bei der Reproduktion verleugnet.«315 Die Fremdartigkeit des Materials entspricht der Unfähigkeit des Bewußtseins, es sich anzueignen. Diese beiden ersten Schichtungen haben für Freud »morphologischen Charakter«316, was sich dahingehend begreifen läßt, daß dem Material selbst diese Anordnung zugeschrieben werden könne. Hingegen führt er als dritte Schichtung eine Eigenschaft an, die eher der Erfahrung des Bewußtseins bei der Erinnerungsarbeit zugehört und ihren »dynamischen Charakter« bezeichnet: »Es ist die Anordnung nach dem Gedankeninhalte, die Verknüpfung durch den bis zum Kerne reichenden logischen Faden, der einem in jedem Falle besonderen, unregelmäßigen und vielfach abgeknickten Weg entsprechen mag.«317 Die »logische Verkettung«, wie Freud es nennt, repräsentiert den Anspruch des Bewußtseins an das Material, es nach seinen Kriterien zu ordnen. Konfrontiert mit der anderen Ordnung, welche das Material als verdrängtes angenommen hat, muß dieser Anspruch zu einem Hin-und-Her führen, »also ähnlich wie das Zickzack der Lösung einer Rösselsprungaufgabe über die Felderzeichnung hinweggeht«.318 Je nach Gesichtspunkt entfaltet das Material (s)eine Ordnung: eine zeitlichlineare, eine energetisch–konzentrische und eine logisch-unregelmäßige. Jede dieser drei Schichtungen kommt nicht unabhängig von den anderen in der Erfahrung vor: So läßt sich die chronologische Ordnung nicht ohne thematische Zuordnung rekonstruieren. Dies gilt ebenso für die logische Verkettung, deren »zickzackförmig geknickte Linie« zugleich Verzweigungen aufweist und sich als »konvergierendes Liniensystem« darstellt.319 Wäre dieses Konvergieren auf den Kern hin nicht gegeben, würde die logische Kette ohne Begrenzungen hin und her irren, ohne je Schwerpunkte ausmachen zu können. Die logische Verkettung

313. 314. 315. 316. 317. 318. 319.

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 219

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wäre analytisch unbrauchbar, wäre sie nicht zugleich der konzentrischen Anordnung verpflichtet und stellte sich nur im Verhältnis zur Regelmäßigkeit der beiden anderen Ordnungen unordentlich dar. Zuguterletzt erwiese sich der thematische Gesichtspunkt als nichts anderes als der logische Zusammenhang, von dem zuvor die Rede war. Dieser ist ja der vom Bewußtsein herangetragene Anspruch, das Material unter einem Gesichtspunkt zu ordnen und, wie erwähnt, aus Bruchstücken eine Geschichte zu machen. Die dreifache Schichtung ist also nicht als einfaches Übereinander von Ebenen vorzustellen, sondern als mehrdimensionales Gebilde, in gewissem Sinne also als räumliches Ineinander. Insoweit erschiene auch die Rede von einer Topik des Psychischen gerechtfertigt: Freud weist ausdrücklich darauf hin, daß es sich um Gleichnisse handelt, deren Zweck allein in der Veranschaulichung liege, die man aber nicht mit den wirklichen Verhältnissen verwechseln solle: »Ich bediene mich hier einer Reihe von Gleichnissen, die alle nur eine recht begrenzte Ähnlichkeit mit meinem Thema haben und die sich auch untereinander nicht vertragen.«320 Man würde Freud unrecht tun, läse man einen Großteil seiner metapsychologischen Ausführungen nicht unter dem Aspekt der Problematik von Darstellung, ja von Darstellbarkeit und Undarstellbarkeit überhaupt.321 Bekam man anfänglich den Eindruck, das Psychische zerfalle in getrennte Bereiche mit je spezifischen Organisationsformen, so stellt sich nunmehr deren Verläßlichkeit bloß als eine der Darstellung heraus. Nicht daß Freud Darstellung gänzlich verwirft oder sich auf Unanschaulichkeit beschränkt – ganz im Gegenteil bemüht er fallweise noch Darstellung, um deren Unmöglichkeit vorzuführen. Er treibt, wenn man so will, das Spiel der Darstellung bis zur letztmöglichen Konsequenz: »Wir haben von diesem [pathogenen] Material ausgesagt, es benehme sich wie ein Fremdkörper; die Therapie wirke auch wie die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem lebenden Gewebe. Wir sind jetzt in der Lage einzusehen, worin dieser Vergleich fehlt. Ein Fremdkörper geht keinerlei Verbindung mit den ihn umlagernden Gewebsschichten ein, obwohl er dieselben verändert, zur reaktiven Entzündung nötigt. Unsere pathogene psychische Gruppe dagegen läßt sich nicht sauber aus dem Ich herausschälen, ihre äußeren Schichten gehen allseitig in Anteile des normalen Ich über, gehören Letzterem eigentlich ebensosehr an wie der pathogenen Organisation«.322 Damit schreibt Freud dem gewonnenen Bild unauslöschlich die Differenz zum Dargestellten ein. Was daraus folgt, ist nicht so sehr ein Verlust eines allzu vertrauten Mittels, sondern vielmehr: eine Wiederholung. Kaum ist das eine Gleichnis überwunden, tritt ein neues an seine Stelle:

320. Freud/Breuer 1895, 234f. 321. Zum Problem der Darstellung des »Gegenstands« der Psychoanalyse vgl. Derrida 1966 und Weber 1979, 34ff. 322. Freud/Breuer 1895, 234. 220

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

»Die Grenze zwischen beiden wird bei der Analyse rein konventionell, bald hier, bald dort gesteckt, ist an einzelnen Stellen wohl gar nicht anzugeben. Die inneren Schichten entfremden sich dem Ich immer mehr und mehr, ohne daß wiederum die Grenze des Pathogenen irgendwo sichtbar begänne. Die pathogene Organisation verhält sich nicht eigentlich wie ein Fremdkörper, sondern weit eher wie ein Infiltrat. Als das Infiltrierende muß in diesem Gleichnisse der Widerstand genommen werden. Die Therapie besteht ja auch nicht darin, etwas zu exstirpieren – das vermag die Psychotherapie heute nicht –, sondern den Widerstand zum Schmelzen zu bringen und so der Zirkulation den Weg in ein bisher abgesperrtes Gebiet zu bahnen.«323 Kurzerhand verschiebt Freud noch den Schwerpunkt der Pathogenese vom Material zum Widerstand, vom aus dem/durch das Bewußtsein Verdrängten zum Verdrängenden selbst. Und der Dreh- und Angelpunkt dieses Schwenks ist nicht genau fixierbar; Normales und Pathologisches sind zwar klinisch vorfindlich, aber theoretisch nicht prinzipiell ausweisbar und deswegen nur konventionell bestimmt: »Man darf nämlich an einen Gedankengang bei einem Hysterischen, und reichte er auch ins Unbewußte, dieselben Anforderungen von logischer Verknüpfung und ausreichender Motivierung stellen, die man bei einem normalen Individuum erheben würde. Eine Lokkerung dieser Beziehung liegt nicht im Machtbereich der Neurose. Wenn die Vorstellungsverknüpfungen der Neurotischen und speziell der Hysterischen einen anderen Eindruck machen, wenn hier die Relation der Intensitäten verschiedener Vorstellungen aus psychologischen Bedingungen allein unerklärbar scheint, so haben wir ja gerade für diesen Anschein den Grund kennengelernt und wissen ihn als Existenz verborgener, unbewußter Motive zu nennen. Wir dürfen also solche geheime Motive überall dort vermuten, wo ein solcher Sprung im Zusammenhange, eine Überschreitung des Maßes normal berechtigter Motivierung nachzuweisen ist.«324 »Die gemeinen psychologischen Gesetze der Vorstellungsverbindung« sind eine Art Grundstock aus beschreibbaren Regeln des Seelenlebens, die der Tradition vornehmlich des Assoziationismus entstammen. Freud deckt nun unbewußte Motivierung an den Fällen auf, wo jene Gesetze nicht nachzuweisen waren oder nur über den Umweg des Unbewußten zu ihrem Recht kamen. »Falsche Verknüpfungen«325 werden so verständlich gemacht. Sie ordnen sich – im Sinne einer ›anderen Assoziation‹ – in einen anderen Motivationszusammenhang ein, der vom Standpunkt des Bewußtseins als ›falsch‹, ›verkehrt‹ oder ›unsinnig‹ erscheint. Eine unbewußte Verknüpfung wirkt sich für den bewußten Vorstellungsver-

323. Ebd. 324. Freud/Breuer 1895, 237. 325. Ebd. und 244f. 221

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lauf als ein »Assoziationszwang« aus326, der beständig, je nach den wechselnden Anlässen, neue falsche Verknüpfungen produziert. Das Bewußtsein, wie um sich nicht peinlichen, schmerzlichen oder anderen stark affektiven Zuständen auszusetzen, perenniert jene ›Ursachen‹, die es durch Verdrängung ins Unbewußte ›erledigen‹ will. Sein Widerstand gegen bestimmte assoziative Verknüpfungen ›beseitigt‹ diese, indem der Verdrängungsmechanismus sie ›beiseite schiebt‹, mit dem Effekt, daß das Bewußtsein selbst dem Zwang unterliegt, bestimmte Assoziationen nicht herstellen zu können. Wie weitreichend die Einschränkung sein kann, ersieht man daran, daß auch alle durch Ähnlichkeit oder Kontiguität mit dem Verdrängten in Beziehung zu bringenden Assoziationen ebenfalls nicht vom Bewußtsein zur Erledigung zugelassen sind. Als »Übertragung« kann Freud diesen Vorgang, als Teil des Widerstands des Analysanten erkannt, für seine therapeutische Arbeit fruchtbar machen. Sowie sich die Übertragungen nach Gesetzmäßigkeiten herstellen, tragen sie auch das Stigma ihrer Herkunft entstellt an sich und werden so decodierbar: In Beschreitung des umgekehrten Weges erschließen sich die auslösenden Erinnerungen als verdrängte. Die Priorität des erinnerten Materials wird aber dadurch aufgehoben, daß sich die Wirksamkeit des Widerstandes aktuell in der analytischen Situation als Übertragung äußert. Diesen Widerstand gilt es zu schmelzen, nicht Erinnerung zu exstirpieren.327 Was also hat sich mit den in den Studien über Hysterie vertretenen Auffassungen geändert am Verständnis des Phänomens Assoziation? Zuerst sei betont, wie groß die Anleihen an die Tradition sind. So wird die Gültigkeit der klassischen Assoziationsgesetze für den Normalfall des Seelenlebens behauptet. Desweiteren wird die affektive Beeinflussung des Vorstellungsverlaufs hervorgehoben und durch die psychoanalytische Theorie dahingehend zugespitzt, daß ohne den Affekt sich kaum Komplikationen des Vorstellungsverlaufs ergäben. Die Bewältigung affektiver Zustände durch Reaktion oder assoziative Erledigung ist somit

326. Freud/Breuer, 1895, 245. 327. Man mag sich hierbei an die berühmte Formulierung erinnern, die das Ziel der psychoanalytischen Therapie darin sieht, den Menschen liebes- und arbeitsfähig zu machen. Diese Freisetzung – Anmerkungen zum repressiven Gesichtspunkt dieser Formulierung seien hier an dieser Stelle ausgespart – zu selbständiger Tätigkeit ist wichtiger, als einen Menschen auf diese oder jene Norm hin festzulegen. Das Menschenbild der Psychoanalyse ist negativ, d.h. unbestimmt in der Hinsicht, daß ihre Leistung eine Vorleistung ist, deren Nutzen je nach Absicht des Einzelnen bestimmt und konkretisiert werden kann: Instandsetzung des Individuums, sich in der Welt zurechtzufinden. In den Studien über Hysterie heißt es lapidar: »Er [der Analytiker] wird zufrieden sein, wenn die Kranke wieder leistungsfähig geworden ist.« (Freud/Breuer 1895, 210) 222

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eine Hauptaufgabe des Psychischen. Und schließlich ist die Unterteilung des Seelenlebens in bewußte und unbewußte Anteile ebenfalls nicht neu.328 Was die Psychoanalyse jedoch von allen vorhergehenden Auffassungen unterscheidet, ist ihre Konzeption des Unbewußten. Diese ergibt sich, wie dieses Kapitel zu zeigen versucht hat, aus ihrer spezifischen Herangehensweise an die Phänomene, die – als pathologische oder normal eingeschätzte – sich im Seelenleben darstellen. Um hiervon eine Theorie liefern zu können und die zugänglichen Erfahrungstatsachen auch oder gerade in ihrer Widersprüchlichkeit für das Bewußtsein in einen verstehbaren Zusammenhang einzuordnen, ist es nötig, sich über jene »Mauer« Klarheit zu verschaffen, »die jede Aussicht versperrt und die nicht ahnen läßt, ob etwas und was denn doch dahinter steckt.«329 Man kann nicht bei den Phänomenen stehenbleiben, so wie sie sich präsentieren. Der Assoziationsvorgang, der sich in einem so komplexen Rahmen bewegt und den verschiedenartigsten Einflußfaktoren ausgesetzt ist, stellt sich zwar in der Erfahrung als kontinuierliches Geschehen dar – kann es den Moment ohne Assoziation überhaupt geben? –, zerfällt jedoch, will man assoziatives Geschehen ›verstehen‹, nur in Faktoren, sofern man sie benennen und genauer definieren kann, oder in einen irreduziblen Rest, den man zwar postulieren, nicht aber als solchen beschreiben kann. Umgekehrt entspringt die Komplexität der postulierten psychischen Organisation dem Versuch, dem differenzierten Phänomen Assoziation durch Beschreibung gerecht zu werden. Was Foucault als historische ›Vorläufer‹-Konstellation im Denken der Renaissance als »wilde«, aber gleichwohl systematisch analysierbare Formen der Ähnlichkeit aufgezeigt hat, kann also unter dem Vorzeichen einer etablierten neuzeitlichen Wissenschaft und dem Paradigma einer zweistelligen Zeichenrelation nur unter der Bedingung der Entwicklung einer neuen Disziplin und Praxis des Wissens wiederauftauchen. Wenn Foucaults Diagnose für die Konstellation um 1900 zutrifft, daß nämlich die Begründung der modernen Linguistik durch Ferdinand de Saussure als ›Wiederentdeckung‹ der zweistelligen Zeichenrelation des klassischen Zeitalters verstanden werden kann330 und dadurch die Vorherrschaft des historisch-diachronen Denkens im 19. Jahrhundert (z. B. die Sprachgeschichtsforschung im Anschluß an F. Bopp und W. v. Humboldt) durchbrochen wird, dann stellt sich die Frage nach der geschichtlichen Parallelität des Erscheinens der beiden neuen Diskurse Linguistik und Psychoanalyse. Beiden gemeinsam ist die Orientierung an einer grundlegenden Sprachlichkeit, aber die Psychoanalyse Freuds geht mit der Konzeption des Unbewußten noch über die Theoretisierung sprachlicher Mechanismen, d. h. einer fundamentalen Strukturierung von

328. Vgl. Jahoda 1985, 153ff. und Köhler 1987, 168ff. und 282ff., die Leibniz, Kant, Herbart, Schopenhauer, v. Hartmann u.a. erwähnen. 329. Freud/Breuer 1895, 236. 330. Selbst wenn man die Erfindung der Linguistik ähnlich wie die der Psychoanalyse enger mit der Psychophysik und dem Reiz-Reaktions-Schema der Physiologie in Verbindung bringt, bleibt die Einsicht Foucaults trotzdem plausibel. 223

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Bedeutung (Metonymie und Metapher) – die sie sehr wohl anerkennt – hinaus, sofern diese als Regeln des Sprachgebrauchs gefaßt werden. Die Stoßrichtung der Freudschen Psychoanalyse ist unter dem Stichwort einer ›anderen Assoziation‹ nicht nur auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten des psychischen Geschehens aus, sondern zielt auf Individualität, d. h. auf die Darstellung des je Individuellen. 331 Eine weitere entscheidende Rolle spielt die ›andere‹, von unbewußten Determinationen beeinflußte Assoziation für die Traumdeutung, die im folgenden Kapitel im Zentrum steht.

3.3 Traum und Gedächtnis: Freuds »Traumdeutung« und ihr Konzept einer anderen Assoziation »Der Raum ist mit der Kühnheit des Traumes herrlich gestaltet, ohne daß er irgendein Gerät enthielte.« Hugo von Hofmannsthal

3.3.1 Die Bedeutung von Deutung: Verfahren der Traumdeutung Erinnerung an den Traum als Traumerzählung Erst mit der Erinnerung an einen Traum kann Traumdeutung überhaupt beginnen. Hätte der Träumer keine Erinnerung an dieses nächtliche Geschehen, das ihm während des Schlafs ohne Absicht widerfährt, könnten wir nichts vom Traum wissen. Auch ein äußerer Beobachter des Schlafenden hätte keinen Anlaß, aus den deutlich herabgesetzten Körperaktivitäten anderes zu schließen als eben den Schlaf. Das meiste, was während des Schlafs mit dem Schläfer passiert: seine Bewegungen zur Veränderung der Körperlage, das Zucken von Körpergliedern, das Rollen der Augäpfel, das Atmen und Schnaufen ebenso wie das Sprechen oder sogar das Schlafwandeln und das kurzfristige Erwachen, werden vom Aufgewachten nicht erinnert. Oft erinnern sich jedoch Erwachte an lebhafte Erlebnisse, die sie offenbar während des Schlafs gehabt haben müssen. Das Träumen, das dem Schläfer widerfährt und direkt eben nur ihm zugänglich, allein seine Erfahrung ist, ist ihm nach dem Erwachen ausschließlich in der Erinnerung erreichbar. Er allein kann von den Traumerlebnissen Kunde geben. Die Erzählung des Traums ist die gängige Form, in der der Traum auch für andere zur Darstellung kommt. Die Erinnerung muß (wie andere mentale Ereignisse) in Sprache umgesetzt werden, um anderen mitgeteilt werden zu können. Deshalb ist der Ausgangspunkt für den Traumdeuter die Traumerzählung. Auch die Deutung der eigenen Träume durch den Träumer bedarf dieser Umsetzung in Worte und Sätze, weil erst im Medium der Sprache die Deutung vollzogen werden kann. Deuten heißt, etwas in einen Zusammenhang zu stellen, dessen (An-)Ordnung zu wer-

331. Dies ist ein pragmatisches Erfordernis der psychoanalytischen Arbeit, insofern sie es mit konkreten Individuen zu tun hat (vgl. Kap. 2.3). 224

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

den kann. Deuten heißt, etwas in einen Zusammenhang zu stellen, dessen (An-)Ordnung zu analysieren und den wesentlichen Aspekt, die Haupttendenz, dasjenige, was das Subjekt angeht und worauf es existentiell ankommt, zu benennen. Dies geht nicht anders als im Medium der sprachlichen Artikulation, welche eine Stellungnahme, ein Urteil, eine Schlußfolgerung zum Erlebten hervorzubringen gestattet. Die Wette, die Freud mit der Psychoanalyse eingeht, zielt darauf, daß Traum und Träumen nicht erst im nachhinein versprachlicht werden, sondern gar nicht erst ohne einen Bezug auf Sprachlichkeit zu konzipieren sind. Es besteht offenbar ein Verlangen für das Subjekt, seinen Traum zu deuten: Steht der Träumer dem nächtlichen Geschehen verständnislos, aber nicht gleichgültig gegenüber, so sucht er nach einer Deutung. Aber ersichtlich fehlt dem Subjekt etwas zum (Erlangen des) Verständnis(ses), wenn es der Deutung bedarf: Wenn der Traum bzw. die Traumerzählung oft nicht von selbst verständlich ist, kann es nur nach Wegen suchen, Verständlichkeit herzustellen. Die mangelnde Verständlichkeit liegt nicht nur am Traumvergessen, das einzelne Teile oder längere Abschnitte, gar ganze Träume der Erinnerung vorenthält (vgl. hierzu Kap. 6.1). Denn selbst bei einer angenommenen Vollständigkeit der Erzählung des Traumgeschehens kann der richtige Gesichtspunkt fehlen, der es dem Subjekt erlaubt, den roten Faden zu erkennen, der sich durch das Material zieht und zu einer Deutung führt. Liegt die Traumerzählung einmal so vor, wie das Subjekt sie eben zu erzählen vermag, dann stößt das um Verständnis ringende Nachfragen – sei es des Träumers, sei es des Analytikers – auf Hindernisse, die keine Deutung zustandekommen lassen. Auch das weitere direkte Erinnern bleibt dann häufig fruchtlos: Dem Subjekt will partout nichts mehr zu seinem Traum einfallen. In dieser scheinbar ausweglosen Situation setzt Freud die freie Assoziation ein (hierzu weiter unten in diesem Kap.). Hierbei geht es zunächst nicht speziell um Erinnerungen, sondern um beliebige Einfälle, Gedanken, Ideen, Vorstellung, Gefühle und Affekte, welche sich dem Subjekt gerade aufdrängen und von denen es ohne Einschaltung der Kritik berichten soll. Anstelle des suchenden Erinnerns, einer spezifischen psychischen Funktion, tritt also der (möglichst) ungelenkte Bewußtseinsstrom. Jeder Einfall ist willkommen (jedenfalls dem Analytiker/Deuter, nicht unbedingt dem Analysanten/Träumer), um die Deutung des Traums mit neuem Material zu versorgen und voranzutreiben. Das durch Assoziation auftauchende Material enthält gleichermaßen spontane, ad hoc gebildete Gedanken wie auch Erinnerungen. Oft kann erst die weitere Analyse des Zusammenhangs darüber entscheiden, ob ein Element aus der Erinnerung stammt oder nicht. Und ebenso oft mag es unentscheidbar bleiben, wozu es gehört. Durch die freie Assoziation und die zutage geförderten psychischen Elemente erschließen sich dem Bewußtsein stückweise größere Zusammenhänge, an die es aus eigenen Kräften, unter Vorsatz, nicht herangekommen wäre. Sofern die Elemente der Erinnerung zugeordnet werden können, verweisen sie eindeutig auf ein Gedächtnis, das von der direkten Zugänglichkeit für das Bewußtsein abgetrennt ist. (Das dem Bewußtsein leicht zugängliche Gedächtnis, die verfügbaren Erinnerungen des Subjekts, gehört laut Freud dem System des Vorbewußten an.) 225

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Dieses unbewußte Gedächtnis (unter bestimmten Umständen erinnerbar, aber vollkommen unabhängig gegenüber der Verfügung des Bewußtseins) läßt sich über die Assoziationen erschließen – aber immer nur durch Bewußtwerden des zuvor Unbewußten, das heißt nicht nur entsprechend dem im Gedächtnis enthaltenen Material, sondern nach Maßgabe des Bewußtseins und der vorgeschalteten Zensur, also als Kompromißbildung (Fehlleistungen, Symptome). Dieses Bewußtwerden ist also daran gebunden, daß entweder dem Analysanten selbst etwas ein- und auffällt oder dem Analytiker: Die Kapriolen des Unbewußten kommen für den Fortgang der Deutung nur zur Geltung, wenn sie das Bewußtsein – wie entstellt auch immer – erreichen.332 Die Analyse kann auch ohne Deutung vorangehen, ohne daß dann die Beteiligten zu sagen wüßten, warum und wieso. Aus dem Geflecht333 der Assoziationen, dem Netzwerk des Psychischen rekonstruiert Freud die Struktur und Arbeitsweise des psychischen Apparats und damit auch die des Gedächtnisses und seiner besonderen Organisation. Man kann die These auch so aussprechen, daß die Bildung und Erhaltung, die Verfestigung und Konstanz von psychischen Strukturen nichts anderes als das Gedächtnis des Psychischen ist, welches sich über die Assoziation erschließt. Das beständige Unterscheiden und Verbinden, Trennen und Verknüpfen, Vergessen und Erinnern läßt sich generell als Assoziationstätigkeit im Psychischen beschreiben. Wenn es also gleichwohl Unvergangenes in diesem komplexen Assoziationsgeschehen gibt, dann nennen wir es Gedächtnis: Es sind jene Strukturen, die aus dem assoziativen Prozeß hervorgegangen sind und den Augenblick ihrer Entstehung überdauern, deren Aufrechterhaltung sich jedoch wiederum ebendiesem Prozeß verdankt. Mit der Betonung des Vergessens der Träume und der Grenzen der Erinnerung impliziert Freud zweierlei: einerseits die Unvollendbarkeit und Unabschließbarkeit der analytischen Bemühungen, des psychoanalytischen Prozesses; andererseits stützen bzw. ermöglichen diese Überlegungen Freuds die Hypothese, daß im Unbewußten nichts verlorengehe. Letzteres erweist sich als eine im strikten Sinne unbeweisbare, aber durchaus plausible Annahme, die dem Forschungsprozeß als erkenntnisleitende Idee dient, aber selbst keine Behauptung

332. Das ›Durchdringen zum Bewußtsein‹ ist, wie mit Freud noch erläutert werden wird, weniger ein Verdienst, das sich das Bewußtsein selbst zurechnen darf, als vielmehr ein Indiz für einen geschwächten Widerstand bzw. für eine veränderte Zensur, die den Austausch zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein regelt. 333. Die Begriffe Gewebe, Knäuel, Beziehungsgefüge, Textur, Text (und Kontext) sind funktionale Äquivalente, die den Zusammenhang zu Überlegungen aus der Sprachwissenschaft und Linguistik andeuten, in denen Denken und Sprechen als auf engste Weise miteinander verbunden konzipiert werden (zu dieser sprachphilosophischen Tradition, die am prominentesten durch den Namen Humboldts belegt ist, vgl. Trabant 1998). An entscheidender Stelle bedient sich Freud des Terminus Geflecht, um das (unbewußte) Psychische mit seinen vielfältigen assoziativen Beziehungen zu charakterisieren (Freud 1900, 503; vgl. a. Freud 1900, 506; hierzu weiter unten in diesem Kapitel). 226

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

darstellt, die empirische Geltung beanspruchen könnte. Das unbewußte Gedächtnis ist der Möglichkeit nach unbegrenzbar, aber als dem Bewußtsein verfügbare Erinnerung äußerst eingeschränkt. Im folgenden sei der Weg nachgezeichnet, den Freud zur Begründung seiner neuen Wissenschaft der Traumdeutung beschritten hat, und zwar hinsichtlich derjenigen Aspekte, die Aufschluß geben sowohl über die Ansätze einer psychoanalytischen Gedächtnistheorie, über die mediale Verfaßtheit der psychoanalytischen Theoriebildung (freie Assoziation und sprachliche Artikulation im psychoanalytischen Prozeß; medientheoretische Aspekte der technischen Metaphern und Modelle des psychischen Apparats) als auch über deren philosophische Konsequenzen für den Subjekt-Begriff der Psychoanalyse.

Dezentrierung des Deutens »Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung des Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist. Ich werde ferner versuchen, die Vorgänge klarzulegen, von denen die Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit des Traumes herrührt, und aus ihnen einen Rückschluß auf die Natur der psychischen Kräfte ziehen, aus deren Zusammen- oder Gegeneinanderwirken der Traum hervorgeht.«334 Mit diesen Worten eröffnet Freud die Traumdeutung und zugleich ohne Umschweife deren Problemstellung. Den Traum einer Deutung zuzuführen, ist ein Bestreben, das in allen Kulturregionen verbreitet ist und geschichtlich sicher noch weiter zurückreicht, als die überlieferten Quellen uns heute Kunde zu geben vermögen. Dieser reichen Tradition und dem »gegenwärtigen Stand der Traumprobleme in der Wissenschaft«335 – darunter das Vorurteil, der Traum sei überhaupt der Deutung unzugänglich, da ihm jeder objektiv verständige Zusammenhang fehle336 – sind die gut hundert Seiten des ersten Kapitels der Traumdeutung gewidmet. Um sein eigenes, explizit »wissenschaftliches« Verfahren zu schärfen, verwirft Freud sowohl »die symbolische Traumdeutung« – sie »faßt den Trauminhalt als Ganzes ins Auge und sucht denselben durch einen anderen, verständlichen und in gewissen Hinsichten analogen Inhalt zu ersetzen«337 – als auch die »Chiffriermethode«, die »den Traum wie eine Art von Geheimschrift behandelt, in der jedes Zeichen nach einem feststehenden Schlüssel in ein anderes Zeichen

334. Freud 1900, 29. 335. Ebd. 336. Vgl. Freuds (aus zweiter Hand stammender) Hinweis auf Hegel (Freud 1900, 78) – übrigens seine einzige Hegel-Referenz! –, aber auch viele andere Autoren. 337. Freud 1900, 117. 227

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

bekannter Bedeutung übersetzt wird« und die »nicht auf das Ganze des Traumes gerichtet wird, sondern auf jedes Stück des Trauminhalts für sich, als ob der Traum ein Konglomerat wäre, in dem jeder Brocken Gestein eine besondere Bestimmung verlangt«.338 Freud konstatiert die Unzulänglichkeit beider Verfahren: »Die symbolische Methode ist in ihrer Anwendung beschränkt und keiner Darlegung fähig. Bei der Chiffriermethode käme alles darauf an, daß der ›Schlüssel‹, das Traumbuch, verläßlich wäre, und dafür fehlen die Garantien.«339 Was Freud also kritisiert, könnte in einem Falle als ›subjektive‹, im anderen als ›objektive‹ Willkür bezeichnet werden: Einmal bestimmt der Deutende direkt gemäß seiner individuellen Intuition den Sinn des Traums, das andere Mal beruft er sich auf ein vermeintlich allgemeingültiges Manual zur Traumdeutung. Dieser Schwierigkeit zu entgehen, stellt das erste Ziel der Freudschen Traumdeutung dar, die eine Deutbarkeit der Träume aufzuzeigen sucht, die nicht willkürlich, sondern methodisch ist und die ausführlich und systematisch auf die Mithilfe des Träumers setzt. Hatte schon Artemidor aus Daldis in seiner Oneirocritica, auf die Freud verweist, zur Deutung eines Traums die Lebensumstände des Träumers berücksichtigt, »so daß das nämliche Traumelement für den Reichen, den Verheirateten, den Redner andere Bedeutung hat als für den Armen, den Ledigen und etwa den Kaufmann«340, so weicht die Technik Freuds »in dem einen wesentlichen Punkte ab, daß sie dem Träumer selbst die Deutungsarbeit auferlegt.«341 Damit verschärft Freud die Individualisierung des Vorgehens bei der Traumdeutung: Nicht nur die Kontextualisierung des zu deutenden Traummaterials, sondern eine teilweise Delegierung des Deutungsprozesses an den Träumer selbst gehört konstitutiv zur Freudschen Traumdeutung. Deutung ist damit weniger ein Instrument des Deuters, als daß es den Deutenden zu einem jederzeit dezentrierbaren Moment im Medium des analytischen Prozesses werden läßt. Das Prinzip antiker Deutungskunst ist zwar »das Prinzip der Assoziation. Ein Traumding bedeutet das, woran es erinnert.« Aber die Frage ist, wer sich erinnert: »Wohlverstanden, woran es den Traumdeuter erinnert!«342 Vorausgreifend gesagt: Es bleibt eine Frage, an wen sich der Traum richtet, wessen Deutung er provoziert – und auch der ratlose Träumer, der sich an einen professionellen Traumdeuter wendet, ist zunächst zwar der Empfänger des Traums, kann aber durchaus in Zweifel darüber geraten, ob er tatsächlich als Adressat gemeint ist, da ihm die Botschaft des Traums unverständlich ist. Da er den Traum als solchen offenbar nicht versteht, sich seines Sinns nicht versichern kann, muß die Frage offen bleiben, ob überhaupt an jemanden und wenn, an wen anderes als den Träumer selbst, sich der

338. Freud 1900, 118f.; vgl. Freud 1900, 472, wo Freud von »sinnlosen Haufen von Inhaltsbrocken« spricht. Wiederum ist in beiden Fällen die Nähe zum Bedeutungsfeld der archäologischen Metaphern zu lesen. 339. Freud 1900, 120. 340. Freud 1900, 119. 341. Ebd. 342. Ebd. 228

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Traum richten könnte. Oder anders gesagt: Wer ist dieser Andere, der als Adressat des Traums fungieren kann? Verwissenschaftlichung kann aber nicht einfach durch Verlagerung der Deutungsarbeit vom Traumdeuter zum Träumer hin erfolgen. Auch wenn der Träumer seine eigenen Träume deutet, wäre ja die Willkür nicht ausgeschlossen – außer man würde das, was unter dem Begriff ›Träumen‹ verstanden wird, zuvor in einen anderen Kontext einordnen, und die Tätigkeit des ratlos Erwachten, hier noch von Freud summarisch als »Deutung« bezeichnet, würde entscheidend abweichen von dem, was nach traditionellem Verständnis überhaupt Deutung noch heißen könnte. Freud geht es also nicht allein um den Wechsel des Akteurs (Wer deutet?), sondern um dessen »Aktivität« (Was wird getan, um zu deuten? bzw.: Welche Haltung soll eingenommen werden?), zunächst also um den Einfall und noch nicht um eine Deutung.

Zur Logik der psychischen Funktionen Zum einen kann für Freud der Traum und das Träumen als eine psychische Funktion unter anderen »in die psychische Verkettung eingeordnet sein« und »selbst wie ein Symptom« behandelt werden.343 Damit ist das Träumen doppelt bestimmt: als etwas, das wie eine Erscheinung unter anderen zum normalen Repertoire des Seelenlebens gehört und das darüber hinaus auf etwas anderes verweist, das nicht direkt der Beobachtung zugänglich ist. Angesichts dessen gilt es, die spezifische Arbeitsweise dieser psychischen Funktion zu bestimmen und dabei zu klären, wie man von ihr Kenntnis nehmen kann. Wie es Freud bei der Therapie der Hysterie gelernt hat, soll die Klärung über die Annahme von unbewußten Vorstellungen bewerkstelligt werden, die durch das assoziative Sprechen der Beobachtung zugänglich geworden sind: »Mit Hilfe dieses für die Selbstwahrnehmung neu gewonnenen Materials läßt sich die Deutung der pathologischen Ideen sowie der Traumgebilde vollziehen.«344 Zum anderen »bedarf es nun einer gewissen psychischen Vorbereitung des Kranken. Man strebt zweierlei bei ihm an, eine Steigerung seiner Aufmerksamkeit für seine psychischen Wahrnehmungen und eine Ausschaltung der Kritik, mit der er die ihm auftauchenden Gedanken sonst zu sichten pflegt.«345 Der Analysant muß nicht mehr, so wie Freud es in seinen Hysterieanalysen anfänglich noch für nötig erachtete, von außen, durch den Analytiker bedrängt oder überlistet werden. Freud nimmt vielmehr an, daß der Analysant aus ›eigener‹ Kraft bestimmte seiner psychischen Funktionen in einer Weise beeinflussen könne, so daß sie ihre gewohnte Aufgabe nicht mehr erfüllen. Der Effekt, den Hypnose und sogenannte freie Assoziation zeitigen, ist im Ergebnis für die Materialbeschaffung der gleiche. Freud zieht damit die therapeutische Konsequenz aus der Erfahrung, daß das Psychische nicht als homogenes Kontinuum aller seiner Erscheinungen

343. Freud 1900, 121. 344. Freud 1900, 122. 345. Freud 1900, 121. 229

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betrachtet werden kann. Vielmehr ist das Seelenleben als eine komplexe Organisation von unterscheidbaren Funktionen anzusehen, die, obwohl aufeinander bezogen, eine gewisse Unabhängigkeit voneinander dadurch beweisen, daß sie jeweils einzeln ausfallen und ihren gewohnten Dienst verweigern können. ›Selbstanalyse‹346, ohne die Die Traumdeutung nicht hätte geschrieben werden können und ohne die eine Traumdeutung überhaupt nicht funktioniert, setzt das Nebeneinander psychischer Funktionen voraus, deren Arbeit auch ohne Zutun des Bewußtseins sich vollzieht. Psychoanalyse macht sich hier bloß das als Methode zueigen, was psychophysisch vor ihrer Zeit schon Wissensstandard in den Experimentallaboratorien geworden war. Ebbinghaus’ Gedächtnisversuch347 wäre ohne diese Zergliederung psychischer Funktionen undenkbar. Und so wie dieser sich selbst zur Versuchsperson seines eigenen Versuchs machen konnte, obwohl er über nur ein und dasselbe Psychische – seine eigene »Seele« – verfügte, welches sich als Gegenstand zweier getrennt beschreibbarer Vollzüge darstellen lassen konnte, so verlegt Freud eben die beiden Funktionen »Träumen« und »Deuten« in ein und dieselbe Person. »Man macht so die ›ungewollten‹ Vorstellungen zu ›gewollten‹.«348 Nur solch paradoxe Formulierungen tragen der vielortlichen »Topik« des von Freud konzipierten psychischen Geschehens Rechnung. So wie sich die Relativität der Kennzeichnung »frei« bezüglich des Assoziationsvorganges je nach dem Bezugspunkt – Bewußtsein oder Unbewußtes – als ein »frei von« erwies (vgl. Kap. 3.2), hängt das »gewollt/ungewollt« vom jeweiligen Standpunkt bzw. Interesse ab, den das Bewußtsein zu den Vorstellungen einnimmt. Es kommt also alles auf »die hier geforderte Einstellung auf anscheinend ›freisteigende‹ Einfälle mit Verzicht auf die sonst gegen diese geübte Kritik« an.349 Dem Analysanten fallen die Gedanken, Bilder oder inneren Wahrnehmungen ein, ob er will oder nicht. Erst die Reaktion des kontrollierenden Bewußtseins bewirkt eine Abhaltung aus dem Bewußtsein, könnte man sagen.350 Wenn also die An-

346. Der Doppelsinn dieses Terminus darf nicht unterschlagen werden: Das Selbst ist nicht nur Akteur, sondern wesentlich Gegenstand der Analyse. Zur Problematik dieses Terminus vgl. Anzieu 1975. 347. Vgl. Kap. 3.2.1. 348. Freud 1900, 122. 349. Freud 1900, 122f. 350. Diese problematische Redeweise vom »Bewußtsein, das etwas tut, was ihm nicht bewußt ist« ersetzt Freud, wie bekannt, in seiner zweiten Topik durch die komplexeren psychischen Instanzen Es und Ich, wobei letztere sowohl unbewußte wie bewußte Anteile hat (vgl. Das Ich und das Es, Freud 1923, 273ff.). In der Traumdeutung reserviert Freud die Funktion der Kontrolle für die zwischengeschaltete Zensur. Ihre Ambivalenz wird daran deutlich, daß nicht ganz geklärt werden kann, inwieweit sie als bewußt, dem Bewußtsein unterstehend bzw. zugänglich, oder als vor- bzw. unbewußt, und damit sich dem Bewußtsein mehr oder weniger entziehend, gedacht werden muß. (vgl. Freud 1900, 516 u. 582) Andererseits zeigt Freuds Schema des psychischen Apparats, daß Erinnerung 230

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nahme gerechtfertigt erscheint, daß es noch anderes als bewußtes Psychisches gibt, können alle psychischen Vorgänge, die nicht dem Bewußtsein unterstehen bzw. von ihm kontrolliert werden, dem Unbewußt-Psychischen zugewiesen werden. Aber es ergibt sich recht schnell die Komplikation, daß nicht bloß das andere Psychische, das Unbewußte (welches die Konzeption der verschiedenen Orte im Psychischen verlangt), dem Bewußtsein entgeht, sondern daß das Bewußtsein sich selbst nicht immer dessen bewußt ist, was es vollbringt, insofern ihm auch Funktionen entgehen, die nicht dem explizit anderen System, dem Unbewußten, zugeschrieben werden können. Freuds Beispiel ist hier der Wunsch: Er will zum Bewußtsein durchdringen, unterliegt jedoch der Verdrängung ins Unbewußte, wobei er aber sich nicht selbst vom Bewußtwerden abhält und auch nicht vom Unbewußten daran gehindert wird, da dessen grundsätzliche Tendenz auch das Bewußtwerden ist. Diese Funktion der Abhaltung vom Bewußtsein müßte Bewußtsein also sich selber zurechnen, ohne daß es sich darüber in direkter Weise klar werden würde. Nach der Zweiteilung der Psyche in Bewußtes und Unbewußtes wiederholt sich die Differenzierung noch einmal – als paradoxe Verdoppelung – an der Instanz des Bewußtseins selbst: Einerseits ist das Bewußtsein das von anderen, ihm unbewußten, psychischen Prozessen Hintergangene, andererseits ist es selbst die Instanz, die das Bewußtwerden des Unbewußten unterbindet. Dies ist allerdings eine harte Nuß für jegliches identitätslogische Denken, soll es diese Doppeltheit des Einen (Bewußtsein) einer eindeutigen Klassifizierung und Verortung zuführen: entweder (passiv) Hintergangenes oder (aktiver) Protagonist, aber nicht beides zugleich. Der Satz der Identität (Bewußtsein ist x und nichts anderes) wird ebenso in Frage gestellt wie der Satz des Widerspruchs (Bewußtsein ist x und nicht nicht-x). Es bliebe also der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Es muß entweder das eine oder das andere sein – ein Drittes gibt es nicht (tertium non datur).351 Freud läßt sich jedoch die strikte logische Alternative nicht aufzwingen: Die Wahl nur der einen Seite der Alternative oder auch eines davon unterschiedenen Dritten wäre eine ungebührliche Verkürzung der diagnostizierten Charakteristika. Freud hält stattdessen an der Diagnose von den verschiedenen Rollen des Bewußtseins in ihrer Widersprüchlichkeit fest. Damit erweist sich die Unterscheidung bewußt/unbewußt als unzureichend, denn sie führt zu einem

bzw. Gedächtnis und Zensur nicht zusammenfallen: Die »Er-Systeme« gehören eher dem sensiblen Ende, das Vorbewußte dem motorischen Ende zu. Zwischen beiden ›liegt‹ das »System Unbewußt« (Freud 1900, 517) (vgl. hierzu weiter unten in diesem Kapitel den Abschnitt Assoziationszusammenhang und Sprachlichkeit des Psychischen). Freud neigt sogar dazu, zwei Zensur-Instanzen anzunehmen, eine zwischen dem Unbewußten und dem Vorbewußten, eine andere zwischen Vorbewußtem und Bewußtsein (vgl. Freud 1900, 540 u. 585). 351. Vgl. zur Problematik der Begrenztheit der zweiwertigen Logik Günther 1959, 127f. 231

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unkontrollierten Wiederauftauchen des Unterschieds auf der einen Seite der Unterscheidung352: Bewußtes sei seinerseits bewußt/unbewußt. Freud löst dieses logische, die ›Bautechnik‹ der Theorie betreffende Problem bekanntlich durch die Einführung einer Dreiteilung bewußt/vorbewußt/unbewußt. Freuds Frage, die sich ihm angesichts der Doppelrolle des Bewußtseins stellt, läuft darauf hinaus, das Psychische als vielschichtigen Bereich unterschiedlicher Instanzen zu konzeptualisieren, der verschiedene, auch widerstreitende Charakteristika miteinander zu verbinden gestattet. Wie muß Psychisches konzipiert werden, damit sich die widersprüchlichsten Funktionen und Eigenschaften auf es vereinigen lassen? In diesem Modell ist das Psychische jenes tertium, welches es gestatten soll, sowohl Bewußtes als auch Unbewußtes im Medium einer Sphäre zusammenzudenken. Damit deutet sich schon an, daß die einfachen Grundsätze der klassischen, zweiwertigen Logik und die Kategorien zur Beschreibung des Psychischen herausgefordert werden. Die Einsicht in die Andersartigkeit, ja, Mehrwertigkeit der psychischen Charakteristika wird allerdings nur durch die Anwendung logischer Argumentation gewährt. Wie sich die Andersartigkeit der Logik des Unbewußten bestimmen läßt, zeigt sich im Fortgang der Freudschen Analyse der Traumvorgänge, wenn Freud die Regeln, nach denen die assoziativen Verknüpfungen des Unbewußten zustandekommen, am Traumgeschehen herausarbeitet.

Transposition und Deutung Da die Funktionen, welche mit den verschiedenen psychischen Instanzen bzw. Systemen in Verbindung gebracht werden können, sich zwar in ihren Wirkungen einschränken oder ergänzen, also miteinander gekoppelt werden können, sich aber in ihrer (relativen) Autonomie als Funktion nicht aufheben, eröffnet sich für Freud ein Weg zur Lösung des Problems der »Willkür« der Methode, da sowohl der Traum wie das assoziative Material ein und derselben, vom Analytiker unabhängigen Quelle entstammen: dem Seelenleben des Analysanten. Alles weitere scheint dann nur noch »Methode« zu sein: Nach bestimmten Regeln der Verknüpfung wird der Traum zu den Assoziationen in Beziehung gesetzt und lesbar gemacht. Diese Regeln wiederum lassen sich am Material, seiner besonderen Anordnung und Bearbeitung durch den psychischen Apparat selbst nachweisen und sind so – gerade auch im Kontrast zum sogenannten normalen Denkvorgang – plausibel zu machen (vgl. genauer zu den Regeln den Abschnitt Zur Sprache des Traums). Im einzelnen heißt das: Das Verfahren Freuds wendet sich dem Traum des Analysanten zu, indem es dessen Erzählung zunächst nicht »als Ganzes, sondern nur die einzelnen Teilstücke […] zum Objekt der Aufmerksamkeit« macht.353 Denn dem ganzen Zusammenhang des Traums gegenüber erweist sich der Pati-

352. Zur logisch-argumentativen Figur des re-entry vgl. Niklas Luhmann 1984, der sich auf George Spencer-Brown 1969 bezieht. 353. Freud 1900, 124. 232

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ent als unfähig, Einfälle zu haben: »Ich muß ihm den Traum zerstückt vorlegen, dann liefert er mir zu jedem Stück eine Reihe von Einfällen, die man als die ›Hintergedanken‹ dieser Traumpartie bezeichnen kann.«354 Diese zweiten Reihen von Elementen stehen in assoziativer Beziehung zu denen der zuerst vorgetragenen Traumerzählung und führen zu der wichtigen Unterscheidung von latenten Traumgedanken und manifestem Trauminhalt. Aber Psychoanalyse nimmt weder die Erzählung des Träumers noch seine aktuell hinzugewonnenen Assoziationen für der Weisheit letzten Schluß. Und Freud wird nicht müde zu betonen, daß es weder ausreiche noch allein darauf ankomme, eine geheime Bedeutung des Traums in den »Hintergedanken« dingfest zu machen: »Nachdem man so lange den Traum mit seinem manifesten Inhalt zusammenfallen ließ, muß man sich jetzt auch davor hüten, den Traum mit den latenten Traumgedanken zu verwechseln.«355 Das entscheidende Kennzeichen des Traums sei die Traumarbeit, nicht die Ergebnisse, die sie zeitigt. Diese dienen ja gerade dazu, jene zu rekonstruieren.356 Erst wenn also der Traum, genauer: das Kontinuum des Traumerlebnisses in eine Anzahl von erzählbaren Elementen zerlegt ist, produziert der Analysant weiteres Material durch Assoziation zu den Einzelelementen hinzu. Damit wird es möglich, der ersten eine zweite Menge357 von Elementen gegenüberzustellen. Soweit nähere sich diese Methode der »Chiffriermethode« an, behauptet Freud: »Sie ist wie diese eine Deutung en detail, nicht en masse; wie diese faßt sie den Traum von vornherein als etwas Zusammengesetztes, als ein Konglomerat von psychischen Bildungen auf.«358 Die Wortwahl Freuds ist nicht ganz glücklich: Denn, fragt man sich, was ist an diesem Verfahren noch im eigentlichen Sinne »Deutung«? In überzeugender Weise hat Friedrich Kittler die strukturelle Übereinstimmung zwischen Psychoanalyse und einer informationstheoretischen Mengenanalyse aufgezeigt. Diese besteht darin, auf welche Weise zwei beliebige Mengen von Elementen miteinander in Beziehung gesetzt werden können, die in verschiedenen Medien (hier: Traumbilder und Traumerzählung) verzeichnet sind – nämlich zunächst allein durch Transposition, nicht durch Übersetzung oder Deutung im hermeneutischen Sinne: »Während Übersetzung alle Singularitäten einem allgemeinen Äquivalent zuliebe ausfällt, verfährt die Medientransposition punktuell und seriell. Gegeben sei ein Medium A, organisiert als abzählbare Menge diskreter Elemente Ea1 ... Ean , dann besteht seine

354. Ebd. 355. Freud 1900, 551f. Fn 1 (Zusatz 1914). 356. Vgl. Freud 1900, 486 Fn 1 (Zusatz 1925). 357. Sowohl die Rede von Reihen wie von Mengen ist berechtigt, stellt doch die Reihenfolge des Auftauchens von Assoziationen eine zeitliche Ordnung des Nacheinander dar, während die Menge ein Zugleich von (Bezügen zwischen) unterschiedlichen Elementen bezeichnet. 358. Freud 1900, 124. 233

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Transposition ins Medium B darin, die internen (syntagmatischen und paradigmatischen) Beziehungen zwischen seinen Elementen auf die Menge Eb1 ... Ebm abzubilden. Daß die Elementenanzahlen n und m und/oder die Verknüpfungsregeln kaum je identisch sind, macht jede Transposition zur Willkür oder Handgreiflichkeit. Sie kann nichts Universales anrufen und muß, heißt das, Löcher lassen.«359 Vor aller Deutung stünde also Transposition als jenes Verfahren, daß den zu deutenden Text (des Traums bzw. der Traumerzählung) als solchen erst hervorzubringen gestattet. Nicht die im Traum erlebten Bilder werden als solche einer Analyse unterzogen, sondern erst die über sie geäußerten Worte und Sätze, die die Traumerzählung bilden. Allerdings wäre eine direkte Deutung der Bilder selbst sowieso nicht möglich, da sie allein subjektiv gegeben sind. Es wird also nicht bestritten, daß es mentale Bilder gibt. Aber es kann immer nur über sie gesprochen werden, wenn der Modus des unmittelbaren Erlebens verlassen wird. Deshalb ist Transposition eine mediale Notwendigkeit, der im Rahmen der Psychoanalyse Priorität gegenüber der Deutung zuzukommen scheint. Aber gilt nicht in methodischer Hinsicht auch das Umgekehrte? Vor aller Transposition steht Deutung, zumindest Interpretation. Wie ist das zu verstehen? Die Schlußfolgerung Kittlers, »Interpretation ist also nur ein Sonderfall der allgemeinen Technik Medientransposition«,360 beruht auf einem bestimmten Verständnis der Begriffe Interpretation, Deutung, Übersetzung.361 Wenn der Transposition die Priorität gebührt, dann nur aus dem Grund, daß Deutung auf einen texthermeneutischen Begriff zurückgeführt wird, dem die philologische Textkonstitution immer schon vorausgeht. Die editionsphilologische Praxis bliebe außerhalb des Interesses, gar der Reichweite der Textlektüre und -auslegung. Insofern aber die Textkonstitution selbst der Unausweichlichkeit bestimmter Vorentscheidungen unterliegt, die überhaupt erst festzulegen gestatten, was zum Text gehört, aus welchen Elementen er besteht, aus welchen Modi der Verknüpfung das Geflecht

359. Kittler 1985, 271. 360. Kittler 1985, 275. 361. Aus der Unübersetzbarkeit der Träume folgt ihre Transposition: »Träume, ›unübersetzbar in eine andere Sprache‹, durchmessen alle Spielräume einer gegebenen. Medientransposition als exaktes Korrelat von Unübersetzbarkeit.« (Kittler 1985, 280) Vgl. auch Freuds Bemerkung (Freud 1900, 119f. Fn. 1 [Zusatz 1911]): »Übrigens hängt der Traum so innig am sprachlichen Ausdruck, daß Ferenczi [1910] mit Recht bemerken kann, jede Sprache habe ihre eigene Traumsprache. Ein Traum ist in der Regel unübersetzbar in andere Sprachen und ein Buch wie das vorliegende, meinte ich, darum auch. [Zusatz 1930:] Nichtsdestoweniger ist es zuerst Dr. A. A. Brill in New York, dann anderen nach ihm, gelungen, Übersetzungen der Traumdeutung zu schaffen.« Damit relativiert sich doch wieder etwas: Es gibt absolute Unübersetzbarkeit ebensowenig wie exakte Übersetzung. 234

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

des Textes sich aufbaut, handelt es sich nicht einfach um ein rein objektives Verfahren, das sich fraglos von selbst versteht und rechtfertigt.362 Vielmehr stecken im Versuch zur Bestimmung der Verknüpfungsregeln der beiden für die Traumdeutung ins Verhältnis zu setzenden Elementemengen selbst schon Vorentscheidungen, die sich nicht bereits aus dem Material und seiner Anordnung ergeben.363 Es geht also darum, für die konkrete Konstellation der Elemente diejenigen Regeln anzugeben, nach denen sie sich angeordnet haben. Soweit lassen sich dann die je konkret gegebenen Materialkonstellationen der Elementemengen bestimmen.364 Die Regeln zur Transposition zwischen den Elementemengen ergeben sich im Modus des Vergleichs ihrer Anordnungen und durch Feststellung von funktionalen Äquivalenzen der Relationen zwischen den Elementen. Die im weitesten Sinne räumliche Anordnung und funktionale Bestimmtheit der Relationen des zutage geförderten psychischen Materials läßt sich zur analogen oder differenten Verhältnisbestimmung in der zweiten Elementemenge in Beziehung setzen. Gerade die Übereinstimmungen und Differenzen, welche sich durch das Zueinander-in-Beziehung-Setzen der beiden Konstellationen ergeben, lassen die eigenartige Wirkungsweise der Traumarbeit hervortreten. Die topischen und dynamischen Gesichtspunkte der gegenübergestellten Konstellationen lassen Rückschlüsse darauf zu, welche Transformationen die Traumarbeit am Material vollzogen hat. An den Umsetzungsprozessen (Verschiebung und Verdichtung) wird erkennbar, welche Funktion (Rolle, Aufgabe, Bedeutung) bestimmte Elemente im Gefüge ihrer Konstellation jeweils erfüllen und welchen Veränderungen sie durch die Traumarbeit unterliegen. Es bedarf also zur Analyse sowohl der jeweils mengeninternen Strukturen und Funktionen als auch der Relationen und Umsetzun-

362. Der philologische Positivismus hat genau dies immer zu vertreten versucht und damit einen Wissenschaftsbegriff in der Textphilologie behauptet, der Deutung und Interpretation immer als nachträglichen, rein subjektiven Umgang mit den objektiv schon konstituierten Texten angesehen wissen wollte. Letztlich sei alle Lektüre immer auf die Faktizität des Textes verwiesen und könne allein in diesem einen objektiven Referenzpunkt haben. 363. Erst wenn man sich einmal darauf verständigt hat, was die Elemente einer Menge sein sollen und welche Relationen zwischen ihnen als Verknüpfungsregeln gelten können, kann man sagen, daß sich die Verknüpfungsregeln aus dem Material und seiner Anordnung erschließen lassen. 364. Trabant (Trabant 1998, 35f.) erinnert im Anschluß an Wilhelm von Humboldt daran, daß Sprache nirgendwo sonst und keinesfalls anders als durch ihre performative, pragmatische Dimension gegeben ist und sich realisiert. Die Wirklichkeit der Sprache liegt im Sprechen. Grammatik und Lexikon sind nichts anderes als theoretische Rekonstruktionen, die die Sprechpraxis immer schon voraussetzen, auch dann noch, wenn das Rekonstruierte transzendentalen Status beansprucht, also seinerseits als Bedingung der Möglichkeit der konkreten Sprechpraxis verstanden werden muß. 235

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gen von einer Menge in die andere einer spezifischen Hinsicht bzw. einiger angebbarer Kriterien, ohne die die Bestimmung von etwas als etwas haltlos wäre. Entgegen einer vermeintlichen Klarheit und Geregeltheit der Transposition bleibt eine Transpositionslücke zwischen den beiden Elementemengen bestehen, die sich nicht durch die mengeninterne Analyse schon überbrücken läßt. Darum kann ein in diesem Sinne gefaßter Begriff von Interpretation hier durchaus sein Recht beanspruchen. Der geniale Schachzug der Freudschen Methode liegt nun darin, die Regeln der Transposition wiederum auf das ›freie Assoziieren‹ selbst zurückzuführen: Nur was dem Träumer selbst zum Material seines Traums einfällt oder was er als plausiblen Einfall des anderen (des Analytikers) anzuerkennen bereit ist, kann als Beitrag zum Gelingen der Deutung und Fortführung der Analyse gelten. Entscheidend ist der nächste Einfall – egal welcher! Das heißt, es kommt zunächst nicht darauf an, ob die hergestellte Verbindung einleuchtend, verständlich, logisch erscheint, sondern allein darauf, daß es eine Anknüpfung ist. Erst in der Analyse der Assoziation kann deren Form und weiterer Zusammenhang bestimmt werden. Freud beruft sich hierzu auf die bekannten, überlieferten Prinzipien der Assoziation ebenso wie auf andere, vornehmlich unbewußte Determinanten, welche den Vorstellungsverlauf beeinflussen (hierzu weiter unten im Abschnitt Zur Sprache des Traums).365 Zunächst kann mit Freud konstatiert werden, daß die methodische Schwierigkeit der Überwindung der Willkür von Seiten des Traumdeuters dadurch gelöst wird, daß dem Träumer selbst die Arbeit zur Fortführung der Analyse des Traums übertragen wird. Psychologisch wird diese Wendung dadurch begründet, daß der Traumzustand dem der freien Assoziation ähnlich sei: »Wie man sieht, handelt es sich darum, einen psychischen Zustand herzustellen, der mit dem vor dem Einschlafen (und sicherlich auch mit dem hypnotischen) eine gewisse Analogie in der Verteilung der psychischen Energie (der beweglichen Aufmerksamkeit) gemein hat. Beim Einschlafen treten die ›ungewollten Vorstellungen‹ hervor durch den Nachlaß einer gewissen willkürlichen (und gewiß auch kritischen) Aktion, die wir auf den Ablauf unserer Vorstellungen einwirken lassen […], die auftauchenden ungewollten Vorstellungen verwandeln sich in visuelle und akustische Bilder. […] Bei dem Zustand, den man zur Analyse der Träume und pathologischen Ideen benützt, verzichtet man absichtlich und willkürlich auf jene Aktivität und verwendet die ersparte psychische Energie (oder ein Stück derselben) zur aufmerksamen Verfolgung der jetzt auftauchenden ungewollten Gedanken, die ihren Charakter als Vorstellungen (dies der Unterschied gegen den Zustand beim Einschlafen) beibehalten.«366 Wie sich dann aber bei genauerer Analyse zeigt, ist der Zusammenhang des Materials in beiden Fällen gänzlich anders geartet. Während der Träumer seine Ein-

365. Vgl. Porath 1992a. 366. Freud 1900, 122. 236

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fälle in der Regel in seine Vorstellungswelt einordnet oder sie ebenso schnell, wie sie gekommen sind, auch wieder beiseite schiebt, trägt der Traum (oder die Erinnerung an ihn) fremdartige Züge, die sich einer schnellen Einordnung widersetzen. Der Zusammenhang des Traums ist oft fremd, trotz des Wiedererkennens einzelner Passagen oder Elemente – aber auch einzelne Elemente erscheinen mehr als verwandelt, ja gänzlich unvertraut. Freud gibt sich mit dem vorschnellen Wiedererkennen nicht zufrieden, so wie auch mancher Einfall eine quälende Präsenz entwickelt und nicht weichen will, obwohl er als nichtig abgetan oder als bekannt eingestuft wurde. Deshalb darf nicht allein ein einzelnes Element einem anderen gegenübergestellt bzw. mit ihm verknüpft werden, sondern es gilt immer ganze Reihen von Einfällen zu einem Ausgangselement (des erzählten Traums) in Beziehung zu setzen. Die Möglichkeit von Medientransposition wäre als gescheitert zu betrachten, hielte man einerseits diese für ein wirklich exaktes Verfahren, mit dem man regelgerecht einen vollkommenen Abgleich, eine eineindeutige »Abbildung« (so Kittler 1985, 271; vgl. Kap. 4.2) zwischen der Materialkonstellation der Traumerzählung und dem durch hinzuassoziiertes Material rekonstruierten Traumgedanken zustandezubringen vermag, während man andererseits die prinzipielle Unabschließbarkeit der Assoziationsketten vor Augen hätte.367 Einer durch das Erinnerungsvermögen relativ begrenzten Menge (der Traumerzählung) steht eine »offene Menge«, also eine unendliche, jedenfalls prinzipiell ergänzbare Reihe von Elementen gegenüber, aus denen der Traumgedanke ermittelt werden soll.368 Welches der so gefundenen Elemente der zweiten Menge dem Ausgangselement ›entspricht‹, für es eingesetzt werden und quasi als seine Bedeutung fungieren kann, ist jene Frage, die Freud im Verlaufe seiner Traumdeutung als eine auf einem Mißverständnis beruhende unterlaufen wird, indem er auf die grundsätzliche Zweitrangigkeit des assoziierten Materials gegenüber der allgemeinen psychischen Produktivität und ihren Gesetzmäßigkeiten hinweist. Noch einmal: Allein die Traumarbeit stellt das »Rätsel des Traumes« dar.

Wissenschaftlichkeit und Übertragung So vollzieht die Traumdeutung einen Schritt, der – anderen Wissenschaften gleich, die sich mit ›lebendigen‹, veränderlichen Phänomenen befassen – einen Einschnitt bedeutet: Die Feststellung und Zergliederung der Phänomene geht ihrer Erfassung und Einordnung voraus.369 Gleichwohl ist mit dem Problem der prinzipiellen Abgrenzbarkeit, Bestimmbarkeit und Endlichkeit des Materials eine für Freuds Unternehmen zentrale Frage berührt: die der Wissenschaftlichkeit der

367. Vgl. Freud 1900, 226f. und 282. 368. Allein aus pragmatischen Gründen, nämlich daß Assoziationen zumeist nach einer gewissen Anzahl versiegen, ist die Menge als begrenzt zu betrachten. Freud spricht von »fraktionierter« Traumdeutung, vgl. Freud 1900, 501. 369. Diese Einsicht teilen auch andere Ansätze der zeitgenössischen Psychologie. Vgl. hierzu die in hermeneutischer Tradition stehenden Ausführungen in Dilthey 1894. 237

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Psychoanalyse, welche Freud am Kardinalbeispiel der Deutung der Träume erweisen will. Um exemplarisch vorführen zu können, wie Traumdeutung wissenschaftlich funktioniert, muß ein irgend handhabbarer ›Gegenstand‹ gefunden werden, der das Verfahren durchsichtig werden läßt und zugleich den Gegenstand des Verfahrens expliziert. Träume von Neurotikern – Freud hatte reichhaltiges Material aus seiner Praxis zur Verfügung – schieden zunächst als allgemeingültige Beispiele aus, da sie aus dem Bereich der Psychopathologie stammten. Die Allgemeingültigkeit der Methode wäre nicht gewährleistet, sofern sie sich nur an ›pathologischen Fällen‹ erproben würde.370 Den Träumen »von gesunden Personen meiner Bekanntschaft« fehlten die zur Analyse nötigen assoziativen Ergänzungen, »ohne welche ich den Sinn des Traumes nicht finden kann.«371 In der Regel begeben sich ›Gesunde‹, ohne Leidensdruck Lebende nicht in Analyse und setzen sich nicht der Anstrengung einer psychischen Durcharbeitung des Seelenlebens per Assoziationsmethode aus: »Somit bin ich auf meine eigenen Träume angewiesen als auf ein reichliches und bequemes Material, das von einer ungefähr normalen Person herrührt und sich auf mannigfache Anlässe des täglichen Lebens bezieht.«372 Selbstanalyse – das ist das Losungs- und Lösungswort der methodischen Schwierigkeiten am Beginn psychoanalytischer Traumdeutung. Wiederum hebt eine innovative Leistung mit einem Selbstversuch an: Die Rollen von Versuchsperson und Versuchsleiter werden in einem Subjekt zusammengelegt, dessen ganzes Leben dadurch tangiert ist.373 Träumer, Assoziant, Deuter und Theoretiker sind ein und dieselbe Person, und zwar diejenige, mit deren Namen sich die Begründung dieser neuen Wissenschaft verbinden wird: Es geht um die »Freudsche psychoanalytische Methode«374, wie ihr Begründer programmatisch sagen wird. Aber die Konstellation wäre nicht nur unvollständig, sondern über Gebühr verkürzt dargestellt, würde man die intensive Beziehung zu Wilhelm Fließ vergessen, mit dem Freud über eineinhalb Jahrzehnte eine ausgedehnte Korrespondenz führt, ohne die die Entwicklung der grundlegenden Einsichten in das psychische Geschehen wohl kaum hätte zustande kommen können. Man kann in diesem Verhältnis eine Übertragungsbeziehung par excellence sehen, noch bevor überhaupt der entsprechende psychoanalytische Terminus ausformuliert wurde.375

370. Vgl. Freud 1900, 124. 371. Freud 1900, 125. 372. Ebd. 373. »[…] und sich mit mir in die kleinsten Einzelheiten meines Lebens zu versenken […]« (ebd.). 374. Freud 1904. 375. Fließ ist nicht nur Adressat von Briefen, in denen Freud wichtige Überlegungen artikuliert, in der Hoffnung und Erwartung, in Fließ den geeigneten, den ›einzigen‹ Anderen gefunden zu haben, der ihm seinerseits Antworten zu vermitteln in der Lage sei; sondern er ist auch, paradox formuliert, erster Analytiker vor Begründung der Psy238

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Wenn also das Material der Analyse im Fall der psychoanalytischen Traumdeutung von ein und derselben Person, wenn auch in zwei unterschiedlichen psychischen Zuständen – träumend im Schlaf und assoziierend während der psychoanalytischen Sitzung –, hervorgebracht ist und auch die Transposition der einen Elementemenge (Traumerzählung) in die andere (latente Traumgedanken) sich wesentlich auf die Aktivität des Träumers/Analysanten stützt, so bleibt es dennoch eine nicht wegzudiskutierende Bedingung dieser psychischen Prozesse, daß sie sich in Relation zu einem Anderen vollziehen. Der Analysant ist Träumer und maßgeblicher Deuter seines Traums, wenn auch ›seine‹ Deutung immer zugleich eine Deutung des anderen ist, insofern sie nur mit Hilfe des Analytikers (ersatzweise des Briefpartners) zustande kommt und womöglich vom anderen zuerst ausgesprochen wird. Die Frage nach dem Subjekt des psychoanalytischen Prozesses läßt sich jedenfalls nicht einfach durch Verweis auf eine der an ihm beteiligten Personen beantworten. So wenig der Analysant ›seine‹ Analyse allein durchzuführen vermag, so wenig sind einzelne Deutungen allein sein Werk (oder umgekehrt das des Analytikers). Selbst, wenn der Analytiker eine Deutung gibt, ist noch nicht ausgemacht, ob sie durch den Analysanten, das Subjekt des Traums, anerkannt werden kann. Wesentlich für die Wirkung der Deutung im psychoanalytischen Prozeß ist mithin die Übertragung, d. h. das Sprechen und Hören mit Bezug zum anderen – zu der Person, die den Anderen vertritt; aber auch zu dem anderen Sinn, der über eine gegebene Deutung hinaus immer noch möglich ist.376 Damit zeigt sich das Problem der Adressierung des Traums als mehrfach unentschieden, ja, der Traum ist ›überadressiert‹, denn er erreicht sein Ziel immer dann, wenn jemand diejenige Position einzunehmen vermag, die es ihm gestattet, eine Botschaft zu entziffern.377

choanalyse, indem Fließ eben jene Position einzunehmen in der Lage ist, die es Freud ermöglicht, sich an den Anderen zu wenden, seine eigenen Fragen so zu artikulieren, daß sie ihm deutlicher werden können als im stillen Selbstgespräch. Fließ ist, um es mit der Formulierung Freuds zu sagen, derjenige, der ihm den Anderen ersetzen kann, d.h. er ist derjenige, den Freud für das einsetzen kann, was er selbst nicht zu sein und zu haben glaubt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch Fließ als Mediziner, der das Geheimnis der Sexualität zu lüften scheint (vgl. seine sich auf mathematische Berechnungen stützende, spekulative Zyklentheorie des Lebens, Fließ 1909 u. 1925). 376. Freud spricht in diesem Zusammenhang der Unabschließbarkeit des Deutungsprozesses von »Überdeutung« (vgl. Kap. 6.1). 377. Deshalb scheint ein Subjekt sein Schicksal auch in einem Kunstwerk wiedererkennen zu können, dessen Urheber es nicht ist. Welche anderen strukturellen Bedingungen noch erfüllt sein müssen, damit Deutung trifft, existentiell betrifft, sei hier nur mit dem Verweis auf Lévi-Strauss angedeutet: Lévi-Strauss faßt dementsprechend das Unbewußte als »symbolische Funktion, die zwar spezifisch menschlich ist, die sich aber bei allen Menschen nach denselben Gesetzen vollzieht; die sich in Wahrheit auf die Gesamtheit dieser Gesetze zurückführen läßt.« (Lévi-Strauss 1967, 223) Dies ist auch die via regia zur Erforschung anderer Kulturen und Ethnien, mit deren Lebenswelt der Forscher 239

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Im gängigen Setting der Psychoanalyse gibt es ja zwei Personen mit verteilten Rollen. Wie stellt sich also das Problem der Willkür der Deutung jenseits der »Selbstanalyse« dar? Kann sich die Willkür der Methode bei Anwendung auf Fremde dann wieder in unkontrollierbarer Weise Geltung verschaffen, da »derselbe Trauminhalt bei verschiedenen Personen und in verschiedenem Zusammenhang auch einen anderen Sinn verbergen mag«378? Und solange der »Zusammenhang«379 der betreffenden Elemente des zu analysierenden Materials nicht hinreichend erschlossen ist, scheint dieses Problem virulent zu bleiben. Aber hier läßt sich das Argument noch einmal verschärfen: Ist die Willkür der Deutung wirklich schon dadurch behoben, daß, wie Freud behauptet, bei personeller Ineinssetzung der Deuter den Träumer kennt, wie man eben nur sich selbst kennen kann? Freud hält an dieser Stelle den Einwand der Selbsttäuschung offenbar für weniger wichtig als die Vorteile der Selbstbeobachtung, aber ganz ausräumen kann er ihn nicht: »Die Willkür sei dabei keineswegs ausgeschlossen.«380 Wissenschaftliche Traumdeutung wäre am Ende, bevor sie angefangen hätte. Die erkennende Subjektivität, von der Freud ja schon in den Studien über Hysterie starke Indizien dafür gewonnen hatte, daß sie sich als »Mauer« vor einem nicht einsichtigen »Hintergrund« präsentieren könnte, welcher sich allein in den »Brüchen« und »Rissen« bemerkbar machte, bleibt eine irreduzible Unwägbarkeit, die sich nicht festschreiben läßt. Wie dem auch sei – »jedenfalls darf man versuchen, wie weit man in der Traumdeutung mit der Selbstanalyse reicht.«381

zunächst nichts gemein zu haben scheint und der er mit Unverständnis gegenübersteht, denn: »Das Unbewußte wäre der vermittelnde Begriff zwischen Ich und Anderem. Wenn wir den Gegebenheiten des Unbewußten nachgehen, dehnen wir uns nicht, wenn man so sagen kann, in der Sinnrichtung unseres Selbst aus: wir treffen auf eine Ebene, die uns nicht deswegen fremd erscheint, weil sie uns unser geheimstes Ich verbirgt, sondern (viel normaler) weil sie uns, ohne daß wir uns selbst verlassen müßten, in Koinzidenz mit Formen der Tätigkeit bringt, die zugleich die unseren und die der anderen sind, Bedingungen allen geistigen Lebens aller Menschen zu allen Zeiten.« (Lévi-Strauss 1950, 25) Das Unbewußte als »symbolisches System« wird zum Medium, das zwischen Ich und Anderem vermittelt und damit nicht nur eine »Bedingung der Möglichkeit für Kommunikation« darstellt (Lang 1988, 112), sondern für Erkenntnis, insofern es eine Überbrükkung von (forschender) Subjektivität zur Intersubjektivität (bzw. objektiviertem Geist) ermöglicht. Das Unbewußte erscheint in dieser Perspektive als symbolisches Medium, als eine Vermittlung zwischen Subjekten, eine Kategorie der Intersubjektivität. Aber es ist auch jenes Umgreifende, in dessen Mitte die Subjekte stehen, seinen Wirkungen ausgesetzt, ohne daß sie es zu beherrschen vermögen. 378. Freud 1900, 125. 379. Dilthey definiert so Leben, und zwar als Bildungsprozeß. 380. Freud 1900, 125. 381. Ebd. Skeptischer äußert sich Freud in einem Brief an Fließ vom 14.11.1897: »Meine Selbstanalyse bleibt unterbrochen. Ich habe eingesehen, warum. Ich kann mich nur selbst analysieren mit den objektiv gewonnenen Kenntnissen (wie ein Fremder), ei240

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Die »begreifliche Scheu«, sich »der Mißdeutung der Fremden« auszusetzen, wird im Namen der neuen »Wissenschaft« für ihren Initiator ausgeräumt; noch das Privateste dient dem Protagonisten seiner eigenen Methode als Material für neue Einsichten. Zugleich behauptet Freud damit die Oberhoheit im Deutungsgeschehen – und unterschlägt vollkommen die Rolle des Anderen, seines Briefpartners Fließ.382 Selbst unlautere Motive der Leserschaft versucht er in Bahnen des wissenschaftlichen Interesses zu lenken: »Und auch beim Leser, darf ich annehmen, wird das anfängliche Interesse an den Indiskretionen, die ich begehen muß, sehr bald der ausschließlichen Vertiefung in die hiedurch beleuchteten psychologischen Probleme Platz machen.«383 Das Motiv der Enthüllung von Wahrheit rechtfertigt den Bezug auf Intimität: solange ein Eintrag in einen legitimen Wissenskorpus erfolgt.384

3.3.2 Assoziation und Darstellung Zur Sprache des Traums Im Laufe seiner ›Selbstanalyse‹ entwickelt Freud eine umfassende Theorie des Traums, deren bekannte Hauptthesen hier nur genannt seien: daß der Traum eine Wunscherfüllung (oder zumindest der Versuch einer solchen) sei385; daß der Traum das Produkt zweier, unterschiedlichen Arbeitsprinzipien gehorchender psychischer Vorgänge – Primär- und Sekundärvorgang (s. u.) – mit dazwischen geschalteter Zensur darstelle386; daß das Material des Traums sowohl aus den »Tagesresten« als auch aus bis in die Kindheit zurückreichenden Erinnerungen bestehe und daß als Quellen des Träumens neben somatischen Reizen, aktuellen

gentliche Selbstanalyse ist unmöglich, sonst gäbe es keine Krankheit. Da ich noch irgendein Rätsel bei meinen Fällen habe, so muß mich dies auch in der Selbstanalyse aufhalten.« (Freud 1950, 202). 382. Innerhalb der Korrespondenz ist das keineswegs so: Freud bekennt wiederholt seine Abhängigkeit vom befreundeten Adressaten, vom Mitdenker, dem eine Kompetenz, ein Wissen unterstellt wird, welches Freud sich nicht zutraut. Nur in Beziehung zu seinem »geliebten Wilhelm« gelingen ihm jene Fortschritte in der Forschung, in der Entwicklung seiner Gedanken, die er sich erhofft, um seine Psychoanalyse auf den Weg einer respektablen Wissenschaft zu bringen. 383. Freud 1900, 125. 384. Vgl. zur Bedeutung der »Enthüllung« die Ausführungen von Leclaire, der sie als »eine Fundamentalphantasie Freuds« bestimmt. (Leclaire 1968, 42; dazu auch den Traum von der »botanischen Monographie«, Freud 1900, 179, und ein Brief an Fließ vom 12.6.1900, Freud 1950, 276f.) 385. Vgl. Freud 1900, 141ff., die Modifizierungen dieser These z.B. S. 175 und Köhlers Einschätzung über ihren Stellenwert für die Traumtheorie: »nur unter der Annahme des konstanten Elementes der Wunscherfüllung läßt sich eine geschlossene Theorie des Traumes formulieren« (Köhler 1987, 270). 386. Vgl. IV. Kap. Freud 1900, 151ff. 241

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psychologischen Konflikten und alltäglichen Lebensproblemen vor allem verdrängte infantile Wünsche (vielfach sexuellen Inhalts) durch Analyse kenntlich gemacht werden können.387 Die sich aus dieser Grundansicht ergebende Arbeitsweise des Psychischen beim Träumen, welche eine neuartige Konzeption der Assoziation beinhaltet, stellt Freud in seinem Kapitel über die »Traumarbeit« vor.388 In nochmaliger Abgrenzung gegen ältere Traumdeutungsverfahren und eben gegen »Deutung«389 konstatiert Freud für sein Verfahren: »Nur wir allein stehen einem anderen Sachverhalt gegenüber; für uns schiebt sich zwischen den [manifesten] Trauminhalt und die Resultate unserer Betrachtung ein neues psychisches Material ein: der durch unser Verfahren gewonnene latente Trauminhalt oder die Traumgedanken. Aus diesem letzteren, nicht aus dem manifesten Trauminhalt entwickelten wir die Lösung des Traumes. An uns tritt darum auch als neu eine Aufgabe heran, die es vordem nicht gegeben hat, die Aufgabe, die Beziehungen des manifesten Trauminhalts zu den latenten Traumgedanken zu untersuchen und nachzuspüren, durch welche Vorgänge aus den letzteren der erstere geworden ist.« 390 Sich der Neuartigkeit seines Ansatzes vollkommen bewußt, entdeckt Freud das, was man als die Sprache des Traums bezeichnen kann. Köhler vermerkt: »Niemand vorher war nämlich konsequent von der Modellannahme ausgegangen, daß der Traum eine zweite Sprache des Träumers und nichts anderes darstellt.«391 »Sprache des Traums« – hierbei handelt es sich um eine Rekonstruktion, die sich aus der Differenz der bewußtgewordenen Phänomene herleitet, und das will sagen: Worauf sich die Psychoanalyse stützt und wovon sie ausgeht, ist zunächst

387. Vgl. V. Kap. Freud 1900, 177ff. 388. Vgl. VI. Kap. Freud 1900, 280ff. 389. Vgl. Kittler 1985, 279: »Deutungstechniken, die Texte als Scharaden oder Träume als Bilderrätsel behandeln, sind keine Hermeneutik. Sie sind es nicht, weil sie nicht übersetzen.« Und Kittler 1985, 273: »Imaginäres (Alltägliches) und Reales (Mathematisches) sind also übersetzbar, Symbolisches dagegen erlaubt nur Medientranspositionen«. Diese antihermeneutische Argumentation wendet sich gegen eine bestimmte Auffassung von Verstehen, Deutung und Übersetzung, die der Orientierung an einem Sinnganzen eindeutig den Vorrang einräumt (hierzu unter dem Stichwort ›Medientransposition‹ vgl. oben im Text). – Freud schreibt zu dieser Problematik in seiner Selbstdarstellung: »Diese latenten Traumgedanken enthielten den Sinn des Traumes, der manifeste Trauminhalt war nur eine Täuschung, eine Fassade, an welche zwar die Assoziation anknüpfen konnte, aber nicht die Deutung.« (Freud 1927d, 72) In der Traumdeutung wird unter dem Stichwort »fraktionierte Deutung« (Freud 1900, 501) explizit davon gesprochen, daß es oft notwendig sei, vom Ganzen des Traumes zunächst abzulassen, um von einzelnen Elementen des Traummaterials, von Details aus nach assoziativen Anknüpfungen zu suchen, um so die Möglichkeit zu einer Deutung vorzubereiten. 390. Freud 1900, 280. 391. Köhler 1987, 265. 242

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

nichts Verborgenes, Geheimes oder nur der Intuition Zugängliches. »In Wirklichkeit existiert und entfaltet sich die Psychoanalyse ausschließlich auf der Ebene der Repräsentationen.«392 So wie Freud auf ›höchster‹ Ebene für seine theoretischen Konzeptionen die Möglichkeit von Darstellung beständig problematisiert, so siedelt er sie andererseits schon auf ›niedrigster‹ an: Das Material, von dem her seine Theorie des Traums entwickelt wird, ist nicht nur aus Darstellungsprozessen hervorgegangen – die Traumarbeit vollzieht sich mit »Rücksicht auf Darstellbarkeit« –, es ist selbst die Darstellung dessen, wovon seine Theorie handelt: »Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist, u. dgl. Ich könnte nun in die Kritik verfallen, diese Zusammenstellung und deren Bestandteile für unsinnig zu erklären. Ein Boot gehört nicht auf das Dach eines Hauses, und eine Person ohne Kopf kann nicht laufen; auch ist die Person größer als das Haus, und wenn das Ganze eine Landschaft darstellen soll, so fügen sich die einzelnen Buchstaben nicht ein, die ja in freier Natur nicht vorkommen. Die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine solchen Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu beurteilen. Als solche erschien er ihnen unsinnig und wertlos.«393 Freud vollzieht hier stillschweigend eine methodische Umkehrung derjenigen Verschlüsselungsverfahren, derer sich die antike Rhetorik bzw. Mnemotechnik bedient hat (vgl. hierzu Kap. 3.2): Hatte der Gedächtniskünstler oder Rhetor die Worte, derer er sich zu gegebener Zeit erinnern wollte, in starke Bilder umgewandelt, in denen die zu merkenden Sachverhalte oder Redeteile versinnbildlicht werden konnten, so geht es in der Traumdeutung darum, die Bilder des Traums in diejenigen Worte umzuwandeln, die den Sinn des Geträumten lesbar werden lassen. Diese Umsetzung von Bildern in Worte versucht dabei die Entstellungen –

392. Leclaire 1968, 49. 393. Freud 1900, 280f. 243

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Übertreibungen, Verkehrungen ins Gegenteil, (sinnfreie) Assoziationen aufgrund von Ähnlichkeit und Kontiguität etc. – zu korrigieren, die die Traumarbeit erwirkt hat, um zu einem verständlichen Text, den Traumgedanken, zurückzufinden. Der Verzicht auf das Ganze der Traumerzählung, welches sich für das Bewußtsein als unverständlich darstellt, und der Blick aufs Detail eröffnen die Assoziation neuer Elemente, neuer Einfälle. Es geht bei diesem Perspektivenwechsel vom Ganzen auf das Detail nicht darum, daß einzelne Teile des Traums eine vermeintliche größere Verständlichkeit aufweisen würden, sondern entscheidend ist die Unterbrechung des Zusammenhangs der Traumerzählung, einer Erzählung mit vermeintlichem Unsinn ebenso wie mit vermeintlichen Verständlichkeiten. Fraktionierung ist das Motto, unter das Freud diese Vorgehensweise stellt:394 Mit der getrennten Betrachtung einzelner Traumelemente wird der Assoziation ein größerer Spielraum eingeräumt, denn der Zusammenhang, den die Traumerzählung geschaffen hat, ist nun suspendiert. In dem Maße, wie neue Assoziate produziert werden, läßt sich der Traum ›verstehen‹: Er wird erst in einem anderen Kontext ›verständlich‹, der ihm assoziativ hinzugefügt wird. Anders gesagt: Die Assoziationenketten, die sich einzeln an das Traummaterial anknüpfen, verweisen auf einen anderen Sinn, der weder dem Traum selbst noch den Assoziationen als solchen anzusehen ist. Zunächst wird durch das assoziativ hinzugezogene Material seine Struktur, sein Zusammenhang ›durchsichtig‹ – denn vor dem ›Hintergrund‹ der Assoziate und im Kontrast zum normalen Verständnis des Wachbewußtseins zeichnet sich die besondere Kontur des Traums ab. Die Konstellation der Elemente des Traums wird so in einer anderen Konstellation ›abgebildet‹, die uns bekannter ist (oder durch den analytischen Prozeß wieder bekannt gemacht wird): in unseren Erinnerungen und ihrer dem Bewußtsein vertrauten Organisation, dem vorbewußten Gedächtnis. Diese schrittweise Transformation der Konstellation der einen Elementemenge in eine andere (Abbildung im mathematischen Sinne) überläßt der Traumdeuter/Analytiker ganz der Assoziation des Träumers/Analysanten. Die Fremdheit des Traums, so wie er sich in der Erinnerung darstellt, entspringt einer Arbeit, wie Freud es nennt, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verfährt und sich nicht mit denen des Bewußtseins deckt. Der Traumarbeit sieht sich das (schlafende) Subjekt ausgesetzt wie einem Widerfahrnis der Natur: Ohne Vorsatz und ohne wirkliche Kontrolle des Geschehens spielen sich die Träume während des Schlafs ab. Mit Hilfe der Assoziation soll nun eine Rückverwandlung stattfinden, die nur deswegen als plausibel angesehen werden kann, weil Traum und freie Assoziation sich derselben Gesetzmäßigkeiten bedienen. Während die Elemente des Traums zumeist bekannt sind, der (rezenten oder länger zurückliegenden) Erfahrung entnommen – auch dann noch, wenn sie zunächst nicht als solche wiedererkannt werden –, wirkt die eigenartige Zusammenstellung der Elemente, ihre Verdichtung (Verschmelzung) und Verschiebung sowie ihre ›Visualität‹ für das Wachbewußtsein fremdartig, da diese Traumarbeit

394. Vgl. Freud 1900, 501; s.a. Fn. 28 u. 49. 244

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weder an die Gesetze der Logik und der Realitätsgerechtigkeit noch an die Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit gebunden ist. Vielmehr kann die – in diesem Sinne ›freie‹ – Traumarbeit sich diese Gesetzmäßigkeiten und Unterscheidungen sogar zu eigen machen, über sie verfügen, durch ihren ungehemmten Gebrauch verfremden: Der Traum ist nicht direkt an die sonst ständig als Korrekturkriterium einsetzbare Wahrnehmung gekoppelt, ruht doch diese im Schlaf fast gänzlich. Freud (wie auch andere Schlaf- bzw. Traumforscher) sagt, die Aufmerksamkeit sei von der Außenwelt abgezogen und das Organ des Psychischen beim Schlafen und Träumen hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.395 Um zu begreifen, wie die Traumarbeit wirkt, muß sie zum Vorstellungsleben des Wachbewußtseins ins Verhältnis gesetzt werden. So wie der Traum die psychischen Elemente aus dem Wachbewußtsein und den Erinnerungen in einen Traum verwandelt, hilft die freie Assoziation, die Wege, auf denen diese Transformation stattgefunden hat, wiederzufinden bzw. zu ›rekonstruieren‹, indem den Traumerzählungselementen Assoziate beigesellt werden.396 Da die freie Assoziation sich aller »Kritik« (des realitätsgerechten Denkens) entschlagen soll, nähert sie sich der Traumarbeit an und ›findet‹ Verbindungen von Elementen, die der Zensur des wachen Vorstellungslebens als purer Unsinn erscheinen und verworfen würden. Das Assoziieren zeigt sich dabei einerseits nach Gesetzmäßigkeiten verfahrend, die dem klassischen Bestand an Assoziationsgesetzen und mnemotechnischen Merkstrategien entsprechen; andererseits aber bringt es Assoziationen zustande, deren Verbindungen sich nicht auf diese allgemeinen Formen von Ähnlichkeit und Kontiguität reduzieren lassen. Zusätzlich ist deswegen das Unbewußte nach Mechanismen zu beschreiben, die Freud als Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit und Symbolisierung vorstellt.397 Diese Prozeduren könnte man durchaus als Ergänzungen zur klassischen Assoziationspsychologie verstehen, ausgeweitet auf den Bereich des Unbewußten. Zugleich handelt es sich um eine Wiederbelebung vormoderner Traditionen des Ähnlichkeitsdenkens sowie der antiken Rhetorik und ars memoria (vgl. Kap. 3.2). Neben solch allgemeingültigen Mechanismen verzeichnet Freud am Unbewußten aber auch ein Ensemble individueller Konstellationen, das dem je eigenen Erfahrungszusammenhang einer spezifischen Biographie entspringt und als solches den Assoziationsverlauf motiviert.398 Aber erschlossen wird dieser komplexe Kontext allein

395. Vgl. exemplarisch: Pöppel 2000. 396. Vgl. Freud 1900, 509. 397. Die Funktion der sekundären Bearbeitung, welche die tatsächliche Gestalt der Traumerzählung mitbestimmt, geht eher auf den Einfluß der Zensur-Instanz zurück, die Freud in der Traumdeutung dem Bewußtsein vorgeschaltet denkt, also eine Zwischeninstanz darstellt, die nicht unmittelbar dem Traumgeschehen, sondern eher den Prozeduren seiner Aufnahme ins Bewußtsein zugerechnet werden muß. An dieser Schwelle können sich die Erfordernisse des Wachbewußtseins noch einmal zur Geltung bringen, wenn auch im Modus vorbewußter Mechanismen. 398. Vgl. die ›Komplexwirkung‹ bei Theodor Ziehen (Ziehen 1923) und in den Asso245

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aus den Verbindungen, die die Assoziationen herstellen. Die Transpositionslücke läßt sich im je einzelnen Fall allein durch die freie Assoziation des betreffenden Subjekts überbrücken, also durch die Praxis eines Vollzugs, der nicht an ein anderes Subjekt delegiert werden kann, und nicht durch Anwendung verallgemeinerbarer Regeln, die jedermann gleichermaßen befolgen könnte. Die Transpositionslücke läßt das Unbewußte zum Zuge kommen, das entgegen einem regelgerechten Verfahren der ›Abbildung‹ (s.o.) dazwischenfunkt. Somit wäre der Begriff des Unbewußten vor allen Theoretisierungen in Schutz zu nehmen, die seine strikte Verallgemeinerbarkeit bzw. seine Rückführbarkeit auf Regeln seines Funktionierens behaupten. Damit nimmt die Psychoanalyse wissenschaftstheoretisch eine besondere Stellung ein, die derjenigen der klassischen Naturwissenschaften nicht gleichzusetzen ist: Sie sucht nicht nach den unverrückbaren Gesetzmäßigkeiten des Geschehens, aus denen – bei Kenntnis der Ausgangsbedingungen – immer und überall genau vorausgesagt werden kann, welchen Verlauf der Prozeß nehmen wird. Vielmehr geht es um die Frage, welche Bedeutung bestimmte Konstellationen der Entwicklung des Prozesses für das Subjekt haben, das in seiner Gegenwart aus diesem Prozeß hervorgegangen ist und sich mit diesem als seine Geschichte identifiziert (bzw. Teile aus seiner Perspektive auf die eigene Geschichte ausblendet, verneint, verdrängt, verleugnet), sofern seine Existenz sich immer auch zeitlich-geschichtlich, d. h. individuell-biographisch und kollektiv-historisch, zu verstehen hat.

Differentialität, Performativität, Dynamik: Zeichenbeziehungen des Unbewussten Im folgenden sei die spezifische Beziehung zwischen dem Phänomen der Assoziation und der Sprache untersucht, so wie sie sich in der Traumdeutung für Freud darstellt. Dabei sind drei wichtige Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen: (1) Dif-

ziationsstudien von Carl Gustav Jung (Jung 1905) oder die sekundären Assoziationsgesetze bei Thomas Brown (vgl. oben Kap. 3.1). Im Zusammenhang der psychoanalytischen Herangehensweise an das Unverständliche der Deutung der Fehlleistungen und Symptome kann zwar einerseits konstatiert werden: »Psychoanalyse, statt den Abfall zahlloser Sprecher in Kolumnen anzuschreiben, bis die Regeln einer Sprache ablesbar werden, muß nur die Serien vertexten, die jeweils ein Sprecher an Sprachschnitzern produziert, bis die Regeln seiner und nur seiner Rede zutagekommen. Ein methodischer Schwenk, dessen Prämissen beste Psychophysik sind. Was die Psychoanalyse als Verdichtung und Verschiebung, Metapher und Metonymie, die Strukturlinguistik als Paradigma und Syntagma, langue und parole unterscheidet, ist in beiden Fällen nur eine Transposition des assoziationspsychologischen Fundamentalsatzes. Seit Ziehen steht fest, daß alle Assoziationen entweder mit Ähnlichkeit oder Nachbarschaft, mit Paradigmen oder Syntagmen spielen.« (Kittler 1985, 285) Ergänzend aber ist zu betonen, daß die psychoanalytische Modifikation und Ergänzung der assoziationspsychologischen Prinzipien nicht zu unterschätzen ist. 246

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ferentialität/differentielle Relationalität: Psychische Elemente stehen nicht für sich, lassen sich nicht isoliert betrachten, sondern nur innerhalb der Relationen, in denen sie vorkommen; d. h. sie bedeuten nicht an sich etwas, sondern sie haben Bedeutung nur im Verhältnis zu etwas anderem (d. h. zunächst Psychischem). Dies entspricht den grundlegenden Einsichten der modernen Linguistik über die Grundverfassung der Sprache.399 Assoziation ist in diesem Sinne der Begriff für solche vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten zwischen Elementen. (2) Irreduzible Performanz/Performativität: Die Aktivität des Träumens, also die Dynamik des Geschehens, ist, so wie die Sprache, nicht (theoretisch) zu verstehen, ohne das Sprechen, das Produzieren und Artikulieren, in Betracht zu ziehen. So wenig es ein Sprechen (Vollzug) ohne Sprache (Repertoire von Wörtern, System von Regeln) gibt, so wenig eine Sprache (existierende Aussagen, wirkliche Kommunikation) ohne Sprechen (Artikulation und Äußerung). Auch die Assoziation läßt sich als ein Phänomen des Vollzugs begreifen. (3) Formen der Dynamik: Die grundlegenden Funktionsprinzipien von Sprache/Sprechen sind in der modernen Linguistik in zwei Dimensionen dargestellt worden: Auf der syntagmatischen Achse ist die Metonymie angesiedelt, auf der paradigmatischen Achse die Metapher. Für Traum und Träumen sind die analogen Mechanismen die Verschiebung und die Verdichtung. Soweit das Material wieder bewußt geworden ist und überhaupt bewußt werden kann, handelt es sich um das deskriptiv Unbewußte400: das, was als unbewußt Gewesenes dem Bewußtsein vorübergehend nicht zugänglich war, aber jederzeit ins Bewußtsein treten könnte (erinnerungsfähiges Psychisches, z. B. abrufbares Wissen). Das Unbewußte, so wie Freud es denkt, läßt sich aber nicht auf dieses Material und seine durch den Traum gebildete Struktur reduzieren. Es ist nicht mit seiner Feststellung identisch: zum einen, weil es sich nie direkt zeigt, als es selbst, an sich – weder dem Bewußtsein noch der Theorie. Auch hier gibt es also eine Transpositionslücke, insofern das psychische Reale unerkennbar ist, wie Freud in deutlicher Anlehnung an die kritische Erkenntnisskepsis Kants betont.401 Zum anderen würde – in der Konzentration auf das Ergebnis des Prozesses –

399. Nach Ferdinand de Saussure (1916) gibt es keine grundlegende Positivität in der Sprache, sondern nur ein System aus Differenzen, welches es gestattet, Bedeutung zu generieren. Ebenso argumentieren etwa Roman Jakobson (1969) und Emile Benveniste (1966) sowie Jacques Lacan (1953), der dieses Wissen in die Psychoanalyse einführt, um eine theoretische Grundlegung des Freudschen Ansatzes von der Linguistik her zu betreiben. 400. Freud 1900, 580 und Freud 1915b. Freud führt zur Unterscheidung vom eigentlich Unbewußten (auch: systematischen Unbewußten) das Vorbewußte als dasjenige Psychische ein, welches nicht ständig bewußt ist, aber jederzeit ins Bewußtsein gerufen werden kann. Es entspricht damit dem, was umgangssprachlich Gedächtnis genannt wird, verstanden als dauerhafter Speicher, der dem aktiven, bewußten Erinnerungsvermögen auf Abruf zur Verfügung stehe. 401. Freud 1900, 580, 587; vgl. unten. 247

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auch der dynamische Aspekt völlig verlorengehen, der das Traumgeschehen beherrscht und nicht nur ein erzählbares Resultat hervorbringt. Deshalb spricht Freud von Traumarbeit, deren prozessuale Prinzipien er zu bestimmen unternimmt. Was die assoziativen Prozesse ›bewirkt‹, sofern sie dem Unbewußten zugerechnet werden müssen, ist nur indirekt zu postulieren, indem die Ergebnisse der analytischen Rekonstruktion, die mit Hilfe der Assoziationen des Träumers zustande gebracht werden kann, zur Traumerzählung ins Verhältnis gesetzt werden, von der sie ihren Ausgang genommen haben. Was als Unbewußtes dabei im Spiel ist, läßt sich nicht allein mit den Effekten identifizieren, die es zeitigt. So erweist sich Unbewußtes als Abwesendes gerade an der Differenz der unterschiedlichen Arbeitsweisen des bewußten und des unbewußten Vorstellungsprozesses. Dieses im eigentlichen Sinne selbst nie direkt bewußtwerdende Unbewußte steht aber nicht allein für die Effekte des Träumens ein, welche ohne Kontrolle des Bewußtseins sich vollziehen, sondern das Bewußtsein selbst läßt sich in gewisser Hinsicht als Effekt dieses (vom Bewußtsein) unbestimmten Unbewußten begreifen.402 Bewußtsein ist Psychisches, so wie das Unbewußte Psychisches ist, bloß in einer bestimmteren, begrenzteren und anders geordneten, wie Freud sagt, ›gehemmten‹ Gestalt. Dynamisch betrachtet, steht der Prozeß des Bewußtseins im Verhältnis der Hemmung zum unbewußten Primärvorgang.403 Was also zunächst vom Unbewußten beobachtbar ist, ist das, was sich im Bewußten oder in (die Ordnung des Bewußtseins) störender Weise (Fehlleistung, Symptombildung etc.) bemerkbar zu machen versteht, was sich als solches beschreiben läßt und damit in die Beobachtung und den Diskurs einschreibt; nicht jedoch läßt sich Unbewußtes direkt dingfest machen, gar ›das Unbewußte‘.404 Weil das Psychische sich immer in irgendeiner Form zeigen muß, d. h. nicht ohne Darstellung gegeben ist, sondern nur als Darstellung in Erscheinung tritt, sind also die beiden Verkettungsreihen, die Traumerzählung und die hinzukommenden Assoziationen, selbst je schon als Darstellungsmodi zu betrachten. Auch der rekonstruierte, dem Traumgeschehen zugrundliegende Traumgedanke ist mithin nichts anderes als eine Transformationsgestalt, die aus dem ursprünglichen Material der Traumerzählung abgeleitet wurde. Das Unbewußte im eigentlichen Sinne ergibt sich allein als eine Differenz von manifestem und latentem Psychischen: Es ist nicht identisch mit der ermittelten Latenz. Medientransposition ist ihrerseits also nur ein weiterer Darstellungsmodus, der es – in der Umkehrung – gestattet, über seine Effekte und Spuren das Unbewußte für die Deutung zum Zuge kommen zu lassen. Auch das Rebus ist nur Gleichnis für das, was sich im und als Traum darstellt, weist aber schon auf die Bildlichkeit des Traums hin. Entsprechend besteht eine qualitative Differenz der Darstellungsmöglichkeiten zwischen dem Wachbe-

402. Vgl. hierzu weiter unten sowie Freud 1900, 580. 403. Vgl. Freud 1900, 571. 404. Man mag hierin den Grund sehen, der Freud zögern läßt, vom »Unbewußtsein« zu sprechen, und stattdessen die Wendung »das Unbewußte« vorzuziehen. 248

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wußtsein und dem Traum. Letzterem steht ausschließlich Anschaulichkeit, vornehmlich die ›Visualisierung‹ zur Verfügung, die auch noch die abstrakteste Vorstellung in ›Bilder‹ umzusetzen strebt, soll sie überhaupt in ihm vorkommen können.405 Das stößt an die Grenzen der bildlichen Darstellungsfähigkeit: Logischer Zusammenhang des Denkens ist als Annäherung in Raum und Zeit wiedergegeben; Kausalbeziehungen zwischen zwei Vorstellungen entfallen entweder ganz oder tauchen als deren Nacheinander im Traum auf; »entweder – oder« läßt sich überhaupt nicht darstellen bzw. wird durch gleichzeitiges Vorhandensein gezeigt; gegensätzliche Vorstellungen können durch nur ein Element des Traums vertreten werden; dem Widerspruch zwischen größeren, zusammenhängenden Vorstellungskomplexen entspricht ein absurdes Ineinander der Darstellung des gesamten Traums.406 Damit ist die Grammatik der Traumsprache umrissen, sofern es sich um die Darstellungsmittel des Traums handelt. Neben diesen Formbestimmungen gehört zum Träumen so etwas wie der Vollzug, der die formalen Möglichkeiten in ein tatsächliches Geschehen umsetzt. Diese ›Pragmatik‹ des Traums wird von den dynamischen Prinzipien der Verschiebung und Verdichtung beherrscht.407 Hiermit ist in der Geschichte der Psychologie der Assoziation zum erstenmal ein klarer Hinweis darauf erbracht worden, daß Assoziationsvorgänge sich gemäß der Unterscheidung anschaulich-konkret gegenüber logisch-abstrakt zwei gesonderten Instanzen oder psychischen Systemen zuordnen lassen.408 Im Gegensatz zur alten, relativ unspezifischen These, daß es einen gesteuerten und einen ungeordneten Vorstellungsverlauf gebe (Hobbes, vgl. Kap. 3.1), bedeuten Freuds Aus-

405. Daß im Traum auch gehört, gerochen, getastet und geschmeckt werden kann, ist damit nicht bestritten. Entscheidend wäre die ›Anschaulichkeit‹ des psychischen Erlebens im Traum – wenn auch dieser Begriff noch einmal die Verengung auf den Visus zum Ausdruck bringt, die sich in der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder dominant zur Geltung hat bringen können (vgl. kritisch dagegen die »Anhörungsform« bei Ulrich Sonnemann 1986). 406. Vgl. die prägnante Zusammenfassung Freuds in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Freud 1916-17, 178ff. und natürlich Freud 1900, 280ff.). Freud weist auch auf die Ähnlichkeit zwischen dem konkreten, visuellen Vorstellen des Traums einerseits und andererseits den aus der Ethnologie bekannten Formen mythischen Denkens, dem kindlichen und dem paranoischen Vorstellen hin (vgl. Freud 1900, 303, 524, 561). 407. Um nicht zu sehr auf eine modische Redeweise zu setzen, vermeide ich das Stichwort Performanz – obwohl der Terminus den regelorientierten Vollzug, d.h. das Ineinander von Geschehen und Regel, Ereignis und Form, Aktualität und Vorgabe, Variation und Bestimmtheit recht gut erfaßt. Von hier aus würden sich natürlich vielfältige Verbindungen zur aktuellen medientheoretischen Debatte ergeben, wie sie auch schon durch den Freudschen Begriff der Darstellung (u.a. ein Terminus der Künste und Ästhetik, insbesondere des Theaters, aber auch der Malerei) nahegelegt werden. 408. Vgl. Freud 1900, 582. 249

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führungen einen wesentlichen Schritt der Spezifizierung hin zu einer Theorie, die jene zuvor einfach als ungeordnet bezeichneten Phänomene (wie z. B. den Traum) in ihrer Weise plausibel macht und dem ›normalen‹ Vorstellungsleben als eine psychische Funktion unter anderen einzuordnen bestrebt ist. Assoziationspsychologisch gesprochen, könnte es heißen: Assoziationsvorgänge vollziehen sich an unterschiedlichem Material und können so je nach Material bestimmt werden (in ihrem tatsächlichen Verlauf und für die Theorie). Jedoch wirft das sofort die Frage auf: Wodurch ordnet sich die eine ›Sorte‹ Vorstellungen dem einen System zu, die anderen einem anderen? Strenggenommen geben die Eigenschaften des Materials von sich aus für eine solche Sonderung keinen Grund ab. Auch abstrakte Gedanken müssen sich darstellen lassen, wenn sie für ein auf Anschauung angewiesenes Vorstellungsvermögen überhaupt als gegeben angenommen werden können. Nun sind Vorstellungen visuellen oder akustischen Ursprungs nicht prädestiniert für entweder Sekundär- oder Primärvorgang des Assoziationsverlaufes.409 Die Assoziation bedient sich ohne Unterschied aller ›Materialien‹, die im Psychischen zur Verfügung stehen.410 Die Bestimmung vom Material aus führt also nicht weiter, und Freud macht auch gar keinen ernstlichen Versuch einer solchen Argumentation.411 Vielmehr ist der Weg, den er beschreitet, ein ganz anderer. Wiederum legt er den Akzent auf den Vorstellungsverlauf (respektive auf die durch diesen hervorgebrachte Anordnung) als entscheidendes Kriterium, nicht auf dessen Material oder Elemente bzw. deren konventionelle Bedeutung: »Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte.«412 Die durch den Traum erzeugten Beziehungen der Elemente zueinander bilden den Bezugspunkt zur Rekonstruktion der Traumarbeit. Diese (An-)Ordnung der Elemente hatte sich ja schon als das Wesentliche der Klippe des Übergangs von der ›visuellen‹ Traumebene zur abstraktlogisch-grammatischen Ordnung der Wortsprache herausgestellt, an der die Übersetzung Schiffbruch erleiden kann.413 Die Elemente – jeglicher Abstam-

409. Vgl. Freud 1900, 306 u. 486. 410. Die Assoziationstätigkeit des Traums ist den »Sprachkünsten der Kinder, die zu gewissen Zeiten die Worte tatsächlich wie Objekte behandeln, auch neue Sprachen und artifizielle Wortfügungen erfinden« (GW II/III, 309; Freud 1900, 303) zu vergleichen. 411. Vgl. Freud 1900, 311. 412. Freud 1900, 280. 413. Vgl.: »Die Übersetzung des Rebus scheitert daran, daß Buchstaben in freier Natur, der Referenz allen Übersetzens, nicht vorkommen.« (Kittler 1985, 279) Das heißt, Buchstaben verdanken sich nicht einfach einer sinnlichen Wahrnehmung, die sich auf natürliche Gegenstände richtet. Nur im konventionellen Übersetzungsverfahren von Texten der einen Sprache in die einer anderen können Buchstaben als das allgemeine Äquivalent beschworen werden. In der ›traumdeuterischen‹ Transposition, wie Freud sie vornimmt, fallen Buchstaben und erst recht Buchstäblichkeit als rhetorisches Prinzip aus. 250

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mung von Sinnessphären – verarbeitet der Traum in rigoroser Weise – gleichsam ohne Vorauswahl und Vorbehalt: weswegen auch Buchstaben, Wörter, ja ganze Reden414 im Traum vorkommen können, aber als in eine andere Ordnung eingeschriebene ihrer konventionellen Bedeutung möglicherweise völlig verlustig gehen. Nicht als solche, d. h. als einer bestimmten Wahrnehmungssphäre entstammende und somit auf eine spezifische Materialität bezogene (und erst recht nicht als konventionell codierte, bedeutungstragende), interessieren die Vorstellungselemente im psychoanalytischen Prozeß. Das Interesse der Psychoanalyse für die syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen415 muß die Materialität des Mediums zugunsten der Ordnung der in ihm sich darstellenden Elemente ignorieren, und insofern »ist Die Traumdeutung eine Zeichenanalyse einzig nach Stellenwerten diskreter Elemente.«416 Die Diskretheit der Elemente selber steht aber im Traumgeschehen immer wieder zur Disposition, weshalb jegliche (von Kittler postulierte) Regelhaftigkeit der Transposition sich nur auf die Textur der schon konstituierten sprachlichen Einheiten (einerseits Traumerzählung, andererseits Assoziationen zum Traumtext), nicht jedoch auf die Elemente des Traums direkt beziehen kann. Deren elementarer Charakter, ihre Distinktheit, kann nur in Bezug auf sprachliche Konvention, auf das ›normale Denken‹, das Alltagswissen bestimmt werden. Ansonsten ist das Traumgeschehen gerade dadurch gekennzeichnet, daß es mit seinem Material nach den eigenen Erfordernissen umspringt, zwar mit »Rücksicht auf Darstellbarkeit«, aber ohne Hinsicht auf die Einteilungen des Wachbewußtseins, die Erfordernisse der normalen Wirklichkeit, die konventionelle Grammatik der Sprache. Damit steht gerade in Frage, was überhaupt die elementaren Einheiten des Traums sind.

Allein die Assoziationen des Analysanten, der gewillt ist, sein Traumbilderrätsel zu Traumgedanken zu verwandeln, können die Deutungsarbeit voranbringen. Das Berufen auf Buchstäblichkeit (im buchstäblichen und im übertragenen Sinne!) ist für die analytische Arbeit keine sichere Bank, denn Freud erklärt Buchstaben zum Material der Traumarbeit wie jedes andere auch, das in ihren Einflußbereich gerät. Psychoanalyse ist also gerade nicht bloße »Spurensicherung von Buchstäblichem« (Kittler 1985, 293). 414. Vgl. z.B. Freud 1900, 304. 415. Zur Definition der Begriffe: Saussure 1916. 416. Kittler 1985, 271, 279-281. Anstatt allein von der Bildlichkeit des Traums zu reden und Träumen mit ›Sehen‹ zu identifizieren, wie Freud es gelegentlich tut, gelegentlich nicht, sollte höchstens von einem relativen Vorherrschen visuell vermittelter Vorstellungen gesprochen werden. Der Kern des Argumentes von der Unterschiedlichkeit des Vorstellens beim Träumen zielt vielmehr auf dessen ›Sinnlichkeit‹, womit die Nähe dieses Vorstellens zur äußeren Wahrnehmung hervorgehoben werden soll. Der halluzinative Charakter des Traums wird von Freud in diesem Sinne betont: die Unterscheidung zwischen bloßem Vorstellen und einer tatsächlichen Wahrnehmung äußerer Gegenstände kann im Traum nicht geltend gemacht werden. Der Traum figuriert als ein Erleben ohne Realitätsprüfung bzw. Zensur, d.h. ein in diesem Sinne unmittelbares Erleben (vgl. Freud 1900, 512). 251

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Neben der »Rücksicht auf Darstellbarkeit«417 beschreibt Freud die sekundäre Bearbeitung418, die Verwendung von Symbolen im Traum419 sowie die für unser Thema besonders wichtigen Mechanismen der Verdichtung420 und Verschiebung421 – wichtig deswegen, weil sie zu einer deutlichen Abgrenzung psychoanalytischer Theorie von einem Grundsatz elementaristischer Assoziationspsychologie führen: dem der Gegebenheit der Elemente des Geistes. Denn diese beiden Mechanismen untergraben die Integrität der psychischen Elemente, indem sie einerseits zu einer Verschmelzung oder Überlagerung mehrerer Vorstellungen in eine einzige beitragen, andererseits eine Verlagerung von Affekten von einem zum anderen Element und zudem eine andere Zentrierung oder Gewichtung des gesamten Traums bewirken.422 Zwar kennt die klassische Assoziationspsychologie auch die Verschmelzung von Elementen, aber damit ist keine radikale erkenntnistheoretische Problematik verbunden, die die These von der Gegebenheit der Elemente zu erschüttern vermöchte. Verschiebung und Verdichtung können alle Bestimmtheiten transformieren, die irgend etwas Psychisches als Element überhaupt erst konstituiert: Die Konstellation von Relationen zwischen den psychischen Elementen, aus denen jedes einzelne seine Bestimmung bezieht, kann gänzlich verschoben, verzerrt, verwandelt, umbesetzt, verkürzt, zusammengefaßt, anders gewichtet werden. Das ist die »Umwertung aller psychischen Werte«, von der Freud spricht.423 Für die Traumdeutung wirken sich diese Komplikationen in vielfacher Weise aus: Elemente des Trauminhalts weisen mit den meisten Traumgedanken ausgiebigste Berührungen auf, stellen also Knotenpunkte dar, »in denen sehr viele der Traumgedanken zusammentreffen, weil sie mit Bezug auf die Traumdeutung vieldeutig sind«, und umgekehrt: »Nicht nur die Elemente des Traumes sind durch die Traumgedanken mehrfach determiniert, sondern die einzelnen Traumgedanken sind auch im Traum durch mehrere Elemente vertreten. Von einem Element des Traumes führt der Assoziationsweg zu mehreren Traumgedanken, von einem Traumgedanken zu mehreren Traumelementen.« 424 Angesichts dieser vielfachen Verbindungen der Elemente, ihrer Überdeterminiertheit, wie Freud sagt, wird – neben der Beschränkung auf die ›Sinnlichkeit‹ der Darstellung – klar, warum die in den Traum aufgenommenen Elemente ihre

417. 418. 419. 420. 421. 422. 423. 424.

Freud 1900, 335. Freud 1900, 470ff. Freud 1900, 345ff. Freud 1900, 282ff. Freud 1900, 305ff. Vgl. Freud 1900, 305 u. 189. Freud 1900, 327. Freud 1900, 286. 252

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

konventionelle Bedeutung verlieren: Ihre Verweisungsbeziehungen, in der Wortsprache durch logische und grammatische Regeln festgelegt, werden so weit vermehrt, daß der Näherungswert ›Eindeutigkeit‹ innerhalb der Normalsprache in nahezu unbegrenzte Vieldeutigkeit der Traumsprache verwandelt wird.425

Zum Primär- und Sekundärprozess im Assoziationsvorgang Für den Assoziationsvorgang beim Träumen bedeutet das, daß er sich, von den Beschränkungen eines realitätsgerechten Vorstellens ungehemmt, relativ ›frei‹, d. h. nach seinen eigenen Arbeitsanforderungen entfalten kann. Freuds These für diesen Primärvorgang lautet, daß er sich nach dem ökonomischen Prinzip des Spannungsabbaus von auftretenden Reizen im Psychischen auf kürzestem Wege vollzieht.426 Das Vorbild eines solchen Vorgangs ist der aus der Biologie bekannte Mechanismus des Reflexes427: Ein vom Nervensystem aufgenommener Reiz wird unmittelbar in eine Muskelreaktion umgewandelt. Ökonomisch ist dieses Prinzip deshalb zu nennen, weil die Aufnahme eines Reizes als ein Spannungszustand gedacht wird, den das Nervensystem tendentiell abzubauen bestrebt ist. Spannungsabfuhr ist also der vorrangige Zweck bei der Weiter- und Ableitung des Reizes. Eine Muskelreaktion gilt gemeinhin als einfachster Spannungsabbau. Der von Freud so genannte Primärprozeß vertritt prinzipiell diese Tendenz in möglichst direkter Weise – alle weiteren dazwischengeschalteten Verarbeitungsvorgänge, die die Reaktionsweise des Organismus modifizieren könnten, fallen schon dem Sekundärprozeß zu. Die grundlegende Tendenz des Primärprozesses nennt Freud LustUnlustprinzip, die des Sekundärprozesses Realitätsprinzip, ihre Dynamik läßt sich zum einen als direkte Umsetzung428, zum anderen als Hemmung verstehen.

425. Köhler vermerkt hierzu, daß Traumdeutung »nicht naturwissenschaftlich exakt sein kann, sondern selbst bei bestem Bemühen des Deuters eine in der Natur des Gegenstandes begründete Unschärfe aufweisen muß: jene unter Informationsverlust in die bildliche Traumsprache umgesetzten Gedankengebäude des Wachlebens können nicht mit letzter Sicherheit und Eindeutigkeit zurückgewonnen werden. Wir wissen, daß etwa bei der Übersetzung eines Textes aus einer hochdifferenzierten toten Sprache gewisse Interpretationsspielräume offen bleiben müssen, trotz der Möglichkeit ausgiebiger Textvergleiche, Möglichkeiten, welche dem Analytiker bei der Übersetzung aus der sehr viel mehrdeutigeren Traumsprache nicht offen stehen. Es ergibt sich somit eine wesentliche, von Freud selbst nicht explizit ausgesprochene […] Folgerung aus dem psychoanalytischen Traummodell: geht man davon aus, daß der Traum eine zweite bildliche und damit weniger differenzierte Sprache des Träumers darstellt, so kann der Versuch einer Traumdeutung nur unter Verzicht auf einen naturwissenschaftlichen Exaktheitsanspruch geschehen. Will man diesen nicht aufgeben, so muß man auf eine ›Deutung der Träume‹, eine Übersetzung in die Sprache des Wachlebens verzichten.« (Köhler 1987, 265f.). 426. Vgl. Freud 1900, 538f. u. 559ff. 427. Zum Reflexbogenmodell siehe im folgenden. 428. Freud charakterisiert den Primärvorgang der unbewußten Seelentätigkeit 253

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Denken ist als bewußte Tätigkeit429 ein Phänomen des Sekundärvorgangs, der durch das Realitätsprinzip gehemmt einen Umweg430 darstellt und so eine Modifikation des dem Lustprinzip gehorchenden Primärvorgangs. Diese ökonomisch-dynamische Differenz kann als weitere Spezifizierung der zwei Assoziationsvorgänge – beim Träumen und während der freien Assoziation – gelten, muß aber als ein metapsychologisches Postulat verstanden werden, das es erlaubt, die gewonnenen Phänomene unter bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen. Freud wird zeit seines Lebens an dieser Differenz festhalten und ihr in unterschiedlichen Kontexten nur geringfügige Modifizierungen angedeihen lassen. Aber schon in der Traumdeutung ist diese Gegenüberstellung eine, deren Gegensätzlichkeit ineinandergreift. Einen ›reinen‹ Primärprozeß, isoliert betrachtet von allen anderen Phänomenen, die zum Psychischen gehören, kann es für die Psychoanalyse nicht geben: So wie Verschiebung im Dienste der Verdichtung arbeiten kann431, so letztlich auch der Sekundär- im Dienste des Primärvorgangs. Für den Assoziationsvorgang wirkt sich das Nebeneinander dieser beiden in ihren Ansprüchen und Zielen konfligierenden Prinzipien folgendermaßen aus: »Es liegt nun der Einfall nahe, daß bei der Traumarbeit eine psychische Macht sich äußert, die einerseits die psychisch hochwertigen Elemente ihrer Intensität entkleidet und andererseits auf dem Wege der Überdeterminierung aus minderwertigen neue Wertigkeiten schafft, die dann in den Trauminhalt gelangen. Wenn das so zugeht, so hat bei der Traumbildung eine Übertragung und Verschiebung der psychischen Intensitäten der einzelnen Elemente stattgefunden, als deren Folge die Textverschiedenheit von Trauminhalt und Traumgedanken erscheint. Der Vorgang, den wir so supponieren, ist geradezu das wesentliche Stück der Traumarbeit: er verdient den Namen Traumverschiebung. Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen. Ich denke, wir haben es auch leicht, die psychische Macht, die sich in den Tatsachen der Traumverschiebung äußert, zu erkennen. Der Erfolg dieser Verschiebung ist, daß der Trauminhalt dem Kern der Traumgedanken nicht mehr gleichsieht, daß der Traum nur eine Entstellung des Traumwunsches im Unbewußten wiedergibt. Die Traumentstellung aber ist nun bereits bekannt; wir haben sie auf die Zensur zurückgeführt, welche die eine psychische Instanz im Gedankenleben gegen eine andere ausübt. [Vgl. StA II, 158ff.] Die Traumverschiebung ist eines der Hauptmittel zur Erzielung der Entstellung. Is fecit cui profuit. Wir dürfen

sonst auch als »freies Flottieren«, aber dies eben als Gegensatz zur Hemmung und Bindung durch logische und grammatische Regeln des Sekundärprozesses, des Realitätsprinzips. 429. Man darf hierbei nicht vergessen, daß Freud gewisse Bildungen des Unbewußten als Gedanken bezeichnet hat. Dies war einer der Punkte, der gegenüber traditionellen Auffassungen vom Charakter des Unbewußten Anstoß erregte, weil man Denken ausschließlich als einen Vorgang der bewußten Geistestätigkeit anzusehen gewillt war. 430. Vgl. Freud 1900, 540 u. 559ff. 431. Vgl. Freud 1900, 295, 335, 565f. 254

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annehmen, daß die Traumverschiebung durch den Einfluß jener Zensur, der endopsychischen Abwehr, zustande kommt.«432 Die Zensur – eindeutig nicht dem Primärvorgang zuzuordnen – wirkt sich gleichwohl auf die Darstellung des Traums aus. Da das Unbewußte Spannungsabbau durch Reizabfuhr anstrebt, muß es sich hierzu Zugang zur Motilität433 des Organismus, mindestens zum Bewußtsein verschaffen. Dieser Zugang unterliegt aber gerade der Zensur, so daß die Bedingung für das Passieren bestimmter Elemente jene Entstellung ist, die sie für die Zensur unkenntlich werden läßt. Nicht erst im Ausdruck, im geäußerten Verhalten des Organismus, sondern schon intrapsychisch an der Schwelle zum Bewußtsein machen sich die konfligierenden Tendenzen geltend: »Vorläufig können wir als eine zweite Bedingung, der die in den Traum gelangenden Elemente genügen müssen, angeben, daß sie der Zensur des Widerstandes entzogen seien.«434 Um die Drastik der Traumarbeit im Umgang mit ihren Elementen zu betonen, zitiert Freud in Abwandlung einer berühmten Formel Nietzsche: »es findet zwischen Traummaterial und Traum eine völlige ›Umwertung aller psychischen Werte‹ statt.«435 Psychische Elemente können demnach nicht als fixe Einheiten betrachtet werden, ihre ›Konstanz‹ löst sich in die Relationalität der Stellung zueinander auf.436 Die Assoziationsvorgänge des Traums haben nur das Material mit dem wachen Denken gemein. Traumarbeit hingegen »ist nicht etwa nachlässiger, inkorrekter, vergeßlicher, unvollständiger als das wache Denken; sie ist etwas davon qualitativ völlig Verschiedenes und darum zunächst nicht mit ihm vergleichbar. Sie denkt, rechnet, urteilt überhaupt nicht, sondern sie beschränkt sich darauf umzuformen.«437 Träumen ist also ein radikales mediales Geschehen i.S. v. Fritz Heider, das sich als Transformation von Elementen und ihrer Konstellation beschreiben läßt. Die Traumvorgänge beruhen auf einer größeren Ungebundenheit der Elemente, einer ›lockeren Kopplung‹, während alles dem Sekundärvorgang und dem Realitätsprinzip unterworfene ›festere Kopplungen‹ impliziert (vgl. Kap. 1.3). Wenn auch die Traumarbeit nicht unter Aufsicht des Bewußtseins stattfindet, so stellt sie andererseits nichts Unmotiviertes und Regelloses dar: Vielmehr kann mit Hilfe der Assoziationsmethode gezeigt werden, daß auch der Traum in einem mehr oder weniger direkten assoziativen Zusammenhang mit den sogenannten Traumgedanken steht, welche einem korrekt gebildeten Gedanken des wachen Denkens entsprechen. Der Traum ist, so könnte man sagen, mit dem normalen Vorstellungsgeschehen assoziierbar, d. h. es gibt einen Zusammenhang im Psy-

432. Freud 1900, 307f. 433. Freud 1900, 514. 434. Freud 1900, 308. 435. Freud 1900, 327. 436. Vgl. Kittler 1985, 280 u. ebd. Fn. 4: »So sehr siegt die bloße Stellung, sei es die der Krieger, sei es die der Sätze.« 437. Freud 1900, 486. 255

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chischen bzw. es läßt sich ein solcher herstellen (vgl. Kap. 3.2). Das Psychische kann also als ein Sinnsystem beschrieben werden (vgl. Kap. 2.2). Allerdings gehorchen die Produktionen des Träumens einem anderen dynamischen und ökonomischen Ordnungsprinzip, wenn auch seine Produkte, die erzählten Träume, welche ja in ihrer Elementeverkettung schon der Zensur unterworfen sind, wiederum den Erscheinungen des Wachbewußtseins vergleichbar werden.

Zur Frage des Determinismus Das Assoziieren unter Ausschaltung der bewußten Kontrolle beseitigt allerdings noch nicht jeglichen Einfluß auf den Gedankenverlauf (das wäre absolute Freiheit des Denkens, was Freud als eine philosophische, d. h. rein spekulative bzw. metaphysische Auffassung verworfen hätte), sondern eben nur den bewußten. Diejenigen Autoren vor Freud, die dieser Meinung waren, mußten jede nicht vom Bewußtsein ausgehende oder initiierte psychische Produktion für unsinnig erklären, so, wie erwähnt, auch den Traum.438 »Sie unterschätzen die Determinierung im Psychischen. Es gibt da nichts Willkürliches. Es läßt sich ganz allgemein zeigen, daß ein zweiter Gedankenzug sofort die Bestimmung des Elements übernimmt, welches vom ersten unbestimmt gelassen wurde.«439 Es überrascht nicht, daß es für Freud ›da nichts Willkürliches gibt‹. Wer so minuziös darauf bedacht ist, mit Methode die Willkür zu beseitigen, kann sie ›am Gegenstand‹ nicht finden. So wie zuvor in der Behandlung der Hysterie schon jede sprachliche und körperliche Äußerung als signifikantes Material für die Fortsetzung der Analyse verwendet worden ist, so wird für die Freudsche Traumdeutung Psychisches ohne Signifikanz ein Unding sein. Ein vollständiger psychischer Determinismus ist nur die logische Konsequenz einer solchen Auffassung alles Psychischen. Wie läßt sich jedoch dieser Begriff des Determinismus im Psychischen verstehen? Mit demselben Anliegen wie Wilhelm Dilthey, nämlich gegen einen durchgängigen Determinismus des Psychischen zu argumentieren, vermerkt Köhler: »Diese fundamentale Voraussetzung eines psychischen Determinismus, welche für den Leser – trotz der Freudschen Belege – nur den Charakter eines (wenn auch einleuchtenden) Postulates haben kann, stellt sich für Freud selbst als unumstößliche Wahrheit dar.«440 Entgegen dieser Einschätzung muß man aber darauf beharren – angesichts der Belege in Freuds Schriften –, daß Freud ja die »Deutung« des Traums mittels Assoziationsmethode gerade zwischen der Plausibilität der deterministischen Erklärung einerseits und jener »dunklen Stelle«441 des Traums andererseits ansiedelt, an der Deutung ihre Grenze findet. Man darf die Programmatik nicht vergessen, die Freud am Anfang der Traumdeutung aus-

438. Z.B.: »Nach Hegel bei Spitta [1882, 193] fehlt dem Traum aller objektive verständige Zusammenhang.« (Freud 1900, 78) Freud bemüht sich nicht um eine eigenständige Hegellektüre. 439. Freud 1900, 493 und Freud 1901, 213. 440. Köhler 1987, 232. 441. Freud 1900, 330. 256

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spricht: Es gehe ihm darum, »Träume zu deuten« und die Träume »als ein sinnvolles psychisches Gebilde« herauszustellen.442 Dieser Anspruch auf Deutung zielt auf anderes als auf eine Erklärung durch rein physische Ursachen von Traum und Träumen, denn Freud leugnet ja an keiner Stelle die Möglichkeit einer kausalen Verursachung und Beeinflussung durch körperliche Zustände und andere äußere Faktoren (Geräusche, Temperaturschwankung, Lichteinfall, Bewegung und Berührung etc.), betont aber immer das Ungenügen dieses Erklärungsmusters. Denn aus der physischen Kausalität allein läßt sich die Bedeutung, die ein solches Einfluß ausübendes Ereignis für den Traum annimmt, in den seltensten und wahrscheinlich uninteressantesten Fällen verstehen.443 Die Frage des Determinismus ist in der Freudschen Perspektive eine nach der unausweichlichen Relationalität psychischer Elemente, also nach der Sinndimension, ohne die Psychisches als solches nicht zu konzipieren ist. Im Horizont dieser Perspektive liegt auch die Reformulierung des Sinn-Begriffs durch die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Sinn als Anschlußfähigkeit definiert hat.444 Psychisches verweist also zunächst auf Psychisches und erfährt in diesem Verweisungszusammenhang seine Bestimmtheit, seinen Sinn. Sinn ist in erster Hinsicht als eine ›interne‹ Bezüglichkeit, eine Selbstbezüglichkeit des Psychischen aufzufassen; und jegliche Repräsentationsfunktion des Psychischen für Physisches, der Innenwelt für die Außenwelt, kann erst sekundär ins Spiel kommen, denn ohne interne Strukturierung und Artikulation kann es keine stabile Funktion für anderes als es selbst überhaupt übernehmen. Es geht also um die notwendige Verknüpftheit alles Psychischen miteinander (wenn auch nicht darum, jedes sei mit jedem verknüpft – das erweisen ja die Wirkungen der Verdrängung und die Widerstände, welche Brüche zeitigen), um die vielschichtige wechselseitige Bestimmtheit von psychischen Elementen, seien es nun Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Gedanken, Wünsche, Absichten, Willensbekundungen etc. Die These von der Überdeterminiertheit des Psychischen bedeutet ja gerade, daß die Angabe von kausalen, physischen Ursachen zwar nicht nur möglich, plausibel und wünschenswert sein kann, sondern daß es immer auch darüberhinausgehende Gründe geben kann, die als echte, wirkliche, wirksame Motive des psychischen Geschehens zur befriedigenden Deutung herangezogen und ernstgenommen werden müssen. Ob Freud den Status des psychischen Determinismus tatsächlich als Effekt seines eigenen theoretischen Vorgehens durchschaut hat, ist eher unwahrscheinlich.445 Jedenfalls ist es möglich, genau wie für andere grundlegende Annahmen

442. Freud 1900, 29. 443. Freud zu Leibreiztheorien der Traumentstehung vgl. Freud 1900, 106 u. 228ff. 444. Zur Verbindung von systemtheoretischen und psychoanalytischen Ansätzen vgl. Khurana 2002. 445. Freud diskutiert dieses Problem und mögliche Einwände allein auf der Ebene, wo die Psychoanalyse wissenschaftstheoretisch unwiderlegbar ist: auf der Ebene ihrer Anwendung, wo unter dem Begriff Übertragung jenes Problem der unvermeidlichen, 257

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Freudscher Theoriebildung, auch den Determinismus als ›bloßes‹ Postulat der Psychoanalyse zu behandeln.446 Andernfalls würde man Freud jener Naivität bezichtigen, der er sich sonst so konsequent zu erwehren versucht – nämlich die generellen Hypothesen, die es erlauben, die Theorie zu errichten, für mehr zu halten als Annahmen, die den Forschungsprozeß orientieren, also für Zutaten des menschlichen Erkenntniswillens, nicht jedoch für empirisch einlösbare Aussagen über die »innere Natur des realen Psychischen«.447 Freud spricht mit Bedacht von bloßen »Hilfsvorstellungen«, die »fallenzulassen […] wir immer bereit sein [müssen], wenn wir uns in der Lage glauben, sie durch etwas anderes zu ersetzen, was der unbekannten Wirklichkeit besser angenähert ist.«448 Freud weiß um den konstruktiven Charakter der Theoriebildung. Sicherlich kann man sagen, die Assoziationsmethode stelle den Zusammenhang des Traums, seinen Sinnbezug erst her. Ja sogar: Erst nachträglich stellt sich ein Sinn des Traums her – durch Deutung. Und: Die Annahme eines unbewußten psychischen Determinismus sei nichts anderes als die Konzeptualisierung des bewußten Denkens für jene nichtbewußten, aber denknotwendig zu postulierenden Vorgänge. Dies wäre allerdings kein schlagender Einwand gegen Freuds Vorgehen. Denn der methodische Gewinn besteht darin, daß diese Annahmen es erlauben, die sich im Bewußtsein niederschlagenden Phänomene auch noch in ihrer »Brüchigkeit« und »Unsinnigkeit« zu beschreiben und in die allgemeine Theorie des Psychischen einzuordnen. Das Problematische an der Behauptung einer »Präexistenz«449 eines unbewußten psychischen Zusammenhangs vor dem Bewußtwerden kann zwar nicht aufgelöst werden – schon gar nicht von derjenigen Methode, die es gestattet, den Traum als ein sinnhaftes Phänomen zu analysieren. Psychoanalyse geht der

vielmehr für die praktische Arbeit notwendigen wechselseitigen Beeinflussung durch die psychoanalytische Behandlung angesiedelt ist. – Die Voraussetzungen der Psychoanalyse, wie sie in diskursanalytischer Absicht aufgedeckt werden können, sind fragloser Hintergrund für Freud. Ansonsten liefert der Erfolg der Therapie genügend »Beweise« für die Stichhaltigkeit der theoretischen Annahmen (vgl. Freud 1900, 504ff.). Freud gesteht sogar die Unbeweisbarkeit in streng wissenschaftlicher Hinsicht ein. 446. Damit ist keine Abschwächung dieser Behauptung gemeint, denn dafür wäre anzugeben, in welchem Verhältnis sie schwächer als andere mögliche Behauptungen über die ›Natur des Traums‹ ist. Hier geht es aber darum, den möglichen Status der Aussagen zum grundsätzlichen Charakter der Träume und des Träumens zu klären. Die Determination des Psychischen zu einem Postulat zu erklären, heißt nicht, den empirischen Anspruch auf Aufklärung des Traumgeschehens zu vermindern, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit von theoretischen Annahmen zu artikulieren, die nicht aus den empirischen Erscheinungen selbst zu gewinnen sind, ohne die jedoch der Anspruch auf Deutung kaum zu halten wäre. Mit der Annahme des Determinismus im Psychischen ist nicht die Behauptung verbunden, für alle Fälle eine Deutung tatsächlich geben zu können. 447. Freud 1900, 580. 448. Freud 1900, 578. 449. Freud 1900, 505. 258

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damit verbundenen erkenntnistheoretischen Problematik aus dem Wege – und umgeht sie dadurch zugleich.450 Die Berechtigung für dieses Ausweichmanöver zieht Freud allein aus der praktischen Erfahrung in der analytischen Arbeit: Das Verfahren funktioniert, und die Ergebnisse der Assoziationsmethode lassen sich so verstehen, wie Freud es vorschlägt.451 Einer weiteren theoretischen Rechtfertigung bedarf die psychoanalytische Methode nicht unbedingt, denn als Praxis funktioniert sie auch ohne diese. Freud kann darauf verweisen, daß die psychoanalytische Kur Wirkungen erzielt, auch wenn die Beteiligten – sowohl der Analysant wie auch der Analytiker – nicht immer zu sagen vermögen, warum und wieso.452 Die nachträglichen Konzeptualisierungen können nicht mehr als Plausibilität beanspruchen, sie sind keiner direkten empirisch-experimentellen Überprüfung fähig, aber gleichwohl jederzeit durch andere theoretische Annahmen ersetzbar, die eine differenziertere oder umfassendere Theoriebildung ermöglichen.

Assoziationszusammenhang und Sprachlichkeit des Psychischen Freuds zugrundegelegtes Postulat für die Deutung der Traumerscheinungen lautet sinngemäß: Der Assoziationsvorgang ist noch von woanders her determiniert – auch wenn man nicht immer und im einzelnen zu sagen vermag, worin diese Determination besteht. Entgegen vorschnellen Schlußfolgerungen, gewisse Indizien, wie sie ein Traum, ein Symptom, ein Fehlleistung geben, würden auf eine grundlegende »psychische Zerrüttung« hinweisen, stellt Freud fest: »Die Psychiater haben hier viel zu früh auf die Festigkeit des psychischen Gefüges verzichtet.«453 Jedoch gesteht Freud ausdrücklich zu, daß nicht alle Träume einem solchen Anspruch auf »Deutung« sich fügen454: »In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht

450. Ebd. 451. Damit sind andere Deutungs- und Erklärungsmöglichkeiten noch nicht vollkommen ausgeschlossen: Freuds Anspruch ist es nicht, zu beweisen, was nicht bewiesen werden kann: daß es keine anderen Möglichkeiten zur Deutung und Erklärung der Traumphänomene gibt als die seine. Aber sein starker Anspruch zielt darauf, daß die von ihm gegebenen Deutungen und theoretischen Modelle des Traumgeschehens stimmig seien, die besten zur Verfügung stehenden Gründe für sich beanspruchen können und nur dann aus dem Horizont einer wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen werden sollten, wenn man sie mit guten Argumenten zu widerlegen vermag. 452. Das berühmte »Junktim von Heilen und Forschen« weist allerdings darauf hin, daß eine bessere Handhabung der Psychoanalyse, eine eventuelle Beseitigung von Fehleinschätzungen nur über den Umweg der Theoriebildung zu erreichen ist. Ein wirklicher Fortschritt in der Theorie geht oft mit der Einsicht in eine analytische Konstellation einher. 453. Freud 1900, 506. 454. Freud 1900, 502. 259

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entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. […] Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.«455 Somit wird also eine Einsicht in die Struktur des Bewußtseins (so wie sie in den Studien über Hysterie schon formuliert worden war), daß es sich nämlich als ein Assoziationszusammenhang darstellt, konsequent dem Anspruch nach auch für das Unbewußte in Anwendung gebracht, wodurch der Unterschied erst in aller Schärfe hervortritt, daß letzteres nicht frei zugänglich ist – für das Bewußtsein – und sich nach eigenen Prinzipien konstituiert und organisiert (die andere als die des sich der Rationalität unterstellenden Bewußtseins sind). Für alles Psychische beansprucht Freud, daß es sich nur als Zusammenhang darstellt, und zwar als einer von psychischen Vorgängen und ihren Produktionen, was nichts anderes meint, als daß Assoziation grundlegend ist. Das grundlegend Prozessuale und Transitorische des Psychischen läßt dann die Frage aufkommen, die sich aller Medialität stellt: Wie kann ein System/Medium, welches grundlegend von Wandel, Veränderung, Formbarkeit, Durchlässigkeit, Vermittlung gekennzeichnet ist, überhaupt Formbildung über den Moment hinaus stabilisieren bzw. über längere Zeiträume hinweg verstetigen? So wenig gegenwärtige Wahrnehmungen ohne einen Zusammenhang des (psychischen) (Er-)Lebens, also ohne einen Bezug zu anderen Elementen des Psychischen (Vorstellungen, Gefühle etc.) gemacht werden, so wenig können auch Erinnerungen ohne einen innerpsychischen Zusammenhang gedacht werden. Dieser Zusammenhang ist es, der über den Moment hinaus Verknüpfungen beibehält, auch wenn er ständig durch neue Erfahrung, neue Reize oder Informationen, sich wandelnde Gefühlslagen usw., verändert wird: »Es ist bekannt, daß wir von den Wahrnehmungen, die auf System W [=Wahrnehmung] einwirken, noch etwas anderes als bleibend bewahren als den Inhalt derselben. Unsere Wahrnehmungen erweisen sich auch als im Gedächtnis miteinander verknüpft, und zwar vor allem nach ihrem einstigen Zusammentreffen in der Gleichzeitigkeit. Wir heißen das die Tatsache der Assoziation.«456

455. Freud 1900, 503. 456. Freud 1900, 515. In diesem ›assoziativen‹ Zusammenhang spielen die unterschiedlichen Gefühlslagen eine wichtige Rolle beim Fortgang der Assoziation und besonders die ungebundenen libidinösen Kräfte, welche selbst nicht mehr als ein bestimmtes Gefühl vom Subjekt identifiziert werden können, greifen als Angst steuernd in den Assoziationsverlauf ein, indem Gegenmaßnahmen gegen die ›freie Assoziation‹, also Widerstände, provoziert werden: »Erinnerungs- und Vergessensmodi fungieren als Abwehrmaßnahmen gegen Angst.« (Kvale 1978, 254) 260

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Freud siedelt die psychischen Ereignisse in einem Rahmen an, der von der Tradition als Seele bezeichnet worden ist, in der Psychoanalyse jedoch als psychischer Apparat figuriert (vgl. Kap. 4.1). Alle psychischen Vorgänge, deren grundsätzliche Relationalität Freud schon aus seiner analytischen Arbeit abgeleitet hatte, werden in dieser Rahmenkonzeption des psychischen Apparats angesiedelt und so miteinander in einen Zusammenhang gebracht. Das Phänomen der Assoziation und die ihm zugrundegelegten Vorgänge setzen also Zusammenhänge voraus, die Freud als Teile des psychischen Apparats, nämlich als psychische Systeme bezeichnet, welche bestimmte Funktionen für den gesamten Apparat übernehmen. Konkreter spricht Freud davon, daß so etwas wie das Gedächtnis mit seinen verschiedenen Erinnerungssystemen die Voraussetzung der Assoziation sei. Mit gleichem Recht kann aber auch gesagt werden, Assoziation stelle jenen Zusammenhang erst her, den wir als Gedächtnis zu bezeichnen pflegen: »Wir müssen also als die Grundlage der Assoziation vielmehr die Erinnerungssysteme annehmen. Die Tatsache der Assoziation besteht dann darin, daß, infolge von Widerstandsverringerungen und Bahnungen von einem der Er-Elemente die Erregung sich eher nach einem zweiten als nach einem dritten Er-Element fortpflanzt.«457 Aus dieser zirkulären Struktur der wechselseitigen Voraussetzung von Assoziation und Gedächtnis, von Verknüpfung(sprozeß) und »Fixierung«458, läßt sich nur schlußfolgern, daß es sich um eine systematische Gleichursprünglichkeit handelt: So wie jede elementare Merkfähigkeit schon ein Minimum an Bestimmtheit voraussetzt, das sich nur aus der Relationalität der psychischen Elemente untereinander ableiten läßt, so setzt jede Assoziation schon ein Minimum an Verstetigung voraus, welche allein ein Gedächtnis bzw. ein Erinnerungsvermögen zu leisten vermag. Das Festhalten der Erinnerungen erfolgt gestuft je nach bestimmten Aspekten in verschiedenen Er-Systemen: »Das erste dieser Er-Systeme wird jedenfalls die Fixierung der Assoziation durch Gleichzeitigkeit enthalten, in den weiter entfernt liegenden wird dasselbe Erregungsmaterial

457. Freud 1900, 515. Die Verwandtschaft mit dem von Freud nicht zur Veröffentlichung gegebenen Entwurf einer Psychologie (so der Titel der Herausgeber) von 1895 zeigt sich an den aus der Physiologie entlehnten Termini ›Spur‹ und ›Bahnung‹. Die Traumdeutung läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß es sich um bloße Analogien handelt und daß sie als ein rein psychologisches Modell konzipiert wurde. In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1916/17 verzichtet Freud gänzlich auf neurophysiologische Spekulationen und kommt bei seiner Darstellung der Traumdeutung ohne dieses »Fundament« aus. Im seinen kunst- und kulturtheoretischen Schriften kann man dann den anderen Sinn deutlich erkennen, den Freud den »Erregungsspuren« bei der Analyse des »Moses des Michelangelo« abgewinnt (vgl. hierzu Weigel 2003). 458. StA II, 515. 261

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

nach anderen Arten des Zusammentreffens angeordnet sein, so daß etwa Beziehungen der Ähnlichkeit u. a. durch diese späteren Systeme dargestellt würden. Es wäre natürlich müßig, die psychische Bedeutung eines solchen Systems in Worten angeben zu wollen. Die Charakteristik desselben läge in der Innigkeit seiner Beziehungen zu Elementen des Erinnerungsrohmaterials, d. h., wenn wir auf eine tiefergreifende Theorie hinweisen wollen, in den Abstufungen des Leitungswiderstandes nach diesen Elementen hin.« 459 Dieses Gedächtnis-Modell – das sei an dieser Stelle nur kurz erinnert – greift wesentliche Merkmale der in den Studien über Hysterie entwickelten dreifachen Schichtung des psychischen Materials auf (vgl. Kap. 3.2). Neben dem (Zurück-) Behalten von Spuren und deren Anordnung nach Gleichzeitigkeit, Ähnlichkeit u. dgl. wird der dynamische Charakter des Gedächtnisses ausdrücklich betont. 460 Der grundsätzliche Aufbau des psychischen Apparats folgt jedoch dem einfachen Modell vom Reflexbogen, wie ihn die Biologie und Physiologie zur Zeit Freuds entwerfen: »Alle unsere psychische Tätigkeit geht von (inneren und äußeren) Reizen aus und endigt in Innervationen. Somit schreiben wir dem Apparat ein sensibles und ein motorisches Ende zu; an dem sensiblen Ende befindet sich ein System, welches die Wahrnehmung empfängt, am motorischen Ende ein anderes, welches die Schleusen der Motilität eröffnet. Der psychische Vorgang verläuft im allgemeinen vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende. […] Das ist aber nur die Erfüllung der uns längst vertrauten Forderung, der psychische Apparat müsse gebaut sein wie ein Reflexapparat. Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung.«461 Im Aufbau des psychischen Apparats siedeln sich, ausgehend vom sensiblen Ende, die Er-Systeme – mit geringer werdendem Assoziationswiderstand der Erinnerungselemente untereinander – der Reihe nach näher zum System Ubw hin an.

459. Freud 1900, 515f. Auch hier sieht man wieder, was auch den Entwurf einer Psychologie kennzeichnete, daß die rein psychologische Redeweise von Ausdruckweisen aus der Physiologie bzw. Neurologie flankiert wird, wobei Freud in der Traumdeutung durchgängig auf den bloßen Vergleichscharakter, auf die Analogie zu einem anderen Modell hinweist. Der Vergleichspunkt ist hier, daß die neurologische Rede vom Leitungswiderstand auf die psychologische vom Assoziationswiderstand verweist, ohne daß genauere Angaben zur Art der Beziehung zwischen diesen beiden (Ebenen von) Phänomenen gemacht würden. 460. Vgl. a. Kebeck 1982, 68ff. und Rapaport 1971. 461. Freud 1900, 514. 262

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Entnommen aus: Die Traumdeutung, Fig. 3462

Das Unbewußte selbst ist ja gekennzeichnet durch einen relativ ungehemmten Assoziationsvorgang.463 Dieser kann sich geltend machen, wenn der Assoziant auf seine bewußten Zielvorstellungen verzichtet: »Als ein untrügliches Zeichen der von Zielvorstellungen freien Assoziation hat man es betrachtet, wenn die auftauchenden Vorstellungen (oder Bilder) untereinander durch die Bande der sogenannten oberflächlichen Assoziation verknüpft erscheinen, also durch Assonanz, Wortzweideutigkeit, zeitliches Zusammentreffen ohne innere Sinnbeziehung, durch alle die Assoziationen, die wir im Witz und beim Wortspiel zu verwerten uns gestatten. [...] Jedesmal, wenn ein psychisches Element mit einem anderen durch eine anstößige und oberflächliche Assoziation verbunden ist, existiert auch eine korrekte und tiefergehende Verknüpfung zwischen den beiden, welche dem Widerstande der Zensur unterliegt. Druck der Zensur, nicht Aufhebung der Zielvorstellungen ist die richtige Begründung für das Vorherrschen der oberflächlichen Assoziationen. Die oberflächlichen Assoziationen ersetzen in der Darstellung die tiefen, wenn die Zensur diese normalen Verbindungswege ungangbar macht.«464 Die von Freud konzipierten psychischen Vorgänge der Assoziation stellen sich dar als komplexes Ineinandergreifen von zwei nach unterschiedlichen Prinzipien arbeitenden Systemen.465 Das Unbewußte wird wesentlich vom Primärprozeß beherrscht, während das jetzt genauer als Vorbewußtes bezeichnete dritte System (neben dem Bewußtsein) im Verhältnis der Hemmung dazu steht. Unbewußtes ist als solches bewußtseinsunfähig, und nur seine Abkömmlinge dringen entstellt durch und über das Vorbewußte zum Bewußtsein vor. Hierzu bedarf es allerdings

462. Freud 1900, 517. 463. Vgl. Freud 1900, 567. 464. Freud 1900, 507f. 465. Assoziationsprozesse sind ja das Medium einer Erinnerung, die nicht direkt ihr Ziel zu erreichen vermag. Das Gedächtnis erschließt sich also über die Umwege der freien Assoziation. Und die Widerstände gegen die Wiederkehr einer Erinnerung sind Assoziationssperren, sind blockierte assoziative Verbindungen. 263

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einer gewissen Umformung der »freibeweglichen Besetzungen«, der ungehemmten Assoziation in einen Zustand größerer Bindung und geringerer Affektivität. Freud ordnet diese Aufgabe der Sprache zu466, die für ihn zugleich die Zäsur zwischen Mensch und Tier begründet.467 Sprache stellt eben diese »neue Regulierung« dar, welche in die Mechanismen des psychischen Apparats unter Vorherrschaft des Lustprinzips beim Menschen eine »neue Qualitätenreihe«468 einführt. Die Sprache und ihre grammatische Ordnung gehören wesentlich zum Sekundärprozeß. In ihrem regelgeleiteten Sprechen kann sich der Primärprozeß nur indirekt als Störung – etwa als Versprecher – bemerkbar machen. Man sieht hier deutlich, daß Freuds Verwendung des Sprach-Begriffs auf die umgangssprachliche Bedeutung dieses Terminus zielt, nämlich auf die satzförmige, mit Wörtern artikulierte Äußerung, mit deren Hilfe Gegenstände und Sachverhalte bezeichnet, innere Zustände wie Meinungen, Gefühle, Wünsche und Absichten ausgedrückt oder soziale Beziehungen gestiftet, unterbunden und verändert werden. Im Vordergrund scheint jedoch zunächst die Orientierung am repräsentationistischen und instrumentalistischen Verständnis der Sprache zu stehen: Die Sprache wird als Mittel der Benennung, des Ausdrucks, der Verhandlung und Kommunikation gesehen.469 Andererseits ist die von Freud im RebusGleichnis gegebene Erläuterung des Unbewußten als eine »andere Sprache« der Versuch, den Begriff der Sprache über die alltagssprachliche Bedeutung hinaus auf das Psychische, wie es ›eigentlich‹ sei, das »Unbewußt-Seelische« auszudehnen. Damit wird der grundlegende Charakter der Sprachlichkeit des Psychischen behauptet: daß das Psychische als eine Artikulation von Elementen zu begreifen sei, dessen radikalen Transformationen sich grundsätzlich nichts Psychisches entziehen kann.470 In seiner analytischen Praxis kann man dann beobachten, daß Freud keineswegs an einem bloß instrumentellen, repräsentationistischen oder bewußtseinszentrierten Sprachverständnis orientiert ist: Seine Aufmerksamkeit für die Fehlleistungen, die sich im Sprechen kundtun, verweisen in seiner Per-

466. Vgl. Freud 1900, 547. 467. Vgl. Freud 1900, 587. Freud argumentiert hier entwicklungsgeschichtlich. Die »Not des Lebens« (vgl. 538) zwang den (hypothetisch angenommenen Zustand eines) rein primärprozeßhaften Organismus zur Hemmung, zum Umweg und damit zum Sekundärvorgang. Dieser Übergang wird von Freud mit der »Einführung« der Sprache identifiziert und macht den fundamentalen Stellenwert deutlich, den Freud ihr in einer allgemeinen Psychologie zuzubilligen gewillt war. 468. Freud 1900, 587. Die alte Regulierung bzw. Qualitätenreihe wäre wohl die durch Instinkte wie bei den Tieren. 469. Freud reiht sich hier in eine lange, abendländische Tradition ein: »Von Plato über Hegel bis zu Husserl wird die Sprache, das Wort, als etwas konzipiert, das zu einer bereits bestehenden Idee, Vorstellung, Bedeutung hinzutritt und diesem Vorgegebenen Ausdruck gibt.« (Lang 2000, 120) 470. Hieran knüpft Lacans These an, das Unbewußte sei strukturiert wie eine Sprache. 264

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

spektive gerade auf ein nicht vom Bewußtsein souverän beherrschtes Sprachgeschehen. Vielmehr artikuliert sich im Sprechen immer auch anderes und mehr, als das Subjekt zu sagen bewußt die Absicht hatte. Damit ist die fundamentale Frage nach der Artikulation des Psychischen angeschnitten, die in ihrer radikalen Form nicht das Darstellen eines schon im voraus gegebenen Psychischen meint, sondern die Herausbildung, die Erzeugung des Psychischen als einen komplexen, dynamischen und strukturierten Zusammenhang. Ebenso hat das Bw-System, das mit der Aufgabe der Wahrnehmung der Innenwelt (und vermittelt über diese auch der Außenwelt) betraut ist, Möglichkeiten, in den Regelkreislauf von Primär- und Sekundärvorgang, Lustprinzip und Realitätsprinzip, Abfuhr und Hemmung, als zusätzlicher Faktor einzugreifen: »Es ist wahrscheinlich, daß das Unlustprinzip die Verschiebungen der Besetzung zunächst automatisch regelt; aber es ist sehr wohl möglich, daß das Bewußtsein dieser Qualitäten eine zweite und feinere Regulierung hinzutut, die sich sogar der ersteren widersetzen kann und die Leistungsfähigkeit des Apparats vervollkommnet, indem sie ihn gegen seine ursprüngliche Anlage in den Stand setzt, auch was mit Unlustentbindung verknüpft ist, der Besetzung und Bearbeitung zu unterziehen. Aus der Neurosenpsychologie erfährt man, daß diesen Regulierungen durch die Qualitätserregung der Sinnesorgane eine große Rolle bei der Funktionstätigkeit des Apparats zugedacht ist. Die automatische Herrschaft des primären Unlustprinzips und die damit verbundene Einschränkung der Leistungsfähigkeit wird durch die sensiblen Regulierungen, die selbst wieder Automatismen sind, gebrochen.«471 Legt man das hier vorgestellte Modell der Psyche zugrunde, so zeigt sich der Assoziationsverlauf von einem vielschichtigen, gegliederten Apparat ineinandergreifender Einzelfunktionen (bzw. Teilsystemen) determiniert: Unbewußtes – Vorbewußtes – Bewußtes; Primär- und Sekundärvorgang bzw. Lustprinzip und Realitätsprinzip; direkte Abfuhr und Zensur/Hemmung; verdrängte Vorstellungskomplexe und Wortsprache – alles hat Anteil am assoziativen Geschehen. Erst eine Berücksichtigung aller Teilaspekte würde das Phänomen der Assoziation metapsychologisch hinreichend beleuchten.472

3.3.3 Das Subjekt des Wunsches als Subjekt der Sprache Die Bewegung des Wunsches Mit dem Konzept des Wunsches verläßt Freud den Bannkreis rein biologistischer Ansätze, die, indem sie ganz auf physische und organische Ursachen, auf Bedürfnisse und Instinkte setzten, das Psychische entweder als bloßen Schein und Täuschung ganz zu eliminieren trachten oder das psychische Geschehen bruch-

471. Freud 1900, 584. 472. Freud nennt die drei Gesichtspunkte für eine metapsychologische Erörterung eines psychologischen Phänomens Topik, Dynamik und Ökonomie (vgl. Freud 1915b). 265

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und nahtlos auf die physischen Bedingungen und Gesetze des Organismus zurückzuführen bestrebt sind. Mit der Einführung des Begriffs des Wunsches im Psychischen kommt auch dem Gedächtnis eine wichtige Rolle zu, da dieses in besonderer Weise darüber Auskunft zu geben vermag, wo der Ursprung des dem Traum zugrundeliegenden Wunsches zu suchen ist. Der Wunsch folgt einer Erinnerung, die, nicht realisierbar, durch Handeln bzw. durch Veränderung der Wirklichkeit in eine vollkommene gegenwärtige Erfüllung umgewandelt werden kann. Die Unzerstörbarkeit des Wunsches bildet den unerschöpflichen Motor des psychischen Apparats – was jedoch nichts anderes bedeutet, als daß der psychische Apparat vom Wunsch durchdrungen ist und umgekehrt der Wunsch sich nicht ohne den psychischen Apparat entfalten kann. Die Unzerstörbarkeit ist beschränkt auf die Existenz des psychischen Apparats: Solange es diesen gibt, ist es ein Apparat des Wunsches. Mit dem psychischen Apparat vergeht auch der Wunsch, er kann keine unabhängige Existenz jenseits des psychischen Apparats beanspruchen.473 Hatte Freud sich schon gegen eine somatische Verursachung des Traums, die sogenannte Leibreiz-Theorie474 ausgesprochen, weil sie nicht in der Lage ist zu erklären, wieso auf bestimmte Organreize die Darstellungsweise des Traums in so unterschiedlicher, aber gleichwohl durch Analyse interpretierbarer Weise reagieren kann; hatte er es theoretisch wie praktisch für unmöglich erklärt, die komplexen psychischen Leistungen (wie z. B. den Traum) neurophysiologisch-anatomisch zu lokalisieren und war somit gezwungen, seinen postulierten psychischen Apparat mit Fechners Formulierung475 – jedenfalls teilweise – »an einen anderen Schauplatz« zu verlegen, so setzt Freud entsprechend diesem Übergang von einer physiologisch-neurologischen Theorie zu einer psychologischen anstelle des organischen (bzw. organnahen) Terminus des Triebs den psychischen des Wunsches.476 In der Mehrzahl seiner Traumanalysen hatte sich die Hypothese erweisen

473. Wünsche können natürlich sprachlich zum Ausdruck gebracht werden und so in die Sphäre der Intersubjektivität und Kommunikation eingeführt werden – aber nur als Repräsentation eines Wunsches. 474. Freud verweist auf Wundt und Strümpell (Freud 1900, 106 u. 228ff.). 475. Freud 1900, 512. 476. Bekanntlich hält Freud am Begriff des Triebes fest (vgl. Freud 1915b), aber als einem problematischen Grenzbegriff, der nur als »Repräsentation der Repräsentation«, als Stellvertreter des Somatischen im Psychischen, als unbewußte Vorstellung zur Geltung zu kommen vermag. Deshalb kann man zwar einerseits sagen, Freud vollziehe mit der Traumdeutung einen Übergang von der Physiologie zur Psychologie, denn er verzichtet auf anatomische Lokalisierung und physiologische Erklärung des Träumens, aber andererseits hält er an der Forderung fest, das Psychische als natürliches Phänomen in den Gesamtzusammenhang der (menschlichen) Natur einzuordnen und in der Zukunft eine physische, medizinisch-biologisch-chemische Erklärung für die Vielfalt der psychischen Erscheinungen zu erwarten. 266

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lassen, daß der Traum eine Wunscherfüllung darzustellen bestrebt ist: »Der Traum ist ein vollwichtiger psychischer Akt; seine Triebkraft ist alle Male ein zu erfüllender Wunsch«.477 Das wesentliche Merkmal der durch die Assoziationsmethode erstellten Traumgedanken besteht nicht darin, daß »die Worte, die sich so zusammenfinden […] den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben«478 können, sondern daß »der allgemeinste und auffälligste psychologische Charakter des Träumens« sich durch Psychoanalyse folgendermaßen darstellt: »ein Gedanke, in der Regel der gewünschte, wird im Traume objektiviert, als Szene dargestellt oder, wie wir meinen, erlebt.«479 Die Traumdeutung zeigt »als das eine Motiv des Träumers den Wunsch«480. Zwar wird dem im Traum vorkommenden Material (entstammend dem Vorbewußten, den verfügbaren Erinnerungen und dem rezenten Material der Tagesreste) aus dem Unbewußten die Triebkraft beigestellt,481 doch muß auf der Differenz zu jeglichem biologistischen Modell insistiert werden, denn das Freudsche Unbewußte ist nicht das Organische: »Die Psychoanalyse verlangt von uns, daß wir uns von recht vielen noch fortbestehenden Vorurteilen frei machen, gemeint [ist] in unserem Zusammenhang vor allem […] die Gewohnheit, Wunschspannungen nach dem Modell von Bedürfnisregungen zu betrachten, genauer: nach dem Modell von Bedürfnissen, die auf den Erwerb eines Objektes gerichtet sind, das in der Lage wäre, sie zu befriedigen. Nichts dergleichen meint die Psychoanalyse.«482 Der Wunsch ist nicht einfach ein anderer Ausdruck für ein körperliches Bedürfnis oder eine instinktive Tendenz, denen ein Objekt der Befriedigung bzw. ein durch eine spezifische Aktion zu erreichendes Ziel quasi natürlich eingeschrieben ist. Anstelle der Instinktregulierung des Verhaltens bei Tieren tritt also ein komplexer, immer schon unbewußten Wirkungen ausgesetzter Assoziationsmechanismus und dessen zusätzliche Determinierung durch Sprache und Bewußtsein. Somatische Bedürfnisse wie Hunger und Durst, die Menschen mit Tieren teilen, werden im Psychischen als Reizspannung repräsentiert, die sich durch eine Befriedigung am Objekt jeweils von neuem aufheben läßt. Gleichursprünglich und begleitend zur Bedürfnisbefriedigung – und immer erneut angeregt durch einen wiederholt auftretenden Reiz – stellt sich im Psychischen ein ›Bild‹, eine Wahr-

477. Freud 1900, 510. Freud modifiziert verschiedentlich seine These, so daß der Traum letztlich als Kompromißbildung zwischen Wunscherfüllung und Zensur, zwischen direkter, halluzinatorischer Rückkehr des Befriedigungserlebnisses unter Leitung des Lustprinzips und der entstellenden Hemmung des Realitätsprinzips erscheint. 478. Freud 1900, 281. 479. Freud 1900, 511. 480. Freud 1900, 510. 481. Freud 1900, 517, 534, 581. 482. Leclaire 1968, 47. Vgl. auch den Hinweis auf Freuds Sexualtheorie, die den Triebbegriff reformuliert und vom »Instinkt« ablöst (Leclaire 1968, 44, und Mannoni 1968, 89). 267

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nehmung der Situation ein. Zunächst sind also das Objekt und das Befriedigungserlebnis in für das Subjekt ununterscheidbarer Weise miteinander assoziiert. Freud entwirft für diesen Zusammenhang ein archetypisches Denkmodell, über dessen hypothetischen Charakter er sich vollkommen im Klaren ist, auch wenn es an eine reale Situation, die erste Nahrungsaufnahme, anknüpft. Die infantile Bedürfnisbefriedigung ist auf »fremde Hilfeleistung« angewiesen, um jene »Erfahrung des Befriedigungserlebnisses« überhaupt machen zu können, »das den inneren Reiz aufhebt«: »Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der Nahrung im Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung, und die volle Besetzung der Wahrnehmung von der Bedürfniserregung her der kürzeste Weg zur Wunscherfüllung. Es hindert uns nichts, einen primitiven Zustand des psychischen Apparats anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen wird, das Wünschen also in ein Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist. Eine bittere Lebenserfahrung muß diese primitive Denktätigkeit zu einer zweckmäßigeren, sekundären modifiziert haben.«483 Der Wunsch zielt auf Wahrnehmungsidentität, nicht nur auf ein Objekt, ist doch »ein auf seine innerste Essentialität reduzierter Wunsch eine Bewegung, die weiter geht, darüber hinaus, ein Wunsch, fast schon enthoben der Faszination durch das Objekt.«484 Was Freud zur »Würdigung des Wunsches als einziger psychischer Triebkraft für den Traum«485 veranlaßt, kann ohne weiteres auf sämtliche psychischen Assoziationsvorgänge übertragen werden486: Die eigentliche Motivation der

483. Freud 1900, 539 sowie 568. Freud bezeichnet diese Konstruktion ausdrücklich als theoretische Fiktion: »Ein psychischer Apparat, der nur den Primärvorgang besäße, existiert zwar unseres Wissens nicht und ist in soferne eine theoretische Fiktion« (572). 484. Leclaire 1968, 43. 485. Freud 1900, 541. 486. Mannoni hebt die paradigmatische Bedeutung der Traumtheorie hervor: »Wenn man sagt, der Traum sei ein Modell, so bedeutet dies, daß die Erklärung des Traums als Paradigma für die Erklärung von Symptomen dient. Aber vielleicht wird damit auch eine andere Idee schon angedeutet: Der Traum selbst ist ein Modell der Halluzination, des Wahnes, so wie die Trauer das ›Modell‹ der Melancholie ist« (Mannoni 1968, 56f.). Der Wunsch betrifft alle möglichen psychischen Vorgänge und Bildungen, und 268

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Assoziation entspringt einem Wunsch, der zumeist unbewußt bleibt. Wunsch ist eine Repräsentanz487 im Psychischen und ein psychologischer Terminus, der anstelle des organischen Reizes die dynamische Eigenschaft des psychischen Geschehens, dessen Antrieb, zum Ausdruck bringt.488 Diese Repräsentanz des Triebes, welche der Wunsch bildet, fungiert als Motor des Psychischen und bezeichnet im Grunde nichts anderes als das Spannungsverhältnis zwischen dem aktuellen Zustand des psychischen Apparats und seinen Erinnerungsbildern, die – jedenfalls für einen primitiven psychischen Apparat – ihrerseits einen Zustand der Befriedigung repräsentieren. Der Charakter des Wunsches ist die Wiederholung, die zugleich als Verschiebung489 gedacht werden muß, da weder einfach halluziniert werden kann, um eine Wahrnehmungsidentität herzustellen (der Reiz des Bedürfnisses bliebe bestehen und würde stören), noch die ›ursprüngliche‹ Situation je wieder dieselbe sein könnte. Denn weder ist im strengen Sinne dasselbe Objekt bzw. das Objekt als dasselbe zu haben – weswegen die Nahrung ein gutes Beispiel abgibt, da sie ja vernichtet wird490 –, noch ist das Subjekt des Wunsches dasselbe, denn es altert, verändert sich und mit ihm die Erinnerung. Das Paradox der Wiederholung besteht darin, daß eine Erinnerung (wieder-)erlebt werden soll, die als aktuell erlebte Wahrnehmung nicht Erinnerung sein kann und als Erinnerung der Aktualität, Intensität und Wirklichkeit des Erlebens entbehrt. Die Assoziation der Gleichzeitigkeit, die das Befriedigungserlebnis konstituiert und es als solches Beieinander in eines der Er-Systeme einschreibt, und die Assoziation des zeitlichen Nacheinander, welche das Gedächtnis als Erinnerbares (d. h. mit dem zeitlichen Differenzbewußtsein, daß dauerte vergangen ist) hervorbringt,

Traum und Träumen sind nur das hervorragende Beispiel, an dem Freud diese Grundtendenz zuerst in aller Ausführlichkeit nachweist. 487. Vgl. in Das Unbewußte, wo Freud von der Repräsentanz einer Repräsentanz spricht, einer doppelten Übersetzung des Triebes vom Somatischen ins Psychische (Freud 1915b). 488. »[…] den Wunsch als Motor des ganzen psychischen Apparates zu sehen, nimmt insgeheim den Platz ein, den vorher noch neurologisch beeinflußte Konstruktionen innehatten«, die Freud nur an zweiter Stelle nennt (Mannoni 1968, 57). Die Theorie der Sexualität gelangt an die Stelle einer physiologischen Untermauerung. Mannoni (Mannoni 1968, 86ff.) spricht von zwei Pfeilern der Psychoanalyse: der Welt des Wunsches und der Phantasie einerseits, der Sexualität und der Triebe andererseits. 489. Hier ist nicht nur der innerpsychische Mechanismus, ein terminus technicus (zur Deutung) der Psychologie der Traumvorgänge gemeint, sondern ein eher philosophischer Terminus, wie ihn in Anschluß an Nietzsches, Heideggers und Freuds Denken insbesondere Jacques Derrida auszuformulieren versucht hat (vgl. Derrida 1968). 490. Der Grundsatz der Soziologie der Mahlzeit bei Georg Simmel lautet bekanntlich: »was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen.« (Simmel 1910, 140) 269

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fallen auseinander. In diesem Spalt entfaltet sich der Wunsch und hebt sich von Moment zu Moment auf, ohne die ›Erinnerung‹ je einzuholen. Der Wunsch verschiebt sich von diesem Objekt zu jenem Objekt und bleibt dennoch an die Erinnerung einer Wahrnehmungsidentität gebunden, ohne die Trennung vom Objekt der Erinnerung je beseitigen zu können. »An dieser Stelle kann man daran erinnern, daß Freud zur Definition der Bewegung, die er Wunsch nennt, sich auf das Erinnerungsbild einer Wahrnehmung beruft, welches im Falle einer Besetzung, durch die die Wahrnehmung reaktualisiert würde, eine Verwirklichung des Wunsches konstituierte. Zum Beispiel würde im Dienste der durch die Aktualisierung eines fundamentalen Bedürfnisses wie des Durstes hervorgerufenen Erregung schon die wiederbesetzte Erinnerung an den Akt des Trinkens, das den Durst stillt, die Wahrnehmung von Milch oder Wasser wieder wachrufen und so die Wunscherfüllung ausmachen. Offensichtlich ist also das Objekt, das den Wunsch auslöst, grundsätzlich von dem Objekt zu unterscheiden, das für die Bedürfnisbefriedigung sorgt. Während man sich dieses vorstellen kann nach dem Modell, daß Salz die Chlorversorgung für einen an Wassermangel leidenden Organismus sicherstellt oder Zucker das hypoglykämische Koma beendigt, muß das Wunschobjekt völlig anders betrachtet werden. […] Wie die Freudlektüre zeigen konnte, ist noch genereller ein jedes Objekt, das diese Wunsch genannte Bewegung hervorruft, halluziniertes Objekt oder genauer Besetzung oder Wiederbesetzung eines ›Erinnerungsbildes‹. Im Grunde übernimmt also ein recht paradoxaler Ausdruck, ein halluzinierter Gegenstand, die Anregungsfunktion des Wünschens.« 491 Gleichzeitigkeit und Nacheinander hängen aber auch miteinander zusammen: Jedes Zusammentreffen in der Gleichzeitigkeit impliziert ein mögliches Zuvor und Danach, ohne das es nicht als das Gegenwärtige vom Zukünftigen und Vergangenen unterschieden wäre; und jedes Nacheinander stellt sich nur unter einem Bezugspunkt – dem des möglichen Zusammenfallens im (unmittelbaren Erleben des) Gegenwärtigen, diesem Zugleich-des-Verschiedenen – als zeitlich Unterschiedenes, als ein Nichtmehr bzw. Nochnicht dar. Reine, unvermittelte Präsenz einerseits und reine, unmittelbare Abfolge andererseits sind logisch-theoretisch unvollständige, d. h. Konzepte, die in der Logik des Supplements liegen – als Effekt im Bewußtsein scheinen sie sich jedoch einzustellen.492

491. Leclaire 1968, 54f. Vgl. Freud 1900, 539, wo Freud als Extrem für die Tendenz des Wunsches die Psychosen anführt, »die ihre psychische Leistung in der Festhaltung des gewünschten Objekts erschöpfen.« 492. Vgl. hierzu Derrida 1967a, l. Teil der Grammatologie. Dort besonders seine Auseinandersetzung mit Husserl und Freud, 114ff. – Dies kann als weiterer Beleg dafür gelten, daß sich Bewußtsein durch Ausblenden und Absehen von für es konstitutiven Bedingungen und Zusammenhängen auszeichnet (vgl. Kap. 2.1). 270

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Das Unbewusste und der Wunsch Der Psychoanalytiker hat erfahren, »daß der Bewußtseinseffekt nur eine entfernte psychische Wirkung des unbewußten Vorgangs ist«493 – und das impliziert umgekehrt, daß man nur »durch einen Schlußprozeß vom Bewußtseinseffekt zum unbewußten psychischen Vorgang vorzudringen«494 in der Lage ist. Wie aufgezeigt, deckt die Psychoanalyse mit Hilfe der Assoziationsmethode unbewußte Assoziationszusammenhänge auf. Deren Vorhandensein im Psychischen schreibt die Psychoanalyse einem Vorgang zu, der (schon von der Tradition) als Assoziation bezeichnet worden ist und jeweils erst nachträglich ins Bewußtsein tritt: Es hat sich immer schon viel im Psychischen zugetragen, bevor etwas bewußt wird. Assoziation – dafür sprechen die von Freud ins Feld geführten Indizien und ihre theoretische Konstruktion, welche die Psychoanalyse hervorbringt – wird zum einen entsprechend den klassischen Assoziationsgesetzen der Kontiguität, des Kontrastes und der Ähnlichkeit beschrieben, andererseits muß ein direktes Aufeinanderangewiesensein von Gleichzeitigkeit und Nacheinander der Assoziationsprozesse angenommen werden. Assoziation artikuliert sich sowohl topischstrukturell wie auch dynamisch-zeitlich. Wichtigstes Merkmal der psychoanalytischen Assoziationskonzeption ist die mehrfache Determinierung, wobei die unbewußte Determination einen besonderen Stellenwert einnimmt. Erst durch ihre Version des Unbewußten wird die Originalität der Psychoanalyse der Assoziation deutlich. Hatten schon andere Autoren (z. B. der Philosoph Eduard von Hartmann495 oder auch Theodor Lipps) den Anteil des Unbewußten am Seelenleben für beträchtlich angesehen, so spricht Freud in Abgrenzung zu ihnen selbstbewußt von »unserem« Unbewußten: »Ich sage nicht ohne Absicht, in unserem Unbewußten, denn was wir so heißen, deckt sich nicht mit dem Unbewußten der Philosophen, auch nicht mit dem Unbewußten bei Lipps. Dort soll es bloß den Gegensatz zu dem Bewußten bezeichnen; daß es außer den bewußten Vorgängen auch unbewußte psychische gibt, ist die heiß bestrittene und energisch verteidigte Erkenntnis. [...] Das Neue, was uns die Analyse der psychopathologischen Bildungen und schon ihres ersten Gliedes, der Träume, gelehrt, besteht darin, daß das Unbewußte – also das Psychische – als Funktion zweier gesonderter Systeme vorkommt und schon im normalen Seelenleben so vorkommt. Es gibt also zweierlei Unbewußtes, was wir von den Psychologen noch nicht gesondert finden. Beides ist Unbewußtes im Sinne der Psychologie; aber in unserem ist das eine, das wir Ubw heißen, auch bewußtseinsunfähig, während das andere, Vbw, von uns darum so genannt wird, weil dessen Erregungen, zwar auch nach Einhaltung gewisser Regeln, vielleicht erst un-

493. Freud 1900, 580. 494. Ebd. 495. Freud 1900, 506 Fn. 271

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ter Überstehung einer neuen Zensur, aber doch ohne Rücksicht auf das Ubw-System zum Bewußtsein gelangen können.«496 Gegen die romantische Vorstellung vom »Ungebändigten und Unzerstörbaren in der Menschenseele, dem Dämonischen«497 setzt Freud also den systemisch-systematischen Charakter des Unbewußten, der, wie nachfolgend zu sehen, sich im wesentlichen als sprachlicher erweist. Das Unbewußte legt jedoch den Charakter des ersteren nicht vollkommen ab, sondern gewinnt den zweiten hinzu. Dies stellt für Freud keinen Widersinn dar, denn »da ergibt sich ein neues Problem nur so lange, als man den Traum wie eine fremde Macht anderen vertrauteren Seelenkräften gegenüberstellt, nicht mehr, wenn man den Traum als eine Form des Ausdrucks für Regungen betrachtet, auf denen bei Tage ein Widerstand lastete und die sich bei Nacht Verstärkung aus tiefliegenden Erregungsquellen holen konnten.«498 Das Freudsche »Unbewußte« läßt sich, sofern es überhaupt beschreibbar ist, in zweierlei Hinsichten betrachten: Zum einen kommt sein systemischer Charakter in Betracht, zum anderen das Material, welches sich ›in‹ jenem befindet. Als System, genauer: als ein Teilsystem des psychischen Apparats ist das Unbewußte vom Vorbewußten und vom Bewußtsein durch seine Strukturierung und seine Arbeitsweise, durch die Haupttendenz, der es folgt, und die Funktion, die es erfüllt, klar zu unterscheiden, während das psychische Material durchaus über die Grenzen hinweg vom einen System in ein anderes überwechseln kann. Die Beziehung, welche das Material zum Bewußtsein unterhält, gibt Hinweise darauf, daß zweierlei Systeme neben dem Bewußtsein unterschieden werden können (bewußtseinsfähig/nicht bewußtseinsfähig). Entsprechend müssen dann auch unterschiedliche psychische Vorgänge ›außerhalb‹ des Bewußtseins für diese Systeme postuliert werden. Die metapsychologische Beschreibung des Unbewußten

496. Freud 1900, 582. Und Freud fährt fort: »Die Tatsache, daß die Erregungen, um zum Bewußtsein zu kommen, eine unabänderliche Reihenfolge, einen Instanzenzug durchzumachen haben, der uns durch ihre Zensurveränderung verraten wurde, diente uns zur Aufstellung eines Gleichnisses aus der Räumlichkeit. Wir beschrieben die Beziehungen der beiden Systeme zueinander und zum Bewußtsein, indem wir sagten, das System Vbw stehe wie ein Schirm zwischen dem System Ubw und dem Bewußtsein. Das System Vbw sperre nicht nur den Zugang zum Bewußtsein, es beherrsche auch den Zugang zur willkürlichen Motilität und verfüge über die Aussendung einer mobilen Besetzungsenergie, von der uns ein Anteil als Aufmerksamkeit vertraut ist.« 497. Vgl. ebd. 498. Freud 1900, 581. 272

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

erfüllt sich auf den drei theoretischen Ebenen von Topik, Dynamik und Ökonomie des Psychischen.499 Jedoch muß die psychoanalytische Theoriebildung ein »Etwas« voraussetzen, das sie beschreibt und analysiert: Die Annahme eines psychischen Apparats nimmt genau jene Stelle ein, die in der Tradition von Begriffen wie Seele oder Geist besetzt war. Der anfängliche, für einen Mediziner und Neuroanatomen naheliegende Versuch, auch Psychologisches physiologisch zu fassen, wird von Freud in aller Vorläufigkeit aufgegeben, allerdings mit der generellen Hoffnung, eine kenntnisreichere Naturwissenschaft des menschlichen Lebens werde dereinst dazu in der Lage sein, die Biologie und Chemie der seelischen Vorgänge zu erklären.500 Mit der Traumdeutung gibt Freud ein psychologisches Modell des Psychischen, ohne dessen wahrscheinliche somatische Herkunft und mögliche naturwissenschaftliche Aufklärung in Abrede zu stellen. Die Verbindung des Psychischen zum Somatischen, die sich ja schon für die Ätiologie der Hysterie aufgedrängt hatte, wird Freud dann in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie explizieren.501 Gemeinsam liegt allen Schriften Freuds mindestens seit Abfassung der Traumdeutung aber die skeptische Grundhaltung zugrunde, derzufolge unbewußt Psychisches zwar angenommen werden darf, jedoch »muß man wohl sagen, daß die psychische Realität eine besondere Existenzform ist, welche mit der materiellen Realität nicht verwechselt werden soll.«502 »Rückschluß auf die Natur der psychischen Kräfte« – diese Formulierung vom Anfang der Traumdeutung erscheint nun in einem anderen Licht: Man könnte sagen, die Betonung hat sich verschoben von der ›Natur der psychischen Kräfte‹ hin zum ›Rückschluß‹. Nicht mehr ein unbedingter Wille zum Wissen, was die psychische Welt im Innersten zusammenhält, bricht sich hier ungebremst Bahn, sondern eine bescheidenere Absicht kennzeichnet Psychoanalyse. Im beständigen ›Rückschluß‹ – diesmal nicht auf das Objekt der Forschung, sondern in umgekehrter Richtung auf das Subjekt bezogen, den Forscher, sein Instrumentarium und seine Methoden – vergewissert sich Psychoanalyse ihres einen Ausgangspunkts als Wissenschaft, nämlich des Bewußtseins, dessen Beobachtungen und Erfahrungen, und seiner – stark sprachlich geprägten – Vorgehensweise, Unbewußtes zu erfassen. Und gerade diese re-

499. Der ökonomische Gesichtspunkt wird in diesem Zusammenhang nicht erläutert, obwohl er noch einiges zur Klärung der Assoziation in der Psychoanalyse beitragen könnte. Im Text wurde schon kurz auf Freuds Konzeption des Umwegs hingewiesen, der im Spätwerk noch einmal eine besondere Rolle spielen wird, nämlich in der Gegenüberstellung von Eros und Todestrieb, der »psychoanalytischen Mythologie«, wie Freud schreibt (vgl. Freud 1920). 500. Ein Gedanke, der Freuds Werk von Anfang bis Ende begleitet. Vgl. hierzu den unvollendeten Entwurf einer Psychologie (Freud 1895) und den späten Abriß der Psychoanalyse (Freud 1938). 501. Vgl. Freud 1905. 502. Freud 1900, 587. 273

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flexive Rückwendung auf die subjektiven, sprachlichen Bedingungen der psychoanalytischen Forschung führen paradoxerweise zu einer konsequenten Kritik des Bewußten: »Die Rückkehr von der Überschätzung der Bewußtseinseigenschaft wird zur unerläßlichen Vorbedingung für jede richtige Einsicht in den Hergang des Psychischen. Das Unbewußte muß nach dem Ausdrucke von Lipps als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Unbewußte ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich einschließt; alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während das Unbewußte auf dieser Stufe stehenbleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.«503 Der Wunsch ist nun jenes psychische Konzept, das eine assoziative Spannung zwischen bestimmten (nachträglich bestimmbaren, zur Analyse ins Bewußtsein zu bringenden) Elementen beschreibt, durch Analyse aber nie gänzlich zum Verschwinden gebracht werden kann. Der Wunsch ist unzerstörbar, wie es am Ende der Traumdeutung heißt, und nur durch ihn wird die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewährleistet.504 Die Unzerstörbarkeit des Wunsches wurzelt in seiner konstitutionellen Unerfüllbarkeit (im Sinne der tatsächlichen Aufhebung des Wunsches durch mögliche Erfüllung). Die Wunschdynamik selbst ist ihrer Struktur nach auf die Wiederholung verwiesen, da seine Unzerstörbarkeit/Unaufhebbarkeit dem Wunsch keinen anderen Ausweg offen läßt, als dem Wunscherfüllungsstreben weiterhin und erneut nachzugehen. Die dabei anfallende Umwegigkeit bei der Einlösung der Wunscherfüllung kann also ebenso sehr als Mangelerfahrung wie als Produktivität einer Überfülle an Möglichkeiten begriffen werden: Mangel an der einen, alles aufhebenden Erfüllung (die den Wunsch zerstören würde), Überfülle der hinzugewonnenen Möglichkeiten, auch alles mögliche andere als Ziel und Objekt für den Wunsch einzusetzen (anstelle der einen ultimativen Erlösung). Eine Verschiebung der Ziele bzw. ein Austausch der Gegenstände, auf die sich der Wunsch richtet, verbleibt somit innerhalb der grundsätzlichen Wunschspannung, der Tendenz zur Wunscherfüllung, und bedeutet gleichwohl einen ungeheuren Zugewinn an Möglichkeiten, an Freiheitsgraden. Die Flexibilität in der Gestaltung der Wünsche, gerade auch angesichts der Zensur, ist der Grund für die verwirrende Vielgestaltigkeit der Traumphänomene, die Freud als Material seiner Analysen dienen können. Gleichwohl bleibt die grundlegende Tendenz zur Wunscherfüllung das wesentliche, unaufhebbare Cha-

503. Freud 1900, 580. Vgl. den Hinweis auf Kant in Freud 1915b, 130, dazu Panahi 1980, 13f. 504. Vgl. Freud 1900, 588. 274

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rakteristikum der Dynamik des Traums, die als seine Unzerstörbarkeit am Ende der Traumdeutung figuriert. Der Wunsch überbrückt und schreibt somit die Differenz zwischen den ›Zeiten‹, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fort, die zugleich die Differenz zu seiner ›Herkunft‹, zum ›Ursprung‹ ist. Indem er sich nach dem Vorbild des Vergangenen bildet und in seinem Bestreben zugleich mögliches Zukünftiges als erfüllt darstellt505, verbindet er Erinnerung und Antizipation in einer Form der Gegenwärtigkeit, die sich radikal vom Bild der gesättigten Gegenwart des Wirklichen, der ruhigen Außenwelt und ihrer rein kontemplativen, interesselosen Wahrnehmung unterscheidet. Der Wunsch bringt das Unbewußte zur Darstellung: Als Traum gebraucht er »das Präsens in derselben Weise und mit demselben Rechte wie der Tagtraum. Das Präsens ist die Zeitform, in welcher der Wunsch als erfüllt dargestellt wird.«506 Während das Unbewußte nach Freud eigentlich den Charakter der »Zeitlosigkeit«507 hat, nimmt der Wunsch direkten Bezug auf Zeit, auf die Ekstasen der Zeitlichkeit, um das Material der Erinnerung und der Antizipation in einer unmittelbaren Gegenwärtigkeit zusammenzuführen, von der das träumende Subjekt nicht recht zu sagen wüßte, in welchem Verhältnis zur normalen, intersubjektiven Zeitordnung es sich befindet.508 Zwischen der »Zeitlosigkeit« des Unbewußten und dem Zeitordnungsbewußtsein, das das Alltagsbewußtsein normalerweise in Anspruch nimmt, um sich lebensweltlich zu orientieren, entspinnt sich der Wunsch als Traumbewußtsein einer unbeherrschbaren Gegenwärtigkeit.509 Die durch den Schlaf gegebene Suspendierung der äußeren Wahrnehmung und der sozialen, intersubjektiven Bindungen setzt das Träumen frei, um den Maßgaben der Phantasie zu folgen; sie macht den Traum jedoch auch unüberprüfbar, unabgleichbar für das träumende Bewußtsein, nicht einzuordnen in eine objektive Raum-Zeit-Ordnung.

505. »Und der Wert des Traums für die Kenntnis der Zukunft? Daran ist natürlich nicht zu denken. [Vgl. Freud 1900, 32 und Anm.] Man möchte dafür einsetzen: für die Kenntnis der Vergangenheit. Denn aus der Vergangenheit stammt der Traum in jedem Sinne. Zwar entbehrt auch der alte Glaube, daß der Traum uns die Zukunft zeigt, nicht völlig des Gehalts an Wahrheit. Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.« (Freud 1900, 588) 506. Freud 1900, 511. 507. Freud 1900, 550. 508. Was nicht erstaunt, wenn man bedenkt, was schon die Vorsokratiker behauptet haben: daß im Wachen alle an einer Welt teilhaben, im Schlaf/Traum aber jeder in seiner eigenen Welt sei (vgl. Heise 1989). 509. Das Zeitbewußtsein entspringt nicht einfach dem »primären Einfluß der Zeit auf die seelischen Erinnerungsreste«, sondern »in Wirklichkeit sekundären Veränderungen, die durch mühevolle Arbeit zustande kommen. Es ist das Vorbewußte, welches diese Arbeit leistet.« (Freud 1900, 550) 275

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Der Wunsch kommt am »Material« und seinen Umformungen zur Darstellung: Als Dargestellter läßt er sich rekonstruieren510, nämlich als Spannung von der Unlust zur Lust mittels bestimmter, an sich aber austauschbarer ›Elemente‹ (gewünschter Objekte) zu gelangen; als solcher ist er Darstellung und nichts außerdem. Darstellung bringt aber zur Geltung, was der Darstellung bedarf und ohne sie nicht in Erscheinung treten kann. Darstellung und Dargestelltes sind nicht identisch, aber verweisen aufeinander. Psychoanalyse konzipiert somit die andere Assoziation als eine Assoziation des Anderen: Nicht umsonst legt Freud später so großen Wert auf das Fort-Da-Spiel, dessen Wiederholung beim Kleinkind die Zäsur zwischen Ich und Anderem, Anwesenheit und Abwesenheit perpetuiert.511 Wenn der Wunsch sich in elementarer Weise auf ein Bild der Vergangenheit, ein Erinnerungsbild des Befriedigungserlebnisses bezieht, setzt der Wunsch zu seiner Darstellung dann doch ›Elemente‹ voraus? Zeigt sich Psychoanalyse doch dem ›Elementarismus‹ der klassischen Assoziationspsychologie verbunden? Sicher benutzt der Wunsch ›Elemente‹ zu seiner Darstellung: Freud weist wiederholt darauf hin, daß alles Mögliche zum Material des Wunsches werden kann, egal wie oberflächlich oder weitschweifig sich die assoziative Verbindung auch erweist. Was aber heißt im Zusammenhang der Bildung des Wunsches, etwas sei ›Element‹ des Wunsches? Wie gesagt, der Wunsch zielt auf eine Wahrnehmungsidentität. Die ›Elemente‹ leiten sich, quasi empiristisch, aus der Wahrnehmung her – entgegen aller intuitiven Offenbarung aus den Tiefen eines romantischen oder archetypischen Unbewußten. Diese Wahrnehmung stellt sich ursprünglich schon als gespaltene dar: Als die eine Wurzel des Wunsches ist der sinnlichen Wahrnehmung selbst schon eine – zeitlich-modale – Differenz eingeschrieben, die sich nicht aus einer konkreten, einzelnen Wahrnehmung als solcher ableiten läßt. Soll Wahrnehmung die Bildung eines Wunsches initiieren, so setzt sie schon Bedingungen für dessen Genese voraus, die allein im Subjekt anzusiedeln sind. Erst wo eine vom Subjekt ausgehende Tendenz (Bedürfnisspannung) auf ein mögliches Objekt trifft, von welchem es sich die Aufhebung der Spannung, Stillung des Bedürfnisses erhoffen kann (was es durch Ausprobieren herausfindet), kann sich der Wunsch als eine zweite Tendenz – Tendenz zur Wiederholung – dem Subjekt einschreiben. Die Wiederholung des Wunsches zielt auf Befriedigung, nicht mehr auf Bedürfnisstillung. Damit haben aber die ›Elemente‹ schon eine andere ›Bedeutung‹ angenommen: Nicht die objektivierbaren physischen Eigenschaften der Objekte, sondern das mit ihnen assoziierte Befriedigungserlebnis verleiht den Objekten

510. Z.B. metapsychologisch als eine »von der Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat« (Freud 1900, 568). 511. Vgl. Freud 1920, 224ff. Der Bezug auf den Anderen ist für das Subjekt konstitutiv, wenn es im Spiel, wie Freud es beschreibt, die abwesende geliebte Person durch die Spule ersetzt hat und sie so stellvertretend verschwinden und wiederkommen lassen kann. 276

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ihren Stellenwert für den Wunsch, und als Erinnerungsbild können sie orientierende Funktion für den Wunsch übernehmen, nicht als die physischen Gegenstände als solche. Erst indem sie Anlaß zur Bildung eines Wunschobjekts, dem Wahrnehmungsbild des Objekts, gegeben haben, können sie im vom Wunsch beherrschten Traum eine Rolle spielen.

Zur Wahrnehmung des Subjekts: Die Differenz von Auge und Blick Wie in Kap. 3.2 aufgezeigt, hatte Psychophysik die Wahrnehmung in einzelne, separat analysierbare Funktionen zerfällt, die sich auch ohne den steuernden Bezugspunkt Bewußtsein vollziehen können. Handelt es sich also bei Freuds Modell des psychischen Apparats um einen psychophysischen Empirismus ohne konstitutives Bewußtsein? Die Freudsche Konzeption legt eher ein Modell nahe, das nicht einfach Bewußtsein abschafft, sondern seine Beziehung zum »Außen« – »das Es aber ist seine andere Außenwelt«512 – einer Revision unterzieht. Das Bewußtsein, zurückgeschraubt auf die (nicht mehr ›allmächtige‹, alles andere verdeckende) Funktion »eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten«513, führt eine Differenzierung ein, die die Wahrnehmung der Sinne – in verdoppelnder Analogie – noch einmal ›wahrnimmt‹. Bewußtsein wird von Freud also als Psychisches zweiter Stufe konzipiert: Wahrnehmung der Wahrnehmung ist die Formel für das Bewußtsein seiner selbst, der Gedanken und Gefühle, welche das Subjekt hat. Diese Komplikation führt zu einer Brechung der Wahrnehmung, oder im Gleichnis ausgedrückt: »Alles, was Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung werden kann, ist virtuell, wie das durch den Gang der Lichtstrahlen gegebene Bild im Fernrohr. Die Systeme aber, die selbst nichts Psychisches sind und nie unserer psychischen Wahrnehmung zugänglich werden, sind wir berechtigt anzunehmen gleich den Linsen des Fernrohrs, die das Bild entwerfen. In der Fortsetzung dieses Gleichnisses entspreche die Zensur zwischen zwei Systemen der Strahlenbrechung beim Übergang in ein neues Medium.« 514 Hier benutzt Freud den Terminus des Mediums – obwohl im Rahmen eines technischen Gleichnisses – nicht einfach im instrumentellen Sinne: Es scheint Freud hier eher auf die Übermittlung und Übertragung des Psychischen anzukommen, auch über die Grenzen unterschiedlicher Funktionssysteme hinweg (»Strahlenbrechung beim Übergang«). Dieses Übertragungsgeschehen ist nicht unter die Oberaufsicht eines omnipräsenten Bewußtseins gestellt, welches sich des psychischen Apparats als Werkzeug zur Erfüllung seiner Absichten bedient. Vielmehr ist es selbst den Wirkungen des komplexen Zusammenhangs von psy-

512. Freud 1923, 322, u. Freud 1900, 583. 513. Freud 1900, 583. 514. Freud 1900, 579. 277

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chischen Systemen, die den gesamten psychischen Apparat bilden, ausgesetzt. Es ist selbst nur ein Teilsystem, wenn auch eines mit relativem Eigenwert, den es gegenüber den anderen Systemen ebenso zu behaupten versucht, wie diese den ihren ihm gegenüber. Wollte man ein weiteres Gleichnis bemühen, so könnte man sagen: Sinnenfällig wird die Gespaltenheit der Wahrnehmung an der Paarigkeit der Augen (oder der Ohren). Sehen und Blick lassen sich als aufeinander bezogene Funktionen von einander unterscheiden.515 Paradoxerweise zeigt sich im (optischen und physiologischen) Sehen nicht dieses selbst, sondern alles andere, was es uns zur Anschauung vermittelt. Entweder sieht man etwas und vergißt dabei, daß man sieht. Oder man denkt darüber nach, daß man sieht, sieht dann aber nicht, was man sieht. Das Loch, durch welches das Sehen als optischer Vorgang hindurch muß, also Zugang zum Gesehenen, der Welt der Ereignisse und Gegenstände, eröffnet, indem es das Licht hindurchläßt – in anatomischer Bestimmung demnach die Pupille –, dieses Loch also kann selbst nicht gesehen werden und kommt auch nie als es selbst dem Subjekt zu Gesicht. Die optischen und organisch-physiologischen Bedingungen der Möglichkeit des Sehens können vom Sehenden nur an einem anderen Subjekt wissenschaftlich durch Beobachtung objektiviert und/oder in einer theoretischen Reflexion, d. h. nur abstrakt, gedacht werden. Aber diese beiden Operationen kann ein und dasselbe Subjekt nie gleichzeitig vollziehen: Etwas sehen und das Sehen sehen schließen einander für das Bewußtsein aus. Zur grundlegenden Struktur des menschlichen Sehvorgangs gehört bekanntlich der blinde Fleck, eine nicht mit Sehzellen versehene Stelle in der Netzhaut, an der das Auge dem Sehfeld keine Lichtreize entnehmen kann. Dementsprechend können keine Nervenimpulse von dieser Stelle der Netzhaut an das Sehzentrum im Gehirn weitergeleitet werden, welche als Information über diesen Ausschnitt des Sehfeldes verwendet werden könnten. Gleichwohl ist der subjektive Eindruck der eines geschlossenen, vollständigen Sehfeldes ohne Aussparung. Das Gehirn interpoliert aus vorhergehenden Gesichtseindrücken die aktuell fehlende Information und füllt so das Sehfeld subjektiv auf, ohne daß das Bewußtsein hiervon etwas merkt. Diese starken Indizien für die Konstruktivität des Sehvorgangs können nicht nur kompensatorisch interpretiert werden, sondern ebenso als Eröffnung eines Feldes von Möglichkeiten der visuellen Datenverarbeitung im Gehirn, die es z. B. schafft, aus zwei getrennten Netzhautbildern einen zusammenhängenden dreidimensionalen Eindruck für das Subjekt zu generieren (räumliche Tiefenwahrnehmung). In Anknüpfung an diese grundlegenden Merkmale des Sehens entwickelt Lacan seine Theorie des Blicks (im Unterschied zur Sehfunktion des Auges), die von einer Skotomisierung als Voraussetzung für die Bildung der Subjektivität ausgeht. Der für das Subjekt konstitutive Blick muß seinerseits innerhalb einer Dialektik der Anerkennung angesiedelt werden, sofern erst der Bezug zum anderen die existentielle Frage des Subjekts nach der ›Identi-

515. Vgl. Lacan über »die Spaltung von Auge und Blick« in: Lacan 1964, 73ff. 278

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tät‹ und dem ›Wesen‹ seiner selbst einer Antwort zuführt. Es ist der Blick des anderen, der das Subjekt erblickt und ihm die Möglichkeit zur Identifizierung gibt. Die fehlende Bestimmung des Subjekts erfüllt sich in seiner Beziehung zum anderen. Weil das Subjekt nicht von vornherein sich hat bzw. seiner selbst inne ist, kann es sich am anderen, über den Umweg des anderen, als Subjekt erfahren, das seine Bestimmung sucht und sich mit etwas identifiziert, das sein Sein bestimmen wird, ohne daß diese Bestimmtheit aus seinem ursprünglichen ›Wesen‹ abzuleiten wäre.516 Menschliche Subjektivität ist also konstitutionell auf Intersubjektivität angewiesen und vermag sich nur über seinen Bezug zum Anderen seiner Wahrnehmung zu versichern – sei es nun irgendein Objekt der Umwelt (Was ist das?) oder das Spiegelbild seiner selbst (Bin ich das? Und: Wer bin ich?).517 Dem Blick entgeht aber nicht nur, daß er sieht, sondern immer auch, partiell, was er sieht: »Wie kam ein solches Kamel durch das Nadelöhr?«, fragt Freud.518 Das Auge sieht Dinge, von denen nicht gewußt wird, daß sie gesehen wurden. Einer schon auf neurophysiologischer Ebene nachweisbaren Reduktion von Komplexität519 entspricht die sogenannte »Enge des Bewußtseins«, welche der Fülle der vors Auge gebrachten Phänomene ebensowenig gewachsen ist wie der der gehirninternen Komplexität: Die Überfülle der möglichen und tatsächlichen neuronalen Verbindungen zwischen den Neuronen ist für eine direkte Darstellung in einem Teilsystem des Gehirns oder einer einzelnen Funktion des Psychischen nicht geeignet.520 Deswegen konnte schon Freud die Beobachtung eines verengten Bewußtseinshorizonts machen: »Es kann immer nur eine einzelne Erinnerung ins Ich-Bewußtsein eintreten.«521 Was nach Freud für die Reproduktion von

516. Gleichwohl hat oder erfährt das Subjekt sein Schicksal: Denn es kommt in seiner Existenz nicht außerhalb von Sprache, Geschichte, Kultur und Gesellschaft vor. Die Familienbande beispielsweise sind schon lange vor seiner Ankunft geknüpft und werden sein ganzes Dasein determinieren. 517. Vgl. Lacan 1936b. 518. Freud/Breuer 1895, 235. 519. Vgl. zu diesem terminus technicus der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmann (Luhmann 1984). – Die Notwendigkeit zur Reduktion von Komplexität entspricht auch dem aktuellen Stand der Wahrnehmungstheorie, wie ihn die Hirnforschung ermittelt: Der relativ großen Menge an durch die Sinne aufgenommenen Reizen, die zu Informationen verarbeitet werden könnten, steht eine ungleich geringere der tatsächlich verwerteten und eine noch einmal verringerte der ins Bewußtsein gelangenden Informationen gegenüber. (Vgl. Pöppel 1985, 165; Roth 1994) 520. Die aktuelle Hirnforschung spricht in diesem Zusammenhang davon, daß die hohe Vernetztheit der Gehirnstrukturen im Vergleich zu der verhältnismäßig geringen Informationsmenge, die der Wahrnehmung von den Sinnen aus ins Gehirn übermittelt wird, zu der Schlußfolgerung führe, das Gehirn beschäftige sich vornehmlich mit sich selbst. 521. Freud/Breuer 1895, 235. Und: »Die ganze räumlich ausgedehnte Masse des pathogenen Materials wird so durch eine enge Spalte durchgezogen, langt also, wie in 279

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Erinnerungen gilt, gilt ebenso für das unmittelbare Bewußtwerden des Gegenwärtigen. Ja, das Gegenwartsbewußtsein scheint geradezu erst unter Abwesenheit, Ausblendung des Vergangenen und Zukünftigen möglich: »der Kranke, der mit der Durcharbeitung dieser einen [Erinnerung] beschäftigt ist, sieht nichts von dem, was nachdrängt, und vergißt an das, was bereits durchgedrungen ist.«522 Diese Konzentration auf die Gegenwart, den gegenwärtigen Ausschnitt aus dem Zeitfluß, bedeutet ein Zurück- oder Beiseitestellen von vergangenen oder zukünftigen Eindrücken, besser gesagt: von Erinnerungen und Antizipationen, also Vorstellungen des Vergangenen oder Zukünftigen. Und in dieser Konzentration der Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige liegt außerdem jene Struktur der Selbstreferentialität, des Selbstbewußtseins des Geistes, in der die Anwesenheit der Vorstellung und die Abwesenheit des Vorgestellten korrelieren. Um allerdings das Vorgestellte als Erinnertes – und nicht als gegenwärtig Wahrgenommenes oder als Antizipiertes – identifizieren zu können, muß Erinnertes als schon Bekanntes, eben bloß Reproduziertes, Wiedergekehrtes, vom Unbekannten unterscheidbar sein. Unbekanntes ist das (wenigstens in gewisser Hinsicht) Unvergleichliche. Es ist dasjenige Neue, was entweder ›von außen‹ durch die Sinne aufgenommen werden kann (also nicht dem Gedächtnis entspringt), oder dasjenige, was (ohne Veranlassung unmittelbar vorhergehender äußerer Wahrnehmung) ›von innen‹ hervorgebracht wird, aber nicht dem Gedächtnis, sondern der Produktivität der Einbildungskraft, der Phantasie entsprungen ist. Auch im von außen Kommenden, durch die Sinnlichkeit Vermittelten, gibt es schon Bekanntes. Dieses kann aber aufgrund einer vorhergegangenen Erfahrung mit Hilfe des Gedächtnisses als das Selbe (bzw. ein Gleiches oder Ähnliches) und damit als ein Schoneinmal aufgefaßt werden. Jeder hinzukommende, nächste Eindruck muß also assoziierbar sein, um feststellen zu können, ob ihm in den vergangenen Erfahrungen des Subjekts etwas gleicht. Das Gedächtnis als »Ort der Aufbewahrung« von einmal Wahrgenommenem bildet somit auch die notwendige Voraussetzung für das Wiedererkennen des Äußeren: Denn ohne den Abgleich des nächsten Eindrucks, mit dem das Bewußtsein konfrontiert ist, mit einem früheren kann nicht darüber entschieden werden, ob es sich um etwas Neues handelt oder um die Wiederkehr des schon Bekannten. Es bliebe immer nur ununterscheidbar der ›nächste‘ Eindruck. Aber selbst zur Unterscheidung eines Eindrucks vom nächsten bedürfte es eines Kriteriums, einer weiteren Differenz, auf die bezogen der Unterschied sinnvoll ist.

Stücke oder Bänder zerlegt, im Bewußtsein an. Es ist die Aufgabe des Psychotherapeuten, daraus die vermutete Organisation wieder zusammenzusetzen.« (Ebd.) 522. Ebd. Sicherlich ist im Sinne Freuds darauf hinzuweisen, daß dies nicht nur für pathologische Vorgänge, sondern auf psychische Prozesse im Allgemeinen zutrifft. 280

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

Gedächtnis und Bewusstsein als konstruktiv-funktionale Begriffe Für nicht wahrnehmungsbezogenes Innerpsychisches stellt sich dasselbe Problem: Wie wird eine auftauchende Vorstellung wiedererkannt? Woher weiß das Bewußtsein, daß es diese Vorstellung schon einmal gehabt hat? Nur der Bezug auf eine andere Vorstellung bzw. deren Nach-Bild in der Erinnerung ermöglicht den Vergleich. Es ist der systematische Zusammenhang der von Freud postulierten Er-Systeme und ihre assoziative Verknüpfung und Errreichbarkeit durch Erinnern, welche es gestattet, die Identität der einen, erinnerten Vorstellung zu bestimmen – nämlich durch Einordnung in einen plausiblen zeitlichen Zusammenhang, in eine erzählbare Kette von Ereignissen. Das Erinnern erweist sich also immer auch als eine konstruktive geistige Tätigkeit, insofern nicht das bloße Gegebensein einer bestimmten Vorstellung schon ihren Charakter als Erinnerung quasi von selbst klar macht; vielmehr ist es erst der Bezug zu anderen Vorstellungen, die in einem spezifischen zeitlichen, erinnerbaren Zusammenhang miteinander stehen, der es ermöglicht, irgendeine Vorstellung als Erinnerung (oder als Antizipation) zu identifizieren. Nicht eine von dem ursprünglichen Ereignis ausgehende Spur, die ›Urspur‹ des originalen Wahrnehmungsvorgangs, definiert ihr (jetziges) Auftauchen im Bewußtsein quasi wie von selbst als gegenwarts-, vergangenheits- oder zukunftsbezogen, sondern erst ein Vergleich, eine Verhältnisbestimmung zu anderen Vorstellungen, kann zu einem Wissen, daß es sich um Erinnerung, Gegenwart oder Antizipation handelt, führen. Allein die dem Vergleich zugrundeliegende Differenz zwischen zwei psychischen Elementen, für die eine Übereinstimmung, eine Ähnlichkeit, ja Gleichheit festgestellt werden kann, läßt die Bestimmung der Identität (im weitesten Sinne) einer Vorstellung zu: ›diese und keine andere Vorstellung‹. Nicht ein isoliertes psychisches Element definiert sich als solches, sondern allein der Zusammenhang, in dem es steht oder in den es eingeordnet werden kann, also der Bezug zu anderen Elementen des Seelenlebens, ermöglicht seine Klassifikation als Erinnerung. Schon um sagen zu können, daß es sich um ein und dieselbe Vorstellung handelt, die im Bewußtsein wiederaufgetaucht ist, muß verglichen werden, also eine Relation in Anspruch genommen werden, die über das (künstlich isolierte) einzelne Element hinausgeht. Um diese eine, identische Vorstellung zu sein, bedarf es schon einer Relation zu anderen. Dieser zweite ›Ort‹, von dem her die Bezugspunkte, die in Beziehung zu setzenden Vorstellungen kommen oder genommen werden (Erinnerung), so daß an ihnen Maß genommen werde, wird im allgemeinen Gedächtnis genannt. Was nicht im Bewußtsein ist, aber diesem jederzeit verfügbar, muß im Gedächtnis sein – uns nicht-bewußt oder vorbewußt, wie Freud sagt. Was aber jenseits dieser funktionalen Bestimmung im Ausgang von der Aufgabe, die das Gedächtnis für das Bewußtsein und den psychischen Apparat erfüllt, das Gedächtnis sei und welcher Art das ›Sein‹ der ›Vorstellungen‹ in ihm, wird – obwohl systematisch zentral – von Freud unerörtert gelassen. Freuds Fassung des Unbewußten, »unseres Unbewußten«, war ja davon ausgegangen, daß es zu psychischen Bildungen in der Lage sei, die denen des bewußten Seelenlebens prinzipiell vergleichbar seien: Es handele sich eben um unbewußte Gedanken oder Vorstellun281

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gen. Festzuhalten bleibt der relationale Charakter aller Vorstellungen, auch und gerade dann, wenn sie als ›dieselben‹ wiedererkannt werden. Identität muß als ›Bezug zu‹ gedacht werden: Wenn – um eine alte Bildmetaphorik aufzugreifen – der Schatten eines Gegenstands mit dem fixierten Schattenriß an der Wand – herrührend von früheren Schattenwürfen – kongruiert, so ist die Behauptung einer Identität plausibel.523 Die Elemente des Psychischen, einerlei ob auf Wahrnehmung oder Phantasie gründend, sind selbst nie einfache Einheiten in dem Sinne, daß sie sich aus sich selbst vollkommen erschließen, auch wenn sie im Bewußtsein als solche erscheinen. Die Wahrnehmungsidentität verdankt sich der zu ihrer Konstitution in Anspruch genommenen Differenz von Sehen und Blick, Wahrnehmung und Bewußtsein, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bewußtsein beruht auf Selektion (Auswahl aus übergroßen Mengen von Reizen, Informationen, Wahrnehmungen) und ist als gegenwärtiges selbst immer schon Bewußtsein der Differenz von Vergangenheit und Zukunft (bzw. Erinnerung und Antizipation). Wie ist es also um das Bewußtsein in der Psychoanalyse bestellt? Die Funktion Bewußtsein, in der Traumdeutung524 am spärlichsten entfaltet, steht innerhalb des psychischen Apparats relativ unvermittelt da. Aus den beschriebenen Vorgängen des Unbewußten und Vorbewußten läßt es sich als eigenes System mit eigener Funktion nicht wirklich herleiten. Es gilt Freud zwar (man möchte einfügen: nur) als ›Effekt‹ des Unbewußten, aber gleichwohl hält er es für irreduzibel und äußerst beachtenswert. Bildet das Bewußtsein also einen bleibenden Restposten der Psychoanalyse? Wenn das Bewußtsein als Wahrnehmung zweiter Ordnung (als innerpsychische Wahrnehmung) konzipiert wird, dann kann es selbst nicht jene Instanz sein, die Wahrgenommenes fixiert: »Es ist nun klar, wenn das W-System überhaupt kein Gedächtnis hat, daß es auch die Spuren für die Assoziation nicht aufbewahren kann; die einzelnen W-Elemente wären in ihrer Funktion unerträglich behindert, wenn sich gegen eine neue Wahrnehmung ein Rest früherer Verknüpfung geltend machen würde.«525 Bewußtsein ist – wie Assoziation überhaupt – nicht nur auf das Gedächtnis angewiesen, sondern bewußte Assoziationsprozesse vollziehen sich immer auch mit Bezug zu psychischen Elementen außerhalb des Bewußtseins: Bekanntlich lautet Freuds Diktum, daß Gedächtnis und Qualität für das Bewußtsein einander aus-

523. Jedenfalls bis zum Nachweis des Gegenteils, was prinzipiell immer möglich ist, sofern ein zweiter Gegenstand zwar denselben Schattenwurf, aber darüber hinaus auch noch andere, differierende Eigenschaften gegenüber dem Gegenstand aufweist, der dem ersten Schattenwurf zugrundelag. 524. In seinen späteren Erörterungen zur »Ich-Psychologie« hat Freud das Problem des Bewußtseins wieder aufgenommen (vgl. Freud 1923), aber letztlich ist es eines der großen Rätsel der Psychoanalyse geblieben. 525. Freud 1900, 515. – Vgl. a.a.O. 583. 282

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schließen,526 aber gleichwohl im Gesamtzusammenhang des psychischen Apparats ihre Funktionen auch miteinander gekoppelt erfüllen – nicht nur: können, sondern: müssen. Bewußtsein wird also als Funktion des psychischen Apparats gedacht, die einerseits ›operational geschlossen‹ ist, insofern nur Bewußtes bewußt ist und Bewußtes sich bewußt immer nur auf Bewußtes bezieht, andererseits jedoch ›umweltoffen‹ funktioniert, insofern sein internes Prozessieren sich unter der Kondition vollzieht, auch anderes als es selbst zum Gegenstand haben zu können, ja aus der Nachträglichkeit heraus nichtbewußte Vorgänge sich als immer schon vorausgesetzt erweisen. Deshalb vermag das Bewußtsein seine eigenen Systemzustände als Repräsentation der Umwelt des Systems zu interpretieren: Es hat Bezug zu äußeren Gegenständen und unbewußten psychischen Prozessen. Zur Umwelt gehört eben nicht nur die Außenwelt, die die Sinnesorgane vermitteln, sondern auch jenes »innere Ausland« des Unbewußten. Als Medium (i.S. Fritz Heiders) fungiert es wie ein Durchlaufsystem für die Wahrnehmungen aller Art, erinnerungslos und immer frisch, empfangsbereit. Erst über den Umweg des Gedächtnisses kann ein bleibendes Bewußtsein entstehen, auf das qua Erinnerung immer wieder zurückgegriffen werden kann. Das bedeutet auch, daß Bewußtsein immer erneut von Moment zu Moment als dasselbe, als identisches bzw. sich identifizierendes Bewußtsein prozessiert werden muß.

3.4 Schlußbetrachtung: Historische Medienanalyse und Metaphorologie Freud weist dem Bewußtsein eine Funktion im Rahmen des psychischen Apparats zu, die man als die Darstellungsfunktion für die interne Wahrnehmung (zweiter Ordnung) bezeichnen kann. Wenn Bewußtsein aber Darstellung ist, ist es nur konsequent, aus der Darstellbarkeit ein methodisches Prinzip für die Psychoanalyse zu machen. Psychoanalyse bedient sich verschiedener Arten von medialer Darstellung (theoretische Unterweisung mit Hilfe von Texten, Vorträgen, Strukturdiagrammen, Schaubildern, Mathemen und nicht zuletzt der psychoanalytischen Kur selbst), um Psychisches und seine unterschiedlichen Erscheinungsweisen, die assoziativen Vorgänge, die verschiedenen Arbeitsweisen der psychischen Systeme und Funktionen in ein Wissen zu verwandeln, das als Diskurs vermittelt (d. h. kommuniziert und übertragen) werden kann und mögliches Bewußtsein initiiert. Dabei stehen technische Verfahren und Apparate als Model-

526. Vgl. Freud 1900, 516. Freud war schon zuvor auf diese kardinale Schwierigkeit gestoßen: »Eine irgendwie beachtenswerte psychologische Theorie muß eine Erklärung des ›Gedächtnisses‹ liefern. Nun stößt jede solche Erklärung auf die Schwierigkeit, daß sie einerseits annehmen muß, die Neuronen seien nach der Erregung dauernd anders als vorher, während doch nicht geleugnet werden kann, daß die neuen Erregungen im allgemeinen auf dieselben Aufnahmebedingungen stoßen wie die früheren. Die Neuronen sollen also sowohl beeinflußt sein als auch unverändert, unvoreingenommen.« (Freud 1950, 308) 283

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le der Darstellung zum Zweck der Theoriebildung nicht an letzter Stelle. In Anknüpfung an Lacan, Derrida und Foucault hat besonders Kittler auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, daß Diskursanalyse zur historischen Medienanalyse erweitert werden müsse, um die technischen Bedingungen der Konstitution eines Diskurses wie desjenigen der Psychoanalyse in den Blick zu bekommen. Weiß Psychoanalyse (als Theorie) mitunter auch nicht über ihr »Unbewußtes« Bescheid, jedenfalls nicht vollständig, sofern es sich um das »technische Unbewußte« handelt (Kittler spricht vom »Unbewußten des Unbewußten«), so will doch zumindest ihre Methode einen Zugang zum Unbewußten eröffnen, um so eher Erfahrung zu entbinden, zu provozieren, die nicht von vornherein auf Standards des Bewußtseins verpflichtet sind, als durch Bindung an Axiome das Erfahrbare zu reduzieren. Nicht zuletzt die technomorphen Metaphern, Gleichnisse und Modelle können als Suchbegriffe aufgefaßt werden, die ein Feld für nachträgliche Reflexionen eröffnen, welche den Einsatz dieser bildmächtigen Sprache wiederum in Frage zu stellen gestatten. Der Differenz von Darstellung und Dargestelltem eingedenk könnte dann selbst eine transzendental verstandene Analyse sich nicht dem Wirken der Metaphorik und damit des Unbewußten entziehen: Es sei denn, Theoriebildung verschlösse sich dem Abweichen der Phänomene und erschöpfte sich in Selbstimmunisierungsstrategien. Methode und Erfahrungsrahmen (theoretisch wie praktisch) der Psychoanalyse stellen in gewisser Weise ›nur‹ ein Apriori ihrer Erfahrung des Unbewußten dar. Veränderte theoretische wie praktische Bedingungen würden entsprechend die Erfahrung modifizieren und also das Unbewußte anders zur Darstellung kommen lassen. Als die so und so bestimmte Technik (des Diskurses) trägt das Apriori eine historische Marke.527 Die Konzeption der psychoanalytischen Assoziation, die immer auch eine des Unbewußten ist, bleibt unmittelbar der Psychophysik verpflichtet, insofern Apparate und Medien in den Laboratorien die Zerlegung des Psychischen in isolierte Einzelmechanismen und damit deren Unabhängigkeit vom ›leitenden‹ Bewußtsein vorgeführt hatte. Und es sind diese Apparate und Medien, von denen die Aufzeichnung des so gewonnenen Unbewußten abhängt. Verzichtet Psychoanalyse auch auf Statistik und apparativen Laboreinsatz, so bedient sie sich doch des reichen Metaphernvorrats dieser Technologien, um ihre Rede vom Unbewußten und ihre Modelle der Seele zu bilden. Vor dem Hintergrund solcher Technik-Metaphorik läßt sich der »Hintergrund« des Bewußtseins, das Unbewußte, klar als ein Produziertes charakterisieren: Nicht bloße Natur beschreibt die Psychoanalyse, sondern »unser« Unbewußtes, wie Freud sagte – Effekt von Arrangements der Erfahrung und ihrer sprachlichen Fassung gleichermaßen. »Spurensicherung«528 vollzieht sich nicht mehr auf »natürlichem Boden« (dem Schnee des Feldes oder dem Morast des Waldes, auf dem in archa-

527. Kittler 1985, 280. – Foucault (Foucault 1969) spricht vom »historischen Apriori«. 528. Vgl. Ginzburg 1980. 284

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ischen Zeiten der Beute nachgespürt wurde), sondern auf künstlichen Aufzeichnungsflächen.529 Für die Psychoanalyse bedeutet das – da sie selbst wesentlich ohne technische Gerätschaften auskommt –, ihre Metaphorik und Begriffsbildung in Beziehung zu setzen zum Stand der Kulturtechniken, d. h. der »Aufschreibesysteme« ihrer Zeit. Die so verstandene Technikgeschichte gibt Modelle ab, mit denen Psychoanalyse versucht hat, die spezifischen Phänomene des Psychischen zu Gegenständen einer wissenschaftlichen Forschung zu machen. Was für den Diskurs »Psychophysik« gilt, läßt sich nicht nur auf Psychoanalyse anwenden, sondern darüber hinaus verallgemeinern: »daß Diskurse, was sie nur zu beschreiben scheinen, selber heraufbeschwören.«530 Die Verwendung von Metaphoriken ist alles andere als harmlos, aber – dies haben Denker wie Hans Blumenberg531 überzeugend nachgewiesen – unvermeidlich. Kennzeichnend für das ausgehende 19. Jahrhundert ist die Einführung apparativer Technik in Bereiche, die traditionell das Feld der ›philosophischen Fakultäten‹ bildeten, um 1880 jedoch von Wilhelm Dilthey programmatisch als das der Geisteswissenschaften von dem der Naturwissenschaften abgrenzt zu werden. In medientechnischer Perspektive handelt es sich allerdings um einen aussichtslosen Abwehrkampf: »Nur solange Kulturtechniken auf die Abszisse einer biologischen Zeit abgetragen wurden, waren sie Dem Menschen zuschreibbar, den die Zeit der Apparate liquidiert.«532 Anstelle der Humaniora treten apparative Technologien auf den Plan, die die Souveränität der philosophisch beschworenen Subjektivität untergraben. Wendet Psychoanalyse auch keine Apparate an, so verwendet sie dennoch zu Genüge Gleichnisse, die dem state of the art technischer Innovation entstammen: »Wie der Analysierte alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung erhascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affektiven Einwendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen, so soll sich der Arzt in den Stand setzen, alles ihm Mitgeteilte für die Zwecke der Deutung […] zu verwenden, ohne die vom Kranken aufgegebene Auswahl durch eine eigene Zensur zu ersetzen, in eine Formel gefaßt: er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver eines Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwingungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen.«533

529. 530. 531. 532. 533.

Kittler 1985, 243. Kittler 1985, 234. Vgl. Blumenberg 1960; Blumenberg 1979. Kittler 1985, 229. Freud 1912a, 175f. 285

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Zweierlei wird an dieser Passage deutlich: Das Unbewußte wird in diesem Gleichnis zum »Instrument bei der Analyse«534 und figuriert als technisches Medium. Andererseits soll, nimmt man das Gleichnis in aller Konsequenz, die erkennende Subjektivität, letztlich noch das Bewußtsein (des Psychoanalytikers), auf ein technisches Medium reduziert werden: »Das Paradox, ohne Schrift zu schreiben, lösen nur technische Medien. Freud, auch er zum Opfer seines Erkenntnissubjekts entschlossen, macht eine Medientransposition an ihm selber: einen Telephonhörer aus Ohren. Denn wie geschrieben steht, haben Menschen ihre Ohren ja nur, um nicht zu hören (und alles in Sinn zu verwandeln). Erst die Zwischenschaltung elektroakustischer Wandler sichert unselektierten Empfang eines Rauschspektrums, das um so informativer ist, je weißer es rauscht. ›Écoutez les vibrations sacrées!‹ heißt einmal mehr die Devise. Alles bewußte ›Kommunizieren‹ der Zwei zählt nur als verschlüsselte Rebus-Nachricht des einen Unbewußten ans andere. Sein manifester Sinn ist Unsinn; der Telephonreceiver Freud sondert gerade ihn als Abfall von den Abfällen, die unterm Sinnpostulat Versprechungen, Verlesungen, Verschreibungen waren.«535 Einmal mehr bestätigt sich die Priorität des Akustischen für die Psychoanalyse, wenn es um Deutung geht, die sich gleichwohl ebensosehr für Verschreibungen, Fehlgriffe, körperliche Symptome aller Art interessiert. Das von Freud gewählte Gleichnis führt jedoch die Überlegungen eng, um den »Austausch von Worten«, der die psychoanalytische Kur durchzieht und ihren ›roten‹ Faden ausspinnt, sprachlich ins Bild zu setzen. Zu Freuds Zeiten war beliebiges Sichtbares, zumal das bewegliche, noch nicht so bequem aufzeichenbar, wie heutige Technik es möglich macht.536 Allein die alphabetisch codierte Rede ließ sich in Freuds Zeiten (wie schon seit Jahrhunderten) überall, schnell und ohne große Umstände in Schrift umwandeln: Damit gewinnt das Sprechen vermittels der Kopplung mit den extern fixierten Buchstaben eine Speicherfunktion über das ›natürliche‹, ›organische‹ Gedächtnis hinaus. Die linearisierte schriftliche Aufzeichnung bildet selbst wiederum jenen Hintergrund, auf dem dann das Unbewußte umso deutlicher als Abweichung hervortreten kann. Die am Schriftkorpus explizit werdende

534. Freud 1912a, 176. 535. Kittler 1985, 289f. 536. Film, Kino, Phonograph und Grammophon standen noch am Anfang ihrer Entwicklung, Aufnehmen und Abspielen waren von geringer technischer Qualität und das Löschen und Wiederbespielen desselben Medienträgers zum alltäglichen Gebrauch nicht in Sicht. Gleichwohl gilt: »Die technische Aufzeichenbarkeit von Sinnesdaten verschiebt um 1900 das gesamte Aufschreibesystem.« (Kittler 1985, 235) Was jedoch den Vorrang der Sprache betrifft, so ist er sicher darin zu suchen, daß es kein vergleichbar flüssiges und leicht handhabbares Medium der Kommunikation und Selbstverständigung gibt, wie es das mit den Körperorganen ausgeübte Sprechen und Hören in ihrer nahezu instantanen Kopplung darstellt. 286

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Normierung von Schreibweisen läßt nämlich deutlich werden, ob im Austausch von Worten z. B. eine Vertauschung, Verwechslung, Auslassung etc. stattgefunden habe. Das technische Modell des Telephons hingegen ermöglicht – ohne Speicherfunktion – eine Übertragung nicht nur der codierten Laute der Sprache, sondern aller (Hintergrund-)Geräusche des Sprechens und des Übertragens selbst. Und genau in dieser Differenz von (speicherbarem) Code und (übertragbarem) Rauschen bewegt sich das psychoanalytische Hören, da es (unter Bezugnahme auf den Maßstab der ›idealisierten‹ Schriftform der Sprache) eine Deutung – neben allem anderen – der Abweichungen im Ausdruck, des Stockens der Rede, der Versprecher unternimmt. Die automatische Übertragung vermittels eines technischen Apparats, der noch das Unbedeutendste des anderen dem Ohr des Hörers zuträgt, gilt Freud als passendes Modell der psychoanalytischen Praxis. Ohne das Vorbild der technischen Medien (bzw. ohne deren vorbildliche Anwendung in der Psychophysik) wäre die Entwicklung des Psychoanalyse undenkbar. Da Freud sich dieser Gleichnisse bedient, ohne die historisch-technischen Bedingungen des Entstehens und Funktionierens der ihnen zugrundeliegenden Techniken zu analysieren, kann er letztere auch nicht ins Verhältnis setzen zu dem Gebrauch dieser Metaphern in seinem Diskurs. Medientechnologien »bleiben das Unbewußte des Unbewußten.«537 Psychoanalyse, genauer: die Traumdeutung, »inauguriert Medientransposition als Wissenschaft.«538 Als mediales Dispositiv betrachtet gehört die Psychoanalyse zu »Kino und Grammophon«: »Die mit ihnen geborene Wissenschaft Psychoanalyse begegnet Bildersequenzen mit einer Urverdrängung, Geräuschsequenzen mit ihrer Entstellung zu signifikanten Ketten.«539 Die selektive Willkür und konstruktive Transposition, welche das Freudsche Verfahren durch Rückverweis an den Analysanten, der das Rätsel aufgibt, einer Lösung zuzuführen versucht, eröffnet den Weg zu einer Semiotik der Mehrdeutigkeit. Entgegen dem populären Vorurteil – das da entweder besagt, Psychoanalyse sei die reinste Willkür, sprich: beliebig in der Deutung, unkontrollierbar in der Handhabung und im ganzen den interpretativen Vorlieben des Analytikers verpflichtet; oder: die Psychoanalyse sei dogmatisch, suche immer nur nach dem einen, sexuellen Motiv und bewerte Widerspruch schlicht als Widerstand – wäre jene prozeßorientierte Zeichentechnik der unabschließbaren Vieldeutigkeit stark zu machen, die die Psychoanalyse auf alles andere als auf jene Zweideutigkeit festzulegen gestattet, welche immer schon zu wissen glaubt, welcher Hintersinn sich im Unscheinbaren verbirgt.540

537. Kittler 1985, 291. 538. Kittler 1985, 278. 539. Kittler 1985, 291. 540. Georg Simmel zur Äquivalenz verschiedener Lösungen desselben Rätsels: »Eine Schöpfung des Geistes, die verstanden werden soll, kann man einem Rätsel vergleichen, das sein Schöpfer auf ein Lösungswort hin gebaut hat. Findet ein Ratender nun etwa ein zweites, genau so passendes, auf das also das Rätsel, objektiv genommen, mit dem ganz gleichen logischen und dichterischen Erfolge zugeht, so ist es eine ebenso 287

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Das psychoanalytische Vorgehen läßt sich gerade nicht auf Bildverdrängung und Geräuschcodierung reduzieren. Denn es geht Freud nicht um Bildlichkeit schlechthin, sondern um spezifische Bilder und Geräusche, die zwar als zunächst unsinnige oder sinnlose Phänomene das Interesse der auf Lesbarkeit ausgerichteten Psychoanalyse erregen, doch nur deswegen, weil sie die Qualität einer pathogenen Ursache für das Subjekt haben können, deren Sinn sich im Diskurs des Analysanten noch nicht erschlossen hat. Assoziative Exhaustion zielt also auf jene beharrlich nicht weichen wollenden, immer wiederkehrenden Vorstellungen, die vom Subjekt Besitz ergreifen und sein Leiden perpetuieren. Was also für die Psychoanalyse beschreibbar ist am Phänomen Assoziation, kann – trotz oder gerade wegen der unbewußten Determination – nach einem Raster des Signifikanten geordnet werden: Psychoanalyse »fischt nicht im breiten Strom des Wahrgenommenen überhaupt, sondern einzig akustischer Daten.«541 Mit dieser Engführung auf den Diskurs des Analysanten bringt Psychoanalyse gerade jene Komplikation zur Geltung, welche das Subjekt konstituiert und zugleich in ein Schicksal verstrickt, das von Anfang an, in gewisser Weise schon vor seinem Anfang, nicht allein seines gewesen sein wird. Das ist es aber auch, was Psychoanalyse überprüfbar macht: die Rede des Analysanten, in der das Sprechen des Anderen zum Tragen kommt. Ihr Kriterium ist nicht direkte Verständlichkeit, sondern zunächst Anschlußfähigkeit und mögliche Verstehbarkeit, die sich allein aus dem Zusammenhang der Analyse rechtfertigen läßt. Mit der Rückführung auf den Diskurs des Unbewußten, wie er sich in der Rede des Analysanten artikuliert, wird Assoziation de facto reduziert auf eine Dimension, die Linearität, welche das Subjekt zu einer Selektion zwingt, entweder dieses oder jenes jetzt, zuerst zu sagen und danach etwas anderes: »Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt sind: a) es stellt eine Ausdehnung dar, und b)

vollkommene ›richtige‹ Lösung wie die vom Dichter beabsichtigte, und diese hat nicht den geringsten Vorsprung vor ihr oder all den anderen Lösungwörtern, die man noch, prinzipiell unbeschränkt, auffinden mag.« (zit. n. Kittler 1985, 275; vgl. Simmel 1918, 18) 541. Kittler 1985, 290. Entspricht das wirklich der psychoanalytischen Praxis, daß »einzig akustische Daten« zur Wahrnehmung zugelassen bzw. zur Analyse herangezogen werden? Sind nicht auch die Fehlleistungen und Ticks, die sich an den Rändern der analytischen Sitzungen, am Anfang und Ende, auf dem Weg zur Couch und zurück, aber auch während der Analysant auf der Couch liegt, zutragen, für den Fortgang der Analyse von Interesse? Die Wirkungen des Diskurses des Unbewußten lassen sich nicht auf die verbale Artikulation, die Rede des Analysanten beschränken. Gleichwohl kommt der Rede des Analysanten eine besondere Bedeutung zu: Sie ist das Medium zur Artikulation neuer, jedenfalls veränderter Einsichten, weil es die Möglichkeit einer gewissen Selbstdistanzierung gewährt, die den Selbstbezug des Subjekts auf das Feld einer intersubjektiven Relation bringt und mit der Rede des Anderen verkoppelt. 288

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diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Dimension: es ist eine Linie. Dieser Grundsatz leuchtet von selbst ein, aber es scheint, daß man bisher versäumt hat, ihn auszusprechen, sicherlich, weil er als gar zu einfach erschien; er ist jedoch grundlegender Art und seine Konsequenzen unabsehbar [...]. Der ganze Mechanismus der Sprache hängt davon ab. Im Gegensatz zu denjenigen Bezeichnungen, die sichtbar sind (maritime Signale usw.) und gleichzeitige Kombinationen in verschiedenen Dimensionen darbieten können, gibt es für die akustischen Bezeichnungen nur die Linie der Zeit; ihre Elemente treten nacheinander auf; sie bilden eine Kette. Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar dar, sowie man sie durch die Schrift vergegenwärtigt und die räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen Aufeinanderfolge setzt.« 542 Die »Lesbarkeit« der Assoziationen wird so sichergestellt: als Linearität eines Textes.543 Auch assoziativer Unsinn findet per Psychoanalyse also noch seine Verwendung: Ihre gesamte Theorie und Praxis transformiert ihn in Text, den es zu analysieren gilt. Und das signifikante Geflecht aus (sprachlichen wie psychischen) Elementen bildet einen durchgängigen assoziativen Zusammenhang von Relationen, die sich wechselseitig determinieren. ›Frei‹ ist Assoziation nur nach Maßgabe der psychoanalytischen Postulate: nämlich frei von bewußten Zielvorstellungen.544 Ansonsten entkommt das assoziative Psychische, wie sollte es auch, den Determinationen nicht, die das Geflecht bilden, aus dem es sich als differentieller Zusammenhang aufbaut. Allein der von System zu System wechselnde Assoziationsmodus – dynamisch betrachtet ein Unterschied zwischen ungehemmtem und gehemmtem Vorstellungsverlauf – unterscheidet die Teilsysteme des psychischen Apparats: das unfixierte, transitorische Bewußtsein (1) mit seinen wechselnden Konstellationen aus Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen und Erinnerungen, welches das strukturierte, zur Fixierung und zum Wiederabruf bereite Vorbewußte (2) in Anspruch nehmen kann, das sich aber gleichzeitig der vollkommenen Verfügung des Bewußtsein immer auch, jedenfalls teilweise, entziehen kann und muß, um in autonomer Weise Funktionen für den gesamten psychischen Apparat übernehmen zu können und dabei nicht an das Aufsicht führende Bewußtsein gebunden zu sein; und außerdem das frei flottierende, ungehemmte545

542. Saussure 1916, 82. Diese Überlegungen zur Begründung der modernen Linguistik verdanken sich auch dem technischen Entwicklungstand der apparativen akustischen Aufnahmemöglichkeiten (vgl. hierzu neuerdings Fehr 2004). 543. Daß es sich hierbei um eine phonozentrische Reduktion handelt, hat erst Derrida (1967a) aufgezeigt. Vgl. zur Lesbarkeit als philosophisches Problem: Blumenberg 1981. 544. »Allein man muß bedenken, daß die freie Assoziation nicht wirklich frei ist. Der Patient bleibt unter dem Einfluß der analytischen Situation, auch wenn er seine Denktätigkeit nicht auf ein bestimmtes Thema richtet.« (Freud 1925c, 69). 545. Mit dieser Kennzeichnung ist noch nicht gesagt, daß Unbewußtes nicht auch Komplexe enthalten könne, die in sich als fixe Einheiten bestehen bleiben, bis sie aufgelöst werden. 289

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Unbewußte (3), welches sich Zugang zur Motilität oder zum Bewußtsein zu verschaffen sucht, wozu es die Zensur des Vorbewußten passieren muß, was ihm in aller Regel verwehrt und nur dann gestattet wird, wenn es mit den Anforderungen des Realitätsprinzips und den Auflagen der gesellschaftlichen Moral (Über-Ich) vereinbar ist.

Freud, Husserl, Ricœur Freud bezeichnet Assoziation als »Tatsache«546 und setzt sie dementsprechend als ein nicht weiter herleitbares ›Datum‹ der Psychoanalyse voraus. Damit entgleitet der psychoanalytischen Perspektive tendentiell dasjenige an ihren Gegebenheiten, mit denen sie operiert, was an ihnen das Gemachte (factum) ist. Eingeführt wird Assoziation in die Psychoanalyse, so wie ein Forscher sich auf das Wissen im Organon einer anderen Wissenschaft, die nicht mehr die seine ist, bezieht. Freud war einmal Neurologe, und er kennt darüber hinaus die relevante Literatur verschiedener anderer Disziplinen (von der Psychologie bis zur Sprachwissenschaft), in denen vom Phänomen der Assoziation gehandelt wird. Insofern stellt die Voraussetzung der Assoziation für die Psychoanalyse keine rein philosophische, gar transzendentale dar, trotz der erkenntnistheoretischen Nähe zu Kant, die Freud selbst herzustellen bestrebt ist.547 Entgegen seinem Zeitgenossen Husserl, der in Wiederaufnahme Kantischer Bestrebungen eine transzendentale Begründung der Assoziation herauszuarbeiten sucht, setzt Freud nicht allein bei der phänomenalen, d. h. bewußten Erfahrung des Subjekts an.548 Husserl549 versucht mittels phänomenaler Analyse einsichtig zu machen, daß – vor allem diskursiven und urteilenden Denken – die »Gegenstände der inneren Erfahrung« als von präreflexiven550 Funktionen konstituiert gedacht werden müssen, bevor sie als bewußte erscheinen. Von der Einführung des Begriffs Assoziation würde Husserl verlangen, daß sie sich an der gegebenen Erfahrung auszuweisen habe, an den Phänomenen als Ausgangspunkt aller philosophischen Analyse, hinter die nicht zurückzugehen ist. Die transzendentale Phänomenologie setzt (ähnlich wie Dilthey) an der gegebenen Erfahrung an, erklärt diese in der Epoché – der Urteilsenthaltung, was die Frage des Seinsstatus anbelangt – zum reinen Phänomen (jenseits von Sein und Schein), um es dann auf die (korrelativen subjektiven wie objektiven) Konstitutionsbedingungen hin zu ›zerlegen‹, sofern diese der Analyse vom Bewußtsein aus zugänglich oder einsichtig gemacht werden können. Die transzendentale Phänomenologie zielt auf jenes transzen-

546. Freud 1900, 515. 547. Freud 1900, 580 u. 587. 548. Holenstein 1972. 549. Im folgenden beziehe ich mich auf das Spätwerk: Husserl 1935/36. 550. Die aus Sicht des Psychologen ›präreflexiven‹ Funktionen sind ironischerweise für den Physiologen bzw. Biologen gerade die ›reflexiven‹ Funktionen: die Reflexe, welche auch bei höher entwickelten Lebewesen vorhanden sein können, aber vom Bewußtsein, d.h. bewußt, absichtlich, willentlich nicht oder kaum beeinflußt werden können. 290

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

dentale Subjekt, dem sich die Konstitution des Erfahrungsbewußtseins und seiner Welt verdankt und in dem die empirischen Gegenstände immer schon auf die subjektiven ›Gegebenheitsweisen‹ (Husserl) korrelativ bezogen sind. Das transzendentale Subjekt, von dem Husserl handelt, bildet den absoluten Horizont aller möglichen Erfahrung und wird zugleich als transzendentales Bewußtsein und Ego bezeichnet. Von hier aus hat man mit Husserl nur noch die Möglichkeit, das Ganze der Erfahrung (Ich und Andere, Welt und Geschichte) als vom (transzendentalen) Ego konstituiert anzusehen oder doch an einem Unterschied zwischen (empirischem) Ich und (transzendentalem) Ego festzuhalten. Von Freuds psychoanalytischen Überlegungen aus wäre die Frage zu stellen, ob jenes Feld der Bedingungen der Möglichkeit in dieser Weise, wie Husserl es tut, als transzendentales Bewußtsein oder Ego zu identifizieren sei. Denn es erhebt sich der Einwand, ob die Korrelations-These von Bewußtsein und Gegenstand dazu verwendet werden darf, eine analoge Korrelation zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen dahingehend zu interpretieren, daß das Bedingende wie das durch es Ermöglichte gleichermaßen Bewußtsein bzw. Ego genannt werden dürfe. Schon Kant hatte gegen Descartes’ Identifizierung des in der Epoché rekonstruierten Cogito mit dem empirischen Ich Einspruch erhoben, ganz zu schweigen von der Cartesischen Auslegung des ›Ego cogito‹ als denkender Substanz (»res cogitans«). Freuds These vom Unbewußt-Psychischen eröffnet die Denkmöglichkeit eines Psychischen, das zwar vom Bewußtsein aus erschlossen wird, aber in entscheidenden Charakteristika nicht mit der Qualität Bewußtheit identifiziert werden kann. Bewußtsein und Unbewußtes sind verschiedene Qualitäten und unterschiedliche Systeme des Psychischen, aber Psychisches läßt sich nicht auf einen seiner Teilaspekte reduzieren. Freud argumentiert eher von der Differenz zum Anderen, Fremden, Gegenüber her: Die analytische Situation, vorbildlich im Setting der psychoanalytischen Kur gegeben, ist deren Erfahrungsrahmen und inszeniert die Differenz methodisch. Psychoanalyse thematisiert das »innere Ausland«551, also jene interne Fremdheit des Subjekts, die die Identifikation mit sich selbst immer schon unterläuft und in Frage stellt. Freuds psychoanalytisches Interesse richtet sich immer wieder auf das Inkommensurable des Bewußtseins, genauer gesagt: auf jene Erfahrungen, die nicht mit den rationalen Ansprüchen des Bewußtseins vereinbar zu sein scheinen. Gleichwohl sieht sich das Subjekt genötigt, dasjenige, was malgré lui im Bewußtsein auftaucht, aber den vernünftigen oder moralischen Ansprüchen zuwiderläuft, als das Seine anzuerkennen. Das Bewußtsein sieht sich – als Teil des Psychischen – auf eine andere Ordnung ›in sich selbst‹, die des Unbewußten – als anderer Teil des Psychischen –, verwiesen. Noch in neueren Auseinandersetzungen der phänomenologischen Tradition mit der Psychoanalyse ist die umgekehrte Tendenz auszumachen: Unbewußtes auf die Verfaßtheit des Bewußtseins zu beziehen. Indem der Phänomenologe vom Erleben ausgeht, in welchem er die Phänomene als gegebene Momente des

551. Bolz 1982, 130. 291

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Bewußtseins identifiziert, stellt er sich auf den Standpunkt des Bewußtseins. Dieses wird in seiner ganzen Komplexität von Bezüglichkeiten sowohl der gegenständlichen wie der zeitlichen Dimension als Bewußtseinsleben entfaltet, in welchem sich jede »Urimpression«552 als unhintergehbares Element auf jeweils andere im Modus von Protention und Retention bezieht: »In jeder Phase dieses inneren Zeitbewußtseins ist somit ein zeitlicher Aktablauf bewußt, und in der Aufeinanderfolge dieser Phasen konstituieren sich die zeitlichen Formen der Gleichzeitigkeit, der Sukzession und der Dauer des gesamten intentionalen Aktlebens eines Subjekts.«553 Aus diesem Ineinander- und Aufeinanderbezogensein der intentionalen Akte, aus denen sich das Bewußtsein aufbaut, konstituiert sich zugleich ein eben auch zeitliches Selbstbewußtsein: »Das innere Zeitbewußtsein ist nach Husserl ein ur-impressionales und vermöge der den Urimpressionen zugehörigen Retentionen und Protentionen zugleich ein intentionales Selbstbewußtsein.«554 Was heißt hier aber Selbstbewußtsein? Handelt es sich zunächst nur darum, daß der gegenständliche Bezugspunkt (Gehalt) eines intentionalen Aktes als solcher bewußt wird? Oder daß der Akt selbst als intentionaler sich seines Charakters bewußt wird? Also: Bewußtsein des ›Gegenstandes selbst‹ oder Bewußtsein des ›Aktes selbst‹? Und wäre dieses Bewußtsein eines Akts schon jenes Element eines Selbstbewußtseins desjenigen Subjekts, welches den Akt vollzieht? Will sagen: Bewußtsein eines Selbst des Subjekts? Anders gesagt: Sind das Selbst des Akts und das Subjekt des Akts identisch? – Der Psychoanalytiker hingegen geht zunächst vom Kundgegebenen, vom Beobachtbaren und Verspürten aus, ohne jedoch dieses immer schon als dem Bewußtsein Zugehöriges zu identifizieren. Es ist zunächst Psychisches, wenn nicht Physisch-Physiologisches. Ob es bewußt, vorbewußt oder unbewußt Psychisches ist, wird sich erst durch Analyse klären lassen. Ebenso ist dem Psychoanalytiker unklar, um welches Subjekt es sich eigentlich handelt, das sich da artikuliert. Auch darf man Freuds Interesse für die Phantasie- und Traumerscheinungen nicht mißverstehen: »Freud weist bekanntlich nachdrücklich darauf hin, daß unbewußte Vorstellungen sich bewußtseinsmäßig vor allem in der Form von Phantasien und Träumen äußern.«555 Allerdings ist das Unbewußte nicht auf seine Äußerungen im Bewußtsein zu reduzieren. Und auch die Wirkungen des Unbewußten auf das Bewußtsein lassen sich nicht allein damit erklären bzw. deuten, daß man sie als Vorstellungen/Repräsentationen auffaßt, also im Sinne der Phänomenologie immer nur als potentielle Bewußtseinsphänomene. Gerade umgekehrt gilt es, ihre Fremdheit als besonderen Zusammenhang mit eigenwilliger ›Logik‹/›Grammatik‹ und Dynamik zur Geltung zu bringen. Insofern geht es also darum, so Lacan, das Unbewußte als strukturiert wie eine Sprache zu untersuchen, als System der Bedeutungsgenerierung, das selbst keine Bedeutung hat,

552. 553. 554. 555.

Husserl 1905, 390. Bernet 1997, 286f. Bernet 1997, 287. Bernet 1997, 295. 292

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

sondern erst retroaktiv von den hervorgebrachten Bedeutungen eine Bedeutung zugeschrieben bekommen kann. Die Konzeption des phänomenologischen Unbewußten wird zwar nicht mit Bewußtseinsphänomenen gleichgesetzt, aber – so Bernet – immer in Relation zum Bewußtsein thematisiert, was zwar erkenntnistheoretisch nicht falsch ist, jedoch den Charakter des Unbewußten ausschließlich als eine erkenntnisbezogene Fragestellung erscheinen läßt. Desweiteren handelt es sich in der phänomenologischen Perspektive um eine Reduktion auf Probleme der Phantasie bzw. der Darstellung des Unbewußten als Phantasie und im engeren Sinne als Vorstellung. Freud spricht zwar auch davon, daß der Trieb nie direkt Gegenstand des Bewußtseins zu werden vermag, sondern durch eine unbewußte Vorstellungsrepräsentanz vertreten werden muß, um ihrerseits durch eine Übersetzung in eine bewußte Vorstellung ersetzt zu werden – Repräsentation der Repräsentation als Denkmodell des Verhältnisses zwischen Soma und Psyche und zwischen Unbewußtem und Bewußtsein. Aber hierbei ist nicht entscheidend, daß es sich um Vorstellungen im engeren Sinne, also im Sinne des Bewußtseins handelt, sondern darum, daß Unbewußtes ›nur‹ als übersetzbar in Vorstellungen des Bewußtseins gedacht wird, und daß die Übersetzung selbst als ein grammatisches (bzw. der Grammatik analoges) Verfahren gehandhabt wird, dessen Regeln nicht vollkommen bestimmbar sind. Wenn jedoch das Unbewußte sich ebenso in körperlichen Symptomen und Fehlleistungen zum Ausdruck bringt wie in Träumen und Phantasien, dann gebührt den Bewußtseinserscheinungen und damit dem Vorstellen keinerlei Priorität in der Konzipierung des Unbewußten. Denknotwendige Voraussetzungen der psychoanalytischen Erfahrung (als Forschung und Therapie) stellen sich ihr immer im Lichte des Unbewußten dar, nicht bloß des Bewußtseins. Nicht Reduktion auf Bewußtseinsphänomene (und seien es auch transzendentale), sondern Dezentrierung des Bewußtseins durch das Unbewußte heißt die Devise der Psychoanalyse. Holenstein556 sieht den entscheidenden Unterschied zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse nicht darin, daß die Psychoanalyse überhaupt eine affektive Determination der Assoziationsvorgänge ins Auge faßt, denn Husserl tut dies im Spätwerk auch, sondern daß der affektive Gesichtspunkt der Assoziation einem bewußtseinsfremden, nicht weiter sinnhaft motivierten Prozeß unterliegt. Die Ökonomie des Primärvorgangs entzieht sich dem Zugriff des Bewußtseins und seinen Sinnzuschreibungen, ja es selbst ist in seiner Sinnkonstitution auf die ihm fremde Energetik verwiesen. Erst Paul Ricœur, selber in der französischen phänomenologischen Tradition stehend, hat dann mit Hinblick auf die Psychoanalyse von der »gemischten Rede« gesprochen, die Sinnkonstitution und Energetik im psychoanalytischen Diskurs ineinanderfügt.557 Er verkennt jedoch die Bedeutung der Assoziation – wie es die Nachfolger sowohl Freuds als auch Husserls lange Zeit in vermeintlicher Abgren-

556. Vgl. Holenstein 1972, 342f. u. 340. 557. Ricœur 1965, 79. 293

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

zung gegen den Mechanismus der älteren Assoziationspsychologie getan haben – und spricht vom Anachronismus der Assoziationskonzeption.558 Daß gerade die Assoziation geeignet ist, um Ricœurs These vom Ineinander von Sinnkonstitution und Energetik zu illustrieren, legt das bisher Dargestellte nahe. Sinn und Energetik sind aber nicht aufeinander – so oder so – zu reduzieren. Kann die Husserlsche Phänomenologie zwar die gegebenen Phänomene transzendental begründen, ihre Konstitution im Sinnhorizont der Erfahrung motivieren, so fehlt ihr doch der Zugang zur Freudschen Wunschdynamik. Umgekehrt entbehrt die Psychoanalyse einer Einbettung des Phänomens Bewußtsein in ihr Konzept einer ›anderen Assoziation‹.559 Nur im Rahmen der Konzeption vom psychischen Apparat berührt Freud die Problematik des Bewußtseins in einer Weise, die über den Horizont des Freudschen Werks hinausweist (vgl. Kap. 4.1 und 4.2). Die diskursiven Brüche in beiden Denkgebäuden verweisen auf eine Lücke; die Psychoanalyse, indem sie an beiden widerstreitenden Aspekten – Energetik und Semiotik560 – festhält, hält die Lücke offen und schreibt ihre eigene Theorie an ihr fort. Auf theoretischer Ebene betreibt Psychoanalyse selbst das, was ihre Theorie behauptet: Sie stellt Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Phänomenen her und überbrückt also jene Lücke, die die Phänomene als solche erst hervortreten läßt und unterscheidbar macht. Für die Psychoanalyse ist Sinn Zusammenhang, als solcher jedoch ein Produkt der Assoziation, die ihrerseits immer schon Zusammenhang voraussetzt. Sinn ist ihr also nichts, was in einem absoluten Sinne als vorgegeben oder unantastbar betrachtet werden könnte, sondern selbst immer ein Element des Zusammenhangs, der durch Assoziation hergestellt wird, je schon von Relationalität, immer wieder und immer fort. Erst in sekundärer Hinsicht ist Sinn jenes Bewußtseinsphänomen, das etwas (Bewußtseinsinhalte, Wahrgenommenes, Gegenstände in der Welt) in den jeweils bekannten Zusammenhang von Sprache, Kultur und Sozialität einordnet, d. h. seinen Sinn zuweist und feststellt. Zusammenhang als eine je spezifische Organisation, die dazu bestimmt ist, den ›Sinn‹ zu

558. Ricœur 1965, 391. – Laplanche/Pontalis schreiben in ihrem Vokabular der Psychoanalyse unter dem Stichwort »Assoziation«: »Ein erschöpfender Kommentar über den Ausdruck ›Assoziation‹ würde eine kritisch historische Untersuchung über die Ausbreitung der Assoziationslehre in Deutschland im 19. Jahrhundert fordern, über deren Einfluß auf das Denken des ›jungen Freud‹, und zu zeigen haben, wie diese Lehre durch die Freudsche Entdeckung der Gesetze des Unbewußten integriert und umgewandelt wurde.« (Laplanche/Pontalis 1967, 75) Diese Arbeit versteht sich als ein Beitrag zu einem solchen Projekt. 559. Holenstein 1972, 330f., spricht (im Anschluß an Ricœur) von der wechselseitigen Irreduzibilität von Energetik und Hermeneutik bzw. Ökonomie und Sinnkonstitution. 560. Derrida hat in einem frühen Aufsatz in ähnlicher Weise das Problematische der strukturalistischen Literaturwissenschaft kenntlich gemacht: Derrida 1963. 294

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3. ZUR THEORIEGESCHICHTE DES BEGRIFFS DER ASSOZIATION

garantieren, ist erst mit Hilfe der Sprache und anderer kultureller Institutionen möglich. Der »Wert«, den bestimmte »Elemente« innerhalb des Zusammenhangs für den weiteren Assoziationsprozeß annehmen, leitet sich für das Subjekt aus der Intensität bzw. der »Quantität der Besetzung« her561. Die Qualitäten, die diese Differenzen für das Bewußtsein annehmen, die aber aus der Quantität der Besetzungen nicht herleitbar sind, können genauso wenig begründet bzw. zurückgeführt werden wie in anderen Theorien zur Konstitution psychischer, erlebter Qualität auch.562 Das Bewußtsein stellt eine irreduzible Qualität dar, die sich nicht aus der Assoziation als strukturellem Zusammenhang ableiten läßt. Als Ermöglichungsbedingung für Bewußtsein führt Freud noch die »Periode« der Besetzungsinnervation an – zunächst aus dem Kontext der physiologischen Neuronenkonzeption des Entwurfs, später im explizit so genannten spekulativen Versuch zur Begründung des Strukturmodells der zweiten Topik des psychischen Apparats –, die in Analogie auch die Zeiterfahrung des Bewußtseins für die Wahrnehmungen der Qualitäten in Anspruch nimmt.563 Das subjektive Zeitbewußtsein als eine Grundlage der (lebensweltlichen, biographischen und geschichtlichen) Orientierung kann es erst im Zusammenhang mit Gedächtnis geben. Das Fließen und die Dauer bleiben allerdings ein »Bewußtseinseffekt«, den die Freudsche Psychoanalyse nicht weiter plausibel machen kann. Hier endet das Fragen psychoanalytischen Erkenntniswillens an der Unmittelbarkeit des Erlebens: einem bleibenden Rätsel.

561. Vgl. Freud 1895, 314f. 562. Das sog. Qualia-Problem ist nach wie vor ein umstrittenes Thema (vgl. Kim 1998, Schröder 2004). 563. Vgl. Freud 1895, 318f. Freud kommt auf diese Problematik im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Wunderblock zurück (vgl. Kap. 5.3). 295

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) vakat 296.p 94863182182

4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

4. Der psychische Apparat als Technik des Gedächtnisses »Zur Zeit kann ein Mensch nur durch materielle Übermittlung und noch nicht als Nachricht von einem Ort zum anderen gelangen.« Norbert Wiener »Die Lichtmetaphorik ist nicht rückübertragbar.« Hans Blumenberg »Vielleicht erinnern Sie sich auch an den Ausspruch Bertrand Russells: ›Ein guter Formalismus denkt für uns.‹ Das soll uns aber bitte nicht davon abhalten, mitzudenken.« Heinz von Foerster Es gibt Ideen, die einen von Anfang bis Ende begleiten. Solche Ideen gehen um, und ihre Unbestimmtheit rumort im Geist, weil sie ihn an seiner schwachen Stelle treffen, dort wo er sich überrascht zeigt, als Einfall. Eine solche Idee könnte der Apparat gewesen sein, der Freuds Denken von der Aphasie-Schrift bis zum Abriß begleitet und lenkt: einer der möglichen roten Fäden durch das Werk Freuds. Es scheint, die Idee des Apparats gehört zu jenen Aufgaben, mit denen das Denken nicht fertig wird, in denen aber seine Produktivität liegt: In beständigem Umkreisen und Durchkreuzen der wesentlichen Probleme stellen sich immer neue Fragen – daher das Ringen um Darstellung, um Formulierung und Modellierung. Die Idee des Apparats, deren lange Vorgeschichte hier nicht rekonstruiert werden kann und soll, findet Freud als Anstoß seines Denkens in der Medizin und Humanbiologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor. Dieser Fund wird ihm unter der Hand zu etwas anderem, wie so vieles, was er aufgreift. Freud prägt allerdings eine spezifische Bezeichnung für die Idee, indem er ihr einen Beinamen verleiht, der zur stehenden Wendung wird: der psychische Apparat. Die damit verbundenen Transformationen einer Idee in begriffliche Konstruktionen, die gemeinhin Theorie genannt werden, sollen hier an einigen symptomatischen Punkten nachgezeichnet werden, nicht nur weil sie dem Freudschen Projekt der Psychoanalyse ihr besonderes Gepräge geben, sondern weil sich in Freuds Denken des Apparats 297

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

eine theoretisch bedeutsame Konstellation herauskristallisiert, die weit über den bezeichneten Kontext hinausweist. Die Idee des psychischen Apparats kann in mehrfacher Hinsicht als eine Übertragung aufgefaßt werden: zunächst als technische Metapher zur Darstellung der komplexen Organisation des Psychischen, also als Modellvorstellung; dann als sprachlich-energetische Funktionsweise des Apparats selbst, seine Arbeitsweise, wie Freud sagt; und darüber hinaus als ein terminus technicus des psychoanalytischen Prozesses, der das Verhältnis zwischen Analysant und Analytiker bestimmt. Die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen lautet, daß trotz der Bemühungen Freuds, die psychischen Instanzen im Rahmen eines theoretischen Modells nach topischen, dynamischen und ökonomischen Gesichtspunkten metapsychologisch zu ordnen, es ihm nicht gelingt, das Bewußtsein einer eindeutigen und erschöpfenden funktionalen Bestimmung zuzuführen. Da es hier, entgegen der populären Ansicht, die Psychoanalyse sei ausschließlich Psychologie des Unbewußten, auch darum gehen soll, das Rätsel des Bewußtseins wieder in den psychoanalytischen Diskurs einzuführen, wird im folgenden Kapitel 4.1 vorgeschlagen, Bewußtsein in seiner relativen funktionalen Ortlosigkeit als Übertragung und genauer: als Rückübertragung zu denken. Zum Standardwissen der Nervenphysiologie und Neuroanatomie des späten 19. Jahrhunderts gehört das Reflexbogenmodell des Nervensystems im Organismus: In seiner einfachsten Form handelt es sich um einen sensorischen Eingang (Sinneszellen in den für die Wahrnehmung geeigneten äußeren Organen), der die aufgenommenen Reize an Körpersysteme weiterleitet, die für deren Verarbeitung und/oder Umsetzung in eine motorische Reaktion vorgesehen sind. Freud kehrt nun – wie schon in der Figur der Regression – für bestimmte Arbeitsweisen des psychischen Apparats die Laufrichtung des vorbildhaften Reflexbogenmodells um und postuliert auch Übertragungen vom motorischen zum sensiblen Ende des psychischen Apparats. Diese Rückübertragung taucht auch im Zusammenhang mit der Rolle und Funktion des Bewußtseins im psychischen Apparat auf. Um die damit aufgeworfenen Fragen nach der Bedeutung von Rückübertragung, aber auch von Übertragung – von wo nach wo findet beides hier statt? – zu beantworten, ist es nötig, die Linearität des psychischen Apparats zu einem Kreislaufmodell zu verändern, um so die besondere Selbststeuerung, die Freud dem Bewußtsein zuschreibt, als Rückkopplungsprozeß beschreiben zu können. Die Verschränkung von kybernetischer und psychoanalytischer Modellbildung führt dabei zu einer wechselseitigen Modifikation des nachrichtentechnischen und des sprachlichen Begriffs der Übertragung: Weder die mathematisch-informationstheoretischen Bestimmungen der Information noch die linguistischen Bestimmungen der Redefiguren (Metaphorik) geben je für sich genommen eine hinreichende Erläuterung für eine Modellierung des Psychischen als Apparat. Was also als Apparat erscheint, hängt von den komplexen Bestimmungen ab, die dieser Idee im Spannungsfeld divergierender Diskurse gegeben werden kann. Im Denken Freuds überkreuzen sich physiologisch-anatomische Überlegung aus Medizin und Biologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit funktionsanalytischen 298

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

Bestimmungen psychologischer Art. Zu ergänzen ist diese komplexe Konstellation hier sowohl durch metaphorologische Überlegungen im Anschluß an Hans Blumenberg, die sich auf die reichhaltige Verwendung von Metaphern und Bildern in der Sprache Freuds beziehen lassen, als auch durch die Theorieentwicklung der Kybernetik seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

4.1 Kybernetik als Steuerung des psychischen Apparats Die Regelkreise: Selbststeuerung und Ausdifferenzierung Fragt man nach der grundlegenden metaphorischen Bewegung, die mit der Idee des Apparats verbunden ist, so ist zu konstatieren, daß Freud nie dem klassischen Maschinenverständnis angehangen hat, um das Psychische zu rekonstruieren. Vielmehr entwirft er, ausgehend von der Problematisierung der Denk- und Modellierungsmöglichkeiten sowohl der etablierten als auch der avancierten naturwissenschaftlichen Physiologie (so im Entwurf), eine letztlich transklassische Auffassung1 des psychischen Apparats, insofern die anfängliche, aus der zeitgenössischen (medizinisch-biologisch-psychologisch-philosophischen) Theoriebildung aufgenommene Problematik des Verhältnisses von Geist und Natur, Psyche und Soma, Seele und Leib, wie sie sich in der Denkfigur des sog. psychophysischen Parallelismus wiederfindet, sich durch die Fragestellung des Unbewußten abgelöst findet.2 Das Entscheidende an diesem Übergang ist, daß die Frage nach einer

1. Der transklassische Ansatz bedeutet zunächst viererlei: 1) eine Infragestellung des Geltungsbereiches der klassischen zweiwertigen Logik, wie sie seit Aristoteles bündig formuliert worden ist, und einen Übergang zu mehrwertigen Logiken; 2) Zweifel am absoluten Vorrang der Ontologie (Denken im Substanz-Akzidenz-Schema) und Aufwertung des Denkens in Relationen und Modalitäten; 3) einen Übergang von einem Denken des Seins zu einer Reflexion des Denkens selbst (Theorie der Beobachtung 2. Ordnung); 4) und einen Übergang von einer monokontexturalen zu einer polykontexturalen Betrachtungsweise: »Das neue transklassische Weltbild unterscheidet sich von dem verflossenen im wesentlichen dadurch, daß die fundamentale ontologische Qualitätsdifferenz, mit der das Denken zu rechnen hat, sich nicht mehr auf zwei Qualitäten [z.B. Geist und Materie] beschränkt, sondern daß postuliert wird, daß solche primordialen Abstürze wie wir sie zwischen Sein und Nichts als eindrücklichste innere Erfahrung erleben, in der uns umgebenden Wirklichkeit in unbeschränkter Zahl auftreten.« (Günther 1975, 62f.) Wenn auch nicht gesagt werden kann, daß Freud selbst ein klares theoretisches Verständnis für die philosophischen Konsequenzen des Übergang zum transklassischen Denken entwickelt habe, so gibt es doch genügend Versuche im Denken Freuds, sich den Beschränkungen des klassischen logisch-ontologischen Paradigmas zu entziehen und in Relationalitäten zu denken. 2. Vgl. Wegener 2004, 162-169, bes. 167. 299

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

ontologischen Dichotomie, wie sie sich aus der kartesianischen Tradition der Zwei-Substanzen-Lehre herleitet, und die daraus erwachsende Problematik des Zusammenhangs von res extensa und res cogitans dahingehend überschritten wird, daß die Konzeption des Unbewußten in der Psychoanalyse jenseits der eindeutigen Zuweisung von Geist und Materie, von Physischem und Psychischem angesiedelt ist. Freud interessiert keine einfache Mechanik des psychischen Apparats, die für starre, unilineare Modelle Geltung hätte, vielmehr stellt er sich der doppelten Anforderung, nicht nur ein Modell des Lebendigen, sondern eines des Psychischen zu entwickeln. Selbsttätigkeit, die man mit dem klassischen Maschinenbegriff in Zusammenhang bringen kann, sofern eine Maschine Arbeitsleistungen, die Menschen erbringen, verstärkt und ersetzt, ist nicht das entscheidende Kriterium des Psychischen. Ebenso wenig handelt es sich hier um ein reines Energieproblem, d. h. um die Umsetzung von Energiebeträgen in Arbeit (bzw. die Ersetzung von menschlicher Arbeit durch Umsetzung nichtmenschlicher Energiequellen in maschinelle Arbeit). Das zentrale Problem ist vielmehr das der Steuerung dieser Arbeitsprozesse, die nach dem Stand der technischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts nur in sehr begrenztem Maße als Selbststeuerung der Maschinen möglich war. In der Regel waren alle Vorgänge, die sich in einer und durch eine Maschine vollzogen, zuvor nach einem bestimmten Plan und Ziel festgelegt, ansonsten mußte die Steuerung in allen Augenblicken des Arbeitsprozesses von Menschen übernommen werden. Der Werkzeugcharakter stand im Mittelpunkt der technischen Verhältnisse – im Sinne einer instrumentellen Vernunft. Erst die Möglichkeit einer Programmierung kann die Steuerungsprobleme in einem höheren Grade an die Maschine selbst delegieren. Solange die Steuerung in direkter Weise von bestimmten Schwellenwerten und Meßgrößen abhängt, kann keine hohe Flexibilität der maschinellen Vorgänge erreicht werden (vgl. etwa den Fliehkraftregler des Überdruckventils an Dampfmaschinen). Erst wenn verschiedene Optionen maschineller Vorgänge in die Maschine selbst hineingebaut werden und es eine die Abfolge verschiedener Operationen regelnde Instanz innerhalb der Maschine selbst gibt, kann man von Selbststeuerung in einem anspruchsvolleren Sinne reden. Einfache Regelkreisläufe wie im Fliehkraftregler erfüllen ihre begrenzte Aufgabe selbständig – aber nur, weil ein Ingenieur ihre Struktur zuvor erdacht und ein Handwerker/Techniker sie in einen materiellen Gegenstand umgesetzt hat. Ihre Funktionsweise ist also vollständig von diesen Voraussetzungen bestimmt (sieht man einmal vom Verschleiß ab, dem alle technischen Gerätschaften unterliegen). Diese Idee der einfachen Selbststeuerung in operational geschlossenen Regelkreisläufen mit Umweltkontakt (sensorischer Reiz-Input und motorischer Reaktions-Output) wird ausbuchstabiert durch die Angabe der inneren Struktur des Apparats, der den Regelkreis verkörpert. Wichtig ist, daß der Rahmen, in dem der Arbeitsvorgang von einer Maschine erledigt wird, relativ begrenzt und zuvor in dem Maße festgelegt sein muß, wie die Maschine dann ohne weitere Aufsicht allein arbeiten soll. Alles andere würde Störungen, gar Katastrophen heraufbeschwören. Der klassischen Maschine fehlt also die situative Flexibilität, d. h. eine 300

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Umsicht, die über eng begrenzte, im voraus definierte Situationen hinausgeht (Steuerung erster Ordnung). Eine Steuerung zweiter Ordnung kommt dadurch zustande, daß nicht nur äußere Variablen (Input und Output) durch das technische Gerät miteinander in Beziehung gesetzt werden, sondern daß der jeweilige Zustand des Apparats selbst als Faktor in seinen eigenen Steuerungsprozeß wiederum eingeht. Man erkennt sofort, daß es hierbei wesentlich nicht um energetische Vorgänge geht (obwohl es sich darum immer auch handelt), sondern um informationelle. In Norbert Wieners Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine heißt es hierzu: »Die Information muß durch irgendeinen physikalischen Prozeß [...] übertragen werden. [...]. Nach der Quantenmechanik ist es jedoch unmöglich, irgendeine Information zu erhalten, die die Lage oder den Impuls einer Partikel angibt – viel weniger die beiden zusammen –, ohne eine positive Wirkung auf die Energie des untersuchten Teilchens auszuüben, die ein Minimum überschreitet, das von der Frequenz des für die Untersuchung benutzten Lichtes abhängt.«3 Wenn hier Information und Energie, Qualität und Quantität, Form und Stoff unterschieden wird, dann nur im Sinne einer Aspektverschiedenheit. Der Sache nach kann man beides nicht trennen, läßt sich doch das eine nicht ohne Bezug auf das andere bestimmen.4 Wesentlich ist also, daß der Zustand des Apparats als Steuergröße seines weiteren Operierens fungiert: Regelung der Regelung. Die Kenntnisnahme eines Zustands und seine Übertragung in einen anderen kann nur semiotisch vollzogen werden. Nicht ein tatsächlich wirksamer Energiebetrag oder die kausale Verknüpfung physikalischer Größen, sondern die Information über deren Zustand – also eine semiotische Form der Darstellung des Zustands und nicht der Zustand selbst –, werden wirksam, d. h. sind relevant. Diese Form der informationellen Selbstbezüglichkeit erhöht die Autonomie des Apparats gegenüber seiner Umwelt und erfüllt somit einen einfachen Begriff von Selbststeuerung.5

3. Wiener 1948, 84f. 4. Für dieses Denkmodell, das der Quantenphysik entnommen ist, ist die Übertragung auf eine andere physikalische Größenordnung unerheblich, da es nicht auf das Verhältnis der Energiebeträge als Meßgröße und Gemessenes ankommt, sondern darauf, daß Information nicht ohne Energiebetrag überhaupt zu gewinnen bzw. zu übertragen ist. 5. Auch diese Selbststeuerung ist natürlich im Falle von Maschinen eine Ingenieurs-Konstruktion, die den Bauplan als Apparat verkörpert. Insofern hier also die Anordnung der Maschine von außen, durch den Konstrukteur auferlegt ist, liegt noch keine Selbstorganisation vor. Auch in diesem Zusammenhang kann demnach von einer Transpositionslücke gesprochen werden, die vom Techniker überbrückt und mit einer Entscheidung von außen der technischen Anordnung auferlegt bzw. implementiert wurde. 301

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Damit ist allerdings noch nicht der Punkt erreicht, der bestimmten biologischen Organismen, zumindest menschlichen Wesen, zugeschrieben wird: sich selbst Ziele setzen zu können, sich gleichsam selbst programmieren zu können. Alle Zielvorgaben, die der Maschine zugrundeliegen, sind durch menschliche Konstruktion in sie hineingelegt, so daß die ›Selbstbestimmung‹ der Maschine sich immer nur im Rahmen der Vorgaben vollzieht, die von Menschen bestimmt werden. Zwar muß nicht behauptet werden, daß nur sich vollständig selbst hervorbringende Wesen dazu in der Lage seien, sich selbst zu bestimmen (da ja nur dann alle Voraussetzungen bzw. Rahmenbedingungen wiederum von diesem Wesen selbst hervorgebracht, mithin bestimmt werden könnten)6. Doch die beanspruchte Autonomie menschlicher Wesen (bzw. von Lebewesen überhaupt) ist – wenn auch an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die sich nicht nach ihrer Willkür gestalten lassen – eben doch möglich. Denn sofern Freiheit nicht als absoluter Begriff aufgefaßt wird, sondern immer unter Bedingungen erst sinnvoll entfaltet werden kann, reicht es aus, Freiheitsmöglichkeiten in Bezug auf bestimmbare Optionen auszuweisen und innerhalb bestimmter Rahmenvorgaben zu erläutern. Die Frage geht dann zunächst immer darauf, welche Freiheitsgrade in gegebenen Situationen für möglich und verwirklichbar gehalten werden, und nicht darauf, ob irgendein Wesen schlechthin frei sei. Deshalb geht es in diesem Zusammenhang darum, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen eine zunehmende Autonomie menschlicher Organismen in ihrer Umwelt möglich ist. Nur dort, wo Selbsterzeugung und Selbsterhaltung absolut gesetzt sind, d. h. von nichts abhängig wären außer von sich selbst, könnte auch die Selbststeuerung eine absolute sein.

Die Regulation des psychischen Apparats Freud versucht dieser Problematik innerhalb seines Modells vom psychischen Apparat gerecht zu werden, indem er diesen zunächst in seine verschiedenen psychischen Systeme differenziert, die mit bestimmten Aufgaben (Erinnerungssysteme, Wahrnehmung), Arbeitsprinzipien (Primär- und Sekundärprozeß) und Eigenschaften (unbewußt, vorbewußt, bewußt) belegt werden. Raffiniert wird dieser Apparat aber erst dadurch, daß ihm neben solchen Steuermöglichkeiten eines Regelkreislaufs erster Ordnung eine Regelung zweiter Ordnung hinzugegeben wird. Zunächst zum Regelkreislauf erster Ordnung. Dieser ist selbst schon ein zusammengesetzter: Die unilineare Steuerung des Reflexbogenmodells stellt keine in sich geschlossene Kreislaufschaltung dar, weil ja im wesentlichen nur aufgenommene Reize der Umwelt wieder in die Umwelt als motorische Aktion abgeführt werden, während der ›Zustand der Umwelt‹ nicht als Teil des Regelungs-

6. Diese Bedingungen werden von der Konzeption der Autopoiesis, wie sie Maturana und Varela formuliert haben, postuliert (vgl. Maturana/Varela 1984). Zur kritischen Diskussion und Differenzierung in der Begrifflichkeit vgl. Roth 1986. 302

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vorgangs selbst, der zum Gesamtsystem »psychischer Apparat« gehört, angesehen werden kann. Als ein Reiz-Reaktions-Schema ist das Nervensystem ein klassisches, umweltoffenes System mit Input und Output, in dem noch keine flexible, situationsvariante Reaktionskontrolle stattfindet. Reflexe weisen ja gerade die Eigenschaft auf, eine spezifische Reaktion aufgrund eines bestimmten Reizes innerhalb kürzester Zeit auszulösen.7 Für eine differenzierte Reaktion bleibt demnach keine Zeit, d. h. in einem solchen System (bzw. Systemmodul) gibt es noch keine Selbststeuerung des Nervensystems, sondern nur eine festgelegte Kopplung zwischen Reiz und Reaktion nach der einfachen Regel: Quantität (= aufgenommener Reiz) soll abgebaut bzw. abgeführt werden (= motorische Reaktion). Freuds grundlegende Strukturierung des zunächst eingeführten Schemas des psychischen Apparats ist in dieser Hinsicht eindeutig, spricht er doch von der »Forderung, der psychische Apparat müsse gebaut sein wie ein Reflexapparat. Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung.«8 In einem anderen Sinne läßt sich jedoch schon von einem Regelkreislauf sprechen, wenn man den Rahmen des theoretischen Modells erweitert, weil natürlich jede motorische Aktion eine Veränderung in der Umwelt bedeutet, die dann wiederum als Ausgangspunkt eines erneuten Reizes weitere (Re-)Aktionen initiieren kann. Input und Output überschreiten also die Systemgrenze. Da jedoch die Umwelt nicht zum System, hier: zum psychischen System, gerechnet werden kann, kommt eine Schließung dieses Regelkreislaufs nur über ein Außen (= Umwelt) des (psychischen) Systems zustande. Mit anderen Worten: Nur wenn System und Umwelt zusammen selbst wieder als ein (umgreifendes) System betrachtet werden können, ließe sich ein vollständiges Modell ihrer Beziehungen und Interaktionen bilden. Diese Erweiterung der Beobachtungsperspektive läßt sich jedoch nicht immer sinnvoll durchführen und mündet in letzter Hinsicht in metaphysische Fragestellungen wie die, ob letztlich alles System sei.9 Streng internalistisch betrachtet kann jedoch schon insofern von Selbststeuerung gesprochen werden, als Freud die Ausdifferenzierung des psychischen Apparats mit der Instantiierung unterschiedener Bereiche (und Systeme) verbindet, die verschiedenen Arbeitsweisen gehorchen: Während der Primärprozeß nur die

7. Die Spezifik der Reaktionen läßt sich als ein Aspekt der Geschlossenheit eines Reiz-Reaktions-Schemas begreifen, insofern eine Konstanz von Reaktionen in Bezug auf bestimmte Reize gewährleistet wird und von außen, durch Reize, nicht verändert werden kann. 8. Freud 1900, 514ff. 9. Die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns hat auf diese prinzipielle Fragestellung mit einem klaren Nein geantwortet: Umwelt ist kein System, aber Systeme können in ihr vorkommen. Nicht alles, was in der Perspektive der Systemtheorie unter die Kategorie Umwelt gehört, ist also selbst ein System, wenn auch manches (vgl. Luhmann 1984, 35ff.). 303

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Tendenz zum Spannungsabbau repräsentiert, bildet der Sekundärprozeß prinzipiell eine Hemmung gegenüber einem hemmungslosen Lustgewinn (den Freud mit Spannungsabbau gleichsetzt). Das Realitätsprinzip fungiert als Stellvertretung der Außenwelt und prüft, was ›in Wirklichkeit‹ los ist. Bekanntlich nennt Freud die psychischen Instanzen zunächst Ich und Unbewußtes, dann Bewußtes, Vorbewußtes und Unbewußtes und schließlich Ich, Über-Ich und Es. Die Realitätsprüfung wird zumeist mit dem Ich oder den Systemen Vbw bzw. W-Bw in Verbindung gebracht. Allerdings müssen diese gegenstrebigen Tendenzen im psychischen Apparat (als einem Verbund unterschiedlicher Systeme) selbst lokalisiert werden. Freud muß die Funktionen von einerseits Spannungsabfuhr und andererseits Hemmung dem Psychischen (bzw. einem seiner Systeme) selbst zuschreiben. Es muß auch die Leistung, sich zu hemmen, selbst erbringen. Schon diese gegenläufigen Tendenzen des Psychischen machen es erforderlich, verschiedene Systeme des Psychischen zu postulieren. Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um Psychisches: Die Hemmung wäre grundsätzlich derselben Voraussetzung wie der Spannungsabbau abgerungen worden, d. h. letztlich steht der Sekundärprozeß im Dienste des Primärprozesses, sorgt jedoch unter Rücksichtnahme auf die Realität für eine Erhaltung des gesamten psychischen Apparats. Ohne diese Möglichkeit, die unmittelbaren Tendenzen aufzuschieben, wäre die Gefahr der Vernichtung des Systemverbunds in einer nicht per se verträglichen oder freundlichen Umwelt sehr groß. Die Spannung zwischen den beiden Prinzipien, die die Grundtendenzen des psychischen Apparats beherrschen, führt zur Verlängerung der Spannungsabfuhr, wenn nicht überhaupt zur Lebensverlängerung und -erhaltung. Die Vergänglichkeit der Lust bzw. die Flüchtigkeit des Lustgewinns gewinnt durch die Hemmung des Sekundärprozesses an Stabilität und Dauer, die aus dem Primärprozeß allein nicht zu erhoffen ist.10 Wodurch kommt nun diese Hemmung laut Freud zustande? Die Einrichtung von getrennten Systemen kann mit dieser generellen sekundären Tendenz des Apparats in Verbindung gebracht werden. Die verschiedenen Systembildungen sind zunächst – ökonomisch betrachtet – nichts anderes als zurückbehaltene, gleichsam gespeicherte Energie und geben als Besetzung im Psychischen dem Apparat Struktur. Freud versieht also nicht nur den Apparat einfach mit einer Struktur, sondern stellt auch eine Hypothese über die Genese dieser Strukturen auf. Ökonomisch erfährt diese Betrachtungsweise ihre Rechtfertigung darin, daß jeder Aufbau von Struktur die Bindung von anfallender psychischer Energie ist, die aus den aufgenommenen Reizen der Umwelt und den mit ihnen verbundenen Spannungen innerhalb des Psychischen entsteht. Strukturbildung verbraucht

10. Damit kommt Freud einer Einsicht Nietzsches nahe, in dessen Zarathustra es heißt: »Denn alle Lust will – Ewigkeit! [...] Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!« (Nietzsche KSA 4, 402/403) Diese Lustverlängerung bzw. -erhaltung kann nur über den Umweg des Lustaufschubs erreicht werden, der seinerseits selbst wiederum mit Lust besetzt werden kann. 304

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also Energie, ist abgezweigte Energie des psychischen Reservoirs, die durch den Umweltkontakt in strukturierte Form gebracht worden ist. Topik ohne Ökonomie gibt es nicht, aber umgekehrt kann die Bildung der Topoi des Psychischen einen Beitrag zu seinen ökonomischen Grundproblemen leisten.11 Zudem vollzieht sich mit jedem System eine funktionale Differenzierung, d. h. es fallen jedem (Sub-)System spezifische Aufgaben zu, die von keinem anderen ›erledigt‹ werden. Damit folgt der Strukturaufbau nicht nur dem Prinzip der Spezialisierung und Diversifizierung, sondern auch dem der Sparsamkeit. Mit diesen verschiedenen Systemen ist es dem psychischen Apparat nun möglich, die anfallenden Spannungen unterschiedlichen Verarbeitungsvorgängen zu unterwerfen. Damit kommt das Psychische in hervorragender Weise den Anforderungen des Realitätsprinzips nach und hat durch die zunehmende Differenzierung sogar die Möglichkeit, dabei verschiedene Wege und Lösungsmöglichkeiten einzuschlagen. Auf diese Weise erfüllt es den Begriff der Selbststeuerung in rudimentärer Weise: nämlich zunächst als Selbstgestaltung. Es sind die internen Bedingungen (Strukturen und Arbeitsprinzipen) des Apparats, die sein Verhalten als ganzes in der Umwelt und ebenso seine interne Dynamik bestimmen, und zwar zunehmend, je differenzierter dieser Apparat ist. Letztlich ist die Ausbildung von Sprache und die damit gegebene Möglichkeit einer kommunikativen Koordination mit anderen Systemen gleicher Kompetenz ein erheblicher Zugewinn an Operationsmöglichkeiten. Sprachfähigkeit steht also nicht in unvereinbarem Gegensatz zu den Prinzipien der Evolutionstheorie, denn sie eröffnet tatsächlich Vorteile insbesondere in der Kooperation und Planung. Aber Sprache geht über solche Nützlichkeitserwägungen hinaus.12 Mit dieser Modellierung des psychischen Apparats ist allerdings noch nicht jener moderne Begriff der Selbststeuerung eingelöst,13 der einen internen Re-

11. Norbert Wiener konstatiert eine Asymmetrie zwischen der Entwicklung organischer und natürlicher Prozesse, die mit Begriffen wie Irreversibilität und Geschichte zu belegen sind, gegenüber der Reversibilität der klassischen Mechanik Newtons: Die Entwicklung des Lebendigen zeigt eine »Tendenz vom Einfachen zum Komplexen« (Wiener 1948, 59) im Gegensatz zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der eine tendenzielle Abnahme der bestehenden Differenzen im Energieniveau bzw. Ordnungsgrad geschlossener Systeme postuliert. Im Verhältnis zur Umwelt weisen Systeme ein Komplexitätsgefälle auf. Systeme haben die Tendenz, (brauchbare) Energie zu verlieren, d.h. an die Umwelt abzugeben, und somit an Ordnung, an aufgebauter Struktur verlustig zu gehen. Zugleich versuchen sie jedoch gegen diese Grundtendenz Struktur aufzubauen und zu erhalten. Dies kann ihnen durch die Speicherung von Energie gelingen, die dann nicht mehr frei verfügbar, sondern gebunden ist. Der Gewinn liegt in der Ausbildung der höheren internen Komplexität, die dem System mehr Optionen für sein weiteres Operieren eröffnet, also z.B. Alternativen für Lösungen mit geringerem Energieverlust. 12. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß Winfried Menninghaus unlängst auf die verkürzte Darwin-Rezeption hingewiesen hat und auf die Rolle der Ästhetik im Rahmen der Darwinschen Evolutionstheorie selbst (vgl. Menninghaus 2003). 305

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gelkreislauf in der Struktur des Systems meint. Damit ist nicht allein die Rückkopplung mit der Umwelt angesprochen, die das Außen des Systems sowohl als Sphäre des Inputs wie des Outputs betrachtet – wo also Wahrnehmung und Verhalten in der Weise mit einander rückgekoppelt sind, daß jede Aktion in der Umwelt wiederum zum Gegenstand der Wahrnehmung desselben Systems werden kann –, sondern die Tatsache, daß der Zustand des Systems selbst als Input für die nächstfolgenden Operationen desselben Systems angesehen wird. Diese interne operationale Schließung des Systems muß also als interne informationelle Rückkopplung modelliert werden.14 Freud führt sie über den Terminus der Übertragung und die Systeme Vbw, Bw und W ein. Damit verändert sich allerdings die Bedeutung des Informationsbegriffs, wie er aus technisch-mathematischem Kontext bekannt ist. Dort bedeutet Information zunächst eine rein statistische Häufigkeit des Vorkommens von Differenzen.15 Seltenes Vorkommen bedeutet hohe Signifikanz, häufiges Vorkommen niedrige. Je öfter ein Ereignis, eine Differenz oder ein Zeichen sich wiederholt, desto geringer ist sein Informationswert – bis es schließlich nichts mehr bedeutet, weil alles dasselbe ist. Im Psychischen (wie im Sozialen) kann jedoch gerade der Wiederholung eine enorme relative Bedeutung zuwachsen. Dort kommt es also nicht nur auf eine Häufigkeitsverteilung im statistischen Sinne an, sondern auch auf den Kontext des Ereignisses bzw. die Hinsicht des Beobachters, ob irgend ein Vorkommnis von Bedeutung ist oder nicht. Damit ist ein relationaler Begriff von Bedeutung angedeutet, der die Frage nach der Bedeutung von etwas immer nur daraufhin beantwortet: bedeutsam für wen? Bedeutung in welcher Hinsicht? Man kann in diesem Zusammenhang auch von einem relationalen oder funktionalen Perspektivismus sprechen. Diese Form der Bedeutsamkeit läßt sich gerade an sprachlichen und sozialen Prozessen aufzeigen, die ja immer von Erfahrungen und Erwartungen mitbestimmt sind, die die Situation des Ereignisses als Ereignis konstituieren und zum bedeutenden Ereignis machen. Es geht also darum zu begreifen, warum etwas aus der Masse möglicher Ereignisse als ein solches wahrgenommen und für wichtig erachtet wird. Psychoanalyse interessiert sich gerade für dieses labile Verhältnis zwischen dem Vorkommen eines signifikanten Elements und seinen vielschichtigen Effekten.16

13. Vgl. Foerster 1993a. 14. Grundlegend hierzu Wiener 1948. 15. Vgl. Shannon 1948 und Shannon/Weaver 1949 sowie die Kritik an der Übertragung dieses Modells in allgemeine Fragen der Kommunikationstheorie und der Konstitution von Bedeutung in Nørretranders 1991, 67ff. und Roth 1994, 92ff. 16. Bei Jacques Lacan wird der Bezug zwischen Informationstheorie und Psychoanalyse schon Anfang der 50er Jahre hergestellt. Verschiedentlich werden die Wirkungen der Signifikanten informationstheoretisch behandelt, aber zugleich wird auf die Bedeutung dieser Modelle für das Verständnis des Unbewußten hingewiesen. So heißt es z.B.: »Jene Kette [der Signifikanten], die darauf insistiert, sich zu reproduzieren in der Übertragung, und die die Kette eines toten Begehrens ist, wohnt in einem Gedächtnis, vergleichbar dem, das man ebenso nennt bei unseren modernen Denkapparaten (die auf 306

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Ausdrücklich bezeichnet Freud das Bewußtsein als feinere Steuerungsmöglichkeit des psychischen Apparats,17 d. h. Bewußtsein als eine (Teil-)Funktion des psychischen Apparats verfeinert die Arbeitsweise desselben Apparats als ganzem. Das Bewußtsein als Teilfunktion des Verbundsystems »psychischer Apparat« zu betrachten, leistet eine besondere Form der Rückkopplung: die interne Rückübertragung. Damit ist das verbunden, was sich im psychischen Erleben als Aufmerksamkeit bemerkbar macht. Bewußtheit stellt einen merkwürdigen Zwischenbereich des Psychischen dar, der in der von Freud vorgeschlagenen Topik des Apparats nur schwer zu lokalisieren ist, zumal die Unterscheidung von bewußt/vorbewußt/unbewußt in einer anderen Dimension als die zwischen Primär- und Sekundärprozeß liegt und in gewisser Weise zur zweiten Topik von Es/Ich/Über-Ich quer steht.18 Gerade die Differenzierung des Apparats in die verschiedenen Organisationsformen und Arbeitsweisen der psychischen Systeme Ubw, Vbw und Bw, von denen Freud in der Traumdeutung spricht, wirft besondere Probleme für das Verständnis der Idee des psychischen Apparats als ganzem auf. Bekanntlich postuliert Freud zwischen den Systemen unterschiedliche Zensurinstanzen, die den Austausch zwischen den Systemen regeln. Allerdings bleibt relativ unklar, wo diese Zensurinstanzen tatsächlich angesiedelt sind: innerhalb eines der angrenzenden Systeme oder zwischen ihnen? Und nach welchen Erfordernissen richtet sich also die Arbeit der jeweiligen Zensur: nach je eigenen, nach denen eines der Systeme oder des ganzen psychischen Apparats? Deshalb darf man mit Recht fragen: Zählen die Zensurinstanzen zu einem der Systeme, oder bilden sie eine eigene Instanz neben den Systemen? Gehorchen sie nicht vielmehr den ›zwei Prinzipien des psychischen Geschehens‹ oder jedenfalls einem von beiden? Und wenn ja: Dienen sie mehr dem Realitäts- oder dem Lustprinzip? Die Rolle, die der Kompromißbildung im psychischen Geschehen zukommt, läßt sich in der einen oder anderen Weise verstehen.19 Zu erwägen ist auch, ob nicht Bewußtsein qua Bewußtsein selbst eine Zensurwirkung ausübt, ob seine ›Enge‹ und Begrenztheit, sein ›Absehen von ...‹, genau jene zensurierenden Wirkungen im psychischen Apparat mit hervorbringt. Die Rede von Schirm, Abschirmung oder Filter ließe sich als gängige Metapher aufrufen. Freud wählt eine vorsichtige Formulierung:

einer elektronischen Realisierung der signifikanten Komposition basieren).« (Lacan 1957, 44, vgl. a. Lacan 1955, 373ff.) 17. Vgl. Freud 1900, 583f., 577; s. u. den Abschnitt Die Funktion des Bewußtseins als psychische Arbeit. 18. Vgl. den folgenden Abschnitt; vgl. a. Mai 1981. 19. »Ein und dasselbe Ereignis kann […] zugleich dem System und seiner Umwelt angehören. […] Kein Datum kann endgültig im System oder in der Umwelt lokalisiert werden, sondern gehört gleichzeitig je nach Beobachtungsperspektive zu einem System und zur Umwelt anderer Systeme.« (Baraldi/Corsi/Esposito 1987, 195-199). 307

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»Die kritisierende Instanz, haben wir geschlossen, unterhält nähere Beziehungen zum Bewußtsein als die kritisierte. Sie steht zwischen dieser und dem Bewußtsein wie ein Schirm. Wir haben ferner Anhaltspunkte gefunden, die kritisierende Instanz mit dem zu identifizieren, was unser waches Leben lenkt und über unser willkürliches, bewußtes Handeln entscheidet. Ersetzen wir nun diese Instanzen im Sinne unserer Annahmen durch Systeme, so wird durch die letzterwähnte Erkenntnis das kritisierende System ans motorische Ende gerückt. […] Das letzte der Systeme am motorischen Ende heißen wir das Vorbewußte.«20 Es ist also eine Aufgabe des Vbw (wie man dem Schema und dem Text in der Traumdeutung entnehmen kann), die Zensur zu betreiben. Aber man könnte fragen: in wessen Auftrag? Es ergibt sich die Komplikation, daß Freud andeutet, die weitere Zensurinstanz zwischen Vbw und Bw weise auf einen »innigen und zweiseitigen Zusammenhang zwischen Zensur und Bewußtsein hin«.21 Die Frage nach der Funktion dieser Zensurinstanzen läßt sich insoweit spezifizieren: Nach dem Modell von Besetzung und Übersetzung22 kann man davon ausgehen, daß der Übergang vom Unbewußten ins (Vor-)Bewußte mit dem Wechsel von einem Medium der Artikulation in ein anderes verbunden ist. Die ›Sprache des Unbewußten‹ ist eine fremde, dem bewußten (sprachlichen) Verstehen gegenüber (mehr oder weniger) unverständliche. Allerdings fällt das Unbewußte schon unter die Repräsentation und ist insofern strukturiert: Freud faßt sowohl vor 1900 wie auch später das unbewußt Psychische nicht als schlicht Irrationales, Gestaltloses, völlig Ungeregeltes auf, sondern als einen in sich schon strukturierten, aber nach anderen Prinzipien organisierten Bereich. Die Charakterisierung des Unbewußten umfaßt, daß es ein System sei; daß es dem Primärprozeß unterworfen sei; daß es in seinen Assoziationsvorgängen freier sei als das Bewußtsein; daß es von der Assoziation mit dem Bewußten abgehalten, abgespalten, dissoziiert sei. Das Unbewußte der Psychoanalyse ist also nichts einfach Ursprüngliches, sondern selbst schon eine Repräsentation, eine Übersetzung somatischer Impulse in psychische Repräsentationen, eine Verknüpfung von anfallender freier Energie mit in Vorstellungen gebundener Energie.23 Insofern Psychisches als Vorstellung differenziert bzw. artikuliert ist, gehört es in den Bereich der Zeichen, des von einander Unterschiedenen, des Sich-ersetzen- und Sich-vertreten-Könnens. Allerdings sind diese Vorstellungen als unbewußte eben dem Primärprozeß unterworfen, und erst die Angleichung an für das Bewußtsein verträgliche, gewohnte und verstehbare Vorstellungen läßt ein Bewußtwerden zu. Dieser Übergang scheint mehr mit dem Systemzustand, seinen Strukturen und Funk-

20. Freud 1900, 516f. 21. Freud 1900, 585. 22. Vgl. das Rebus-Beispiel zur Erläuterung der Darstellungsprinzipien des Traums (Freud 1900, 280f.) sowie in dieser Arbeit Kap. 3.1. 23. Zur Problem der Rede von der psychischen Energie vgl. in diesem Kap. weiter oben sowie Elkana 1986. 308

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tionen, zu tun zu haben als mit den Vorstellungen als solchen. Das Bewußtwerden heißt hier zunächst, daß es z. B. in die konventionellen Formen der Umgangssprache übersetzt wird. Abstrakt formuliert: Weniger die Elemente selbst, als vielmehr die Relationen zwischen ihnen entscheiden darüber, was zum System gehören kann und was nicht. Durch eine solche Eingliederung wird eine unbewußte Vorstellung dem Bewußtsein zugänglich, und es kann versuchen, seinen Einfluß über sie geltend zu machen. Das Bewußtsein muß sich dabei der dem Psychischen überhaupt zur Verfügung stehenden Energien bedienen und vom gesamten Reservoir der Libido, wie Freud die psychische Energie nennt, etwas für sich abzweigen, um dann, gleichsam nach der ›Zähmung‹, genügend Kraft aufbringen zu können, als ›Reiter‹ dem kräftigeren Wesen seinen Willen aufzuzwingen, oder dem ›Pferd‹ durch List den richtigen Weg zu weisen.24

Evolutionäre Überflüssigkeit und funktionale Deutung des Bewusstseins Das Rätsel des Bewußtseins und sein Lokalisationsdilemma wurden bereits angesprochen. Die funktionale Überflüssigkeit des Bewußtseins ergibt sich in der Perspektive, die den Eintritt in die (gewöhnliche) Sprachlichkeit schon mit dem Wechsel ins System Vbw verknüpft sieht. Wozu braucht der psychische Apparat dann noch das System Bw? Freud behauptet ja, daß das Bewußtsein eine andersartige Regulierungsmöglichkeit, eine Selbstregulation des psychischen Apparats bedeute. Da die Codierung in gewöhnlicher Sprache gerade nicht die Leistung des Bewußtseins ist, sondern Bewußtheit von Freud eher als ein Ergebnis der Übersetzung in Sprache angesehen wird, bleibt die Frage, warum es dieser spezifischen Form der Darstellung als Bewußtsein noch bedarf. Das Bewußtsein steht – um an ein Bild von Freud anzuknüpfen – am Ende einer Reihe von psychischen Vorgängen, so wie die Projektion eines Filmapparats25 den Weg von einer Lichtquelle über die Linsensysteme und den Filmstreifen bis auf die Leinwand nimmt, wo dann ein Bild sichtbar wird. Allerdings bleibt ein wesentlicher Unterschied bestehen, den kein Gleichnis (von seiten Freuds oder anderer) bisher hat zum Ausdruck bringen können: daß das Bewußtsein nicht nur Bewußtsein von etwas (Gegenstandsbewußtsein) ist, sondern immer auch (potentielles) Bewußtsein von sich selbst (Selbstbewußtsein). Um im Bild zu bleiben: Ein Bild der Filmprojektion sieht sich nicht selbst, sondern wird vom Zuschauer gesehen; auch die Pro-

24. Freud verwendet dieses Bild von Pferd und Reiter in äußerst ironischer Weise, indem er ein antikes Diskurselement, wie es in Platos Gleichnis vom Seelenwagen überliefert ist, mit der Tradition des jüdischen Witzes verbindet: »Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tiers zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale Fall, daß der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es selbst gehen will.« (Freud 1916-1917, 514). 25. Freud 1900, 512f. 309

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jektion als Gesamtvorgang sieht sich nicht selbst und bringt sich nicht selbst zur Darstellung. Andererseits hält Freud immer daran fest, die Aufmerksamkeit (auf etwas, den psychischen Apparat oder das Bewußtsein selbst) als die spezifische Funktion des Bewußtseins anzusehen. Er spricht in diesem Sinne auch von innerer Wahrnehmung bzw. von Selbstwahrnehmung des Psychischen, des Innen, die deutlich von der äußeren Wahrnehmung unterschieden, wenn auch analog zu verstehen sei.26 Das Bewußtsein erfüllt die besondere Funktion »eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten«.27 Solange man dieses Bewußtsein nicht verabsolutiert, z. B. eine vollständige Selbsttransparenz damit verbindet, kann natürlich auch im psychoanalytischen Kontext von Bewußtsein gesprochen werden. Nebenbei bemerkt behandelt Freud das Bewußte des Psychischen oft in dynamischen Kategorien und spricht nicht nur von den Vorgängen und Bedingungen, inneren wie äußeren, die etwas bewußt werden lassen, sondern vertritt mit Nachdruck »eine ganz bestimmte Auffassung vom ›Wesen‹ des Bewußtseins; das Bewußtwerden ist für uns ein besonderer psychischer Akt, verschieden und unabhängig von dem Vorgang des Gesetzt- oder Vorgestelltwerdens, und das Bewußtsein erscheint uns als ein Sinnesorgan, welches einen anderwärts gegebenen Inhalt wahrnimmt.«28 Pointiert könnte man sagen, Freud transformiert den klassisch philosophischen Begriff des Bewußtseins in den psychodynamischen des Bewußtwerdens. Man kann die Frage nach der Rolle des Bewußtseins noch verschärfen: Freud spricht dem System Vbw sogar die Leistung der Vorbereitung für Aufmerksamkeit zu: »Das System Vbw sperre nicht nur den Zugang zum Bewußtsein, es beherrsche auch den Zugang zur willkürlichen Motilität und verfüge über die Aussendung einer mobilen Besetzungsenergie, von der uns ein Anteil als Aufmerksamkeit vertraut ist.«29 Die Aufmerksamkeit – eine besondere Funktion, die in verschiedenen Theorien dem Bewußtsein zugeschrieben wird – wird selbst zweideutig und kann nicht mehr als eindeutiges Kriterium zur Identifizierung des Bewußtseins als psychisches System gelten. Um die Konsequenz aus Freuds Analyse zu ziehen, kann man auf eine doppeldeutige Formulierung aus der Alltagssprache zurückgreifen: Aufmerksamkeit kann auf etwas gelenkt werden – im doppelten, nämlich aktiven und passiven Sinne vom Standpunkt des Bewußtsein aus. Demnach ist Vorstellen bzw. das Haben von Vorstellungen das eine, das Richten der Aufmerksamkeit auf etwas eine andere, davon zu unterscheidende Angelegenheit. Mit der Aufmerksamkeit scheint in der Regel auch eine Fokussierung verbunden zu sein, eine Konzentration auf etwas Bestimmtes, was gerade das unkonzentrierte Ab- oder Umherschweifen ausschließt. Wenn Freud auch nicht der

26. Freud erläutert die innere Wahrnehmung als zumeist bezogen auf die sensorische Wahrnehmung durch die körperlichen Sinnesorgane. 27. Freud 1900, 583. 28. Freud 1900, 160. 29. Freud 1900, 582. 310

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Meinung ist, es ließen sich hier trennscharfe Abgrenzungen vornehmen, so besteht er doch darauf, das übliche Verständnis der Funktion Aufmerksamkeit – als eine Einstellung auf ein bestimmtes Moment (ein Symptom z. B.) – von der gleichschwebenden Aufmerksamkeit zu unterscheiden: »Jede Analyse könnte mit Beispielen belegen, wie gerade die geringfügigsten Züge des Traumes zur Deutung unentbehrlich sind«. Gerade die (willentliche) »Aufmerksamkeit« verzögere die Deutung. Vielmehr gelte es, die Wichtigkeit der Nuance zu betonen, an der Respektierung der »Mängel des Ausdrucks« festzuhalten und das Material »wie einen heiligen Text« zu behandeln.30 Dieser Schwebezustand muß erst durch Übung, durch die paradoxe Aufforderung: Habe nichts Bestimmtes im Sinn!, durch eine besondere Anstrengung erzeugt werden. Die geübte Zurückhaltung, nichts Bestimmtes zu wollen oder im Sinne zu haben, verhindert nicht, sondern eröffnet gerade die Möglichkeit, daß etwas anderes, was nicht intendiert war, in den Horizont des Bewußtseins eintreten kann. Schon das gewöhnliche Vorkommen des Einfalls spricht ja gegen die gänzliche Abgeschlossenheit des Bewußtseins: Vielmehr verändert die Zensur an der Grenze zwischen dem Bewußtsein und den angrenzenden Systemen die ›Botschaften des Unbewußten‹ und schreibt sie um in bewußtseinsfähige, wenn auch nicht gleich vollverständliche Mitteilungen. Überraschung, das Sich-verstören-lassen, die Zerstreuung sind passende Charakteristika für die brüchige Kontinuität der Erfahrung und für die Kompromißbildung zwischen den divergierenden Tendenzen der verschiedenen psychischen Instanzen und ein häufiger Charakter psychischer Produktionen. Vielleicht besteht die Konsequenz des vielseitigen Begriffs Bewußtsein darin, daß für die Analyse der Phänomene, die man gewöhnlich mit dem Kennzeichen bewußt belegt, eine multifaktorielle Konstitution zugrundegelegt werden muß. Deshalb reicht es nicht aus, so wie mitunter auch Freud und andere Autoren es in verschiedenen Varianten versucht haben, etwas Wesentliches am Phänomen des Bewußtseins auszuzeichnen, andere Aspekte jedoch zu vernachlässigen oder ganz auszusparen – ein weiterer Grund für die wiederholten Anläufe in Freuds Denken des Apparats. Wie stellen sich nun die Verhältnisse dar, unter denen Bewußtsein laut Freud zustande kommt? Schon früh spricht Freud die Warnung aus: »Eine Erklärung, wieso Erregungsvorgänge in den Wahrnehmungsneuronen (ωN) Bewußtsein mit sich bringen, ist natürlich nicht zu versuchen. Es handelt sich nur darum, die uns bekannten Eigenschaften des Bewußtseins durch parallel veränderliche Vorgänge in den Wahrnehmungsneuronen (ωN) zu decken. Das geht dann im Einzelnen nicht übel.«31 Mit dieser Warnung ist eine methodologische Maxime ausgesprochen, an die Freud sich bei allen weiteren Anläufen, das Geheimnis des Psychischen zu lüften, im wesentlichen halten wird: nicht substantielle Festschreibungen, sondern funktionale Bestimmungen und Korrelationen, die je nach Problemkontext modifiziert oder gar fallengelassen werden.

30. Freud 1900, 492f.; vgl. unten Kap. 6.1. 31. Freud 1895, 319. 311

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Freud gibt zur Problematik einer ›Materialisierung des Bewußtseins‹ im Laufe seines ganzen Werks nur spärliche Hinweise, die der Extrapolation bedürfen, um sie zu einer vielleicht stichhaltigen Auffassung von der ›Natur des Bewußtseins‹ zu machen. Die grundlegende Operation im Rahmen des Modells psychischer Apparat scheint für das Bewußtsein die Übertragung zu sein (siehe Kap. 4.2).32 Als weitere, feinere Steuermöglichkeit des Apparats, den Freud im Rahmen der Traumdeutung anhand seines graphischen Schemas erläutert, findet Bewußtsein allerdings keinen Platz (auch nicht als Übertragung) zugewiesen, wie ihn die anderen psychischen Instanzen erhalten. Eine genauere Analyse zeigt, daß dieser Widerspruch zwischen einer behaupteten funktionalen Bedeutung des Bewußtseins für das Funktionieren des gesamten Apparats und seinem Fehlen im abgebildeten Schema, d. h. seiner scheinbaren Ortlosigkeit, sich dadurch auflösen ließe, daß das Bewußtsein als (Rück-)Übertragung aufgefaßt wird. Diese läßt sich allerdings in dem streng linearen Ordnungsschema der funktionalen Topik nicht erfassen, wie Freud sie in der Traumdeutung konzipiert. Freud spricht im Zusammenhang mit der Traumbildung deshalb von Regression, um das Entstehen von psychischen Äquivalenten sinnlicher Wahrnehmungen ohne Vermittlung der Sinnesorgane, aber mit halluzinatorischer Qualität zu erklären. Regression steht in diesem theoretischen Zusammenhang für eine solche Umkehrung der generellen Durchlaufrichtung durch den psychischen Apparat. Das Traumbewußtsein, welches bildmächtig und subjektiv einnehmend den Schlafenden beherrscht, wird jedoch deutlich vom Wachzustand unterschieden, weshalb die drei Dimensionen der Regression (topisch, zeitlich, formal) nicht spezifisch für das Wachbewußtsein sein können. Hierzu ist es nötig, eine andere Form der apparativen Struktur zugrundezulegen, die jedoch mit den bisher von Freud aufgestellten Kennzeichnungen des Psychischen durchaus vereinbar ist. Es handelt sich nämlich um eine Ergänzung der Freudschen Denkweise, die der Rolle des Bewußtseins zumindest in topischer Hinsicht eine bestimmte, aufzeigbare Stelle zuweist. Dadurch kann das Bewußtsein in seinem Zusammenwirken mit den anderen psychischen Systemen besser verstanden werden, wenn auch seine Funktion und interne Strukturierung noch recht unbestimmt bleiben. Was hier mit dem kybernetischen Begriff der operativen Schließung angedeutet werden soll und die Selbstreferentialität des Psychischen bzw. seiner Systeme meint, läßt sich noch nicht (im Sinne Freuds) als vollständige metapsychologische Theorie ansehen, da dynamische und ökonomische Gesichtspunkte im Zusammenhang der Traumdeutung nicht hinreichend beleuchtet werden. Jedenfalls wäre von hier an eine Psychoanalyse des Bewußtseins, besser: des Bewußtwerdens zu denken. Wenigstens eine quasi-physiologische Rechtfertigung des Bewußtseins wird in der Traumdeutung versucht, in einem Buch also, das sich ausdrücklich als ein Buch zur Psychologie der Traumvorgänge und ihrer Deutung versteht. Deshalb

32. Vgl. Mai 1981. 312

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muß der Entwurf des Apparats im Rahmen einer psychischen Anatomie gesehen werden. Die Analogie zur medizinischen Verwendung dieses Begriffs liegt auf der Hand: Es geht um die Bestimmung von Örtlichkeiten, um die Zuordnung verschiedener psychischer Phänomene in einem funktional bestimmten Zusammenhang psychischer Leistungen. Freud geht es dabei ausdrücklich nicht um die physische Anatomie, die des Organs Gehirn, und eine Zuordnung psychischer Leistungen im Rahmen einer psychophysischen Lokalisierungstheorie, wie sie im 19. Jahrhundert gang und gäbe war. Die Psyche ist kein »anatomisches Präparat«.33 Aber die besondere Rolle des Bewußtseins wird zunächst auch nicht aus sich selbst heraus analytisch erforscht, so wie es ein Phänomenologe (nach Husserl) oder ein verstehender Psychologe (nach Dilthey) getan hätte, sondern auf seine Funktion für das Ganze des Organismus hin befragt. Dabei spielen entwicklungsgeschichtliche Überlegungen im Anschluß an Darwin34 eine Rolle und eben auch funktionsanalytische Rekonstruktionen einer Physiologie des Organismus, wie Freud sie im Rahmen seiner Ausbildung zum Mediziner kennengelernt hatte. Welcher Funktionssinn könnte dem Bewußtsein im Zusammenhang mit dem Organismus (biologische Perspektive) und im Zusammenhang des Psychischen zugeschrieben werden? Weder bilden dabei das Gehirn oder das Erleben direkte Ausgangspunkte, noch erhalten sie einen privilegierten Status für die weiteren Ausführungen Freuds. Wie allerdings diese feinere Steuerung jenseits von Physiologie und Phänomenologie vonstatten gehe, bleibt ein Rätsel. Abgesehen vom Rätsel des Bewußtseins überhaupt, dessen wesentliche Funktionen zuweilen in der einen, dann wieder in der anderen Leistung gesucht oder mit bestimmten Eigenschaften verbunden werden35: Es ist fraglich, ob eine medizinisch-naturwissenschaftliche, biologische oder physiologische Perspektive dem Phänomen je gerecht werden kann. Auch neuere Ansätze, die sich jenseits der Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften anzusiedeln versuchen, zehren letztlich vom altehrwürdigen Bestand an philosophischen oder geisteswissenschaftlichen Problemen und Einsichten, die immer nur die Notwendigkeit, ja Unvermeidlichkeit dieses Wissensbestands, besser: der Fragen, die durch diesen aufgeworfen werden, erweisen. In der Regel bedürfen noch die ganz auf materialistisch-reduktionistische Strategien setzenden Forschungsansätze des Bezugs auf eine Phänomenalität, die sie rückzuführen angetreten sind, um überhaupt jene materiellen Teile und Strukturen funktional zu identifizieren, die eine mindestens korrelative Zuordnung von Reductum und Reductivum herzustellen gestatten.36

33. Freud 1900, 512. 34. Vgl. Darwin 1872. 35. Vgl. oben Kap. 2.1. 36. So sind die in der Gehirnforschung eingesetzten bildgebenden Verfahren (wie die Positronen-Emissions-Tomographie PET und die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie fMRT) zumeist darauf angewiesen, die subjektiven Eindrücke und Erlebnisse des Probanden abzufragen oder seine aktive mentale Mitarbeit einzufordern, um be313

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Zu Freuds Modellbildung in der »Traumdeutung«: Reflexbogen und Kybernetik avant la lettre Bekanntlich entwirft Die Traumdeutung ein primitives Modell des psychischen Apparats nach dem Muster des Reflexbogenschemas. Der Widerspruch zwischen der von Freud entwickelten Illustration zur Darstellung des topischen Aufbaus dieses Apparats und seinen textlichen Erläuterungen ist bemerkenswert: Im abgebildeten Schema findet sich das Bewußtsein überhaupt nicht, und im Text wird die Bewußtseinsfunktion – sicherlich die Komponente, die bisher am wenigsten nach dem Modell physiologischer Vorgänge verstanden werden konnte (und vielleicht bis heute nicht wirklich verstanden werden kann), obwohl sie wie alle geistigen Phänomene im Gehirn die Physiologie als materielle Basis voraussetzt – einerseits dem sensorischen Eingang des Apparats zugeschoben, andererseits dem motorischen Ende nahegerückt.37 Da Freud auch in der Traumdeutung im Horizont des Prinzips der relativen anatomischen Ortlosigkeit argumentiert, wie er es schon in Zur Auffassung der Aphasien (1891) als Umstellung von der anatomischen Lokalisationstheorie zur funktionalen Analyse der Sprachleistungen (des Gehirns) entwickelt hatte38, geht es um ein gewandeltes Verständnis der auftretenden biologischen und psychologischen Probleme. Strenge, von der Physiologie oder Anatomie her entworfene Theorien sind zu Freuds Zeit nicht in Sicht, welche Schlüsselbegriffe wie die des Bewußtseins oder des Gedächtnisses wissenschaftlich befriedigend erklären könnten. Allerdings hält Freud grundsätzlich an der Vereinbarkeit psychologischer Fragestellungen mit biologischen Theorien aus heuristischer und universaltheoretischer Perspektive einer Einheit der Natur fest. Aber das, was Psychologie genannt werden könnte, ist zu Freuds Zeiten noch jung und wissenschaftlich relativ wenig ausgearbeitet bzw. nicht akademisch konsolidiert.39 Genau in diese Gründungsphase der psychologischen Wissenschaft, die zugleich eine der antagonistischen Abgrenzung zu benachbarten Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Biologie und Medizin ist, fallen auch die Anfänge der Psychoanalyse. Freuds Umgang mit den Problemen des Seelenlebens erweist sich in diesem Panorama in einer bemerkenswerten Zwischenstellung. Keiner der bezeichneten Disziplinen läßt die Psychoanalyse sich vollständig zuordnen, und auch den herrschenden paradigmatischen Hauptströmungen von Natur- oder Kultur-/Geisteswissenschaften fügt sie sich nicht eindeutig.40 Als ein Indiz für die wesentliche Unbestimmbarkeit, der sich die Psychoanalyse verschrieben hat, mögen stellvertretend die Problemkreise Gedächtnis und Bewußtsein des ›Wechselbalgs‹ Psyche stehen. Will man sich nun für eine eindeutige Auffassung entscheiden, wo die Be-

stimmte Aktivitätsmuster in Hirnarealen mit spezifischen geistigen Fähigkeiten in Zusammenhang bringen zu können. 37. Vgl. Freud 1900, 517 und dort Fn. 1. 38. Vgl. oben Kap. 3.2.2. 39. Schmidt 1995. 40. Vgl. oben Kap. 2.2. 314

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wußtseinsfunktion zu verorten sei, so wird das lineare Modell Freuds (vom einfachen Reflexbogen zum psychischen Apparat als »zusammengesetztem Instrument«)41 gesprengt: Es kann doch nicht – und so muß man wohl den Sinn der Anstrengung von Freuds Modellbildung selbst verstehen – an zwei Orten zugleich sein. Schließlich sollte das räumliche Modell gerade den Zusammenhang der verschiedenen Funktionen des Psychischen aufklären.42 Hierzu benötigt man klar definierte, d. h. möglichst eindeutige Funktionen. Wenn dies jedoch nicht in eindeutiger Weise möglich sein sollte, muß entweder das ganze Modell bzw. eine seiner Komponenten falsch oder zumindest ergänzungsbedürftig sein – oder Freud hätte sich schlicht mit einer seiner beiden Behauptungen, an welchem Ende des Apparats Bw anzusiedeln sei, geirrt. Nehmen wir nun einmal an, daß es für beide Behauptungen – sensorischer Anfang und motorisches Ende – gute Gründe gibt, dann stellt sich die Frage, ob das Modell nicht entsprechend modifiziert werden könnte, um ein kohärentes Bild des Ensembles psychischer Funktionen zu geben. Bewußtsein wird als eigenes System deutlich von der bloß analog verstandenen äußeren Wahrnehmung (vermittelst der Sinnesorgane) unterschieden: »Der psychische Apparat, der mit dem Sinnesorgan der W-Systeme der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für das Sinnesorgan des Bw, dessen teleologische Rechtfertigung in diesem Verhältnisse beruht.« Deshalb können Bw und W-Systeme nicht gleichgesetzt werden. Als Bewußtsein hat es die Aufgabe der inneren Wahrnehmung von Qualitäten und trägt so zur Selbststeuerung des Apparats bei. Dafür hat dieses System kein Gedächtnis: Es ist »unfähig, die Spur von Veränderungen zu bewahren.«43 Da Freud keine Anstrengung unterläßt, um den Sinn der Bewußtseinsfunktion zu rechtfertigen und sowohl funktional im Zusammenhang des ganzen psychischen Apparats ihr eine Aufgabe zukommen zu lassen als auch diese klar abzugrenzen gegen philosophische und psychologische Konzeptionen seiner Zeit, kommt zunächst weniger eine Modifikation der (psychoanalytischen) Bewußtseinsfunktion selbst in Frage, als vielmehr eine Reorganisation des Baues des Apparats. Statt also Psychoanalyse ausschließlich auf eine Erfahrung und Theorie des Unbewußten zu reduzieren, muß sie auch als Erfahrung und Theorie des Bewußtseins ausgelegt werden. Die topische Darstellung dieser Verhältnisse wird von Freud explizit als Hilfskonstruktion für die Anschaulichkeit bezeichnet. Wichtig ist ihm allein die funktionale Ordnung, also ein bestimmter zeitlicher Ablauf von verschiedenen Stadien, die der Prozeß der Erregungsverarbeitung im Apparat durchläuft. ›Nur‹ aus Darstellungsgründen hält er an der Topik fest: Es ist eine rein funktionale Gliederung. Die psychische Funktion der aufs Äußere bezogenen Wahrnehmung wird analog zum biologischen Sensorium dem Eingang des Apparats zugeordnet. Äußere Wahrnehmung ist ja zugleich eine der ins Auge springenden Funktionen des Bewußtseins. Andererseits spielt das Be-

41. Vgl. oben Kap. 3.2.2. 42. Vgl. Freud 1900, 513. 43. Freud 1900, 583. 315

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

wußtsein als Instanz (wenn auch nicht als einzige oder vorherrschende) der willentlichen Aktivität eine wichtige Rolle für das gesamte Funktionieren des psychischen Apparats. Da diese sich aber im wesentlichen auf die Motilität bezieht und dort zum Ausdruck kommt, das physische Motorium jedoch am Ende des Apparats liegen muß – nach dem Durchgang durch verschiedene Instanzen der Verarbeitung der wahrgenommenen, umweltbezogenen Reize –, muß das Bewußtsein also auch am Ende des psychischen Apparats angesiedelt werden. Dies ist das funktionale Lokalisationsdilemma des Bewußtseins. Freud spricht an anderer Stelle zwar dem System Vbw die Kontrolle über die Motilität zu44 und ordnet es damit ans motorische Ende des Apparats. Andererseits werden die Erregungen vom Vbw zum Bewußtsein weitergeleitet, wodurch das Bewußtseinssystem dem Vbw nachgeordnet wird: »Das letzte der Systeme am motorischen Ende heißen wir das Vorbewußte, um anzudeuten, daß die Erregungsvorgänge in demselben ohne weitere Aufhaltung zum Bewußtsein gelangen können«.45 In der Fußnote (Zusatz 1919) heißt es dann: »Die weitere Ausführung dieses linear aufgerollten Schemas wird mit der Annahme zu rechnen haben, daß das auf Vbw folgende System dasjenige ist, dem wir das Bewußtsein zuschreiben müssen, daß also W = Bw.« Bewußtsein entstünde also aus der Position funktionaler Nachträglichkeit, nachdem schon vieles im psychischen Apparat vorbereitet, d. h. verarbeitet worden ist. Zugleich wird es jedoch mit der Sinneswahrnehmung identifiziert, die am anderen, am sensorischen Ende des Apparats angesiedelt ist.46 – Jacques Lacan kommt in seiner Analyse des Aufbaus des psychischen Apparats zum gleichen Ergebnis: »Wenn wir vom Ausweg unbewußter Prozesse hin zum Bewußtsein sprechen, dann sind wir tatsächlich gezwungen, das Bewußtsein an den Ausgang zu stellen, während die Wahrnehmung, zu der es sich doch solidarisch verhält, sich an den Eingang gestellt sah.«47

44. Vgl. Freud 1900, 540. 45. Freud 1900, 517. 46. Es bleibt allerdings der Verdacht, daß es sich bei der Beschreibung des Bewußtseins als Willensinstanz, als einheitliches Selbst, um eine imaginäre Identifizierung handelt: Die Erfahrung des psychoanalytischen Prozesses erweist ja gerade die unbewußte Überdeterminierung unseres bewußten Erlebens. In diesem Zusammenhang wäre dann auch die Rolle der Gefühle und Affekte zu erörtern, von denen Freud ja einerseits sagt, sie seien bewußte Qualitäten, sie stünden andererseits mit unbewußten energetischen Quantitäten in Verbindung. In gewisser Weise kann man Gefühle als Indikatoren von Prozessen betrachten, die Freud in der Traumdeutung als Verdichtung und Verschiebung beschrieben hat. Die Bewußtseinsfunktion wird späterhin von Freud als Qualitätswahrnehmung bezeichnet (Freud 1900, 583). 47. Lacan 1954/55, 209f. 316

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Metaphorizität und operationale Schliessung Wie schon eingangs behauptet, fungiert die Übertragung des Apparats zunächst wesentlich als eine technische Metapher, als ein Bild zur Veranschaulichung einer komplexen Anordnung und Kopplung von funktionalen Elementen zu einer systemischen Gesamtheit. Als Idee ist der Apparat ein recht unbestimmtes Gedankending – mit großer Anziehungskraft für das Weiterdenken –, das für den Denkapparat selbst steht, ebenso wie für den Apparat, der wahrnimmt, empfindet, begehrt, wünscht und will. Freud geht es aber erklärtermaßen weniger um das materielle Substrat, das Gehirn, sondern um die strukturellen und funktionalen Aspekte, also um bestimmte Eigenschaften, Äußerungsweisen und Leistungen, die gewöhnlich mit dem Kopf, genauer: dem Gehirn verbunden werden. Neben dem Denken und Vorstellen vollzieht sich in diesem Apparat ebenso das Fühlen und Wollen, insbesondere aber das Wünschen, dessen grundlegende Bedeutung Freud ja in der Traumdeutung entfaltet. Zunächst ist dieser mentale Apparat aber ein Gedankending. Erst in zweiter Hinsicht muß dieses Konstrukt aus Begriffen und Vorstellungen immer auch vor dem Hintergrund des biologischen Organs Gehirn gesehen werden, da sich alle postulierten oder plausiblen psychischen Leistungen nicht im Vakuum situieren lassen, sondern letztlich in der Wirklichkeit verortet werden müssen, zu der eben nicht nur die Denk- und Vorstellbarkeit gehört, sondern die (mögliche) Wahrnehmbarkeit und Verkörperung. Sofern Realität als Wirklichkeit den Schauplatz von Wirkungen bildet, die sich auf verschiedene Art und Weise bewirken, beobachten und beschreiben lassen, genügt nicht eine Vorstellungspräsenz, eine bloß vorgestellte Anwesenheit. Wirklichkeit geht über die bloße Vorstellung hinaus, von der noch nicht entschieden ist, ob sie nur subjektiv und imaginär ist oder etwas repräsentiert, das über diesen Charakter hinausweist. Vielmehr versuchen erkennende Subjekte eine (subjektive) Wahrnehmungspräsenz mit dem Vorgestellten (Objekt) zu verbinden. Insofern ist auch das Gedankending des psychischen Apparats einerseits gewonnen unter Bezugnahme gewisser empirischer Erfahrungen, wie sie das alltägliche Bewußtsein oder der Psychologe macht, also eine Interpretation von Wahrnehmungs- und Erlebenswirklichkeit. Andererseits steht diese Interpretation gerade für etwas, das Wirklichkeit(sstatus) bzw. Objektivität beansprucht, eben nicht bloß etwas Ausgedachtes sein soll. Es läßt sich also formulieren: Das Gedankending des psychischen Apparats ist ein Interpretationskonstrukt erfahrener Wirklichkeit, wie umgekehrt die Interpretation als eine wirkliche Erfahrung dieses ›denkenden Dings‹ zu verstehen wäre, das wir mal Seele, mal Gehirn nennen. Zunächst hat die Apparat-Metapher die Funktion des Zur-Erscheinung-Bringens, des Ausstattens mit Kenntlichkeit, um etwas erkennbar, verständlich, handhabbar zu machen.48 Die Form der Identifizierung eines X als etwas, seine Her-

48. Erinnert sei hier nur an die lateinischen Termini apparare = zubereiten, rüsten, veranstalten; apparatus = (adv.) reich ausgestattet, prächtig, glänzend; apparatus = (subst.) 1. Zubereitung, Anstalten (zu ... treffen); 2. Werkzeug, Gerät, zusammenge317

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

aushebung und Bestimmung im Zusammenhang, stellt einen Versuch dar, mit dem Unbekannten fertig zu werden. In der Regel wird dieser Prozeß in Formen der Sinnlichkeit, in anschaulichen Gestalten49 gedeutet, wie sie sich in der alltäglichen Erfahrung finden, wobei die Formen der Sichtbarkeit eine herausragende Rolle spielen. Die große Bedeutung, die eine solche ins Bild gesetzte Idee für das Denken hat, erwächst aus der Spannung, die zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten besteht. Deshalb kommt der Erinnerung in diesen Operationen des Ersetzens, Übertragens, Metaphorisierens ein wichtiger Stellenwert zu, denn der Übergang von einem Ungefähren zu einem anschaulichen Bild kann nur dann zur Vertiefung der Einsicht, zur Er-Innerung im Hegelschen Sinne50, führen, wenn der Zusammenhang ebenfalls vergegenwärtigt wird, d. h. wenn die Erinnerung den Zusammenhang wahrt. Zuerst ist der psychische Apparat eine Metapher des psychischen Apparats, mit der das Subjekt einen bestimmten Aspekt seiner selbst bezeichnet. Diese Metapher läßt sich aber nur von woanders her, nämlich mit Bezug auf Außersubjektives, verstehen: Erkennbar Metapher ist der psychische Apparat, weil er sich einem anderen Wirklichkeitsbereich (dem äußerer, physischer Gegenstände) verdankt; jedoch dem psychischen Apparat muß die Metapher zugerechnet werden, insofern er es ist, der sie denkt, und weil er als postulierter Apparat der Psyche überhaupt erst qua Metaphorik (Übertragung) in Erscheinung tritt. Als eine theoretische Entität kann der psychische Apparat genauso viel oder wenig Wirklichkeitsstatus beanspruchen wie theoretische Entitäten in der Physik, z. B. Moleküle.51 Seine Anschaulichkeit gewinnt der psychische Apparat durch die Metaphorik: Was er selbst ist, muß ein Beobachter mit den Mitteln umschreiben, die ihm sprachlich (oder allgemeiner: semiotisch) zur Verfügung stehen. Das Verständnis dieser Mittel läßt sich aber nur entfalten in Auseinandersetzung mit Erfahrungsbereichen, die nicht einfach das Psychische selbst sind. Die Ausschließlichkeit des Selbstbezugs, der gerade beim Denken des Psychischen naheliegt, wird damit aufgebro-

setzte Werkzeugeinheit; Gesamtheit funktionell zusammengehörender Organe; Gesamtheit der zu einer Institution gehörenden Menschen und technischen Hilfsmittel; kritischer A. = Gesamtheit der für eine (wissenschaftliche) Aufgabe nötigen Hilfsmittel; 3. Pracht, Prunk; apparatio = Beschaffung, Zurüstung; apparere = 1. zum Vorschein kommen, sich zeigen, erscheinen; 2. dienen, aufwarten; 3. einleuchten, offenkundig sein, sich erweisen. Vgl. apparition (engl.) = Erscheinung eines Übernatürlichen, eines Geistes. Interessant wäre auch der Zusammenhang mit dem deus ex machina, der Theorie der Automaten, mit tyche und automaton, techné und Technik, Gerät, Gestell, Roboter, raboti, Arbeit, Magie und Technik, Wissen und Wunder. 49. Arnheim 1969. 50. Vgl. Kap. 6.1. 51. Die für die Wissenschaften wie die Physik entscheidende Frage der Beobachtbarkeit stützt sich in erheblichem Maße auf (apparatvermittelte) Meßbarkeit, während in der Psychoanalyse nichts zu messen, aber gleichwohl vieles nicht Meßbare zu beobachten und zu interpretieren bleibt. 318

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chen. Dieser Umweg des Verstehens deutet auf eine Notwendigkeit des Denkens und Vorstellens des Apparats selbst. Durch Zurechnung können dann dem postulierten Apparat genau jene Fähigkeiten, Funktionen oder Eigenschaften zuerkannt werden, die nötig sind, damit Beobachter das theoretisch plausibilisieren können, was sie selbst in die Lage versetzt, wahrzunehmen und vorzustellen, zu denken, zu fühlen, zu wollen und zu wünschen. Der Apparat vermag sich also nicht aus sich selbst heraus zu denken (und erst recht nicht vorzustellen). Ohne die Fremdreferenz bliebe der Selbstbezug leer, reine, unanschauliche Tautologie. Gleichwohl bleibt der Apparat immer bei sich, da er ja nicht aus sich herausspringen kann und nur im uneigentlichen Sinne sich selbst ›wie von außen‹ zu betrachten vermag. Selbstreferenz und Fremdreferenz verweisen wechselseitig aufeinander. Die Metapher als rhetorisches Element der sprachlichen Lebensbewältigung und Weltauffassung bringt den Sprechwesen nicht nur das, was – weil zu groß, zu klein, zu heterogen, zu divers, verstreut, zu homogen und monoton – sonst zu fremd und gänzlich unfaßbar wäre, näher, sondern versucht, »auch das in Sprache zu fassen, was uns zu nahe ist: das eigene Ich«.52 Denn, so Hans Blumenberg, »der Mensch hat zu sich selbst kein unmittelbares, kein rein ›innerliches‹ Verhältnis. Sein Selbstverständnis hat die Struktur der ›Selbstäußerlichkeit‹. Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg. Nicht erst seine Situation, sondern schon seine Konstitution ist potentiell metaphorisch.«53 Man könnte also nicht nur sagen, daß sich in den psychischen Apparat eine Metapher einschreibt, sondern daß der psychische Apparat sich als Metapher einschreibt (in unsere Vorstellungswelt) – vielleicht nicht ausschließlich, aber doch wesentlich. Ohne diese Selbstzuschreibung von Voraussetzungen, die die Beobachtung (Wahrnehmung, Denken, Fühlen, Wollen) als operative Praxis ermöglicht, bliebe das Funktionieren von psychischen Operationen vollkommen unbegründet. Ohne Übertragung wäre der psychische Apparat nicht – oder: nicht das, was er ist. Die Metaphorizität ist ein konstitutives Kennzeichen der Arbeitsweise unseres psychischen Apparats. Sprachlichkeit in einem weiten Sinne54 stellt be-

52. Vgl. Zill 1999, 175. Vgl. auch Blumenberg 1971, 191. 53. Blumenberg 1981b, 134f. Vgl. dazu auch Zill 1999, 177. 54. Der hohe Stellenwert der Sprachlichkeit (oder Zeichenhaftigkeit) wird aus mehrerlei Gründen deutlich, denn Sprachlichkeit bedeutet: 1) Artikulations- bzw. Differenzierungsmedium des Psychischen selbst zu sein (Wie anders ließen sich die Elemente, Relationen und Strukturen des Psychischen fassen?); 2) Funktionsmedium des Psychischen zu sein, also den verschiedenen Arbeitsweisen des Apparats Aufgabe, Ziel und Bewältigungsmittel geben zu können; 3) Vermittlungsmedium im Sinne der Kommunikation mit anderen zu sein (strukturelle Kopplung über Systemgrenzen hinweg); 4) von einer konstitutiven Intersubjektivität auszugehen, die einen ursprünglichen oder methodischen Solipsismus von vornherein verbietet. Bowie (Bowie 1991, 68) spricht davon, daß, wenn es einen »Mittelpunkt« des psychoanalytischen Denkens von Lacan gäbe, er dort zu finden sei, wo von Lacan »neugefaßte linguistische Begriffe mit außerordentlicher Kraft 319

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

kanntlich für Freud (wie für dessen linguistisch inspirierte Lektüre durch Lacan) das wesentliche Moment des psychischen Geschehens dar. Deshalb lassen sich Grundprinzipien des Psychischen modellhaft als rhetorische Redefiguren abbilden: Die wichtigsten Gestaltungsfaktoren des Traums werden von Freud als Verdichtung und Verschiebung beschrieben, Lacan übersetzt sie in die sprachwissenschaftlichen Begriffe von Metapher und Metonymie. Die im Feld der Rhetorik bekannten Zweideutigkeiten und Anspielungen der Rede können paradigmatisch genommen werden für das psychische Geschehen überhaupt: Das mehr oder weniger kalkulierte bzw. überraschende Spiel mit den Unbestimmtheiten der Sprache erweist sich als grundlegendes Prinzip der Formation des Psychischen. Und diese Unbestimmtheiten sind nie vollständig aufzuheben, was der wissenschaftlichen Thematisierung gewisse Grenzen der Verallgemeinerbarkeit setzt. Schon in der Funktion der Bezeichnung als solcher, im Nennen und Benennen,55 liegt ein erster Zugriff, woran Freud verschiedentlich gemahnt, wenn er sich zur erschließenden, wenn auch vorläufigen und unsicheren Funktion der Metaphern und Gleichnisse äußert: »Da wir nichts anderes benötigen als Hilfsvorstellungen zur ersten Annäherung an etwas Unbekanntes, so werden wir die rohesten und greifbarsten Annahmen allen anderen vorziehen.«56 Im selben Akt der Benennung wird auch schon die Distanzgewinnung, das Herausschneiden aus dem Kontext und die Verfremdung wirksam, ein Aspekt, den z. B. Walter Benjamin als materialistische gegen die historistische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ins Feld führt.57 Hierhin gehört die absolute Metapher58 genauso wie Überlegungen Freuds über den Gegensinn der Urworte (1910) und den Zusam-

und Hartnäckigkeit an Freuds Konzept des ›psychischen Apparats‹ angekoppelt werden.« Sprachliche Operationen auf theoretischer Ebene haben zunächst den Zweck, funktionale Äquivalente für unser Verständnis des Psychischen bereitzustellen. Eine substantielle Identität von (Wort-)Sprache und Psyche muß nicht behauptet werden: »Thoughts in the manifest image are conceived not in terms of their ›quality‹, but rather as inner ›goings-on‹ which are analogous to speech, and find their overt expression in speech – though they can go on of course, in the absence of this overt expression.« (Sellars 1963, 32) Hans Joachim Giegel kommentiert das folgendermaßen: »Wenn der Begriff des Denkens derart in Analogie zum Begriff der sinnvollen Sprache eingeführt wird, bedeutet das nicht, daß Denken buchstäblich ›inneres Sprechen‹ oder ›the wagging of a hidden tongue‹ ist. Die gesprochene Sprache dient nur als Modell für das theoretische Ereignis, weshalb Sprache und inneres Ereignis nur in gewissen Merkmalen übereinstimmen müssen. Und zwar besteht das Gemeinsame einer Sprachhandlung zu dem ihr analogen Denkvorgang darin, daß beide die gleiche Rolle spielen, den gleichen funktionalen Gehalt haben. Der Träger dieser Rolle kann aber in beiden Fällen ganz verschieden sein.« (Giegel 1969, 110) 55. Vgl. Schadewaldt 1979. 56. Freud 1900, 513; Freud 1900, 240 spricht vom »X«. 57. Vgl. Benjamin 1940. 58. Vgl. Blumenberg 1960. 320

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

menhang von Heimlichem und Unheimlichem (1919). Anfänglich wird ein Unbekanntes (oder logisch-diskursiv Widerständiges) angeeignet und ins schon Bekannte hineinversetzt, bis es selbst dort heimisch geworden ist. Das heißt aber, daß es am Ende nichts anderes darstellt als eine Metapher, deren ursprüngliche Fremdheit vergessen worden ist.59 Im Zentrum der Begriffe, mit denen wir umgehen, geht etwas anderes um als das, was wir kennen, was uns vertraut ist: Unheimlichkeit. Dieses Nicht-heimisch-werden-Können im Leben, das Nicht-zumEnde-Finden im Verweisungszusammenhang bringt die Erfahrung mit sich, daß jedes Ende nur vorläufig ist, jede gefundene Lösung ergänzungsfähig und -bedürftig. Dabei werden – in einer Logik der Assoziation – Sinnessphären kurzerhand übersprungen, und Bilder können für Worte einstehen und umgekehrt.60 Metaphorik hilft über die Ungewißheit des Anfangs hinweg, ermöglicht eine Setzung und daran anschließend eine Verbindung, aus der sich dann ein Netz von Beziehungen knüpfen läßt, das Wissen heißen kann. Wenn man sich die Konstitutionsphase von wissenschaftlichen Diskursen und Formationen genauer ansieht, zeigt sich, daß an deren Ursprung und in deren Grundbegriffen oft eine Metapher steckt.61 Die Übertragung von Begriffen aus anderen Wissensbereichen kann gerade durch einen blinden Fleck, den die metaphorische Bewegung verdeckt, zur Etablierung einer neuen Wissenschaft führen.62 Wenn es überhaupt richtig ist, daß der Ansatz einer neuen Disziplin Stützpunkte im Bekannten braucht, um sich selbst zu konstituieren, bevor sie sich verselbständigen und so ins Unbekannte vorstoßen kann, so scheint Metaphorizität unausweichlich zu sein, ja, die unauslotbare, weiter nicht rückführbare Metapher: nicht die rhetorisch bestimmte Figur (Transfer zwischen zwei relativ bestimmten Bedeutungsbereichen), sondern die Ersetzung von nichts Genauem, von Unbestimmtem, Ungefährem, von ich weiß nicht was.63 So sind auch die von Freud verwendeten Modellvorstellungen der zeitgenössischen Wissenschaften nicht hinreichend, um dem Stand seiner theoretischen Problematisierung gerecht zu werden. Wie so oft führt Freud diese Modelle an ihre Kapazitätsgrenzen, zeigt deren Mehr- oder Uneindeutigkeit auf. So kann etwa – wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert – Linearität in der Anordnung nicht der doppelten Anforderung nachkommen, Bewußtsein am Anfang und am Ende des Apparats anzusiedeln, denn sonst wäre die Einheit dieser Funktion gefährdet, weil zu unspezifisch, um die gewünschte Bestimmung zu liefern. Wenn es jedoch richtig ist anzunehmen, daß Bewußtsein sowohl am einen

59. Natürlich wäre hier auch Nietzsche 1873 zu nennen. 60. Die Hirnforschung hat auf die grundlegend synästhetischen Eigenschaften neuronaler Prozesse hingewiesen (vgl. Emrich 1990). In diesem Zusammenhang wird das Prinzip »undifferenzierter Codierung« (Foerster 1973, 43) wichtig (vgl. oben Kap. 2.1). 61. Zur methodischen Analyse dessen vgl. etwa Weigel 2002. 62. Vgl. Elkana 1986. 63. Vgl. Feijoo 1734. 321

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

wie am anderen Ende des Apparats anzusetzen sei, warum dann nicht einen ›Kurzschluß‹ probieren und das Ende zum Anfang desselben Apparats machen? Eine operationale Schließung des psychischen Apparats würde zumindest einige Probleme des Baues psychischer Apparate lösen. Wenn nämlich Bewußtsein ein Begriff für die Rückkopplung des Psychischen wäre, die zugleich die Einführung neuer operativer Möglichkeiten bedeutete und einen qualitativen Sprung darstellte, dann wären einige Probleme des Psychischen in neuartiger Weise zu reformulieren. Die Konsequenzen würden darauf hinauslaufen, daß sich ein Organismus nicht nur in seiner Umwelt verhält, d. h. auf Umweltreize reagiert und durch seine Reaktion die Umwelt wiederum beeinflußt, sondern ebenso sich selbst in seinem Verhalten immer auch zu sich selbst verhält. Der Organismus (bzw. sein übermittelter Zustand) ist so zugleich auch eine Determinante seines eigenen Verhaltens. Auf die Frage des Wunsches angewendet: Ein Wunsch hat nicht nur ein Objekt, auf das er sich richtet, und ein Ziel, das er zu erreichen trachtet, die beide als vom Subjekt unterschieden aufzufassen wären, sondern der Wunsch bestimmt das Subjekt in seinem Sein.: Er setzt es in Spannung. Die Unzerstörbarkeit des Wunsches könnte auch von dieser Differenz her gedeutet werden: Der Wunsch setzt sich immer auch selbst und damit das Sein des Subjekts fort, wenn er etwas wünscht (vgl. Kap. 3.3). Vielleicht kann auf diesem Wege auch besser verstanden werden, warum der Begriff der Übertragung eine so zentrale Stellung im Denken Freuds einnehmen konnte, und welche Drift dieser aus der Nachrichtentechnik über die Physiologie in die Psychoanalyse importierte Begriff dabei vollzog (vgl. Kap. 4.2). Die hieraus zu folgernden Thesen lauten also: Bewußtsein ist in seiner relativen funktionalen Ortlosigkeit nur als (Rück-)Übertragung zu denken. Übertragung ist nicht nur eine Arbeitsweise des psychischen Apparats, sondern der psychische Apparat ist selbst eine Metapher. Als sprachliche Operation ist Übertragung kein bloß semiotischer, sondern immer auch ein energetischer Vorgang. Als energetischer Vorgang bleibt Übertragung an Überlegungen der Medizin und Biologie anschlußfähig, ohne selbst darauf vollständig reduzierbar zu sein.

Die Funktion des Bewusstseins als psychische Arbeit Wenn es sich jedoch bei diesem Vorschlag um mehr als eine mißlungene Metapher handeln soll, muß die zirkuläre Schließung des Apparats mit einem Widerstand verbunden sein, um einen tatsächlichen energetischen bzw. bedeutungstheoretischen ›Kurzschluß‹ zu verhindern. Darum stellt sich noch einmal die Frage nach der Arbeit, die das Bewußtsein für den psychischen Apparat leistet, und nach dem Aufwand, den der psychische Apparat mit dem Bewußtsein betreibt, und dem möglichen Überschuß, den es dabei erzielt. Laut Freud hat das Bewußtsein als psychisches Teilsystem die Aufgabe übernommen, die Qualitäten der (quantitativen) Energiebesetzungen innerhalb des Apparats wahrzunehmen. D. h., quantitative Energiebesetzungen können überhaupt nur als Qualitäten im Bewußtsein wahrgenommen werden, so wie ja auch psychische Vorgänge nicht an sich wahrgenommen, sondern nur in der Weise der »Qualitätsreihe der Lust und Unlust empfunden werden, wenn sie bei gewissen 322

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

Veränderungen angelangt sind.«64 Es handelt sich also um eine Form der Übertragung von einem Darstellungsmodus in einen anderen. Freud weist nun – gegen den von einigen »Philosophen«65 behaupteten Epiphänomenalismus – dem Bewußtsein eine Funktion der inneren Regulation im psychischen Apparat zu und entwickelt in Analogie zur äußeren Wahrnehmung sein Verständnis des Selbstbewußtseins: »Wir sehen, daß die Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane die Folge hat, eine Aufmerksamkeitsbesetzung auf die Wege zu leiten, nach denen die ankommende Sinneserregung sich verbreitet; die qualitative Erregung des W-Systems dient der mobilen Quantität im psychischen Apparat als Regulator ihres Ablaufs. Dieselbe Verrichtung können wir für das überlagernde Sinnesorgan des Bw-Systems in Anspruch nehmen. Indem es neue Qualitäten wahrnimmt, leistet es einen neuen Beitrag zur Lenkung und zweckmäßigen Verteilung der mobilen Besetzungsquantitäten. Mittels der Lust- und Unlustwahrnehmung beeinflußt es den Verlauf der Besetzungen innerhalb des sonst unbewußt und durch Quantitätsverschiebungen arbeitenden psychischen Apparats. Es ist wahrscheinlich, daß das Unlustprinzip die Verschiebung der Besetzung zunächst automatisch regelt; aber es ist sehr wohl möglich, daß das Bewußtsein dieser Qualitäten eine zweite und feinere Regulierung hinzutut, die sich sogar der ersteren widersetzen kann und die Leistungsfähigkeit des Apparats vervollkommnet, indem sie ihn gegen seine ursprüngliche Anlage in den Stand setzt, auch was mit Unlustentbindung verknüpft ist, der Besetzung und Bearbeitung zu unterziehen.«66 Der Autonomiegewinn des psychischen Apparats wird durch die wechselseitige Anwendung psychischer Mechanismen erreicht: »Die automatische Herrschaft des primären Unlustprinzips und die damit verbundene Einschränkung der Leistungsfähigkeit wird durch die sensiblen Regulierungen, die selbst wieder Automatismen sind, gebrochen.«67 Allein von der durch Überlagerung verschiedener Systemleistungen erwachsenden Komplexitätssteigerung der Steuerung begreift Freud in diesem Kontext den evolutionären Fortschritt zwischen Tier und Mensch: »Der Wert der Überbesetzung, welche durch regulierenden Einfluß des Bw-Sinnesorgans auf die mobile Quantität hergestellt wird, ist im teleologischen Zusammenhang durch nichts besser dargetan als durch die Schöpfung einer neuen Qualitätenreihe und somit einer neuen Regulierung, welche das Vorrecht des Menschen vor den Tieren ausmacht. Die Denkvorgänge sind nämlich an sich qualitätslos bis auf die sie begleitenden Lustund Unlusterregungen, die ja als mögliche Störungen des Denkens in Schranken gehal-

64. Freud 1900, 583. 65. Freud nennt diese Position eine des Bewußtseins »als überflüssige Spiegelung« (Freud 1900, 583). 66. Freud 1900, 583f. 67. Freud 1900, 584. 323

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ten werden sollen. Um ihnen eine Qualität zu verleihen, werden sie beim Menschen mit den Worterinnerungen assoziiert, deren Qualitätsreste genügen, um die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen und von ihm aus dem Denken eine neue mobile Besetzung zuzuwenden.«68 Einerseits behauptet Freud, Bewußtsein sei gerade die Wahrnehmung der Qualitäten von an sich qualitätslosen, rein quantitativen Erregungen/Energiebesetzungen. Man könnte also von Qualitätsbewußtsein sprechen, von der Empfindung und Einordnung in eine »Qualitätenreihe der Lust und Unlust«. Das Gefühl oder auch die Bewertung bzw. Präferenz scheinen nach Freud das Spezifikum des Bewußtseins zu sein, Lust und Unlust hingegen die Pole der Dimension, in der sich das Gefühl bzw. die Wertung je schon entfaltet. Andererseits bleibt die Fassung der an sich zugrundeliegenden psychischen Vorgänge uneindeutig, denn wenn Freud formuliert, die Denkvorgänge seien »an sich qualitätslos bis auf die sie begleitenden Lust- und Unlusterregungen«, dann haben die psychischen Vorgänge als solche also schon die sie begleitende Qualität von Lust-Unlust-Erregungen, d. h. qualitativen Charakter. Bewußtsein wäre danach etwas, dem das Empfinden, nicht jedoch die Unterscheidung von Lust- und Unlustqualitäten zufiele, die ja schon dem Funktionieren des Primärprozesses zugrundegelegt werden müssen, denn: Wie anders als durch diese Unterscheidung könnte der Spannungsabbau automatisch richtig funktionieren? Das Lust-Unlust-Prinzip wird von Freud ja gerade dem Psychischen als fundamentale Tendenz unterstellt. Wenn dementsprechend Bewußtsein bloße Wahrnehmung wäre, rein passiv, aufnehmend, ohne etwas eigenes zum psychischen Geschehen hinzuzufügen, dann bliebe dessen Funktion allerdings relativ dunkel: Es hätte keinen ursächlichen, kausalen, energetisch relevanten Einfluß auf das sonstige psychische Geschehen und könnte diesen auch nicht ausüben, wäre hingegen energetisch vollkommen abhängig und somit reduziert auf das Moment des überflüssigen Da, ein bewirkter Effekt aller vorhergehenden Vorgänge. Die Thematisierung des Bewußtseins bei Freud ist auf folgende Merkmale beschränkt: Bewußtsein ist (1) eine Art innerer Wahrnehmung (Empfinden bzw. Aufmerksamkeit), die sich (2) insbesondere auf Qualitäten bezieht, welche (3) als Qualitätsbewußtsein durch Verknüpfung mit Worterinnerungen zustandekommen,69 so daß (4) Bewußtsein der feineren Selbstregulierung70 des psychischen

68. Freud 1900, 583f.; vgl. a. S. 547, 578 Fn. 69. Vgl. Kap. 3.2 sowie Freud 1915. 70. Hier darf natürlich nicht vergessen werden, daß Sprache als intersubjektives Medium zugleich eine Kopplung mit anderen der Kommunikation mächtigen Systemen und damit eine wechselseitige Dezentrierung bedeutet. Der Terminus Selbststeuerung ist also doppeldeutig, denn die Steuerung erfolgt über ein Medium, das nicht vollkommen von einem Subjekt beherrscht werden kann, weswegen sein Selbst zugleich immer auch der Steuerung durch andere unterliegt. 324

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

Apparats dient (»teleologische Rechtfertigung«71). Freud betont also die ökonomischen und dynamischen Aspekte der Verarbeitung der Besetzungsenergie und bringt die Qualität der Wahrnehmung mit der Möglichkeit der Verschiebung von Energiequantitäten in Zusammenhang. Es scheint vielleicht unplausibel, daß Freud das Umsetzen von Erregungsquantitäten in Gefühle (das ›innere Spüren‹) allein als die Verknüpfung mit Wortvorstellungen denkt, erscheinen doch Worte so oft als unzulänglich, wenn das ›Innerste‹ zum Ausdruck gebracht werden soll. Freud hat jedoch zur Eröffnung seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse daran erinnert, was es mit den Worten auf sich hat und welche Macht ihnen innewohnt: »Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander. Wir werden also die Verwendung der Worte in der Psychotherapie nicht geringschätzen.«72 – und nicht nur dort. Freud weiß genau um die Wirkung der Aura, der Magie des Worts: »Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt.«73 Schon früh stellt Freud die Bedeutung des Wortes für die Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), so der Titel der Arbeit von 1890, heraus.74 Und sein erster längerer Text beschäftigt sich mit Sprachstörungen, den Aphasien (1891). Dabei stellen Worte besondere psychische Elemente dar und können Gedanken durch Assoziation mit wahrnehmbarer Qualität versehen. Freud benutzt den Begriff des Denkens bzw. des Gedankens oft im Zusammenhang mit unbewußten Vorgängen. Nun sind »Worterinnerungen« zwar schwach besetzt, aber deren »Qualitätsreste« reichen hin, um dem Denken die Aufmerksamkeit im psychischen Apparat zu verschaffen, die nötig ist, um einen Gedanken zum Ausgangspunkt für eine Aktion oder eine Stimmung zu erklären, ja ihm die Aufmerksamkeit des Bewußtseins zu sichern. Jetzt wird auch verständlich, warum Freud von »sensiblen Regulierungen« gesprochen hat: Worte als Wortvorstellungen sind jene psychischen Elemente, die noch etwas von ihrer Herkunft aus der Wahrnehmung an sich haben. Die Wortsprache erfüllt den Begriff einer sinnlichen Vermittlung, eines Mediums. Worte wären jene Formen des (psychischen) Ausdrucks, die den strengeren Regeln der (kommunikativen) Artikulation unterworfen sind, da es gerade darauf ankommt, nicht irgendetwas zu sagen, sondern es so zu sagen, daß ein anderer es verstehen kann. Und dies kann nur innerhalb eines

71. 72. 73. 74.

Freud 1900, 583. Freud 1916-17, 43; vgl. oben Kap. 2.3. Ebd. Vgl. Freud 1890, 17. 325

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Systems von intersubjektiven Ausdrücken, von mitgeteilten Zeichen geschehen. In dieser wechselseitigen Bezüglichkeit, die auch als Anerkennungsstruktur im Hegelschen Sinne oder als doppelte Kontingenz im Sinne Luhmanns beschrieben werden kann, kursieren nicht nur Zeichen im Sinne der Information, sondern es werden ebenso Gefühle, Stimmungen, Spannungen übertragen, wozu sich die sprachliche Artikulation besonders gut eignet, weil sie dem Subjekt von Anbeginn immer auch als Modulation der eigenen inneren Befindlichkeit begegnet (vgl. Kap. 4.2). Damit stellt sich die Frage nach dem psychischen Apparat als Übertragungsinstrument für Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche und Willensäußerungen vor dem Hintergrund des Mediums Sprache, besser gesagt: der Sprachlichkeit als fundamentaler Artikulation des Psychischen.75 Untrennbar sind im Wort alle möglichen der eben genannten Aspekte miteinander verknüpft. Und auch die Funktion der Erinnerung ist in unerläßlicher Weise mit diesen Übertragungsvorgängen verbunden, strukturiert die Übertragungswege vor, wird jedoch selbst von ihnen gelenkt und trägt so zur Konstitution des Gedächtnisses bei. Erst die relativ höhere Bestimmtheit von Worten ermöglicht wiederum Bestimmung durch den psychischen Apparat und d. h., Artikulation, Analyse, Fixierung und Übertragung von Wünschen, somit das Deutlichwerden der Wunschziele und -objekte, so daß sie selbst sprachlich zur Debatte stehen können.

4.2 Übertragung »Im Laufe der Begebenheiten wird alles klar werden.« Sigmund Freud

Zwei Grundbegriffe: Apparat und Übertragung Dem Leser Freudscher Schriften wird schnell deutlich, daß der Denker Freud nicht einfach Lösungen präsentiert, sondern Problemstellungen in ihrer Verwicklung entwickelt. Auf diese Weise präsentieren sich die thematisierten Problemstellungen oft nicht ausschließlich als Sachprobleme, die Gegenstände der Theorie sind, sondern kehren als Schwierigkeiten der Lektüre für den Leser wieder. Abgesehen von dieser Spiegelung in die Rezeptionsdimension zeigt sich jedoch schon auf der Ebene des psychoanalytischen Diskurses eine Doppelung: Fast alle methodischen Schwierigkeiten finden nicht nur eine methodologische Problematisierung, sondern erweisen sich zugleich als Fragen der Sache selbst: Darstellungsprobleme, welche Freud sein ganzes Werk hindurch erörtert, spiegeln sich in der inhaltlichen Kardinalproblematik, warum sich das Psychische überhaupt

75. »Es gibt keinen Apparat, der nicht sprachlich strukturtiert wäre.« (Haas 1985, 18) 326

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zeigt, darstellt bzw. darstellen muß. Anders gesagt: Warum stellt sich Psychisches anders dar, als es ist? Warum gibt es Entstellung? Dem rätselhaften Charakter des Psychischen begegnet Freud bei seinen Versuchen, die Ursachen der Erkrankungen zu verstehen, mit Hilfe einer großen Bandbreite sprachlicher Mittel, die aus dem sonst in den medizinischen biologischen Disziplinen verbreiteten wissenschaftlich-positivistischen Stil herausfallen. Freud versetzt das Problem Krankheit aus den Laboratorien und medizinischen Krankenstationen in einen anderen Kontext: Er thematisiert ganze Lebensgeschichten, die seine Falldarstellungen so reichhaltig und offen machen. Die Biographisierung des Krankheitsbegriffes und die Form der wissenschaftlichen Novelle (vgl. Kap. 3.2) sind nur einige Stränge der Transformation, die zur Konstitution der Psychoanalyse gehören. Für den hier interessierenden Zusammenhang der Theoriebildung der Psychoanalyse muß die Metaphorisierung des Apparatbegriffes hervorgehoben werden, die ihn zunächst – vor aller technischen Modellierung – als eine sprachliche Operation erscheinen läßt.76 Von daher wird klar, daß der Apparat eine Geschichte hat: nicht nur eine Begriffsgeschichte, sondern eine Biographie, in der er verkörpert ist und deren wichtige Voraussetzung er selbst bildet. Ohne grundlegende metaphorische Ersetzungen zur Überbrückung und Übersetzung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ und innerhalb des Apparats selbst gäbe es keine identifizierbare Einheit, auf die sich ein biographischer Prozeß beziehen könnte. Deshalb ist der Apparat selbst geschichtlicher Natur, er muß sich verändern und zugleich Kontinuitäten aufrechterhalten können. Der Apparat, wie er in der Psychoanalyse aufgefaßt wird, ist nicht nur eine Übertragungsmaschine, sondern selbst eine Übertragung, ein zunächst technisch-militärischer Ausdruck, der dann in der Medizin als Beschreibung für physiologisch-anatomische Verhältnisse Verwendung findet (vgl. Kap. 3.2), um schließlich von Freud aus der Physiologie und Anatomie – und dies ist entscheidend für die anfängliche Entwicklung und den späteren Werdegang der Psychoanalyse – auf ein neuartiges Feld übertragen zu werden, das nur scheinbar dasjenige der (reinen) Psychologie ist. Der Titel dieses Feldes lautet Psychoanalyse. Was allerdings damit bezeichnet wird, ist zunächst ungewiß – und wird es in aller Vorläufigkeit auch bleiben. Zunächst könnte man also von einer Übertragung ins Ungewisse sprechen.77 Nicht erst als psychoanalytischer Begriff hat die Übertragung Karriere gemacht.78 Neben seiner technischen Relevanz erfuhr die Frage der Bezugnahme

76. Haas 1985, 18. 77. Die Unbestimmtheit der Übertragung von Begriffen in der Wissenschaftsgeschichte ist z.B. in Bezug auf die Psychoanalyse für den Energie-Begriff untersucht worden (vgl. Elkana 1986). Um genauer zu bestimmen, was im Denken Freuds vor sich geht, wäre z.B. auch auf die verschiedenen Zusammensetzungen auf der sprachlichen Ebene zu achten: Sprachapparat, psychischer Apparat, Genitalapparat. 78. »Womit wir, mitten in den Anfängen des Radios, wieder bei zentralen Begrif327

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semiotischer Elemente eine Aufwertung im Rahmen einer zeichentheoretischen Reformulierung tradierter wissenschaftlicher und philosophischer Bestände. Hierbei handelt es sich nicht nur um Fragen der Relationierung und Strukturierung von signifikanten Prozessen, sondern ebenso um das Problem der Konstitution von Elementen, Zusammenhängen, Prozessen und Bedeutungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das, was sich konstituiert, im ausdrücklichen Sinne selbst schon Zeichen ist oder nicht, da die Konstitutions- und Strukturierungsprozesse nicht anders als im Medium der Signifikation überhaupt für uns gegeben sind.79 Bei der Klärung der auftretenden Fragen nach der Semiose80 läßt sich beobachten, daß Subjekte sich an bestimmten Orten und zu verschiedenen Zeiten an Modellen orientieren, die nicht unbedingt dem Bereich der (wort-)sprachlichen Phänomene nahestehen, um ein situationsbezogenes Verständnis zu entwickeln. Als wechselnde metaphorische Ressourcen können soziale, wissenschaftliche, künstlerische, religiöse, militärische, technische und anderweitige Kontexte dienen, wobei den Übertragungsphänomenen – je nach theoretischem Ansatz – mehr oder weniger Bedeutung bei der Konstitution für das Selbst-, Fremd- und Weltverstehen beigemessen wird. Eines läßt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Übertragung hat den Rang eines Grundbegriffs kommunikations- bzw. zeichentheoretischen Denkens angenommen, obwohl sie sich nicht auf Sprach- bzw. Zeichenverstehen reduzieren läßt. Die Wende zur Sprachlichkeit des Welt- und Selbstbezugs menschlicher Subjekte in der Grundlagenreflexion des 20. Jahrhunderts ist nicht nur ein Indikator für die Wichtigkeit des Übertragungsbegriffs, sondern umgekehrt läßt sich an der Übertragung ein Grundproblem des kulturellen Selbstverständnisses unseres Zeitalters ausmachen: die mediale Verfaßtheit

fen der Psychoanalyse sind. Auch die Technik der Psychoanalyse basiert, wie Freud sagt, wesentlich auf einem Mechanismus der Übertragung und Gegenübertragung, den Psychoanalytiker und der Analysant wechselseitig miteinander, und zwar auf unbewußte Weise, praktizieren. Freud hatte freilich nie behauptet, daß das Unbewußte sich physikalisch überträgt. Von Anfang an, datiert mit dem Brief an Fließ [21.09.1897], schließt Freud jeden physikalischen Mechanismus aus, weil im Unbewußten, wie Freud sich ja ausdrückt, ›kein Realitätszeichen‹ existiert. Das Unbewußte nach der Maßgabe der Psychoanalyse ist, und darin liegt die Stärke dieser Wissenschaft, nichts Reales im physikalischen Sinn.« (Hagen 2001, 28f.) 79. Das ist die Frage einer grundlegenden Metaphorizität im Sinne Nietzsches (Nietzsche 1873). 80. »Es ist wichtig zu verstehen, was ich mit Semiose meine. Alle dynamische Aktion oder Aktion roher Gewalt, physikalisch oder psychisch, findet entweder zwischen zwei Objekten statt [...] oder ist jedenfalls ein Ergebnis solcher Aktionen zwischen zwei Objekten. Mit ›Semiose‹ jedoch meine ich im Gegensatz dazu eine Aktion oder einen Einfluß, der aus einer Kooperation dreier Objekte besteht oder diese einschließt, wie z.B. ein Zeichen, sein Objekt und sein Interpretant, wobei dieser tri-relative Einfluß auf keinerlei Weise in Aktionen zwischen je zwei Objekten aufgelöst werden kann.« (Vgl. Peirce 1907, 520) 328

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von Wirklichkeit als Bedingung der Konstitution von Subjektivität und Objektivität. Die anfängliche Gestalt jedes Problems ist die Unbestimmtheit.81 Seine Thematisierung als Problem der Übertragung eröffnet zwei Wege: Zum einen kann man versuchen, auftauchende Probleme auf Ursachen, Gesetzmäßigkeiten, Vergangenheit, Geschichte zurückzuführen; zum anderen dem Problem eine bestimmtere Gestalt zu verleihen und es in neue Kontexte der Problemlösung zu übertragen.82 Rückübertragung und Übertragung nach woanders – die Spannung, die sich bei der Übertragung von Problemkonstellationen (durch die Zeit, über Grenzen, Disziplinen und Themen hinweg) einstellt, versetzt jede Gegenwart in eine Unruhe und macht sie zum Schnittpunkt von Kraftlinien, die sich aus unterschiedlichsten Geschichten und Erwartungen speisen. Das prädestiniert die Übertragung zugleich zu einer sozialen Macht.83

81. Auch hier bleibt die Relationalität gewahrt, da Unbestimmtes als Unbestimmtes nur im Verhältnis zu Bestimmten bestimmt werden kann. Diese erkenntnistheoretische Rückbindung ist irreduzibel. Zum Problemaufriß des Umgangs mit Unbestimmtheit vgl. Gamm 1994. 82. Von diesen beiden Umgehensweisen, die jeweils mit Ansprüchen auf Gegenstandserkenntnis auftreten müssen, wenn sie sich nicht im Ansatz selbst dementieren sollen, scheint zunächst die letztere Variante interessanter, weil sie offener bleibt für die Veränderung, die Weiterentwicklung. In genealogischer Hinsicht jedoch wird ein Verfahren der Rückführung als ein ebenso nötiges wie kritisches Moment für die Öffnung von Gegenwart anzusehen sein, da erst die tendenzielle Auflösungsgeschichte der Gegenwart in die kontingenten Wurzeln der Geschichte die vermeintliche Geschlossenheit der Gegenwart durchbricht (vgl. Vogl 1995). Vgl. in ähnlicher Weise mit Betonung der ursprünglichen Ambivalenz bzw. Unbestimmtheit das Konzept der Metaphorologie bei Blumenberg 1960; sowie Freud 1910. 83. Mit Peirce’ Fassung von Semiose wird neben der syntaktischen und der semantischen Dimension zugleich die der Pragmatik als konstitutiv erschlossen. An den geschichtlichen Prozessen der Zeichenbildung kann verfolgt werden, wie Zeichen zum Gegenstand und Mittel von sozialen Auseinandersetzungen gebraucht werden, bestimmte Institutionen und Formen des Umgangs ihre Verwendung zu regeln versuchen und dadurch Macht im Spiel der Zeichen ist. Diesen Aspekt findet man bei Michel Foucault als Entwurf einer Analytik der Diskursivität: Die »diskursive Praxis«, »ein praktisches Gebiet« der Wertschätzung von Aussagen als Zirkulations- und Tauschobjekten, bildet »ein Gut, das infolgedessen mit seiner Existenz (und nicht nur mit seinen ›praktischen Anwendungen‹) die Frage nach der Macht stellt. Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand eines Kampfes und eines politischen Kampfes ist.« (Foucault 1969, 171 u. 175). Daß es sich hierbei keineswegs um ein bewußtes Geschehen handeln muß, wird aus dem Zusammenhang der psychoanalytischen Erfahrung deutlich, die noch an kulturellen (nicht bloß individuellen) Bildungen jeglicher Art eine zusätzliche, unbewußte Determination als wirksam nachweist. Interessant ist bei Freud der Zusammenhang zur »Systembildung«: Da Freud das System als eine reine Ordnungsstruktur auffaßt, wie sie die »intellektuelle 329

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Übertragung als Relationierung von Medien Übertragung ist immer bezogen auf Entfaltungsräume, auf Medien. Entweder vollzieht sie sich innerhalb ein und desselben Mediums (z. B. als Paraphrase in der gesprochenen Sprache) oder von einem Medium in ein anderes (z. B. von der Akustik des Wortes in das Graphische der Zeichnung). D. h. die Übertragung markiert zugleich eine Differenz zwischen zwei Zuständen, Medien oder Orten, und deren Überbrückung, Überschreitung, Überführung. Sie verbindet, ohne aufzuheben. Die Differenz bleibt erhalten, wird jedoch in ihrem Unterschiedensein bezogen auf eine Verbindung, ein Trans, ein (Hin-) Über.84 Deshalb darf das Moment der Kontinuität nicht unterschlagen werden, ohne welches die Übertragung haltlos, beliebig und ununterscheidbar wäre.85 Zur Klärung der Frage, was übertragen wird – Form bzw. Struktur und Bedeutung bzw. Sinn –, können vielleicht die Begriffe der Transfiguration (M. Mathieu)86 oder Transposition (F. Kittler)87 oder aber der theologische Begriff der Transsubstantiation88 beitragen, ebenso die Begriffe der Übersetzung und Überlieferung (G. C. Tholen)89. Aber genauso sinnvoll könnte es sein, die Begriffe Projektion (G. Vollmer)90 bzw. Abbildung zu Rate zu ziehen, wie sie z. B. in der Geometrie gebraucht werden – wenn hierbei alle Hypostasierung der gewohnten Metaphorik von Bild und Abbild, Original und Kopie vermieden und stattdessen eine rein funktionale Definition für den Gebrauch der Begriffe bemüht wird. In

Funktion in uns fordert«, unterläuft die unbewußte Determination die Selbstorganisation des Systems, sofern diese unter der strikten Forderung von »Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit« verfahren soll (vgl. Freud 1912b, 383). 84. Dementsprechend läßt sich das Übertragungsgeschehen immer nur perspektivisch rekonstruieren: von der einen oder anderen Seite oder von einem Dritten aus. Die damit einhergehende Verschiedenheit der Ansichten »derselben Sache«, die z.B. zwischen Partnern verhandelt wird, schließt eben die Gemeinsamkeit nicht aus, ohne die beide aneinander vorbeireden würden, nicht »denselben Gegenstand« hätten. Ein Minimum an Kontakt und Selbigkeit muß gewährleistet sein, damit Übertragung überhaupt statthat. Daß das, was dann im Prozeß statthat oder am Ende herauskommt, nicht den Erwartungen der beiden Partner (oder wenigstens einem von beiden) entsprechen muß, spricht nicht gegen die Annahme einer den Austausch gewährleistenden Gemeinsamkeit: Diese gehört jedoch zum Prozeß und inwieweit dieser wiederum von den Beteiligten für sich realisiert wird, ist äußerst unterschiedlich. 85. Dieselbe Notwendigkeit hat sich schon im Zusammenhang mit Assoziation und Erinnerung (Kap. 3.3) sowie mit Metaphorizität und operationale Schließung (Kap. 4.1.) ergeben. 86. Mathieu 1977, 178. 87. Kittler 1985, 271. 88. Transsubstantiation und Verdinglichung als Komplementärbegriffe, vgl. hierzu Zˇizˇek 1993. 89. Tholen/Schmitz/Riepe 2001. 90. Vollmer 1992. 330

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der Orientierung an einer Unterscheidung zwischen dem Medium einerseits und der Form bzw. dem Inhalt andererseits könnte sich eine Wiederholung der altbekannten Dichotomie von Form und Inhalt vollziehen. Wird allerdings das Medium nicht nur relational in Bezug auf Sender und Empfänger angesetzt, ohne die der Sinn des Begriffs selbst infragegestellt wäre, sondern darüber hinaus auch in Bezug auf die Form/Inhalt-Dichotomie als ganze, dann verliert die begriffliche Fassung des Mediums den absoluten Sinn und läßt sich relational reformulieren. Der Medien-Begriff ist ein universell in Anschlag zu bringender Begriff. Aber Medien sind nicht unabhängig von Inhalten und Formen (ebensowenig von Sendern und Empfängern91) zu explizieren. Damit wird das begriffliche und reale Herrschaftsverhältnis, welches traditionell einseitig z. B. dem Sender oder dem Inhalt zugeschrieben wurde, nicht einfach umgekehrt, sondern in Relation gesetzt. Nach Fritz Heider kann zwischen Element und Medium in der Weise unterschieden werden, daß der Zustand der lockeren Bindung bzw. Kopplung von Elementen sich dem Begriff des Mediums annähert, während die feste Verknüpfung von Elementen der Form innerhalb des Mediums entspricht.92 Die Relationalität der Definition läßt sich dahingehend verschärfen, daß die Bestimmung, was Element ist, wiederum von einer Unterscheidung abhängt. Ohne die Bestimmung von Grenzen würden Element und Medium ununterscheidbar sein. Darum muß ein Mindestmaß an Form zur Bestimmung von Elementen vorausgesetzt werden. In diesem Sinne müssen tradierte Begriffe wie Element (Stoff, Inhalt), Form (Idee, Relation), Medium (Vermittlung, Übertragung) in die Bewegung des Denkens hineingenommen werden.93 Ein wesentliches Kennzeichen von Medien ist ihre Strukturierung. Diese muß in einem mittleren Bereich der Komplexität zwischen einem Zuwenig (Homogenität) und einem Zuviel (Überkomplexität) an Differenzen liegen, denn beide Extreme nähern sich einer Ununterscheidbarkeit an und heben die Möglichkeit von Übertragung auf. Auch bedarf es, technisch gesprochen, eines Kanals, der in einer bestimmten Bandbreite die Übertragung von Differenzen (z. B. von Signalen beim Funken) ermöglicht. Die Reduktion möglicher Komplexität dient dabei zur Sicherung der Differenzen, die nur dann als solche distinkt bleiben, wenn sie nicht im Chaos der Überinformation überlagert oder durch Abschlei-

91. Vielleicht wäre es klarer, hier von Senderposition und Empfängerposition zu sprechen, da es zunächst nur um eine funktionale Strukturbestimmung geht, die von verschiedensten (empirisch-faktischen) Subjekten erfüllt werden können. 92. Vgl. Kap. 1.3. Vgl. Heider 1926; Hinweis bei Luhmann 1988, 890f. 93. Auf die materialistischen Implikationen einer solchen Definition wird hier nicht eingegangen. Die konstruktivistischen Konsequenzen werden im folgenden noch berührt. Im allgemeinen handelt es sich also um ein je zu bestimmendes Verhältnis, bei dem die Nähe zum morphologischen Denken und zur Figur der Metamorphose nicht zu verkennen ist. In dieser Tradition von Goethe über Nietzsche zu Spengler und Jünger, aber auch Wittgenstein wird im Spannungsverhältnis von Kristallisation und Verflüssigung gedacht. 331

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fung der Differenzen verschluckt werden, was dazu führen würde, daß man nicht wüßte, wo überhaupt im weißen Rauschen nach Information zu suchen sei. Mit Hilfe eines Basiscodes können verschiedene ›Inhalte‹ transferiert werden, ebenso wie mit Hilfe (nicht zu sehr) verschiedener Codes derselbe Sinn, dieselben Verhältnisse bzw. Aussagen unterschiedlich dargestellt – d. h. übersetzt – werden können94. Allerdings handelt es sich bei letzterem um eine Idealisierung95 angesichts der Annahme, daß die Übersetzung ohne Verlust vonstatten gehe und die jeweilige Eigenheit des Mediums keine – oder eine zu vernachlässigende – Rolle spiele. Die Materialität der Kommunikation96 ist nämlich nicht zu unterschätzen, gerade wenn es sich nicht bloß um verschiedene Codes desselben Mediums handelt (begrenzte Abbildbarkeit, Unbestimmtheit der Übersetzung), sondern um die Verschiedenheit der Medien selbst.97 Erweitert man den Begriff der Materialität von einem bloßen Substanz- oder Mittel- bzw. Werkzeug-Verständnis hin zu einem individualisierenden Konzept, das nicht nur Raum und Zeit, sondern im emphatischen Sinne Ort und Geschichte, aber auch neben der Quantität die (sinnlichen) Qualitäten nicht vernachlässigt, dann wird Foucaults Ringen um eine adäquate Fassung eines Grundbegriffs von Diskursivität, nämlich: der Aussage, verständlich.98 Mit der genannten technischen Perspektive der Übertragung verbinden sich die Probleme der Übermittlung und Sicherung von Daten. Die Informationskriege werden heute zunächst um Kanäle und Codes geführt, dann erst um Botschaften. Technik geht vor Deutung, Lesen vor Verstehen – sofern man seinerseits schon verstanden hat, was Technik, was Lesen ist. ›Sinn‹ ist im eben angedeuteten Sinne eine höherstufige Ebene, welche die Kenntnis des Codes und die technische Bewältigung der Materialität voraussetzt. Dieses Gebrauchswissen stellt eine vorgängige Weise heutiger technisierter Welt- und Selbstverhältnisse dar, das sich wiederum nur in Bezug zu den wirklichen technischen Möglichkeiten expli-

94. Dies ist die klassische Aufgabe des Übersetzers von einer Sprache in eine andere – trotz der Benjaminschen Einwände: Benjamin hatte entgegen der gängigen Auffassung, Übersetzen hieße, etwas aus der fremden Sprache in die eigene zu bringen und somit den unverständlichen Ausdruck in einen verständlichen umzuwandeln, gefordert, der Übersetzer müsse die eigene Sprache so umformen, daß etwas von der Fremdheit des Originals in der Übersetzung spürbar werde (vgl. Benjamin 1921). 95. Der Idealtyp der gelungenen Übersetzung stellt nur einen Fall des allgemeinen Problems im Umgang mit Unbestimmtheit von Kommunikation dar, die sich ebenso schon im Schreib- wie Lektüreprozeß auswirkt. 96. Gumbrecht/Pfeiffer 1988. 97. Auch die unterschiedlichen Sinnessphären des Körpers stehen in einem metaphorischen Verhältnis zueinander, was nicht zuletzt auf Phänomene der Synästhesie hinausläuft (vgl. Emrich 1990). 98. Foucault 1969. Als identitätssicherndes Moment für das, was eine Aussage ist, darf seine Charakterisierung als wiederholbare Materialität nicht übergangen werden (vgl. Foucault 1970). 332

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

zieren läßt. Deshalb kann zwar von der weltgestaltenden Macht der Technik insofern gesprochen werden, als sie die praktischen Möglichkeiten (vor-)strukturiert, in denen sich Handeln und Kommunizieren vollziehen. Mit den technischen Einrichtungen ist eine bestimmte Erschlossenheit, Zugänglichkeit und Auslegung von Welt vollzogen, die also, um mit Heidegger zu reden, Sein und Seiendes für das Dasein je schon (in einem fundamentalen Sinn von Verstehen) mit Seinsverständnis begegnen läßt.99 Diese Einrichtung der Welt wird als die Überlegenheit des technisch-institutionellen Apparates nicht nur bezüglich der Natur, sondern gegenüber dem Individuum erfahren. Wie eine zweite Natur hat sich der technische Apparat verselbständigt. Umgekehrt jedoch kann zu keiner Zeit ausgeschlossen werden, daß sich etwas ereignet, was nicht zu erwarten war, weil es nicht den bisher realisierten und verstandenen Möglichkeiten des Gebrauchs von Technik entspricht. Diese Überschreitung bleibt im Spiel, da das Vorverständnis, das im Gebrauch enthalten ist und sich in ihm ausdrückt, sich nicht auf die Wirklichkeit bzw. die tatsächliche Verwendung der Technik reduzieren läßt. Hiermit ist die welterschließende und -erzeugende Funktion des Verstehens gemeint, wie sie Heidegger in Sein und Zeit als ein grundlegend praktisches Sich-zu-sich-Verhalten eingeführt hat.100

Der Übertrag als Rest: Rechnen und Verkennen Wenn Analyse im allgemeinen Lösungen hervorbringen kann, dann können sowohl psychoanalytische wie auch mathematische Verfahren zu ihr gezählt werden. Bei Verhältnisbestimmungen, bei Auf- oder Verteilungen von Mengen, also bei der Frage nach dem Verhältnis von Teilen zum Ganzen, von Einzelnen und Mehreren, von Vielen und verschiedenen anderen Vielen (oder Wenigen), gibt es unter-

99. Heidegger 1927. 100. »Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht.« (Vgl. Heidegger 1927, 191; s.a. 143 u. 181) Zu ergänzen wäre hier, daß es nicht nur um ein Zu-sich-, sondern ebenso um ein Zu-Anderem-Verhalten geht, ja, daß das Sich-zu-SichVerhältnis den Bezug zu Anderem in seiner Selbstkonstitution in Anspruch nimmt. Ob man allerdings soweit gehen muß wie Lévinas, der pauschal vom Vorrang des Anderen spricht, ist durchaus fraglich. In ethischer Hinsicht mag es nötig sein, auf der Irreduzibilität des Anderen zu beharren, der ein Subjekt in Anspruch nimmt, schon bevor es sich als Ich konstituiert, ja, sogar bevor es ist. Aber umgekehrt setzt der Andere den Einen in unbestimmter Weise voraus, wenn es denn ein Anspruch sein soll, der an diesen ergeht, egal ob er zu antworten, gar zu verantworten weiß. Deshalb kann hier von offener Symmetrie in dem Sinne gesprochen werden, daß das Verhältnis grundsätzlich wechselseitig unbestimmt bleibt, was etwas anderes meint als eine positiv bestimmte Symmetrie der Gleichheit, der gleichen Rechte und verbürgten Ansprüche. Bei Lévinas findet sich andererseits auch die Rede von der Unvertretbarkeit des Ich, die somit auf die Irreduzibilität nicht nur des Anderen, sondern von Andersheit überhaupt und damit auch des Ich verweist. 333

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schiedliche formalisierte Verfahren zur Berechnung. Der Übertrag ist ein Rest, den man bei einer Rechnung oder Abrechnung nicht einfach stehen lassen kann, soll am Schluß nicht das Ergebnis offensichtlich falsch oder unbrauchbar ungenau werden, weil man etwas vergessen oder unter den Tisch hat fallen lassen. Dieser Rest kann bei allen vier Grundrechenarten auftreten, zumal dann, wenn die formalisierten Rechenoperationen ohne allen Zeitbezug sich auf Verhältnisse angewendet finden, die Zeit implizieren. Dies ist der Fall insbesondere bei unabgeschlossenen Additionen, wenn am nächsten Tag, in Zukunft, noch etwas hinzugefügt werden muß. Aber auch bei komplizierten Multiplikationen und Subtraktionen wie auch bei der Division, die besondere Formen des Restes kennt, nämlich den untilgbaren, nicht verrechenbaren Rest, kann etwas offen bleiben. Die irrationalen Zahlen sind solche nicht zum Abschluß, d. h. zur Eindeutigkeit zu bringenden Brüche. Angesichts dessen haben sowohl die Mathematik als theoretische Disziplin wie auch der lebenspraktische Umgang im Rechnungswesen verschiedene Weisen gefunden, mit den Problemen ausstehender Eindeutigkeit umzugehen. Diese Methoden führen sogar dazu, Grade von Nichteindeutigkeit auszumachen: »Das Verhältnis des Goldenen Schnittes ist die irrationalste aller irrationalen Zahlen. Die Mathematiker haben eine Hierarchie der Irrationalität bei den Zahlen aufgestellt. Da gibt es Kettenbrüche wie 1:3, die nicht aufgehen oder wo Perioden auftreten. Eine Zahl ist um so näher am Chaos, je weniger gut man sie durch Näherungslösung darstellen kann. Man kann zeigen, daß das Verhältnis des Goldenen Schnittes diejenige Zahl ist, die von allen möglichen irrationalen Zahlen am wenigsten durch eine Näherungslösung darstellbar ist.«101 In jeder Buchführung überträgt man deshalb den offengebliebenen Rest, der noch nicht verrechnet worden ist, auf die nächste Seite, auf den nächsten Tag: Es wird nach dem Prinzip Vorläufigkeit verfahren, und jeder Abschluß, ob des Tages, des Monats oder des Jahres, bleibt immer eine willkürliche Zäsur, ein Arrangement mit der Unabschließbarkeit. Übertragung ist demnach dort am Werke, wo man nicht fertig werden kann, wo es (noch) keinen Abschluß gibt oder wo eine Fortsetzung statthaben könnte oder sollte. Übertragung ist das Hinübergehen, des nachträglichen und zugleich vorläufigen Abschlusses, ist unaufhörlicher Versuch und Bewegung der Bestimmung von Unbestimmtheit.

101. Rötzer 1992. Es ist bemerkenswert, daß von vielen Mathematikern die Zahl π als irrationalste aller Zahlen angesehen wird, vgl. Preston/Seidel 1992. Die für eine solche Bestimmung wichtigsten mathematischen Kriterien sind allerdings, ob die dezimale Darstellung einer Zahl zum einen endlich oder unendlich, zum zweiten periodisch oder nicht-periodisch und zum dritten in irgendeiner polynomischen Form dargestellt werden kann oder nicht. Ist dies alles nicht der Fall, handelt es sich um nicht-algebraische oder transzendente Zahlen. 334

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Peinlich genau achtet der zwanghafte Charakter auf solche Überträge und rechnet sie auf Heller und Pfennig ab, um am Schluß eine exakte, ausgeglichene Bilanz zu erhalten. Hysterisch mag jeder (Schluß-)Strich zuviel schon der Festlegung sein, zu sehr dem Ende zustreben. Psychotisch wäre die Verweigerung, die Übertragung überhaupt anzunehmen und letztlich anzuerkennen, daß es anderes gibt.102 Eine solche Ausschaltung der Übertragung läuft auf eine Verkennung hinaus: Die Übertragung, die dann von woanders herkommt und dort einsetzt, wo man es nicht erwartet, wird übergangen, und deshalb bleibt jeder, der sie radikal auszuschalten versucht, ihr hemmungslos ausgeliefert. Der symbolische Charakter der Übertragung, der ihr Struktur verleiht, bleibt dann für eigene Eingriffe ungenutzt, weil das Bewußtsein der absoluten Kontrolle sich den Zugang zu anderen (Subjekten und Wirklichkeiten) verbaut, da es sich von allen Beeinflussungen loszusagen versucht, und so den Kontakt mit anderen Möglichkeiten verliert, die es dennoch betreffen. Wenn die Medien auch Rhythmus, Massage103, Perturbation sind, so fehlt einem als psychotisch zu klassifizierenden Standpunkt jegliche Möglichkeit, sich in und mit diesen Medien als differente Identität gegenüber diesen zu artikulieren, geschweige denn zu behaupten.104 Dem psychotischen Bewußtsein jedenfalls fehlt die Unterscheidungsmöglichkeit von Imaginärem und Realem, da es das Symbolische (die Dimension des Anderen bei der Strukturierung) nicht als Anderes anerkennt und deshalb auch nicht als unabhängigen Bezugspunkt nutzen kann.105 Von diesem Punkt aus betrachtet, wird das Medium selbst die Botschaft, insofern Medialität und jedes einzelne Medium spezifische Wirkungen hat, jenseits von bestimmten Inhalten und Formen.106 Deshalb

102. Mit Bezug auf Freud spricht Jacques Lacan von Verwerfung, vgl. Lacan 1955/ 56. 103. Vgl. McLuhan/Fiore 1967 sowie Maturana/Varela 1984. 104. Die künstlerische Produktion Schizophrener widerspricht dem nicht: sie wäre vielleicht als ausschließliche Artikulation der medialen Differenzialität anzusehen, die Identität nicht als Voraussetzung, sondern allenfalls als ein mögliches, aber »äußerlich bleibendes« Produkt kennt. 105. Vgl. zur Frage der Psychose Kap. 5.2. Es bliebe zu diskutieren, ob die von Bernard Gibello vorgeschlagenen Termini ›Phantasma‹, ›Sprache‹, ›Natur‹ (vgl. Gibello 1977) nicht besser geeignet sind, den unterschiedlichen Phänomenen nicht nur der Klinik, sondern auch des Alltags gerecht zu werden und eine andere Akzentuierung in der Theoretisierung zuzulassen. Alternativ zur Lacanschen nötigt diese Triade zum Nachdenken darüber, was mit den Termini tatsächlich gemeint sein kann, und es tritt deutlicher hervor, daß das Phantasma nicht bloß imaginär bzw. bildhaft, das Reale nicht bloß Natur ist. 106. Medienwirkungsforschung muß also über den Punkt einer bloßen Inhaltsanalyse hinwegkommen und nicht nur die Gestaltung von Stoffen durch den Medien eigene Formen analysieren. Dies gilt trotz des aufgestellten Grundsatzes, daß Medialität nicht ohne Materialität, ohne konkrete Konstellation und d.h. letztlich nicht ohne Form- und Inhaltsbestimmungen bestimmt werden kann. 335

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bleibt hier immer noch ein Rest, der sich weiter überträgt, nicht aufhört sich zu übertragen. Man kann das das Reale der Medien nennen.

Universalität der Übertragung und Systemtheorie Die bisherigen Überlegungen zielen auf die grundlegende Annahme einer Universalität der Übertragung107 sowohl gegenüber ihrer therapeutisch-klinischen Domestizierung wie ihrer wissenschaftlich-technischen Beherrschung. Übertragung kann demnach weder als zu beseitigender Störfaktor noch als weißes Hintergrundrauschen verstanden werden, weder als beobachtbares psychologisches Phänomen im Sinne einer falschen Reaktion noch als eine in semiotischen Begriffen vollständig erfaßbare Größe. Systemtheoretisch gesprochen muß die Übertragung in ihrer Relationalität thematisiert werden: Nur unter Angabe einer, wenn auch unspezifischen, Systemreferenz wird das Übertragungsgeschehen erfahrbar und bestimmbar. Nimmt man die Perspektivität aller Übertragung ernst, so macht die Kontextualität der Übertragung ein wesentliches Moment ihrer Bestimmung aus. Auf dem Boden einer konstruktivistischen Methode ist Übertragung letztlich nur als eine selbstinduzierte Selbstreorganisation von Systemen zu denken. Der hierfür vorgeschlagene Grundbegriff der Autopoiesis108 umfaßt alle Prozesse und Operationen eines Systems, durch die es sich selbst erhält, organisiert und transformiert. Wichtig ist dabei die Autonomie der systeminternen Operationen gegenüber der Umwelt. Das Wie des Operierens kann nicht von außen festgelegt werden, obwohl Systeme immer in relativer Abhängigkeit von ihrer Umwelt stehen. Was jedoch als Umwelt für ein System gegeben ist, was ein System also als Information, was als Rohstoff und Energie für sich nutzen kann, hängt von der inneren Struktur und den damit verbundenen Möglichkeiten seiner Autopoiesis ab. Die Autopoiesis vollzieht sich also letztlich mit Bezug zu anderem, ohne jedoch von diesem anderen im strengen Sinne direkt bzw. vollständig determiniert zu sein. Die Geschlossenheit der Autopoiesis bezieht sich demnach vornehmlich auf die Operationen von Systemen, so daß sinnvollerweise etwa von informationeller oder von operationaler Geschlossenheit zu sprechen ist. Paradoxerweise wird so erst verständlich, wieso anderes, wieso Umwelt überhaupt für ein sich in Autonomie behauptendes System eine Rolle spielen kann. Nur wenn es die Funktionen des geschlossen operierenden Systems gibt, also eine Unterscheidung von Innen und Außen vollzogen worden ist,109 kann es eine kontrollierte

107. Universalität ist hier nicht i.S.v. Uniformität oder Homogenität gemeint, sondern i.S. der Transversalität der Vernunft. Vgl. Welsch 1995. 108. Vgl. Maturana/Varela 1984. 109. Die Frage nach der ursprünglichen Unterscheidung von Innen und Außen, von System und Umwelt ist nach systemtheoretischen Kategorien entweder unsinnig, paradox oder nicht zu beantworten. (Hier hat dann die Metapher vom blinden Fleck ihren Auftritt.) Nur in der nachträglichen Perspektive, von schon konstituierten Systemen aus, läßt sich die Frage nach Innen und Außen und ebenso die Frage nach dem Nichtunterschiedenen stellen. 336

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Bezugnahme auf Umwelt, ja sogar einen Austausch mit ihr geben, kann Umwelt als Möglichkeitsfeld von Bedrohungen ebenso wie Weiterentwicklung für ein System genommen werden. Ein zentrales systemtheoretisches Problem liegt in der Konstitution und Handhabung der Geschlossenheit des Systems, also in der Konstitution desjenigen Zusammenhangs von Operationen, der das System ist und es auf diese Weise von der Umwelt abgrenzt. Da Unterscheiden als eine Grundoperation angesehen wird, die überhaupt nur von Systemen vollzogen werden kann (da jede Unterscheidung ein Maß an Bestimmtheit verlangt, das sich nur dem Zusammenhang eines Systems verdanken kann), muß eine notwendig zu denkende Anfangsunterscheidung strenggenommen aus dem Rahmen des systemtheoretischen Paradigmas herausfallen. Andernfalls ergäbe sich die Paradoxie, daß dasjenige, was ein System erst konstituiert, nur von diesem System selbst konstituiert worden sein kann. Das Konstituierte brächte so das Konstituierende hervor. Oder umgekehrt: Dasjenige, was ein System konstituiert, gehört nicht zum System. Das System wäre also kein sich selbst hervorbringendes, d. h. sich vollständig selbst organisierendes System. Und wenn in einem wesentlichen Aspekt das System nicht auf seine Selbstbezüglichkeit aufgebaut ist, dann ist es schwer, noch von System zu sprechen, da das unterscheidende Kriterium zur Umwelt fehlt. Die theoretische Konzeption selbstorganisierender Systeme muß also die Unterscheidung von System und Nichtsystem in dem Bewußtsein auf sich nehmen, etwas Unentscheidbares zur Entscheidung zu bringen. Die Selbstbestimmung eines Systems bleibt demnach – bedingt von der Unbestimmtheit des Anfangs und der Autonomie – auf Heteronomie bezogen. Im Herz der Systemkonstitution bleibt eine untilgbare Unbestimmtheit bestehen, anders gesagt: findet die Dezentrierung der Autopoiesis statt, die dazu führt, die ursprüngliche Selbsterzeugung von der bereits laufenden und sich immer fortsetzenden Autopoiesis zu unterscheiden.110 Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die entscheidende Frage, wie Übertragung über Systemgrenzen hinweg statthat, ist doch – beobachtungstheoretisch gesprochen – alles, was überhaupt von der Übertragung wahrgenommen wird, einer Unterscheidung geschuldet, die der Beobachter, also ein (imaginärer oder symbolischer) Dritter, trifft, während die psychoanalytische Erfahrung zeigt, daß Beobachtung und Beobachtetes in einer unauflöslichen Verstrickung kopräsent sind. Ist hier also ein weiteres Mal eine entschiedene Unentscheidbarkeit als Prinzip aller Theoriebildung zu konstatieren?111

110. Roth 1986. 111. Foerster 1988. Detlef Bernhard Linke erörtert das Dilemma in spielerischer Weise, ob die Geschlossenheit autopoietischer Systeme nicht doch intern als Offenheit definierbar ist, da – bei tatsächlicher Geschlossenheit – kein Kriterium vorläge, welches es erlaubte, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden als eben bloß der Selbstbezug des Systems zu sich selbst, und da so letztlich die Willkür der Selbstinterpretation des Systems darüber entscheiden würde, was es sich selbst als Offenheit oder Geschlossen337

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Wenn Systeme mit ihren systemeigenen Operationen nicht außerhalb ihrer selbst operieren können – d. h. psychoanalytisch betrachtet, daß das alter ego unerreichbar ist – und in umgekehrter Perspektive selbstorganisierende Systeme nicht von außen gesteuert werden können, dann müssen Phänomene der Kommunikation, Sozialität und Intersubjektivität mit einem anderen Modell erläutert werden. Die Autopoiesis-Theorie (Maturana/Varela) und die darauf bezogene Systemtheorie Luhmanns verwenden die Termini der strukturellen Kopplung und der Interpenetration, um Relationen über Systemgrenzen hinweg zu beschreiben. Beziehungen zwischen Systemen kommen nicht durch direkte Ursache-Wirkungs-Kausalität zustande, sondern müssen als Selbstkonditionierungen der betroffenen Systeme gefaßt werden. Es gibt keine Systeme ohne Umwelt: Die Impulse, Störungen, Reize von außen sind notwendige Momente für die (geschlossenen) Systeme, mit deren Vorkommen sich ihr weiteres Prozessieren entfaltet und zu einer ständigen (Re-)Organisation Anlaß gibt. Das System koppelt sein eigenes Operieren an die Bedingung des Außenkontaktes. Erst von hier aus wird verständlich, wie es über Systemperspektiven hinweg so etwas wie konsensuelle Bereiche112 geben kann, die durch Selbstdetermination von Systemen, durch Selbstkonditionalisierung der Operationsweisen gebildet werden. Systeme sind so dazu in der Lage, sich selbst an Bedingungen zu binden, die dem Außen zugerechnet werden. Das heißt, daß die Bedingungen für Übertragung immer auch von systemeigenen Operationen gesetzt werden. Die Inanspruchnahme der Bedingungen des jeweils anderen Systems läßt sich als Arbeitshypothese des einen Systems verstehen, das sein eigenes Operieren von den Operationen des anderen Systems abhängig macht. Ein solches Übertragungsverfahren läßt sich nicht als Naturnotwendigkeit im ontologischen Sinne verbuchen, gleichwohl kann sich eine wechselseitige Stabilisierung von Annahmen über den jeweils anderen – i.S. der Hegelschen Anerkennungsproblematik oder der Luhmannschen doppelten Kontingenz – herausbilden.

heit zurechnete: bei jeglichem fehlenden Außenkontakt, den ein wirklich radikaler Konstruktivist behaupten müßte (generell aber scheinen auch die diesem Forschungsansatz verpflichteten Theoretiker hierin eine Absurdität zu erblicken, so z.B. Roth 1993). So wie sich bei dem Beharren auf einer strikten Innenperspektive der Geschlossenheit die Ununterscheidbarkeit zur Außenwelt, die es ja dem Ansatz gemäß gar nicht geben dürfte, herstellt und damit der zu Distinktionszwecken aufgestellten Ausgangsthese den Boden unter den Füßen wegzieht, so ergibt sich umgekehrt bei einem Beharren auf einer strikten Offenheit des Systems das Problem, wie es dann überhaupt zu systemspezifischen Distinktionen zur Umwelt kommen kann, wenn es doch – bei radikaler Offenheit – eigentlich selbst bloß einen Teil der Umwelt darstellt? Sowohl Offenheit als auch Geschlossenheit als Leitdifferenz sind mit dem Grundgedanken des Konstruktivismus vereinbar – nur nicht ihre einseitige Überhöhung und Verabsolutierung (vgl. Linke 1992). 112. Vgl. Maturana/Varela 1984. 338

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Konstruktion und Deutung: Übertragung in der Psychoanalyse Was heißt nun Übertragung für den Psychoanalytiker? Lapidar formuliert der frühe Freud: »Die Übertragung auf den Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung«113, während einer seiner Nachfolger umfassender erläutert: »Unter Übertragung verstehe ich im klassischen Sinn den Prozeß, demzufolge eine Vergangenheit mit ihren Wünschen und ihren Objekten durch die Verschiebung auf die Person des Analytikers und im weiteren Sinne des Psychotherapeuten aktualisiert wird. Andersartig erlebte Wiederholung der frühesten Kindheitserlebnisse, Inszenierung dessen, was vergessen worden ist, – in einer Gegenwart, die durch eine neue Gegenwärtigkeit skandiert wird. Sowohl Hebel für das Wiedererinnern des Verdrängten als auch Haupthindernis. Denn das, was übertragen wird, ist in etwa die symbolische Äquivalenz, und das Wesen der Symbolik besteht darin, sowohl Verkennen als auch Erkennen zu sein. Daher der Wechsel zwischen Wiedererinnerung und Wiederholung als Erlebnis, wobei die Inszenierung der Übertragung auch ein Agieren ist. Daher der Kampf zwischen Sagen und Tun. Erlebt man in der Übertragung etwas wieder, um sich zu erinnern oder um sich nicht zu erinnern? Bis zu welchem Punkt kann das Sprechen die Erinnerungsspuren wiederbesetzen, und welche Grenzen sind der Überführung der verdrängten Erinnerung und der damit verbundenen Affekte in bewußte Sprache gesetzt?« 114 Der Zweifel115, die Unsicherheit und Ungewißheit gehören unmittelbar zur Übertragung. Nie ist der Analytiker sicher, was sich wirklich zuträgt oder zugetragen hat. Freud betont wiederholt, wie befremdlich die Übertragung sei: »Das Merkwürdigste ist, daß der Patient nicht dabei bleibt, den Analytiker im Lichte der Realität zu betrachten als den Helfer und Berater, den man überdies für seine Mühewaltung entlohnt und der sich selbst gern mit der Rolle etwa eines Bergführers auf einer schwierigen Gebirgstour begnügen würde, sondern daß er in ihm eine Wiederkehr – Reinkarnation – einer wichtigen Person aus seiner Kindheit, Vergangenheit erblickt und darum Gefühle und Reaktionen auf ihn überträgt, die sicherlich diesem Vorbild gegolten haben.«116 Übertragung wird von Freud als ein strukturierender Vorgang der ganzen Behandlung117 entdeckt, liegt jedoch vielen anderen alltäglichen Phänomenen zu-

113. Freud/Breuer 1895, 244f. Freud gibt den Hinweis auf Freud/Breuer 1895, 121, dort der Hinweis d. Hg. auf den hier zum ersten Mal psychoanalytisch gebrauchten Terminus: in einer »viel engere[n] Verwendung« als in späteren Schriften. Vgl. auch Freud 1900, 536f., wo eine etwas andere Verwendung zu finden ist; außerdem: Freud 1905b. 114. Mathieu 1977, 178f. 115. Z.B. Freud 1937b, 397. 116. Freud 1938, 413. 117. Laplanche/Pontalis 1967, 553. 339

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grunde und wird dadurch in den Rang eines allgemeinen Grundprinzips der Strukturierung symbolischer Lebenswelten gerückt.118 Die spezifische Zeitlichkeit, wie sie in der Psychopathologie erfahrbar wird, hat den Charakter der Wiederholung. »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«119 stehen dabei in kontrastivem Bezug zueinander. Das wiederholende Agieren des Analysanten, »ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt«120, zeigt anstelle des bewußtwerdenden Erinnerns einen Widerstand an. Erst die vertiefende Arbeit an den auftauchenden Widerständen, die »zu einer beschwerlichen Aufgabe für den Analysierten und zu einer Geduldsprobe für den Arzt werden« mag, hat »die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten«.121 Als Instrument der analytischen Technik erweist sich die Handhabung der Übertragung122 als unkalkulierbar, was sich insbesondere an den Affekten zeigt, die mit plötzlicher Heftigkeit – in Wiederholung älterer Beziehungserfahrungen – auf den Plan treten können: »Wir haben die Erfahrung gemacht, daß das Verhältnis der Übertragung, das sich zum Analytiker herstellt, besonders geeignet ist, um die Wiederkehr solcher Affektbeziehungen zu begünstigen.«123 Diese affektiven Interpunktionen sind von größter Wichtigkeit für den Fortgang der Analyse. Die Übertragungsbeziehung bedarf also verschiedener Momente, sowohl des Erinnerns vergangener Geschehnisse, des affektiven (Nach-)Erlebens124 und des vertiefenden Durcharbeitens der Widerstände. Zum Vorantreiben des analytischen Prozesses muß zudem auf Konstruktionen zurückgegriffen werden, insbesondere um Unerinnerbares nachträglich einer Deutung zuzuführen.125 Wegen der verdrehten, verknoteten Zeitverhältnisse der Nachträglichkeit ist die Wiederholung in der Übertragung nicht in einem realistischen Sinne zu verstehen, »der die Aktualisierung auf effektiv erlebte Beziehungen beschränkte. Auf der einen Sei-

118. Laplanche/Pontalis 1967, 551 sehen Übertragung als der Hypnose und der Suggestion zugrundeliegendes Phänomen, was eine entscheidende Wende des psychoanalytischen Denkens z.B. gegenüber der Massenpsychologie à la Le Bon darstellt, welche die contagiösen Massenphänomene auf Hypnose/Suggestion zurückführen. 119. Freud 1914: »Das Hauptmittel aber, den Wiederholungszwang des Patienten zu bändigen und ihn zu einem Motiv fürs Erinnern umzuschaffen, liegt in der Handhabung der Übertragung.« (214) 120. Freud 1914, 210. 121. Freud 1914, 215. 122. Nicht die Deutung ist das Beunruhigende bzw. das Hauptproblem im analytischen Prozeß, sondern »daß die einzigen wirklich ernsthaften Schwierigkeiten bei der Handhabung der Übertragung anzutreffen sind.« (Freud 1915c, 219.) 123. Freud 1937b, 396. 124. Freud spricht auch davon, daß der Analysant »bestimmte Erlebnisse und die durch sie hervorgerufenen Affektregungen wieder erinnern« solle (vgl. Freud 1937b, 395). 125. Vgl. Freud 1915c, 209; vgl. Freud 1937b. 340

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te ist es vor allem die psychische Realität, die übertragen wird, das heißt im Grunde der unbewußte Wunsch und die damit verknüpften Phantasien. Auf der anderen Seite sind die Übertragungsäußerungen nicht buchstabengetreue Wiederholungen, sondern symbolische Äquivalente dessen, was übertragen wird.«126 Gegen einen Affektivismus des Unmittelbaren muß die symbolische Strukturierung des Übertragungsgeschehens betont werden.127 Die Sprachlichkeit erweist sich so als unumgänglich für die menschliche Erfahrung, da sie die Körperlichkeit mit dem Psychischen vermittelt. Schon die elementaren Erfahrungen des Körpers sind in symbolische Kontexte eingebettet. Die Gefühlsdimension, die sich im Bewußtsein zeigt, wäre als ein Indiz der Körperbezogenheit der Erfahrung zu verstehen: »Über ›Emotionalität‹ könnte insofern die Vermittlung sprachlich-symbolischer Prozesse mit dem Körper verlaufen.«128 Der Doppelsinn der Frage: »Was setzt Sprache hier in Bewegung?«129 darf nicht übergangen werden: denn die Übertragung bewegt etwas oder jemanden, wird jedoch auch von allen möglichen und unmöglichen Anlässen in Bewegung gesetzt. Übertragung orientiert sich an bestimmten Figuren, an Bildern und Worten: Im allgemeinen Sinne wird in der Psychoanalyse von Imagines (z.B. des Vaters, der Mutter etc.) und Signifikanten gesprochen. Von solchen thematisch gebundenen Figuren und kontextbezogenen symbolischen Einschnitten kann die Übertragung ausgehen und diese auf aktuelle Situationen anwenden, ohne daß die Realistik der Beurteilung dabei eine Rolle zu spielen scheint. Die Realitätsprüfung erscheint suspendiert. Zugleich wird die Übertragung spürbar, nämlich als überraschendes affektives Moment, das sich entgegen der Erwartung eines der Beteiligten gleichwohl auch sprachlich zur Geltung bringt: »Daß dieses Wiedererscheinen im Gespräch möglich ist, setzt eine innere Kommunikation zwischen Präsentem und Vergangenem, die wir Geschichtlichkeit nennen, voraus. Das impliziert zugleich, daß diese frühen Szenen, die jetzt erscheinen, bereits auf der Bühne eines kommunikativ strukturierten Unbewußten spielen.«130 Um den Wegen der Übertragung nachzugehen, bedarf es ihrer Inszenierung

126. Laplanche/Pontalis 1967, 556. 127. »Konzipierte Freud [...] das menschliche Subjekt als Triebwesen, so ist zugleich zu sehen, daß menschliche Triebe Forderungen an den Anderen sind, dieser Andere aber ein sprechendes Wesen ist, der auf diese Bedürfnisse nicht reagiert, sondern ›antwortet‹ und auf diese Weise den Bedürfnissen erst Orientierung gibt. Gefühle können deshalb niemals direkter Ausdruck von organischen Bedürfnissen oder Trieben sein, weil letztere per se nicht anzutreffen sind, sondern bereits in mediative Strukturen eingebettet und damit gebrochen begegnen.« (Lang 2000, 301f.) 128. Lang 2000, 303. 129. Lang 2000, 299. 130. Lang 2000, 300. Deshalb ist es durchaus angebracht, auch von einer Körpersprache zu reden, da der Körper für uns nicht nur in einem symbolischen Universum erscheint, sondern sich zugleich nur symbolisch strukturiert zeigt. 341

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im analytischen Prozeß: »Hier werden wir aber daran gemahnt, daß die analytische Arbeit aus zwei ganz verschiedenen Stücken besteht, daß sie sich auf zwei gesonderten Schauplätzen vollzieht, an zwei Personen vor sich geht, von denen jedem eine andere Aufgabe zugewiesen ist.«131 Das »Verhältnis der Übertragung« ist interpersonal, aber auch intertemporal. Vor allem jedoch ist es asymmetrisch132: Die Übertragung ist immer einseitig, perspektivisch, aber in ihrer Einseitigkeit durchaus wechselseitig verstrickt. Deshalb hat es wenig Sinn, die Gegenübertragung als wesentlich verschieden von der Übertragung zu denken, wenn auch die subjektiven Bedingungen jeweils unterschiedlich sein mögen, von denen sie ausgeht und die sie gestaltet.133 Das Setting und die Grundregel sollen die Orientierung in diesem mehrdimensionalen Kontinuum und eine gewisse Ausrichtung der analytischen Arbeit geben. Der Analytiker weiß zunächst nicht, was den zu Analysierenden fehlt: »Was also ist seine Aufgabe? Er hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen hat, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren.«134 Die Mitteilung der Konstruktion (oder Rekonstruktion) stellt die Verbindung zwischen der Arbeit der AnalytikerInnen und der der Analysierten her.135 In dieser Archäologie des Lebendigen, nicht des restlos Zerstörten136 bleibt allerdings eine offene Symmetrie bestehen: »Beiden bleibt das Recht zur Rekonstruktion durch Ergänzung und Zusammenfügen der erhaltenen Reste unbestritten.«137 Doch trotz aller Wichtigkeit ist die Konstruktion für die Analyse »nur eine Vorarbeit«138. Sie ist nicht das Ziel, sondern mehr oder weniger hilfreiches Mittel, während Erinnerung, Assoziation, Deutung, Widerstand und Konstruktion einander abwechselnd oder parallel befördern. Freud weist auf die Differenz von Deutung und Konstruktion hin: »[W]enn man in der Darstellung der analytischen Technik so wenig von ›Konstruktionen‹ hört, so hat dies seinen Grund darin, daß man anstatt dessen von ›Deutungen‹ und deren Wirkungen spricht. Aber ich meine, Konstruktion ist die weitaus angemessenere Bezeichnung. Deutung bezieht sich auf das, was man mit einem einzelnen Element des Materials, einem Einfall, einer Fehlleistung u. dgl., vornimmt. Eine Konstruktion ist es aber,

131. Freud 1937b, 396. 132. »Der Analytiker hat von dem, worauf es ankommt, nichts erlebt und nichts verdrängt; seine Aufgabe kann es nicht sein zu erinnern.« (Freud 1937b, 396) 133. Vgl. Lacan 1953/54, 236. 134. Freud 1937b, 396. 135. Ebd. 136. Freud 1937b, 397; und: »Alles Wesentliche ist erhalten, selbst was vollkommen vergessen scheint, ist nicht irgendwie und irgendwo vorhanden, nur verschüttet, der Verfügung des Individuums unzugänglich gemacht.« (Ebd.) 137. Und weiter: »Auch manche Schwierigkeiten und Fehlerquellen sind für beide Fälle die nämlichen.« (Ebd.) 138. Freud 1937b, 398. 342

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wenn man dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte [...] vorführt.«139 Konstruktion hat also eine orientierende Funktion und ist in ihrer Wirksamkeit auf Mitteilung bezogen. Man könnte sagen, daß das analytische Setting in dieser Hinsicht eine Testvorrichtung für Deutungen ist.140 Denn nur das, was auf irgendeine Weise durch die Reaktion der Analysierten und den Fortgang der Analyse gedeckt wird141, kann als richtig gelten: »Der Weg, der von der Konstruktion des Analytikers ausgeht, sollte in der Erinnerung des Analysierten enden; er führt nicht immer so weit. [...] Anstatt dessen erreicht man bei ihm durch korrekte Ausführung der Analyse eine sichere Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion, die therapeutisch dasselbe leistet wie eine wiedergewonnene Erinnerung.«142 Konstruktion muß also das Fehlende ersetzen, wo es nicht zu haben ist, Zusammenhänge herstellen, die nicht erinnert werden oder erinnerbar sind. Gegenüber der Deutung, die sich auf einzelne Stücke des präsentierten Materials berufen kann, zielt die Konstruktion auf größere Zusammenhänge, ist so jedoch in der Gefahr, den Wahnbildungen gleichzukommen. Freuds Vorbehalte gegen die Denksysteme der Philosophen, die er den psychotischen Wahnsystemen an die Seite stellt, sind bekannt.143 Wenn er auch den einen oder anderen Philosophen in bestimmten Punkten zu seinem Gewährsmann macht (z.B. Kant, Schopenhauer, Vaihinger etc.), so hält er doch das psychoanalytische Denken für ungeeignet,

139. Ebd. 140. »Diese Gelegenheit [zum Irrtumseingeständnis] ist gegeben, wenn neues Material zum Vorschein gekommen ist, das eine bessere Konstruktion und somit die Korrektur des Irrtums gestattet.« (Freud 1937b, 399) 141. Freud weist in diesem Zusammenhang auf die »indirekten Bestätigungen« hin, durch weitere auftauchende Erinnerungen, durch passende Assoziation desselben Problemkomplexes (Freud 1937b, 401). »Aber diese Reaktionen des Patienten sind zumeist vieldeutig und gestatten keine endgültige Entscheidung. Nur die Fortsetzung der Analyse kann die Entscheidung über Richtigkeit oder Unbrauchbarkeit unserer Konstruktion bringen. Wir geben die einzelne Konstruktion für nichts anderes aus als eine Vermutung, die auf Prüfung, Bestätigung oder Verwerfung wartet. Wir beanspruchen keine Autorität für sie, fordern vom Patienten keine unmittelbare Zustimmung, diskutieren nicht mit ihm, wenn er ihr zunächst widerspricht.« (Freud 1937b, 402) Brauchbarkeit für den Fortgang, Bewahrheitung durch die Fortsetzung der Analyse sind die Kriterien der psychoanalytischen Wahrheit, die sich zwischen beiden Beteiligten herausarbeitet. 142. Freud 1937b, 403. 143. Vgl. z.B. Freud 1915, 162. 343

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eine Weltanschauung auszubilden.144 Dies mag geradezu erstaunlich wirken angesichts der Tatsache, daß ein gängiger Verdacht gegen die Psychoanalyse lautet, sie sei ein alles verschlingendes, in ihre Perspektive zwingendes Deutungssystem, das einer Widerlegung unzugänglich sei, da jeder Einwand gegen sie als indirekte Bestätigung der psychoanalytischen Theorie, als unbewußt motivierte Abwehr gewertet würde.145 Diese Immunisierungsstrategie geschlossener Denkgebäude diskutiert Freud im Zusammenhang der »Konstruktionen in der Analyse« und gibt zu bedenken, daß historische und analytische, auf Tatsachen bezogene und psychische Wahrheit differieren. Die archäologisch-historische Rekonstruktion kann nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit erreichen, da ihr Material mit der Zeit unwiederbringlich verloren gehe oder zerstört werde.146 Dafür könne sie sich aber auf objektive Spuren berufen. Die Psychoanalyse hingegen arbeitet am lebendigen Subjekt, nicht mit toten Objekten, während ihr Gegenstand, das Psychische, wesentlich ungreifbarer, komplexer und geheimnisvoller ist. Ja, schwieriger noch: Das psychoanalytische Denken ist dem psychotischen vergleichbar, wenn auch in seiner Wirkung verschieden: »Die Wahnbildungen der Kranken erscheinen mir als Äquivalente der Konstruktionen, die wir in den analytischen Behandlungen aufbauen, Versuche zur Erklärung und Wiederherstellung, die unter Bedingungen der Psychose allerdings nur dazu führen können, das Stück Realität, das man in der Gegenwart verleugnet, durch ein anderes Stück zu ersetzen, das man in früher Vorzeit gleichfalls verleugnet hatte.«147 Was jedoch Wahn und Konstruktion im Kern berühren und darstellen, nämlich »ein Stück historischer Wahrheit«148, wie entstellt und verrückt auch immer, ist die Bedingung ihrer aktuellen Wahrheit. Diese psychoanalytische Wahrheit kann sich von einer nachweisbaren, äußeren, objektiven Tatsachenwahrheit unterscheiden, ja ihr prima facie widersprechen, da sie sich im Extrem auf etwas bezieht, was nie stattgefunden hat – außer im Versuch, etwas zu verstehen, zu verarbeiten, was ›an sich‹ unverständlich, ja überfordernd oder bedrohlich gewesen ist. Aus der

144. Vgl. Freud 1932. 145. Vgl. Popper 1944, der die Psychoanalyse wie den Marxismus unter die unbelehrbaren und unbeirrbaren Heilslehren rückt. Dagegen Freud: »Es ist richtig, daß wir ein ›Nein‹ des Analysierten nicht als vollwertig hinnehmen, aber ebensowenig lassen wir sein ›Ja‹ gelten; es ist ganz ungerechtfertigt, uns zu beschuldigen, daß wir seine Äußerung in allen Fällen in eine Bestätigung umdeuten.« (Freud 1937b, 400.) Jede Antwort der Analysierten ist zweifelhaft: »Die einzig sichere Deutung seines ›Nein‹ ist also die auf Unvollständigkeit; die Konstruktion hat ihm gewiß nicht alles gesagt.« (Ebd.) Der Analytiker steht also in der Bringschuld, was die Deutung und Konstruktion anbelangt, die dem Analysierten noch nicht genug oder nicht das Entscheidende gesagt hat. 146. Freud 1937b, 397. 147. Freud 1937b, 405. 148. Ebd. 344

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Nachträglichkeit konstituiert sich die Bedeutung eines Geschehens, die dann dafür sorgen kann, das alles Vergleichbare149 ebenso behandelt und aufgefaßt wird, also denselben Verarbeitungsprozessen unterworfen wird wie bei jenem ersten Anlaß. Damit wird die Bedeutungskonstitution zu jenem Feld, das Pathologien anbahnt oder gelungene Transformationen ermöglicht. Von hier aus wird klar, daß die Übertragung nicht nur als »falsche Verknüpfung« gesehen werden darf, sondern wesentlich dazu beiträgt, daß sich ein animal symbolicum in seiner Welt zurechtfindet. Einerseits verhilft ihm die Übertragung zum Verstehen der begegnenden Ereignisse, andererseits zur Bewältigung innerer Anforderungen. Der psychodynamische und -ökonomische Aspekt der Übertragung von unbewußten (Trieb-) Intensitäten auf verschiedenste bewußte Vorstellungen eröffnet so gesehen den Weg nicht nur in die Psychopathologie, sondern zur Welt- und Selbstkonstitution ebenso wie zur Sublimierung. Ja, die Übertragung macht selbst die Äußerungen des Wahns noch als – wenn auch weniger gelungene – Bewältigungsversuche anstehender Problemlagen verständlich. Freud bezeichnet sie umstandslos – wie den Traum – als Kompromißbildungen.

Verstrickung, Ansteckung, Suggestion Alle Erfahrung spricht dagegen, daß Übertragung sich zentrieren, bändigen, aufteilen läßt. Sie verhält sich wie ein Medium: mehr oder weniger neutral gegenüber dem, was sie übertragen kann, aber auch nicht-neutral, sondern eigenartig, unkalkulierbar und irreduzibel, gegenüber den beteiligten Elementen und Subjekten. Sie vermag – in concreto – nicht alles zu übertragen. Hierbei ist zu bedenken, daß die Übertragung das dreistellige Kommunikationsmodell (Sender-BotschaftEmpfänger) unterläuft: Weil sich in der Übertragung nicht sauber trennen läßt, was der eine dem anderen mitteilt, wer gerade sendet, wer empfängt und welche »Botschaft« gesendet wird, geschieht immer mehr oder weniger, auf jeden Fall anderes, als erwartet wird. Das klassische kommunikationstheoretische Modell bietet nur eine statische und abstrakte, wenn auch theoretisch notwendige Vereinfachung und Idealisierung – die Wirklichkeit der Kommunikation sieht anders aus, zumindest umfaßt sie mehr als den gelungenen Normalfall, ohne damit immer gleich in einen Zusammenbruch zu münden. Erst recht verhält es sich so in der Übertragung, wie sie in der Psychoanalyse erfahrbar wird. Sie ist von einem unentwirrbaren Zugleich von asymmetrischen Wechselbeziehungen gekennzeichnet: Das Tun des einen ist das Tun des anderen – und wiederum auch nicht, also zugleich auch ein anderes Tun; das Begehren des einen ist immer auch ein anderes und dessen Bedeutung in sich dezentriert. In der Übertragung wird also die instrumentelle Auffassung der Kommunikation zugunsten einer medialen gesprengt: Übertragung geht tendenziell immer

149. Inwieweit Ähnlichkeit bzw. Vergleichbarkeit subjektive oder objektive Kriterien sind, kann hier nicht diskutiert werden. Man mag sich an Michel Foucault erinnern, der mit seiner Ordnung der Dinge (Foucault 1966) eine Geschichte der Ähnlichkeit schreiben wollte. 345

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über die bewußten Intentionen der Beteiligten hinaus und wird unkalkulierbar. Damit eignet sich Übertragung in besonderer Weise für Affektverschiebungen und ›Ansteckung‹ durch Emotionen. Das sinnliche Moment der Übertragung bewegt den Gefühlshaushalt der Subjekte, versetzt Nervensystem und Gehirn in Schwingung und regt zur Verarbeitung und Beantwortung von Reizen an. Gefühle sind dabei, neurophysiologisch und -psychologisch betrachtet, wichtige evaluative Funktionen zur Selbststeuerung des Organismus.150 Obwohl Freud sich scharf gegen das massenpsychologische Erklärungsmodell Le Bons abgrenzt151, das von einer latent hysterischen Massensuggestion auf Grund psychischer Ansteckung ausgeht, darf man wohl auf diesen Wortgebrauch zurückgreifen, wenn auch nicht, um Le Bons Naturalismus der Seele, sprich: des physiologisch-genetisch fundierten Unbewußten152 wiederzubeleben. Eher geht es um die Passivität des Ergriffenwerdens, des Überwältigenden, dem eine gewisse Empfänglichkeit entspricht. Vladimir Gheorghiu153 hat die Suggestion als internen Stabilisator von ambivalenten psychischen Systemzuständen gefaßt, wobei Eindeutigkeit, Entschiedenheit oder Klarheit als Attraktoren fungieren. Ambiguität wird somit ›weggearbeitet‹.154 Niklas Luhmann würde in diesem Zusammen-

150. Vgl. z.B.: Ciompi 1993; Roth 1994. 151. Freud 1921. 152. Freud weist auf die Differenz zur psychoanalytischen Auffassung des Unbewußten hin, da hier noch das »unbewußt Verdrängte« hinzukomme: »Dieser Begriff des Verdrängten fehlt bei Le Bon.« (Freud 1921, 69, Fn 1). 153. Zum Phänomen der Suggestivität vgl. Gheorghiu 1992; vgl. auch Gheorghiu 1972. 154. Das Aufzeigen der Ambiguität in der Übertragung kann eine Wandlung des analytischen Prozesses bewirken, vgl. Mathieu 1977. Aus anderen therapeutischen Ansätzen ist die sog. »paradoxe Intervention« bekannt, welche eine explizite Unentschiedenheit herbeiführt. Auch im Sinne einer philosophischen Logik spielt der Begriff der Bestimmung von Unbestimmtheit, der Überführung oder Anreicherung von Abstraktem durch Aufzeigen der bestimmenden Beziehung zu anderem (Relation) eine entscheidende Rolle. Der Aufbau komplexer Begrifflichkeit gibt erst die Mittel an die Hand, differenziert auf differenzierte Lagen, Situationen, Konstellationen zu reagieren. Diese bei Hegel vorgelegte Logik entfaltet sich im Medium des Begriffs. Den Faden aufnehmend geht Luhmann in seiner funktionalen Analyse von Systemen von ähnlichen Grundeinsichten aus, reformuliert sie jedoch in Termini der modernen Kybernetik, Informations- und Entscheidungstheorie. Unbegrenzte (oder Über-)Komplexität wird dann zum Unentschiedenheitsfaktor, der jedoch nicht bloß eine Problemstelle für sich stabilisierende Systeme bildet, sondern auch zu einem Grund für deren produktive Veränderung wird: Nur genügend Komplexität stellt Möglichkeiten (für Systeme) zur Verfügung. Auch das Stichwort »Ambiguität« taucht bei Luhmann auf, allerdings mit einer vielleicht unerwarteten Pointe: »Ambiguisierung des Erwartens ist demnach eine Strategie der Herstellung von relativer Sicherheit und der Absicherung gegen umweltbedingte Störungen.« (Luhmann 1984, 418) Sofern man sich nicht auf nur eine einzige Möglichkeit festlegen will, muß 346

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hang von Entparadoxierung reden. Suggestion ist also weder als Irrtum (im Verhältnis zur Wahrheit) anzusehen, noch als Ungenauigkeit oder Fehler der Verarbeitung von Information durch ein psychisches System (im Verhältnis zu den tatsächlichen Sachverhalten der Realität). Vielmehr muß Suggestibilität als die Fähigkeit eines psychischen Systems definiert werden, mit (externen und/oder internen) Ambivalenzen fertig werden zu können.155 Suggestion stellt sich in dieser Perspektive als ein allgemeineres Phänomen dar und Hypnose als ihr Spezialfall, in dessen Perspektive Suggestion als ganzes in eine negative Bewertung hineingerutscht ist, nämlich als Beeinflussung, ja Manipulation.156 In dieser Perspektive ist es interessant, daß Viktor Tausk im Zusammenhang seiner Studien zur Schizophrenie explizit vom Beeinflussungsapparat spricht. In seinem Artikel »Über die Entstehung des ›Beeinflussungsapparates‹ in der Schizophrenie« (1919)157 berichtet Tausk von dem Symptom »dem Kranken werden Gedanken gemacht«, das er in Zusammenhang mit dem Spracherwerb beim Kleinkind bzw. dessen realer Abhängigkeit von den Erwachsenen in allen wesentlichen Belangen des (Über-)Lebens bringt: »In jener Zeit wird dem Kind tatsächlich ›alles gemacht‹, jede Lust und jedes Leid, und es ist gewiß nicht in der Lage

man den Spielraum eigenen Handelns dadurch offenhalten, daß man das Kommende immer als Möglichkeit zu mehreren Tatsächlichkeiten bzw. alles Faktische immer auch als anders möglich ansieht. So erst gewinnt man in einer Balance zwischen (fixierender) Eindeutigkeit und (unkalkulierbarer) Vieldeutigkeit eine relative Sicherheit. 155. Von allen metaphysischen Gewißheiten befreit schickt sich schon im 16. Jahrhundert Montaigne an, eine »Ethik der Selbstfindung und -schaffung aus Widersprüchen« (Schmid 1992) zu entwickeln. Methodische Skepsis, nicht Skeptizismus (der besser Agnostizismus genannt zu werden verdient) ist die Haltung, der sich Montaigne, vorformuliert bei Sextus Empiricus, anschließt. Dort werden nämlich Dogmatiker, die glauben die Wahrheit zu kennen und deswegen sie auch schulmäßig lehren zu können, von den Akademikern (er faßt darunter auch Sophisten; wir würden heutzutage von Agnostikern reden) unterschieden, die meinen, daß man überhaupt nichts erkennen und wissen könne. Dazwischen allerdings stünden die Skeptiker, die weder glauben, die Wahrheit schon gefunden zu haben, noch strikt bestreiten, daß man sie überhaupt finden könnte, sondern sich noch als auf der Suche nach der Wahrheit befindlich ansehen (vgl. Sextus Empiricus, 93.) Dies steht im Zusammenhang zur allgemeinen Lebenshaltung und Bekämpfung überzogener Leidenschaften. 156. Vgl. Lacan 1953/54, 236, der der Rede von Übertragung und Gegenübertragung als tauglichem analytischem Instrumentarium widerspricht und stattdessen von einer »suggestiven Aktion« spricht, wollte der Analytiker (Freud) seiner Analysantin (Dora) klar machen, es sei die Übertragung respektive Gegenübertragung am Werke: »er hätte in ihr Ego ein Element, eine zusätzliche Motivation eingeführt.« Lapidar fügt er hinzu: »Freud hat irgendwo geschrieben, daß eben das Übertragung sei.« Die Unterscheidung ist also untauglich als grobes Raster, und Suggestion gehört selbstverständlich in den Bereich der Übertragung hinein. »Nur, man muß wissen, auf welcher Ebene.« 157. Tausk 1919. 347

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zu erfassen, wieviel Anteil es selbst an den eigenen Leistungen hat.«158 Das hat zur Folge, daß die Welt des Kindes nicht als in sich abgeschlossene, d.h. eigene, erfahren wird, sondern als offene, in der es aber seinerseits eingeschlossen und damit allem (anderen) ausgesetzt ist. »Denn mit der Sprache bekommt das Kind zugleich die Gedanken von den anderen, und seine Meinung, die anderen wüßten seine Gedanken, erscheint dadurch tatsächlich begründet, ebenso wie das Gefühl, daß ihm die anderen die Sprache und mit ihr die Gedanken ›gemacht haben‹«.159 Roland Gori führt diesen Ansatz mit Bezugnahme auf Jacques Lacans sprachphilosophische Reformulierung der Freudschen Psychoanalyse weiter: »Meine Hauptthese besagt, daß der Diskurs der Mutter (der Umwelt) den Beeinflussungsapparat des Kindes darstellt. Im Sprachcode siedelt das Kind auf illusionäre Weise die undifferenzierte und zerstückelnde Masse seiner körperlichen Erregungen an. In der und durch die Muttersprache gewinnen sie Form und Sinn und finden ihren Ort der Vereinigung und der Bedeutung. Die Sprache erzeugt jedoch nicht das körperliche Erleben – wenn man von den platonischen und spiritualistischen Ideologien absieht –, dieses wird vielmehr projektiv mit dem Kode identifiziert.«160 Nicht nur die (visuelle) Imago, sondern auch die gestaltbildende Funktion des Codes dienen also der Vereinigung partieller Körpererregungen zu einem Ich. ›Normalität‹ setzt demnach eine Reihe von wahrnehmungsphysiologischen und -psychologischen Leistungen seitens des Subjekts voraus und bleibt immer auch gebunden an Systemleistungen. Dies hat Freud zur Einsicht in die Fragilität solch fundamentaler Grenzziehungen zwischen Ich und Unbewußtem geführt: »Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt. Daß dieser Anschein ein Trug ist, daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient, das hat uns erst die psychoanalytische Forschung gelehrt, die uns noch viele Auskünfte über das Verhältnis des Ichs zum Es schuldet.«161

Schlussbetrachtung Angesichts der skizzierten Verstrickungen wird der technisch-mediale Welt- und Selbstbezug zu einem Feld der Ambivalenzerfahrung. Zwischen Sendung und Empfang, Gebrauch und Entfremdung, Beherrschung und Abhängigkeit kann sich die Übertragung von Informationen und Funktionen, von Aufgaben und Ar-

158. 159. 160. 161.

Tausk 1919, 15. Tausk 1919, 16. Gori 1977, 208. Freud 1930, 198f. 348

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

beiten immer auch als Unterwanderung herausstellen und das Maß der Abhängigkeit bis ins Bedrohliche steigern. Wäre in dieser kulturgeschichtlichen Entwicklung auch alles als Konstruktion zu begreifen, so spräche das nicht gegen die tatsächlich zu machende Erfahrung der Unübersichtlichkeit und Unabsichtlichkeit. Die postmodernen oder chaostheoretischen Paradigmen lassen sich daraufhin zuspitzen: Daß das Eine immer auch mehr als eine, nämlich sehr verschiedene Wirkungen haben kann, daß der Mensch mehr (ausrichten bzw. anrichten) kann, als er weiß162; daß seine Zukunfts- und Geschichtsblindheit auch heilsame Wirkung habe163; und skeptisch gewendet: daß Menschen weniger erreichen, als sie wollen und wünschen. Die vergebliche Positivierung und Fixierung der Übertragung, d.h. ihre letztliche Unbeherrschbarkeit zeigt sich daran, daß theoretische Modelle sich ihr gegenüber nur als konstruktive Annäherungen verhalten können. Ihr technischer und mathematischer, genauer: statistischer Begriff, wie ihn die Informationstheorie seit den 1940er Jahren entwickelt hat, ist nicht hinreichend. Vielmehr kann ein Entzug ihrer Bestimmung beobachtet werden. Die in Kap. 4.1 diskutierte Metaphorizität ist es, die angesichts ihrer sprachlichen Produktivität und medialen Dissemination164 zeigt, daß, sobald Bedeutungs- oder Sinnprozesse involviert sind, es eines Vorgriffs auf etwas bedarf, was in einem endlichen Regelrepertoire und einem begrenzten Erfahrungshorizont nicht enthalten ist.165 Am Beispiel der Sprache hat Saussure erläutert, was unter dem Prinzip einer verallgemeinerbaren Differentialität – daß Elemente eines Systems sich gegenseitig bestimmen – zu verstehen ist: So »kann ein Wort ausgewechselt werden gegen etwas Unähnliches: eine Vorstellung; außerdem kann es verglichen werden mit einer Sache gleicher Natur: einem andern Wort. […] sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist.«166 Und Saussure geht über die Einheit Wort noch hinaus: »So ist der Wert von jedem beliebigen Glied begrenzt durch das, was es umgibt.«167 Die Grenze als Grenze zu denken, verän-

162. Anders 1956. 163. Nietzsche 1874; Jünger 1959. 164. Vgl. hierzu grundlegend Tholen 2002, v.a. Kap. 1: »Metaphorologie der Medien«, S. 19-60. 165. Man kann deshalb wohl mit Recht unterscheiden zwischen Signal und Bedeutung als Differenz: als Differenz einerseits von Unterscheidung bzgl. einer anderen, zuvor getroffenen Unterscheidung (oder einer begrenzten Menge von Unterscheidungen), z.B. Überschreitung von Schwellenwerten (Signal), und andererseits von Unterscheidung bzgl. des Kontextes (Offenheit und Unabschließbarkeit der Bedeutungskonstitution im Rahmen eines unbestimmten, idealisierenden Vorgriffes auf eine Gesamtheit von in Beziehung stehenden Unterscheidungen) (Bedeutung). Die Arbitrarität der (isolierten) Unterscheidung (Partikularität des Signals) steht also der Horizontalität des ›ganzen‹ Kontextes (Totalität der Bedeutsamkeit) gegenüber. 166. Saussure 1916, 137f. 167. Saussure 1916, 138. Und weiter: »Was von den Wörtern gesagt wurde, findet 349

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

derte Regeln zu entwickeln und Erfahrungen zu machen, die neu sind, bedarf der Überschreitung und Transformation. Allerdings muß die auftretende Unbestimmtheit der Situation, durch Ambivalenz und Überdeterminiertheit des Gegenwärtigen, gerade aus Gründen der Aktualität immer wieder zur Entscheidung gebracht werden. Der Problembewältigungsdruck setzt auf Lösung und Übertragung, die ohne Zeit nicht denkbar sind. Mit der unausweichlichen Zeitlichkeit aber kommt Unbestimmtheit noch auf eine andere Weise als die der situationsgebundenen Unentscheidbarkeit und unauflösbaren Ambivalenz ins Spiel – nämlich als Anschlußfähigkeit im Nacheinander: In der zeitlichen (Ab-)Folge stellt sich heraus, was gewesen sein wird, welche Bedeutung ein Ereignis hat, (gehabt) haben wird. Mit der Formel »a difference that makes a difference« markiert Gregory Bateson168 die Unterscheidung zwischen einer bloßen Differenz, was immer sie sei, und einer tatsächlichen Information. Nur sofern eine Differenz relevant ist für das weitere Operieren von Systemen, kann man von Information sprechen.169 Dieser pragmatisch-systemische Informationsbegriff geht also von dem Kontext aus, der ein System bildet. Jedes einzelne, isolierte Moment der Erfahrung eines psychischen Systems oder Element des Operierens eines sozialen Systems wird erst bedeutungsvoll im zeitlich-sachlich-sozialen Zusammenhang, den diese Systeme konstituieren. Die Übergänge – selbst operationale Formen – bilden ein Feld der Verhältnisse von Operationen. Und alle Bestimmtheit kommt nur mit der Zeit und in Bezug zu Anderem: Übertragung des Selben aufs Andere, des Anderen aufs Selbe, von Augenblick zu Augenblick. Da ›von hier‹ und ›in diesem Augenblick‹ nie vollständige Bestimmtheit zu erreichen ist, ergibt sich Polylinearität in der Übertragung, die von Zerstreuung gekennzeichnet ist, ja, von Umkehrung: der Richtung, des Impulses, der Intention, der Valenzen, der Aktivität und Passivität.170 Da der Bezug auf Anderes bzw.

Anwendung auf jedes beliebige Glied der Sprache, z.B. auf die grammatikalischen Erscheinungen.« 168. Vgl. Bateson 1972, 408. 169. Hier ergibt sich also eine erstaunliche Nähe zu Freuds Überlegungen zur Nachträglichkeit. 170. Die traditionelle Vorrangstellung der Selbstbestimmung vor der Fremdbestimmung in der Moderne wird im Feld der Übertragung relativiert. Das Konzept des Sinns, so wie Luhmann es konzipiert, reagiert auf diese Situation und meint zunächst nur Anschlußfähigkeit bzw. Eröffnung weiterer Operationen, die anknüpfen, egal welche Valenzen damit verbunden sind. Ob im konkreten Fall die eine oder andere Möglichkeit ausgeschlossen ist oder verwirklicht werden kann, spielt zunächst für diese Konzeption von Sinn keine Rolle. Darum muß die erfolgende Negation des Vorhergehenden nicht als vollständig sinnlos oder vernichtend gewertet werden. Vielmehr besteht gerade in der Operation des Negierens auch eine Positivierung des Vorhergehenden, an das die Negation eben als ihre Voraussetzung gebunden bleibt: Nur wo etwas vorausgesetzt wird, das Gegenstand der Negation sein kann, ist es überhaupt sinnvoll, von Negation zu spre350

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4. DER PSYCHISCHE APPARAT ALS TECHNIK DES GEDÄCHTNISSES

auf die Anderen für die psychoanalytische Konzeption der Übertragung konstitutiv ist, führt das Phänomen der Übertragung die Dezentrierung der subjektiven Perspektive vor, der alle Konstruktion erliegt oder nachhinkt. Folglich fungiert die Bewegung der Übertragung als stetige Dekonstruktion des Konstruierens. Wenn also in der Freudschen Psychoanalyse der psychische Apparat als ein sich selbst organisierendes System beschrieben werden kann (Kap. 4.1), in dem die Metaphorizität einen zentralen Stellenwert einnimmt, so ist an dem Begriff der psychoanalytischen Übertragung zu lernen, daß auch in einem zusätzlich durch Bewußtsein rückgekoppelten psychischen Apparat die Andersheit in Form der Unkalkulierbarkeit bzw. Unbeherrschbarkeit der systemischen Operationen eingeschrieben ist. Die irreduzible Vieldeutigkeit der Übertragung speist sich nicht zuletzt aus den Möglichkeiten des Gedächtnisses, welches noch jenseits bewußter Erinnerung das Schicksal des Subjekts mitbestimmt. In umgekehrter Perspektive ist es aber gerade die assoziative Dynamik des Vorstellungsprozesses, die die Gedächtnisinhalte in oft unkalkulierbarer Weise in Erinnerung bringt.

chen. Was wiederum nicht bedeutet, daß das Vorauszusetzende schlicht als eine Positivität anzusetzen ist: Vielmehr wäre auch jetzt an der konstruktiven Perspektive festzuhalten, die auch die Figur der Voraussetzung nicht verabsolutiert, sondern selbst als eine beobachtungstheoretische Kategorie nimmt. Voraussetzungen sind also selbst Observablen und werden also festgestellt, sind nicht ohne Vermittlung der systemischen Operationen für das System gegeben und können sich nur vermittels dieser Geltung verschaffen. 351

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) vakat 352.p 94863182374

5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

5. Aufzeichnungsmodelle des Gedächtnisses: Rilke, Schreber, Freud Um das Verhältnis von Medientheorie und Gedächtnis am historischen Material weiter zu konkretisieren, seien nun exemplarisch drei Modelle von Aufzeichnungstechniken analysiert, die in direkter Verbindung zur Frage nach dem Gedächtnis stehen und die alle drei in der Diskursformation um 1900 eine zentrale Stelle einnehmen. Alle drei nämlich sehen sich mit neuen Aufzeichnungstechniken (Rilke, Freud) bzw. mit der Angst vor einem übermächtig gewordenen Aufschreibesystem (Schreber) konfrontiert, sind jedoch alle drei dem alten Aufzeichnungsmedium der Schrift verpflichtet. Schrift als Aufzeichnungsmedium zu analysieren heißt, eine komplexe Anordnung von diskursiven Elementen und Praktiken, also ein Dispositiv, auf ihre Strukturen und Funktionen zu untersuchen. Deshalb sind die im folgenden zu diskutierenden Texte von Rilke, Schreber und Freud so aufschlußreich, weil sie ihre Überlegungen jeweils an technischen Vorbildern, an Apparaten oder Verfahrensweisen entwickeln, die der Funktionalität des Gedächtnisses vergleichbare Leistungen bewerkstelligen. Man könnte also von Gedächtnismaschinen sprechen, welche bestimmt sind, die natürlichen Fähigkeiten des Menschen bzw. seines Gehirns nachzuahmen, zu ersetzen, zu ergänzen und zu erweitern. Selbst noch in der bloßen halluzinativen Vorstellungsdynamik des Wahns, wo keine materialisierten Apparate, jedenfalls keine Maschinen, als unmittelbare Vorbilder figurieren, findet sich diese Tendenz zur anschaulichen Darstellung, zur Vergegenständlichung des Ungegenständlichen. Deshalb kann bei Schreber, dem Juristen, ein anderer Apparat, der Beamtenapparat, an die Stelle treten, die von einer sich verselbständigenden, befremdenden Eigendynamik geprägt ist, welche sich dem menschlichen Subjekt tendentiell entzieht. In allen drei Texten – und das macht sie für unseren Zusammenhang so interessant – ist aber auch von einer Differenz zwischen Erinnerung (bzw. Gedächtnis) und Apparat die Rede, also von einer Differenz, die die angesprochenen Aufzeichnungstechniken in den Zusammenhang einer Logik des Supplements1 stellt und sie nicht auf ihre äußere Erscheinungsweise, also auf das, was als beschreibbares Gerät materialisiert und als beobachtbare Tätigkeit registriert werden

1. Derrida 1967a, 244-282. 353

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

kann, reduziert. Vielmehr verweist das sichtbare Verhalten oder der gebaute Apparat auf eine Ordnung, die zwar in den praktischen Bezügen instantiiert ist, sich aber nicht in ihnen erschöpft, sondern sie auf eine andere Dimension hin überschreitet: Subjektivität, Sinn und Bewußtsein lassen sich als Effekte dieser irreduziblen Andersheit auffassen. Diese gilt es in den folgenden detaillierten Lektüren bzw. Textkommentaren aufzuspüren.

5.1 Die Aufzeichnung des Unerhörten als Ausgangspunkt produktiver Assoziation. Rilkes »Ur-Geräusch« (1919) Rilkes kleiner Text über das Ur-Geräusch enthält nicht nur eine minuziöse Beschreibung des Phonographs, den der Schüler Rilke2 auf Anregung seines Lehrers im Kreise seiner Klasse aus einfachsten Materialien zusammenbaute, sondern auch einen spezifischen Vorschlag, der sich aus der nachhaltigen Erfahrung dieses Schulerlebnisses entwickelte. Dieser Vorschlag beinhaltet eine Versuchsanordnung zur Assoziation, d.h. zur Verknüpfung von Elementen, die sich in der Erfahrung des poetischen Subjekts aufgrund von sinnlicher Wahrnehmung oder (re-)produktiver Imagination einstellen, welche dann für eine ästhetische und im engeren Sinne künstlerische Produktion Verwendung finden kann. Darüber hinaus enthält der kurze Text einige wenige Reflexionen zur poetologischen Bedeutung und kulturtheoretischen Dimension dieses Versuchs. Damit deutet sich schon in der Dichte des Textes eine Dreiheit der Ineinanderschichtung an: Zum einen handelt es sich um mehrere Abschnitte mit Beschreibungen von Erlebnissen, zum anderen um das beschriebene Problem der Aufzeichnung von beobachtbaren Phänomenen, und in dritter Hinsicht geht es in einer poetologischen Reflexion um die Möglichkeiten der Dichtung. In dieser Dreidimensionalität entzieht sich der Text (1) der Reduktion auf den Typus ›beschreibende Prosa‹, verweist (2) im gewählten Sujet (phonographische Aufzeichnung) auf die Schwierigkeiten der literarischen (Er-)Fassung von erlebter Wirklichkeit und fordert (3) eine über das einzelne Beispiel hinausgehende generelle Reflexion poetischer Produktion heraus. Rilke selbst nennt den Text eine »Aufzeichnung«.3 An anderer Stelle spricht er von »dieser Erinnerung«, die einen »angeratene[n] Versuch« enthält, Erinnertes, Aufzeichnung und poetische »Phantasie«4 in einen produktiven Zusammenhang zu bringen, gleichsam als Elemente eines (assoziativen) Versuchs

2. Auf die sonst angemessene Differenzierung zwischen Autor und Icherzähler wird hier verzichtet, weil es mir nicht auf eine biographische, auf den Autor Rilke bezogene Argumentation ankommt. Der Spannung zwischen der literarischen Inszenierung des erzählten Ichs im Text und ihrem wirklichen Autor, seinen möglichen Selbststilisierungen, wird nicht weiter nachgegangen. 3. Rilke 1919, 1087. 4. Rilke 1919, 1093. 354

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

zu nutzen. Kaum etwas anderes eignet sich hierfür so gut wie das Genre des Essays.5

Aufzeichnung und Erinnerung Nach dem Aufbau des Apparats wird dessen Funktion beschrieben: »Sprach oder sang jemand in den Schalltrichter hinein, so übertrug der in dem Pergamente steckende Stift die Tonwellen auf die empfängliche Oberfläche der langsam an ihm vorbei gedrehten Rolle, und ließ man gleich darauf den eifrigen Zeiger seinen eigenen (inzwischen durch einen Firnis befestigten) Weg wieder verfolgen, so zitterte, schwankte aus der papiernen Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück. Die Wirkung war jedesmal die vollkommenste.«6 Die genaue Beschreibung des Aufbaus und der Anwendung des Apparats mündet in das Erstaunen über seine Wirkung, das nicht nur überraschend daherkommt und plötzlich vorübergeht, sondern: »Das Phänomen blieb ja auch überraschend, ja recht eigentlich erschütternd, von einem Male zum anderen. Man stand gewissermaßen einer neuen, noch unendlich zarten Stelle der Wirklichkeit gegenüber, aus der uns, Kinder, ein bei weitem Überlegenes doch unsäglich anfängerhaft und gleichsam Hülfe suchend ansprach.«7 Dem kindlichen Erstaunen präsentiert sich etwas Erhabenes, eine nahezu unmögliche Mischung aus zarter Überle-

5. Auch hier kann man drei Ebenen ausmachen: physikalische Versuchsanordnung im Schulunterricht (Phonograph), psychologisch-ästhetischer Assoziationsversuch (einfallende Reminiszenzen und erinnerte Ähnlichkeiten) und literarisch-reflexiver Versuch (der vorliegende Text). 6. Rilke 1919, 1086f. Was Rilke hier als ›Vollkommenheit der Wirkung‹ bezeichnet, ist eben nicht die technische Perfektion des Apparats selbst, sondern trotz des ›unsicheren und stellenweise versagenden‹ Charakters der Wiedergabe sein Effekt auf die Beobachter des Versuchs: »Unsere Klasse gehörte nicht eben zu den ruhigsten, und es möchten nicht viele Augenblicke gewesen sein, da sie, gemeinsam, einen ähnlichen Grad von Stille zu erreichen fähig war.« (Rilke 1919, 1087) Rilke klammert also die Beobachterposition nicht aus seinen Reflexionen über das objektive Phänomen aus, ja man kann sagen, daß er geradezu darüber hinaus auf eine Analyse der Beobachtung bzw. des Beobachters aus ist, wie seine Ausführungen zur poetischen Logik des Einfalls und der Assoziation zeigen. Dabei wird deutlich, daß dieser Beobachter, den Rilke im Auge hat, keine rein kontemplative Figur ist, sondern mit einer eigenwilligen Aktivität auf das Geschehen reagiert, ein Geschehen, das er in der Art einer Versuchsanordnung selber inszeniert. Wenn er das Geschehen auch nicht in einer mechanischen Weise auszulösen vermag, so bemüht er sich gleichwohl, wenigstens die Bedingungen zu schaffen, die einem kreativen Prozeß günstig sind. Die Einbildungskraft wird so unter bestimmten Verhältnissen zur Tätigkeit veranlaßt, die sie anzuregen geeignet sind. 7. Rilke 1919, 1087. 355

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genheit und hinreißender Schwäche. Entgegen der wahrscheinlichen Abnutzung (die Haltbarkeit der Wachsmatrize ist ziemlich beschränkt) scheint sich gerade aus der Wiederholung des Aufgezeichneten eine Verstärkung der erlebten Wirkung zu ergeben. Dieser nahezu magische Aspekt der Beherrschung des bisher (kultur- bzw. technikgeschichtlich)8 Nicht-Beherrschbaren macht eine neue Schicht des Wirklichen zugänglich, letztlich auch der technischen Manipulation. Wenn das Reale dasjenige ist, das an derselben Stelle wiederkehrt, wie Lacan es (mit Hinblick auf den Sternenhimmel) ausgedrückt hat, so läge hier, technisch präzise gefaßt, zugleich der Übergang vom Realen zur Realität, zur technisch beherrschbaren Wirklichkeit vor. Erst mit Hilfe bestimmter technischer Apparate wird hier ein Stück Wirklichkeit zugänglich – zugänglich nicht nur im Sinne von Erreichbarkeit, sondern darüber hinaus im Sinne des verfügenden Eingriffs, der den Schlüssel in seiner Hand weiß, in das (hier: akustische) Phänomen einzudringen.9 Wie jeder weiß, der einmal ein Grammophon gehört hat, bleibt ein signifikanter Unterschied zwischen Aufzuzeichnendem und Aufgezeichnetem, zwischen Reproduktion und Original bestehen. Insofern kann dann tatsächlich davon gesprochen werden, daß trotz der Wiedererkennbarkeit, trotz der Ähnlichkeit zum Original, mit der Herstellung einer Aufzeichnung zugleich eine ›neue, noch unendlich zarte Stelle der Wirklichkeit‹ entsteht. Von dieser mehrfachen Uneindeutigkeit – erhaben und zart, überwältigend und hilfesuchend – geht eine nachhaltige Wirkung aus, ein unvergeßlicher Eindruck, mit dem der Erwachsene immer noch etwas verbindet, mit dem er nicht fertig geworden zu sein scheint: »Damals und durch Jahre hinweg meinte ich, es sollte mir gerade dieser selbständige, von uns abgezogene und draußen aufbewahrte Klang unvergeßlich bleiben. Daß es anders kam, ist die Ursache dieser Aufzeichnung. Nicht er, nicht der Ton aus dem Trichter, überwog, wie sich zeigen sollte, in meiner Erinnerung, sondern jene der Walze eingeritzten Zeichen waren mir um vieles eigentümlicher geblieben. [...] Vierzehn oder fünfzehn Jahre mochten seit jener Schulzeit hingegangen sein, als mir dies eines Tages zum Bewußtsein kam.«10

8. »Zur Zeit, als ich die Schule besuchte, mochte der Phonograph erst kürzlich erfunden worden sein.« (Rilke 1919, 1085) Um genau zu sein: Edisons Erfindung datiert auf das Jahr 1877, als Rilke 2 Jahre alt war. 9. Vielleicht darf hier in der Zugänglichkeit auch die Umgänglichkeit mitgehört werden, denn nicht nur, daß ein Naturphänomen in eine Zuhandenheit verwandelt wird, die für den Gebrauch stets bereitsteht, sondern mit der massenhaften Verbreitung von Tonträgern und Abspielgeräten geht auch eine Veränderung der Verhaltensweisen der Massen und deren Mentalitäten einher. Insofern verbindet sich mit Zugänglichkeit eine gewisse Umgänglichkeit. 10. Rilke 1919, 1087. 356

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Die vergangene Erfahrung kreist um jenes erhabene, sich entziehende Moment, das sich in der direkten Wahrnehmung, ja eher noch an deren Grenze (»unsäglich anfängerhaft«) gezeigt hatte. Gleichwohl schreibt sich etwas anderes in das Gedächtnis ein als das, was im ersten Moment für das Wichtigste gehalten wird, wie Rilke ausführt. Bemerkenswert dabei ist die zweifache Staffelung des Erinnerungsvorgangs: Nach eineinhalb Jahrzehnten wird ihm ein gänzlich anderer Aspekt des erinnerten Vorgangs wichtig und beendet so den ersten Abschnitt des Fortlebens dieser Erinnerung; danach dauert es noch einmal dieselbe Spanne an Jahren, bis Rilke bereit ist, diese Erinnerung schriftlich aufzuzeichnen. Diese zweite Phase darf als ein weiteres Zögern, als eine Verzögerung der jetzt hinzugekommenen Erinnerung aufgefaßt werden, so als ob mit dem Niederschreiben auch das Ende einer Erinnerung, eines Ab-schnitts des Vergangenen, verbunden ist. Als »unvergeßlich« erweist sich nicht nur etwas anderes als das zunächst für wichtig Gehaltene (der »selbständige, von uns abgezogene und draußen aufbewahrte Klang«), sondern dieses andere ist auch hartnäckiger: Denn »Ursache dieser Aufzeichnung« – Rilkes Text – ist eben nicht das in die Selbständigkeit versetzte, abstrakte (»abgezogene«) bzw. verabsolutierte (abgelöste, nämlich »draußen aufbewahrte«) Phänomen. Stattdessen »überwog« etwas anderes »in meiner Erinnerung«, »jene der Walze eingeritzten Zeichen«. Nun liegt die Frage nahe, warum denn ein sichtbares Zeichen der Erinnerung haltbarer bleibt, während ein »Ton aus dem Trichter« sich verflüchtigt. Schließlich sind beides äußere Eindrücke, sinnliche Wahrnehmungen, die per se nichts dazu prädestiniert, besonders gut bemerkt oder behalten zu werden. Wie also erklärt sich das Überwiegen der »eingeritzten Zeichen«? Ebenso naheliegend wie diese Frage ist die Vermutung, es könnte der Zeichencharakter des hier in Rede stehenden Phänomens der entscheidende Grund dafür sein, daß eine Erinnerung ausgelöst wird. Schließlich ist es eine Funktion von Zeichen, etwas zu bezeichnen, stellvertretend zu repräsentieren, z.B. Vergangenes in Erinnerung zu rufen, wann immer man sich ihrer bedient. Allerdings beruft sich Rilke gerade nicht auf semiotische Einsichten, ja er stellt – wie eben angezeigt – den objektivierenden bzw. intersubjektiven Charakter der Bezeichnung, die Vergegenständlichung bzw. kommunikative, gemeinsame Teilhabe im Zeichengebrauch zurück. Rilke interessiert sich vielmehr für die fundamentalere Frage, warum gewisse Phänomene an etwas zu erinnern vermögen, ob es sich nun um konventionsgebundene Zeichen oder bloße Impressionen der Wahrnehmung handelt. Solange man ihren (wenn auch unverzichtbar) phänomenalen Charakter hervorkehrt, wird man keinen Grund dafür finden, wieso gerade dieses spezielle Element des Erfahrungsstroms in einem bestimmten Augenblick zu einer Assoziation Anlaß gibt. Man ist also genötigt, das subjektive Moment der Erfahrung als Konstituens mit ins Spiel zu bringen. Die hier vertretene These lautet entsprechend, daß Rilkes Text auf der Subjektivität der Erfahrung, hier: des Erinnerns beharrt, indem er – wenigstens implizit – die Trennung von subjektiver Erfahrung und vergegenständlichter Bezeichnung (eines Elements der Erfahrung) für die Eigendynamik des Erinnerns verantwortlich macht, die es dem Sub357

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jekt verwehrt, in souveräner Weise über seine vergangene Erfahrung zu verfügen. Erst der Kontakt mit dem lebendigen Zusammenhang der aktuellen Erfahrung eines Subjekts verleiht einem zu erinnernden Element die Bedeutung, die es subjektiv hat. Hatte sich für Rilke über Jahre hinweg in der Erinnerung ausschließlich etwas gezeigt, das zugleich etwas anderes verdeckte und in seiner Bedeutung zurückgedrängt hielt11, so setzt sich ›in the long run‹ nun dasjenige durch, was »mir um vieles eigentümlicher geblieben« ist. Das Fortwirken des Erinnerten verdankt sich genau dieser subjektiv erscheinenden Eigentümlichkeit, die – alles andere als eine objektive Eigenschaft – vielleicht erst nachträglich als solche erscheint und mit assoziativen Verknüpfungen erinnerter und aktueller Elemente der Erfahrung ihre Wirkung entfaltet. Die erinnerte Eigentümlichkeit schält sich erst vor dem Hintergrund der aktuell »wahrgenommenen Ähnlichkeit«12 heraus – aber dazu weiter unten. Hier (wie in zahllosen anderen Beispielen der Literatur) kontrastieren Erinnerung und Aufzeichnung und eröffnen zwei verschiedene Dimensionen des Vergangenheitsbezugs: die aktive eines subjektiven Bewußtseins und die passive der Spureneinschreibung eines objektiven technischen Apparats oder Verfahrens. Auch das Aufschreiben entlastet das individuelle Gedächtnis und droht somit, der subjektiven Erinnerung ihr Material zu entziehen: Das einmal Aufgezeichnete muß nicht mehr ständig in Erinnerung behalten werden, denn man kann sich sicher sein, daß es in schriftlicher Form (unverändert) bleibt. Dem entspricht oft genug ein ›inneres‹ Vergessen,13 nicht nur des Aufgezeichneten selbst, sondern auch des Aufgezeichnethabens. Aber auch eine abgelöste, objektive Aufzeichnung kann verloren gehen, verlegt sein und in Vergessenheit geraten. In analoger Weise steht auch das Gedächtnis in Gefahr, bei mangelndem Gebrauch, d.h. bei Vernachlässigung durch die Erinnerung seine Übersichtlichkeit zu verlieren, ja mehr noch: gänzlich zu verblassen.14 Allerdings sind bei Rilke die Verhältnisse komplizierter, als es zunächst den

11. Um von verdeckten Momenten der Erinnerung, von Deckerinnerungen, zu reden, braucht man nicht im strengen, psychoanalytischen Sinne der Meinung zu sein, daß es sich um einen irgendwie pathogenen Komplex handele, oder daß es sich bei dem Verdeckten (immer) um das ›Eigentliche‘ handelt, die psychische Ursache, die die Wahrheit des Subjekts bezeichnet. Vielmehr hatte ja schon Freud im Rahmen der Traumdeutung darauf hingewiesen, daß weder der manifeste Trauminhalt noch der latente Traumgedanke einfach die Wahrheit des Subjekts, des psychischen Geschehens bezeichnet, sondern vielmehr, wie es dort heißt, die Traumarbeit, also die Umsetzung des einen in das andere, das Entscheidende sei. 12. Rilke 1919, 1089. 13. Vgl. Weinrich 1997, sowie Lurija 1971. 14. Darauf hat schon Maurice Halbwachs (1925) hingewiesen: Ohne kommunikativen Austausch läßt die individuelle Erinnerungsfähigkeit im Laufe der Zeit nach. Als kardinales Beispiel dient natürlich das Exil. 358

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Anschein hat. Es gibt eine nicht genau zu durchschauende Verbindung zwischen den beiden skizzierten Dimensionen von Vergangenheitsbezug, denn es ist schließlich das erzählende Subjekt, daß sich der anderen, verdeckten Bedeutung erinnert, und zwar nach Jahren. Ausgelöst wird diese Erinnerung durch eine spezifische aktuelle Erfahrung, die mit der vergangenen nicht identisch ist, jedoch in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zu ihr steht. Um ein Bild Rilkes vorwegzunehmen: Aus der Ähnlichkeit von bestimmten Aspekten einer aktuellen mit einer erinnerten Situation ergibt sich eine Nahtstelle15, die das Gegenwärtige und das Vergangene so miteinander in Beziehung setzt, daß es wechselseitig in einem veränderten Licht erscheint. Dem Subjekt fällt etwas auf, und dabei fällt ihm eine Erinnerung ein. Damit erfährt sich das Subjekt als abhängig von anderem, in der Erfahrung unwillkürlich Auftauchendem. Weder die gegenwärtige Erfahrung noch das Erinnern von Vergangenem lassen sich verabsolutieren bzw. vollständig voneinander ablösen: Gegenwart wird durch vergangene Erfahrung und Vergangenheit durch gegenwärtige Erfahrung strukturiert. Was also bringt die Erinnerung an »jene der Walze eingeritzten Zeichen« hervor? Jahre später besucht Rilke in Paris Anatomie-Vorlesungen zur Entwicklung seiner künstlerischen Wahrnehmung, wobei ihn weniger das ›bauliche Ganze‹ als vielmehr das »abgeschlossene Gehäus« des Kopfes interessiert: »So sehr ich nun auch an dem baulichen Ganzen rätselte, – es war mir zuviel; meine Betrachtung sammelte sich immer wieder zur Untersuchung des Schädels, in dem, sozusagen, das Äußerste, wozu dieses kalkige Element sich noch anspannen konnte, mir geleistet schien, als ob es gerade hier überredet worden wäre, sich zu einem entscheidenden Dienst bedeutend anzustrengen, um ein letzthin Gewagtes, im engen Einschluß schon wieder grenzenlos Wirkendes in seinen festesten Schutz zu nehmen. Die Bezauberung, die dieses besondere, gegen einen durchaus weltischen Raum abgeschlossene Gehäus auf mich ausübte, ging schließlich so weit, daß ich mir einen Schädel anschaffte, um nun auch so manche Nachtstunde mit ihm zuzubringen; und, wie es mir immer mit den Dingen geht: nicht allein die Augenblicke absichtlicher Beschäftigung haben mir diesen zweideutigen Gegenstand merkwürdiger angeeignet –, meine Vertrautheit mit ihm verdank ich ohne Zweifel zu einem gewissen Teile dem streifenden Blick, mit dem wir die gewohnte Umgebung, wenn sie nur einige Beziehung zu uns hat, unwillkürlich prüfen und auffassen.«16 Was genau streift der Blick, wieso schweift er, was wird gesucht? Vielleicht nichts Bestimmtes, sondern nur die Gewißheit, daß alles an seinem Platz ist? Oder ist die Neugier mit im Spiele, ob sich etwas verändert habe? Jedenfalls ist das Merkwürdige schon aufgetaucht und im Blick, bevor die Aufmerksamkeit sich

15. Rilke sieht eine Ähnlichkeit zwischen der Kronennaht des Schädels (gegenwärtiger Eindruck) und der auf der Wachsmatrize des Phonographen eingeritzten Aufzeichnungsspur (aus der Erinnerung). 16. Rilke 1919, 1088. 359

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

bewußt darauf einstellen kann und ein ›ich‹ dem Umherschweifen Einhalt gebietet. Dann setzt überraschend und unmittelbar die Erinnerung ein: Vielleicht war Vergangenes schon im Spiele, als etwas im Blick merkwürdig wurde, noch vor aller bewußten Wahrnehmung; etwas von einst Aufgehobenes, unbemerkt im Gedächtnis Bewahrtes. Genau diese Rolle käme dem Gedächtnis zu: Aufbewahrung noch des beiläufig Wahrgenommenen, »jener unvergessenen Spuren«17. Im Gedächtnis bliebe also auch das, was nicht mit bewußter Aufmerksamkeit aufgenommen wurde oder was gleich wieder aus dem Bewußtsein entschwunden war, weil es zunächst weiter kein Interesse erregte. Die methodische Regel, die sich aus dieser Szenerie ableiten ließe, wäre also, mit Hilfe der Zerstreuung, absichtslos, sich in die Haltung des Nichtsuchens hineinzuversetzen, um dadurch gerade Nichtgesuchtes zu finden, wenigstens offen zu sein für alles, was man eben nicht beabsichtigen kann. Die Nähe zu Freuds »freier Assoziation« liegt auf der Hand (vgl. Kap. 3.3). Was dabei subjektiv als Überraschung erlebt wird, könnte so schon seine Vorbereitung – ›im Gedächtnis‹ – erfahren haben, also trotz aller Zerstreuung unbewußt determiniert sein: »Ein solcher Blick war es, den ich plötzlich in seinem Verlaufe anhielt und genau und aufmerksam einstellte. In dem oft so eigentümlich wachen und auffordernden Lichte der Kerze war mir soeben die Kronen-Naht ganz auffallend sichtbar geworden, und schon wußte ich auch, woran sie mich erinnerte: an eine jener unvergessenen Spuren, wie sie einmal durch die Spitze einer Borste in eine kleine Wachsrolle eingeritzt worden waren!«18 Zunächst macht sich das Interesse des forschenden Ich an einem der wichtigsten Teile der menschlichen Anatomie – oder wie Woody Allen sagt: »meinem zweitliebsten Organ« – fest und verdichtet sich an ihm. Der tote Kopf, in dem eine ganze Tradition des Vanitas-Gedankens ihren emblematischen Ausdruck gefunden hat, sein knöcherner Überrest, bildet die Projektionsfläche, auf der Rilke einen Anknüpfungspunkt findet, ohne recht zu wissen, wie. Es scheint die unvermittelte Wahrnehmung einer Ähnlichkeit zu sein, die etwas aus dem Feld des Wahrnehmens hervortreten läßt. Andererseits vermag diese Ähnlichkeit sich vielleicht nur durchzusetzen, weil eine bestimmte Atmosphäre herrscht, der Rilke sich ausgesetzt hat, etwa das regressive, nächtliche Ambiente, das geeignet ist, Erinnerungen aufkommen zu lassen.19 Hierfür lassen sich zwei Gründe ins Feld

17. Rilke 1919, 1089. 18. Rilke 1919, 1088f. 19. Man könnte hier zwei Horizonte (oder auch zwei Seiten ein und derselben Perspektive) unterscheiden: einen subjektiven Horizont, der von den Erfahrungen und Erinnerungen des Subjekts geprägt ist, und einen objektiven Horizont, der mit bestimmten Gegenständen und Situationen verbunden wird. So wie ein Individuum als solches nur verständlich wird, wenn man auch seine Geschichte kennt und also den biographi360

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

führen: zum einen die Nähe zur Erfahrung des Einschlafens, zum anderen die Faszination durch den Gegenstand, in diesem Fall die nature morte, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht und so als Ablenkung von anderem wirkt. Während der Schlaf eine Herabsenkung der Aufmerksamkeit gegenüber der Außenwelt mit sich bringt, dafür jedoch die Innenwelt für alle möglichen Phänomene sensibilisiert, können äußere Gegenstände entweder eine Bündelung, gar Fixierung der Aufmerksamkeit auslösen oder durch häufigen Wechsel, durch Überblendung, ja Überbeanspruchung eine Zerstreuung bewirken. Durch eine solche Lenkung und Ablenkung der Aufmerksamkeit kann es zu unkontrollierten, unerwarteten Erlebnissen kommen, die sich von dort her in die Erfahrung einzuschleichen vermögen, wo die Konzentration nachläßt.20 Was sich so in der gegenwärtigen Erfahrung zuträgt, nämlich durch Ambivalenz oder Unentscheidbarkeit ausgelöste Erlebnisse, könnte in analoger Weise durch eine Überblendung von Gegenwart und Vergangenheit, von Wahrnehmung und Erinnerung zustandekommen. Damit allerdings die subjektiv vermeinte Unwillkürlichkeit und Plötzlichkeit des Auftauchens einer Ähnlichkeit nicht gänzlich unerklärlich bleibt, bedarf es benennbarer Bedingungen, die das überraschende Erkennen motivieren und somit als ein Wiedererkennen ausweisen: Es muß also im Fall des Hinzutretens einer Erinnerung eine vergangene Erfahrung vorliegen, die nun aus dem Gedächtnis aufgerufen werden kann. Auch hier spricht alles dafür, daß es sich um eine wechselseitige Bedingtheit von aktueller Wahrnehmung und Erinnerung des Vergangenen handelt. Jedenfalls kann sich Rilke nicht zu einer eindeutigen, gar einseitigen Position entscheiden: »Und nun weiß ich nicht: ist es eine rhythmische Eigenschaft meiner Einbildung, daß mir seither, oft in weiten Abständen von Jahren, immer wieder der Antrieb aufsteigt, aus dieser damals unvermittelt wahrgenommenen Ähnlichkeit den Absprung zu nehmen zu einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen? Ich gestehe sofort, daß ich die Lust dazu, sooft sie sich meldete, nie anders, als mit dem strengsten Mißtrauen behandelt habe, – bedarf es eines Beweises dafür, so liege er in dem Umstande, daß ich mich erst jetzt, wiederum mehr als anderthalb Jahrzehnte später, zu einer vorsichtigen Mitteilung entschließe. Auch habe ich zugunsten meines Einfalls mehr nicht anzuführen, als seine eigensinnige Wiederkehr, durch die er mich, ohne Zusammenhang mit meinen übrigen Beschäftigungen, bald hier, bald dort, in den unterschiedlichsten Verhältnissen überrascht.«21

schen Hintergrund zur Interpretation seines aktuellen Verhaltens mit heranzieht, so haben auch Gegenstände einen bestimmten Zusammenhang, z.B. des Gebrauchs, aus dem heraus sie dann z.B. als Werkzeuge aufgefaßt werden können. Man könnte hier auch von Atmosphäre oder Stimmung sprechen, um die emotive Dimension dieser Horizonte zu profilieren. 20. Die Ausnutzung dieses Mechanismus wird gemeinhin als der Grund dafür angesehen, daß ein Hypnotiseur Einfluß über andere Personen zu gewinnen vermag. 21. Rilke 1919, 1089. 361

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Was Rilke als Dichter mehr interessiert als eine allgemeine Theorie der Erinnerung, ist die Frage, wie sich diese »eigensinnige Wiederkehr« für seine künstlerische Tätigkeit einspannen läßt. Deshalb könnte Rilkes kleiner Text auch als ein Traktat zum Gebrauch der Einbildungskraft in poetischer Hinsicht angesehen werden. Hiermit ist allerdings keine Einschränkung des gestellten Anspruchs verbunden, im Gegenteil: Rilke betont, wie noch im folgenden zu sehen, die welterschließende Dimension der dichterischen Aufgabe. Also nicht nur aus eigennützigen, unmittelbar das Handwerk des Dichters betreffenden Gründen beschäftigt sich Rilke mit einer ›ganzen Reihe von unerhörten Versuchen‹, sondern um einen besonderen Beitrag zur Erweiterung des menschlichen Erfahrungsraums zu leisten. Wenn auch der Dichter nur mit dem Wort arbeitet, so geht es ihm – laut Rilke – doch darum, die Fülle der Erfahrung und die Vielfalt der in ihr auftretenden Phänomene im Wort zu erfassen. Dazu muß das dichterische Wort, als selbst einseitig auf das Medium der Sprache, des Sprechens und Schreibens festgelegtes, seine ganze assoziative Kraft entfalten, um mit dem je Aus- und Angesprochenen dessen eigenartig sinnliche Verfaßtheit wenigstens metaphorisch anzudeuten. Die poetologische Aufgabe, die hiermit programmatisch gestellt ist, wird Rilke an dem schon eingeführten Beispiel des Phonographen-Schädel-Erlebnisses noch weiter ausführen. Die allgemeine Struktur des poetischen Prozesses jedenfalls besteht in einer Übersetzungstätigkeit, die weniger die von Original und Kopie als vielmehr die von Medium zu Medium ist. Dabei spielt das zu Übersetzende die Rolle des Ausgangsphänomens, von dem der Übersetzungsvorgang auszugehen hat, und das Übersetzte ist eine seiner möglichen anderen Darstellungen. Gerade aus der Kombination der in einem bestimmten Medium zur Verfügung stehenden Elemente können sich neue Einfälle ergeben, die zuvor, in einem anderen Medium, nicht in Sichtweite lagen.22 Insofern tragen Medium (Sprache, Schrift etc.), Phantasie (Einfälle, spielerische Kombinatorik) und Formbewußtsein (für Rhythmik, Reim etc.) in ihrer Weise zur Dichtung bei.

Medientransposition und Synästhesie: Zur Produktion des Poetischen Die Struktur der assoziativen Erfahrung ermöglicht nun eine dem Bewußtsein spontan erscheinende Verbindung von gegenwärtiger Erfahrung und anderen, vergangenen Erfahrungsmöglichkeiten, die per Erinnerung reaktualisiert werden. Die behauptete Unvermitteltheit seiner Erfahrung kann subjektiv als Plötzlichkeit verstanden werden, als das unvorbereitete Auftauchen im Erlebniszusammenhang. Der Argumentation des Textes folgend heißt ›unvermittelt‹ allerdings nicht, daß dieses Erlebnis tatsächlich aller Vermittlung entbehrte. Vielmehr wird hier

22. Schon innerhalb eines Mediums kann diese Erfahrung gemacht werden, wenn von einem Code oder Sprachsystem in ein anderes gewechselt wird: Was sich in einer Sprache so trefflich sagen läßt, kann in einer anderen möglicherweise nur mit äußerstem Aufwand umschrieben werden. 362

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

eine Analyse dieses besonderen Erinnerungserlebnisses vorgenommen, indem nach motivierenden Zusammenhängen, nach Ähnlichkeiten gesucht wird.23 Dabei erschöpft sich die Rilkesche Darstellung nicht in diesem nostalgischen Augenblick der Wiedererinnerung, des Wiedererkennens des Ähnlichen. Ausgehend von der ›eigensinnigen Wiederkehr‹ kommt die ›rhythmische Eigenschaft meiner Einbildung‹ zum Zuge, um ›Absprung zu nehmen zu einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen‹. So gelangt der produktive Dichter durch Anregung vom erinnerten Unerhörten zu neuen unerhörten Versuchen, ja die Versuche selbst fördern Unerhörtes zutage. Was anderes kann sich ein Autor wünschen, als ausgehend vom sprachlichen, ja akustischen Material etwas Neuartiges, noch nie Gehörtes zu erdichten? Dabei spielt eine gewisse Passivität der dichterischen Erfahrung eine Rolle, indem sich dem Dichtenden etwas gleichsam aufdrängt: »Was wird mir nun immer wieder innerlich vorgeschlagen? Es ist dieses: Die Kronen-Naht des Schädels (was nun zunächst zu untersuchen wäre) hat – nehmen wirs an – eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Cylinder des Apparats eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes –, gut: sprechen wirs nur aus, eben (z.B.) die Kronen-Naht wäre –: Was würde geschehen? – Ein Ton müßte entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik...« 24 Rilke phantasiert hier eine Musik der Dinge aus, die durch automatische analoge Abtastung der Oberflächen entstünde. Der technische Einsatzpunkt für die Manipulation liegt in der Ablösbarkeit von prägender Nadel und gezogener Linie. Weil anders auch gar keine Wiederholung des Bahnverlaufs zum Zwecke der Abtastung und Wiedergabe möglich wäre, besteht also prinzipiell die Möglichkeit der ›Täuschung‹, d.h. des verfremdeten Einsatzes des Apparats: Anstelle seiner (von ihm gezogenen) Spur kann irgendeine Linie untergeschoben werden und so den Abtaster veranlassen, zur Erzeugung wahrhaft unerhörter Klänge beizutragen. Damit wäre dann die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen einem Originalvorgang und seiner Reproduktion aufgehoben und stattdessen ein wirkliches Produktionsverhältnis, nämlich von Neuem, inauguriert. Da Rilke hier im Medium der Literatur eine Versuchsanordnung durchspielt, ohne die beschriebene Konstellation auch technisch umzusetzen, bleibt das Resultat spekulativ, ja hüllt sich in einen emotional hochbesetzten Erwartungszustand, den einer unaufgelösten Spannung: »Gefühle –, welche? Ungläubigkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht –: ja, welches nur von allen hier möglichen Gefühlen?

23. Auch hier mag man die Unterscheidung von bewußt erlebter Unvermitteltheit (Plötzlichkeit) und unbewußter Vermittlung (Determiniertheit) ins Spiel bringen. 24. Rilke 1919, 1089f. 363

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verhindert mich, einen Namen vorzuschlagen für das Ur-Geräusch, welches da zur Welt kommen sollte...«25 Einerseits verhält sich Rilke wie ein »ungläubiger Thomas«26, der erst abtasten muß, um sich zu vergewissern, worum es sich handelt; andererseits befällt ihn eine heilige Scheu vor der Schöpfung, der er keinen Namen aufzuerlegen wagt, um doch im selben Atemzug einen Begriff zu prägen, den er mit diesem aus einem technischen Zeugungsakt geborenen ästhetischen Phänomen verbindet. »Ur-Geräusch« ist der Titel für eine spezifisch ästhetische Qualität eines Phänomens, dessen »Natur« sich erst durch technische Übersetzung offenbart, und dies explizit in einer vom Ausgangsphänomen verschiedenen ästhetischen Sphäre: Was zunächst als sichtbare Zeichnung in einem ›an sich und natürlich Bestehenden‹, im Schädel, vorliegt, wird durch Medientransposition zu einem akustischen Phänomen von vermutlich unerhörter Wirkung. Erst der Anschluß an die Apparatur macht das Ausgangsphänomen nicht nur zu einem Phänomen der Aufzeichnung, das abgehört werden kann, sondern zu einem Ur(-sprungs)phänomen, das keines nachweisbaren Aufzeichners bedarf, sondern allein sich selbst verzeichnet hat und zur Darstellung bringt. Damit wäre jedoch der Ursprung, von dem Rilke hier spricht, ein in sich gespaltener, denn was immer auch das gewählte Ausgangsphänomen sei, ohne technischen Einsatz wäre buchstäblich nichts zu hören. Erst diese spezifische Technik läßt Unerhörtes vernehmen. Rilke behandelt also ein nahezu beliebiges, aber irgend auffälliges Phänomen einerseits wie ein Fundstück, das einer surrealistischen Verfremdung ausgesetzt wird; wie ein objet trouvé, welches »ohne Zusammenhang mit meinen übrigen Beschäftigungen, bald hier, bald dort, in den unterschiedlichsten Verhältnissen überrascht.« Andererseits nutzt er die Fundsache wie ein Souvenir, an das Erinnerungen geheftet werden können, indem es sich mit einer Situation, in der es zunächst unter anderem vorkommt, »auflädt« und so für diese als ganze einzustehen hat. Im einen wie im anderen Fall wird das Vorgefundene mit technischen oder imaginativen Mitteln aus seinem angestammten Ort und seiner vertrauten Bedeutung herausgelöst und für etwas Anderes, Neues verwendet. Der veränderte Kontext ergibt eine neue Bedeutung, die spezifische Perspektive der andersartigen Verwendung eine andere Funktion. So kommt der Kronennaht, die aus dem Kräftespiel natürlicher Wachstumsprozesse hervorgegangen ist, nicht die ausschließliche Urheberschaft bei der Erzeugung des Ur-Geräusches zu, da die technische Abtastung und Umwandlung in ein akustisches Phänomen erst von der Apparatur geleistet wird. In der bloßen Phantasie, im Möglichkeitsraum des Essays, verliert sich aller-

25. Rilke 1919, 1090. 26. Vgl. hierzu die Transposition der Szenerie des Ungläubigen Thomas, der die Finger in Jesu Wunden legt, hin zu einer Straßenszene, in der ein Autofahrer die Hand prüfend in jenen Erdspalt legt, der sich in der Fahrbahn vor ihm auftut, im Bild von Mark Tansey: Doubting Thomas (1986), Öl auf Leinwand, 147,3 x 137,2 (Abbildung z.B. in Freeman 1993, 36). 364

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dings die Scheu vor der Schöpfung, und die Gedanken sprießen: »Dieses für einen Augenblick hingestellt: was für, irgendwo vorkommende Linien möchte man da nicht unterschieben und auf die Probe stellen? Welchen Kontur nicht gewissermaßen auf diese Weise zu Ende ziehen, um ihn dann, verwandelt, in einem anderen Sinn-Bereich herandringen zu fühlen?«27 Die von Rilke vorgeschlagene experimentelle Medientransposition treibt den Gedanken auf die Spitze: Welt-Erfahrung durch Metamorphose der Phänomene, die, übersetzt bzw. versetzt »in einen anderen Sinn-Bereich«, einen neuen Aspekt von Wirklichkeit erfahrbar macht, ohne dem abgetasteten Phänomen einen Schöpfer, ein Subjekt als Urheber, unterzuschieben: »Niemand vor Rilke hat je vorgeschlagen, eine Bahnung zu decodieren, die nichts und niemand encodierte.«28 Aber umgekehrt, könnte man sagen, fällt etwas von der Urheberfunktion auf die Versuchsanordnung und den Experimentator zurück (hierzu s. u.). Hiermit ist eine entscheidende Stelle der Rilkeschen poetologischen Weltauffassung erreicht. Rilke folgt nun der Auslegung der Struktur poetischer Erfahrung, einer Art sinnengesättigter Ästhetik, die zugleich einiges Licht auf die vorherigen Passagen wirft: »In einer gewissen Zeit, da ich mich mit arabischen Gedichten zu beschäftigen begann, an deren Entstehung die fünf Sinne einen gleichzeitigeren und gleichmäßigeren Anteil zu haben scheinen, fiel es mir zuerst auf, wie ungleich und einzeln der jetzige europäische Dichter sich dieser Zuträger bedient, von denen fast nur der eine, das Gesicht, mit der Welt überladen, ihn beständig überwältigt; wie gering ist dagegen schon der Beitrag, den das unaufmerksame Gehör ihm zuflößt, gar nicht zu reden von der Teilnahmslosigkeit der übrigen Sinne, die nur abseits und mit vielen Unterbrechungen in ihren nützlich eingeschränktern Gebieten sich betätigen. Und doch kann das vollendete Gedicht nur unter der Bedingung entstehen, daß die mit fünf Hebeln gleichzeitig angegriffene Welt unter einem bestimmten Aspekt auf jener übernatürlichen Ebene erscheine, die eben die des Gedichtes ist.«29 Rilkes Kritik an der Verengung der Weltwahrnehmung auf das Visuelle und an der daraus resultierenden Gleichung Gesicht = Gedicht läuft auf eine Verteidigung der Vielschichtigkeit des Wirklichen hinaus. Was ihm vorschwebt, ist eine synästhetische dichterische Produktion. Die Konsequenzen, die sich daraus für die Poetologie ergeben, seien hier nur angedeutet: Das ästhetische Ideal im Sinne einer vollendeten Poesie fordert, allen Sinnessphären zu huldigen. Daß es sich hier nicht um eine sensualistische oder empiristische Sinnesästhetik handelt, dürfte schon aus der Wendung von »jener übernatürlichen Ebene […] des Gedichtes« hervorgehen. Offenbar denkt Rilke hier an Strukturverhältnisse, an Proportionen und Anordnungen, in denen die sinnlich wahrnehmbare Welt auf der

27. Rilke 1919, 1090. 28. Kittler 1986, 71. 29. Rilke 1919, 1090f. 365

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Ebene des Gedichts »erscheine«. Zwar vollzieht sich der ästhetische Prozeß unter dem Prinzip der sinnlichen Anreicherung, aber als eine Darstellung muß er sich auch perspektivisch verdichten, muß »unter einem bestimmten Aspekt« auswählen und herausschälen, was sich in den verschiedenen Sinnessphären abspielt. Auf der sprachlichen Ebene als dem Medium, in dem sich der Dichter (im Unterschied zu anderen Künstlern) artikuliert, entsprechen der synästhetischen Assoziation die Metaphern. Sowohl bei der Synästhesie als auch bei der Metapher handelt es sich darum, Heterogenes zusammenzubringen, wodurch eine neue Möglichkeit des Zusammenhangs, also des Verstehens eröffnet wird und sich mitunter Über- oder Mehrfachcodierungen ergeben. Die beiden Hauptrichtungen der poetischen Tätigkeit des Geistes können also laut Rilke folgendermaßen gefaßt werden: zum einen Zusammenführung und -fassung (Assoziation, Synthese, Integration), zum anderen Auswahl (Selektion, Analyse, Hervorhebung). Das gelungene Ergebnis bezeugt Geistesgegenwart: »Eine Frau, der solches in einem Gespräche vorgetragen wurde, rief aus, diese wunderbare, zugleich einsetzende Befähigung und Leistung aller Sinne sei doch nichts anderes, als Geistesgegenwart und Gnade der Liebe, – und sie legte damit (nebenbei) ein eigenes Zeugnis ein für die sublime Wirklichkeit des Gedichts. Aber eben deshalb ist der Liebende in so großartiger Gefahr, weil er auf das Zusammenwirken seiner Sinne angewiesen ist, von denen er doch weiß, daß sie nur in jener einzigen gewagten Mitte sich treffen, in der sie, alle Breite aufgebend, zusammenlaufen und in der kein Bestand ist.« 30 In »jener einzigen gewagten Mitte«, im Zentrum, wo alle Fäden aus der sinnlichen Wahrnehmung zusammenlaufen und neue poetische Formen gefügt werden, gibt es nichts Beständiges. Und aus eben dieser Unbeständigkeit, einer Synthesis des Verschiedenen, erwächst die »sublime Wirklichkeit des Gedichts«. Diese kann man als eine besondere, nicht aus den zugrundeliegenden sinnlichen Quantitäten und Qualitäten deduzierbare Formgebung ansehen, ein Gefüge, das – je ausgewogener, desto vollkommener – in dem Sinne ›übernatürlich‹ ist, als es sich einer Logik der Komposition verdankt, die nicht der wahrnehmbaren Welt als solcher zu entnehmen ist. Diese ›übernatürliche‹ Komposition arbeitet allerdings

30. Rilke 1919, 1091. Eine berühmte Adressatin der Literaturgeschichte tritt bei Kleist (1805) auf: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Hat sie bei Kleist katalysatorische Funktion, über die sich der Schreiber Kleist als einer Abhängigkeit vom anderen (genauer: bei ihm sogar von einer als unwissend bezeichneten anderen, nämlich seiner Schwester) im Klaren ist, so spielt die Frau in diesem Text Rilkes nur eine ephemere Rolle für den poetischen Prozeß des erzählenden Ichs; andererseits jedoch sieht Rilke sie in der Lage, eigenständige dichterische Produktionen hervorzubringen, indem sie spontan Worte in gelungener Weise aneinanderfügt, womit sie selbst »(nebenbei)« das beweist, worüber sie gerade zu sprechen beabsichtigt: »Geistesgegenwart und Gnade der Liebe« im Sprechen. 366

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mit einem Material, dessen sinnliche Herkunft nicht zu verleugnen ist. Ein Gedicht ist geformter Stoff, ist Klang und Reim und Rhythmus, dann erst ist es Wort und Satz. Nur so ist auch verständlich, warum die Dichtung immer wieder auf das Material selbst zu sprechen kommt, ja das Material selbst sprechen läßt; warum sie sowohl ihre Verwandtschaft zum Gesang als auch zum Geräusch spüren läßt und sich zuweilen besonderer Formgebung bedient, deren Hauptzweck gerade darin besteht, nur diesen sinnlichen Charakter selbst deutlich zur Geltung kommen zu lassen, jenseits allen Inhalts oder konventionellen Sinns. Ein weiterer Aspekt für die Bedeutung der Materialität ist der Übergang von der phonetischen zur graphischen Ebene als ein Weg, innerhalb der poetischen Produktion das Material – hier: die Schrift – in besonderer Weise sichtbar zu machen. Unaussprechliches kann sich möglicherweise immer noch schreiben lassen (Konkrete Poesie). ›Jene gewagte Mitte‹, in der die Synthesis zwar statthat, aber ohne Bestand ist, wird so darstellbar gemacht und – zur gleichen Zeit verfehlt, denn schon im Ansatz ist Darstellung darauf angewiesen zu fixieren, wenn der Dichter sich des Mediums Schrift bedient. Das Unbeständige in eine Form zu fügen, bleibt ein unauflöslicher Widerspruch dichterischer Anstrengung und kann nur durch die performative Dimension des Sprechens, in der Wiederholung des Gedichteten, ein Moment der Unbeständigkeit, Vergänglichkeit und Erlebnishaftigkeit vorführen. Die Synästhesie vermag sich einer Reihe von Überbrückungen zu bedienen und so dem poetischen Ausdruck in der Wortsprache über ›Abgründe‹ hinweg völlig andere Bereiche zu erschließen, über die der Dichter zwar nicht in der Weise unmittelbar verfügt wie über das von ihm gesetzte Wort, aber deren Anschlußfähigkeit durchaus Sinn erzeugt. Die Übertragung von Phänomenen aus einer Sinnessphäre in eine andere (durch technisch vermittelte Medientransposition oder durch wahrnehmungspsychologische Synästhesie) entspricht in allgemeiner Hinsicht dem gewöhnlichen Begriff der Übersetzung von einer Sprache in eine andere ebenso wie dem der metaphorischen Ersetzung innerhalb einer Sprache (von Worten eines bestimmten semantischen Bereichs durch Worte eines anderen). Auch hier ist wiederum der Kontext von ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis einer sprachlichen Wendung. Dieser Kontext kann, je nach Bedarf, als die nähere oder weitere Umgebung dessen bestimmt werden, was verstanden werden soll: ein Wort innerhalb eines Satzes, ein Satz innerhalb eines Absatzes, ein Absatz innerhalb eines Kapitels, dieses im Rahmen eines Buches, das Buch im Rahmen eines Lebenswerks, dieses innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin oder einer Epoche. Je nachdem, wie der Rahmen der Deutung festgelegt wird, kann sich die Bedeutung eines einzelnen Elementes verändern. Bedeutung ist also eine relationale Bestimmung, die sich im Prozeß der Lektüre, der Aufführung und Interpretation durchaus wandeln kann. Insofern konstituiert sich die Bedeutung von Zeichen immer in Zusammenhängen, von denen Luhmann sagt, daß es sich um Sinnzusammenhänge handelt. Von Sinn zu sprechen bedeutet im Kontext der Systemtheorie zunächst ja nichts anderes als Anschlußfähigkeit: Sinn hat alles, was anschlußfähig ist. Deshalb können in diesem Sinnzusammenhang auch Elemente auftauchen, die zunächst keine andere Bestimmtheit beanspruchen, als (minimal) unterscheidbar zu sein. 367

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Insofern gehören dann auch der Unsinn, das Chaotische und Ungefähre noch in den Sinnzusammenhang von Erfahrung, ohne daß diesen eine konkrete, klar bestimmbare, eindeutige Bedeutung zugewiesen werden müßte: Es reicht, den Zwischenraum als solchen zu erkennen, ohne daß dieser weiter eine andere Bedeutung für das Gesagte oder Geschriebene haben muß, als eben eine Trennung, eine Unterbrechung zwischen zwei Elementen darzustellen. Aber nicht erst die Rhetorik der Sprache mit ihren verschiedenen Figuren der Rede ermöglicht eine Darstellung außersprachlicher Verhältnisse. Schon die bloße Beschreibung mit Worten, die deskriptive Funktion der Sprache, eröffnet einen Bezug auf alle möglichen Wahrnehmungsphänomene und auch auf wiederum andere Zeichenarten: »Indem ich mich so ausdrücke, habe ich schon die Zeichnung vor mir, deren ich mich, als eines angenehmen Behelfes, jedesmal bediene, sooft ähnliche Erwägungen sich aufdrängten. Stellt man sich das gesamte Erfahrungsbereich der Welt, auch seine uns übertreffenden Gebiete, in einem vollen Kreise dar, so wird es sofort augenscheinlich, um wieviel größer die schwarzen Sektoren sind, die das uns Unerfahrbare bezeichnen, gemessen an den ungleichen lichten Ausschnitten, die den Scheinwerfern der Sensualität entsprechen.«31 In Anlehnung an Karl R. Popper könnte man hier also von einem ScheinwerferModell32 der Wahrnehmung sprechen, nur daß es sich bei Popper nicht um die äußere, sinnliche Wahrnehmung handelt, die erläutert werden soll, sondern um ein Bild für den erkennenden Geist (mind), der in der Tradition entweder als Behälter oder aber als Scheinwerfer aufgefaßt wird. Als Kübel wäre seine Funktion für die Erkenntnis das (mehr oder weniger) passive Aufnehmen von Inhalten, Gedanken, Ideen, Formen vermittels der Wahrnehmung; als Lichtquelle hingegen würde der Geist in aktiver Weise die Welt bzw. die Gegenstände erleuchten. Bemerkenswert ist, daß Rilke hier die Metapher, die für einen aktiven Bezug des Subjekts zu seinen Erkenntnisgegenständen steht, auf die »Sensualität« bezieht, die in der neuzeitlichen Philosophie eher als ein passives ›Organ‹ (Kants Sinnlichkeit, Rezeptivität) der Erkenntnisvorgänge angesehen wurde. Die Zeichnung des Kreises, von der Rilke hier spricht, dient als ›angenehmer Behelf‹ zur Darstellung der weitergehenden Gedanken oder Ideen, die sich angesichts einer sinnlichen Erfahrung einstellen.33 Rilke entwirft ein Modell für »das

31. Rilke 1919, 1091. 32. Vgl. Popper/Eccles 1977. 33. Dies entspricht der Einsicht von Leibniz, daß noch der abstrakteste Gedanke sinnlich gefaßt werden muß, wenn er für uns überhaupt als bestimmbar gegeben sein soll: »Dies eine nur macht mich bedenklich, daß ich, wie ich bemerke, niemals irgend eine Wahrheit erkenne, auffinde oder beweise, ohne im Geiste Worte oder irgend welche Zeichen zu Hilfe zu rufen […] – ja, wir würden sogar, wenn es keine Zeichen gäbe, niemals etwas deutlich denken oder schließen.« (Leibniz 1677, 18f.) 368

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

gesamte Erfahrungsbereich der Welt«, zu dem dann auch »das uns Unerfahrbare« zählt, was im Bild als »die schwarzen Sektoren« dargestellt wird. Bei dieser Einteilung handelt es sich um keine statische, letztgültige, sondern, wie Rilke noch ausführt, um Gebiete, deren territoriale Grenzen durchaus überschreitbar sind.

Liebe, Wissenschaft, Kunst Um dieser Aufgabe der Darstellung der »gewagten Mitte« zu entsprechen, bedarf es einer besonderen Einstellung, die sich jenseits der Extreme hält und weder der des Liebenden noch der des Wissenschaftlers entspricht: »Nun ist die Lage des Liebenden die, daß er sich unversehens in die Mitte des Kreises gestellt fühlt, dorthin also, wo das Bekannte und das Unerfaßliche in einem einzigen Punkte zusammendringt, vollzählig wird und Besitz schlechthin, allerdings unter Aufhebung aller Einzelheit. Dem Dichter wäre mit dieser Versetzung nicht gedient, ihm muß das vielfältig Einzelne gegenwärtig bleiben, er ist angehalten, die Sinnes-Ausschnitte ihrer Breite nach zu gebrauchen, und so muß er auch wünschen, jeden einzelnen so weit als möglich auszudehnen, damit einmal seiner geschürzten Entzückung der Sprung durch die fünf Gärten in einem Atem gelänge.«34 Der Dichter darf sich den Eindrücken nicht einfach hingeben, um wie der bzw. die Liebende35 »in einem einzigen Punkte« konzentriert zu sein, sondern muß danach streben, die verschiedenen Sinnessphären des ganzen Kreises zu durchmessen, um sie in einem, wenn auch spezifischen Zug, durch die Vielfalt der Einzelheiten hindurch, zu verbinden. Denn: »Beruht die Gefahr des Liebenden in der Unausgedehntheit seines Standpunkts, so ist es jene des Dichters, der Abgründe gewahr zu werden, die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden: in der Tat, sie sind weit und saugend genug, um den größeren Teil der Welt – und wer weiß, wieviel Welten – an uns vorbei hinwegzureißen.«36 Dem Dichter fällt die gefährliche Aufgabe zu, sich und den anderen die Möglichkeit abgründiger Erfahrung zu offenbaren und offenzuhalten.37

34. Rilke 1919, 1091f. 35. Rilke wechselt, nachdem er zunächst die »Geistesgegenwart und Gnade der Liebe« durch eine Frau einführt, unvermittelt das Genus. Damit wird der mit Weiblichkeit konnotierte Charakter der Liebe auf das männliche Subjekt übertragen. Es handelt sich also nicht um eine substantielle Charakteristik von Weiblichkeit, sondern um einen spezifischen Zustand, in den Subjekte beiderlei Geschlechts geraten können. 36. Rilke 1919, 1092. 37. Kittler kommentiert diese Stelle medientheoretisch: »Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Es kann also nicht übersetzt werden: Botschaften von Medium zu 369

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Damit hat der Künstler seinen Ort zwischen den Liebenden und dem Wissenschaftler – jedoch in einer spannungsreichen Distanz zur »gewagten Mitte«, in der die Liebenden befangen sind, zu der der Wissenschaftler jedoch nicht durchzudringen vermag. Wie sind nun die drei Funktionen von Liebe, Kunst und Wissenschaft nach Rilke zu bestimmen? »Die Frage entsteht hier, ob die Arbeit des Forschers die Ausdehnung dieser Sektoren in der von uns angenommenen Ebene wesentlich zu erweitern vermag? Ob nicht die Erwerbungen des Mikroskops, des Fernrohrs und so vieler, die Sinne nach oben oder unten verschiebender Vorrichtungen in eine andere Schichtung zu liegen kommen, da doch der meiste, so gewonnene Zuwachs sinnlich nicht durchdrungen, also nicht eigentlich ›erlebt‹ werden kann. Es möchte nicht voreilig sein, zu vermuten, daß der Künstler, der diese (wenn man es so nennen darf) fünffingrige Hand seiner Sinne zu immer regerem und geistigerem Griffe entwickelt, am entscheidendsten an einer Erweiterung der einzelnen Sinn-Gebiete arbeitet, nur daß seine beweisende Leistung, da sie ohne das Wunder zuletzt nicht möglich ist, ihm nicht erlaubt, den persönlichen Gebietsgewinn in die aufgeschlagene allgemeine Karte einzutragen.«38 Die poetische Tätigkeit des Dichters kann nicht in derselben Weise als Beitrag zum menschlichen Wissen fungieren wie die Forschertätigkeit des Wissenschaftlers. Erstere vermag zwar gegenüber der erfüllten Beschränkung der Liebenden ›an einer Erweiterung der einzelnen Sinn-Gebiete zu arbeiten‹, aber eine Allgemeingültigkeit wie letztere kann sie nicht beanspruchen. Die Ergebnisse der methodischen Anstrengungen des instrumentell ausgerüsteten und experimentell verfahrenden Naturforschers jedoch kommen ›in einer anderen Schichtung zu liegen‹, bleiben abstrakt und unanschaulich, »sinnlich nicht durchdrungen, also nicht eigentlich ›erlebt‹«. Weil die Einsichten der poetischen Produktion lt. Rilke wesentlich einer subjektiven Eigenart, dem Erlebnis, entspringen und sich einer besonderen Begabung oder ästhetischen Sensibilität verdanken39, bleibt der Anspruch, der mit dieser Erfahrung verbunden werden kann, ein ›persönlicher‹. Deshalb beschränkt sich »seine beweisende Leistung« auf sein individuelles Zeugnis, und er kann nur mit seiner subjektiven Erfahrung für das von ihm Erdichtete und Erschlossene einstehen. Der Künstler mag einen »persönlichen Gebietsgewinn« verzeichnen, aber es wird ihm »zuletzt nicht möglich« sein, diesen zum verfügbaren, allgemein

Medium tragen heißt immer schon: sie anderen Standards und Materialitäten unterstellen. In einem Aufschreibesystem, wo es zur Aufgabe wird, ›der Abgründe gewahr zu werden, die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden‹, tritt an den Platz von Übersetzung mit Notwendigkeit die Transposition.« (Kittler 1985, 271) 38. Rilke 1919, 1092f. 39. Was einer wissenschaftlichen Untersuchung und Erfassung der gefundenen Phänomene nicht prinzipiell widerspricht, nur daß sie dies nicht selbst, als Dichtung, leisten kann. 370

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

zugänglichen Besitz zu erklären. Der Eintrag in die »aufgeschlagene allgemeine Karte«, welcher der Wissenschaft möglich ist, muß ausbleiben. Den poetischen Einsichten fehlt also der ableitbare Zusammenhang, die Möglichkeit der gezielten Wiederholung der Erfahrung, ja die vollständige Verfügung über die Mittel, mit denen dieselbe Erfahrung für andere zugänglich gemacht werden könnte. Die Erfahrung des Dichters ist in einem entscheidenden Sinne die der Unverfügbarkeit, des Glückens und Gelingens, das sich wenn, wie von selbst, nämlich: schicksalhaft ergibt und »ohne das Wunder zuletzt nicht möglich ist«. Der Beweis der Allgemeingültigkeit im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft liegt aber auch laut Rilke gar nicht im Interesse der Dichtung. Nicht um Wiederholbarkeit und Beherrschbarkeit der Phänomene geht es der dichtenden Erfahrung, sondern um die Auslotung des unbekannten Territoriums, um die Hervorbringung anderer Zusammenhänge und Zustände, um das Gewinnen neuer Einsichten, die jedoch der erlebten und sinnlich durchdrungenen Erfahrung verbunden bleiben. Der Dichtung wird damit eine wesentlich produktive und innovative Funktion zugeschrieben, die freier und experimenteller agieren kann, als es z.B. diejenigen Wissenschaften tun müssen, die mit Geräten hantieren, um Erkenntnisse über die Natur in Erfahrung zu bringen. In diesem Sinne ist die Poesie ungebundener – um den Preis ihrer Unkalkulierbarkeit. Damit sind die Funktionen von Liebe, Kunst und Wissenschaft abgesteckt: Während die von der Liebe Erfaßten punktuell, konzentriert, erfüllt, undifferenziert und distanzlos zugleich sind und der wissenschaftlich Forschende in seinem Tun zu Distanz, Abstraktion, Formalisierung, Gesetzmäßigkeit und Verallgemeinerung neigt, ist es die Aufgabe des Dichtenden, das sinnlich durchdrungene, vielfältig Einzelne als ein Erlebbares zu fassen und dessen individuelle Qualitäten differenziert darzustellen, so daß »das gesamte Erfahrungsbereich der Welt« miteinander in Verbindung gebracht und eine ›entscheidende Erweiterung der einzelnen Sinn-Gebiete‹ erreicht wäre. Die Liebenden bleiben eingenommen und sinnlich affiziert, der Wissenschaftler hingegen unberührt und abstrakt distanziert, während nur der Dichter in gespannter Erwartung auf die Vielfalt der Phänomene bezogen bleibt, ohne sich in ihnen zu verlieren oder sich von ihnen vollkommen zu distanzieren. Hier liegt denn auch das Zentrum der dichterischen Anstrengung: im Wunsch, die Welt zu bereichern, die mögliche Erfahrung auszudehnen und zusammenzufügen. Die gefahrvolle Aufgabe der Dichtung, der »Abgründe gewahr zu werden, die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden«, erfüllt eine wichtige und unvertretbare Rolle im Ensemble menschlicher Welterfahrung: »Sieht man sich aber nun nach einem Mittel um, unter so seltsam abgetrennten Bereichen die schließlich dringende Verbindung herzustellen, welches könnte versprechender sein als jener, in den ersten Seiten dieser Erinnerung angeratene Versuch? Wenn er hier am Schlusse, mit der schon versicherten Zurückhaltung, nochmals vorgeschlagen wird, so möge man es dem Schreibenden in einem gewissen Grade anrechnen, daß er der Verführung widerstehen konnte, die damit gebotenen Voraussetzungen in den freien Bewegungen der Phantasie willkürlich auszuführen. Dafür schien ihm der, während so vielen 371

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Jahren übergangene und immer wieder hervortretende Auftrag zu begrenzt und zu ausdrücklich zu sein.«40 Die Funktion der Dichtung in einer Welt, die einerseits von den standpunktbeschränkten Leidenschaften der Liebe bewegt, andererseits von der abstrakten Systematik der Wissenschaft beherrscht ist, wäre also die disziplinüberschreitende, assoziative Herstellung von Bezügen bzw. – lebensweltlich – der Versuch, zwischen den ›seltsam abgetrennten Sinn-Bereichen‹ auch ›sinnlich durchdrungen‹ die ›schließlich dringende Verbindung herzustellen‹. Daß Rilke hier keine Erlösung durch Dichtung im Auge hat, drückt nicht nur seine Bescheidenheit und Zurückhaltung aus, sondern auch die angemessene Selbsteinschätzung eines Dichters, der die Komplexität moderner Lebensverhältnisse und die Pluralität ihrer Kultur zur Kenntnis genommen hat: Der Dichtung selbst kann also nur ein ›begrenzter und ausdrücklicher‹, aber doch ein ›immer wieder hervortretender Auftrag‹ zukommen. (Funktionale) Differenzierung und (systemische) Integration sind die zwei Seiten der Entwicklung, die sich in einem unaufhörlichen Konflikt miteinander befinden und zur Ausarbeitung immer neuer Konstellationen beitragen können, wobei der Dichtung eine ›Erweiterung der einzelnen Sinn-Gebiete‹ obliegt, indem sie den Bezug zur Ebene der Sinnlichkeit und Anschaulichkeit nie verliert, aber nach einer gleichsam »übernatürlichen Ebene« strebt.

Wahrnehmung und Erinnerung Der »in den ersten Seiten dieser Erinnerung angeratene Versuch« beinhaltet eine Analogiebildung zwischen der experimentellen Produktion verschiedenster UrGeräusche mit Hilfe einer Abtastnadel und der poetischen Praxis einer assoziativ-synästhetischen Verknüpfung von diversen Erfahrungselementen zu einem künstlerischen Produkt. Diese technomorphe Deutung des ästhetischen Produktionsprozesses kann als modern bezeichnet werden. Rilkes Dichtung darf als Index des Entwicklungsstands der Kultur gelesen werden: »1919 schreibt Rilke eine Prosa-›Aufzeichnung‹, die mit den bescheidenen Mitteln von Bastelei oder Literatur alle hirnphysiologischen Entdeckungen in moderne Lyrik überführt.«41 Auch kann Rilkes Poetik mit medientheoretischen Überlegungen in Zusammenhang gebracht werden: »Seitdem es Phonographen gibt, gibt es Schriften ohne Subjekt.«42 Aber in welcher Hinsicht kann von diesem ›ohne Subjekt‹ gesprochen werden? Wenn es Zufallsproduktionen gibt, ein absichtsloses Hervorbringen der Natur (z.B. die Kontur der Kronennaht), dann bedeutet dies nicht, daß dieses Phänomen als solches schon in Erfahrung zu bringen wäre, geschweige denn entziffert oder begriffen wäre. Auch die Hirnkranznaht muß unter (Rilkes) Voraussetzung einer ähnlichen Linie erkannt werden, und diese Assoziation kann nur ein Subjekt mit Erinnerungsfähigkeit leisten. Unter der (theoretisch postulierten)

40. Rilke 1919, 1093. 41. Kittler 1986, 62. 42. Kittler 1986, 71. 372

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Zuhilfenahme eines unbewußten Gedächtnisses kann ein Individuum als ein sich selbst überraschendes Subjekt gedacht werden, dem auf einmal etwas auffällt oder einfällt, z.B. eine Ähnlichkeit zwischen Phonographenspur und Hirnkranznaht. Mag die Aufzeichnung auch nicht-intentional und eine bloß zufällige Spur gewesen sein, die Lektüre eines Phänomens ist zu einem gewissen Grade immer intentional. Denn nur unter der subjektiven Annahme der Verständlichkeit erweist sich ein Phänomen als entzifferbar, tritt aber auch die Möglichkeit des Scheiterns dieser Erwartung in den Horizont der Erfahrung. Noch der Unsinn (oder der Nichtsinn) verdankt sich also der Voraussetzung des Sinns.43 Rauschen, als Bezeichnung fürs Ununterschiedene, wird selbst nur vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von Signal und Nicht-Signal als ein Begriff verständlich und erlangt so seinerseits ›Bedeutung‹, nämlich die, keinen entzifferbaren Sinn zu haben. Es sind also nicht nur die Zeichen, die des Zwischenraums oder des undifferenzierten Hintergrunds bedürfen, um als bestimmte gegeben zu sein, sondern umgekehrt wird die besondere Qualität des Zwischenraums erst im Kontrast zu den bestimmten Figuren, den distinkten Zeichen merklich. Diese wechselseitige Abhängigkeit zeigt sich einem Beobachter, der mit einer Unterscheidung operiert, also ein Kriterium zur Hand hat, an dem er Unterschiedsloses und Unterschiedenes bemißt.44 Die Frage ist also nicht einfach, ob eine Spur irgendeinem Urheber zugeschrieben werden kann, wie Kittler schreibt, sondern zunächst einmal, wie sie denn für einen Beobachter überhaupt gegeben sein kann. Nicht allein Urheberschaft im Sinne von Produktion eines (objektiven) Phänomens steht hier zur Debatte, wenn es darum geht, über Sinn und Unsinn der Phänomene zu entscheiden, sondern die Konstitution der Phänomene überhaupt als in der Erfahrung ›gegebene‹. Ohne diesen Rückbezug auf die »Gegebenheitsweise«45 irgendwelcher Phänomene würde systematisch ausgeblendet, welchen Beitrag die erfahrende Subjektivität zu deren Konstitution beisteuert, mag es sich auch um ein Subjekt des Unbewußten handeln. An dieser Perspektivierung von Erfahrung scheitert die gänzliche Objektivierung der Erfahrung. Die Subjektivität, die eine Erfahrung macht, ist ein irreduzibles Moment, welches sich nicht auf objektivierbare, materielle oder äußerliche Bedingungen reduzieren läßt. Jedoch scheint der Gebrauch

43. Hier ergeben sich Parallelen zur Frage der Lesbarkeit ohne Autorschaft, wie sie Hans Blumenberg behandelt hat: »Lesbares zu lesen heißt, daß der Adressat sich dem nicht verweigert, was ihn betrifft oder betreffen könnte, auch wenn er nicht mehr glauben mag, er könne ›gemeint‹ sein.« (Blumenberg 1981, 408/409) 44. Hierbei handelt es sich um den Unterschied zwischen Distinktion und Differenz: Erstere benennt den Unterschied zwischen dem einen Bestimmten und dem Unbestimmten, die zweite den Unterschied zwischen zwei Bestimmungen (vgl. Spencer-Brown 1969). 45. Husserl 1935/1936. 373

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

einer Unterscheidung nötig zu sein, um überhaupt eine Erfahrung zu machen, denn Erfahrung bedeutet immer auch: Unterscheidungen treffen, d.h. Operieren nach Maßgabe von Differenzen (Luhmann). Das Vorausgesetztsein einer Unterscheidung für diesen Begriff der Erfahrung ist auf die dem Subjekt dieser Erfahrung selbst eingeschriebene Differenz von Wahrnehmung und Erinnerung zu beziehen. Daß ein Subjekt sich angesichts einer Erfahrung zu erinnern vermag, wie Rilke es beschreibt, setzt ein (unbewußtes) Gedächtnis voraus, das nicht mit dem aktuellen Bewußtsein (auch des der Erinnerung zur Verfügung Stehenden) identisch sein kann, da das Gedächtnis sich zuweilen auch gegen manifeste Tendenzen des Bewußtseins (Absichten, Willensbekundungen) durchzusetzen vermag. Die Wirksamkeit und der Eigensinn von Gedächtnis sind jeder Erfahrung des Bewußtseins strukturell vorausgesetzt. Ohne aktivierbare und d.h. zwischenzeitlich – ob lang- oder kurzfristig – gespeicherte Erinnerung wäre eine Erfahrung als irgend geordnete undenkbar. Die Selbstbezüglichkeit im Vollzug der Subjektivität erfordert zugleich eine interne Unterscheidung, die den Bezug auf etwas ermöglicht, das zwar zur Subjektivität selbst gehört, aber wie ein äußeres, fremdes Anderes begegnet: ein Gedächtnis, das zum Subjekt gehört, aber wie ein Gegenstand seiner selbst. Rilkes Text Ur-Geräusch trägt dieser Differenz im Subjekt Rechnung, indem eine Erfahrung mit einer wiederkehrenden Erinnerung als ›eigensinnig‹ bezeichnet wird. Es ist gerade nicht das willentliche Erinnern, das für das poetische Subjekt den Anstoß zu einer produktiven Erfahrung gibt, sondern das unwillkürliche Zusammentreffen einer aktuellen Wahrnehmung mit einer erinnerten Ähnlichkeit, die von jener ausgelöst wird. Das Auftauchen der Erinnerung hat zwei Wurzeln: die äußere Wahrnehmung und die innere Aktivität des Subjekts – eine Aktivität, die nicht mit der des Bewußtseins übereinstimmt. Rilke unternimmt eine genaue Analyse der Aufzeichnungstechnik, nicht um sie direkt als Modell psychischer Vorgänge zu verwenden, sondern um ausgehend von der detaillierten Beschreibung die weitergehende psychologische Erfahrung mit der Erinnerung an das Jugenderlebnis zu schildern. Erst die Verknüpfung des Erinnerten mit einer aktuellen Erfahrung – der Wahrnehmung der Kronennaht – führt zur Feststellung einer Ähnlichkeit. Diese wiederum läßt ihn auf die Idee einer Versuchsreihe kommen, welche sich für die ästhetische Erfahrung und die künstlerische Produktion einspannen läßt. So führt der Text Rilkes nicht nur den Umgang mit der Erinnerung vor oder zeigt den auslösenden Impuls für die ästhetische Praxis. Vielmehr entwickelt der Dichter hier seine Poetologie anhand dieser memorativen Assoziation.

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

5.2 Konkurrenz zwischen »Aufschreibesystem« und Schreiben. Schrebers »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« (1903) »Daß ein thatsächlicher nun einmal vorhandener Mensch doch irgendwo sein müsse, dafür schienen die Strahlen kein Verständniß zu haben.« Daniel Paul Schreber »So müßte es eigentlich auch mir zustehen, mein Hausrecht in meinem Kopfe gegen fremde Eindringlinge zu schützen.« Daniel Paul Schreber »Er war der Gegenstand einer Macht, der es auf Allwissenheit ankam. Aber obwohl er sich so vieles gefallen lassen mußte, gab er sich in Wirklichkeit doch nie auf. Eine Form seiner Abwehr war die Übung seiner eigenen Allwissenheit. Er bewies sich, wie gut sein Gedächtnis funktioniere; er lernte Gedichte auswendig, er zählte laut französisch, er sagte sämtliche russischen Gouvernements und französischen Departements auf.« Elias Canetti

Schreiben: Rettungsversuch und Medienereignis Was geschieht, wenn die Seele bedroht ist, der Geist in Verwirrung gerät, die Sinne womöglich trügen, ja, wenn die Erinnerung durcheinanderkommt und das Gedächtnis rebelliert bzw. sich verselbständigt, gar von woanders her mit Auflösung und Zerstörung bedroht wird? Daniel Paul Schreber hat all diese Fährnisse durchlebt und, wie kaum ein anderer, mit Akribie selbst dokumentiert. Dabei ist ein Schriftstück entstanden, das als Teil seines Wahns zugleich dessen Monument ist. Wenn es im folgenden um die Gedächtnisproblematik im Werk Schrebers geht (von dem Foucault vielleicht gesagt haben würde, es sei das Werk einer Abwesenheit46), so in einer sehr spezifischen, einseitigen Weise: Von Interesse

46. Foucault (1964) zielt mit seiner Formulierung »La folie, l’absence de l’œuvre« einerseits auf den Charakter der ökonomischen Unproduktivität, die dem Wahn zugeschrieben wurde, d.h. auf dessen – nach gesellschaftlichen Maßstäben der Normalität – Unberechenbarkeit, Maßlosigkeit und Nutzlosigkeit, die den Wahn in Gegensatz zur (gesellschaftlich nützlichen) Arbeit bringt, welche etwas herstellt oder einen Dienst verrichtet, also auf den Markt gebracht werden kann, weil dadurch im Tausch ein Gegenwert erzielt wird. Genau diese Äquivalenz verfehlt noch die Tätigkeit des Wahns, sofern er sich nicht sowieso durch Untätigkeit auszeichnet. Darüber hinaus wurde das Fehlen des Werkes oft als moralische Verfehlung aufgefaßt, als eine Entgleisung und Beleidigung der Natur oder geradezu als Vergehen gegen die Natur. Die Faszination Foucaults für die Gestalten des Wahnsinns (Hölderlin, Nerval, Nietzsche werden immer wieder genannt) hat jedoch noch einen weiteren Grund: Es sind die Unabgeschlossenheit, die Fragmentie375

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sei hier nur die Problematik des »Aufschreibesystems«, und zwar sofern diese und andere hier vorkommenden Aufzeichnungs-, z.B. Schrift- und Schreibpraktiken von Belang für die Thematisierung von Erinnerung und Gedächtnis sind. Damit kann – scheinbar paradoxerweise – nicht auf die biographische Dimension, die Familiengeschichte47 und die im engeren Sinne für die Psychoanalyse interessante Psychodynamik des Wahns eingegangen werden, wie sie für eine den ganzen »Fall«48 ins Auge fassende Deutung nötig wäre. Nur soviel vorweg: 1884 beginnt für Dr. jur. Daniel Paul Schreber, späterer Leipziger Gerichtspräsident, eine Krankengeschichte49, die sich mit Unterbrechungen über ein Vierteljahrhundert bis zu seinem Tode im Jahr 1911 hinzieht. Sein erster Aufenthalt in der örtlichen Universitäts-Nervenklinik, sechs Wochen

rung und Disparatheit, an denen die üblichen Kategorien z.B. der Literaturwissenschaft versagen und die zugleich einen Schatten auf die Selbstverständlichkeit werfen, mit der in der Regel die Kategorien Buch, Autor, Werk etc. verwendet werden. In diesem Zwielicht wird das Fehlgehen des Wahns zu einer kritischen Instanz: Dessen Scheitern vermag einer anderen Produktivität Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sich nicht umstandslos den entsprechenden Kategorien literaturwissenschaftlicher Analyse fügt. Insofern kann mit Foucault andererseits vom Wahn als einer bestimmten Form von Abwesenheit gesprochen werden, die zum »Werk« beiträgt und sich in ihm auf eine besondere Weise zeigt, d.h. eigenartige Gestalt gewinnt. 47. Bei Schreber handelt es sich um »den zweiten Sohn des berühmten Arztes, Orthopädikers und Erziehers Daniel Gottlieb Moritz Schreber […] Erfinder des ›Schrebergartens‹ […] zu seiner Zeit führender Vertreter der deutschen Heilgymnastik« (Weber 1973, 5), zudem Bestsellerautor populärwissenschaftlicher Schriften zu Fragen der Pädagogik, Medizin und ›Volksgesundheit‹ (zur Familienvorgeschichte vgl. z.B. Weber 1973; Niederland 1969). 48. Weber (1973) weist darauf hin, daß es sich auch um einen »Fall der Vernunft« handelt, nämlich der psychiatrischen und ebenso noch der psychoanalytischen Vernunft, die sich selbst an dem unvernünftigen, verrückten Material, welches Schreber liefert, zu messen und zu beweisen beabsichtigt – oder eben scheitert. 49. Schon Weber hat darauf hingewiesen, daß die Rede vom »Fall Schreber« ebenso bedenklich und kritikwürdig ist wie die Klassifikation des Krankseins. Schreber selbst ist sich der Schwierigkeit durchaus bewußt und nutzt die Unstimmigkeit der verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes, um seine Entmündigung anzufechten: Dabei verlegt er sich in seiner Berufungsbegründung ganz auf die juristische Argumentation: »Ich habe daselbst erklärt, daß ich das Vorhandensein einer Geisteskrankheit im Sinne einer Nervenkrankheit nicht bestreite; ich habe aber ausdrücklich auf die verschiedene Bedeutung hingewiesen, die das Wort ›geisteskrank‹ für den Mediziner und im Rechtssinn habe. […] Ich bestreite nicht, daß mein Nervensystem sich seit einer Reihe von Jahren in einer krankhaften Verfassung befindet. Dagegen bestreite ich mit voller Entscheidenheit, geisteskrank zu sein oder es jemals gewesen zu sein. Mein Geist, d.h. das Funktioniren meiner Verstandeskräfte ist so klar und gesund, wie nur bei irgend einem anderen Menschen der Fall ist« (Schreber 1903a, 280). 376

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

nach einer erfolglosen Kandidatur bei der Reichstagswahl, dauert ein halbes Jahr. Schreber wird sich in den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten noch zweimal, jedoch diesmal über Jahre hinweg, in Kliniken und Sanatorien aufhalten. Die zweite Erkrankung erstreckt sich bis zu seiner Entlassung und dem vorhergehenden Rechtsstreit um die Aufhebung seiner Entmündigung über fast zehn Jahre, von Juni 1893 bis 20. Dezember 1902. Auch die letzten vier Jahre, ab 1907, wird er in einer Anstalt verbringen. 1903 veröffentlicht Schreber auf eigene Kosten seine Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, deren »Hauptteil im Jahre 1900 unter Benutzung älterer Aufzeichnungen und Notizen niedergeschrieben«50 wurde. Schreber hat schon kurz nach dem zweiten Krankheitsausbruch zu schreiben begonnen: Verhält er sich zunächst oft passiv und gab sich ganz der Halluzination hin, so wird er ab 1894 aktiver und fängt an aufzuzeichnen: »›Im ganzen etwas lebhafter, stenographiert und zeichnet Figuren auf Papier […]‹ Schreber beginnt zu schreiben.«51 Schrebers Krankheitsbild52 ist kurz gefaßt das folgende: Er leidet an Wirklichkeitsverlust und Halluzinationen vielfältigster Art53, wobei die körperbezo-

50. Heiligenthal/Volk 1973, VIII. 51. Weber 1973, 23; mit Zitat aus den Krankenberichten. 52. »Das, was als Paranoia bezeichnet wird, ist vermutlich der Zerfall von Subjektivität unter den Vorzeichen ihrer extremen Steigerung. Die Steigerung bestand im Erreichen von Autonomie gegenüber der eigenen inneren Natur, Beherrschung aller Arten von Sinnlichkeit, Disziplinierung des Auges und Unterordnung der anderen Sinne darunter. Resultat ist eine erhöhte Durchlässigkeit für das, was das Auge und das Ohr aufnehmen, da hierein alle Sensibilität wandert.« (Pazzini 1992, 176f.) Dies ist gleichbedeutend mit einer Abkapselung des Subjekts, einer Verleugnung und Verwerfung von »nicht rationalisierter Erfahrung« und dem Verlust der Wahrnehmung des Anderen als anderem (auch an sich selbst, dem eigenen Körper), der Aufgabe des »Widerstand[es] anderer Erfahrung« (Pazzini 1992, 177), an dem etwas Neues entstehen könnte. Diese Form der extremen Abwehr führt zu einer Wiederkehr des Verdrängten von Außen, als entstelltes Anderes kehrt es befremdend und angstbesetzt zurück (ausführlicher hierzu die Materialien in Schreber 1903a). 53. In Anknüpfung an die gängige psychiatrische Terminologie, deren Angemessenheit ich hier nicht weiter problematisiere, hat Schreber Gehörs- und Gesichtshalluzinationen, außerdem wohl Geruchshalluzinationen (Weber 1973, 22, zitiert Baumeyer 1956, 515f.). Der Wirklichkeitsverlust läßt sich mit den Worten Schrebers als Wunder fassen: Es werden Personen und Gegenstände ›hingewundert‹, Krankheiten oder Empfindungen ›angewundert‹ (z.B. Schreber 1903a, 77); alles, was ›flüchtig hingemacht‹ ist, steht für diesen Realitätsverlust, bezeichnet jedoch zugleich den Zugang zu einer anderen ›Wirklichkeit‹, zum Reich Gottes und der Seelen. »Flüchtig hingemacht« sind jene Wesen, deren Erscheinen nur übernatürlich genannt werden kann, Seelenexistenzen, die nicht mit den natürlichen Sinnesorganen wahrgenommen werden können und insofern der gewöhnlichen Welt nicht zugehören. So erscheint ihm auch seine Frau als nicht real, als sie ihn in der Anstalt besucht, als eine Wiedergängerin in Seelengestalt, denn er hat377

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

genen Veränderungen, die Schreber an sich selbst wahrzunehmen glaubt, eine besondere Quelle der Angst bilden. Die Bedrohung seiner geistigen wie körperlichen Integrität, der ›Seelenmord‹, ›Vergiftungen‹, tödliche Erkrankungen und die ›Umwandlung in ein Weib‹, stellen seine Identität und Autonomie als Person und als Mann in Frage.54 Schon zu Anfang der Denkwürdigkeiten entwirft Schreber seine Weltbeschreibung in großen Zügen, vor deren Hintergrund die geschilderten Symptome spezifische Bedeutung erfahren. Seinen Äußerungen läßt sich entnehmen, daß das verhängnisvolle Verhältnis zwischen Schreber und Gott von zwei Polen beherrscht ist: einerseits von der (Selbst-)Beherrschung, dem Ringen um Autonomie und dem Wunsch nach Beständigkeit, andererseits vom Verfolgtwerden und Angezogensein, von Abhängigkeit, Auflösung, Unterjochung und Integration.

te sie für tot gehalten. Es gab »ganz bestimmte thatsächliche Anhaltspunkte, nach denen mir das Wiedererscheinen meiner Frau auch jetzt noch in gewisser Beziehung ein ungelöstes Räthsel bleibt. Ich hatte – und auch hier läßt die Sicherheit meiner Erinnerung keinen Zweifel an der objektiven Realität des Vorgangs zu – zu wiederholten Malen der Seele meiner Frau angehörige Nerven im Leibe gehabt und von außen her meinem Körper sich annähernd wahrgenommen.« (Schreber 1903a, 86f.) 54. »Von dieser der Weltordnung innewohnenden Tendenz [der Seelenreinigung], wonach unter gewissen Voraussetzungen die Entmannung eines Menschen vorgesehen ist, muß nun nach meiner Auffassung Professor Flechsig irgendwelche Ahnung gehabt haben« (Schreber 1903a, 43). Die Geschlechtsumwandlung wird als Kastration vorgestellt, die angstvoll – wie das Penetriertwerden (Schreber 1903a, 124) – als Erniedrigung erfahren wird und mit entsprechenden Verhöhnungen einhergeht: »Gottesstrahlen glaubten mich nicht selten mit Rücksicht auf die angeblich bevorstehende Entmannung als ›Miß Schreber‹ verhöhnen zu dürfen« (Schreber 1903a, 91). Der Geschlechtsverkehr wird in dieser Hinsicht beschrieben, wenn Schreber in schöner Doppeldeutigkeit vom »›unterliegende[n] Theil‹« (Schreber 1903a, 116) spricht. Schon Freud hatte eine grundlegende homosexuelle Komponente für Schrebers Fall geltend gemacht, deren Ambivalenz (Abwehr der Liebe zum Vater) eine organisierende Spannung des Wahns ist (Freud 1911, 183-185). Weber erörtert die kritischen Einwände gegen diese These Freuds und weist darauf hin, daß »der entscheidende Punkt nicht die offene Homosexualität zu sein scheint, sondern die Unsicherheit oder die Verwirrung über die eigene sexuelle Identität. Die Sonne, Hauptorgan oder Werkzeug Gottes, ist kein einfacher Vater, wie Freuds Deutung uns glauben lassen würde, sondern ebenfalls ›eine Hure‹« (Weber 1973, 46): »Die Sonne ist eine Hure«, schimpft Schreber (1903, 267). Es gibt also neben den Nachstellungen Gottes, seinem ›Nervenanhangnehmen‹ an Schreber, auch eine von ihm ausgehende Verführungskraft oder, anders gesagt, ein Begehren auf Seiten Schrebers. Was Schreber als »einen Keim der Gefahren für die Gottesreiche« bezeichnet, nämlich »die Anziehungskraft der menschlichen Nerven auf die Gottesnerven« (Schreber 1903a, 114), ist genauso gut das Angezogensein Schrebers von Gott, ja sein – aktives – Begehren Gottes. 378

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Schrebers Schreibtätigkeit ist alles andere als ein äußerlicher Akt, sondern ein zentrales Moment seiner Krankengeschichte sowie v.a. auch Thema der Wahnbildungen selbst. Aber sie ist vor allem ein Medienereignis und ein Rettungsversuch. Schreber verfertigt seine Schrift zur Beweisführung, um vor Gericht die Einsetzung in seine vollen Bürgerrechte zu erstreiten, was ihm schließlich gelingt. Darüber hinaus aber setzt er sein Schreiben gegen das »Aufschreibesystem«, das auf göttliche Veranlassung hin seiner Seele und aller ihrer Gedanken und Empfindungen habhaft zu werden versucht. Das Schreiben selbst mag im Sinne der Krankheitsbewältigung als eine (selbst–)therapeutische Maßnahme zu bewerten sein, ist also nicht einfach Diktat.55 Darum kann von drei Dimensionen gesprochen werden, in denen seine Schrift bzw. sein Schreiben eine Rolle spielt: als juristisches Beweismittel, als Selbstheilungsversuch im psychiatrischen Sinne und als phantasmatisches Moment des Wahns. Zugleich enthält Schrebers Text – und dies ist eine zusätzliche Dimension seiner Denkwürdigkeiten – ein wenn auch teilweise phantasmatisches Bild des epochalen Dispositivs, der technologischen Diskursformation um 1900.56 Dies ist der Punkt, der für die weitere Argumentation von Belang sein wird:

55. Denn die »(laute) menschliche Sprache, die als ultima ratio zur Wahrung des Hausrechts allerdings verbleibt, kann doch nicht immer ausgeübt werden« (Schreber 1903a, 153, Fn 96). Weber kommentiert: »Hier wird die Funktion der gesprochenen Sprache in der Konstitution und Wahrung der Identität besonders deutlich: es ist kein Zufall, daß das Ich-fremde und Heterogene sich bei Schreber der Schrift – des Aufschreibsystems – bedient, als Instrument (welches tot, automatisch und geistlos ist) gegen das Begehren und die Macht der Schreberschen Nerven.« (Weber 1973, 40) Allerdings meine ich, sind Schreiben (Schreber) und Aufschreiben (Gott) deutlich zu unterscheiden, weswegen eben nicht nur »das Ich-fremde und Heterogene sich bei Schreber der Schrift – des Aufschreibsystems – bedient«, sondern Schreber sich selbst in der Schrift artikuliert. Was jedoch kann die Rede vom ›Sich-selbst-Artikulieren‹ in diesem Falle noch bedeuten, wenn gerade die gemeinhin beanspruchte Souveränität einer Person in der Verfügung über ihr Leben bis hin zur Autorschaft (aller Handlungen und auch schriftlichen Äußerungen) untergraben zu sein scheint? 56. Was bei Schreber als materie- und trägerlose »Anziehungskraft« der (menschlichen und göttlichen) Subjekte (Schreber 1903, 175) auftritt, ist mehr als eine individuelle Verrücktheit: »Hier erweist sich die Paranoia als gewaltige technologische Phantasie, die auf die elektronischen Simulationen des 20. Jahrhunderts vorausweist.« (Asendorf 1989, 141; mit Bezug auf Schreber 1903a, 160f.) Asendorf stellt einen Zusammenhang zwischen Strahlen-Paranoia und wissenschaftlichen Entdeckungen um 1895/1896 her: »Mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität [durch Becquerel sowie Pierre und Marie Curie, die die Bezeichnung gab] geraten fundamentale Gewißheiten der Wahrnehmung und der Physik ins Wanken – die Undurchlässigkeit der Körper, das Prinzip der Erhaltung der Energie und die Konstanz der Elemente.« (Asendorf 1989, 142; vgl. auch Bernal 1954, 680ff.) 379

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Der im Schreberschen Wahn enthaltene Vorstellungskreis von Aufschreiben und Schreiben, von Schrift und Lesen, von Seelenmord und Leben, von Genießen der Seelen und Autonomie der Person, läßt sich auch als ein theoretisches Modell verstehen, wie Aufzeichnungspraktiken und psychisches Erleben in problematischer Weise aufeinander bezogen sind. Diese Frage, die sich angesichts neuer Medientechniken mit besonderer Schärfe stellt, durchzieht den Schreberschen Wahn, und man kann sagen, daß das Schreiben Schrebers einen Kontrapunkt zum »Aufschreibesystem« seines ihn verfolgenden Gottes bildet. Die Aufmerksamkeit für den Akt des Schreibens als Überlebensstrategie Schrebers wird geweckt durch eine medientheoretische Lektüre der Denkwürdigkeiten, wie sie zuerst von Samuel M. Weber (1973) durchgeführt worden ist, der den Akt des Schreibens als eine Medienpraxis entdeckt, die im direkten Zusammenhang mit den Wahnbildungen steht. Friedrich Kittler hat dann die Aufschreibesysteme (1985) zum namengebenden Paradigma einer Medienanalyse gemacht. Soweit es nötig ist, wird im folgenden die Weltsicht des Paranoikers Schreber dargestellt, um dann den medien- und gedächtnistheoretisch entscheidenden Punkt herauszuarbeiten, den schon Elias Canetti in seiner Untersuchung zu Masse und Macht (1960) nennt: »Mit der Erhaltung seines Verstandes meinte er [Schreber] hauptsächlich die Unantastbarkeit seines Gedächtnisvorrats; das wichtigste war ihm die Unversehrtheit der Worte.«57 Schrebers Text gibt also Zeugnis von den beiden gegenstrebigen Tendenzen, in seiner Identität bedroht zu sein, sie aber auch konsolidieren zu wollen: »Schreber wird zum eigenen Leidwesen zu einem der Selbstreflexion fähigen Photoapparat und Tonaufzeichner. Ergriffen von der Objektivität. Sie ist drohend hinter ihm her und in ihm drin. Die Umgebung, Personen und Dinge und der eigene Körper werden zur Bedrohung, wenn sie in Bewegung geraten. Schreber muß sich an seinem Standpunkt festkrallen, da es sonst nichts Sicheres mehr gibt. Referenzpunkt sind dabei seine Gedanken, die eben als Gedanken wach gehalten werden müssen.«58 Obwohl die Figur Schreber, seine »Krankheit« und sein »Werk« ohne Zweifel auch Medieneffekte sind, legt die im folgenden durchgeführte Analyse besonderen Wert auf die aktiv von ihm entwickelten Praktiken, die das komplexe Phänomen Schreber eben nicht ausschließlich als bloß mediale Wirkung erscheinen lassen. Schreber kommt also in dieser Perspektive als Subjekt ins Spiel, welches sich noch durch seinen Wahn hindurch artikuliert. Der damit angesprochene Begriff von Subjektivität erfährt eine entscheidende Nuancierung gegenüber bestimmten tradierten Subjekt-Konzeptionen, die von einer haltlosen Autonomie, einer absoluten Souveränität – und sei es auch nur des Erkenntnissubjekts – ausgegangen sind. Hingegen zeigt sich am Beispiel Schrebers eine gebrochene Subjektivität, die sich durch Anfechtungen hindurch zu behaupten versucht.

57. Canetti 1960, 508. 58. Pazzini 1992, 177f. 380

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Weder ist das Subjekt, um das es hier in der Person Schrebers geht, ein vollkommen selbstmächtiges (wie es die Philosophie im deutschen Idealismus auszudenken versuchte) noch ein vollkommen unterworfenes, dessen Begriff sich reduziert auf den eines Effekts, eines bloßen Themas, eines sujet, dessen Auftauchen und Verschwinden gänzlich von ihm externen Bedingungen abhängt (wie es die materialistische Kritik oder der analytische Strukturalismus wollten). Als in dieser Weise Unterworfenes (sub-jektum) würde Schreber jeglicher Widerstandskraft entbehren, womit man ihm – in wohlmeinender Absicht – genau den Status absprechen würde, den er selber vor Gericht einzuklagen versuchte: Mündigkeit.

Schrebers Wahn-Welt und Seelenlehre Die Grundlinien von Schrebers wahnhafter Konzeption des Universums lassen sich wie folgt umreißen: Das Schicksal der Weltgeschichte und das Schicksal Gottes hängen unmittelbar mit der Existenz Schrebers zusammen: Seine Heilung und Läuterung sind das entscheidende Glied zur Rettung Gottes, wodurch der weltordnungswidrige Zustand zu beenden wäre. Deshalb ist es für Schreber so wichtig, daß er durch alle Gefährdungen und Transformationen hindurch an seiner Selbstbehauptung arbeitet. Eine Art Metaphysik der Unvergänglichkeit rahmt und stützt seine Rolle innerhalb der Wahnwelt. Der Metaphysik59 dieses Wahns korrespondiert eine Angst: Schreber ist einerseits vom Gedanken der Dauerhaftigkeit des Seins und seines Daseins, andererseits von der Bedrohung dieses Zustands durchdrungen und zugleich ergriffen von der Angst der Vergänglichkeit. Von dort speist sich unter anderem die Dynamik seines Wahns und die Hartnäkkigkeit des Kampfes mit den Figuren des Wahns: Sich einen Namen zu machen60, sich zu verewigen und einzuschreiben in die Annalen der Geschichte, un-

59. Es ist nicht aus der Luft gegriffen, hier von Metaphysik zu sprechen, wenn man die erstaunlichen Ähnlichkeiten zu Passagen aus Leibniz’ Monadologie bemerkt: »Demnach ist Gott allein die ursprüngliche Einheit oder die einfache, uranfängliche Substanz. Alle geschaffenen oder abgeleiteten Monaden aber sind seine Erzeugnisse und entstehen, sozusagen durch unaufhörliche Ausstrahlung der Gottheit von Augenblick zu Augenblick, wobei sie nur durch die Aufnahmefähigkeit des Geschöpfes – dem es wesentlich ist, begrenzt zu sein – in Schranken eingeschlossen werden« (Leibniz 1714, II, 446: Monadologie § 47). Schreber bietet eine Art Metaphysik des Wahns, indem er einen Gesamtentwurf, eine umfassende Deutung des Weltgeschehens aus seiner Sicht zu Papier bringt. In ihren Grundprinzipien kann man erstaunliche Ähnlichkeiten zu klassischen Systementwürfen der neuzeitlichen Philosophie feststellen. Auch bei Schreber spielen die von Gott ausgehenden Strahlen eine entscheidende Rolle für das Weltgeschehen. 60. »Wer kennt schon den Dr. Schreber?« hatte ein Zeitungsartikel nach der gescheiterten Reichstagskandidatur gefragt (vgl. Weber 1973, 5). Daß natürlich die Figur des Vaters eine wichtige Rolle für die Wahnbildung spielt, ist von daher einsichtig, daß der Vater in der Tat eine erfolgreiche und berühmte Persönlichkeit gewesen ist und einige der Erfindungen sowie spezifisches Vokabular des Vaters im Wahn des Sohnes wiederkehren (vgl. hierzu Niederland 1969). 381

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

sterblich zu werden (wie die Seele nach dem Tode, von der Schreber zum Ende der Denkwürdigkeiten hoffnungsvoll spricht) und sich ein Gedächtnis (innerhalb der Schöpfung, angesichts Gottes) zu machen – all dies ist ein durchgängiger Zug in der Schrift Schrebers, den er letztlich selbst in die Hand nimmt, mit Stift und Papier. Schreber drückt die Wichtigkeit seiner Aufzeichnungen und seiner dort geschilderten Erlösungsrolle in den folgenden Worten aus: »Ich brauche kaum hervorzuheben, von wie unberechenbarer Wichtigkeit es wäre, wenn meine vorstehend angedeuteten Vermuthungen in irgendwelcher Weise sich bestätigen, insbesondere in Erinnerungen, die Sie [die Leser] selbst in Ihrem Gedächtnisse bewahren, eine Unterstützung finden sollten. Meine ganze übrige Darstellung würde damit vor aller Welt an Glaubwürdigkeit gewinnen und ohne Weiteres in das Licht eines ernsten, mit allen erdenklichen Mitteln weiter zu verfolgenden wissenschaftlichen Problems treten.«61 Die angestrebte Wissenschaftlichkeit mag dazu dienen, ernsthafte Anerkennung zu erlangen und vielleicht im Schoße der Gemeinschaft der Wissenschaftler aufgehoben zu sein (die Passage entstammt einem den Denkwürdigkeiten vorangestellten »Offene[n]Brief an Herrn Geh. Rath Prof. Dr. Flechsig«, den behandelnden Arzt62). Insofern damit eine Selbstvergewisserung – und das heißt hier: eine Bestätigung der Erinnerung – Hand in Hand geht, ist schon vom Anfang des Buches an das Gedächtnis-Thema präsent. Schrebers Seelenlehre im engeren Sinne gestaltet sich folgendermaßen: »Die menschliche Seele ist in den Nerven des Körpers enthalten, über deren physikalische Natur ich als Laie nichts weiter aussagen kann, als daß sie Gebilde von außerordentlicher Feinheit – den feinsten Zwirnsfäden vergleichbar – sind, auf deren Erregbarkeit durch äußere Eindrücke das gesammte geistige Leben des Menschen beruht. Die Nerven werden dadurch in Schwingungen versetzt, die in nicht weiter zu erklärender Weise das Gefühl von Lust und Unlust erzeugen; sie besitzen die Fähigkeit, die Erinnerung an die empfangenen Eindrücke festzuhalten (das menschliche Gedächtniß) und zugleich die Kraft, durch Anspannung ihrer Willensenergie die Muskeln des Körpers, den sie bewohnen, zu irgend welchen beliebigen Thätigkeitsäußerungen zu veranlassen. Sie entwickeln sich von den zartesten Anfängen (als menschliche Leibesfrucht, als Kinderseele) zu einem weitschichtigen, die ausgedehntesten Gebiete des menschlichen Wissens umfassenden System (der Seele des gereiften Mannes).«63 Was Schreber Seele nennt, kommt den Modellvorstellungen zeitgenössischer Seelenwissenschaft gleich: Die Seele ist wesentlich Nerv, so wie es die Psychophysik

61. Schreber 1903a, 6f. 62. »Als Verfolger galt zuerst der behandelnde Arzt Prof. Flechsig, später trat Gott selbst an dessen Stelle.« (Freud 1911, 147) Auch in ›genealogischer‹ Hinsicht spielen die Familien(geschichten) der Schrebers und der Flechsigs eine wichtige Rolle in Schrebers Weltdeutung. 63. Schreber 1903a, 11. 382

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

postuliert. Die sinnliche Erregbarkeit der Nerven entspricht einem empiristischen Moment, da schlichtweg ›das gesammte geistige Leben des Menschen‹ auf ›äußeren Eindrücken beruht‹. Dieses Beruhen ist allerdings im Falle Schrebers alles andere als eine gelassene Ruhe, sondern vielmehr ein Quell des Aufruhrs – denn die Erregbarkeit steht in direkter Verbindung zum Genießen, von dem noch die Rede sein wird. Weitere Charakteristika der Seelen sind ihre Gefühlsfähigkeit nach der Skala von Lust und Unlust, ihre Speicherfähigkeit für empfangene Eindrücke und schließlich ein Handlungen veranlassender Wille. Darüber hinaus hat Schreber eine Entwicklungsdynamik im Auge, die vom Kind zum Erwachsenen verläuft und ein ausgearbeitetes Gedächtnis herausbildet, ein ›umfassendes System menschlichen Wissens‹.64 Schreber präzisiert seine Nerven-Psychologie: »Ein Theil der Nerven ist blos zur Aufnahme sinnlicher Eindrücke geeignet (Gesichts-, Gehörs-, Tast-, Wollustnerven u. s. w.), die also nur der Licht-, Schall-, Wärme- und Kälteempfindung, des Hungergefühles, des Wollust- und Schmerzgefühles u. s. w. fähig sind; andere Nerven (die Verstandesnerven) empfangen und bewahren die geistigen Eindrücke und geben als Willensorgane dem ganzen Organismus des Menschen den Anstoß zu den Aeußerungen seiner auf die Außenwelt wirkenden Kraft. Dabei scheint das Verhältniß stattzufinden, daß jeder einzelne Verstandesnerv die gesammte geistige Individualität des Menschen repräsentirt, auf jedem einzelnen Verstandesnerv die Gesammtheit der Erinnerungen sozusagen eingeschrieben ist und die größere oder geringere Zahl der vorhandenen Verstandesnerven nur von Einfluß ist auf die Zeitdauer, während deren diese Erinnerungen festgehalten werden können.« 65 In erstaunlicher Nähe zu Freudschen Unterscheidungen66 behauptet Schreber zweierlei Arten von Nerven, deren Funktionen sich wechselseitig auszuschließen scheinen: aufnehmende und festhaltende. Die rezeptiven Sinnesnerven, wie man sie nennen könnte, sind zu keiner weitergehenden Reizverarbeitung fähig, außer daß sie die Empfindungen zugleich in die Wollust-Schmerz-Reihe (in die LustUnlust-Reihe, hätte Freud gesagt) hineinsetzen. Daneben postuliert Schreber Verstandesnerven, die einerseits die Gedächtnis- und die Willensfunktion erfüllen, andererseits aber auch einer Art inneren, geistigen Wahrnehmung entsprechen könnten: denn sie ›empfangen und bewahren die geistigen Eindrücke‹. Während also die Sinnesnerven rein rezeptiv arbeiten, können die Verstandesnerven sowohl rezeptiv als auch spontan, selbsttätig sein. Ja, das Gedächtnis steht in großer Nähe zum Willen: Die Speicherfähigkeit wird mit der Entschlußkraft, d.h. der

64. Schreber, der sich explizit gegen den Materialismus ausspricht (vgl. Schreber 1903a, 166), verzichtet auf eine materialistische, chemische oder physikalische Bestimmung der Nervensubstanz und gibt stattdessen das, was eine funktionale Beschreibung genannt zu werden verdient, weshalb Schreber seine »Seelenauffassung« (Schreber 1903a, 115ff.) durch Fähigkeiten und Tätigkeiten erläutert. 65. Schreber 1903a, 11f. 66. Vgl. Freud 1895. 383

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Möglichkeit zur Eigentätigkeit des Organismus in der Weise in Verbindung gebracht, daß Gedächtnis für jede Willensäußerung vorausgesetzt ist, so wie auch umgekehrt nur ein zur Selbsttätigkeit befähigtes System von Nerven überhaupt des Gedächtnisses bedarf, ja mehr noch: ein Gedächtnis auszubilden in der Lage ist. Die reine Rezeptivität scheint nicht ausreichend für die Merk- und Erinnerungsfähigkeit zu sein. Insofern wäre die Selbsttätigkeit der Verstandesnerven das für die Person Schreber wichtigste Moment, weil nur diese die Identitätssicherung zu leisten vermögen. Hierzu entwirft Schreber das Modell eines holographischen Geistes67, in dem alle Teile nach dem Prinzip des pars pro toto fungieren: Solange nur ein Teil der Verstandesnerven erhalten bliebe, wäre die Fortdauer des Ganzen (der Seele, der Person) – wenigstens stellvertretend – gesichert. Aus der zahlenmäßigen Relationierung (»größere oder geringere Zahl der vorhandenen Verstandesnerven«) ergibt sich, daß womöglich noch die geringsten Spuren von Nervensubstanz die ›ganze Seele‹ enthalten, da die Nervenmenge »nur von Einfluß ist auf die Zeitdauer, während deren diese Erinnerungen festgehalten werden können.«68 Ansonsten bleiben die Erinnerungen unverändert. Damit wäre dann laut Schreber nicht nur der Fortbestand der Person überhaupt, sondern darüber hinaus der Fortbestand der Identität der Person gewährleistet. Wäre dem wirklich so, die Gedächtnisfunktion könnte erst zum Erliegen kommen, wenn der Mensch vollständig, vor allem inklusive seiner sämtlichen Nerven, vernichtet worden wäre. Das kommt einer Beständigkeit der Erinnerung, ja, einer Unvergänglichkeit des Gedächtnisses schon so nahe, wie es endlichen Wesen überhaupt nur möglich scheint. Schreber stellt den Unterschied zwischen Gott und Mensch nicht nur als den von Endlichkeit und Unendlichkeit69, sondern auch als den von Reinheit und Unreinheit vor: »Solange der Mensch lebt, ist derselbe Körper und Seele zugleich; die Nerven (die Seele des Menschen) werden von dem Körper, dessen Funktion mit denen der höheren Thiere im Wesentlichen übereinstimmen, ernährt und in lebendiger Bewegung erhalten. Verliert der Körper seine Lebenskraft, so tritt für die Nerven der Zustand der Bewußtlosigkeit ein, den wir Tod nennen und der schon im Schlaf vorgebildet ist. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Seele wirklich erloschen sei; die empfangenen Eindrücke bleiben vielmehr an den Nerven haften; die Seele macht nur sozusagen einen Winterschlaf durch,

67. Die aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts stammenden Ideen eines holographisch aufgebauten Gedächtnisses sind durch die moderne Hirnforschung nicht zu bestätigen (vgl. Roth 1994). 68. Hier ähneln Schrebers Auffassungen wiederum denen der Leibnizschen Lehre von den Monaden, deren seinsmäßige Rangordnung nur durch den Grad an Bewußtheit bis hin zu ihrer höchsten Stufe, nämlich Gott, definiert ist. 69. »Man hat sich eben Gott nicht etwa als ein durch die Umrisse eines Körpers räumlich begrenztes Wesen wie den Menschen, sondern als eine Vielheit in der Einheit oder eine Einheit in der Vielheit vorzustellen.« (Schreber 1903a, 137, Fn 83) 384

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wie manche niederen Thiere, und kann in der weiter unten zu berührenden Weise zu neuem Leben erweckt werden.«70 Schreber denkt hier die Unvergänglichkeit der Seele über den leiblichen Tod hinaus und erwägt sogar die Reinkarnation.71 Wichtig für den Analytiker des Schreberschen Denkens sind an dieser Passage natürlich nicht die quasi-theologischen Glaubenssätze über die Unsterblichkeit der Seele, sondern vielmehr der Wunsch, von dem dieser Vorstellungskreis beherrscht wird; nicht also die Fragen nach dem Sein der Seele, ihrer eternellen Beständigkeit oder wahren Natur, sondern Schrebers Wunsch nach Unvergänglichkeit.72 Schrebers Weltordnung sieht die Auflösung der persönlichen Existenz des Individuums bei gleichzeitigem Aufgehobensein der Seele in Gott vor. In dieser Spannung von individueller Bedrohung und seelischer Unvergänglichkeit entfaltet sich die Wahnwelt Schrebers.73 Gott wäre also der Name für dieses Unvergängliche, an dem alles andere Seiende seinen letzten Grund findet und Seelen ihre Rettung, sogar Restitution erfahren. Gott selbst gerät jedoch in den Strudel der Vergänglichkeit. Daran ändert auch der Unterschied von Mensch und Gott nichts: »Gott ist von vornherein nur Nerv, nicht Körper, demnach etwas der menschlichen Seele Verwandtes. Die Gottesnerven sind jedoch nicht, wie im menschlichen Körper nur in beschränkter Zahl vorhanden, sondern unendlich oder ewig. Sie besitzen die Eigenschaften, die den menschlichen Nerven innewohnen, in einer alle menschlichen Begriffe übersteigenden Potenz. Sie haben namentlich die Fähigkeit, sich umzusetzen in alle mögli-

70. Schreber 1903a, 12. 71. »Regelmäßiger Verkehr Gottes mit Menschenseelen fand nach der Weltordnung erst nach dem Tode statt. Den Leichen konnte sich Gott ohne Gefahr nähern, um ihre Nerven, in denen das Selbstbewußtsein nicht erloschen war, sondern nur ruhte, vermittelst der Strahlkraft aus dem Körper heraus- und zu sich heraufzuziehen und sie damit zu neuem himmlischen Leben zu erwecken; das Selbstbewußtsein kehrte mit der Strahleneinwirkung zurück.« (Schreber 1903a, 14f.; vgl. 18, 38: Gedankenverkehr; 43: Anspielung auf Geschlechtsverkehr, siehe »F....«; 90, 116, 180: »verkehrte Auffassung«) 72. Schreber zitiert Richard Wagners Tannhäuser: »Doch sterblich, ach, bin ich geblieben und übergroß ist mir dein Lieben, wenn stets ein Gott genießen kann, bin ich dem Wechsel unterthan« (Schreber 1903a, 18, Fn 10). 73. »Eine ewige Fortdauer des Bewußtsein, der oder jener Mensch gewesen zu sein, war keiner Menschenseele beschieden. Vielmehr war es die Bestimmung aller Seelen schließlich, verschmolzen mit anderen Seelen, in höheren Einheiten aufzugehen und sich damit nur noch als Bestandtheile Gottes (›Vorhöfe des Himmels‹) zu fühlen. Dies bedeutete also nicht einen eigentlichen Untergang – insofern war der Seele eine ewige Fortdauer beschieden – sondern nur ein Fortleben mit anderem Bewußtsein. Nur eine beschränkte Betrachtungsweise könnte darin eine Unvollkommenheit der Seligkeit – gegenüber der persönlichen Unsterblichkeit im Sinne etwa der christlichen Religionsvorstellungen – finden wollen.« (Schreber 1903a, 18f.) 385

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chen Dinge der erschaffenen Welt; in dieser Funktion heißen sie Strahlen; hierin liegt das Wesen des göttlichen Schaffens.«74 Schrebers Universum ist substantiell eine Nervenwelt. Die Unendlichkeit und Ewigkeit der Nerven(-substanz) – traditionell göttliche Attribute – überschreiten das menschliche Vermögen ins Unermeßliche. Ebenso steht ihre Ursprungsfunktion außerhalb des Menschenmöglichen75: Als Strahlen erzeugen sie »alle möglichen Dinge der erschaffenen Welt«; zugleich handelt es sich um eine Verwandlung, aber vielleicht auch um eine Ortsveränderung ihrer selbst (›Umsetzung‹), was noch die göttlichen Nerven, trotz ihrer Unendlichkeit, in eine Ökonomie der Umsetzung einspannt. Wenn es sich auch um ein unerschöpfliches Reservoir handelt, die Gottesnerven folgen doch einer Art universeller Schöpfungsphysik, einer Umsetzung, deren formaler Charakter nicht weit von Transformationsprozessen in der Thermodynamik anzusiedeln wäre, allerdings mit der offenen Frage, ob es sich tatsächlich um ein geschlossenes oder offenes Modell handelt. Schrebers Kampf mit Gott sowie dessen Schwäche und Anfälligkeit für Schreber deuten allerdings darauf hin, daß Gott selbst mit seinen Kräften haushalten muß76, ja sich sogar verkalkulieren und in Abhängigkeit von seiner eigenen Schöpfung geraten kann.

74. Schreber 1903a, 12. 75. Schreber attestiert eine »schaffende Wundergewalt Gottes« (Schreber 1903a, 12). 76. »Die […] Darstellung […] giebt zugleich vielleicht eine Ahnung in Betreff des ewigen Kreislaufs der Dinge, der der Weltordnung zu Grunde liegt. Indem Gott etwas schafft, entäußert er sich in gewissem Sinne eines Theils seiner selbst oder giebt einem Theile seiner Nerven eine veränderte Gestalt. Der scheinbar hierdurch entstehende Verlust wird aber wiederum ersetzt, wenn nach Jahrhunderten und Jahrtausenden die selig gewordenen Nerven verstorbener Menschen, denen während ihres Erdenlebens die übrigen erschaffenen Dinge zur körperlichen Erhaltung gedient haben, als ›Vorhöfe des Himmels‹ ihm wieder zuwachsen.« (Schreber 1903a, 19) Wenn der aus Nerven bestehende Mensch im Tod wieder in Gott eingeht bzw. in ihm aufgehoben ist, dann entspricht diese Vorstellung der bürgerlichen Nationalökonomie: »[S]olange die Weltordnung vorherrscht, operiert das, was Georges Bataille die ›beschränkte Ökonomie‹ genannt hat: eine Ökonomie der Identität, wo nichts verloren geht, wo jede Entäußerung dialektisch wieder angeeignet wird, wo alle Verausgabung Gewinn einbringt. Die Weltordnung, die Welt-noch-in-Ordnung, folgt der Vernunft und ihren Gesetzen: in ihr und durch sie gilt jene Botschaft, welche Schreber wohl als Motto für sein ganzes Werk hätte verwenden können: ›Aller Unsinn hebt sich auf.‹« (Weber 1973, 28f.; vgl. Schreber 1903a, 127 u. 214) Auch hier kann ein Doppelsinn gehört werden: als sei es gerade der Unsinn, der sich auf immer aufhebt, der sich also bewahrt und bleibt. Somit geht es nicht nur um die Vernichtung des Unsinns durch sich selbst, sondern ebenso um seine Insistenz: Wenn überhaupt etwas erhalten bleibt, dann auf alle Fälle der Unsinn – eine Phantasmagorie, die mit der Angst, den Verstand zu verlieren und dumm zu werden, in Zusammenhang steht und gleichsam deren ›objektive‹ Außenseite bildet. 386

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Gott ist eingespannt in ein Netz der Ähnlichkeiten: Er ist eben auch Nerv, wenn auch »von vornherein nur Nerv«; was ihn unterscheidet, ist seine Körperlosigkeit, die aber dennoch Nerv und »demnach etwas der menschlichen Seele Verwandtes« bleibt. Dies ist seine Schwäche, die nicht einmal durch die Unendlichkeit und Ewigkeit der Nerven aufgewogen wird.77 Nur weil Schreber das göttliche Sein mit einer Nervenexistenz verbindet, kann er in seinem Wahn auch hoffen, durch ebenbürtige Mittel, nämlich seine eigenen Nerven, Einfluß auf Gott nehmen zu können. So bindet Schreber sein Schicksal an den weiteren Verlauf des Weltgeschehens, ja umgekehrt hängt dieses letztlich von jenem ab: Mit seinem individuellen Schicksal wendet es sich auch im großen Ganzen, seine einzelne Erlösung ist das entscheidende Moment in der Erlösung Gottes. Der ehemals höchste Richter Sachsens muß also für Ordnung sorgen und dem Gesetz der Welt persönlich Geltung verschaffen, wenn die sonstigen übergeordneten Instanzen dazu nicht in der Lage sind.

Die unheilvolle Quelle des göttlichen Geniessens Wie ist es zu dieser erstaunlichen und fatalen Situation gekommen? Laut Schreber ist Gott aus eigenem Verschulden in die Abhängigkeit geraten, denn »Nervenanhang« zu nehmen an begabten Menschen, um durch »unmittelbares Eingreifen« eine geniale Inspiration bei einem Künstler oder ein Wunder im »Geschicke der einzelnen Menschen und Völker« zu bewirken, sollte eigentlich nur »ausnahmsweise« erfolgen: »allzuhäufig konnte und durfte es aber nicht geschehen, weil die damit verbundene Annäherung Gottes an die lebende Menschheit – aus weiter nicht zu entwickelnden Gründen – für Gott selbst mit gewissen Gefahren verbunden gewesen wäre.« Dennoch führt Schreber kurz darauf einen Begründungsansatz an: »Allein zur Regel durfte ein solcher ›Nervenanhang‹, wie gesagt, nicht werden, weil vermöge eines nicht weiter aufzuklärenden Zusammenhanges die Nerven lebender Menschen namentlich im Zustande einer hochgradigen Erregung eine derartige Anziehungskraft auf die Gottesnerven besitzen, daß Gott nicht wieder von ihnen hätte loskommen können, also in seiner eigenen Existenz bedroht gewesen wäre.«78 Hier wie an zahlreichen anderen Textstellen zeichnet sich jene andere Problematik ab, die für den Wahn insgesamt sowie innerhalb verschiedener seiner Wahnbildungen eine unablässige Quelle der Beunruhigung wie der Anregung darstellt: Sowohl für Gott als auch für die Seelen spielt der Bezug auf und von Erregung eine Hauptrolle. Einerseits besteht eine grundsätzliche Abhängigkeit von (von

77. »In den Gottesreichen mochte von jeher das Bewußtsein geherrscht haben, daß die Weltordnung, so groß und herrlich sie war, doch nicht ganz ohne Achillesferse sei, insofern die Anziehungskraft der menschlichen Nerven auf die Gottesnerven einen Keim der Gefahren für die Gottesreiche in sich barg.« (Schreber 1903a, 114) 78. Schreber 1903a, 14. 387

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

außen zukommender) Erregung, ohne die nichts Lebendiges zu existieren vermag; andererseits ergibt sich dadurch der beständige Kampf mit ›hochgradigen Erregungszuständen‹, welche die Unabhängigkeit eines Wesens und noch des höchsten Wesens in Frage stellen. Hier deutet sich schon an, daß der Versuch einer unbedingten Selbstbehauptung, d.h. einer Wahrung und Verteidigung beanspruchter Souveränität, an der dazu nötigen Abschließung und Verabsolutierung des Selbst letztlich scheitern muß. Die Angewiesenheit auf Erregung bzw. die grundsätzliche Erregbarkeit des Organismus kann als unvermeidliche »Öffnung zum anderen hin« (Samuel Weber) verstanden werden. Ebenso ambivalent ist das von Schreber angegebene Ziel des Prozesses, in den er sich einbezogen sieht: Die Angliederung in Gottes Reich, um »schließlich als ›Vorhöfe des Himmels‹ gewissermaßen Bestandtheile Gottes selbst zu werden«, kann »[g]anz ohne vorgängige Läuterung der Nerven […] kaum jemals angehen, da schwerlich ein Mensch zu finden sein wird, der ganz von Sünde frei wäre«.79 Wenn auch das Ziel dieser Entwicklung zunächst als erstrebenswert angesehen werden kann, denn das »neue jenseitige Leben ist die Seligkeit«80, so bleibt doch der Weg ein durchaus beschwerlicher, ja bedrohlicher, denn zur (moralischen) Reinigung können alle nur erdenklichen Mittel zur Anwendung gelangen. Aber alle vorzunehmenden Maßnahmen des »Läuterungsvorgangs« dürfen, wie furchterregend auch immer, nicht nach menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen beurteilt werden: »Wer hierauf den Ausdruck ›Strafe‹ anwenden will, mag ja in gewissem Sinne Recht haben; nur ist im Unterschied von dem menschlichen Strafbegriff daran festzuhalten, daß der Zweck nicht in der Zufügung eines Uebels, sondern in der Beschaffung einer nothwendigen Vorbedingung für die Reinigung bestand.«81 Aber wie erstrebenswert ist das Ziel wirklich? Und welche Folgen hat das Eingehen in die Seligkeit für die Seelen? »Die Seligkeit bestand im Zustande ununterbrochenen Genießens, verbunden mit der Anschauung Gottes.«82 Auch in diesem Zusammenhang wird wieder das Gedächtnisthema berührt: »Für die Seelen bedeutet eben das fortwährende Schwelgen im Genusse und zugleich in den Erinnerungen an ihre menschliche Vergangenheit das höchste Glück. Dabei waren sie in der Lage, im Verkehre untereinander ihre Erinnerungen auszutauschen und vermittelst göttlicher – sozusagen zu diesem Zwecke geborgter – Strahlen von dem Zustande derjenigen noch auf der Erde lebenden Menschen, für die sie sich interessiren, ihrer Angehörigen, Freunde usw. Kenntniß zu nehmen, und wahrscheinlich auch nach deren Tode bei dem Heraufziehen derselben zur Seligkeit mitzuwirken. Zurückzuweisen ist die

79. 80. 81. 82.

Schreber 1903a, 15. Ebd. Ebd. Schreber 1903a, 17; vgl. 125 u. Freud 1911, 156. 388

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Vorstellung, als ob etwa das eigene Glück der Seelen durch die Wahrnehmung, daß ihre noch auf Erden lebenden Angehörigen in unglücklicher Lage sich befanden, hätte getrübt werden können. Denn die Seelen besaßen zwar die Fähigkeit, die Erinnerung an ihre eigene menschliche Vergangenheit zu bewahren, nicht aber neue Eindrücke, die sie als Seelen empfingen, auf eine irgend in Betracht kommende Zeitdauer zu behalten. Dies ist die natürliche Vergeßlichkeit der Seelen, welche neue, ungünstige Eindrücke alsbald bei ihnen verwischt haben würde.«83 Deutlich tritt hier Schrebers Verlangen nach geordneten, und zwar nach Lust und Unlust geordneten Zuständen insbesondere der Seelen hervor. Die Wahrnehmungsfähigkeit der Seelen, die Teleperzeption bzw. Telepathie, unterliegt zugleich einem Filter, der gerade die unangenehmen, unglücklich machenden Eindrücke dauerhaft von der Seele fernhält.84 Ein schnelles Vergessen sortiert das (postmortale) Seelenerleben, hält – de mortuis nihil nisi bene – dadurch das Gedächtnis ›rein‹ und verhindert schon das Aufkommen schmerzlicher Erinnerungen (z.B. an geliebte Personen). Der Glückszustand soll nicht gestört werden, als wünschten die Seelen nichts mehr, denn ›übers ganze Gesicht zu strahlen‹. Dieses ›natürliche Vergessen‹ erzeugt eine Seelenlage, die an Nietzsches Herde erinnert und in vergleichbarer Weise Vergessen und Glück miteinander assoziiert.85 Darüber hinaus enthalten diese Gedanken Schrebers mit recht präzisen Worten eine Unterscheidung, die heute in der Gedächtnistheorie als die von Kurzzeitund Langzeitgedächtnis bekannt ist, nämlich die »Fähigkeit, die Erinnerung an ihre eigene menschliche Vergangenheit zu bewahren, nicht aber neue Eindrükke«. Die Nerven/Seelen sind nicht unmittelbar mit dem Bewußtsein des Menschen zu identifizieren. Zur Kommunikation untereinander, aber auch zur Lenkung des Körpers bedienen sie sich spezieller Schwingungen, d.h. einer eigenartigen, quasi ungesprochenen Sprache86:

83. Schreber 1903a, 18. 84. »Die Seelenauffassung in ihrer ursprünglichen Bedeutung ist nach meinem Urtheil die etwas idealisierte Vorstellung, die sich die Seelen von dem menschlichen Leben und Denken gebildet hatten. Die Seelen waren eben die abgeschiedenen Geister gewesener Menschen. Als solche interessierten sie sich lebhaft nicht nur für ihre eigene menschliche Vergangenheit, sondern auch für die Schicksale ihrer noch auf Erden lebenden Angehörigen und Freunde, und für Alles, was sonst in der Menschheit vorging, wovon sie ja im Wege des Nervenanhanges oder auch wohl, soviel äußere Eindrücke betrifft, durch unmittelbares Sehen Kenntniß nehmen konnten. Gewisse Lebensregeln und gewisse Lebensanschauungen hatten sie in mehr oder weniger bestimmten Formen zu wörtlichem Ausdruck gebracht.« (Schreber 1903a, 115) Was über den leiblichen Tod hinaus mit und in der Seele Bestand haben soll, ist das Gedächtnis, welches die Erinnerung an die »eigene menschliche Vergangenheit« enthält. 85. Nietzsche 1874, 248. 86. Zur »Grundsprache« siehe weiter unten. 389

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»Außer der gewöhnlichen menschlichen Sprache giebt es noch eine Art Nervensprache, deren sich der gesunde Mensch in der Regel nicht bewußt wird. Am besten läßt sich meines Erachtens eine Vorstellung davon gewinnen, wenn man sich Vorgänge vergegenwärtigt, bei denen der Mensch gewisse Worte in einer bestimmten Reihenfolge seinem Gedächtnisse einzuprägen sucht, also z.B. ein Schulkind ein Gedicht, das es in der Schule aufzusagen hat, oder ein Geistlicher eine Predigt, die er in der Kirche halten will, auswendig lernt. Die betreffenden Worte werden dann im Stillen aufgesagt (ebenso wie bei einem stillen Gebet, zu dem die Gemeinde von der Kanzel aus aufgefordert wird), d.h. der Mensch veranlaßt seine Nerven, sich in diejenigen Schwingungen zu versetzen, welche dem Gebrauch der betreffenden Worte entsprechen, die eigentlichen Sprachwerkzeuge (Lippen, Zunge, Zähne u. s. w.) werden dabei entweder gar nicht oder nur zufällig mit in Bewegung gesetzt.«87 Schreber orientiert sich hier am Modell des stillen Memorierens, des Auswendiglernens88, des kaum merklichen, unhörbaren ›Sprechens‹ (wie mit sich selbst). Ein eher zufälliges Murmeln wäre die einzige äußerlich wahrzunehmende Spur dieser inneren Aktivität, mit der sich die Selbstbestimmung des Individuums vollzieht: »Der Gebrauch dieser Nervensprache hängt unter normalen (weltordnungsmäßigen) Verhältnissen natürlich nur von dem Willen desjenigen Menschen ab, um dessen Nerven es sich handelt; kein Mensch kann an und für sich einen anderen Menschen zwingen, sich der Nervensprache zu bedienen.89 Bei mir ist nun aber seit der obenerwähnten kritischen Wendung meiner Nervenkrankheit der Fall eingetreten, daß meine Nerven von außen her und zwar unaufhörlich ohne jeden Unterlaß in Bewegung gesetzt werden.« 90

87. Schreber 1903a, 37. 88. »Schon seiner [muß heißen: ihrer] Struktur nach ist diese Nervensprache alles andere als der Ausdruck ›echter Empfindung‹: sie ist überhaupt viel weniger [innerer] Ausdruck als [äußerer] Eindruck, Eingeprägtes: sie ist nicht die Äußerung eines Inwendigen sondern der Einbruch des Auswendigen (›auswendig gelernt‹) im Innern, ein Aussagesystem gar nicht so verschieden vom verhöhnten Aufschreibesystem und ebenso gedankenlos praktiziert. Der einzige Unterschied zwischen dieser Nervensprache und der zum Teil durch die Strahlen enteigneten Sprache (oder dem Brüllen) Schrebers liegt in der Verfügungsgewalt über das Sprechen.« (Weber 1973, 41) Schreber behauptet für sich – und behauptet sich gerade dadurch – den freien Willen (vgl. Schreber 1903a, 37f.). Wenn hier allerdings Auswendiges einbricht, dann ist es gerade das auswendig Gelernte, also ein zum Inneren gewordenes Äußerliches: Verselbständigung des Gedächtnisses, von dem Hegel als mechanischem gehandelt hatte. 89. »Eine Ausnahme findet vielleicht beim Hypnotisieren statt« (Schreber 1903a, 37, Fn 25). Prof. Flechsig wird im Vorwort mit dem schädlichen Einfluß der Hypnose in Verbindung gebracht, und ein paar Zeilen später kommt Schreber tatsächlich auf ihn zu sprechen. 90. Schreber 1903a, 37. 390

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Auch wenn es naheliegend ist, es als die natürlichste Aufgabe der Nerven anzusehen, von außen erregbar zu sein, so legt Schreber doch ›zurecht‹ den Akzent auf die Störung seiner Selbstbestimmung: »Die Art und Weise der Einwirkung hat im Laufe der Jahre immermehr der Weltordnung und dem natürlichen Rechte des Menschen auf freie Verfügung über den Gebrauch seiner Nerven widersprechende, ich möchte sagen immer groteskere Formen angenommen.«91 Dies führte schließlich zum »Denkzwang«: »Das Wesen des Denkzwangs besteht darin, daß der Mensch zu unablässigem Denken genöthigt wird, mit anderen Worten das natürliche Recht des Menschen, seinen Verstandesnerven von Zeit zu Zeit durch Nichtsdenken (wie am ausgeprägtesten im Schlafe geschieht) die erforderliche Ruhe zu gönnen, wurde mir von Anfang an durch die mit mir verkehrenden Strahlen verschränkt, die fortwährend zu wissen begehrten, woran ich denke. Man stellte also z.B. geradezu – in diesen Worten – die Frage: ›Woran denken Sie denn jetzt?‹ und da diese Frage schon an und für sich der komplette Unsinn ist, insofern bekanntlich der Mensch ebensowohl – zu gewissen Zeiten – Nichts, wie auf der anderen Seite Tausenderlei auf einmal denken kann, und da also meine Nerven auf diese widersinnige Frage an und für sich nicht reagierten, so war man sehr bald genötigt, zu diesem System von Gedankenfälschungen seine Zuflucht zu nehmen, indem man sich z.B. auf obige Frage selbst die Antwort gab: ›An die Weltordnung sollte derjenige‹ scilicet denken, d.h. meine Nerven durch Strahlenwirkung nöthigte, diejenigen Schwingungen zu machen, die dem Gebrauch dieser Worte entsprechen.« 92 Das Schwanken zwischen Abhängigkeit und Autonomie zeigt Schreber nicht nur in Bezug auf sich, sondern schildert es ebenso auf seiten Gottes: »Auf der anderen Seite kommt diejenige Abhängigkeit in Betracht, in welche sich Gott dem Professor Flechsig oder dessen Seele gegenüber dadurch begeben hatte, daß er sich den von diesem nun einmal erlangten und seitdem mißbräuchlich festgehaltenen Nervenanhang nicht mehr zu entziehen wußte. So entstand das System des Lavirens, bei welchem Versuche meine Nervenkrankheit doch noch zu heilen, mit dem Bestreben, mich als einen in Folge der immer mehr sich steigernden Nervosität Gott selbst gefährlich werdenden Menschen zu vernichten, miteinander abwechselten. Es ergab sich daraus eine Politik der Halbheit (›Halbschürigkeit‹ wie der wiederholt gehörte Ausdruck lautete), welche ganz dem Charakter der Seelen entsprach, die nun einmal das ununterbrochene Genießen gewöhnt sind und daher die dem Menschen eigenthümliche Fähigkeit, durch augenblickliche Opfer oder augenblicklichen Verzicht auf den Genuß sich dauernde Vortheile für die Zukunft zu verschaffen, nicht oder nur in wesentlich geringerem Grade besitzen. Zugleich wurde die einmal mit meinen Nerven hergestellte Verbindung, je mehr man gegen mich zu wundern anfing, immer unlöslicher«.93

91. Schreber 1903a, 37f. 92. Schreber 1903a, 38; vgl. 13; 93; 118; 127; 142; 143, Fn. 86. 93. Schreber 1903a, 43. 391

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Der Größenwahn Schrebers richtet sich in einer Gott korrespondierenden Stellung ein, in der mal der eine, mal der andere in die größere Abhängigkeit vom jeweiligen Gegenüber zu geraten scheint. Die Selbstbehauptung Schrebers widerstreitet der Genußsucht Gottes, die dieser an ihm zu befriedigen versucht. Je mehr Gott sich dem Genießen an dem von ihm auserwählten Objekt Schreber hingibt, desto geringer ist seine Autonomie: Gottes Selbstbeherrschung schwindet, da er nicht zum Aufschub des Genusses »durch augenblickliche Opfer oder augenblicklichen Verzicht« in der Lage ist. Insofern ist es nicht so eindeutig, wer hier von wem eigentlich abhängig ist – nur daß Schreber sich selbst dann doch die Erlöserrolle zuschreibt und Gott derjenige ist, der gerettet werden muß. So aussichtslos ihm zuweilen seine Lage erschienen sein muß, Schreber weiß sich letztlich doch im Recht: »Das sittlich Anstößige lag also in meinem Falle nur darin, daß Gott sich selbst außerhalb der auch für ihn maßgebenden Weltordnung gestellt hatte«.94 Ja, darüber hinaus hält er es für unmöglich, daß die Bestrebungen Gottes von Erfolg gekrönt werden könnten, weil sie weltordnungswidrig sind, d.h. »weil die Weltordnung auf meiner Seite steht«.95 Damit hat sich eine Entthronung Gottes als absolutem Herrscher vollzogen, der nun – wie in einer konstitutionellen Monarchie – an die Verfassung, hier: die Weltordnung gebunden sein soll. Es ist somit Schreber, der Gott zu einem beherrschenden Moment seiner Weltordnung erklärt, zu deren irdisch-seelischem Vollstrecker er sich selbst auch gegenüber Gott verpflichtet fühlt. Aber es ist hier ebenso zu beobachten, daß Grenzziehung und -überschreitung aufeinander bezogen sind: Gott erweist sich in dem Maße als mächtiger als die Weltordnung, an die er angeblich gebunden ist, wie er sie überschreitet, außer Kraft setzt und verrückt spielt – und gerade dadurch in genußvolle Abhängigkeit und Weltordnungswidrigkeit gerät. Schrebers Gegenwehr legitimiert sich wiederum durch Berufung auf ein allem übergeordnetes Recht, eine absolute Weltordnung, der auch Gott sich letztlich beugen müßte. Daß es sich bei diesen Vorgängen nicht einfach um Pathologien handelt – die es zweifellos auch sind –, sondern daß ihnen psychische Mechanismen innewohnen, die das Recht auf größere Allgemeingültigkeit beanspruchen können, macht Freud deutlich. Zwar sind hier projektive Mechanismen am Werke, die den Schreberschen Gott modellieren, allerdings mit nahezu paradoxen Wirkungen: denn die Ausgeburten seiner Phantasie wachsen ihm über den Kopf. Freud bemüht an dieser Stelle die Verdrängungstheorie, um den Mechanismus der Projektion zu begründen: »Eine innere Wahrnehmung wird unterdrückt, und zum Ersatz für sie kommt ihr Inhalt, nachdem er eine gewisse Entstellung erfahren hat, als Wahrnehmung von außen zum Bewußtsein.«96 Diese Entstellung vollzieht sich wesentlich durch »Affektverwandlung«. Die Häufigkeit der Halluzination ist zwar für die Psychose typisch, aber Projektion ist ebenso ein »normaler Vorgang«

94. Schreber 1903a, 46. 95. Schreber 1903a, 47. 96. Freud 1911, 189. 392

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und gehört nicht allein in die Psychopathologie. Vielmehr muß gesagt werden, »daß ihr ein regelmäßiger Anteil an unserer Einstellung zur Außenwelt zugewiesen ist.«97 Die Wortähnlichkeit ist hier nicht zufällig, sondern kann als Indikator für ein und denselben Vorgang angesehen werden: Projektion kann sowohl Entstellung der als auch Einstellung zur Außenwelt sein. Gott und dessen zahllosen engelhaften Vasallen allein gegenüberstehend, unternimmt Schreber den Versuch einer Absorbtion in sich hinein, d.h. einer »gründlichen ›Zudeckung mit Strahlen‹«, die zur Existenzbedrohung für die feindlichen »Seelen oder Seelentheile« wird. Seine zeitweilige Hauptkontrahentin, die wichtige »Flechsig’sche Seele«, begegnet Schrebers Angriff mit »besonderen Veranstaltungen«: »Sie verfiel auf das Auskunftsmittel mechanischer Befestigungen«.98 Dies soll die Seelen entgegen der Schreberschen Anziehungskraft an den entfernten Welten festhalten99 und deren vollständiges Eingehen in Schreber verhindern. Das damit verbundene »Aufschreibesystem«100 kann ebenso als Widerstandsmittel wie als eine der feindlichen Maßnahmen aufgefaßt werden, die nur eine weitere Stufe derselben Grundtendenz darstellen, nämlich Schreber zu vernichten.

Das Aufschreibesystem als Medium der Vernichtung und der Einsicht Das »Aufschreibesystem« gehört für Schreber »eigentlich in das Gebiet des Unbegreiflichen, da die Absicht, die damit verfolgt wird, von Jedem, der die Menschennatur kennt, von vornherein als unerreichbar hätte erkannt werden müssen. Es handelt sich dabei augenscheinlich um eine Verlegenheitsauskunft, bei der schwer für mich zu unterscheiden ist, ob der Grund derselben in einem falschen (weltordnungswidrigen) Wollen oder einem unrichtigen Denken liegt.« 101 Damit ist eine der relativ kurzen Passagen aufgerufen, in denen Schreber das »Aufschreibesystem« schildert. Schon in den einleitenden Sätzen nimmt er ein Thema wieder auf, das bereits verschiedentlich angeklungen ist: Hier ist es die wahre »Menschennatur«, welche sich »einem falschen (weltordnungswidrigen) Wollen oder einem unrichtigen Denken«, eben Gottes Ansinnen, ihn zum Weib102

97. Ebd. 98. Schreber 1903a, 89. 99. »Anbinden an Erden«, Schreber 1903a, 89; vgl. 133; 143. 100. Schreber 1903a, 94. 101. Schreber 1903a, 90; vgl. 198. 102. Goldschmidt hat mit einer interessanten Beobachtung darauf aufmerksam gemacht, daß Schreber offenbar auf ein Jenseits der Geschlechtertrennung bzw. ein drittes Geschlecht aus ist: »Auf seinem Gipfel nun erreicht der Wahn die Seligkeit, das verlorene Einssein, deshalb will Schreber sein Geschlecht wechseln. Aber hier verwickeln sich die Dinge wieder in den Wörtern, da es zwei Wörter für das ersehnte Geschlecht gibt: das 393

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zu nehmen, zu widersetzen vermag. Schreber entfaltet nun dieses prekäre Verhältnis zwischen einer einsamen Seele und den Heerscharen des »Aufschreibesystems«, um dessen Weltordnungswidrigkeit zu erweisen. Was bezweckt nun dieses »Aufschreibesystem«? »Man unterhält Bücher oder sonstige Aufzeichnungen, in denen nun schon seit Jahren alle meine Gedanken, alle meine Redewendungen, alle meine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in meinem Besitze oder meiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen ich verkehre usw. aufgeschrieben werden. Wer das Aufschreiben besorgt, vermag ich ebenfalls nicht mit Sicherheit zu sagen. Da ich mir Gottes Allmacht nicht als aller Intelligenz entbehrend vorstellen kann, so vermuthe ich, daß das Aufschreiben von Wesen besorgt wird, denen auf entfernten Weltkörpern sitzend nach Art der flüchtig hingemachten Männer menschliche Gestalt gegeben ist, die aber ihrerseits des Geistes völlig entbehren und denen von den vorübergehenden Strahlen die Feder zu dem ganz mechanisch von ihnen besorgten Geschäfte des Aufschreibens sozusagen in die Hand gedrückt wird, dergestalt, daß später hervorziehende Strahlen das Aufgeschriebene wieder einsehen können.«103 Bemerkenswert ist die interne Pluralisierung des einen Aufschreibesystems. Es handelt sich um eine Organisation von (mehr oder weniger wirklichen) Wesen, die im göttlichen Auftrage alles aufschreiben, was mit Schreber irgendwie zu tun hat. Schreber überträgt hier die Idee der Delegation niederer Tätigkeiten, wie man sie aus den irdischen Organisationen (Kirche, Militär, Bürokratie) kennt, in himmlische Sphären. Dabei kommt ein Gesichtpunkt hierarchischer Organisationen zum Tragen, der eine abnehmende Entscheidungskompetenz von oben nach unten vorsieht. Während die Leitungsfunktion von höheren Positionen aus erfüllt wird, haben die untergeordneten Instanzen im Rahmen der vorgegebenen Anordnungen zu handeln, so daß es folgerichtig ist, daß Schreber die Ausführung des Aufschreibens an geistlose Wesen übertragen sieht. Die Frage stellt sich allerdings, wie diese völlig der Intelligenz entbehrenden Wesen überhaupt funktionieren können, setzt doch sogar das einfache Aufschreiben wie überhaupt jegliches Delegieren einen minimalen Grad von ›Intelligenz‹, Wissen oder Können und auch ein Wollen104 voraus, um tatsächlich eine Entlastung zu erreichen. In

Weib und die Frau. Schreber will natürlich ein Weib werden. Sein Vorhaben erfordert die Verwandlung zum Weibe, und das nennt Freud Entmannungswahn. Wir wissen, wohin diese Phantasie führt, die der Errichtung des Wahngebäudes, der Wahnbildung, zugrunde liegt; die Stimmen sagen es ja deutlich: ›Das will ein Senatspräsident gewesen sein der sich f… läßt?‹ – ›Schämen Sie sich denn nicht vor Ihrer Frau Gemahlin?‹« (Goldschmidt 1988, 124; vgl. Freud 1911, 148; Schreber 1903a, 124) 103. Schreber 1903a, 90. 104. Gerade die Indienstnahme des Willens anderer Wesen, also auch deren Bereitschaft zur Indienstnahme, gehört bekanntlich zum Funktionszusammenhang von Organi394

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Schrebers System sind diese nahezu schattenhaften Wesen ohne Geist und ohne Eigenständigkeit – im Entscheiden und im Sein: sie sind nur ›flüchtig hingemacht‹, und in der Art eines Avatars105 ist ihnen ›menschliche Gestalt‹ verliehen – auf ihren Mangel an Willen zurückzuführen: Um in Schrebers Welt als eigenes Dasein gelten zu können, müßten sie gerade durch Willen und Genußfähigkeit, ja Leidenschaft des Genießens, ausgezeichnet sein. Diese affektive Neutralität, diese Leidenschaftslosigkeit der Aufgabenerfüllung stellt sie allerdings in die Nähe ganz irdischer Figuren, deren Funktionsbestimmung der Beamtenstatus ist. Die Zuverlässigkeit der Funktionsausübung wird ja durch die Unbestechlichkeit aus Leidenschaft gewährleistet, die eben zweierlei enthält: sich nicht von den Affekten hinreißen zu lassen und an der Pflichterfüllung festzuhalten; sowie andererseits genau dieses Verhalten genügend affektiv zu besetzen, um nicht die innere Motivation zur Unbestechlichkeit zu verlieren. Schreber überspringt diese Schwierigkeit, indem er behauptet, daß den dienstbaren Geistern »von den vorübergehenden Strahlen die Feder zu dem ganz mechanisch von ihnen besorgten Geschäfte des Aufschreibens sozusagen in die Hand gedrückt wird«. Das ist insofern aufschlußreich, als sich in diesen mechanischen Schreibwesen die Situation des einsamen Schreibers Schreber spiegelt: Einerseits wird ihnen der Geist abgesprochen, andererseits wird ihnen nur das Schreibgerät, die Feder, in die Hand gedrückt. Es stellt sich also die Frage: Wer schreibt?, wird doch das Schreiben selbst nicht von einer anderen Instanz, sondern »ganz mechanisch« von diesen Wesen erledigt. Die vollkommene Mechanik der Aufzeichnung soll allerdings die spätere »Einsicht« ins Aufgeschriebene gerade möglich machen. Die für das Lesen nötige Intelligenz kommt also in Form der ›hervorziehenden Strahlen‹ wieder hinzu, sie muß ergänzend etwas aus den Aufzeichnungen machen. Das Aufgezeichnete, die Schrift oder sonstige Notizen sind als solche dumm und leblos, d.h. sie müssen gelesen werden, um Sinn und Bedeutung zu haben; sie müssen immer von jemandem in Kontakt gebracht, in einen Zusammenhang genommen werden – und das heißt zudem: als etwas aufgefaßt werden, dem Sinn bzw. eine bestimmte Bedeutung beigemessen wird. In Schrebers Worten: Es geht darum, daß Leser das »Aufgeschriebene wieder einsehen können«, d.h. eine Einsicht mit ihm verbinden können.106

sationen, deren komplexer Aufbau immer auch von Erwartungen bestimmt ist, daß Akteure das tun, was sie (laut Befehl, Anweisung oder Auftrag) sollen. 105. In der indischen Mythologie sind Avatare Figuren, die aus dem Reich der Toten wiederkehren; in der ›virtuellen Realität‹ des Internet bezeichnen sie eine fiktive Identität, die ein Kommunikationsteilnehmer annimmt, gleichsam als Maske benutzt, in der er für den anderen sogar (bildschirm-)sichtbar werden kann. 106. Dies gehört in die Logik des Supplements, wie Derrida sie in der Grammatologie entwickelt hat (vgl. Derrida 1967a). Schreber bemerkt an anderer Stelle, daß die Vermehrung des Unsinns immer wieder nur Unsinn produziert oder sich schlicht aufhebt, was in seinem Falle die Rettung, wenigstens eine Entlastung vom Bedeutungswahn bewirkt: »›Aller Unsinn (d.h. der Unsinn des Gedankenlesens und Gedankenfälschens) hebt 395

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Schreber streift in verschiedenen Versionen das Problem, wie Einsicht möglich ist, nicht nur in Aufgeschriebenes, sondern auch in Seelen, in Menschen. Dabei setzt er die Möglichkeit der Lektüre, der Sinnzuschreibung und Bedeutungsverleihung beliebiger Ereignisse, Erlebnisse oder Gegenstände der Erfahrung voraus. Dies ist ein kardinaler Punkt, der als Hintergrundstruktur seines Wahns von ihm selbst nicht in Frage gestellt wird. Die (subjektive) Erfahrung der Unkontrollierbarkeit, hier: des Sinns, bildet eine Hauptcharakteristik der Schreberschen Welt: den Beziehungs- und Bedeutungswahn seines Erlebens. Auch Gott, die antagonistische Figur, findet an dieser Problematik ihre Grenzen, denn Gott meint den Menschen respektive dessen Seele vollkommen einsehen, sie also auch beeinflussen und letztlich auszehren zu können (wenn es erforderlich und gewünscht ist107). Solche Gott zugeschriebenen Einsichten praktiziert Schreber letztlich selbst: »Freuds libidotheoretische Grundannahmen stehen bei Schreber selbst. […] Schrebers Wahn archiviert jene Libidotheorie, zu der Psychoanalyse nur auf den langen Umwegen der Deutung gelangt, als Körper und Text.«108 Schrebers Einsichten sind verblüffend, auch und gerade für Freud, der die Ähnlichkeit von wahngeborenen Denkwürdigkeiten mit der aus der Analyse hervorgegangenen psychoanalytischen Theorie konzediert109. So kann ein Schriftsteller nach Freud »Prozesse ›in der eigenen Seele‹ registrieren und aufschreiben, [so

sich auf‹ und ›Die dauernden Erfolge sind auf Seiten des Menschen‹.« (Schreber 1903a, 127) Wie es aber umgekehrt möglich sei, daß etwas Bedeutung oder Sinn habe, klärt Schreber nicht. Schreber erreicht mit einer anderen Erklärung eine gewisse Entlastung: Die »Beschränktheit des menschlichen Erkenntnißvermögens«, die »Unvollkommenheit des menschlichen Erkenntnißapparats« hindert die »vollständige[ ] Einsicht in das Wesen Gottes« oder die »Lösung der Widersprüche«, die in den eingesprochenen Phrasen enthalten sind. (Schreber 1903a, 128) 107. »Im Uebrigen genügte die Möglichkeit« des Kenntnisnehmens »von dem Innern eines Menschen« per Nervenanhang (Schreber 1903a, 20). Kittler kommentiert: »Die Denkwürdigkeiten schildern einen nervenkranken Körper als Schauplatz ganzer Theomachien, wo göttliche Nervenstrahlen Besetzungen und Rückzüge durchführen, Organe zerstören und Hirnfasern extrahieren, Leitungen legen und Nachrichten durchschalten –: ein psychisches Informationssystem« (Kittler 1985, 298). 108. Kittler 1985, 297. 109. Vgl. Freud 1911, 199f. Sowohl Weber 1973 wie Kittler 1985 weisen auf die wissenschaftlichkeitsgefährdende Nähe von Wahngebilde und psychoanalytischer Theoriebildung hin. Freud macht den Fall Schreber zur Sache der Psychoanalyse, seine Denkwürdigkeiten sollen zu ihrem Prüfstein werden: »Prozesse, die einer wie auch immer deliranten Versuchsperson endopsychische Wahrnehmungen erlauben, kann es psychophysisch nicht nicht geben. Schrebers Körper ist die Rückseite der Papiere, die Freud vollschreibt. […] Demnach wäre ›das Reale‹ nur notwendiger und unmöglicher Grenzbegriff am Systemrand, gäbe es nicht Schrebers endopsychische Wahrnehmungen, die ja ohne jeden Zweifel einen Körper, den seinen, als räumlich ausgedehnten Nervenapparat beschreiben.« (Kittler 1985, 298) 396

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wie] Schreber, nach Freud, ›endopsychische Wahrnehmungen‹« – weswegen Freud guten Grund hat, Schrebers verschriftetes »psychisches Informationssystem […] nicht als Wahn, sondern beim Wort«110 zu nehmen. Freud erkennt im Text Schrebers die Möglichkeit der (Selbst-)Darstellung eines wahnhaften Erlebens und damit eine Möglichkeit, die zugleich die der Psychoanalyse ist, nämlich psychische Vorgänge in einem (theoretischen) Zusammenhang zur schriftlichen Darstellung zu bringen – und das heißt ebenfalls: Einsicht zu nehmen. Dieser zentrale Punkt ist für alle Theorien des Psychischen von Belang: Wenn von einer Artikulation, die mehr als ein bloßes Zufallsprodukt zu sein beanspruchen kann, also von einer Selbstorganisation und Kommunikation des Psychischen ausgegangen wird, dann ist das Einsicht-haben-können zunächst in sich selbst (wie begrenzt und entstellt auch immer) für jegliche Orientierung notwendig, die ein mit Bewußtsein lebendes Wesen in den Zusammenhängen von natürlicher, sozialer und zeitlicher Dimension benötigt. Denn nur in dieser Weise kann eine Selbstbezüglichkeit in kognitiver, emotiver und voluntativer Hinsicht als möglich und steuerbar gedacht werden. Ohne einen solchen (wenigstens rudimentären) Selbstbezug könnte kaum von einer subjektiven Erfahrung des Wahns, sondern müßte von einem weitgehenden Erfahrungsverlust gesprochen werden.111 Indem jedoch das Psychische sich als Selbst konstituiert, bedarf es des abgrenzenden Bezuges auf anderes; und indem es sich von anderem unterscheidet, muß es sich auf sich selbst als solches beziehen können. Fehlte eine der beiden Seiten der Bezugnahme – Selbst und Gegenüber, Ich und anderes –, käme keine Unterscheidung zustande. Der prekäre Status dessen, was sich Selbst nennt, bleibt also trotz der Notwendigkeit seiner Postulierung bestehen, denn die wechselseitige Voraussetzung der für die Konstitution des Unterschiedes nötigen Polaritäten (Ich – anderes) kann nie zu einer ein für allemal gesicherten, ruhenden

110. Kittler 1985, 297f. An anderer Stelle beruft Kittler sich auf Foucault: »Es ist das Heroische an der Psychoanalyse, daß sie am Wort festhält – zu einer Zeit, wo die Biotechniken eines Flechsig oder auch die Medientechniken eines Edison alle Macht des Wortes aushöhlen. Freud dagegen schreibt, was in talking cures zu Wort gekommen ist. Keine Wissenschaft verfährt wörtlicher als Psychoanalyse. Es ist das Heroische an Schreber, daß er Denkwürdigkeiten schreibt, auch wenn ein Neurologengott ihm alles Denken auszutreiben sucht. Mögen Flechsigs Experimente oder ›Wunder‹ sämtliche ›Nerven aus dem Kopfe [Schrebers] herausziehen‹, ein Schriftsteller macht weiter. ›Denn dem schriftlichen Gedankenausdruck gegenüber erweisen sich alle Wunder machtlos.‹« (Kittler 1984, 66) 111. Wieweit eine Erfahrung von Welt, von Personen und Gegenständen, von anderem als sich selbst, auch dann noch möglich sein kann, wenn eine Selbstwahrnehmung mehr oder weniger zusammengebrochen oder abgerissen ist, kann hier im einzelnen nicht erörtert werden, wäre aber eine interessante Frage, die über den psychiatrischen Zusammenhang hinaus von philosophischer Relevanz ist für Fragen zur Konstitution und Genese von Subjektivität. 397

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Stabilität führen. Vielmehr kann das Konstituierte in jedem Augenblick wieder in Frage gestellt werden, muß doch Bewußtsein – zumal individuelles – zu seinem Prozedieren immer schon auf (eigene oder fremde) Sinnressourcen zurückgreifen, da es unter ökonomischen Aspekten nicht geboten ist, alles, was zur Selbstreproduktion benötigt wird, in Gegenwart, ad hoc und wie von einem Nullpunkt aus, aus sich selbst zu schaffen (vgl. Kap. 2.1). Allerdings bedeutet eine solche Übernahme eben auch einen anerkennenden Vollzug, der nur von diesem System selbst geleistet werden kann. Deshalb werden die übernommenen Elemente nicht einfach importiert, sondern müssen innerhalb des Systems reproduziert werden. Die ›Ersparnis‹ liegt darin, daß keinerlei kreativer Aufwand dabei anfällt, kann doch auf Modelle, Vorlagen, Schemata, Erinnerungen zurückgegriffen werden. Deswegen ist es ökonomisch durchaus ratsam, wenn sich selbstreproduktive Systeme ihre eigenen Ressourcen anlegen, also ein Gedächtnis aufbauen, auf das sie gegebenenfalls zurückgreifen können. Auch hierfür ist dann »Einsicht ins Gedächtnis« vonnöten: Erinnerung nämlich.

Darstellen als Fälschen, Simulation und Täuschbarkeit Im Zusammenhang des Einsichtnehmens, von dem Kittler behauptet, es könne »es psychophysisch nicht nicht geben«112, taucht auch der Terminus des »Darstellens« auf, den Schreber eigens mit einer Fußnote bedenkt: »Der Begriff des ›Darstellens‹ d.h. einer Sache oder einer Person einen andern Anschein Gebens, als den sie ihrer wirklichen Natur nach hat (menschlich ausgedrückt ›des Fälschens‹) spielte und spielt noch jetzt überhaupt in dem Vorstellungskreise der Seelen eine große Rolle.«113 Als Beispiel kann jener Satz angeführt werden, den die »Gottesstrahlen« wiederholt an Schreber adressieren: »›Sie sollen nämlich als wollüstigen Ausschweifungen ergeben dargestellt werden.‹«114 Gottes Unwissenheit vom inneren Menschen, d.h. davon, wie er wirklich ist, rührt daher, »daß Gott von dem lebenden Menschen in der Regel nur den äußeren Eindruck hatte und Strahlen, die in Nervenanhang zu einem Menschen getreten waren, überdies in jedem ›Gesichte‹ (Augenblicke) nur einen einzigen Eindruck hatten. Nur so vermag ich mir die gänzliche Unfähigkeit den lebenden Menschen als Organismus zu verstehen, […] zu erklären.«115 Die Beobachterperspektive vermittelt eben nur Ansichten, noch keine Einsichten. Deshalb erreicht Gott durch »Darstellen« nichts anderes als eine oberflächliche Darstellung der menschlichen Seele und damit einen Anschein von Wahrheit, niemals jedoch ihre ›wirkliche Natur‹. Was hindert indes einen Gott daran, die menschliche Seele zu hintergehen und seine ›Fälschung‹ undurchschaubar für sie zu gestalten? Warum gelingt die perfekte Simulation eines anderen Selbstbewußtseins nicht?

112. Kittler 1985, 298. Die Frage bleibt allerdings, ob andernfalls überhaupt Schrift, Schreiben, Aufschreibesysteme und deren (Medien-)Analyse möglich wären. 113. Schreber 1903a, 91, Fn 62. 114. Schreber 1903a, 91. 115. Schreber 1903a, 91, Fn. 62. 398

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Auch in Bezug auf die Figur »Gott« wirft Schrebers Konstruktion gewisse Probleme auf – eine Art Erklärungsnotstand beim Verständnis seiner unbeschränkten ›Natur‹: »Man mochte daher – immer in der Nothlage, in die Gottes Allmacht [vermittelt durch das Vorhandensein der Flechsig’schen ›geprüften‹ Seele] nun einmal gerathen war – sich einzureden versucht haben, daß, wenn man sich von einem Menschen einen anderen Eindruck verschaffe, als denjenigen, der seiner wirklichen Eigenart entsprach, es dann auch möglich sein werde, den Betreffenden diesem Eindrucke gemäß zu behandeln.«116 Die letztliche Unerreichbarkeit der menschlichen Seele durch Gott verdankt sich ihrer Unerkennbarkeit, die zugleich einer doppelten Uneinsichtigkeit (double blind lt. Heinz v. Foerster) Gottes gleichkommt, denn dieser vermag weder einzusehen, was die eigentliche Natur der menschlichen Seele sei, noch daß er sich selbst im Irrtum darüber befindet, daß er es wissen könne.117 So wird Gott unter Bedingungen gesetzt, die seine (jedenfalls für das menschliche Denken) unerreichbare Allmacht zugleich begründen und einschränken. Denn Gott kann nicht anders – eine philosophisch-theologisch bekannte Wendung –, als sich an den Horizont menschlicher, hier: Schreberscher Plausibilitäten und Logik gebunden zu sehen: Wenn ›Gott‹ allmächtig ist und trotzdem nicht das Innerste des Menschen erfaßt, dann muß dies einen Grund haben. Damit ist das argumentative Zentrum der Schreberschen Seelenlehre erreicht, die zugleich den Punkt göttlicher Ohnmacht markiert. Der angeführte Grund – die unzureichende Kontaktaufnahme durch die Himmelsstrahlen, das ›Nervenanhangnehmen‹ – erfährt durch Schreber allerdings in der nächsten Wendung seiner Argumentation eine Herabsetzung, ja führt zu einer abschätzigen Beurteilung ›Gottes‹, der als durch und durch morali-

116. Ebd. Man mag sich hier an den sozialpsychologischen Grundsatz erinnert fühlen, daß das, was die Menschen für wirklich halten, unabhängig davon, ob es wahr bzw. real ist, in seinen Konsequenzen wirklich ist – nämlich, sofern sie danach handeln, woran sie glauben und was sie für wirklich halten. Schrebers Kennzeichnung der Notlage Gottes widerspricht diesem Grundsatz der Sozialpsychologie zwar nicht, setzt jedoch die Unerkennbarkeit der menschlichen Natur bzw. seiner Seele gegen die Konsequenzen, die ein bloßer Glauben oder eine pure Überzeugung zu zeitigen vermag. 117. Die doppelte Blindheit bzw. Blindheit zweiter Ordnung bedeutet, nicht zu sehen, daß man nicht sieht, was man nicht sieht. Darum kommt es zu den beständigen Wiederholungen in Gottes Verhalten, die in einer Eigentümlichkeit seiner Natur begründet sein müssen und eine »Unfähigkeit Gottes, durch Erfahrung zu lernen« (Schreber 1903a, 130), bezeichnen. Schrebers Konsequenz lautet formelhaft: »›Jeder Versuch einer erzieherischen Einwirkung nach außen muß als aussichtslos aufgegeben werden‹« (Schreber 1903a, 131). Schreber rutscht selbst in die Position eines Vaters, der vergebens seinem Kinde den Eigensinn auszutreiben versuchte und nun resigniert. 399

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scher Gott118 in seinem Handeln an Bedingungen gebunden ist, die letztlich im Selbstbetrug seiner Allmacht gipfeln: »Das Ganze kommt demnach auf einen praktisch völlig werthlosen Selbstbetrug hinaus, da dem Menschen natürlich in seinem thatsächlichen Verhalten und namentlich in der (menschlichen) Sprache immer Mittel zu Gebote stehen, seine wirkliche Eigenart gegenüber der beabsichtigten ›Darstellung‹ zur Geltung zu bringen.«119 Diese zunächst abwegig erscheinende Wendung des Denkens eines Paranoikers wiederholt einen prominenten Denkakt vom Beginn der neuzeitlichen Episteme: Descartes’ Meditationen entthronen göttliche und dämonische Allmacht in Bezug auf das denkende Subjekt und setzen die Unhintergehbarkeit des Cogito ein. Der denkende Selbstbezug der res cogitans ist (von außen) unanfechtbar in dem Sinne, daß noch der raffinierteste Täuschungsversuch den Vollzug des Denkens bei diesem Subjekt selbst voraussetzen muß. Noch in der Täuschung bestätigt sich somit das Cogito in seiner Existenz, mag es nun irren oder nicht. Die Fremdreferenz mag scheitern, nicht jedoch die Selbstreferenz! Hierbei ist allerdings die Identifikation des Denkens mit dem Ego zu einem ›Ich denke‹ immer schon vorausgesetzt und ebenso fragwürdig wie der Übergang von einem ›Ich denke‹ zu einem »denkenden Ding« im Sinne einer Substanz. Schreber geht noch einen Schritt weiter: Er erklärt das menschliche Subjekt nicht nur zu einem Residuum gegenüber dem göttlichen Zugriff, den Anfechtungen und der Verfolgung, jedenfalls solange es (sich) denkt, sondern umgekehrt ist es der menschlichen Natur möglich, Gott zu hintergehen und ihn dadurch selbst in seinem Anspruch auf Allmacht ins Zwielicht zu setzen. Gott muß sich also den Betrug gefallen lassen (weil der Mensch der autonomen Täuschung seines Gottes fähig ist), ja den Betrug selbst betreiben, denn sonst wäre er wahrlich nicht nur nicht allmächtig, er könnte sich noch nicht einmal vormachen, es zu sein. Wenn Gott auch zunächst als Verfolger, Betrüger oder Genußsüchtiger erscheint, so stellt Schreber ihn als (durch menschliche Seelen) Betrogenen oder – mehr noch – als unwissenden, uneinsichtigen Selbstbetrüger dar. Den Implikationen dieser paradoxen Doppelbehauptung – einerseits der (von sich selbst) Betrogene, andererseits der Betrüger (seiner selbst) zu sein – geht Schreber nicht weiter nach. Ihr Effekt in der Ökonomie und Architektonik des Schreberschen Denkens ist jedoch, daß nunmehr von einem durch die Notwendigkeit gebändigten Gott die Rede ist, der will, was er ohnehin muß. Somit ist der Horizont von Schrebers Universum aufgespannt zwischen der »feindselige[n] Ge-

118. Der Gott Schrebers ist ein Wesen, das menschlicher Regungen fähig ist: Er ist egoistisch, rachsüchtig und zerstörerisch, will Schamgefühle hervorrufen, ist ein Betrüger und Heuchler. Dies rechtfertigt die Formulierung vom moralischen Gott in dem Sinne, wie Nietzsche – zu Recht oder zu Unrecht – die jüdisch-christliche Gottesvorstellung charakterisiert hat. 119. Schreber 1903a, 91, Fn. 62. 400

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sinnung der Strahlen (d.i. Gottes)« einerseits und der »Unzerstörbarkeit des Verstandes« des Menschen, also: Schrebers selbst, andererseits. Deren unselige Ehe (d.i. Nervenanhang) wird durch den »Beweis« des Verstandes gestiftet, »also der Aussichtslosigkeit der auf die Vernichtung desselben gerichteten Politik«.120 Wie sehr die Unterscheidung Schrebers zwischen weltordnungsgemäßen und –widrigen Zuständen zugleich eine Grundlage für die Doppeldeutigkeit aller möglichen Phänomene, ja für die Paradoxie seiner Bestimmungen des Weltzustands ist, dürfte klar geworden sein. Daß es sich hierbei allerdings immer auch um ein Gedächtnisproblem handelt, wird erst deutlich, wenn man sich der Frage zuwendet, wie Schreber der allzu offensichtlichen Paradoxie zu entgehen versucht. Seine – wie jede – Entparadoxierung (Luhmann) läuft auf Verzeitlichung hinaus: Da Gott selbst Nerv ist, also als gebunden an die körperliche Welt erscheint, bleibt er von der Anregung durch andere Seelen abhängig. So gerät der Absolute in Nervenanhang, der Schöpfer droht erschöpft zu werden. Da er aber nicht beides – absoluter Ursprung und Abhängiger – zugleich sein kann, muß – wie die Welt – Gott einmal in Ordnung, ein andermal in Unordnung sein. Deshalb muß es eine zeitliche, epochale Veränderung gegeben haben, das heißt: eine Geschichte, die erzählt werden kann, und das versucht Schreber. Allerdings gelingt ihm in der erzählerischen Darstellung nicht, was er juristisch erreichen kann: die Rehabilitierung der Identität. Denn je beharrlicher er Ordnung und Unordnung der Welt zu trennen versucht, desto klarer wird, daß sich die Welt nicht auf diese Weise, nicht ohne einen hohen Preis zu zahlen, zerteilen läßt: »So sehr also versucht wird, jenes Vorher und Nachher der Weltordnung zu unterscheiden, so sehr zeigt Schrebers Darstellung, wie sie sich überschneiden, wie das Nachher und Außen schon im Innern der Weltordnung als Nerv vorhanden gewesen ist.«121 Der Ursprung selbst ist schon von der Unterscheidung kontaminiert, die aufzuheben er beschworen wird. Wie nun also der ›Gedanke der Allmacht‹ in den Strudel des Zweifels und der Argumentation hineingezogen wird, so kann auch das Konzept der Selbstbezüglichkeit befragt werden: Die Vorstellung der ›Allmacht der Gedanken‹ hatte Freud dem Narzißmus zugeordnet und als eine projektive Weltbemächtigungsphantasie erkannt. Dabei kann sich die kompensatorische Funktion realer Ohnmacht nur um den Preis einer gänzlichen Verkennung der wirklichen Verhältnisse durchsetzen. Gerade in dieser Größenphantasie aber offenbart sich das Scheitern der erstrebten Souveränität in doppelter Weise: Einerseits wird Weltbeherrschung mit partiell, aber eben unbemerkt, eingeschränkter Selbstwahrnehmung erkauft; andererseits bleibt jede Autonomsetzung letztlich angewiesen auf je anderes, von dem es sich absetzt und mehr oder weniger heimlich zehrt. In Schrebers Logik: Nicht einmal Gott ist eines reinen Selbstbezugs fähig.

120. Schreber 1903a, 95, Fn. 63. Dies erinnert an die Unzerstörbarkeit des Wunsches, von der Freuds Traumdeutung spricht. 121. Weber 1973, 40. 401

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Das Gedächtnis als Schreib- und Lesemodell Um nun der eigenwilligen Konstruktion nicht gänzlich den Boden der Wahrscheinlichkeit zu entziehen – insofern ja der Verlust der Allmacht Gottes unmittelbar in die Allmacht Schrebers umschlagen und er die Möglichkeit vergegenwärtigen müßte, seinen Peiniger einfach ›wegzudenken‹, mithin sein Leiden aus ›eigenen‹ Kräften beenden zu können –, kommt in Schrebers Denkwürdigkeiten wieder das Gedächtnis ins Spiel. Die »Strahlen, die meine Gedanken lesen können,« scheinen trotz ihres terrorisierenden Eindringens in Schreber ihrerseits in gewisser Abhängigkeit von seiner Existenz, von seinem Denken und Tun zu stehen. Denn wenn Schreber gerade nicht denkt – »mit anderen Worten, wo ich mich dem Nichtsdenken hingebe, also namentlich zur Nachtzeit, wenn ich schlafen oder am Tage vorübergehend der Ruhe pflegen will« –, muß anderes Material genutzt werden: »Zur Ausfüllung dieser Pausen (d.h. damit auch während dieser Pausen die Strahlen etwas zu sprechen haben) dient dann eben das Aufschreibematerial, also im Wesentlichen meine früheren Gedanken«.122 Daß die Strahlen Gedanken lesen können, obwohl diese ja nichts Aufgeschriebenes sind, ist in gewisser Weise genauso erstaunlich wie die Schilderung, daß Strahlen aus ›Aufschreibematerial‹ wiederum die ›früheren Gedanken‹ ›hervorzuziehen‹ vermögen. Schreber setzt die Fähigkeiten der Strahlen ohne weitere Begründung, so daß die sich aufdrängende Frage, wie Gedanken, Empfindungen oder andere mentale Zustände überhaupt aufgeschrieben werden und wie aus Aufgeschriebenem wieder Gedanken und Empfindungen hervorgezogen werden können, unbeantwortet bleibt. Festzuhalten ist: Das externalisierte Gedächtnis Schrebers in Form des fremdbestimmten »Aufschreibesystems« wird – von Gott – in der Weise gegen die Existenz Schrebers verwendet, daß es ihn auszuzehren droht123 (s.u.). Andererseits kann Schrebers Idee des »Aufschreibesystems« als ein treffendes Bild für die nicht vollständig beherrschbaren Verhältnisse angesehen werden, wie sie jede subjektive Erfahrung beim Erinnern als Eigenwilligkeit des Gedächtnisses kennt. Schreber bezieht sich an anderer Stelle auf zeitgenössische Kommunikationstechniken wie das Telephon und die Lichttelegraphie, um sie zur Deutung unerklärlich erscheinender Phänomene zu benutzen. So dient ihm das Beispiel des »Telephonierens« als befriedigende Analogie zur Erklärung der Gehörshalluzination,124 während das »›Prinzip der Lichttelegraphie‹« für »die wechselseitige Anziehung von Strahlen und Nerven« bestimmend sein soll125. All diese techni-

122. Schreber 1903a, 93; Nicht(s)denken vgl. 13; 38; 118; 127; 142; 143, Fn. 86. 123. Kittler sieht in der »Exhaustion« (Lacan 1973, 16) ein wesentliches Organisationsprinzip des Aufschreibesystems 1900, dessen, was heute auch »Medienverbundsystem« genannt wird (Kittler 1985, 305). 124. Schreber 1903a, 217. 125. Schreber 1903a, 84, Fn. 58. Schreber macht sich jedoch auch lustig über die Sprache und die Naivität der Nerven/Seelen, wenn »die Neigung derselben hervortrat, die grundsprachlichen Ausdrücke für die Bezeichnung übersinnlicher Dinge durch ir402

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schen Metaphern der Seelenvorgänge stellen selbst metaphorische Vorgänge, d.h. (sprachliche) Übertragungen dar. Es ist interessant, daß Schreber in gewisser Hinsicht zugleich der beste und der schlechteste Beobachter seiner selbst ist: der beste im Hinblick auf die Genauigkeit seiner Beschreibungen, der schlechteste angesichts seiner mangelnden Distanz gegenüber sich selbst. Die Schwäche seiner Überlegungen kommt darin zum Ausdruck, daß er keine Zeichentheorie oder Theorie der Artikulation entwickelt, weswegen er auch kein ausgereifteres Modell jener Übertragungsvorgänge liefern kann, mit denen er als Schriftsteller selbst operiert. An vielen Stellen kann sich deswegen der Leser nicht des Eindrucks erwehren, Schreber unterliege den Artikulationsmöglichkeiten der Sprache widerstandslos und liefere sein Denken und Vorstellen den Sprachmechanismen vollkommen aus. Dennoch versucht er nach Kräften das erlebte Geschehen zu durchschauen, plausible Erklärungen für Wundersames beizusteuern und einen kohärenten Zusammenhang aufzubauen, in dem alles, was geschieht, seinen Sinn hat. So verrät er den seiner Meinung nach übergeordneten Zweck, zu dem das »Aufschreibesystem« eingesetzt wird: »Außerdem dient das Aufschreiben noch zu einem besonderen Kunstgriff, der wiederum auf einer gänzlichen Verkennung des menschlichen Denkens beruht. Man glaubte mit dem Aufschreiben den bei mir möglichen Gedankenvorrath erschöpfen zu können, so daß schließlich einmal ein Zeitpunkt kommen müsse, wo neue Gedanken bei mir nicht mehr zum Vorschein kommen könnten; die Vorstellung ist natürlich völlig absurd, da das menschliche Denken unerschöpflich ist und z.B. das Lesen eines Buches, einer Zeitung usw. stets neue Gedanken anregt. Der erwähnte Kunstgriff bestand darin, daß, sobald ein bereits früher einmal in mir entstandener und daher schon aufgeschriebener Gedanke wiederkehrte – eine solche Wiederkehr ist natürlich bei sehr zahlreichen Gedanken ganz unvermeidlich, z.B. etwa früh der Gedanke ›jetzt will ich mich waschen‹ oder beim Klavierspielen ›das ist eine schöne Stelle‹ usw. – man nach Wahrnehmung des betreffenden Gedankenkeims den heranziehenden Strahlen ein ›Das haben wir schon‹ (gesprochen: ›hammirschon‹) scil. aufgeschrieben, mit auf den Weg gab, womit auf eine schwer zu beschreibende Weise die Strahlen gegen die anziehende Wirkung des in Rede stehenden Gedankens unempfänglich gemacht wurden.«126 Schreber steht unter einer äußerst starken nervlichen Belastung und hört »das ebenso blödsinnige als schamlose Gewäsch der Stimmen« jahrelang mit unverminderter Intensität. Diese »geistige Tortur« besteht in den begleitenden Einsprüchen der Strahlenstimmen, im »Eingehen des ›das hammirschon‹ bei der Wiederkehr früherer Gedanken«. Der Empfang dieser ständigen Kommentare

gendwelche modern klingende und darum an das Lächerliche anstreifende Bezeichnungen zu ersetzen.« (Schreber 1903a, 84) Eine Bemerkung, die umso mehr auf manchen Wissenschaftsjargon zutrifft. 126. Schreber 1903a, 93f. 403

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wird zur »Geduldsprobe« für Schreber, ja das ganze »Aufschreibesystem« zu einem Marterinstrument.127 Dem unerhörten Ansinnen Gottes und der Strahlen kann die Schrebersche Seele nur deswegen widerstehen, weil auch ihr eine Unerschöpflichkeit zugesprochen wird: Somit scheitert die eine Unendlichkeit an der anderen, Gottes Strahlen an dem »möglichen Gedankenvorrath« Schrebers. Der Versuch einer Anwendung von Zwangsmitteln gegen Schreber deutet allerdings darauf hin, daß Schreber gerade im Aufschreiben seiner Gedanken einen Verlust an Lebenskraft und an der Fähigkeit zu neuen Gedanken wähnt, der er sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu widersetzen versucht. Die Unmöglichkeit einer gedanklichen Auszehrung liegt für Schreber in der unerschöpflichen, durch die weitergehende Erfahrung angeregten Gedankenproduktion aller menschlichen Seelen. Damit erweist sich letztlich die Ohnmacht Gottes gegenüber Schreber, ja die Unangemessenheit der angewendeten Mittel: das Aufschreiben zeigt sich als untauglich, das Aufzuschreibende zu erschöpfen

Schreiben und »Grundsprache« als Gegenwehr Angesichts der Bedrohung durch göttliche Strahlen und das Aufschreibesystem braucht Schreber aber nicht untätig zu bleiben. Er betrachtet sein eigenes Schreiben als das geeignetste Mittel, sich gegen Gott zur Wehr zu setzen: »Denn dem schriftlichen Gedankenausdruck gegenüber erweisen sich alle Wunder macht los«.128 Der statuarische Charakter der einmal gesetzten Schrift, d.h. ihre Unverrückbarkeit, erinnert an das Gesetz, dem sich alle Subjekte gleichermaßen zu unterwerfen haben, wie es das Ideal der Gesetzgebung und Rechtsprechung vorsieht. Die Fixierung der Gesetze in schriftlicher Form als eine Voraussetzung ihrer Unveränderlichkeit enthält jedoch von Anfang an die Möglichkeit der Manipulation, der Umschrift, der Novellierung. Und so schützen sich die Individuen vor dem Vergessen des jeweils gültigen Gesetzes durch die wiederholte Lektüre des Aufgezeichneten. Vor diesem Hintergrund läßt sich formulieren, daß Schreber sich in seinen »Aufzeichnungen« sein eigenes Gesetz gibt – ein Gesetz seiner eigenen Schreibpraxis, in dessen Schatten es ihm möglich ist, sogar Gott zu trotzen. Schreber beginnt also zu schreiben, Tagebuch zu führen, »schriftliche Aufzeichnungen zu machen«: »Die Aufzeichnungen bestanden zunächst nur in zusammenhangloser Niederschrift einzelner Gedanken oder Stichworte; später […] begann ich geordnete Tagebücher zu halten, in welche ich alle meine Erlebnisse eintrug; vorher […] hatte ich mich auf dürftige Notizen in einem kleinen Kalender beschränken müssen. Gleichzeitig machte ich schon damals die ersten Versuche, ein Brouillon meiner künftigen Memoiren zu entwerfen, deren Plan ich bereits damals gefaßt hatte. Dasselbe ist in einem braunen Hefte, betitelt

127. Vgl. Schreber 1903a, 94. 128. Schreber 1903a, 290; vgl. Weber 1973, 37. 404

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›Aus meinem Leben‹, enthalten und hat mir bei der Ausarbeitung der gegenwärtigen ›Denkwürdigkeiten‹ als eine willkommene Unterstützung meines Gedächtnisses gedient. Wer sich irgend für dieses – stenographisch geführte – Brouillon näher interessiren sollte, wird darin noch manche Stichworte finden, die ich in meine Denkwürdigkeiten nicht aufgenommen habe und welche dem Leser eine Vorstellung davon geben mögen, daß der Inhalt meiner Offenbarungen noch ein unendlich viel reicherer gewesen ist, als derjenige, den ich in dem beschränkten Raume dieser ›Denkwürdigkeiten‹ habe unterbringen können. Endlich habe ich […] in den dazu bestimmten kleinen Notizbüchern B, C und I die bereits […] erwähnten Betrachtungen oder kleinen Studien niedergelegt.« 129 Das Tagebuch, die Studien und die »Ausarbeitung der gegenwärtigen ›Denkwürdigkeiten‹« dienen »als eine willkommene Unterstützung meines Gedächtnisses«, wie Schreber sich ausdrückt, denn schließlich benutzt er die Schrift zur Abwehr göttlicher, gegen ihn gerichteter Wunder. Der ›schriftliche Gedankenausdruck‹ schiebt so der Auszehrung des »Gedankenvorraths« einen Riegel vor: Die Schrift fungiert für Schreber als eine absolute Fixierung, der nicht einmal Gott etwas anhaben kann. Schreber führt also eine Medientechnik, das Schreiben, gegen ein ganzes Medienverbundsystem, das »Aufschreibesystem«, ins Feld. Zudem setzt er sich als Autor, insofern er – z.B. mit Hilfe eines Buchstabensystems für seine Notizbücher – späteren Philologen Material zur Interpretation seines Werks und seiner Autorschaft an die Hand gibt. Damit ist jedoch nicht behauptet, daß Schreber zum souveränen Subjekt seines Wahns geworden wäre, der sich – in aller ›Freiheit‹ des Wahnsinns – gerade so auszudrücken verstünde, wie er, und nur er, es will. Da Paranoiker ›nur sagen, was sie sagen wollen‹ (wie schon Freud behauptete), handelt es »sich hier bei der paranoischen Sprache um einen reinen Diskurs des Willens«, denn sie können nicht zur Äußerung gezwungen werden und »lassen […] sich nicht auf den Dialog der Analyse ein«. Zugleich sagen sie aber »etwas anderes: denn sie verraten sich, und zwar noch mehr als die Neurotiker, gerade indem sie nur sagen, was sie sagen wollen. ›Allerdings in entstellter Form.‹«130 Es bleibt also eine Mehrdeutigkeit der Schrift (bzw. des Gesagten), die nahezu unabhängig vom Subjekt der Artikulation immer auch von woanders her bestimmt wird, nicht zuletzt durch den Akt der Lektüre (des Lesers, des Psychiaters, des Psychoanalytikers). Um diese als Text vorliegende Polysemie und die durch assoziative Verknüpfung zu einem Bedeutungsgewebe verflochtene Textur zu verdeutlichen, seien zwei Beispiele erwähnt, an denen sich die wechselseitige Kontamination mit Bedeutung zeigt: (1) Schreber ist Schreiber und Schreier – die Person mit dem Familiennamen Schreber schreibt natürlich schon zuvor, als Jurist (Schriftsätze), entwickelt sich jedoch zum Schriftsteller und fängt als Patient an zu schreien (Brüll-

129. Schreber 1903a, 136. 130. Weber 1973, 19. 405

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

wunder).131 (2) Auf die Frage: »Was haben Sie denn da am Munde?«132 läßt sich die Kette von Worten aus dem Schreberschen Text Munde – Wunde – Wunder(n)133 ablesen, die in ihrer Vielschichtigkeit von assoziativen Verbindungen zum Ganzen des Schreberschen Wahns als eine Antwort im weiteren Sinne aufgefaßt werden kann, denn schließlich gibt es einen plausiblen Zusammenhang zwischen dem Mund als dem Ort der akustischen Sprachproduktion beim Menschen, den Wunden, die die Sprache als symbolische Ordnung den sozialisierten Individuen schlägt, und den Wundern, welche die Wahnwelt Schrebers in so reichhaltiger Weise bevölkern.134 Ohne dies weiter zu untersuchen, mag hierin die komplexe, sprachvermittelte Gedächtnisarbeit gesehen werden, in der noch das Entlegendste nur aufgrund einer Wort-Ähnlichkeit miteinander verknüpft werden kann. In diesem Verwirrspiel entzieht sich Schreber der Eindeutigkeit.135 Es gibt allerdings noch einige speziellere Maßnahmen, die Schreber ergreifen kann, um sich gegen die Vereinnahmungen und die göttlichen Anfechtungen zu behaupten: »›Nicht an bestimmte Körpertheile denken‹, lautete eine Lebensregel, welche offenbar den Gedanken zum Ausdruck brachte, daß es der normalen gesundheitlichen Verfassung des Menschen entspricht, wenn derselbe keine Veranlassung hat, durch irgend welche Schmerzempfindungen sich einzelner Theile seines Körpers zu erinnern.« 136 Diese Denkanweisungen lassen sich als Gedächtnisregeln, als Handhabungsanweisungen für das Erinnerungsvermögen137, verstehen, deren vornehmster Zweck138 für Schreber die Vermeidung von Schmerz und Unglück ist.

131. »Er lauscht also nicht nur: er schreibt. Kurz danach tritt ein neues Moment dazu: er schreibt nicht nur, er schreit.« (Weber 1973, 24) 132. Schreber 1903a, 203. 133. Weber 1973, 52ff., bes. 54f. 134. Dies knüpft an Freuds und Lacans Überlegungen an, in der Psychose liege eine spezifische Störung der Sprache vor, nämlich der Ausfall der väterlichen Metapher im Mechanismus der Verwerfung, die zu einer unerwarteten Wiederkehr im Realen führe (vgl. Freud 1911, 193f.; Lacan 1956, bes. 88ff. u. 171ff.). 135. Man kann dies als passende Beispiele für die Logik der Assoziation ansehen, wie sie in der Tradition der Assoziationspsychologie gefunden werden können (vgl. Kap. 3). 136. Schreber 1903a, 115. 137. Die verneinende Formulierung im Schreber-Text führt allerdings geradewegs in die Paradoxien des absichtlichen Vergessens von etwas hinein, wie jenes berühmte »Lampe vergessen« Kants, das immer das, was es zu vergessen gilt, in Erinnerung ruft. (Vgl. hierzu Weinrich 1996, 11ff., dort auch ein Verweis auf Eco 1988) 138. Hier ließe sich natürlich auch medientheoretisch argumentieren: »Nur warum das ganze Aufschreibesystem rund um einen singulären Körper so prompt und präzise arbeitet, bleibt ungesagt. [Auch] Freud ist viel zu sehr auf den Zeugniswert des Empfan406

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Daß die Affektbezogenheit der seelischen Vorgänge von Schreber klar gesehen, ja mit äußerster Sorgfalt beobachtet, weil als Gefahrenquelle gefürchtet wird, wird aus seiner folgenden, in ›grundsprachlichen‹ – d.h. einer ursprünglichen Empfindungssprache zugehörigen – Ausdrücken139 gefaßten Analyse deutlich: »In dem Denkprozesse des Menschen unterschied man ›Entschlußgedanken‹ – die auf Vornahme einer bestimmten Thätigkeit gerichteten Willensanstöße des Menschen – ›Wunschgedanken‹, ›Hoffnungsgedanken‹ und ›Befürchtungsgedanken‹. Als ›Nachdenkungsgedanke‹ wurde die vielleicht auch dem Psychologen bekannte Erscheinung bezeichnet, die den Menschen sehr häufig dazu führt, diejenige Richtung seiner Willensbestimmung, zu welcher er sich im ersten Augenblicke geneigt zeigt, bei weiterer Erwägung, die unwillkürlich das Auftauchen von Zweifelsgründen veranlaßt, entweder in ihr völliges Gegentheil zu verkehren oder wenigstens theilweise zu verändern. ›Der menschliche Erinnerungsgedanke‹ wurde diejenige andere Erscheinung genannt, nach welcher der Mensch unwillkürlich das Bedürfniß empfindet, irgend einen wichtigen von ihm gefaßten Gedanken durch alsbald erfolgende Wiederholung seinem Bewußtsein fester einzuprägen. – Sehr charakteristische Erscheinungsformen des ›menschlichen Erinnerungsgedankens‹, welche erkennen lassen, wie tief derselbe im Wesen des menschlichen Denkund Empfindungsprozesses begründet ist, sind z.B. in dem in Gedichten vorkommenden Kehrreim (Refrain) enthalten und treten ebenso in musikalischen Kompositionen zu Tage, wo ganz regelmäßig eine bestimmte Tonfolge, die eine dem menschlichen Empfinden zusagende Verkörperung der Schönheitsidee enthält, in demselben Tonstück nicht bloß einmal vorkommt, sondern zu alsbaldiger Wiederholung gelangt.«140 Das Denken und Vorstellen ist demnach kein neutrales, gleichgültiges Geschehen für das Subjekt, vielmehr handelt es sich im ursprünglichen Sinne immer auch um Emotionen, Bewegungen des Gemüts, die zugleich mit Absichten, Wünschen, Bestrebungen verschiedener Art verbunden sind. Der Denkende wird durch einen gleichsam mitlaufenden Kommentar zu der einen oder anderen geistigen Tätigkeit veranlaßt, z.B. zur Wiederholung eines einmal gefaßten Gedankens (durch den sog. ›Erinnerungsgedanken‹).141 All diese parallelen Gedanken

genen [der Text-Körper Schrebers] aus, um auch noch die Logik der Kanäle zu untersuchen. […] Im Wettlauf um das Körperwissen fällt also die Frage aus, welche Wissenskanäle den Körper selber bilden.« (Kittler 1985, 299) Ohne die zugrundeliegenden Medientechniken zu analysieren, bleibt also jede (Psycho-)Analyse naiv. 139. Schreber 1903a, 117. 140. Schreber 1903a, 116. 141. Schreber knüpft hier an einen gängigen Sprachgebrauch an, der das Erinnern als einen Auftrag oder eine Aufforderung versteht, etwas in der Zukunft zu tun, was man sich schon jetzt vornimmt: »Erinnerst Du mich später daran, daß…« Falls niemand anderer diese Rolle übernehmen kann, versucht man sich selbst den entsprechenden Gedanken einzuprägen, indem man ihn jetzt mehrfach wiederholt, um für später die Gewähr zu erlangen, daß man sich noch an ihn erinnert. 407

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gehören quasi zu einer doppelten Buchführung des Geistes142, die eingesetzt wird, um Schreber entweder zu verwirren oder auszuzehren. Die Mittel, die zur Anwendung gelangen, sind keineswegs immer neu. Schreber weist selbst darauf hin, daß in der Lyrik und in der Musik die Wiederholung ein wichtiges ästhetisches Mittel ist. Aber diese Mittel, die anregen und Aufmerksamkeit auf sich lenken können, verbrauchen sich auch: »Eine ganz andre Bedeutung erhielten die Redewendungen von der ›Seelenauffassung‹ in der späteren Zeit. Sie sanken zu bloßen Floskeln herab, mit denen man bei dem vollständigen Mangel eigener Gedanken […] dem Sprechbedürfnisse zu genügen suchte. ›Vergessen Sie nicht, daß Sie an die Seelenauffassung gebunden sind‹ und ›das war nun nämlich nach der Seelenauffassung zuviel‹ wurden beständig wiederkehrende leere Phrasen, mit denen man mich seit Jahren in tausendfältiger Wiederholung in nahezu unerträglicher Weise gequält hat und noch quält. Die letztere Phrase, die fast regelmäßig erfolgende Erwiderung, wenn man auf irgend einen neu bei mir hervortretenden Gedanken etwas Weiteres nicht zu sagen weiß, läßt auch in ihrer wenig geschmackvollen stylistischen Fassung den eingetretenen Verfall erkennen; die ächte Grundsprache, d.h. der Ausdruck der wirklichen Empfindungen der Seelen zu der Zeit, als es noch keine auswendig gelernten Phrasen gab, war auch in der Form durch edle Vornehmheit und Einfachheit ausbezeichnet.«143 Neben der These einer ursprünglichen ›lingua mentis‹, wie sie vielleicht auch Giambattista Vico144 vor Augen hatte, wird deutlich, daß Schreber einen starken Gegensatz aufbaut zwischen einem reinen, »durch edle Vornehmheit und Einfachheit«145 gekennzeichneten Zustand des Geistes, der noch ganz von der »ächte[n] Grundsprache« beherrscht war, und seinem jetzigen verwirrenden, unausgeglichenen, bedrohlichen Geisteszustand. Nebenbei bemerkt: Nicht erst Kittler, sondern schon Freud hatte terminologische Anleihen bei den Denkwürdigkeiten Schrebers gemacht. Um die Herkunft der Symbolik des Traums zu charakterisieren, übernimmt er den Ausdruck »Grundsprache«, »von welcher all diese Symbolbeziehungen die Überreste wären.«146 Auch innerhalb psychoanalytischer Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit zu einer Chronologie, genauer: einer Genealogie, einem erzählbaren Nacheinander der Entwicklung komplexer psychi-

142. »Ich bewahre ferner Erinnerungen in meinem Gedächtnisse, deren Eindruck ich nur im Allgemeinen dahin bezeichnen kann, daß es mir so ist, als ob ich selbst eine Zeit lang noch in einer zweiten, geistig minderwerthigen Gestalt vorhanden gewesen sei.« (Schreber 1903a, 54) 143. Schreber 1903a, 117. 144. Vgl. Hösle 1990, XCII, der von »Vicos Rekonstruktion der archaischen forma mentis« spricht. 145. Wir hören das Winckelmannsche Echo, mit dem Schreber nichts als das Ideal klassischer Ästhetik zu Hilfe ruft. 146. Freud 1916-17, 175. 408

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scher Strukturen, die nicht von Anfang an gegeben sein können. Allerdings ergibt sich auch hier eine ursprüngliche, nur paradox zu bestimmende Beziehung, die Freud einmal als »Gegensinn der Urworte«, ein andermal als Zeit- und Widerspruchslosigkeit des Unbewußten anspricht. Im Traum tritt etwas dieser archaischen Verhältnisse an die Oberfläche: »Die Symbolbeziehung wäre der Überrest der alten Wortidentität; Dinge, die einmal gleich geheißen haben wie das Genitale, könnten jetzt im Traum als Symbole für dasselbe eintreten.«147 Dieser Rückbezug, auf den die psychoanalytische Deutung setzt und der nur als Konstruktion zu haben ist, eröffnet keine einfache Auflösung der unübersichtlichen Traumphänomene, wie die Traumdeutung vorführt, sondern erhöht die Gestaltungsmöglichkeiten des Traums um eine weitere Dimension. Damit leistet dieser Rekonstruktionsvorschlag alles andere als die Herstellung einfacher Verhältnisse. Obwohl Schreber einen weltordnungsmäßigen Zustand anstrebt, verfällt er in seiner Bedrängnis auf eben diese Mittel, die er als quälenden Verfall der Grundsprache diagnostiziert hat, um sich wenigstens ein Stückchen seiner selbst zu bewahren und nicht gänzlich von den fremden Gedanken und Strahlen, den anderen Stimmen und Worten verzehrt zu werden: »Ich habe manchmal fast stundenlang Knoten in die vier Ecken meines Taschentuchs geschlungen und wieder aufgelöst, sowie theils vom Bette aus, theils im Herumgehen laut sprechend irgend welche Erinnerungen aus meinem Leben vorgetragen, laut namentlich Französisch gezählt […] irgend Etwas von meinen geschichtlichen und geographischen Kenntnissen zum Besten gegeben«.148 All dies kann auch als Versuch angesehen werden, etwas von dem zu bewahren, was er war oder glaubt, gewesen zu sein. Dabei ist es vielleicht nicht so wichtig, ob er sich tatsächlich als derselbe bewahren kann, der er war, also sich seiner Identität über die persönlichen Erinnerungen zu vergewissern, als vielmehr, daß er durch die von ihm selbst gesetzten Aktivitäten und die Beschäftigungen seines Geistes etwas von seiner geistigen Unabhängigkeit bewahren kann bzw. – was auf dasselbe hinausläuft – etwas von seinem Geist dem Zugriff der fremden Strahlen entziehen kann, so stumpfsinnig die Beschäftigungen auch sein mögen. Egal, wie der Kampf zwischen ihm und Gott endet, Schreber wird als ein anderer aus ihm hervorgehen. In ähnlich hartnäckiger Weise verhält sich Schreber zu der Geschichte seines Wahns, zu den merkwürdigen Erlebnissen, die er während seiner Krankheit hat-

147. Freud 1916-17, 176. Dies läuft allerdings nicht auf den naheliegenden Kurzschluß einer Reduktion des gesamten Traumphänomens auf eine ursprüngliche Symbolik hinaus. Vielmehr muß die Deutung das komplexe Ineinandergreifen verschiedener Momente des Traumgeschehens berücksichtigen: »Die Symbolik ist also ein zweites und unabhängiges Moment der Traumentstellung neben der Traumzensur.« (Freud 1916-17, 177) 148. Schreber 1903a, 139. 409

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te, bis hin zu den scheinbaren Belanglosigkeiten, die gewisse Wortprägungen darstellen, welche sich im Laufe der Zeit bei ihm eingestellt haben: »Mag dies auch für andere Leser von geringem Interesse sein, so ist es doch für mich von Werth, mir diese Bezeichnungen im Gedächtniß zu bewahren und damit die meist schreckensvollen und grausigen Erinnerungen, die sich für mich damit verknüpfen, frisch zu erhalten.«149 Dieses Festhalten am Gedächtnis, an seinem eigenen Gedächtnis, setzt sich bis ins Schreiben fort, dem Gipfel des Widerstands gegen Gott: Denn laut Schreber vermag dieser ja nichts gegen den »schriftlichen Gedankenausdruck«. Schrebers Motiv ist die Angst davor, die »Intelligenz« einzubüßen oder »ebenfalls völlig gedankenlos« zu werden. Diese Gedankenlosigkeit entspricht dem Zustand der ganz dem Genießen hingegebenen Seelen, »denn die Seelen kennen nun einmal ihrer Natur nach keine Sorge für die Zukunft, sondern lassen sich am jeweiligen Genusse genügen. Ins Menschliche übersetzt würde das ›Je-nun‹ der Flechsig’schen Seele also etwa bedeutet haben ›Ich kümmere mich den Teufel um die Zukunft, wenn ich mich nur für den Augenblick wohl befinde.‹«150 Das Festhalten am eigenen Gedächtnis hat also systematischen Stellenwert für Schreber, da er sich so vor Gedankenlosigkeit am besten zu schützen vermag und sich zugleich vor dem selbstvergessenen Genießen bewahrt, welches seinen Widerstand zunichte machen würde.151 Subjektivität im Schreberschen Sinne steht also zwischen einem Zuviel, das ebenso eine reine Abwesenheit markiert, und einem Mindesten, das immer auch zuwenig ist: dem »selbstvergessenen Genießen« ohne Verstand und der Leidenschaft des Genießens, die dem Willen und dem Begehren verpflichtet bleibt.

Schrebers »Zeichnen« und »Wundern« In Verbindung mit der Sorge um Selbstbehauptung, ja um eine »weltordnungsmäßige«152 Entwicklung erläutert Schreber das sog. »›Zeichnen‹« wie folgt: »Wahrscheinlich weiß kein Mensch außer mir und ist es namentlich auch der Wissenschaft unbekannt, daß der Mensch alle Erinnerungen, die in seinem Gedächtnisse noch haften, vermöge der den Nerven davon verbliebenen Eindrücke, gewissermaßen wie Bilder in seinem Kopfe mit sich herumträgt. Diese Bilder sind in meinem Falle, wo die Beleuchtung des inneren Nervensystems durch Strahlen geliefert wird, einer willkürlichen

149. Schreber 1903a, 134. 150. Ebd. 151. Hier zeichnet sich eine andere Gestalt der Angst ab, die Zukunftsangst, die als überzogene Sorge um die Gesundheit und die geradlinige Entwicklung des kindlichen Körpers schon Schreber sen. umtrieb (vgl. hierzu Pazzini 1992, 159-170). Pazzini spricht von »Verkrümmungsangst«, was allerdings nicht einfach als Eintrag im Kapitel »Schwarze Pädagogik« verstanden werden dürfe (Pazzini 1992, 163). 152. Schreber 1903a, 37. 410

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Reproduktion fähig, in der eben das Wesen des Zeichnens besteht. […] ›Das Zeichnen (im Sinne der Seelensprache) ist der bewußte Gebrauch der menschlichen Einbildungskraft zum Zwecke der Hervorbringung von Bildern (und zwar vorwiegend Erinnerungsbildern) im Kopfe, die dann von Strahlen eingesehen werden.‹« 153 Es wäre interessant, den zeichen- und zeichnungstheoretischen Implikationen des Schreberschen Denkens noch genauer nachzugehen, worauf hier jedoch verzichtet werden muß. Worauf es hier ankommt, ist das Interesse Schrebers an den Möglichkeiten der Leistungen, des Gebrauchs und der Täuschung der Einbildungskraft. Davon ausgehend läßt sich sagen, daß Schrebers Erwägungen über die nervlich-seelischen Funktionen der »willkürlichen Reproduktion«, ihren »bewußte[n] Gebrauch« und ihren Effekt in Form einer »Beleuchtung des inneren Nervensystems durch Strahlen« ebenso in der Reihe der Gründe für wie der Einwände gegen die Selbstbehauptung stehen. Schrebers Selbstbehauptung gipfelt denn auch, vermöge des Zeichnens, in halluzinativen Allmachtsphantasien: »Ich vermag von allen Erinnerungen aus meinem Leben, von Personen, Thieren und Pflanzen, von sonstigen Natur- und Gebrauchsgegenständen aller Art durch lebhafte Vorstellung derselben Bilder zu schaffen mit der Wirkung, daß dieselben in meinem Kopfe oder auch je nach meiner Absicht außerhalb desselben, sowohl für meine eigenen Nerven, als für die mit denselben in Verbindung stehenden Strahlen da, wo ich die betreffenden Dinge wahrgenommen wissen will, sichtbar werden. Ich vermag das mit Wettererscheinungen und anderen Vorgängen zu thun; ich kann es beispielsweise blitzen oder regnen lassen – eine besonders wirksame Zeichnung, da alle Wettererscheinungen und namentlich der Blitz den Strahlen als Aeußerungen der göttlichen Wundergewalt gelten;

153. Schreber 1903a, 159. Und in der dazugehörigen Fußnote erläutert Schreber den Gegensatz mit Hilfe der gewöhnlichen Bedeutung des Zeichnens: »Das Zeichnen im menschlichen Sinne ist das Darstellen irgendwelcher Gegenstände auf einer Fläche (im Gegensatz von körperlicher, plastischer Darstellung) farblos (im Gegensatz zur Malerei; oder man kann auch sagen das Malen ist ein Zeichnen in Farben), und zwar entweder bloßes Abzeichnen (nach der Natur Zeichnen) d.h. Wiedergabe von Gegenständen, die in der Außenwelt wirklich gesehen worden sind, wobei dann also die menschliche Einbildungskraft außer Spiel bleibt, oder ein Schaffen von Bildern in der Außenwelt noch nicht vorhandener Gegenstände, entweder zu rein künstlerischen Zwecken (Darstellung des Schönen, um sich und andere Menschen zu erfreuen) oder zu praktischen Zwecken, d.h. um diesen Bildern entsprechende Gegenstände dann wirklich herzustellen (Modell, Bauskizze u. s. w.), letzterenfalls also ein Walten der Einbildungskraft ([...] das deutsche Wort läßt den Begriff des ›etwas in den Kopf oder das menschliche Bewußtsein Hineinbildens,‹ was außerhalb nicht vorhanden ist, deutlich erkennen, daher auch als Aeußerung einer krankhaften Einbildungskraft das ›Sicheinbilden‹ (Vorgaukeln von Dingen Hoffnungen u.s.w.), die sich nicht verwirklichen lassen, als Motiven eines unzweckmäßigen, verkehrten Handelns.« (Schreber 1903a, 159f., Fn. 98) 411

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ich kann etwa ein Haus unterhalb der Fenster meiner Wohnung brennen lassen usw. usw., Alles natürlich nur in meiner Vorstellung, so jedoch, daß die Strahlen, wie es mir scheint, davon den Eindruck haben, als ob die betreffenden Gegenstände und Erscheinungen wirklich vorhanden wären. Ich kann mich selbst an anderer Stelle, als wo ich mich wirklich befinde, z.B. etwa während ich am Klavier sitze, gleichzeitig als in weiblichem Aufputz im Nebenzimmer vor dem Spiegel stehend ›zeichnen‹; ich kann […], wenn ich in der Nacht im Bette liege, mir selbst und den Strahlen den Eindruck verschaffen, daß mein Körper mit weiblichen Brüsten und weiblichem Geschlechtstheil ausgestattet sei.«154 Das Zeichnen ähnelt in gewisser Weise dem Wundern Gottes: Beides ist eine Art magisches Erzeugen. Während jedoch die Wunder Gottes etwas zur Existenz bringen oder existieren lassen, also für Schreber so in Erscheinung treten lassen, daß sie wie von ihm unabhängige Gegenstände oder Personen da sind, handelt es sich beim Zeichnen Schrebers um ein bloß vorstellungsmäßiges Erscheinenlassen, das jedoch seines privaten, rein subjektiven Charakters entkleidet ist und eben zugleich auch die Strahlen den Eindruck von Wirklichkeit gewinnen läßt. Damit setzt sich das Täuschungsthema fort: So wie Gott – durch Wundern – Schreber Wahrnehmungen aufnötigen kann, die als Teil seiner Realität erscheinen, so vermag Schreber die Strahlen zu betrügen, indem er aus dem Gedächtnis schöpft, wodurch ihm jederzeit ein unabhängiges Reservoir zur Verfügung steht, mit dem er sich zeichnend zur Wehr setzen kann. Wenn auch Schreber an der Behauptung der Wirklichkeit der durch Zeichnen gemachten Erscheinungen durchaus zweifelt155, meint er doch zumindest den Glauben an die so erzeugten Dinge bei den Strahlen hervorrufen zu können. Damit geraten diese Gottesabkömmlinge prinzipiell in dieselbe Lage wie Schreber, nicht über den Realitätsgehalt oder den Wirklichkeitsgrad der wahrgenommenen Erscheinungen entscheiden zu können. Das Zeichnen ist ein Wundern, aber mit umgekehrtem Vorzeichen: »Das ›Zeichnen‹ in der vorstehend entwickelten Bedeutung glaube ich hiernach mit Recht im gewissen Sinne ein umgekehrtes Wundern nennen zu dürfen. Gerade so wie durch Strahlen namentlich in Träumen gewisse Bilder, die man zu sehen wünscht, auf

154. Schreber 1903a, 160. 155. Schreber zitiert Emil Kraepelin (Kraepelin 1883, 145), eine der damaligen maßgeblichen Autoritäten der Psychiatrie, um nicht als verrückt oder geisteskrank klassifiziert zu werden. »›Urtheilsschwäche‹« (Schreber 1903a, 58) träfe auf ihn nicht zu, denn Sinnestäuschung sei eigentlich nur bei Glaubenden möglich, nicht bei ihm, Schreber, dem Zweifler an Gott. »Ich glaube bewiesen zu haben, daß bei mir nicht bloß eine ›gedächtnißmäßige Beherrschung feststehender Gedankenreihen und früher erworbener Vorstellungen‹ vorliegt, sondern daß auch die ›Fähigkeit zu kritischer Berichtigung des Bewußtseinsinhaltes mit Hülfe von Urtheil und Schluß‹ (Kraepelin 1883, 146) in voller Schärfe vorhanden ist.« (Schreber 1903a, 58, Fn. 42) 412

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mein Nervensystem geworfen werden, bin ich umgekehrt in der Lage, den Strahlen meinerseits Bilder vorzuführen, deren Eindruck ich diesen zu verschaffen beabsichtige.« 156 Schreber versetzt sich kurzerhand in die Position Gottes bzw. stattet sich mit göttlichen Fähigkeiten aus. Das Zeichnen wird sogar zu einer »wahrhaften Erquickung«: »Wie große Freude hat es mir gemacht, von allen meinen Reiseerinnerungen die landschaftlichen Eindrücke meinem geistigen Auge wieder vorführen zu können und zwar manchmal – bei günstigem Verhalten der Strahlen – in so überraschender Naturtreue und Farbenpracht, daß ich selbst und wohl auch die Strahlen nahezu denselben Eindruck hatten, als ob die betreffenden Landschaften da, wo ich sie gesehen wissen wollte, auch wirklich vorhanden wären.«157 Mit der täuschenden Beeinflussung der Strahlen geht – im günstigen Falle – eine Selbststimulierung einher. Schreber hat so die Möglichkeit, sich wenigstens vorstellungsmäßig nach Belieben Lust zu verschaffen.158 Da jedoch in Schrebers Welt alles mit allem zusammenhängt, hat sein Zeichnen auch einen quasi therapeutischen Wert für die Strahlen(wirkung): »Das Sehen von Bildern wirkt […] reinigend auf die Strahlen, sie gehen dann ohne die ihnen sonst anhaftende zerstörende Schärfe bei mir ein.«159 Schreber gelingt es sogar, sich Ruhe zu verschaffen, indem er sich dem Genuß hingibt, denn »hochgradige Wollust geht nämlich zuletzt – vielleicht ist dies der medizinischen Wissenschaft bekannt – in Schlaf über.«160 Was freilich bleibt, sind die Zweifel, die sich schon gar nicht durch den Rückgriff auf das Gedächtnis beseitigen lassen. Der Wirklichkeitsverlust wird eher noch verschärft, denn auch das Gedächtnis ist nichts weiter als eine zusätzliche Quelle möglicher Vorstellungen, die ebensowenig wie andere Quellen als solche schon verläßlich sind: »Es wurde nicht nur an Menschengestalten, sondern auch an leblosen Gegenständen gewundert. So skeptisch ich mich auch jetzt bei Prüfung meiner Erinnerungen zu verhalten

156. Schreber 1903a, 160. 157. Schreber 1903a, 161. 158. Schreber gibt sich allerdings, nach seiner »Entmannung«, auch oft der, wie er es nennt, »Pflege der Weiblichkeit« hin: »Ich habe seitdem die Pflege der Weiblichkeit mit vollem Bewußtsein auf meine Fahne geschrieben […]. Ich möchte auch denjenigen Mann sehen, der vor die Wahl gestellt, entweder ein blödsinniger Mensch mit männlichem Habitus oder ein geistreiches Weib zu werden, nicht das Letztere vorziehen würde.« (Schreber 1903a, 124) 159. Schreber 1903a, 162. Das Zeichnen wird aber wiederum von Strahlenseite aus mit »Gegenwundern« (ebd.) beantwortet und gestört. 160. Schreber 1903a, 124. 413

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versuche, so kann ich doch gewisse Eindrücke aus meinem Gedächtnisse nicht verwischen, nach denen auch Kleidungsstücke auf dem Leibe der von mir gesehenen Menschen, die Speisen auf meinem Teller während des Essens (z.B. Schweinsbraten in Kalbsbraten oder umgekehrt) verwandelt wurden etc. Eines Tages sah ich – am hellen Tage – vom Fenster aus – unmittelbar vor den Mauern des Gebäudes, das ich bewohnte, einen prachtvollen Säulenbau entstehen, gleichsam als ob das ganze Gebäude in einen Feenpalast umgewandelt werden sollte; das Bild verschwand später wieder, angeblich weil das beabsichtigte, göttliche Wunder in Folge Flechsig’scher und von W.’scher Gegenwunder nicht zur Vollendung gelangte; in meinem Gedächtnisse steht das Bild noch jetzt in voller Deutlichkeit vor mir.«161 Seine Erinnerungen geben ihm Grund zu erneutem Zweifeln, denn sie erscheinen ihm genauso eindrücklich, überzeugend und ›wirklich‹ wie andere, aktuelle Wahrnehmungen: Subjektiv findet Schreber sich in einer Ununterscheidbarkeit zwischen Phantasie und Wirklichkeit, zwischen Halluzination und Realitätswahrnehmung. So mag seine Schreibpraxis für ihn ein Moment der Unverrückbarkeit repräsentieren, an der kein Wundern etwas zu ändern vermag.

Der Wunsch zu überleben und der testamentarische Charakter der Schrift Wenn das »Aufschreibesystem« als ›äußerliches‹ eher einem Aufgeschriebenwerden und einem dadurch bewirkten Lebensentzug Schrebers entspricht, so markieren Schrebers eigenes Schreiben und seine handgeschriebenen Denkwürdigkeiten einen ›inneren‹ Akt des Widerstands, einen Akt der Lebendigkeit wie der Verteidigung, auch des Überlebens, auf geistiger und körperlicher Ebene. Noch als publizierte Druckschrift erfüllen die Denkwürdigkeiten einen Zweck im Rahmen der Rettung Schrebers: Sie werden ihn tatsächlich, wenn auch nicht zu Lebzeiten, berühmt machen und ihm einen Namen verschaffen. Zu einer Art psychiatrischer Unsterblichkeit hätte er es damit immerhin gebracht, ein meistzitierter Paranoiker, der, zu einem Paradefall der Wissenschaft geworden, zugleich als einer ihrer Säulenheiligen fungierte. Damit haben andere seinen Wunsch erfüllt162 und erfüllen ihn mit jedem Zitat weiterhin. Nicht nur den psychoanalytischen Deutungsversuchen, sondern aller möglichen Zitattradition ist Schreber immer um einen Zug voraus – um den seiner Schrift: »Er hatte wohl vermutet, daß die Anatomen an seinem Körper, wenn er erst einmal tot ist, nichts Denkwürdiges würden finden können, etwas, das einer neuen Erkenntnis dienlich sein könnte. Wenn es etwas zu entdecken gäbe, dann zu Lebzeiten. Deshalb trans-

161. Schreber 1903a, 77. 162. Nämlich ›mit allen erdenklichen Mitteln eines ernsten, weiter zu verfolgenden wissenschaftlichen Problems‹ (Schreber 1903a, 6f.). 414

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poniert er seinen Körper zum Korpus, verschriftet ihn, bringt ihn als Buch an die Öffentlichkeit. Von nun an ist Schreber mit Text präsent.«163 Was Schreber so erreicht, ist eine Präsenz post mortem: Schrift und Buch erweisen sich als (virtuelle) Überlebensmittel, die einen Wunsch Schrebers im Raum der Schrift verwirklichen. Somit stellt der Text als Körper bzw. Verkörperung nicht nur eine Voraussetzung der psychoanalytischen Deutung dar, sondern auf uneinholbare Weise Schrebers Wunsch: sich ein unvergängliches Gedächtnis zu machen. Er löst diesen Wunsch auf eine paradoxe Weise ein, die in der Alltäglichkeit heutiger Schreibpraxis nahezu unkenntlich wird – wird es doch zumeist nicht als erstaunlich angesehen, daß aller Schriftverkehr nicht das zu leisten imstande ist, was mitunter von ihm erwartet wird, nämlich daß sich jemand mitteilt.164 Es ist und bleibt jedoch unmöglich, vollständig ins Medium einzugehen, ganz Schrift zu werden, um dort, im Reich der Zeichen, selbst fortzuleben. Ein Fortleben kann immer nur in metaphorischer Weise behauptet werden, und so »lebt« der Schreiber allein im Gedächtnis der anderen fort. Damit ist dem Gedächtnis eine objektive Grenze gesetzt, eine Grenze, die mit der Lebensfähigkeit, d.h. insbesondere mit der Auffassungsgabe und Ausdrucksmöglichkeit von lebenden Wesen in eins fällt, sofern es immer noch irgend jemandes bedarf, um zu erinnern, denn erst mit dem Erinnern erfüllt sich die Funktion von Gedächtnis.

5.3 Die Darstellung des psychischen Apparats als Erscheinung der Schrift. Freuds »Notiz über den ›Wunderblock‹« (1925) Freuds berühmte Notiz aus dem Jahre 1925 nimmt eine Spur auf und geht ihrer Fährte nach, die sich durch das gesamte Denken Freuds verfolgen läßt. Mit Jacques Derrida, einem der genauesten und tiefgründigsten Kommentatoren dieses kleinen Textes, läßt sich sagen, daß Freud hier einem Denken der Schrift auf den Fersen ist, dessen philosophische Konsequenzen für den Autor der Notiz nicht absehbar waren, ja die vielleicht auch dem heutigen Leser nicht zur Gänze überschaubar werden.165 Durch den folgenden Textkommentar soll deshalb keine

163. Pazzini 1992, 202; vgl. Kittler 1985, 298. 164. Vgl. dazu auch Franz Kafkas einschlägige Bemerkung über das Schreiben von Briefen: »Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe miteinander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft! Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken« (Franz Kafka an Milena Jesenská, Ende März 1922, in: Kafka 1952, 316; vgl. hierzu Vedder 2002). 165. Derrida 1966. 415

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erschöpfende Auslegung, sondern eine gezielte Lektüre dargelegt werden, die v.a. die Frage des Verhältnisses von Gedächtnis, Wahrnehmung und Bewußtsein fokussiert.

Gedächtnis, Aufzeichnung, Lektüre Freud interpretiert den Wunderblock als anschauliches Modell für zwei Hauptfunktionen des psychischen Apparats: Für Gedächtnis und Wahrnehmungsbewußtsein (W-Bw) sucht er eine theoretische, metapsychologisch befriedigende Darstellung. Sein Text führt allerdings in die Problematik des psychischen Apparats über praktisch-alltägliche Fragestellungen ein: »Wenn ich meinem Gedächtnis mißtraue – der Neurotiker tut dies bekanntlich in auffälligem Ausmaße, aber auch der Normale hat allen Grund dazu –, so kann ich dessen Funktion ergänzen und versichern, indem ich mir eine schriftliche Aufzeichnung mache.«166 Die Selbstverständlichkeit des Alltäglichen wird mit dem ersten Halbsatz in Zweifel gezogen, während der folgende Einschub das erwähnte Mißtrauen selber noch einmal verdächtig macht, indem dieses seinerseits in die Perspektive der Psychopathologie eingerückt wird; zugleich hält Freud aber an der Allgemeingültigkeit des Phänomens fest, indem – mit demselben Einschub – ebenso seine Normalität behauptet wird. Freud geht von einem nur graduellen Unterschied zwischen Normalität und Pathologie aus, was ihn bekanntlich eine Psychopathologie des Alltagslebens (1901) schreiben und die normativen Implikationen der Klassifikation sexueller Phänomene als natürlich oder pervers mit seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) in Zweifel ziehen ließ. Ausgehend vom Mißtrauen gegenüber dem eigenen Gedächtnis, so Freud, greift man also zum Schreibwerkzeug, um »dessen Funktion [zu] ergänzen und [zu] versichern«. Worin besteht diese Funktion? Offensichtlich im Erinnern. Was aber heißt Erinnern in diesem Kontext? Zunächst handelt es sich alltagspraktisch wohl darum, sich etwas zu merken, das später zu erledigen ist. Also geht es darum, wie schon Nietzsche es ausdrückte, sich ein Gedächtnis zu machen. Dabei spielt es zumeist keine Rolle, daß man sich an die vergangene Situation als solche erinnert, in der man sich vorgenommen hatte, sich etwas zu merken. Vielmehr reicht es hin, die entsprechende Absicht oder angestrebte Handlung zu vergegenwärtigen, also den zu merkenden Inhalt. Dies kann sich ohne expliziten, vorstellungsmäßigen Vergangenheitsbezug vollziehen, also ohne Erinnerung im engeren Sinne auskommen. Der praktische Zweck des Sich-etwas-Merkens zielt also auf die Erfüllung eines Vorhabens, einer Absicht, mithin auf Zukunft. Erinnern bedeutet hier hauptsächlich das mehr oder weniger Präsenthalten dessen, was getan werden soll – eine Art nachhaltiges Ermahnen –, nicht jedoch das Erzeugen eines Vergangenheitsbezugs, d.h. die Vergegenwärtigung der vergangenen Situation. Wichtig ist lebenspraktisch oft nur, was getan und also gemerkt werden soll, nicht jedoch die Situation oder der Anlaß, von der das Merkvorhaben ausgeht.

166. Freud 1925b, 365. 416

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Für das Merken von Absichten und Vorsätzen sind jedoch auch die Kontexte mitbestimmend, in denen das Gemerkte seine Relevanz hat. Diese Kontexte haben zunächst eine Ausdehnung entlang einer synchronen Achse, die sich auf die jeweils aktuelle Situation in ihrem mehr oder weniger komplexen Neben- und Übereinander von Bezügen bezieht, in der das Merken oder das Reproduzieren des Gemerkten anzusiedeln ist. Daneben erstreckt sich dieser Kontext auch in diachroner Dimension, da eine Überbrückung zeitlicher Abstände gerade den Grund ausmacht, warum es eines besonderen Aufwands bedarf, sich etwas zu merken. Je nach Relevanz können die synchronen bzw. diachronen Kontexte im Gebrauch der Erinnerung zurücktreten, gar vernachlässigt werden. Um allerdings verstehen zu können, warum und wozu man sich an etwas erinnert oder erinnern wollte, ist der Bezug auf den Kontext unerläßlich. Sowohl in struktureller wie in zeitlicher Hinsicht können sich die Kontexte verändern, so daß die Bedeutung des Gemerkten jeweils anders bestimmt werden muß. Außerhalb bestimmbarer Kontexte verliert alles Gemerkte seine Wichtigkeit und kann entsprechend vernachlässigt, ja vergessen werden.167 Was ist nun, wie Freud behauptet, an dieser Merk-Funktion zu »ergänzen und versichern«? Und wenn anstelle der ›Erinnerung im Gedächtnis‹ eine ›schriftliche Aufzeichnung‹ an einem anderen Ort gemacht wird, handelt es sich bei diesen beiden Vorgängen dann wirklich um dieselbe Funktion? Auch wenn es sich bei der Aufzeichnung nur um eine Ergänzung handelt, um einen Zusatz zum Gedächtnis, dessen Funktion dadurch nur erweitert und versichert wird, so hat eine materielle Aufzeichnung, wie die durch die Schrift bewerkstelligte, es doch an sich, daß sie gelesen werden muß, um tatsächlich an etwas zu erinnern: Der Vollzug des Erinnerns muß hinzukommen, um aus einer physischen Tatsache (z.B. Blatt Papier, Bleistiftstriche) bzw. aus einem objektiven Sachverhalt (den zu Zeichen oder Schrift geordneten Spuren der Aufzeichnung) ein mentales Phänomen zu machen. Sowenig Bücher und Schrift sich selbst lesen, sowenig erinnert sich eine Aufzeichnung ihrer selbst – abgesehen davon, daß sie nicht gemacht wurde, sich, sondern uns, die Aufzeichnenden, an etwas zu erinnern. Das Supplement der Schrift erweist sich seinerseits als ergänzungsbedürftig, und zwar durch dasjenige, dessen Supplement es ist. Ergänzung und Ergänztes sind wechselseitig aufeinander angewiesen, so daß mal das eine, mal das andere zum Supplement (bzw. zum Supplementierten) wird.168 Bedarf einerseits der indivi-

167. Das Gedächtnis verzeichnet eben nicht alles und kontinuierlich, es speichert nicht beliebig vieles und zuverlässig, sondern es funktioniert selektiv und scheint sich dabei an gewissen Kriterien wie Relevanz oder Heftigkeit des Erlebten zu orientieren. Insbesondere am Wandel der Motive und der Zwecke des Merkens bzw. am Interesse, Gemerktes zu suchen und wiederzufinden, kann man ablesen, wie wenig die Funktion des Gedächtnisses in der Lage ist, den Kontext, in dem es fungiert, zu beherrschen. 168. Später im selben Text gibt es ein ähnlich zirkuläres Verhältnis zwischen dem sog. ›Hilfsapparat‹ Wunderblock und dem ›vorbildlichen Organ‹ psychischer Apparat: 417

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duelle Geist einer äußerlichen Stütze, so verwandelt andererseits erst die Lektüre oder das Erinnern die Buchstaben und Notizen in ein Verständnis, in Erinnerung. In dieser Perspektive erscheint also die Aufzeichnung als äußerliches Mittel einer geistigen Tätigkeit. Aber Schreiben, Schrift und Lektüre selbst, als intelligente Operationen, sind ihrerseits nur Analogien für mentale Vorgänge, die aus der sinnlich vermittelten Praxis des In-der-Welt-Seins gewonnen werden können. Anstelle eines (unbeobachtbaren) »Inneren« wird dann ein »Äußeres«, ein beobachtbares Phänomen gesetzt. Diese Gleichsetzung übersieht aber etwas Entscheidendes: Auch wenn man dafür plädiert, daß der individuelle Geist zu seiner komplexeren Selbstartikulation notwendigerweise auf Medien angewiesen ist, die ihm als eine Äußerlichkeit begegnen, deren er sich selten in allen ihren Konsequenzen bewußt ist, so spricht doch gerade die Differenz zwischen dem Medium und demjenigen, der sich in ihm artikuliert, gegen eine Gleichsetzung. Würde man Medialität und Subjektivität miteinander identifizieren, wäre zum einen die Eigendynamik der medialen Artikulation, d.h. die Materialität und Formalität des Mediums, zum anderen die Eigensinnigkeit der Subjektivität vernachlässigt. Die Gleichsetzung des Unterschiedenen liefe auf eine Reduktion von Subjektivität oder Medialität hinaus. Deshalb ist das Festhalten an der Differenz geboten, um in einer geduldigen Analyse der tatsächlichen Verbindung von Subjektivität und Medialität in einer Praxis zu folgen. Freuds Wunderblock bietet hierfür eine Gelegenheit. Freud läßt sich mit großer Detailfreudigkeit auf die Bedingungen des Aufschreibens ein, um die Tragweite der auftauchenden Begrifflichkeit in metaphorischer Absicht voll auszuschöpfen: »Die Fläche, welche diese Aufzeichnung bewahrt, die Schreibtafel oder das Blatt Papier, ist dann gleichsam ein materialisiertes Stück des Erinnerungsapparats, den ich sonst unsichtbar in mir trage.«169 Sein Interesse, dem psychischen Apparat mit diesen Modellen wenigstens in funktionaler Hinsicht näher zu kommen, spricht schon dieser zweite Satz des Textes aus. Freud weist deutlich auf den Mediencharakter hin, den die materialisierte ›Erinnerung‹, d.h. das veräußerlichte Gedächtnis hat. Inwieweit handelt es sich jedoch um eine tragfähige Analogie zum ›natürlichen‹ Gedächtnis, das wir sonst in uns tragen? Die Unsichtbarkeit des »Erinnerungsapparats« rückt die Problematik der Darstellbarkeit ins Zentrum,170 die Freud immer wieder thema-

Geht es zum einen darum, die ungeklärten Funktionsweisen des letzteren zu analysieren, so wird hierzu der Wunderblock als Modell herangezogen. Um jedoch andererseits die Bedeutung des Wunderblocks für eine Psychologie zu begründen, muß seinerseits der psychische Apparat zum Vorbild genommen werden. 169. Freud 1925b, 365. 170. Darstellungen erfüllen oft erst dann ihren Zweck, wenn sie entsprechend den Interessen des Forschers das Ausgangsphänomen bzw. die Problemlage soweit vereinfachen, daß eine bestimmte Auswahl von Aspekten deutlich hervortreten kann, während andere vernachlässigt werden. Dieses Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund ist konstitutiv für Darstellung und Perspektive, aber als solches im Moment ihres Gebrauchs 418

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tisiert. Es ist interessant, daß die wissenschaftlichen Modelle, die sich heutzutage auf viel feinere empirische Daten bis hinunter auf mikrozellulare Ebenen stützen können, die Zusammenhänge auch auf der theoretischen Ebene immer wieder mit Hilfe einer komplexen Metaphorik darzustellen versuchen. Letztlich bleiben wissenschaftliche Theorien auf metaphorische Darstellungen angewiesen, nicht nur um ihre Erklärungen und argumentativen Zusammenhänge, die mitunter äußerst abstrakte theoretische Annahmen enthalten, vor dem Horizont der Alltagssprache verständlich machen zu können, sondern auch, um – über Unerklärliches bzw. Nichttheoretisierbares hinweg – sich überhaupt als Theorie konstituieren zu können (vgl. zur erschließenden Funktion der Metapher Kap. 4.1, Abschnitt Metaphorizität und operationale Schließung). Ohne weitere Bemerkung setzt Freud, wie alle entsprechend kulturierten Menschen, das Funktionieren der Schrift voraus.171 Aus der Dreiheit von Schreiber (bzw. Stift)/Schreibfläche/Schrift wird nur das Verhältnis von Schrift und Aufzeichnungsfläche explizit gemacht, der Schreiber bleibt ein anonymes ›Ich‹ im Text, dessen Fähigkeiten – zu schreiben und zu lesen – Freud keines Kommentars für würdig hält. Auch der funktionale Charakter der Schrift bleibt neben der Materialität von Stift und Fläche unanalysiert: Schließlich bedarf es einer Codierung, die die hinterlassenen Spuren für die Relektüre entzifferbar macht. Nicht die Fläche als solche, sondern nur die beschriebene Fläche kann ›gleichsam als ein materialisiertes Stück des Erinnerungsapparats‹ gelten. Freud, ohne diese kleine Differenz weiter zu beachten, konzentriert sich stattdessen auf eine Pragmatik der Verwaltung des Aufgezeichneten, auf die Tätigkeit des Archivars: »Wenn ich mir nur den Ort merke, an dem die so fixierte ›Erinnerung‹ untergebracht ist, so kann ich sie jederzeit nach Belieben ›reproduzieren‹ und bin sicher, daß sie unverändert geblieben, also den Entstellungen entgangen ist, die sie vielleicht in meinem Gedächtnis erfahren hätte.«172 Zunächst handelt es sich also um eine Entlastung durch Verkürzung der zu merkenden Information, nach Art der ›Datenkompression‹, wenn anstatt der gesamten Aufzeichnung, wie umfänglich sie auch sei, nur noch der Ort gemerkt werden muß, an dem man sie wiederfinden kann. Darüber hinaus aber muß sich doch zusätzlich zur Adresse auch eine Angabe über den gespeicherten Inhalt in der unmittelbaren Verfügung des

nicht selbst thematisch. Erst die Reflexion über das Setting der Darstellung bzw. der Methode läßt andere Möglichkeiten in den Blick kommen. Um an die Freudsche Analogie anzuknüpfen: Eine Darstellung in der Fläche verkürzt alle höher dimensionalen Gegenstände auf zwei Dimensionen. Wieviel Dimensionen hat der ›Erinnerungsapparat, den ich sonst unsichtbar in mir trage‹, falls er überhaupt Dimensionen hat? Und: Ist das Sichtbarmachen als eine Reduktion der Dimensionalität zu verstehen oder als eine Hinzufügung eines zuvor nicht dazugehörigen Aspektes? 171. In dem Maße, wie hier vom »Wunder« eines technischen Artefakts die Rede ist, übergeht Freud den sonst von ihm hervorgehobenen magischen Charakter unserer Zeichenpraxis in Sprache und Schrift (vgl. oben Kap. 2.3). 172. Freud 1925b, 365. 419

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Benutzers befinden, denn sonst wird die Suche uneffektiv: Eine Landkarte ist nur für denjenigen nutzbar, der weiß, daß sie sich auf ein irgendwo lokalisiertes Territorium bezieht, und der weiß, wohin er überhaupt will. Erst beide Elemente zusammen – eine in der Darstellung enthaltene Information muß als tatsächliche Orientierung in der dargestellten Wirklichkeit fungieren; der Landkartennutzer muß ein Motiv haben oder ein Ziel verfolgen – machen die komprimierten Modelle (Pläne, Karten, Kataloge, Verzeichnisse etc.) nutzbar. Freud betont mit größter Selbstverständlichkeit den Zweck, der von einem Gedächtnis zu erwarten ist: daß man das Gespeicherte »jederzeit nach Belieben ›reproduzieren‹« kann. Die souveräne Verfügbarkeit kann als pragmatischer Hauptzweck aller Gedächtnisse angesehen werden, womit die zweite Eigenschaft eines guten Gedächtnisses unmittelbar verbunden ist, nämlich die Sicherheit der Unveränderlichkeit des Gespeicherten. Das Ideal der Aufzeichnung wäre ein nicht-entropischer Zustand. Im Alltag leisten das z.B. Papier und Tinte – vorausgesetzt, es handelt sich um zeitlich begrenzte Kontexte173, und die äußeren Bedingungen der Speicherung können so gestaltet werden, daß es möglichst wenig schädliche Einflüsse seitens der Umwelt gibt.174 Unter Bedingungen allgemeiner Entropie muß deshalb die Unveränderlichkeit als relativer Wert in Abhängigkeit von den Ansprüchen, den Zwecken der Speicherung und den Zeiträumen, in denen sie halten soll, gefaßt werden. Faustregelhaft läßt sich formulieren: Je langfristiger die Speicherung angelegt ist, desto mehr Aufwand muß für die Sicherung betrieben werden. Freud kommt auf diese Ökonomie der Speicherung in den folgenden Passagen zu sprechen, indem er Papier und Tinte mit Tafel und Kreide kontrastiert. Zunächst wendet er sich den langfristigen Aufzeichnungsverfahren zu: »Wenn ich mich dieser Technik der Verbesserung meiner Gedächtnisfunktion in ausgiebiger Weise bedienen will, bemerke ich, daß mir zwei verschiedene Verfahren zu Gebote stehen. Ich kann erstens eine Schreibfläche wählen, welche die ihr anvertraute Notiz unbestimmt lange unversehrt bewahrt, also ein Blatt Papier, das ich mit Tinte beschreibe. Ich erhalte dann eine ›dauerhafte Erinnerungsspur‹.« 175 Es handelt sich also um technische Hilfsmittel zur Erzeugung »›dauerhafter Erinnerungsspuren‹«. Die Anführungsstriche im Freudschen Text verweisen schon auf die Idealisierung, denn bekanntlich gibt es unter natürlichen, technischen

173. Inzwischen haben die Bibliothekare die einschlägige Erfahrung gemacht, daß sich ganze Bibliotheken chlorgebleichter Bücher zersetzen. In Filmarchiven läßt sich eine vergleichbare Problematik schon innerhalb eines Jahrhunderts nachweisen. Insofern muß jede Archiv- bzw. Speichertheorie mit einer medialen Halbwertzeit rechnen. 174. Hierzu zählen die Klimatisierung und Beleuchtungsregulation in Museen und anderen Archiven. 175. Freud 1925b, 365. 420

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Bedingungen keine Aufzeichnung und keine Speicherung ohne Verlust.176 Freud weist aber noch auf eine andere Grenze der Aufzeichnung hin: »Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, daß die Aufnahmsfähigkeit der Schreibfläche sich bald erschöpft. Das Blatt ist vollgeschrieben, hat keinen Raum für neue Aufzeichnungen, und ich sehe mich genötigt, ein anderes, noch unbeschriebenes Blatt in Verwendung zu nehmen.«177 Die extensive Handhabung der unveränderlichen Fixierung benötigt Platz, wenn sie nicht überschrieben werden soll, wodurch sowohl die vorherige wie die erneute Aufzeichnung unleserlich werden.178 Dieser Notwendigkeit zur Expansion kann nur durch die Ergänzung und Erweiterung der Schreibfläche gefolgt werden. Der Materialaspekt ist dabei nicht nur eine Frage der Materialbeschaffung, sondern wird zusehends selbst zu einem Problem der Speicherung: Immer größere Kapazitäten müssen bereitgestellt werden, um die gespeicherten Aufzeichnungen sicher einzulagern. Dem Haushalten mit begrenzten Mitteln entgeht man nicht, da die unbegrenzte Aufzeichnung aus Sicht des Benutzers nicht mehr beherrschbar wäre und jede unveränderliche Fixierung etwas zur Tendenz beiträgt, die Grenzen des Archivs zu sprengen. Der Nutzwertverlust des Aufgezeichneten stellt eine andere Tendenz in der Ökonomie des Speicherns dar: »Auch kann der Vorzug dieses Verfahrens, das eine ›Dauerspur‹ liefert, seinen Wert für mich verlieren, nämlich wenn mein Interesse an der Notiz nach einiger Zeit erloschen ist und ich sie nicht mehr ›im Gedächtnis behalten‹ will.«179 Hiermit spricht Freud das Problem der Flexibilität des Gedächtnisses an, indem er darauf abhebt, daß im Alltag jede Notiz an Zwekke der Nutzung gebunden ist und, wo diese nicht mehr bestehen, die Aufzeichnung überflüssig und deshalb vernichtet wird. Handelt es sich jedoch um nicht zu beseitigende Dauerspuren, wird damit der ganze Aufzeichnungsapparat belastet, ja letztlich unbrauchbar gemacht. Freud kommt nun auf die andere Art der Aufzeichnung zu sprechen:

176. Sogar bei stetiger Konservierung und wiederholter Restaurierung muß mit Verschleiß gerechnet werden, nicht nur bei Benutzung der Aufzeichnung. Aber selbst wenn man eine ideale Erhaltung des Gespeicherten unterstellte, würde die Veränderung des Kontextes, in dem eine erneute Nutzung des Gespeicherten stattfände, dessen Anpassung, dessen Übersetzung, also Veränderung nötig machen. 177. Freud 1925b, 365. 178. Das Auslöschen der alten Aufzeichnung wäre die Voraussetzung für eine gute Lesbarkeit der neuen: Verlust wäre der Preis der erneuten Klarheit. Nur mit Mühe und besonderen Verfahren lassen sich Palimpseste dennoch in ihren verschiedenen Schichten entziffern. 179. Freud 1925b, 365. 421

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»Das andere Verfahren ist von beiden Mängeln frei. Wenn ich zum Beispiel mit Kreide auf eine Schiefertafel schreibe, so habe ich eine Aufnahmsfläche, die unbegrenzt lange aufnahmsfähig bleibt und deren Aufzeichnungen ich zerstören kann, sobald sie mich nicht mehr interessieren, ohne die Schreibfläche selbst verwerfen zu müssen.«180 Entweder muß man demnach (bei Dauerspuren) die Aufzeichnungsfläche selbst austauschen, oder man muß die Aufzeichnung zerstören, um die Aufnahmsfläche wieder in den Leerzustand zu versetzen. Nur durch diesen Akt der Wiederherstellung des anfänglichen Zustandes der Aufzeichnungsfläche ist eine unbegrenzte Aufnahmsfähigkeit gewährleistet.181 Das hat seinen Preis: »Der Nachteil ist hier, daß ich eine Dauerspur nicht erhalten kann.[182] Will ich neue Notizen auf die Tafel bringen, so muß ich die, mit denen sie bereits bedeckt ist, wegwischen. Unbegrenzte Aufnahmsfähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren scheinen sich also für die Vorrichtungen, mit denen wir unser Gedächtnis substituieren, auszuschließen, es muß entweder die aufnehmende Fläche erneut oder die Aufzeichnung vernichtet werden.«183 Damit ist Freud an der entscheidenden Formulierung angelangt, einem Grundsatz, der schon seine früheren Überlegungen zum Verhältnis von Bewußtsein und Gedächtnis bestimmt hatte. In der Notiz über den Wunderblock findet er die geeigneten Darstellungsmodelle in den genannten Medientechniken. Freud geht kurz – wie zur Erläuterung seiner eigenen Deutungsmethode psychischer Phänomene – auf die Rolle der Technik sowie auf ihre Strukturen und Funktionen im Verhältnis zum Menschen ein:

180. Ebd. 181. Bei radikal verzeitlichten Grundelementen, von denen die avancierte Systemtheorie ausgeht, stellt sich das Problem eher in umgekehrter Richtung: Wie kann es überhaupt eine Dauer über den Moment hinaus geben? Denn da alles, woraus das System (z.B. der Aufzeichnung) besteht, einer ständigen Vergänglichkeit unterworfen ist, da keine einfach bleibenden oder seienden Elemente angenommen werden können, bedarf es eines eigenen Aufwands, einer vom System selbst ständig erbrachten Leistung zur Sicherung des Fortbestands von Elementen: einer stetigen Neuproduktion des Vergehenden. Die Frage dreht sich also nicht um die Herstellung des »unbeschriebenen Blatts«, sondern zunächst um die Erhaltung des »Blatts« und der »Tinte« selbst. Freud bewegt sich in dieser Richtung, wenn er die Periodizität für das Bewußtsein zur Geltung bringt (s. u.). 182. Anm. E.P.: Es handelt sich allerdings nicht nur darum, daß sich die flüchtigen Spuren nicht gut erhalten, sondern darum, daß diese Aufzeichnungsart der Kreidetafel als solche nicht geeignet ist für Dauerspuren. 183. Freud 1925b, 365f. 422

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»Die Hilfsapparate, welche wir zur Verbesserung oder Verstärkung unserer Sinnesfunktionen erfunden haben, sind alle so gebaut wie das Sinnesorgan selbst oder Teile desselben (Brille, photographische Kamera, Hörrohr usw.). An diesem Maß gemessen, scheinen die Hilfsvorrichtungen für unser Gedächtnis besonders mangelhaft zu sein, denn unser seelischer Apparat leistet gerade das, was diese nicht können; er ist in unbegrenzter Weise aufnahmsfähig für immer neue Wahrnehmungen und schafft doch dauerhafte – wenn auch nicht unveränderliche – Erinnerungsspuren von ihnen.« 184 Hinsichtlich der Frage der Technik als Prothetik ist hier nur zu konstatieren, daß sich bestimmte physische Fähigkeiten und »Sinnesfunktionen« besser substituieren lassen (Fortbewegung, Werkzeuggebrauch, Arbeitskraft im allgemeinen, Sehkraft etc.) als die entsprechenden geistigen Fähigkeiten. Gerade am Beispiel des Gedächtnisses erweist sich das Versagen der ›Verbesserung oder Verstärkung unserer Geistesfunktionen‹, jedenfalls zu Freuds Zeiten.185 Freuds Ausweg aus dieser objektiven Schwierigkeit besteht in der folgenreichen Reformulierung des zugrundeliegenden theoretischen Modells: »Ich habe schon in der Traumdeutung 1900 die Vermutung ausgesprochen, daß diese ungewöhnliche Fähigkeit auf die Leistung zweier verschiedener Systeme (Organe des seelischen Apparats) aufzuteilen sei.186 Wir besäßen ein System W-Bw, welches die Wahrnehmungen aufnimmt, aber keine Dauerspuren von ihnen bewahrt, so daß es sich gegen jede neue Wahrnehmung wie ein unbeschriebenes Blatt verhalten kann. Die Dauerspuren der aufgenommenen Erregungen kämen in dahinter gelegenen ›Erinnerungssystemen‹ zustande. Später (Jenseits des Lustprinzips [Freud 1920, 235]) habe ich die Bemerkung hinzugefügt, das unerklärliche Phänomen des Bewußtseins entstehe im Wahrnehmungssystem an Stelle der Dauerspuren.«187 Freud zählt hier nur die Alternativen auf, ohne sich klar für die eine oder andere zu entscheiden. Daß es tatsächlich um zwei sich gegenseitig ausschließende Alternativen geht, wird daran deutlich, daß die erste These besagt, das passagere Bewußtsein könne neben dem Gedächtnis, neben den Dauerspuren, entstehen, während die zweite These einer strikten Substitution des einen durch das andere das Wort redet. Mit der ersten These verbindet sich die Aufteilung der sich aus-

184. Freud 1925b, 366; zu den anthropomorphen Implikationen vgl. unten Kap. 6.2 und Tholen 2002. 185. Die umstrittene Frage, inwieweit der Computer genau diese Schwierigkeit inzwischen überwunden hat oder nicht, kann hier nicht erörtert werden. 186. Anm. d. Hrsg. (vgl. Freud 1900, 516): »Wie Freud in Jenseits des Lustprinzips [Freud 1920, 235, Anm. 1] erwähnt, ist diese Unterteilung schon von Breuer in seinem theoretischen Beitrag zu den Studien über Hysterie [Freud/Breuer 1895] vorgenommen worden.« 187. Freud 1925b, 366. 423

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schließenden psychischen Funktionen (unbegrenzte Aufnahmsfähigkeit vs. Erzeugung von Dauerspuren) auf zwei verschiedene Systeme (Organe des psychischen Apparats), während mit der zweiten deren Funktionsfähigkeiten so aneinander gekoppelt werden, daß das Funktionieren des einen System nur unter Aussetzen des anderen zustandekommen könne. Die produktive Unterscheidung zweier Systeme wäre mit der zweiten These erheblich eingeschränkt, wenn nicht sogar aufgehoben, da sich mit dem Unterschied der Systeme auch deren relative Autonomie verband, die mit der zweiten These jedoch an Funktionsbedingungen des jeweils anderen Systems gebunden, also alles andere als autonom bliebe. Freud gibt sich mit dieser selbsterzeugten Unstimmigkeit nicht zufrieden, sondern kommt nun auf seine kleine Entdeckung zu sprechen.

Gerät und Analogie: Der Wunderblock Es deutet sich im folgenden an, daß das Bewußtsein noch auf eine andere Weise zustandezukommen scheint, als ein Zwischenphänomen nämlich, das gerade durch den Kontakt zwischen zwei Bestandteilen oder Systemen des psychischen Apparats entsteht.188 Freud gibt eine genaue Beschreibung der kleinen Apparatur mit der nahezu magischen Wirkung, die offensichtlich auch ihn in Bann gezogen hatte: »Vor einiger Zeit ist nun unter dem Namen Wunderblock ein kleines Gerät in den Handel gekommen, das mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die Schiefertafel. Es will nicht mehr sein als eine Schreibtafel, von der man die Aufzeichnungen mit einer bequemen Hantierung entfernen kann. Untersucht man es aber näher, so findet man in seiner Konstruktion eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem von mir supponierten Bau unseres Wahrnehmungsapparats und überzeugt sich, daß es wirklich beides liefern kann, eine immer bereite Aufnahmsfläche und Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen.«189 Freud spricht hier nur vom »supponierten Bau unseres Wahrnehmungsapparats«, nicht vom psychischen Apparat überhaupt. Man kann jedoch davon ausgehen, daß er hier den Ausdruck ›Wahrnehmungsapparat‹ pars pro toto meint, geht es ihm doch um die Analyse des psychischen Apparats und dessen einzelner Funktionssysteme (Wahrnehmung, Gedächtnis, Bewußtsein). Auch das Bewußtsein als Funktion des psychischen Apparats sollte ja laut Freud ebenfalls als eine, wenn auch besondere Wahrnehmung, nämlich als innere Wahrnehmung für psychische Qualitäten, aufzufassen sein. Insofern ließe sich diese Ungenauigkeit des Ausdrucks noch vernachlässigen – jedenfalls ist sich Freud der Metaphorizität des Wunderblocks zur Veranschaulichung psychischer Strukturen und Funktionen

188. Freud 1925b, 368. 189. Freud 1925b, 366. 424

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durchgehend bewußt. Im Sinne einer Funktionsanalyse kann Freud sich auf die für die Funktion wesentlichen Aspekte konzentrieren: »Die kleinen Unvollkommenheiten des Geräts haben für uns natürlich kein Interesse, da wir nur dessen Annäherung an die Struktur des seelischen Wahrnehmungsapparats verfolgen wollen.«190 Andererseits treibt er die Analogiebildung soweit wie möglich voran, indem er zunächst auf genauer Beschreibung beharrt: »Der Wunderblock ist eine in einem Papierrand gefaßte Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse, über welche ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, am oberen Ende an der Wachstafel fest haftend, am unteren ihr frei anliegend. Dieses Blatt ist der interessantere Teil des kleinen Apparats. Es besteht selbst aus zwei Schichten, die außer an den beiden queren Rändern voneinander abgehoben werden können. Die obere Schicht ist eine durchsichtige Zelluloidplatte, die untere ein dünnes, also durchscheinendes Wachspapier. Wenn der Apparat nicht gebraucht wird, klebt die untere Fläche des Wachspapiers der oberen Fläche der Wachstafel leicht an.« 191 Aus der Abfolge der verschiedenen Teilabschnitte der Beschreibung läßt sich auf den Status des zunächst rein technischen Geräts schließen, den der Wunderblock hier innehat, folgt doch die Beschreibung ganz dem ›Genre‹ der Analyse von technischen Geräten: Wird zunächst eine allgemeine Aufgabe oder Zweckbestimmung eines Geräts genannt, so folgt, nach Einschub einer ersten anschaulichen Beschreibung des Aussehens, nun schrittweise eine Detaillierung, die sowohl einzelne Bauteile wie auch deren Teilfunktionen, vielleicht in schematischer Darstellung, erläutert, bis schließlich aus dem so angereicherten Bild das Zusammenwirken der Komponenten klar wird. Wichtig ist dabei der Bezug zwischen den Teilstücken und der Funktion, die sie während des Gebrauchs erfüllen: »Man gebraucht diesen Wunderblock, indem man die Aufschreibung auf der Zelluloidplatte des die Wachstafel deckenden Blattes ausführt. Dazu bedarf es keines Bleistifts oder einer Kreide, denn das Schreiben beruht nicht darauf, daß Material an die aufnehmende Fläche abgegeben wird. Es ist eine Rückkehr zur Art, wie die Alten auf Ton- und Wachstäfelchen schrieben. Ein spitzer Stilus ritzt die Oberfläche, deren Vertiefung die ›Schrift‹ ergeben. Beim Wunderblock geschieht dieses Ritzen nicht direkt, sondern unter Vermittlung des darüberliegenden Deckblattes. Der Stilus drückt an den von ihm berührten Stellen die Unterfläche des Wachspapiers an die Wachstafel an, und diese Furchen werden an der sonst glatten weißlichgrauen Oberfläche des Zelluloids als dunkle Schrift sichtbar. Will man die Aufschreibung zerstören, so genügt es, das zusammengesetzte Deckblatt von seinem freien, unteren Rand her mit leichtem Griff von der Wachstafel abzuheben. Der innige Kontakt zwischen Wachspapier und Wachstafel an den geritzten Stellen, auf dem das Sichtbarwerden der Schrift beruhte, wird damit gelöst und stellt

190. Freud 1925b, 367. 191. Freud 1925b, 366f. 425

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sich auch nicht wieder her, wenn die beiden einander wieder berühren. Der Wunderblock ist nun schriftfrei und bereit, neue Aufzeichnungen aufzunehmen.« 192 Beim Wunderblock beruht das ›Sichtbarwerden der Schrift‹ also auf ›innigem Kontakt‹ zwischen zwei getrennten Schichten, die in ihrer Materialbeschaffenheit (Härte, Lichtdurchlässigkeit, Elastizität, Oberflächenbeschaffenheit) deutlich verschieden sind, die jedoch gerade aufeinander bezogen eine besondere Wirkung entfalten. Insofern kommt hier alles auf die Kombination an: auf bestimmte Materialien (Zelluloid, Wachspapier, Wachs) in einer speziellen Anordnung (Struktur oder Bau) bei einer funktionsadäquaten Gebrauchsweise (Stilusschreiben). Entsprechende Handgriffe bzw. Anwendungen rufen die verschiedenen Funktionen ab. Zugleich enthält der Bau des Geräts Schutzvorkehrungen zu seiner dauerhaften Erhaltung: »Wenn man, während der Wunderblock beschrieben ist, die Zelluloidplatte vorsichtig vom Wachspapier abhebt, so sieht man die Schrift ebenso deutlich auf der Oberfläche des letzteren und kann die Frage stellen, wozu die Zelluloidplatte des Deckblattes überhaupt notwendig ist. Der Versuch zeigt dann, daß das dünne Papier sehr leicht in Falten gezogen oder zerrissen werden würde, wenn man es direkt mit dem Stilus beschriebe. Das Zelluloidblatt ist also eine schützende Hülle für das Wachspapier, die schädigende Einwirkungen von außen abhalten soll. Das Zelluloid ist ein ›Reizschutz‹; die eigentlich reizaufnehmende Schicht ist das Papier.«193 Freud unterläuft hier eine kleine Ungenauigkeit, denn es stimmt offensichtlich nicht, daß das Papier im eigentlichen Sinne als ›reizaufnehmend‹ bezeichnet werden kann.194 Weder ist es die äußerste Schicht, noch enthält das Papier selbst die Spuren, sondern es entfaltet seine darstellende Wirkung nur in Verbindung mit dem Wachs der darunter liegenden Tafel. Das Papier gibt die erfahrene Einwirkung nahezu vollständig an die darunterliegende Schicht weiter, bis auf jenen Rest, der das Papier selbst an den gezogenen Fugen haften läßt. Erst der durch den Druck des Stilus vermittelte Kontakt des Papiers mit den so erzeugten Fugen der Wachstafel zeitigt den Effekt einer sichtbaren Spur. Deshalb hält man sich besser an Freuds erste Formulierung vom ›innigen Kontakt zwischen Wachspapier und Wachstafel‹, der eine Spur der Aufschreibung zur Erscheinung bringt. Freud geht es allerdings an dieser Stelle um den Reizschutz, der von der

192. Freud 1925b, 367. 193. Freud 1925b, 367f. 194. Es ginge wohl an, die Wachstafel als ›reizaufnehmend‹ zu bezeichnen, denn – wie Freud noch ausführt – sie bewahrt tatsächlich Dauerspuren der Reize, der Stiluseindrücke. Dieser Punkt wird uns noch weiter unten beschäftigen, da die strukturelle Anordnung des Modells für die funktionelle Arbeitsweise des psychischen Apparats, für die Verlaufsrichtung der Reize, bedeutsam ist. 426

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obersten Schicht, dem härtesten der drei Materialien, gewährleistet wird. Richtig bleibt auf alle Fälle, daß die beiden darunter liegenden Schichten so vor zu großen Eindrücken geschützt sind. Freud hebt jedoch nur den Schutz für das Wachspapier hervor, das zwar in der Tat am empfindlichsten auf zu heftige Einwirkungen von außen reagieren, allerdings auch am widerstandslosesten den erfahrenen Druck an die nächste Schicht weitergeben würde. Es ist also nicht einfach eine bestimmte Schicht, die geschützt wird, sondern der funktionelle Zusammenhang, in dem sie steht. Alles kommt hier auf die indirekte Wirkung an: Der Stilus berührt weder das Wachspapier noch die Wachsmatrize direkt. Freud zieht nun aus der beschriebenen Anordnung des Wunderblocks seine Konsequenzen für eine theoretische Darstellung des psychischen Apparats: »Ich darf nun darauf hinweisen, daß ich im Jenseits des Lustprinzips ausgeführt habe, unser seelischer Wahrnehmungsapparat bestehe aus zwei Schichten, einem äußeren Reizschutz, der die Größe der ankommenden Erregung herabsetzen soll, und aus der reizaufnehmenden Oberfläche dahinter, dem System W-Bw.«195 Freud unterscheidet hier schon für das Wahrnehmungssystem zwei Schichten, von denen die Reizschutz/Filter-Funktion eine Verminderung der Intensitäten bewirkt, während die ›Reizaufnahme‹ zur Entstehung der eigentlichen, d.h. bewußten Wahrnehmung beiträgt. Letztere Funktion weist er einem gesonderten System zu, genannt W-Bw.196 Diese duale Systematik aus Jenseits des Lustprinzips wird nun, fünf Jahre später, durch die Einführung einer zusätzlichen dritten Schicht differenziert. Mit dieser Variante kommt Freud seiner älteren Dreiteilung des psychischen Apparats in Bewußtes, Vorbewußtes und Unbewußtes wieder näher, ohne daß eine direkte Parallelisierung der Modelle möglich wäre. Freud führt aus: »Die Analogie hätte nicht viel Wert, wenn sie sich nicht weiter verfolgen ließe. Hebt man das ganze Deckblatt – Zelluloid und Wachspapier – von der Wachstafel ab, so verschwindet die Schrift und stellt sich, wie erwähnt, auch später nicht wieder her. Die Oberfläche des Wunderblocks ist schriftfrei und von neuem aufnahmsfähig. Es ist aber leicht festzustellen, daß die Dauerspur des Geschriebenen auf der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Belichtung lesbar ist. Der Block liefert also nicht nur eine immer von neuem verwendbare Aufnahmsfläche wie die Schiefertafel, sondern auch Dauerspuren der Aufschreibung wie der gewöhnliche Papierblock; er löst das Problem, die beiden Leistungen zu vereinigen, indem er sie auf zwei gesonderte, miteinander verbundene Bestandteile – Systeme – verteilt. Das ist aber ganz die gleiche Art, wie nach meiner oben erwähnten Annahme unser seelischer Apparat die Wahrnehmungsfunktion erledigt. Die

195. Freud 1925b, 368. Vgl. Freud 1920, 237ff. 196. An einer folgenden Stelle faßt Freud allerdings Reizschutz und Reizaufnahme zusammen und weist sie dem einen, W-Bw genannten System, dem Wahrnehmungs-Bewußtsein zu. 427

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reizaufnehmende Schicht – das System W-Bw – bildet keine Dauerspuren, die Grundlagen der Erinnerung kommen in anderen, anstoßenden Systemen zustande.« 197 Zu dieser Verteilung der (sich ausschließenden) Funktionen auf gesonderte Systeme wäre weiter nichts zu sagen, würde sich nicht die Funktionalität (der Wahrnehmung fürs Bewußtsein) erst auf Umwegen ergeben. Bemerkenswert ist allerdings, wie Freud hier Topik und Funktionalität verschränkt: Der eigentümliche Bau des Apparats läßt nämlich die Wahrnehmungsfunktion durch eine Nachträglichkeit des Erscheinens der Spur fürs Bewußtsein zum Zuge kommen. Die Anordnung des Apparats erfordert also eine besondere Zeitlichkeit der Funktionalität, die der unmittelbaren Erfahrung des Bewußtseins zu widersprechen scheint: Wie kann ein Hindurchlaufen durch das Wachspapier/Bewußtsein, welches unbemerkt und spurlos bliebe, dazu führen, daß eine Spur in der Wachstafel/im Gedächtnis, die dauerhaft ist, nachträglich und gewissermaßen ›von dort her‹ als Bewußtsein konstituiert werden kann?

Grenzen der Modellbildung: Schrift und Zeit Allerdings zieht Freud die Grenze der Analogiebildung an der Stelle, wo es um den – in der Reihe der Funktionen – letzten Schritt geht: um das Erscheinen der Spur bzw. den Effekt des Bewußtwerdens. Er zieht diese Grenze in der Weise, daß er dem kleinen Aufzeichnungsgerät den Charakter der Selbsttätigkeit, der Lebendigkeit abspricht: »Irgendwo muß ja die Analogie eines solchen Hilfsapparats mit dem vorbildlichen Organ ein Ende finden. Der Wunderblock kann ja auch nicht die einmal verlöschte Schrift von innen her wieder ›reproduzieren‹; er wäre wirklich ein Wunderblock, wenn er das wie unser Gedächtnis vollbringen könnte. Immerhin erscheint es mir jetzt nicht allzu gewagt, das aus Zelluloid und Wachspapier bestehende Deckblatt mit dem System W-Bw und seinem Reizschutz, die Wachstafel mit dem Unbewußten dahinter, das Sichtbarwerden der Schrift und ihr Verschwinden mit dem Aufleuchten und Vergehen des Bewußtseins bei der Wahrnehmung gleichzustellen.«198 Wenn in diesen Passagen das Bewußtsein an die Schrift oder, genauer: das Aufleuchten und Vergehen des Bewußtseins an das Sichtbarwerden und Verschwinden der Schrift gekoppelt wird, so verliert Freud auch hier kein Wort über die Systematizität der Schrift als Zeichen bzw. der Ordnung der Schriftzeichen. Stattdessen setzt er den Sinnzusammenhang voraus, in dem und als der die Schrift selbst ihre Funktion überhaupt nur zu erfüllen in der Lage ist. Aber die voraus-

197. Freud 1925b, 368. 198. Ebd. 428

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gesetzte Ordnung der Schrift, oder anders gesagt: der Code, nach dem z.B. eine Alphabet-Schrift funktioniert, kann – als ein Phänomen der Kultur – nur den Sinn haben, den Subjekte gemeinsam hervorbringen. Dieser Sinn gründet auf dem Prinzip der Differenzialität, einem ereignishaften Zusammenhang von Unterscheidungen, der sich immer wieder zu systematischen Zuständen organisiert. Was nun das Modell der Lektüre von Schrift betrifft: Schon das Erscheinen der Schrift (oder noch rudimentärer: der Spur) setzt die Unterscheidung voraus, die wir in der Regel erst mit dem Begriff der Lektüre verbinden. In der Lektüre ist nicht nur die Kenntnis des Zeichenrepertoires, der grammatischen Verknüpfungsregeln und der Pragmatik ihres Gebrauchs gefordert; vielmehr muß auf einer elementaren Wahrnehmungsebene schon zwischen einem relevanten Merkmal und seinem zu vernachlässigenden Hintergrund unterschieden worden sein. Diese Fähigkeit versetzt einen Leser in die Lage, einen Schmutzfleck mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Punkt als Satzzeichen zu diskriminieren. Aus dem Kontext, also der Lage des Punktes oder den Konsequenzen für die Interpretation des Textes als ganzem, können Indizien gewonnen werden, die zur Berücksichtigung oder zum Ignorieren der kleinsten bemerkten Differenz führen. Deshalb läßt sich Zeichenverstehen nicht auf Regelanwendung reduzieren; und nur deshalb kann sich eine neue Verwendungsweise von Zeichen etablieren und zu einem veränderten Sprachverständnis beitragen. Es ist also äußerst zweifelhaft, ob Bewußtsein überhaupt ohne diese elementaren kognitiven Fähigkeiten zustandekommen könnte. Allerdings muß dies nicht mit der reduktionistischen Ansicht verbunden sein, daß Bewußtsein sich ausschließlich dem kognitiven Unterscheidungsvermögen verdankt. Freud behauptet nun schlichtweg: »Es braucht uns dabei nicht zu stören, daß die Dauerspuren der empfangenen Aufzeichnung beim Wunderblock nicht verwertet werden; es genügt, daß sie vorhanden sind.«199 Damit wäre der Unterschied zwischen dem ›Hilfsapparat‹ und dem ›vorbildlichen Organ‹ einerseits klar bezeichnet, andererseits jedoch für unerheblich erklärt, was den metaphorischen Gebrauch anbelangt. Es stellt sich jedoch sofort die Idee ein, daß es vielleicht gerade die Verwertung der Dauerspuren ist – durch das Gedächtnis selbst oder für das Bewußtsein –, die für das Funktionieren des Apparats von entscheidender Bedeutung ist. Liegt hier nicht genau der Punkt, wo die Selbstorganisation eingeführt werden müßte, die den Wunderblock gerade nicht charakterisiert? Somit wäre eine entscheidende Bedingung für das Bewußtsein die Selbstorganisation des Psychischen – seine Eigentätigkeit, Selbstbezüglichkeit, Selbststrukturierung –, die allerdings ihrerseits von ›äußeren‹ Bedingungen abhängt, die dem Psychischen nicht zugehören, ihm nur indirekt zugänglich und kaum beeinflußbar sind. Die fehlende Eigentätigkeit des Wunderblocks zeigt eben, daß es sich weder um einen Automaten handelt noch – ja, erst recht nicht – um einen Organismus (i.S. der Biologie).

199. Ebd. 429

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Obwohl Freud sich zunächst vorsichtig gibt, kann er es doch nicht lassen, das Modell spekulativ auszuloten: »Ich gestehe aber, daß ich geneigt bin, die Vergleichung noch weiter zu treiben.«200 Und so kommt er im folgenden Absatz jener Forderung nach, die er für metapsychologische Modellbildungen aufgestellt hatte, nämlich neben dem topischen (strukturellen, auf den Bau des Apparats bezogenen) und dynamischen (funktionellen, auf die Arbeitsweise abzielenden) Gesichtspunkt die ökonomischen Aspekte einzubeziehen: »Beim Wunderblock verschwindet die Schrift jedesmal, wenn der innige Kontakt zwischen dem den Reiz empfangenden Papier und der den Eindruck bewahrenden Wachstafel aufgehoben wird. Das trifft mit einer Vorstellung zusammen, die ich mir längst über die Funktionsweise des seelischen Wahrnehmungsapparats gemacht, aber bisher für mich behalten habe. Ich habe angenommen, daß Besetzungsinnervationen in raschen periodischen Stößen aus dem Inneren in das völlig durchlässige System W-Bw geschickt und wieder zurückgezogen werden. Solange das System in solcher Weise besetzt ist, empfängt es die von Bewußtsein begleiteten Wahrnehmungen und leitet die Erregung weiter in die unbewußten Erinnerungssysteme; sobald die Besetzung zurückgezogen wird, erlischt das Bewußtsein, und die Leistung des Systems ist sistiert. Es wäre so, als ob das Unbewußte mittels des Systems W-Bw der Außenwelt Fühler entgegenstrecken würde, die rasch zurückgezogen werden, nachdem sie deren Erregung verkostet haben. Ich ließ also die Unterbrechungen, die beim Wunderblock von außen her geschehen, durch die Diskontinuität der Innervationsströmung zustande kommen, und an Stelle einer wirklichen Kontaktaufhebung stand in meiner Annahme die periodisch eintretende Unerregbarkeit des Wahrnehmungssystems. Ich vermute ferner, daß diese diskontinuierliche Arbeitsweise des Systems W-Bw der Entstehung der Zeitvorstellung zugrundeliegt.«201 In kurzen Schritten geht Freud also von einer mehr oder weniger passiven, undynamischen Konzeption (wie dem Wunderblock) über zu einer theoretischen Anordnung (den psychischen Apparat repräsentierend), die aus sich selbst heraus eine Dynamik entfaltet, funktionell bestimmte Aktivität entwickelt und dabei einem zeitlichen Rhythmus unterliegt. Die Idee der Periodizität – schon aus dem Entwurf dreißig Jahre zuvor bekannt202 – dient also zur Selbstorganisation des psychischen Systems, zur zeitlichen Strukturierung. Indem die Besetzung der Wahrnehmungssysteme, also das Aktivieren, immer wieder abgezogen, d.h. unterbrochen wird, entwickelt der psychische Apparat eine Rhythmik, mit deren Hilfe die Doppelfunktion der unbegrenzten Aufnahmsfähigkeit einerseits und der Erzeugung von Dauerspuren andererseits innerhalb des psychischen Apparats erfüllt werden kann. Dabei wird die stetige Erneuerung der Aufnahmefähigkeit des Bewußtseins nur durch den Wechsel seiner Funktionsbereitschaft gedacht: Ohne den immer wiederholten Löschvorgang, die Inaktivierung der Wahrneh-

200. Ebd. 201. Freud 1925b, 369. 202. Vgl. Freud 1895. 430

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mungsfunktion, wäre kein Bewußtsein von jeweils erneuter Frische in diesem Modell möglich. Daraus ließe sich der Grundsatz ableiten: Es kann nur dann etwas zu Bewußtsein kommen, wenn Bewußtsein auch wieder vergeht. Es sind also vornehmlich die Störungen und Unterbrechungen, welche ein Bewußtsein aufkommen lassen. So kann der Parallelität der auf verschiedene Systeme (Gedächtnis und Bewußtsein) verteilten Funktionsweisen (Dauerspeicher und Wahrnehmungsbewußtsein) deren unterschiedliche Arbeitsweise gegenüber gestellt werden: zum einen die Kontinuität der Erhaltung von Dauerspuren des Gedächtnisses (Speicherung), zum anderen die Diskontinuität der Aufnahme von Reizen (Wahrnehmung), an die sich nachträglich das Bewußtsein knüpft. Letztere kann mit Spencer-Brown203 als durch eine Oszillator-Funktion konstituierte Arbeitsweise bezeichnet werden, mithin als eine Wechselfunktion (bzw. als eine Funktion, die einen ständigen Zustandswechsel bewirkt), die zwischen ›aktiviert‹ und ›deaktiviert‹, zwischen Reizbarkeit und Unempfindlichkeit hin- und herschwingt. Freud vermutet, daß diese ›diskontinuierliche Arbeitsweise‹ des psychischen Apparats eine Ursache für das Zustandekommen des Bewußtseins ist. In letzter Konsequenz handelt es sich also beim Bewußtsein um alles andere als ein homogenes, kontinuierliches Sein, sondern um ein repetitives Bewußtwerden. Die Kontinuität, die sich subjektiv dem Bewußtsein zeigt, verdankt sich einer Suche nach geeigneten Anknüpfungspunkten, von denen aus fortgesetzt werden kann – alle Zwischenräume bzw. Zwischenzeiten werden dabei nicht nur nachträglich überbrückt, sondern übergangen, übersehen, geradezu vergessen. Hierzu ist eine »Konsistenzprüfung«204 nötig, die das in und aus der Gegenwart prozessierende psychische System, nach Freud genauer: das Vorbewußte, für das Bewußtwerden leistet. Freud hatte schon in Jenseits des Lustprinzips das Unbewußte dem alltäglichen Zeitverständnis ebenso wie den traditionellen philosophischen Zeitauffassungen entgegengesetzt, da beide Sichtweisen am Erleben des Bewußtseins orientiert sind: »Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden. Wir haben erfahren, daß die unbewußten Seelenvorgänge an sich ›zeitlos‹ sind. Das heißt zunächst, daß sie nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts an ihnen verändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heranbringen kann. Es sind dies negative Charaktere, die man sich nur durch die Vergleichung mit den bewußten seelischen Prozessen deutlich machen kann. Unsere abstrakte Zeitvorstellung scheint vielmehr durchaus von der Arbeitsweise des Systems W-Bw hergeholt zu sein und einer Selbst-

203. Spencer-Brown 1969, 60. 204. Luhmann 1990a, 31. 431

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wahrnehmung derselben zu entsprechen. Bei dieser Funktionsweise des Systems dürfte ein anderer Weg des Reizschutzes beschritten werden.«205 Freud buchstabiert also den »Funktionszusammenhang zweier heterogener Systeme«206 in Hinblick auf die Zeitlichkeit in der Weise aus, daß das unbewußte Gedächtnis nicht direkt mit den für die Erfahrung der Außenwelt zuständigen Kategorien des gewöhnlichen Zeitbewußtseins erfaßt, sondern nur qua Negation angedeutet werden kann. Diese indirekte Darstellung des Unbewußten nimmt die »abstrakte Zeitvorstellung« zum Ausgangspunkt, so wie sie sich aus »der Arbeitsweise des Systems W-Bw« ergibt, wenn dieses einer philosophischen Analyse unterzogen wird. Mit dem Namen Kant ist die Richtung angegeben, von der her die Zeit des Bewußtsein gedacht wird: als formale Zeit, als Anschauungsform, als innerer Sinn. Ohne in diesem Zusammenhang zu einer eigenständigen Zeittheorie zu gelangen, die die philosophische Tradition aufnimmt und kritisch bedenkt, läßt sich doch den Freudschen Überlegungen entnehmen, daß es im psychischen Apparat nicht nur Bewußtsein als eine Art innerer, vor allem körperbezogener Wahrnehmung der psychischen Zustände überhaupt gibt, sondern darüber hinaus eine »Selbstwahrnehmung« des Systems W-Bw, die wie bei Kant in der Zeitdimension, als Zeiterfahrung bestimmt wird. Deshalb ergibt sich hier eine wechselseitige Bestimmtheit: Aus der Differenz zur Zeitlichkeit des Bewußtseins läßt sich die »Zeitlosigkeit« des Unbewußten abgrenzen, welche weniger eine Nichtzeit, vielmehr eine Unzeit genannt zu werden verdient; umgekehrt erweist sich die bewußte Zeit als eine eigentümliche Leistung des psychischen Apparats, der die Zeit als Periode und als Ordnung im Bewußtsein konstituiert, so daß sich »die Homogenität der Zeit als Effekt einer bewußtseinslogischen Reduktion darstellt.«207 Zugleich hält Freud aber den metapsychologischen Gedanken einer Ökonomie des Psychischen fest, wenn er bemerkt, daß »bei dieser Funktionsweise des Systems […] ein anderer Weg des Reizschutzes beschritten werden« dürfte. Die Selbstwahrnehmung des psychischen Apparats, die Freud sonst immer mit der Wehrlosigkeit gegenüber den aus dem Körperinneren stammenden Reizen in Verbindung bringt (innere Wahrnehmung), wird im Falle des Selbstbewußtseins nur unter der Bedingung des aufrechterhaltenen Reizschutzes für möglich erachtet. So sind es nur eine von vornherein verminderte Intensität der wahrzunehmenden Reize, deren leichte Verschiebbarkeit und die schnell wechselnde Besetzbarkeit des Systems W-Bw, die die Möglichkeit eröffnen, Zeit geordnet zu erfassen. Eine zu große Reizintensität würde diesen Zusammenhang zerreißen und als traumatischer Fremdkörper aus der gewohnten Zeitordnung herausfallen. Daß Freud an dieser Stelle der Notiz die Frage nach der Zeit, genauer: nach unseren Vorstellungen von Zeit aufwirft, ist nicht weiter verwunderlich, wenn

205. Freud 1920, 238. 206. Schuller 1996, 53. 207. Ebd. 432

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man bedenkt, daß mit der Periodizität eine elementare Grundform der »Verkehrszeit«208 aufgerufen worden ist, die innerhalb der gesamten Natur (als Schwingung) und dort auch im Bereich des Lebendigen verbreitet ist. Die Zeitlichkeit des psychischen Apparats, wie sie von Freud paradigmatisch formuliert wurde, ist, wie schon gesagt, von der Struktur der Nachträglichkeit bestimmt, und zwar in mehrfachem Sinne. Zwei Aspekte seien hier genannt: (1) bewußtseinstheoretisch: Der Bau des psychischen Apparats erfordert diese funktionelle Nachträglichkeit für das Bewußtwerden, da nur über den Umweg der ›Einschreibung ins Gedächtnis‹ das Wahrgenommene zur bewußten Darstellung kommt; (2) psychopathologisch: Die Wirkungen bestimmter Ereignisse, die sich im Erleben von Individuen niederschlagen, können sich in einem lebensgeschichtlichen Kontext auf nicht vorhersehbare Weise traumatisch, krankheitsverursachend auswirken, womöglich erst Jahrzehnte später.209 Die eigenartige Nachträglichkeit läßt nicht nur Erlebnisse mit lebensgeschichtlicher Verspätung zur Unzeit traumatische Wirkungen zeitigen, sondern vermag verspätet eine retroaktive Wirkung zu entfalten, wodurch vergangene Ereignisse in einem gänzlich anderen Licht erscheinen.

Darstellbarkeit und Funktionalität des Psychischen Wenn laut Francis Bacon überall dort keine Wunder mehr anzutreffen sind, wo die Ursachen der Erscheinungen erkannt wurden, dann wäre der Wunderblock alles andere als ein wundersamer Apparat. In der Analogie zum seelischen Apparat allerdings wäre er ein wunderbares Modell, könnte er tatsächlich, so wie Freud ihn entdeckte und beschrieb, auch dem Charakter der Lebendigkeit von selbst genügen. Stattdessen muß das kleine Gerät namens Wunderblock supplementiert werden durch eine von außen hinzukommende Aktivität: »Denkt man sich, daß während eine Hand die Oberfläche des Wunderblocks beschreibt, eine andere periodisch das Deckblatt desselben von der Wachstafel abhebt, so wäre das eine Versinnlichung der Art, wie ich mir die Funktion unseres seelischen Wahrnehmungsapparats vorstellen wollte.«210 Mit dieser Animierung des Geräts wären dann für Freud die Bedingungen einer alle genannten Aspekte abdeckenden Analogie erfüllt. Ohne jedoch die metapsychologische Analyse zu vollenden, bricht der kleine Text hier ab. Eine ausführliche Erörterung der ökonomischen Dimension des psychischen Apparats würde

208. Kaempfer 1997. 209. In komplementärer Weise läßt sich auch das Verständnis für bestimmte Ereignisse nachträglich verlieren oder erstmals überhaupt gewinnen, was – mit entsprechenden Modifikationen – auch auf die geschichtliche Dimension, auf kollektive und kulturelle Zusammenhänge übertragbar ist. 210. Freud 1925b, 369. 433

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erst dessen Selbstorganisation auch im Sinne der Energetik begründen, so wie alle Phänomene des Lebendigen in der Perspektive der Biologie als Naturphänomene ebenfalls den allgemeinen Gesetzen der Physik und Chemie unterworfen sind.211 Für unseren Zweck ist es allerdings hinreichend, den von Freud ausgearbeiteten Zusammenhang von Wahrnehmung, Speicherung und Bewußtsein untersucht zu haben. Zwei grundlegende Problemkreise lassen sich dabei unterscheiden, die in einem bestimmten systematischen Zusammenhang stehen: (1) das Problem der Darstellung des Psychischen im allgemeinen und (2) seine Funktionalität im besonderen. Ad (1): Den Freudschen Überlegungen läßt sich entnehmen, daß Gedächtnis im Sinne einer organisierten Komplexität bei jeder Thematisierung immer schon einer Metaphorisierung unterliegt. Es erscheint also als etwas, das auf etwas (anderes) angewiesen ist, um sich zu organisieren; auf etwas, das dem Gedächtnis äußerlich ist im Sinne einer Außenseite, hier: eine Praxis der Schrift bzw. des Aufschreibens, an die – laut Freuds Vorschlag – das Verständnis der Speicherfunktion des Gedächtnisses metaphorisch angeschlossen ist. Diese äußere (und zugleich äußernde) Praxis wiederum verweist auf einen Sinnzusammenhang, der sich eben nicht erschöpfend beschreiben läßt, wenn man sich nur auf die bare Äußerlichkeit, die von ihm strukturiert ist, also auf das, was in Erscheinung tritt, beschränkt. Vielmehr bedarf es eines Bezugs auf Begriffe wie Subjektivität, Bewußtsein, Absicht, Interesse und Perspektive, ohne die der entäußerte Zusammenhang, nämlich die Schrift, ein bloßes Nebeneinander bliebe. Sinn bzw. Bedeutung bekommt es erst durch die Perspektive, die ein Subjekt zu ihm einnimmt. In diesem Modell der Darstellung, nämlich dem der Schrift und des Schreibens, zeigt sich zugleich eine Grenze der Darstellbarkeit. Die Praxis des Schreibens und der Schrift verweist auf etwas, das nicht in ihrer Erscheinung als Produkt enthalten ist – auf ein anderes, das von dem Produkt (dem Geschriebenen) supplementiert wird. Selbst ein Supplement, ist die Schrift auf etwas angewiesen, das wiederum sie konstituiert: Erst als zulesende wird die Spur Schrift gewesen sein. Die Wechselseitigkeit des Verweisungszusammenhangs bestimmt jedes in ihm enthaltene Element zugleich also von einer Abwesenheit aus, die von woanders her wirkt und die innerhalb der Systematik der Schrift etwas als etwas konstituiert. Deshalb tauchen im Rahmen psychoanalytischer Überlegungen immer wieder Metaphern der Lektüre, des Textes, der Schrift und des Schreibens, der

211. Man mag hierin die Mythologie eines Jahrhunderts erblicken: »Im Zweiten Grundsatz der Thermodynamik hat das 19. Jahrhundert das Wesentliche seiner mythologischen Ressourcen gefunden.« (Foucault 1967, 34) Die Frage bleibt allerdings, wie ohne Ökonomie gedacht werden könnte oder wie sie anders denkbar ist. Vgl. z.B. Schrödinger 1943, ein Text, an dem die Schwierigkeiten ablesbar sind, den Phänomenen des Lebens mit den Mitteln der Physik oder Chemie gerecht zu werden. 434

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5. AUFZEICHNUNGSMODELLE DES GEDÄCHTNISSES: RILKE, SCHREBER, FREUD

Spur und der Spurensicherung212 auf – Begriffe, die alle um Hinterlassenschaften kreisen und zugleich implizite Aufforderungen oder explizite Anstöße für weitergehende, anschließende Aktivitäten abgeben. Ausgehend von diesem differentiellen Verständnis von Strukturbildung und Systematizität muß sogar noch die Selbstorganisation als auf ein ›Außen‹ zurückgreifend gedacht werden, aus dem und von dem her sie sich selbst überhaupt zu bestimmen und zu organisieren versteht. Keine System ohne Umwelt. Diese Andersheit, welche sich z.B. in der Erscheinung der Schrift auswirkt und vielleicht nicht anders als durch die Schrift (oder ein anderes Medium) sich selbst zu artikulieren vermag, kommt dem sehr nahe, was in der Tradition das Subjekt geheißen hat, dessen »Wesen« Hegel mit dem unausweichlichen Schicksal bedacht hatte, zur Erscheinung kommen zu müssen. An dieser Notwendigkeit des Erscheinens hält Freud in gewisser Weise fest, wenn er mit Hartnäckigkeit die Probleme der Darstellung in das Denken des Psychischen einführt. Ad (2): Die Funktionalität des psychischen Apparats entfaltet sich entlang der eigentümlichen Topik, die Freud entwirft. Wie ich zu zeigen versucht habe, liegt in der Freudschen Modellbildung einerseits eine wechselseitige Verschränkung der verschiedenen Funktionen untereinander vor; andererseits sind die Funktionsweisen mit dem Aufbau des Apparats in direkter Weise verbunden (vgl. Kap. 2.2). Die Ordnung der Funktionalität entspricht dem Aufbau des Apparats und macht eine Nachträglichkeit des Bewußtwerdens unausweichlich. Auch in der Dimension der Darstellungsproblematik kommt die Zeitstruktur der Nachträglichkeit zum Tragen: Erst wenn sich irgendein Phänomen zeigt, können Hypothesen gebildet, Metaphern eingesetzt und Methoden entwickelt werden, die den Aufbau einer nachprüfbaren Theorie gestatten. An dieser Nachträglichkeit ändert auch die Einsicht nichts, daß die Begriffe und Methoden wissenschaftlicher Vorgehensweisen an der Konstitution der erkannten Phänomene selbst Anteil haben: Denn es bedarf in jedem Fall eines Ausgangspunkts. Dieser ist jedoch nicht als einfacher Ursprung zu denken, setzt er doch immer schon einen Kontext, eine Relation zu anderem, voraus, in dem er in Erscheinung treten kann. Vorgängigkeit und Nachträglichkeit heben einander nicht auf.

5.4 Schlußbetrachtung Die Analyse der Modelle von Rilke, Schreber und Freud hat ergeben, daß die am Medium der Schrift orientierte Aufzeichnung auf eine Logik des Supplements verweist, in der nicht nur die strukturelle Unvollständigkeit und Ergänzungsfähigkeit jeder Aufzeichnung erwiesen ist. Zugleich nämlich ist in ihr auch eine irreduzible praktische Dimension impliziert, die das zum Apparat objektivierte

212. Vgl. zum letztgenannten Ginzburg 1979 und dazu Weigels Kritik und Unterscheidung von (kriminalistischem) Indiz und (psychoanalytischer) Spur (Weigel 2003). 435

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Aufzeichnungssystem immer auch auf Verfahrensweisen hin durchsichtig macht, die dem Gerät als solchem nicht zu entnehmen sind. Während bei Rilke die akustische Spurenaufzeichnung des Phonographen mit dem literarischen Schreiben als Erinnerungsform verbunden wird und Schrebers bedrohliche »Aufschreibesysteme« durch seine eigene Schreibweise zurückgedrängt werden, sieht sich Freud genötigt, dem »Wunderblock« die Aktivität zweier Hände hinzuzufügen, von denen die eine schreibt und die andere die Schrift zum Verschwinden bringt. Die Supplementierung in allen drei Modellen läuft auf eine Selbstsupplementierung des Subjekts hinaus, insofern alle drei Autoren auf ein Jenseits des Apparats setzen, das sich bei Rilke als synästhetische Überschreitung hin zu einer Lesbarmachung der Natur konkretisiert, das bei Schreber vom Schreiben als Überlebensstrategie zum Begehren eines Nachlebens transformiert wird und das bei Freud auf eine nicht vom Apparat zu leistende Lektüre des Aufgezeichneten zielt, die als das ›Wunder‹ der Selbstorganisation des Psychischen figuriert. Während also die Animation der Natur (Rilke) bzw. des Apparats (Freud) in ein ästhetisches Programm bzw. eine Lektürestrategie mündet, findet sich bei Schreber die Kehrseite dessen ausbuchstabiert, nämlich die Vernichtung seiner Identität und seines Gedächtnisses durch die Animierung der Nerven. Auch wenn in konstruktivistischer Perspektive von »Gedächtnis ohne Aufzeichnung« (Heinz von Foerster)213 gesprochen worden ist, um im Paradigma der Selbstorganisation die Modellierung von Systemen gänzlich auf Begriffe der Funktion und der Operation umzustellen, haben die hier vorgeführten Textlektüren ergeben, daß der Begriff der Aufzeichnung nicht so leicht zu verabschieden ist, ist er doch im Sinne der Logik des Supplements zweideutig: Er steht sowohl für das ›Produkt‹ als auch für dessen ›(Re)Produktion‹. So wie der Begriff der Schrift sowohl auf Schreiben als auch auf Lesen verweist, ist der Terminus der Aufzeichnung immer schon auf Praktiken ihres Gebrauchs bezogen. Gerade der Diskurs der Selbstorganisation hat nun aber gezeigt, daß Elemente, Relationen, Strukturen, Apparate (als Einheiten betrachtet, aus denen Systeme bestehen) nicht nur Funktionen und Operationen voraussetzen, sondern daß umgekehrt Funktionen und Operationen wechselseitig füreinander als Gegenstände, Elemente, Strukturen, Relationen fungieren. Das heißt, daß selbst dann, wenn man den Gedächtnisbegriff ganz auf Operationsbegriffe gründet, die Funktion, daß etwas für etwas anderes als Aufzeichnung dient, nicht verschwindet. Der Begriff des Gedächtnisses erschöpft sich aber auch nicht in der Rückführung auf Begriffe wie Spur oder Schrift (i.S. einer materiellen Aufzeichnung), sondern ist immer schon bezogen auf Praktiken des Aufzeichnens und Lesens. Trotz der Dynamisierung des Gedächtnisbegriffs bleibt also seine Funktion dennoch, in einem systemischen Zusammenhang jene operativen Möglichkeiten aufrechtzuerhalten, die im aktuellen Vollzug nicht gebraucht werden.

213. Foerster 1965. 436

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

6. Vergänglichkeit. Geschichtsphilosophische und medienwissenschaftliche Perspektiven »Die Furie Sie sieht zu, wie es mehr wird, verschwenderisch mehr, einfach alles, wir auch; wie es wächst, über den Kopf, die Arbeit auch; wie der Mehrwert mehr wird, der Hunger auch; sieht einfach zu, mit ihrem Gesicht, das nichts sieht; nichtssagend, kein Sterbenswort; denkt sich ihr Teil; Hoffnung, denkt sie, unendlich viel Hoffnung, nur nicht für euch; ihr, die nicht auf uns hört, gehört alles; und sie erscheint nicht fürchterlich; sie erscheint nicht; ausdruckslos; sie ist gekommen; ist immer schon da; vor uns denkt sie; bleibt; ohne die Hand auszustrecken nach dem oder jenem, fällt ihr, was zunächst unmerklich, dann schnell, rasend schnell fällt, zu; sie allein bleibt, ruhig, die Furie des Verschwindens.« Hans Magnus Enzensberger »Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel Daß Hegels Philosophie in den zeitgenössischen Diskussionen über die sog. Neuen Medien, gar über Medienphilosophie kaum eine Rolle spielt, ist schon festgestellt worden.1 Auch in anderen aktuellen Theoriedebatten sind direkte Bezugnahmen auf Hegels Werk seltener geworden, was sicher auch mit der vor zwei Jahrzehnten vieldiskutierten Zeitdiagnose der Postmoderne zusammenhängt, die das Ende der fortschrittsgläubigen Programme in hegel-marxistischer Perspektive ankündigte, was mit der historischen Wende, die sich 1989 mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus vollzog, besiegelt wurde. Die

1. Eine der wenigen Ausnahmen ist Kittler 2000, der allerdings den Akzent auf die kulturwissenschaftliche Dimension der Hegelschen Philosophie legt. Allein Hegels Zettelkasten im Verhältnis zum System des Wissens, das seine Philosophie bildet, gibt Anlaß zu im engeren Sinne medientheoretischen Bemerkungen (vgl. a. Kittler 1989). 437

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

wesentlich von Jean-François Lyotards Buch La condition postmoderne (1979) angeregte Auseinandersetzung um das Ende der Geschichte ließ auf allen Ebenen der Gesellschaft die Denkfigur ins öffentliche Bewußtsein treten, daß die großen Erzählungen (die grands récits von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, die in der Geschichte verwirklicht werden sollten) ihre regulative Kraft schon längst einzubüßen begonnen hatten und somit ihr Ende von eben jener Geschichte besiegelt scheint, zu deren ›Fortschritt‹ sie beigetragen hatten. Hegels philosophische Grundidee vom Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes gehört ebenfalls zu jenen großen Erzählungen, denen heute kaum noch Kredit eingeräumt wird. Daß Hegel selbst mehr als nur Stichwortgeber war, nämlich einen entscheidenden Impuls für eine solche Theorielage gegeben hat, die ihn selbst und sein Werk als bestimmende Kraft zurückweisen würde, ist eine Ironie der Überlieferungsgeschichte. Denn die Diagnose, daß es ein Ende der Geschichte geben könnte, geht auf Hegels These vom Ende der Kunst zurück. In seiner für das 20. Jahrhundert prägenden Gestalt hat allerdings erst Alexandre Kojève2 mit seiner Hegel-Interpretation diese These zu jenem einflußreichen Bezugspunkt gemacht, auf den sich noch Francis Fukuyamas Beitrag vom Ende der Geschichte3 bezieht, in dem er eine neue Orientierung der amerikanischen Außenpolitik nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zu entwickeln versucht. Während aber Kojève und Fukuyama positiv an Hegels These anknüpfen und den Gedanken ernst zu nehmen versuchen, nach welchem es ein prinzipielles Ende des historischen Prozesses geben könne, kann man Lyotards Überlegungen als kritische Aufnahme und Infragestellung dieser These ansehen: Für Lyotard kann es nicht darum gehen, sich zu Fragen, wie das Ende der Geschichte zu bestimmen ist und welche Konsequenzen aus der Diagnose für die aktuelle Politik zu ziehen sind, zu äußern, sondern es gilt umgekehrt gerade die in der Erzählung vom Ende der Geschichte ausgedrückte These selbst zurückzuweisen und kritisch zu analysieren.4 Denn die These vom Ende der Geschichte beruht gerade auf der Geschichte/Erzählung (histoire), die in unserer kulturellen Tradition über die Kette der historischen Ereignisse erzählt wird. Wenn auch Hegels Philosophie als nicht in der Weise diskreditiert angesehen wird, wie es für die kritischen Hegel-Nachfolger in der Marx/Engels-Tradition gilt, deren theoretische Entwürfe als direkte Modelle zur Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit verwendet wurden, so scheint doch das Interesse an Hegels Denken merklich nachgelassen zu haben. Hegels heute im schwindenden begriffene Aktualität verdankte sich einst in der linken Perspektive seiner Vorgängerschaft auf dem Weg zu Revolution und Sozialismus. Heutzutage jedoch erscheint vielen Hegels Werk eben nicht einmal mehr als ein ge-

2. Kojève 1947. 3. Fukuyama 1989. 4. Vgl. dazu auch die Diskussion des Batailleschen Einspruchs gegen Kojèves Hegel-Lektüre in Agamben 2002, 14-22. 438

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

fährliches Potential (wie noch Karl R. Popper5 ihn in den 1940er Jahren als Wegbereiter des Totalitarismus sah), sondern in weiten Teilen schlicht als uninteressant bzw. historisch und wissenschaftlich veraltet.6 Folgt man jedoch nicht den Konjunkturen des Zeitgeistes, sondern läßt sich stattdessen auf das Denken Hegels ein, kann man die erstaunliche Radikalität seines philosophischen Ansatzes entdecken, der keineswegs einem einfachen, gar politisch radikalen Dogmatismus Vorschub leistet. Vielmehr begegnet man dem komplexen und differenzierten Entwurf einer Philosophie, die sich noch zutraut, das Ganze in der Einheit eines Systems (des Geistes) und einer Methode (der Dialektik) zu denken. Fragt man allerdings nach den Bedingungen der Konstitution des Systems, so begegnet das Problem des Ausschlusses des Partikularen und Individuellen – jener Reste, von denen Hegel als »völlig Vergangenem«7 spricht. Dieser Tendenz einer Homogenisierung und Totalisierung entgegengesetzt ist die methodologische Maxime Freuds, auch die »geringfügigsten Züge« für die psychoanalytische Deutung produktiv zu machen (Kap. 6.1). Dies impliziert eine andere Haltung zur Frage der Vergänglichkeit. Freuds unerbittlicher Realismus weicht vor der Unvermeidlichkeit der Todesproblematik nicht aus, deren individuell-existentielle Dimension er vor dem Hintergrund der historisch-kulturellen Entwicklung reflektiert. Auch für Freud ist die Frage des kulturellen Gedächtnisses eine Frage des Überlebens, wobei die Positivität des Gedächtnisses von einer Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit und dem Todestrieb abgelöst wird – nicht zuletzt in dem geschichtlichen Augenblick, wo er sich mit den kulturzerstörerischen Mächten des Krieges konfrontiert sieht und die Tradierung der Kultur als ganze – sowie der jüdischen Kultur im besonderen – in Frage steht (Kap. 6.3). An die Stelle von Hegels Glaube, daß »die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben«8, ist seit Freud die Traumatheorie getreten, die die Unvergänglichkeit nicht länger als Vollendung im absoluten Wissen, sondern als heillose Wiederkehr, d.h. als Nicht-weichen-Wollen des Traumas begreift. Wenn man mit Freud der Frage nachgeht, wie man angesichts von Barbarei und Katastrophe nicht vergißt, verdrängt, verleugnet, verwirft, so korrespondiert das durchaus mit Hegels Postulat, beim Negativen zu verweilen, d.h. dem Schrecken des Todes nicht auszuweichen.9 Die Gedächtnisproblematik nach der Psychoanalyse stellt sich demnach als spannungsreiche Konstellation von Erinnern und Tradieren, von Vergessen und

5. Popper 1944. 6. Hierbei sind sicher auch die antidialektischen Tendenzen in der nachhegelianischen Philosophie und Wissenschaftsentwicklung in Rechnung zu stellen, wie sie sich im Positivismus und Neukantianismus des 19. und in der (sprach-)analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zeigen. 7. Hegel 1830, § 452, 259. 8. Hegel 1807, 492. 9. Vgl. Hegel 1807, 36. 439

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Zurücklassen dar, mit der sich Subjekte ins Verhältnis zu ihrer Endlichkeit setzen. Hierbei bilden die Technik und ihre kulturelle Auslegung einen symptomatischen Schauplatz, auf dem sich das Verhältnis zur Endlichkeit kristallisiert (Kap. 6.2).

6.1 Zur Frage des Unerinnerbaren. Hegel und Freud Zum Abschluß dieser Arbeit soll nun in einer Gegenüberstellung der Hegelschen Philosophie und der Freudschen Psychoanalyse deutlich gemacht werden, wie in diesen beiden Ansätzen mit dem umgegangen wird, was sich der Erfahrung (nicht nur des Historikers) verschließt, der begrifflichen Erfassung entzieht und allgemein der Theoretisierung nicht oder nicht ohne weiteres fügt. Hegels umfassender Anspruch, philosophisch alles auf den Begriff zu bringen, ist konfrontiert mit der Widerständigkeit des in der Erfahrung Erscheinenden, das es für die Philosophie in systematischer Weise aufzuheben gälte, um so vom Geist in seinem Zu-sich-Kommen vollkommen ab- oder durchgearbeitet, d.h. angeeignet zu werden. Gleichwohl ist an wenigen, aber systematisch entscheidenden Stellen von den Verlusten dieses Aneignungsprozesses die Rede, d.h. von dem, was entgegen dem totalisierenden Anspruch aus ihm ausgeschieden und zum unbedeutenden Rest erklärt wird. Dementgegen kann bei Freud von einer expliziten Problematisierung der Grenzerfahrung bei der Theoretisierung gesprochen werden: Insofern Freuds psychoanalytische Erfahrung sich immer schon mit dem Unverständlichen und wissenschaftlich Unerklärlichen (mit Fehlleistungen und Symptomen, mit der Hysterie) konfrontiert sieht, stellt sich für Freud weniger die Aufgabe einer Abarbeitung des Unsinns oder eines Wegsortierens des widerständigen Rests als vielmehr die Frage danach, welche Rolle das insistierende Unverstandene und Ungewußte im Psychischen spielt. Freud kann insofern als Gegenfigur zum Systemdenken Hegels gesehen werden. Hierfür kann nicht nur Freuds Skepsis gegenüber den Systembauten der Philosophen als Beleg angeführt werden.10 Viel in-

10. Vgl. z.B. Freud 1900, 471, wo Freud die sekundäre Bearbeitung mit der Karikatur der Tätigkeit des philosophischen Dachstubengelehrten in eins setzt, allerdings nicht im direkten Angriff auf die Philosophie, sondern mit den Worten eines Dritten: »Was dieses Stück der Traumarbeit auszeichnet und verrät, ist seine Tendenz. Diese Funktion verfährt ähnlich, wie es der Dichter boshaft vom Philosophen behauptet: mit ihren Fetzen und Flicken stopft sie die Lücken im Aufbau des Traums.« (Es handelt sich um eine Anverwandlung des Heine-Gedichts »Die Heimkehr«: »Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen / Stopft er die Lücken des Weltenbaus.«) Vgl. a. Freud 1915b, wo Freud die Systembauten und Begriffskonstruktionen der Philosophie mit dem psychotischen Denken vergleicht. Zur positiven Funktion von »Konstruktion« in der Analyse vgl. Freud 1937b und oben Kap. 4.2: »Konstruktion und Deutung«. 440

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

teressanter ist seine Haltung als Forscher gegenüber den Phänomenen: sein Zögern vor der Konzeptualisierung; sein Ringen um eine angemessene Modellbildung; sein Beharren auf dem undeutbaren Rest (dem »Nabel des Traums«) und dem Nicht-Abschließbaren des Deutungsprozesses (»Mycelium«); seine grundlegenden theoretischen Revisionen statt des Zurechtbiegens der Erfahrung (erste und zweite Topik; Einführung des Todestriebs); seine prinzipielle Bereitschaft zum Aufgeben der theoretischen Modelle und Prinzipien, wenn die psychoanalytische Erfahrung es erfordert und jene diese nicht mehr angemessen zu konzeptualisieren gestatten.

Wiederholende Lektüre Hegels System des Wissens (das ja seine Philosophie – im doppelten Sinne – darstellt) ist das Modell einer totalisierenden Erinnerung, die nur im Rahmen einer Metaphysik des Geistes verständlich ist. Während sich Freuds Aufmerksamkeit für das Detail als Spur und Symptom im Rahmen zunächst einer therapeutischen, dann auch einer allgemeinen psychologischen und kulturtheoretischen Fragestellung entwickelt hat (vgl. Kap. 6.2), in der ein offener, nicht subjektzentrierter Prozeß der Deutung den Abschluß bzw. die Vollendung im Wissen stets hintertreibt und dadurch aufschiebt, läßt sich in Hegels Geschichtsphilosophie ein Verwerfen des Rests – im Sinne eines Unerinnerbaren11 – zugunsten des Systems konstatieren. Dieser Rest – und nur er – soll im folgenden in seiner Rolle für Hegels Denken und Traditionsbildung hinsichtlich des Verhältnisses von Erinnern und Gedächtnis reflektiert werden, aber auch in seinem Stellenwert für eine aktuelle Lektüre Hegels, die, indem sie auf den Rest setzt bzw. den Rest fokussiert, die Darstellung des Unerinnerbaren – sozusagen contre cœur – lesbar zu machen versucht. In diesem Zusammenhang sei auf Werner Hamachers großen Versuch einer Lektüre Hegelscher Texte hingewiesen, die in methodologischer Hinsicht das wiederholte Lesen als wiederholende und verschiebende Lektüre und damit als eigentliche philosophische Auseinandersetzung mit dem Text und zugleich immer auch gegen die in ihm behaupteten Thesen profiliert.12 Mit einem solchen Begriff von Lektüre kommt ein philologisches Verfahren zum Zuge, das auch in Kulturwissenschaft und Psychoanalyse gemäß Walter Benjamins13 Forderung verfährt: »Was nie geschrieben wurde, lesen« (vgl. Kap. 5.1), oder, für das hier zu verhandelnde Terrain gewendet: »Was unerinnerbar ist, entziffern.« Das bedeutet nicht, Hegels umfassendes System einer am Leitfaden des sich entwickelnden Geistes geschriebenen Weltgeschichte zu ›psychoanalysie-

11. Thüring 2001 rekonstruiert in der Hegelschen Psychologie das Verschwinden des Affekts aus dem Gedächtnis, so daß sich das Gedächtnis anstelle der Affekte konstituiert. 12. Hamacher 1976. 13. Zu Walter Benjamins Paradigma von Zeichenlektüre, insbesondere Lesbarkeit von Gedächtnisspuren vgl. Weigel 1997. Zur Entzifferung des Vergessenen bei Benjamin vgl. auch Koller 1995. 441

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

ren‹; vielmehr gilt es, sein Denkmodell des Erinnerns und des Gedächtnisses auf ein implizites Wissen um das Ausgeschlossene, Vergessene, Unerinnerbare hin zu befragen. Damit kommt nicht zuletzt Hegels von ihm selbst formuliertes Modell des wiederholten Lesens ins Spiel, das er ausgehend von den Erfordernissen einer philosophischen Lektüre diskutiert.14 Während das verständige, räsonnierende Denken lt. Hegel von gleichsam fixen, gegenständlichen Einheiten (des Satzes) ausgeht, die mit Subjekt, Prädikat, Objekt etc. bezeichnet sind, setzt die spekulative Lektüre auf den wechselnden »Rhythmus«15 von Festhalten, Verlorengehen, Gehemmtsein und Zurückgeworfenwerden, wobei alle an diesem Prozeß beteiligten Elemente in eine Bewegung der ständigen Veränderung hineingezogen werden. Jegliche Bestimmung, die durch ein Prädikat dem Subjekt des Satzes zugesprochen wird, verändert dessen Status: »Um das Gesagte durch Beispiele zu erläutern, so ist in dem Satz: Gott ist das Sein, das Prädikat das Sein; es hat substantielle Bedeutung, in der das Subjekt zerfließt. Sein soll hier nicht Prädikat, sondern das Wesen sein; dadurch scheint Gott aufzuhören, das zu sein, was er durch die Stellung des Satzes ist, nämlich das feste Subjekt.« [Nicht nur das spekulative] »Denken verliert daher so sehr seinen festen gegenständlichen Boden, den es am Subjekte hatte, als es im Prädikate darauf zurückgeworfen wird und in diesem nicht in sich, sondern in das Subjekt des Inhalts zurückgeht.« 16 Die hiermit angezeigte Schwierigkeit im Verständnis der grundlegenden philosophischen Denkungsart erfordert nicht nur eine besondere Darstellungsweise in der schriftlichen Artikulation der Gedanken, sondern auch einen spezifischen Umgang mit den Texten, in denen sich dieses Denken artikuliert. Der erforderlichen Komplexität philosophischer Texte muß eine angemessene Lektüre begegnen. Die Anforderungen an den Leser haben »Klagen über die Unverständlichkeit philosophischer Schriften« provoziert: »Wir sehen in dem Gesagten den Grund des ganz bestimmten Vorwurfs, der ihnen oft gemacht wird, daß mehreres erst wiederholt gelesen werden müsse, ehe es verstanden werden könne, – ein Vorwurf der etwas Ungebührliches und Letztes enthalten soll, so

14. Hegel 1807, 60. 15. Vgl. Hegel 1807, 59. 16. Hegel 1807, 59f. Wie sehr Hegels Denken von beiden gegenstrebigen Tendenzen – der alles durchdringenden Beweglichkeit und der vollkommenen Ruhe – durchzogen ist, diese jedoch letztlich in einseitiger Weise auflöst, zeigen die folgenden Sätze: »Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens der Wahrheit ausmacht. Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar [sich] auflöst, ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe.« (Hegel 1807, 46) 442

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

daß er, wenn er gegründet, weiter keine Gegenrede zulasse. – Es erhellt aus dem Obigen, welche Bewandtnis es damit hat. Der philosophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewöhnlichen Verhältnisses des Subjekts und Prädikats und des gewohnten Verhaltens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben zerstört sein philosophischer Inhalt; die Meinung erfährt, daß es anders gemeint ist, als sie meinte, und diese Korrektion seiner Meinung nötigt das Wissen, auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders zu fassen.«17 Erst die wiederholte und dadurch wiederholende Lektüre erschließt den philosophischen Gehalt eines Satzes – sei es auch ein philosophischer Satz: Denn auch der Philosophie steht keine grundsätzlich andere Ausdrucksweise zur Verfügung als die Sprache, die auch das Medium der Artikulation des alltäglichen, gewöhnlichen Sprechens ist. Ohne eine besondere Lektürehaltung, die von Sorgfalt und Hartnäckigkeit, von Aufmerksamkeit für die Nuance und den Prozeß der Leseerfahrung selbst gekennzeichnet ist, kann der spekulative Satz und d.h. das dialektische Denken beim Leser nicht zum Zuge kommen. Dieses von der Struktur des spekulativen Satzes geforderte Zurückgehen zum Vorhergehenden soll zu einer veränderten Auffassung des Subjekts des Satzes und damit zugleich seiner Sicht durch das Subjekt der Erkenntnis und also zu einer Vertiefung des Verständnisses nicht nur des Satz-Subjekts, sondern der gesamten Aussage des Satzes führen, kurz: das Wissen transformieren, welches das Subjekt sprachlich artikuliert. Zu dieser Bewegung der Rückkehr als Veränderung des Ausgangspunkts läßt sich eine Verbindung zum Begriff der Erinnerung herstellen, wie ihn Hegel in seiner Philosophie an zentralen Stellen exponiert. Auch zu diesem Begriff gehört eine Bewegung des Rückgangs, die das Vergangene, indem sie es wieder aufnimmt, durch Aneignung verwandelt. Deshalb sei im folgenden Hegels Erinnerungskonzeption dargestellt, um im Anschluß daran die Problematik des Verlustes, des Herausfallens und Aussortierens des für unwesentlich Erklärten zu erläutern. Dazu ist es allerdings erforderlich, den Rahmen, in dem die verschiedenen Verwendungs- und Schreibweisen des Begriffs »Erinnerung« vorkommen, zu skizzieren. Hierzu sollen exemplarisch jene Passagen der Hegelschen Schriften dienen, in denen obendrein jene Differenz zur Geltung gebracht werden kann, auf die es in diesem Zusammenhang ankommt, nämlich die zwischen dem behaupteten Anspruch eines sich verwirklichenden Ganzen als Geist und dem, was nicht in dieses Ganze eingehen kann. Auf Hegels Unterscheidung zwischen Erinnerung, Einbildung und Gedächtnis zielend sei nun also das Unerinnerbare fokussiert, an das zu erinnern, wie der Begriff nahelegt, ein Ding der Unmöglichkeit sein könnte, von dem aber dennoch, wie ich aus systematischen Gründen meine, zu sprechen versucht werden muß. Ich konzentriere mich hierbei im wesentlichen auf drei Texte Hegels: (1) die Schlußpassagen der Phänomenologie des Geistes, in denen die Entwicklung des Geistes im absoluten Wissen kulminiert, welches sich letztlich durch die Figur

17. Hegel 1807, 60. 443

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

der Er-Innerung verwirklicht und vollendet, allerdings um den Preis des unmittelbaren Verschwindens der Einzelheit des Individuellen18, (2) die Einleitung zur Philosophie der Geschichte, die die Einheit von Welt und Geschichte als Vernunft und das gleichzeitige Aussortieren des Unwesentlichen bzw. Partikularen thematisiert, und (3) die systematischen Abschnitte zu Erinnerung und Gedächtnis in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die die konkrete Darstellung der subjektiven Fähigkeiten des individuellen Geistes als Psychologie formulieren, allerdings unter Verlust des völlig Vergangenen.

Erinnerung und Gedächtnis im subjektiven Geist und das völlig Vergangene Hegel ordnet Erinnerung und Gedächtnis als Fakultäten des subjektiven Geistes in jenen Teil der Psychologie, die den theoretischen Geist (im Gegensatz zum praktischen und freien Geist), mithin das Erkennen als Aktivität der Intelligenz behandelt. Der Anfang wird mit der Anschauung gemacht, die zunächst als Empfindung unmittelbar aufnehmend ist,19 dann qua Aufmerksamkeit das Aufgenommene als Gegenstand fixiert und der Intelligenz gegenüberstellt (ob-jectum)20 und zuletzt der Intelligenz die Gelegenheit eröffnet, die Empfindung und Aufmerksamkeit zur wirklichen Anschauung aufzuheben, welche das Objekt als ein Sich-selber-Äußerliches setzt21. Mit dieser doppelten Bewegung der Verinnerlichung des Äußeren (die durch Sinnlichkeit gewonnene Anschauung des später sogenannten Objektiven) und des Setzens des Verinnerlichten als Sich-selber-Äußerliches (als Objekt des Subjekts, des Bewußtseins) »verinnerlicht die Intelligenz sich selbst auch. Die Verinnerlichung des Gegenstandes und die Er-Innerung des Geistes sind nur zwei Aspekte eines Vorganges.«22 Die der Anschauung nachfolgende Stufe der geistigen Tätigkeit ist das Vorstellen, welches sich ebenso in drei Aspekte gliedert: Als Vorstellung ist der unmittelbare Gegenstand zu einem in die Intelligenz erinnerten, aufgenommenen geworden. Das vereinzelte Objekt wird nun in seinem allgemeinen Charakter aufgefaßt: Als ein immer schon im Raum und in der Zeit gedachter Gegenstand verwandelt diese Erinnerung ihn zu einem Bild.23 Die Abwandlung dieser Bilder nach inneren Gesetzen unterliegt der Einbildungskraft,24 und ihre Verbindung mit Namen erhebt sie zu Begriffen für die Intelligenz, wodurch die Intelligenz Gedächtnis wird25. Die Vollendung des theoretischen Geistes vollzieht das Den-

18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.

Vgl. Hegel 1807, 492. Hegel 1830, § 446, 246f. Hegel 1830, § 448, 249. Hegel 1830, § 449, 253. Drüe 2000, 265f. Hegel 1830, § 458, 270. Hegel 1830, § 455, 262f. Hegel 1830, § 461, 277. 444

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

ken, welches sich in Verstand (Erarbeitung der Kategorien zu den Einzelheiten), Urteil (Feststellung der Allgemeinheit des Einzelnen) und Vernunft (Bestimmung des Inhalts aus sich selbst) gliedern läßt.26 Hegel verwendet den Terminus »Erinnern« also in mindestens dreierlei Weise: (1) als das Anverwandeln des Aufgenommenen in ein Bild und dessen Versenkung im nächtlichen Schacht der Intelligenz (Ver-Innerlichung); (2) als das unwillkürliche Wiederauftauchen der Bilder aus dem bewußtlosen Innen; (3) als das Beziehen des Bildes auf eine unmittelbar gegebene Anschauung (als Subsumtion des anschaulichen Einzelnen unter das der Form nach Allgemeine, unter die Vorstellung).27 Mit der durch graphische Markierung hervorgehobenen »Er-Innerung« geht es Hegel in den kulminierenden Schlußpassagen der Phänomenologie des Geistes um einen der äußeren Aneignung gegenüberstehenden inneren Vorgang der Vertiefung in sich selbst.28 Im Durchgang durch die Geschichte seiner Entwicklung vermag der Geist sich selbst anzueignen und in der Weise durchsichtig zu werden, so daß er die erinnerten, abgelegten Gestalten als die seiner selbst erkennt. Indem er sich also in der Geschichte wiedererkennt, die er durchlaufen hat, sind ihm auch die Mittel an die Hand gegeben, sich selbst zu begreifen, sich mit seinem Gewordensein zu versöhnen, über es zu verfügen und so seine Freiheit zu verwirklichen. Hegel läßt diesen Prozeß in eine Bewegung der Totalisierung des Geistes münden, die mit dem Titel des absoluten Wissen ausgezeichnet wird. Retrospektiv erscheint dieser Prozeß dynamisch als »die Bewegung, die das Subjekt herstellt.«29 Entsprechend erscheint »die andere Seite seines Werdens, die Geschichte, [als] das wissende, sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäußerte Geist« als etwas fast Statisches: »Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit dem vollen Reichtume des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat.« 30 Alles, worum es sich für den Geist dreht, ist letztlich er selbst. Denn das, was es sich hier anzueignen gilt, ist sein eigenes Werk, eine Hervorbringung seiner Geschichte: »diese Entäußerung ist ebenso die Entäußerung ihrer selbst; das Negative ist das Negative seiner selbst.« In den Horizont seiner eigenen Geschichte eingeschlossen bleibt alle relevante Negativität eine seiner selbst verhaftete und damit letztlich positive, d.h. wiederanzueignende Größe: »Indem seine Vollendung

26. 27. 28. 29. 30.

Hegel 1830, § 465f., 283ff. Vgl. Schmitz 1964. Vgl. Theunissen 2001. Hegel 1807, 590. Ebd. 445

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen ein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt.«31 Das qua Er-Innerung gewonnene absolute Wissen bleibt eine »Negativität dieses insichseienden Ich«32, auch wenn »das neue Dasein« als »aus dem Wissen neugeborene«, aus der Er-innerung erwachsende »neue Welt und Geistesgestalt«33 in sich »ebenso unbefangen von vorn bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen«34 hat. Denn »wenn also dieser Geist seine Bildung, von sich nur auszugehen scheinend, wieder von vorn anfängt, so ist es zugleich auf einer höheren Stufe, daß er anfängt.« Nicht um einen Rückgang zum absoluten Anfang, sondern zu einem immer schon relativen, vermittelten Anfang handelt es sich: »Das Geisterreich, das auf diese Weise sich in dem Dasein gebildet, macht eine Aufeinanderfolge aus, worin einer den anderen ablöste und jeder das Reich der Welt von dem vorhergehenden übernahm.«35 Hegel setzt also auf die kulturelle Kette der Überlieferung, der Tradition. Damit bleibt jedoch der Anfang, von dem die Phänomenologie selbst handelt, unerreicht zurück, und die Unmittelbarkeit, von der eben die Rede war, ist eine andere als die des Anfangs, den die sinnliche Gewißheit machte. Damit bleibt das am Anfang im Übergang von der sinnlichen Gewißheit zur Anschauung Aussortierte auch retrospektiv aus dem System des absolut gewordenen Wissens ausgeschlossen.

Geist als das Ganze: System und Entwicklung Hegels großartiger, um nicht zu sagen größenwahnsinniger Versuch einer Weltgeschichte des Ganzen als System36, in dem alles seinen Platz hat und nur das keinen finden kann, was unwichtig oder belanglos ist, ist in sich äußerst differenziert angelegt. Hegels philosophischer Anspruch, die Entwicklung des Geistes von ihrem Ursprung als Entäußerung bis zur Vollendung durch wiederaneignendes Zu-sich-selbst-Kommen nachzuvollziehen und als ein sich selbst begründendes, systematisches Wissen auszuformulieren, ist von größter Komplexität und totalisierender Geschlossenheit zugleich. Bei aller Differenziertheit macht Hegel es sich hier allerdings – im doppelten Sinne – ausschließlich einfach mit dem, was zunächst aus der Logik dieses Sy-

31. Ebd. 32. Hegel 1807, 591. 33. Hegel 1807, 590. 34. Hegel 1807, 591. 35. Ebd. 36. An dieser Kennzeichnung ändert sich auch dann nichts, wenn man den »Transformationsprozeß des Systems« im Hegelschen Denken mit berücksichtigt, der von einer »Systematisierung der Historie zu einer Historisierung der Systematik führt« (Falke 1996, 8). 446

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stems und dann auch aus dem Denken, das diesen Zusammenhang zu artikulieren sucht, herausfällt – eines Systems der in sich differenzierten Totalität, das die Welt, ihre Geschichte und das Denken, welches auf den Begriff bringt, ausmacht.37 In der Tat gibt es vorderhand nichts, was nicht Teil des Systems sein und seinen Platz dort finden könnte. Dies entspricht Hegels Anspruch, daß die Philosophie alles auf den Begriff und damit zugleich die Ordnung des Seins selbst zur Darstellung zu bringen habe. Allerdings: Es kann nicht alles zum System gehören, weil es sonst keinen Unterschied zum Nichtsystem gäbe, von dem das System als System unterschieden werden (bzw. sich unterscheiden) könnte. Hegel geht also von einer Unterscheidung des Wesentlichen und des Unwesentlichen aus38, um

37. Karl Löwith kommentiert Hegels Anspruch auf Sinn als perspektiviert durch den ›faktischen Erfolg‹: »Denn wenn auch im Fortgang einer bestimmten Epoche ein Schritt auf den andern mit einer Folgerichtigkeit folgt, weil bestimmte Entscheidungen bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen, so ist doch der Zufall der Umstände und die Vielfalt des Wollens und der Spielraum der Willkür ein nicht minder wesentliches Moment im Fortgang des Geschehens. Der Gedanke, daß alles auch hätte anders kommen können, ist nicht hinweg zu denken. Hegels Absicht, den Zufall aus dem vernünftigen und innerlich notwendigen Gang der Geschichte auszuschalten, kann nicht ihr Ziel erreichen, und seine folgerichtige Konstruktion der Philosophie der Geschichte als einer ›philosophischen Weltgeschichte‹, und desgleichen der Geschichte der Philosophie, ist eigentlich aus dem Gesichtspunkt des faktischen Erfolgs geschrieben. Dieser Glaube, daß die Weltgeschichte das Weltgericht ist, weil in ihr das Rechte und Vernünftige notwendig zum Austrag kommt, ist so unglaubwürdig geworden, wie der ihm vorausgegangene Glaube an eine göttliche Führung und Vorsehung.« Die Frage nach dem Sinn des Ganzen (der Geschichte, der Welt) ist sinnlos, sofern es nichts außerhalb Liegendes geben kann und den Bezugspunkt zu geben vermag, der über Sinn und Unsinn des Ganzen entschiede. Nur aus sich selbst heraus kann es eine Sinnbestimmung geben: »Die Frage nach dem ›Sinn‹ der Geschichte [...] mußte über die geschichtliche Welt und die geschichtliche Denkweise hinausführen, zur Welt überhaupt, welche das Eine und Ganze des von Natur aus Seienden ist. Gegenüber der Welt im Großen und Ganzen verliert aber die Frage nach dem Sinn im Sinn eines ›Wozu‹ oder Zweckes ihren Sinn, denn das immer gegenwärtige Ganze des von Natur aus Seienden, welches wir Welt nennen, kann nicht noch zu etwas anderem außer ihm und in Zukunft da sein. Als das Ganze des Seienden ist die Welt immer schon vollständig und vollkommen selbständig und die Voraussetzung auch aller unselbständigen Existenzen.« (Löwith 1959, 154f.) Die radikale Beschränkung auf die Immanenz verbietet eine positive Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen. 38. »Die Philosophie dagegen betrachtet nicht [die] unwesentliche Bestimmung, sondern sie, insofern sie wesentliche ist; nicht das Abstrakte oder Unwirkliche ist ihr Element und Inhalt, sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende und in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der Prozeß, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus.« Dazu gehört zwar auch das Negative, Verschwindende – allerdings bloß als das selbst etwas 447

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die Komplexität der Aspekte und Details39, die zu berücksichtigen wären, zu reduzieren. Es geht demnach immer auch und schon anfänglich um ein Aussortieren. Woran läßt sich jedoch dieser Unterschied der Unterscheidungen – die zwischen innen und außen, zum System gehörig und nicht dazugehörig differenzieren – genau festmachen, und wie begründet Hegel seine Ausgangsunterscheidung? Hegel stellt in Aussicht, daß mit der Ausarbeitung seines philosophischen Systems sich nach und nach alle einzelnen Schritte und Elemente im Fortgang der Entwicklung rechtfertigen und gegenseitig begründen werden – daß also alles Wesentliche sich durch Eingliederung ins System als solches erweisen wird, nämlich als wesentlich zum System gehörig, für dessen Entwicklung notwendig und logisch stimmig. Gegen diesen totalisierenden Zug des dialektisch-differenzierenden, aber letztlich identitätsphilosophisch-vereinigenden Systemdenkens ist bekanntlich Theodor W. Adornos Verdikt, das Ganze sei das Unwahre (Minima moralia)40, gerichtet. Denn woher weiß der Philosoph Hegel, was für den Fortgang der Geschichte wichtig ist, was erinnerns- und aufhebenswert ist? Weil er den Zielpunkt der Geschichte schon im voraus kennt – wenigstens der Logik nach, dem Prinzip nach –, kann er für jedes x-beliebig auftretende, scheinbar zufällig sich ergebende Ereignis entscheiden, ob es für das Ganze (bzw. das gelungene Ende seiner Entwicklung) von Relevanz sei oder nicht. Was aber ist dieses Ganze? Es ist in letzter Hinsicht Eines, wenn auch ein mit Unterschieden behaftetes, es ist Einheit von Unterschieden, es ist der Geist. Unvergänglichkeit ist also keine Naturgegebenheit, sondern Sache des Geistes. Schon eine solche Zuschreibung an Natur, daß sie ewig und unvergänglich sei, hat ihre Voraussetzungen, und auf diese weist Hegel mit Nachdruck hin. Aus einfacher Trägheit bleibt nichts, wie es ist. Vielmehr muß das, was bleibt, Teil des Geistes sein, der eine – wenn auch noch so geringe – Anstrengung leisten muß, um etwas zu behalten, was einmal da war (zur sog. »Aufnahme in die Intelligenz« s.u.). Da nach der Hegelschen Hypothese dasjenige, was die Welt im Innersten zusammenhält, Geist ist, hat alles, was entsteht und vergeht, nur in Bezug auf den Geist Bedeutung: Wenn es dauert, wird es seinen Sinn für den Geist haben, wenn nicht, dann nicht – und kann getrost vergessen werden, denn eigentlich gibt es nur Geist. Die Substanz der Welt ist also an sich Geist, aber keine in sich ruhende, sondern eine sich entwickelnde, zu sich kommende, auf dem Wege seiende, kurz gesagt: eine (an und für sich) werdende Substanz. An prominenter Stelle, nämlich in den Schlußpassagen seiner Phänomenolo-

Positives Bewirkende, als ein das Resultat Hervorbringendes, Bedingendes (Hegel 1807, 46). 39. Vgl. dazu Gaschés Versuch, das ›Detail‹ in Hegels Ästhetik zu rekonstruieren. ›Detail‹ fehlt dort zwar als operationaler Begriff, taucht aber in unterschiedlichen Zusammenhängen auf: Während der ›Staat‹ jegliches Detail eliminieren muß, gehört es zum konstitutiven Milieu der Kunst (Gasché 2003). 40. Adorno 1951, 57. 448

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gie des Geistes, spricht Hegel die Prinzipien des Geistes als Werden und Bewegung aus.41 Bekanntlich wollte Hegel die Weltgeschichte als Bewegung der Entäußerung des Geistes zur Natur und ihrer Wiederaneignung durch die Erfahrung des Denkens, der Arbeit und der Kultur beschreiben, um nur diese drei Dimensionen zu nennen, die sämtlich als Selbstbestimmung des alles umgreifenden Geistes ausgelegt werden. Auf die ursprüngliche Entzweiung des Geistes folgt seine weltgeschichtliche Versöhnung. Die Entäußerung in Raum (als Natur) und Zeit (als Geschichte) wird im Zu-sich-Kommen des Geistes letztlich durch Er-Innerung aufgehoben.42 Die dialektische Dreiheit von These, Antithese und Synthese faßt diese Bewegung auf formale Weise. Deren innere Dynamik läßt sich in Hegels Perspektive als Logik der Negation verstehen, die in ihrer gestuften Anwendung zunächst jede Setzung, Annahme, Position mit einer Gegenthese konfrontiere, die durch Negation hervorgebracht und als Negation der Ausgangsposition, also auch als deren Produkt aufgefaßt werden könne. Dieses immer vorläufige – d.h. auf einen noch nicht erreichten Stand vorausgreifende und von einem immer darüber hinausweisenden Stand überholbare – Resultat wird nun seinerseits zum Ausgangspunkt einer weiteren Negation, die eben nicht ein bloßes Zurückkehren vom bzw. Zurücknehmen des Erreichten (doppelte Negation im mathematischen Verstande) darstellen soll, sondern zugleich eine über die erste Position und deren Negation, These und Antithese hinausgehende Vermittlung, die selbst ein verändertes Resultat höherer Ordnung und Komplexität sei. Dabei kann jedes Resultat potentiell Ausgangspunkt einer weiteren Negation werden, in der sich ein Widerspruch zum Erreichten ausdrückt. Darum sind für Hegel immer die Resultate der Negation entscheidend, denn sie können wiederum negiert werden. Was in dieser dialektischen Bewegung verlorengehe, interessiere für den Fortgang des Ganzen nicht. Für die hier diskutierte Frage nach dem Unerinnerbaren aber sind gerade jene Reste von Interesse, die aus dem Prozeß der Dialektik ausgeschieden werden, weil sie Spuren jenes Ausgangspunkts bilden, den der Prozeß immer schon voraussetzen muß, ohne ihn sich vollständig zu eigen machen zu können.

41. »Diese Substanz aber, die der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies sich in sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist. Er ist an sich die Bewegung, die das Erkennen ist, – die Verwandlung jenes Ansichs in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstandes des Bewußtseins in Gegenstand des Selbstbewußtseins, d.h. in ebensosehr aufgehobenen Gegenstand oder in den Begriff.« (Hegel 1807, 585; vgl. a. 587: »Der Geist aber hat sich uns gezeigt, weder nur das Zurückziehen des Selbstbewußtseins in seine reine Innerlichkeit zu sein noch die bloße Versenkung desselben in die Substanz und das Nichtsein seines Unterschiedes, sondern diese Bewegung des Selbsts, das sich seiner selbst entäußert und sich in seine Substanz versenkt und ebenso als Subjekt aus ihr in sich gegangen ist und sie zum Gegenstande und Inhalte macht, als es diesen Unterschied der Gegenständlichkeit und des Inhalts aufhebt.«) 42. Als zusammenfassende Darstellung der Erinnerungsproblematik bei Hegel vgl. Piepmeier 1981-1982, 147. 449

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Sofern es das Denken betrifft, welches sich im Medium des Begriffs43 artikuliert, ist damit das wesentliche Prinzip seines Vollzugs ausgesprochen. Diese von Hegel so genannte grundsätzliche Selbstbewegung des Begriffs44 ist das Medium der philosophischen, erkenntnismäßigen Darstellung aller Erscheinungen in ihrem systematischen Zusammenhang. Dabei läuft alles auf die Hervorbringung des absoluten Wissens hinaus, welches eben nicht nur ein bloßes Produkt des Prozesses, sondern zugleich auch das Aufbewahren (und nicht nur negierende Aufheben, abstreifende Hinter-sich-Lassen, sondern Behalten) aller wesentlichen Zwischenstufen der Entwicklung sein soll. Hegels philosophische Konstruktion eines absoluten Gedächtnisses bzw. einer totalen Erinnerung kann also nur im Rahmen einer schon vorausgesetzten Hintergrundannahme, nämlich im Rahmen einer Metaphysik des Geistes überzeugen. Es ist der Geist, der den grundsätzlichen Zusammenhang stiftet. Wenn Hegel diesen Geist als Prozeß, als ein dynamisches und systemisches Ganzes denkt, dann besteht seine Radikalität darin, alles – Begriff und Gegenstand, Subjekt und Substanz, Mensch und Welt – als veränderlich und beweglich zu denken. Jede Position verschiebt sich und wird zugleich aufgehoben (in allen drei Bedeutungen dieses Terminus), nichts Festes bleibt bestehen – aber der Prozeß als ganzer bleibt eingebunden in eine Perspektive, die dem Ganzen eine Orientierung gibt. Der Geist selber gibt ›an sich‹ also schon jene Prinzipien vor, nach denen sich seine Entwicklung wird vollziehen müssen. Da demnach alles, was ist, durch den Prozeß des Werdens, des Entstehens und Vergehens gekennzeichnet ist, muß es so beschrieben und verstanden werden, daß es als hervorgebracht von oder hervorgegangen aus diesem Prozeß, zu dem es gehört, deutlich wird. Damit erhebt Hegel den Anspruch, daß nicht nur das Denken und seine begrifflichen Bestimmungen dynamisch bleiben und als ein beständiger Prozeß des begrifflichen Konstruierens, des Überdenkens aufgefaßt werden müssen, sondern daß die Welt selbst als ein der philosophischen Konstruktion analoges Geschehen, eine Selbsthervorbringung und Ausdifferenzierung des Geistes, als seine Selbstentfaltung und Wiederaneignung erscheint.

43. Hegel spricht vom »Erkennen als einem Werkzeuge oder Medium« (Hegel 1807, 70), womit die beiden Aspekte benannt sind, die das Erkennen entweder als aktiven Eingriff, der »eine Sache […] vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Veränderung mit ihr vornimmt«, versteht oder aber als »gewissermaßen passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt«, die wir allerdings nicht so erhalten, »wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.« (Hegel 1807, 68) Selten wird auf diese Stelle in den aktuellen Überlegungen zur Medienphilosophie Bezug genommen, eine Ausnahme bildet Bahr 1999, der allerdings im wesentlichen auf die Natur-Metaphorik (»›Medium der Sprache‹ in Analogie zum Wasser als Medium«) aufmerksam macht, jedoch nicht die »Bewegung des Begriffs« als mediales Grundgeschehen des Hegelschen Philosophierens in Erwägung zieht. 44. Hegel 1807, 65. Hegel sagt von der »dialektischen Bewegung«, daß »ihr Element der reine Begriff« sei (Hegel 1807, 61). 450

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Mit zeitgenössischen Worten: Hegel kann in diesem ebengenannten Sinne als Konstruktivist und als Selbstorganisationstheoretiker (des Geistes) gelten.45 Denn insofern Hegel das Wesentliche der Sache bzw. ihrer Erscheinungen und Zusammenhänge als den Begriff bestimmt, ist zugleich die Welt als Gesamtzusammenhang aller Erscheinungen der Thematisierung erschlossen und auf den Begriff gebracht, nämlich als Philosophie.

Geschichte als Weltgeistesgeschichte Auf dem Feld der Geschichte und der Geschichtsphilosophie – und im Hinblick auf das hier problematisierte Verhältnis von Erinnerung und Unerinnerbarem – verfährt Hegel ebenso rigoros, wenn auch differenziert, wie auf allen anderen Gebieten des Wissens, die in den Bann seines Systementwurfs geraten. Nur das, was seine weltgeistesgeschichtliche Bedeutung für die Versöhnung des Geistes mit sich selbst bekunden kann, ist es wert, daß Aufhebens um es gemacht werde. Den Rest kann man getrost vergessen: auf den Müllhaufen der Geschichte damit – der in Hegels Perspektive eigentlich keiner der Geschichte mehr sein kann, nicht einmal einer der Geschichten, da man strenggenommen nicht von dem erzählen könnte, was dort draußen, außerhalb jeglicher Ordnung, im Ort- und Zeitlosen, im Unbegrifflichen und Undenkbaren gelandet ist – in einem Außen ohne Folgen, ohne daß irgend Sinn und Verstand in diesen Abfällen – der Erscheinung, des Partikularen, der Individuen – enthalten wäre. In seiner Einleitung zur Philosophie der Geschichte geht Hegel der Frage nach, was eigentlich die bestimmenden Momente der Geschichte seien, und verurteilt ein Stehenbleiben der Geschichtsbetrachtung an der Oberfläche der Erscheinungen: »Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden geopfert und preisgegeben.«46 Hegel schreibt an dieser Stelle auch von der berühmten »List der Vernunft«, »daß sie die Leidenschaft für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.« Das

45. Wer jedoch ist der Konstrukteur, der Organisator dieser Perspektive, dieser Ansicht der Welt, des Seins? Naheliegend ist es, diese Gedanken an einem Subjekt festzumachen, das die Autorfunktion innehat und den Namen Georg Wilhelm Friedrich Hegel trägt. Hegel selbst hätte (und hat, wie eine Anekdote erzählt) diese Bestimmung für unzulänglich gehalten: Denn wenn den Gedanken irgendeine Wahrheit zukomme, so nicht deshalb, weil das Individuum Hegel sie gedacht habe, sondern weil das, was es gedacht hat, dem Wahren zum Ausdruck verholfen habe, egal ob es nun gerade Hegel oder irgendein anderes Individuum gewesen ist, welches dachte. Vielmehr sei alles, was an seiner Philosophie von ihm, Hegel, sei, falsch. Hegel stellt sein Philosophieren damit ganz in den Dienst der Objektivität der Wahrheit, indem er seine Gedanken in genau diejenige Struktur einschreibt, die sie selbst zu denken behaupten. Das Individuum Hegel begreift sich also als ein Teil der Geschichte, die es erzählt, und des Seins, das es beschreibt, vielmehr auf den Begriff bringt. 46. Hegel 1822, 49. 451

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Allgemeine gewinnt in dieser Bilanz immer: »Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund.« Welche Macht von den Ideen ausgeht, spricht Hegel auf seine Weise unerbittlich aus: »Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.«47 Er geht so weit, daß nur »welthistorische Individuen«, die auf diese Weise im Glanze der Idee, des Allgemeinen erstrahlen – als dessen Agenten sie mit ihren Leidenschaften ja fungieren – weltgeschichtlich gerechtfertigt sind: »Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.«48 Für Hegel bedeutet dies nicht nur ein Seinsvertrauen – daß es eben ist, wie es ist –, sondern auch, daß es gut ist, wie es ist.49 Das heißt für den Begriff des

47. Ebd. 48. Ebd. So wie Hegel an dieser Stelle verfährt, läßt sich auch an der unkommentierten Verwendung der Metaphern aufzeigen: Der Weg, den die Agenten (respektive »Geschäftsführer«) des Weltgeistes in aller Rigorosität beschreiten, rechtfertigt sich in der größeren Perspektive des Grundprinzips der Geschichte: des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit. Auch die Rückschau der Erinnerung kennt keine nachhaltige, vielleicht unaufhebbare Trauer, da auch sie letztlich von dem Freiheitsbewußtsein des Fortschreitens aufgehoben wird und über das Zertretene hinweggeht wie die Sieger der Geschichte, die ihre Opfer nicht betrauern, sondern als notwendiges Moment ihres Erfolgs ansehen. Es ist die Härte des Charakters, mit der Hegel sich hier vorbehaltlos gemein macht. Das kann man historischen Realismus nennen. Vgl. hierzu im Gegensatz Freuds Gebrauch der Weg-Metaphorik und seinen Einsatz der Nachträglichkeit, die eben nicht als einfache Aufhebung der Vergangenheit (Auflösung der traumatischen Wirkung eines vergangenen Ereignisses), sondern als Umwertung der Gegenwart des Subjekts verstanden werden kann, die nicht als Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes, sondern als Dezentrierung durch das Unbewußte zu verstehen ist. 49. Man denke hier an das oft als Provokation verstandene Diktum aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (Hegel 1821, 24) Hegel polemisiert hiermit gegen die Besserwisserei derjenigen, die immer schon über die gegenwärtige Wirklichkeit hinauszusein beanspruchen und deren eigenen Wert nicht zu erkennen vermögen. Hegel ermahnt also zu einem Realismus, der das geschichtlich-gesellschaftliche Leben nicht als eitel und banal abtut. Andererseits laufen die Dikta auch auf eine Affirmation hinaus: Nur das, was wirklich ist, kann und darf dem vollen Sinn nach vernünftig genannt werden, denn wenn Vernünftigkeit immer nur eine ideale und abstrakte Kategorie bliebe, wäre es alles andere als vernünftig, an ihr als alleinigem Prinzip festzuhalten, denn das Vernünftige bliebe auf immer getrennt und unvermittelt gegenüber dem Wirklichen. Die Vernunft enthält also zugleich ihr Maß an dem unbedingten Anspruch, den sie stellt, alle Realität zu sein: Wenn 452

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(historischen) Ereignisses: Wenn es geschieht, dann kann es nur im Zusammenhang – von dem es in der einen oder anderen Weise seine Bestimmung erfährt – vorkommen. Ist dies nicht der Fall, dann fällt es gänzlich aus (dem Zusammenhang heraus) und bleibt unwesentlich.50 Teilt man nun diese Ausgangsthese nicht, dann könnte es möglich werden zu beobachten, was Hegels Philosophie an Auswurf hinterläßt. Und es stellt sich die Frage: Kann ein Umgang mit den Resten des Hegelschen Philosophierens mehr oder anderes sein als eine Überbietung seines Versuchs der Totalisierung? Und was wird aus der Geschichte werden ohne die Überzeugung, daß der Sinn der Geschichte in der Versöhnung des Geistes liege? Hegels dialektische Konstruktion von Prozessen der Entwicklung, wie sie die Geschichte und das Geschichts-Denken darstellen, orientiert sich in letzter Hinsicht ganz am Gedanken des Zusammenhangs, der Einheit der Erscheinungen, der Idee und des Allgemeinen, also des zugrundeliegenden Prinzips des Geistes. Wenn Hegel den Unterschied von Erinnern, Einbilden und Gedächtnis expliziert – in seinem komplexen Modell des individuellen Geistes im Rahmen des Abschnitts »Psychologie« der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften –, dann ist er auch in diesem Zusammenhang zwar auf die Einheit aller geistigen Tätigkeiten aus. Aber im Zuge dieses Einheitsstrebens formuliert Hegel sowohl die Kosten eines solchen Bildungsprozesses als auch Überlegungen zum Prozeß, an dessen Ende etwas nicht aufgehoben bzw. behalten werden kann. Und indem er dies tut, gibt er ja das Auszuscheidende zu lesen. So wie die in der Erfüllung ihrer Leidenschaften sich verzehrenden Individuen aus der Weltgeistesgeschichte verschwinden, so auch die Empfindungen, Gefühle und Affekte aus dem Bildungsprozeß des subjektiven Geistes. Indem Hegel jedoch in aller Deutlichkeit ausspricht, was aussortiert wird, erinnert er den Leser zugleich daran. Hegels Argument für die Aufhebung der Unmittelbarkeit der Empfindung wird aus der Perspektive des subjektiven, seine individuellen Fähigkeiten entwikkelnden Geistes vorgetragen. Dabei betont er die Notwendigkeit und Begrenztheit der subjektive Perspektive, »daß alles, was geschieht, erst durch seine Aufnahme in die vorstellende Intelligenz für uns Dauer erhält, – daß dagegen Begebenheiten, die von der Intelligenz dieser Aufnahme nicht gewürdigt worden sind, zu etwas völlig Vergangenem werden. Das Vorgestellte

sie sich nicht verwirklichen läßt, so hat sie sich gleichsam selbst widerlegt, ist gescheitert und hat sich als unvernünftig erwiesen. Umgekehrt kann alles, was wirklich ist, sein Recht beanspruchen, als vernünftig aufgefaßt zu werden, d.h. wenn es etwas gibt, dann muß es seinen vernünftigen Grund haben. 50. An dieser Stelle ist an Adornos Versuch einer Negativen Dialektik zu erinnern, die sich insbesondere an der von Hegel behaupteten Universalität der Vermittlung abarbeitet, um so die Geschlossenheit des Systems bzw. des Ganzen aufzubrechen (vgl. Adorno 1966). 453

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

gewinnt jedoch jene Unvergänglichkeit nur auf Kosten der Klarheit und Frische der unmittelbaren, nach allen Seiten fest bestimmten Einzelheit des Angeschauten; die Anschauung verdunkelt und verwischt sich, indem sie zum Bilde wird.«51 Die Unvergänglichkeit, von der Hegel hier handelt, ist nichts Absolutes, sondern ganz auf den Rahmen der einzelnen Intelligenz Bezogenes: Sie ist subjektive Erinnerung.52 Das läßt sich auch als eine Mahnung lesen, daß letztlich die »Intelligenz«, also die Subjekte selbst den Grund dafür abgeben, was und was nicht in Erinnerung bleibt bzw. daß überhaupt etwas in Erinnerung bleibt. Im Fortgang des Textes jedoch, der die Phänomenologie des Geistes vorstellt als »Darstellung des erscheinenden Wissens […] des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt«,53 und mit der wachsenden Einsicht in den Zusammenhang des Ganzen gewinnt der Gedanke Oberhand, daß das Einzelne und das Individuelle sich nur dann auf Dauer durchzusetzen vermögen, wenn sie sich als notwendiges Moment des Ganzen erweisen. Der absolute Geist, in dem der Systemgedanke Hegels kulminiert, kann – da er auch ein Er-Innerungssystem darstellt, das sich seine Geschichte schrittweise aneignet – als die zu vollbringende und letztlich vollendete Synthese angesehen werden.54 Die Idee des absoluten Geistes bildet die Einheit aller wesentlichen Momente von subjektivem und objektivem Geist und stellt somit eine Art absolutes Gedächtnis – lt. Phänomenologie des Geistes das absolute Wissen – dar. Weder der Zufall noch das Abseitige gehen in die weltgeistgeschichtliche Perspektive ein, sondern vergehen völlig. Daran ist nicht zu beklagen, daß Hegel sein Programm der Totalisierung der Er-Innerung nicht in der Weise erfüllt, wie es seine Programmatik nahelegt. Dies würde in der Hegelschen Bahn bleiben und auf der tatsächlichen Einlösung des Totalisierungspostulats beharren, ja Totalisierung für möglich und realisierbar halten. Dementgegen könnte man Hegels Sicht der Dinge als realistisch auffassen, denn er schränkt Totalität auf das ein, was überhaupt Aufnahme in die Intelligenz erfahren hat, was also das Wesentliche des Prozesses gewesen ist – und das kann eben nicht einfach alles sein. Bedenklich ist eher die fortschrittsgewisse Haltung

51. Hegel 1830, § 452, 259. 52. Hegel rechnet nicht damit, daß es neben den kognitiven auch emotive Momente, neben den bewußten auch unbewußte Erinnerungen geben könne, welche in einschneidender Weise das Leben der Individuen durchwirken können, ohne daß diese die Leidenschaften aufstachelnden Tendenzen ein selbst wiederum negierbares Resultat hervorbrächten, also anzueignendes Material für den Geist bildeten. Vgl. Thüring 2001, Piepmeier 1981/1982, Theunissen 2001. 53. Hegel 1807, 72. 54. Die vollendende Selbstaneignung kann der Hegelschen Sichtweise gemäß nichts anderes sein als eine Aneignung des Selbst, also all dessen, was »Aufnahme in die vorstellende Intelligenz« erfahren hat, aber womöglich noch nicht zu einem integralen Bestandteil der Intelligenz in der Weise geworden ist, daß diese frei darüber verfügen könnte, als sei jenes Aufgenommene durch und durch ihr eigenes. 454

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

des Philosophen, der sich in seiner Erkenntnis des Wahren immer schon auf der richtigen Seite weiß und selbst kein Bedauern über die Verluste kennt, sondern sie einfach nur als notwendig affirmiert. Als eine andere Haltung bliebe der grundsätzliche Zweifel in Erwägung zu ziehen, ob das jeweils Erreichte wirklich das Wesentliche sei oder enthalte; ob das scheinbar völlig Vergangene nicht doch auf andere Weise gegenwärtig werden und eine Wirkung zeitigen könne, die für das, was ist, von Bedeutung wäre. Insofern bleibt für Hegel kein störender Rest, und die Einheit des Geistes kann sich im Hegelschen System vollenden. Aber für den Leser bleibt nach dem Durchgang durch den Text ein ›Rest‹ aus der Lektüre bestehen, der mit den Worten ›das Partikulare‹, ›das Individuelle‹, ›die Erscheinung‹, ›das völlig Vergangene‹, ›das Verschwindende‹ angezeigt ist. Entgegen der von Hegel postulierten Aufhebung in der vollendeten Einheit des absoluten Geistes legt gerade der Hegelsche Text ein bleibendes Zeugnis dessen ab, was nicht in diesem Prozeß aufgegangen ist. Damit erweist sich die Lektüre des Hegelschen Textes gegenüber den Thesen, die er vertritt, selbst als resistent. Mit dem Beharren auf den Resten, die sich einer Lektüre verdanken und selbst den Anstoß für eine erneute und andere Lesart abgeben, öffnet sich zum einen die abschließende Rezeption der Hegelschen Philosophie: Da jede Interpretation die Tendenz hat, eine bestimmte Perspektive zu entfalten und das im Text Gelesene auf den Punkt zu bringen, um zum (Ab-)Schluß zu kommen, wäre also die Erinnerung an ausgeschlossene Möglichkeiten der Interpretation mit der Aufforderung zur Relektüre zu verbinden.55 Zum anderen – ohne die Funktion von Systematizität für die Erkenntnis des Nichtintegrierbaren zu vergessen – ergibt sich hiermit der Absprungspunkt über das Hegelsche System hinaus, was nun in exemplarischer Weise an Freuds ›Lektüre-Verfahren‹ hinsichtlich des (vermeintlich) Unerinnerbaren gezeigt werden soll. Dabei konzentrieren sich auch die folgenden Überlegungen auf den Aspekt des Umgangs mit dem Vergessenen, dem scheinbar Unwesentlichen, Nebensächlichen und spurlos Vergangenen.

Vergessen, Weglassen, Verfälschen: Die systematische Unvollständigkeit in der Traumdeutung Nicht von ungefähr plaziert Freud seine Bemerkung zur Frage des Umgangs mit Details und scheinbaren Nebensächlichkeiten gleich zu Beginn des berühmten 7. Kapitels der Traumdeutung mit dem Titel »Zur Psychologie der Traumvorgänge«, nämlich im Abschnitt »A. Das Vergessen der Träume«. Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich um das abschließende Kapitel der Traumdeutung handelt, in dem Freud den Versuch einer Theorie des Träumens unternimmt, die alle bisher in seinem Text angeführten Beispiele von Träumen, die herausgearbeiteten Charakteristika der Traumvorgänge und ihre grundlegenden Mechanismen in einem theoretischen Zusammenhang vereinen soll. Dies zeigt schon den Stellenwert der

55. Vgl. de Man 1979. 455

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Theoriebildung im Denken Freuds an: Die Theorie steht am Ende einer langen Wegstrecke.56 Hier spricht Freud ausdrücklich von Psychologie, was in diesem Falle eine doppelte Bedeutung für das Unternehmen Psychoanalyse hat: Freud distanziert sich, wie bekannt, von seiner medizinisch-naturwissenschaftlichen Herkunft (1895 hatte er noch eine »Psychologie für den Neurologen« verfassen wollen57) insofern, als er sich nicht in der Lage sieht, eine direkte oder auch nur vermittelte Verbindung zu Fragen der Anatomie und Physiologie des menschlichen Organismus respektive des Gehirns herzustellen, was die Traumvorgänge anbelangt. Insofern ist es konsequent, sich auf den Standpunkt einer erfahrungsgeleiteten Psychologie zu stellen und deren mögliche natürliche bzw. physische Grundlagen unerörtert zu lassen. Dies entspricht einem deskriptiven Gebrauch des Terminus ›Psychologie‹ und zielt damit auf eine Bestandsaufnahme der psychologischen Phänomene des Träumens.58 Zum zweiten ist damit klar, daß ›Psychologie‹ im Kontext der Traumdeutung für eine theoretische Gesamtdarstellung (Freud spricht dann auch von »Metapsychologie«) steht, das ›Ganze‹ der Traumdeutung hingegen als Psychoanalyse anzusehen ist, die vom praktischen Kontext der Erarbeitung des Materials, d.h. vom konkreten Setting zwischen Analytiker und Analysant, also dem, was Übertragung(sbeziehung) genannt wird, nicht abzutrennen ist.59 Für die praktische Durchführung der Analyse darf nicht vergessen werden, daß es weniger auf die Einlösung theoretischer Postulate oder Befolgung praktischer Regeln ankommt, als vielmehr darauf, herauszufinden, welches Rätsel der Analysant mitbringt. Wie schon aus der Vorgehensweise Freuds während der psychoanalytischen Sitzungen erhellt, ist es gerade die systematische Unwissenheit und daraus resultierende Unsicherheit im Umgang mit dem Analysanten und seiner Geschichte bzw. seinen Geschichten – denn die sind es ja im wesentlichen, auf die der Analytiker sich beziehen kann –, die den Analytiker in eine Wartestellung bringen und von übereilten Schlußfolgerungen abhalten sollten. Gleichwohl nimmt Freud nach etlichen hundert Seiten einen methodologischen Einwand auf, der sein gesamtes Unternehmen, die Träume zu deuten, in Frage zu stellen droht. Der Einwurf zielt darauf, daß sich der Traumdeuter je schon nur auf die Repräsentation des Traums beziehen kann, nicht auf den Traum selbst, den der Träumer gehabt

56. Man beachte die häufige, sich durch den gesamten Text ziehende Metaphorik des Weges, z.B. Freud 1900, 490 – siehe dazu im folgenden. 57. Brief an Fließ vom 27. April 1895 in Freud 1950. 58. Zuweilen wird dann von bloßer »Phänomenologie« des Traums gesprochen, was weit hinter dem starken Anspruch auf philosophische Begründung der Logik der Phänomene, wie sie Edmund Husserl postuliert hat, zurückbleibt. 59. In der späten Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse wird Freud allerdings seine neue Wissenschaft, die Psychoanalyse, in toto eine »Psychologie des Unbewußten« nennen (Freud 1932, 586). 456

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

haben mag, so »daß wir keine Gewähr dafür haben, ihn [den Traum] so zu kennen, wie er wirklich vorgefallen ist«.60 Freud räumt ein, daß es zwei Hauptprobleme in der Darstellung des Geträumten gibt: das Weglassen (Unvollständigkeit der Erinnerung/Erzählung) und das Ergänzen (Verfälschung durch Hinzudichten). Zunächst zum ersten Punkt: »Was wir vom Traum erinnern und woran wir unsere Deutungskünste üben, das ist erstens verstümmelt durch die Untreue unseres Gedächtnisses, welches in ganz besonders hohem Grade zur Bewahrung des Traumes unfähig scheint, und hat vielleicht gerade die bedeutsamsten Stücke des Inhalts eingebüßt.«61 Dabei geht der Träumer selbst von einem Unsicherheitsgefühl aus, das sich sogar noch auf das wenige bezieht, das er überhaupt in Erinnerung behalten hat: »Wir finden uns ja so oft, wenn wir unseren Träumen Aufmerksamkeit schenken wollen, zur Klage veranlaßt, daß wir viel mehr geträumt haben und leider davon nichts mehr wissen als dies eine Bruchstück, dessen Erinnerung selbst uns eigentümlich unsicher vorkommt.«62 Diese Differenz zwischen dem Gewußten und Erzählbaren und dem, was tatsächlich geträumt worden sein mag, figuriert als Klage, vielleicht als Selbstanklage in der rekapitulierenden Rede des Träumers. Die Unzuverlässigkeit des Merkvermögens, des Behaltens von Geträumtem wäre also eine Kritik an der Speicherfunktion des Gedächtnisses.63

60. Freud 1900, 491, vgl. 70f. Diese Einschränkung gilt in gewisser Weise auch für den Träumer sich selbst gegenüber: Denn eine Deutung des Geträumten muß auf Versprachlichung setzen und kann letztlich nur im Medium der Sprache stattfinden. Auch die nicht-sprachlichen Reaktionen (Fehlhandlungen, Symptombildung, sog. Ausagieren) verstehen sich nur vor dem Hintergrund der Sprachlichkeit des Subjekts und der Welt, in der es lebt. 61. Freud 1900, 491. 62. Ebd. 63. Freud schreibt bekanntlich nicht dem Gedächtnis als solchem die Schuld an der Unvollständigkeit zu, denn dies ist quasi nur der erste oberflächliche Eindruck, der sich bei genauerer Analyse nicht halten läßt: Das anfängliche Unvermögen, sich zu erinnern, weicht zumeist einem nach und nach einsetzenden Assoziieren, was neues Material hervorbringt, das in irgendeinem noch nicht geklärten Zusammenhang mit dem Traum steht, der zu analysieren ist. Freud schreibt die Erinnerungsschwäche der Zensur-Instanz zu, die darüber wacht, was aus dem Unbewußten ins Bewußtsein gelangen darf, geleitet nach den Prinzipien der Unlustvermeidung und des Lustgewinns. Freud führt die Klage auch darauf zurück, daß sie sich hauptsächlich auf jenes Material beziehe, das durch die »Einschaltungen« der sekundären Bearbeitung in die Traumerzählung gelangt sei. Diese Einschaltungen blieben weniger haltbar im Gedächtnis und – »unterliegt der Traum dem Vergessen, so fallen sie zuerst aus.« Die Klage treffe also nicht wirklich das Gedächtnis des Traums, sondern den »alsbaldigen Ausfall gerade dieser Kittgedanken« oder »Schaltgedanken« (Freud 1900, 471). 457

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In anderer Hinsicht ist jedoch nicht nur dem Traumgedächtnis, sondern der Traumerzählung selbst zu mißtrauen: »Zweitens aber spricht alles dafür, daß unsere Erinnerung den Traum nicht nur lückenhaft, sondern auch ungetreu und verfälscht wiedergibt. So wie man einerseits daran zweifeln kann, ob das Geträumte wirklich so unzusammenhängend und verschwommen war, wie wir es im Gedächtnis haben, so läßt sich andererseits in Zweifel ziehen, ob ein Traum so zusammenhängend gewesen ist, wie wir ihn erzählen, ob wir bei dem Versuch der Reproduktion nicht vorhandene oder durch Vergessen geschaffene Lücken mit willkürlich gewähltem, neuem Material ausfüllen, den Traum ausschmücken, abrunden, zurichten, so daß jedes Urteil unmöglich wird, was der wirkliche Inhalt unseres Traumes war.«64 Mit der Reproduktion des Traums als Erzählung kommt ein konstruktives Moment ins Spiel, das gerade durch den Versuch, eine plausible, glaubwürdige, zusammenhängende und stimmige Darstellung des Traumgeschehens zu geben, eine Verfälschung zugunsten der Ansprüche des vernünftigen Wachbewußtseins (»die Instanz des normalen Denkens«)65 gegenüber dem Traummaterial zustandebringt: »Die Folge ihrer [der sekundären Bearbeitung] Bemühung ist, daß der Traum den Anschein der Absurdität und Zusammenhanglosigkeit verliert und sich dem Vorbilde eines verständlichen Erlebnisses annähert.«66 Damit scheint eine nahezu ausweglose Situation für den Traumdeuter entstanden zu sein: Das Gedächtnis ist von Lücken, vom Vergessen durchzogen, also das Material unvollständig, während seine Präsentation in Form einer Erzählung jene Lücken auszugleichen und zu überdecken versucht, also womöglich Material hinzuzieht, das gar nicht zu diesem Traum gehört. Die Traumerzählung ist möglicherweise nichts anderes als eine Ergänzung, Vervollständigung, Glättung und Ordnung des Materials, die der Traum selbst nicht gekannt hat. Wenn also schon der Gegenstand der Traumdeutung so unsicher ist, dann ist es um die wissenschaftlichen Ambitionen dieses Unternehmens nicht gut be-

64. Freud 1900, 491. 65. Freud 1900, 493. Freud spricht auch von »Nachdenken«, welches von bewußten Zielvorstellungen beherrscht werde (Freud 1900, 504), und im Zusammenhang der »Sekundären Bearbeitung« (Freud 1900, 470-487) nennt er es »eine wirkliche Kritik des Traums, wie ich sie im Wachen üben könnte« bzw. »eine psychische Funktion, die von unserem wachen Denken nicht zu unterscheiden ist« (Freud 1900, 470f.), welche zur Entstellung weniger durch »Einschränkungen und Auslassungen« als vielmehr durch »Einschaltungen und Vermehrungen« zur manifesten Traumerzählung beitrage. Das Wirken dieser Instanz ist an typischen sprachlichen Wendungen zu erkennen (»als ob«), an einer gewissen Zaghaftigkeit im Bericht, an geringerer »Lebhaftigkeit« der Eindrücke, und die berichteten »Traumpartien […] zeigen eine geringere Haltbarkeit im Gedächtnis« (Freud 1900, 471). 66. Freud 1900, 471f. 458

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stellt: »So stehen wir in der Gefahr, daß man uns den Gegenstand selbst aus der Hand winde, dessen Wert zu bestimmen wir unternommen haben.«67 Freud weist also die Einwände weder zurück noch verharmlost er sie. Seine Strategie macht einen anderen Gesichtspunkt geltend, der für die Deutung ohnehin leitend ist und für die eben angeführten Einwände durchaus als Antwort eingesetzt werden kann: »Wir haben bei unseren Traumdeutungen bisher diese Warnungen überhört. Ja wir haben im Gegenteil in den kleinsten, unscheinbarsten und unsichersten Inhaltsbestandteilen des Traumes die Aufforderung zur Deutung nicht minder vernehmlich gefunden als in dessen deutlich und sicher erhaltenen.«68 Freud verschärft den Einwand, indem er ihn generalisiert: Nicht nur und nicht erst angesichts der undeutlichen und unsicheren Elemente der Traumerzählung, sondern jeglichem Material gegenüber, das der Träumer berichtet, ist eine methodische Skepsis angebracht. Denn es ist vorderhand nicht zu entscheiden, was wichtig, was unwichtig für die Deutung ist, alles Mögliche aus der Erzählung des Traums kann sich immer noch im nachherein als entscheidend für den Fortgang der Deutung erweisen. Dies weist schon voraus auf jene Grundregel, die Freud in seinen Ratschlägen zur Durchführung der psychoanalytischen Kur (1912ff.) unter dem Stichwort der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« formulieren wird. Wenn also schon die »kleinsten, unscheinbarsten und unsichersten Inhaltsbestandteile[ ] des Traumes die Aufforderung zur Deutung« für den Deuter entstehen lassen, dann hat sich für den Prozeß des Deutens von Beginn an das Problem ergeben, ob man der Aufforderung zur Deutung nachgibt oder nicht. Freud plädiert, wie an vielen anderen Stellen auch, für eine gewisse Zurückhaltung im Deuten, um nicht durch Deutung bestimmte Wege der Assoziation zu einem Zeitpunkt zu verschließen bzw. auszuschließen, an dem noch nicht absehbar ist, wohin weitere assoziative Verbindungen führen werden. Stattdessen weist Freud auf die für die Deutung zentrale Kategorie der Nachträglichkeit hin. So geht es Freud einmal um ein »unscheinbares Einschiebsel, das ich anfangs übersah«, ein andermal um letztlich »jede[ ] Nuance des sprachlichen Ausdrucks«, also um die Frage der »quantité négligeable«69 für die Deutung, z.B. angesichts des im Traum auftauchenden »Unterschied[s] von einundfünfzig und sechsundfünfzig«: »Anstatt dies selbstverständlich oder gleichgültig zu finden, haben wir daraus auf einen zweiten Gedankengang in dem latenten Trauminhalt geschlossen, der zur Zahl einundfünfzig hinführt, und die Spur, die wir weiterverfolgten, führte uns zu Befürchtungen, welche einundfünfzig Jahre als Lebensgrenze hinstellen, im schärfsten Gegensatz zu einem dominierenden Gedankenzug, der prahlerisch mit den Lebensjahren um sich wirft.«70 Natürlich kann keine der angeführten Deutungen jene Sicherheit eines not-

67. 68. 69. 70.

Freud 1900, 491. Freud 1900, 491f. Freud 1900, 492. Ebd. 459

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wendigen, logisch zwingenden Schlusses für sich beanspruchen. Es geht hier auch nicht in erster Linie um den Unterschied von strikter naturgesetzlicher Determination oder bloßer (statistischer) Wahrscheinlichkeit, sondern um die Frage des Sinnzusammenhangs, der zum Teil der natürlichen Kausalität und Zeitfolge zuwiderläuft bzw. (von diesen beiden unabhängig) Verknüpfungen aus der Nachträglichkeit herstellt, die sowohl vergangenes als auch aktuelles, wie Freud sagt, rezentes Material nach den Erfordernissen des Lust-Unlust-Prinzips und der (Re-)Präsentation, also »mit Rücksicht auf Darstellbarkeit« kombiniert. So kann eine nachträgliche Deutung dem Geschehen von einst eine Wendung geben, die sich aktuell für den Analysanten bzw. den analytischen Prozeß auswirkt: »Als dann die Deutung stockte, griff ich auf diese Worte zurück und fand von ihnen aus den Weg zu der Kinderphantasie, die in den Traumgedanken als intermediärer Knotenpunkt auftritt.«71 Entscheidend ist hierbei nicht, ob die Phantasie zu Kinderzeiten schon so vorhanden gewesen ist, sondern welchen Stellenwert sie im gegenwärtigen Sinnzusammenhang des Subjekts einnimmt. Sie fungiert damit eher als eine syntagmatische Zwischenstation, als Relais – »Einschaltungen«, »Schaltgedanken«, »Haltestelle«, »Zwischenglieder«, »Zwischengedanken«, »intermediäre Knotenpunkte«72 –, von wo aus weitere Assoziationen möglich werden. Nie kann ad hoc entschieden werden, ob der erreichte Punkt der alles entscheidende ist oder ob erst anderes Material auftauchen muß, das den Zusammenhang klären, erhellen oder den vorherigen Punkt nun als den entscheidenden erscheinen läßt. Freuds Herangehensweise kann als eine von komplexer Zeitlichkeit, aber ebenso als eine durchgehend relationale oder differentielle73 bezeichnet werden.

Das Lesbarmachen der »geringfügigsten Züge« Freud spitzt seine Verfahrensweise auf eine Sentenz zu, die als generelle methodische Maxime der Traumdeutung, ja der psychoanalytischen Deutungspraxis schlechthin, gelten kann: »Jede Analyse könnte mit Beispielen belegen, wie gerade die geringfügigsten Züge des Traumes zur Deutung unentbehrlich sind und wie die Erledigung der Aufgabe verzögert wird, indem sich die Aufmerksamkeit solchen erst spät zuwendet.«74 Einerseits ist es das Festhalten an den geringfügigsten Zügen,75 das eine Deutungspraxis nach allgemeinen Regeln oder einem

71. Ebd. 72. Vgl. z.B. Freud 1900, 471, 490, 491, 505. 73. Damit ist eine methodologische Charakteristik gemeint, die alle Bestimmungen des Materials ausgehend von dessen Konstellation entwickelt, also vom jeweiligen Stellenwert des einzelnen Elements dessen Bedeutung bzw. Sinn für das Subjekt erschließt. 74. Freud 1900, 492. 75. Freud spricht in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« im Zusammenhang der beiden ersten der drei Typen von Identifizierung davon, daß es auffällig sei, »daß beide Male die Identifizierung eine partielle, höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug 460

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

Handbuch der Traumsymbolik verbietet. Diese Aufmerksamkeit für das Individuelle der jeweiligen Traumgestalt bzw. der sprachlichen Eigenart der Traumerzählung zwingt den Deuter, die Konstellation des Materials als jenen Rahmen zu respektieren, vor dessen Hintergrund die Bedeutung einzelner Elemente zu bestimmen ist. Deshalb muß, um den Rahmen abzustecken, das Material immer wieder durchgegangen werden, denn der Rahmen bestimmt sich durch das Material selbst: Jedes Element bestimmt sich mit Hinsicht auf alle anderen.76 Die Konstellation des Materials ist dieser Sinnzusammenhang, der geklärt werden soll. Damit ist jedoch eine systematische, notwendige Unvollständigkeit als unaufhebbare Bedingung jeglicher psychoanalytischen Deutungspraxis gegeben. Eine endgültige Feststellung des Sinns bleibt fragwürdig, da nie entschieden sein kann, ob nicht weiteres Material Berücksichtigung finden müßte. Und selbst bei der pragmatischen Begrenzung einer faktisch gegebenen Menge von Elementen, die der Analysant zutage gefördert hat, bleibt eine sehr große Anzahl von Möglichkeiten zu ihrer Konstellierung. Die wiederholende Aufnahme des assoziierten Materials impliziert ein Zurückgehen zum Übersehenen. Freud bringt das dafür nötige Gedächtnis als eine Praxis des Erinnerns ins Spiel, denn er empfiehlt, auf das Mitschreiben während der analytischen Sitzungen zu verzichten.77 Das natürliche Erinnerungsvermögen hält er für vollkommen ausreichend für den Zweck einer Durchführung der Psychoanalyse.78 Ja, es hat den unschätzbaren Vorteil gegenüber schriftlichen Aufzeichnungen, daß die Erinnerung selbst sich einer assoziativen Praxis annähert und der Analytiker sich so selber zum Medium macht, das ›verschüttetes‹ Material hervorruft, woran er nicht gedacht hätte, würde er nur das Gesuchte finden (wollen)79; obendrein kann sich der Analytiker nicht in die bequeme Posi-

von der Objektperson entlehnt.« (Vgl. Freud 1921, 100). Vgl. dazu Lacans »trait unaire« (Lacan 1964, 269). 76. Da Vollständigkeit schon aus praktischen Gründen nicht zu erreichen ist und aus theoretischen Erwägungen unmöglich erscheint, kann es sich immer nur um die faktische Totalität des assoziierten Materials handeln (alles, was in der Assoziation aufgetaucht ist), zu der also durch weiteres Assoziieren immer noch etwas hinzukommen kann. 77. »Ich kann nicht empfehlen, während der Sitzungen mit dem Analysierten Notizen in größerem Umfange zu machen, Protokolle anzulegen u. dgl.« (Freud 1912a, 173). 78. »Man halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ›unbewußten Gedächtnisse‹, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke.« (Freud 1912a, 172) 79. »Jene Bestandteile des Materials, die sich bereits zu einem Zusammenhange fügen, werden für den Arzt auch bewußt verfügbar; das andere, noch zusammenhanglose, chaotisch ungeordnete, scheint zunächst versunken, taucht aber bereitwillig im Gedächtnisse auf, sobald der Analysierte etwas Neues vorbringt, womit es sich in Bezie461

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tion des Rechthabers und Rechtbehalters80 aufschwingen, der sich nur auf das, was schwarz auf weiß auf seinem Zettel steht, berufen müßte, um zu entscheiden, was geäußert worden ist und was nicht. Auch hier gilt der Grundsatz, daß es nicht allein darauf ankommt, die Faktizität des Materials oder dessen vermeintlich objektive Bedeutung zu sichern, sondern den Sinn zu bestimmen, den ein Subjekt mit ihm verbindet. Dem Gedächtnis kommt also keine unmittelbare Wahrheitsfunktion zu: Erst im Kontext einer vom Subjekt ausgehenden Anerkennung des Sinns – i.S. Luhmanns als Anschlußfähigkeit, besser: als prozeßorientierte Operativität gedacht, d.h. als Möglichkeit, weitere Operationen anzuschließen, mithin lebensfähig oder, wie Freud sagt: liebes- und arbeitsfähig zu sein – kann sich die Wahrheit als Viabilität, als Gangbarkeit des assoziativen Geschehens erweisen. Das hier in Rede stehende Subjekt allerdings ist nicht identisch mit dem Bewußtsein oder der expliziten Aussage, die es äußert81; vielmehr ist es ein vom Einspruch des Unbewußten durchkreuztes bzw. jederzeit durchkreuzbares Subjekt. Freuds methodische Zurückhaltung kulminiert in einer berühmten Formulierung, die mit einer anderen, ebenso bekannten, aber nahezu gegenläufigen Vorgehensweise zusammengesehen werden muß, will man beide Sätze jeweils für sich genommen nicht für unglaubwürdige Übertreibungen oder eitle Selbststilisierung halten. Zunächst also die Stelle aus Die Traumdeutung, die an die bisher kommentierten Passagen direkt anschließt: »[W]enn uns ein unsinniger oder unzureichender Wortlaut vorgelegt wurde, als ob es der Anstrengung nicht gelungen wäre, den Traum in die richtige Fassung zu übersetzen, haben wir auch diese Mängel des Ausdrucks respektiert. Kurz, was nach Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text.«82 Der Unsinn in der Sprache

hung bringen und wodurch es sich fortsetzen kann. Man nimmt dann lächelnd das unverdiente Kompliment des Analysierten wegen eines ›besonders guten Gedächtnisses‹ entgegen, wenn man nach Jahr und Tag eine Einzelheit reproduziert, die der bewußten Absicht, sie im Gedächtnisse zu fixieren, wahrscheinlich entgangen wäre.« (Freud 1912a, 172f.) 80. Gegen den Vorwurf der Selbstimmunisierung des psychoanalytischen Vorgehens, es nehme jeden Einwand nur als Bestätigung der eigenen theoretischen Sichtweise nach dem Motto: »Was immer die Fortsetzung der Arbeit stört, ist ein Widerstand« (Freud 1900, 495), räumt Freud bereitwillig ein: Dieser Grundsatz »hat natürlich nur die Bedeutung einer technischen Regel« (Ebd., Anm. 1 [1925]), könne sich also nur als ein Moment im psychoanalytischen Prozeß Geltung verschaffen, also letztlich durch seine Fruchtbarkeit für die konkrete Arbeit. 81. »Allein im psychoanalytischen Verkehr läuft manches anders ab, als wir es nach den Voraussetzungen der Bewußtseinspsychologie erwarten dürfen.« (Freud 1912a, 178) 82. Freud 1900, 492f. Diese Passage gibt selbst ein schönes Beispiel, wie bei Freud spielerischer Unsinn mit heiligem Ernst gepaart ist, so daß man durch bloßes hin462

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ist Material der Deutung wie jedes andere, Artikulation unter Artikulationen. Er darf weder bevorzugt noch als »willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation« vernachlässigt und heruntergespielt werden. Die Unantastbarkeit des Wortlauts faßt Freud in die Wendung vom »heiligen Text« – es geht demnach um eine Lektüre, um das Entziffern und Deuten des Textes. Deutung bei Freud heißt zunächst Lesen, und zwar genaues, getreues Bemerken und Entziffern von Spuren – das Wörtlich- bzw. Buchstäblichnehmen von Worten, von sprachlichen Artikulationen jeglicher Art bis hin zu den »Nebengeräuschen« des Sprechens wie Räuspern, Husten, Schnaufen etc.; darüber hinaus geht es um (durch sprachliche Darstellung vermittelte) (Traum-)Bilder, im weiteren Sinne um das Lesen der Symptome83. Den Wortlaut gerade auch in seiner Entstellung – als Versprecher –, d.h. in seinem Eigenwert zur Geltung zu bringen, heißt hier also, die Stellung des Materials nicht anzutasten, denn nur so kann es als Entstellung des Subjekts zur Geltung kommen, d.h. des Unbewußten (des Analysanten). Diese ›Heiligung‹ des ›frei assoziierten‹ Materials, der Einfälle des Analysanten, muß, wie eben angekündigt, mit dem von Freud berichteten, typisierten Beispiel konfrontiert werden, mit dem sein kleiner, 1925 veröffentlichter Aufsatz über Die Verneinung beginnt. Der Analysant sagt zum Analytiker: »›Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.‹ Wir berichtigen: ›Also ist es die Mutter.‹«84 Dies ist keine rechthaberische Berichtigung, fällt doch dem Analysanten unaufgefordert »die Mutter« ein, wenn auch in die sprachliche Form der Verneinung eingebunden. Die Annahme stützt sich also auf die Assoziationstätigkeit des psychischen Apparats und läßt sich als »Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles«85 verstehen, nicht etwa als Verdrängung im eigentlichen Sinne, denn das Material ist ja aufgetaucht.86 Was zunächst als eine Unver-

zufügen eines einzigen, zumal fast unhörbaren Buchstabens vom Eiligen zum Heiligen kommt: Es ist gerade die Autorität der Sprache/Schrift, die den schnellen Übergang vom Zusammengebrauten zum Unverrückbaren ermöglicht und legitimiert, der auch einer vom magischen Hervorbringen (der Sprache) zur Deutungspraxis (eines Textes) ist. 83. So decodiert Freud die Symptombildungen ›seiner‹ Hysterikerinnen als inkorporierte Sprichworte. 84. Freud 1925a, 373. 85. Ebd. 86. Lacan unterscheidet Verneinung, Verdrängung und Verwerfung als drei verschiedene Mechanismen der Distanzierung des psychischen Apparats vom auftauchenden Material: Während die Verneinung die Assoziation durchaus zu Bewußtsein kommen läßt, ist die Bedingung des Bewußtwerdens dessen sprachliche Negation; hingegen sorgt die Verdrängung dafür, daß psychisches Material nicht bewußt wird, aber als strukturiertes Psychisches durch Entstellung oder Aufhebung der Verdrängung aus dem Unbewußten ins Bewußtsein geholt werden könnte; erst mit der Verwerfung ist jene Bedingung psychotischer Zustände im Psychischen gegeben, die ein für das Subjekt wichtiges 463

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

schämtheit des Analytikers erscheinen mag, zeugt also von demselben Respekt gegenüber dem Material, der es Freud zum »heiligen Text« werden läßt. Andererseits interveniert hier der Analytiker – ob er dies nun kundtut oder nicht: Seine Feststellung fungiert wie eine Deutung, die alles weitere im analytischen Prozeß determiniert. Allerdings ist an dieses sprachliche Element wie an jedes andere auch die Frage zu richten, welche Rolle es im Diskurs des Analysanten spielt – es ist also nicht ausgemacht, wofür »die Mutter« steht und was es mit der Äußerung auf sich hat. Mit der Nachdrücklichkeit, mit der Freud die »geringfügigsten Züge des Traumes« für die Deutung als »unentbehrlich« bezeichnet, geht die Nachträglichkeit einher, die die Perspektive auf alles, woran die Aufmerksamkeit festhält, verändert, je mehr sie im nachherein Dinge entdeckt, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren bzw. die ihr zu entdecken nicht möglich waren. Freud legt nahe, daß es notwendig ist, Umwege zu beschreiten, um die Dinge danach in einem anderen Licht zu sehen. Zwar kann man beobachten, »wie die Erledigung der Aufgabe verzögert wird, indem sich die Aufmerksamkeit solchen [übersehenen Elementen] erst spät zuwendet.«87 Die anfallende Verzögerung kann sich jedoch als jenes notwendige Moment erweisen, das – der Struktur und Wirkungsweise der Nachträglichkeit gemäß – etwas zu sehen und zu entdecken gibt, was nur im nachhinein gesehen und entdeckt werden kann. Die Lenkung der Aufmerksamkeit ist, wie die psychoanalytische Grundregel nahelegt, keine einfache Angelegenheit im Rahmen der psychoanalytischen Kur, soll sie doch gerade von allen bewußten Absichten freigehalten werden und sich dem auftauchenden Material ›gleichmäßig‹ zuwenden. Nur ohne den Vorsatz, schnell zu verstehen, ja überhaupt auf Verständlichkeit zu stoßen, bleibt die Aufmerksamkeit »gleichschwebend« und kann mit der »freien Assoziation« korrespondieren.88

Das Offenhalten der psychoanalytischen Erfahrung und der »Nabel des Traums« – auch eine Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse Für die schon angeschnittene generelle Problematik einer allgemeinen Theorie bzw. Psychologie der Traumvorgänge lassen sich die folgenden methodologischen Überlegungen Freuds anführen, die im Text der Traumdeutung nicht weit entfernt von den eben besprochenen Passagen auftauchen und die bezogen auf den Gesamttext der Traumdeutung einen Wendepunkt für Freud markieren: »Bisher ha-

Material, den existentiell entscheidenden Signifikanten, aus der Ordnung des dem Subjekt zur Verfügung stehenden Symbolischen ausschließt (Lacan 1955/56, 178ff.). 87. Freud 1900, 492. 88. Auf methodologischer Ebene des psychoanalytischen Arbeitens zielen also die »Ratschläge« für die praktische Arbeit des Psychoanalytikers (die sog. Behandlungstechnischen Schriften von 1911 bis 1915) auf die Kopplung von »gleichschwebender Aufmerksamkeit« mit der »freien Assoziation« (vgl. Freud 1912a, 171ff.). 464

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ben alle Wege, die wir gegangen sind, wenn ich nicht sehr irre, ins Lichte, zur Aufklärung und zum vollen Verständnis geführt; von dem Moment an, da wir in die seelischen Vorgänge beim Träumen tiefer eindringen wollen, werden alle Pfade ins Dunkel münden.«89 Mit dieser oft kommentierten Stelle eröffnet Freud den im engeren Sinne theoretischen Parcours, nicht ohne einen gewichtigen Absatz mit methodologischen Bemerkungen zur Theoriebildung folgen zu lassen, die man getrost als das wissenschaftstheoretisches Credo Freuds bezeichnen kann: »Wir können es unmöglich dahin bringen, den Traum als psychischen Vorgang aufzuklären, denn erklären heißt auf Bekanntes zurückführen, und es gibt derzeit keine psychologische Kenntnis, der wir unterordnen könnten, was sich aus der psychologischen Prüfung der Träume als Erklärungsgrund erschließen läßt. Wir werden im Gegenteil genötigt sein, eine Reihe von Annahmen aufzustellen, die den Bau des seelischen Apparats und das Spiel der in ihm tätigen Kräfte mit Vermutungen streifen und die wir bedacht sein müssen, nicht zu weit über die erste logische Angliederung auszuspinnen, weil sonst ihr Wert sich ins Unbestimmbare verläuft. Selbst wenn wir keinen Fehler im Schließen begehen und alle logisch sich ergebenden Möglichkeiten in Rechnung ziehen, droht uns die wahrscheinliche Unvollständigkeit im Ansatz der Elemente mit dem völligen Fehlschlagen der Rechnung. Einen Aufschluß über die Konstruktion und Arbeitsweise des Seeleninstruments wird man durch die sorgfältigste Untersuchung des Traums oder einer anderen vereinzelten Leistung nicht gewinnen oder wenigstens nicht begründen können, sondern wird zu diesem Zwecke zusammentragen müssen, was sich bei dem vergleichenden Studium einer ganzen Reihe von psychischen Leistungen als konstant erforderlich herausstellt. So werden die psychologischen Annahmen, die wir aus der Analyse der Traumvorgänge schöpfen, gleichsam an einer Haltestelle warten müssen, bis sie den Anschluß an die Ergebnisse anderer Untersuchungen gefunden haben, die von einem anderen Angriffspunkte her zum Kern des nämlichen Problem vordringen wollen.« 90 Freud formuliert an dieser Stelle seine wissenschaftstheoretischen Grundsätze: (1) Für eine wirkliche Erklärung (im Sinne der Wissenschaftlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts) fehle der psychoanalytischen Traumdeutung der »Erklärungsgrund« – jedenfalls einer, der über die These von der Wunscherfüllung des Traums hinausginge und von allgemeinerem Charakter wäre. Denn »Erklären heißt auf Bekanntes zurückführen«, aber auch auf Grundsätzlicheres, Allgemeineres, womit Forschung sich dem Satz vom Grund zu unterstellen habe: daß nichts ohne Grund sei. (2) Um dennoch wissenschaftliche Forschung betreiben zu können, sind »Annahmen« nötig, dürfen aber nicht überstrapaziert werden: Hypothesenbildung ist die Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlicher Wissensge-

89. Freud 1900, 490. 90. Ebd. 465

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winnung und zugleich die Gefahr, sich zu sehr auf die logischen Denkmöglichkeiten zu verlassen und den Kontakt zu jener Empirie zu verlieren, über die wahre Behauptungen herauszufinden man angetreten ist. (3) Vergleichende Studien unterschiedlichster psychischer Leistungen sind erforderlich, denn: a) Verallgemeinerungen brauchen eine breite empirische Basis; b) logische Schlußfolgerungen dürfen nicht zu weitreichend sein, um nicht im Unbestimmbaren zu verlaufen; c) wenn man für theoretische Annahmen keine direkten erfahrungsgestützten Evidenzen mehr anführen kann, dann gilt, daß sie einer weiteren Plausibilisierung durch »den Anschluß an die Ergebnisse anderer Untersuchungen« bedürfen, also durch einen sinnvollen Zusammenhang, der sich »von einem anderen Angriffspunkte her« ergibt (Vereinbarkeit der allgemeinen Prinzipien, theoretische Kohärenz); d) der »Bau des seelischen Apparats« wird nicht ohne eine synoptische Betrachtungsweise zu ermitteln sein: Zusammenhang und Modellbildung ergeben sich nicht aus der Betrachtung vereinzelter Leistungen, sondern nur aus deren Zusammenschau und Vergleich. (4) Zuletzt gemahnt Freud den Wissenschaftler an die grundsätzliche Endlichkeit seines Wissens und seiner Fähigkeiten: Man muß immer damit rechnen, daß Faktoren, die für den tatsächlichen psychischen Vorgang wichtig sind, (noch) unbekannt sind und somit die Gültigkeit des Ergebnisses (Wahrheit) selbst einer logisch korrekten Schlußfolgerung (Richtigkeit) in Frage stellen (empirische und theoretische Unvollständigkeit). Alles, was Freud in verallgemeinernder Hinsicht über die Psychologie der Traumvorgänge äußert, muß vor dem Hintergrund dieser methodologischen Überlegungen verstanden werden. Selbst seine weitreichendsten – wie er selbst sagt – spekulativen Thesen dürfen in ihrem hypothetischen Charakter nicht mißverstanden werden. Nur so wird eine Formulierung wie die folgende recht verständlich: »Vom Standpunkte unserer neugewonnenen Einsichten über die Entstehung des Traums vereinigen sich die Widersprüche ohne Rest.«91 Diese sehr starke These muß vor dem Hintergrund des eben Erörterten, dem sie im Text der Traumdeutung direkt nachfolgt, nicht als überzogene Aussage verstanden werden, die hinter den gerade aufgestellten Grundsätzen zurückbliebe, sondern als Einleitung zum Resümee eines – durchaus stolzen – Wissenschaftlers, der seine bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfaßt. Dann nämlich kann man die Ambivalenz, ja hintergründige Ironie dieses Satzes erst richtig würdigen: Daß die bisher entwickelte Theorie »die Widersprüche ohne Rest« zu vereinigen gestattet, erscheint vor der methodologischen Skepsis wie Hohn. Sie wäre also zugleich eine Bloßstellung der im Erkenntnisanspruch geäußerten Überzeugung, etwas zu wissen, etwas erkannt und durchschaut zu haben. Wenn man dann bedenkt, wie Freud an anderen Stellen die Unabschließbarkeit des Forschungsprozesses betont, dann erscheint dieser Satz vom restlosen Vereinigen der Widersprüche (üb-

91. Freud 1900, 493. 466

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rigens lt. Freuds späterer Kennzeichnung der Grundzug der Lebenstriebe, des Eros)92 nur als eine Vorführung jener Prätentionen des theoretischen Wissens, die Freud auch an sich selber verspürt. Diese erkenntnistheoretische Skepsis läßt sich als kritische Grundhaltung des Forschers Freud verstehen, die eine Ausgewogenheit zwischen theoretischen Ambitionen und empirischen Evidenzen ermöglicht – und so auch den Fortgang der Forschung. Die stärksten Bilder allerdings, was die Begrenztheit des Forschens anbelangt, läßt Freud im selben Kapitel erst noch folgen: »Nach der Beseitigung alles dessen, was die Deutungsarbeit angeht, können wir erst merken, wie unvollständig unsere Psychologie des Traumes geblieben ist.«93 Für das Offenhalten der psychoanalytischen Erfahrung mobilisiert Freud wiederum zwei gegenläufige Perspektiven: Die Unvollständigkeit des Deutens wird mit dem Postulat eines Determinationszusammenhangs verbunden und sichert so die prinzipielle Unaufhörlichkeit und Unabschließbarkeit des psychoanalytischen Prozesses. Einerseits hält Freud an der Fremdheit des assoziativen Materials und am Nichtverstehen sowie an der immer wiederkehrenden Einsicht fest, daß man keinen Anfang, keinen Anhaltspunkt zu finden vermag oder es an irgendeinem Punkt nicht weiterzugehen scheint: »wir stehen wie hilflos einem sinnlosen Haufen von Inhaltsbrocken gegenüber.«94 Andererseits gibt er sich nicht mit dem Eindruck von Verwirrung, Chaos und Zufall zufrieden und fragt nach dem Grund für das, was sich ihm zeigt. Die Träume sind nicht den logischen und grammatischen Anforderungen des Wachbewußtseins unterworfen: »Auf die logischen Relationen des Gedankenmaterials entfällt wenig Rücksicht; sie finden schließlich in formalen Eigentümlichkeiten der Träume eine versteckte Darstellung.«95 Es geht also für Freud darum, den anderen Darstellungsmodus der Träume genau zu beschreiben und nachzuvollziehen, was die meisten seiner Vorgänger in Sachen Traumdeutung nicht bis zu dem Punkt vorangetrieben haben, der die Scylla der Willkür des Deutens und die Charybdis der Objektivität von Bedeutungen in Bezug auf das Traummaterial zu vermeiden gestattet. Die moderneren, am positivistischen Wissenschaftsideal orientierten Traumforscher, die medizinisch-biologischen Neurologen, Physiologen und Psychiater seiner Zeit sind gewissermaßen gezwungen, die Unverständlichkeit der Träume auf den Zufall zurückzuführen oder als das Ergebnis einer rein quantitativen Bestimmtheit der Gehirnvorgänge während des Träumens anzusetzen, da sie die Möglichkeit eines metaphysischen Sinns des Traums nicht anerkennen wollen und können. Freud teilt ihre Auffassung insoweit, als auch er eine metaphysische Bedeutung des Traumes ablehnt. Aber ebenso die Einwände, daß die Verfälschung oder das Zurechtlegen der Träume durch Erinnerung und Versprachlichung gegen die

92. 93. 94. 95.

Vgl. Freud 1920. Freud 1900, 489. Freud 1900, 472; vgl. 118. Freud 1900, 487. 467

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Möglichkeit einer wissenschaftlichen Traumdeutung spreche, hält Freud nicht für zugkräftige Argumente: »Die Autoren irren nur darin, daß sie die Modifikation des Traums bei seinem Erinnern und In-Worte-Fassen für willkürlich, also für nicht weiter auflösbar und demnach für geeignet halten, uns in der Erkenntnis des Traumes irrezuleiten. Sie unterschätzen die Determinierung im Psychischen. Es gibt da nichts Willkürliches. Es läßt sich ganz allgemein zeigen, daß ein zweiter Gedankenzug sofort die Bestimmung des Elements übernimmt, welches vom ersten unbestimmt gelassen wurde.«96 Mit diesem wechselseitigen Eintreten, Ersetzen und Stellvertreten der Elemente ergeben sich jene Maximen einer Ethik der Lektüre und Deutung des Materials in der Psychoanalyse, die Freud immer wieder innehalten und zurückblicken, ja zurückgehen läßt. Im Gegensatz zu Hegels Beiseitelassen der »zertretenen Blume« schaut Freud nicht triumphierend auf Siege der Entschlüsselung oder allein auf die Erfolge der Deutung zurück, sondern fragt nach den Verlusten des eigenen Vorgehens: »Ehe wir aber mit unseren Gedanken diesen neuen Weg einschlagen, wollen wir haltmachen und zurückschauen, ob wir auf unserer Wanderung bis hierher nichts Wichtiges unbeachtet gelassen haben.«97 Es geht also bei der Weg-Metaphorik Freuds (»Weg«, »Wanderung«, »Strecke«)98 nicht nur um das Vorankommen, den Fortschritt, die positiven Resultate, sondern auch um die Verund Abzweigungen, die Neben- und Holzwege, die Sackgassen und Ausweglosigkeiten (»Pfade ins Dunkel«) – oder besser: wenn es um den Erfolg (der Traum-

96. Freud 1900, 493. »Ebensowenig willkürlich sind die Veränderungen, die der Traum bei der Redaktion des Wachens erfährt. Sie bleiben in assoziativer Verknüpfung mit dem Inhalt, an dessen Stelle sie sich setzen, und dienen dazu, uns den Weg zu diesem Inhalt zu zeigen, der selbst wieder der Ersatz eines anderen sein mag.« (Ebd.) Als weiteres Argument führt Freud seine Praxis im Umgang mit dem Material an, das der Analysant präsentiert: »Ich pflege bei den Traumanalysen mit Patienten folgende Probe auf diese Behauptung nie ohne Erfolg anzustellen. Wenn mir der Bericht eines Traums zuerst schwer verständlich erschien, so bitte ich den Erzähler, ihn zu wiederholen. Das geschieht dann selten mit den nämlichen Worten. Die Stellen aber, an denen er den Ausdruck verändert hat, sind mir als die schwachen Stellen der Traumverkleidung kenntlich gemacht worden, die dienen mir wie Hagen das gestickte Zeichen an Siegfrieds Gewand. Dort kann die Traumdeutung ansetzen.« (Freud 1900, 493f.) Auch hier findet Freuds Traumdeutung keine einfachen Evidenzen oder unwiderlegliche Tatsachen, sondern zunächst einen Anlaß für weitere Deutungsarbeit. Nebenbei bemerkt, kommt es hier durch den gewählten Vergleich mit dem Nibelungen-Helden zu einer Engführung von Traumdeutung und Mordanschlag: Denn es geht Freud an verschiedensten Stellen darum, die schwachen Stellen in der Abwehr, in der Verdrängung und den Widerständen ausfindig zu machen. 97. Freud 1900, 489. 98. Freud 1900, 489f. 468

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deutung als Buch und als psychoanalytisches Unternehmen) geht, dann nicht ohne den Versuch einer Verlustliste, einer Grenzbestimmung des Wissensanspruchs, der mit der neuen Wissenschaft legitimerweise verbunden werden kann – denn es kann sich das Unbedeutendste, Geringfügigste nachträglich immer noch als das Wichtigste, Entscheidenste herausstellen. Die psychoanalytische Arbeit kann nicht mit geradlinigen, einfachen und schnellen Lösungen aufwarten – nicht, weil sie nicht will, sondern weil die Erfahrung gezeigt hat, daß erst die wiederholte Durcharbeitung jene Wirkung beim Subjekt auslöst, die es in die Lage versetzt, sich auf andere Weise zu sich ins Verhältnis zu setzen, als es ihm zuvor möglich erschien. Deshalb entwickelt Freud Strategien im Umgang mit dem, was sich nicht zeigt, nicht zeigen will, verdrängt wird, Widerstand leistet. Im wesentlichen handelt es sich dabei um jene ungelenkte, gleichschwebende Aufmerksamkeit, die sich eher vom Assoziationsprozeß des Analysanten leiten läßt, als eigenen theoretisch begründeten Grundsätzen zu folgen: »Die Deutung eines Traumes vollzieht sich auch nicht immer in einem Zuge; nicht selten fühlt man seine Leistungsfähigkeit erschöpft, wenn man einer Verkettung von Einfällen gefolgt ist, der Traum sagt einem nichts mehr an diesem Tage; man tut dann gut, abzubrechen und an einem nächsten zur Arbeit zurückzukehren. Dann lenkt ein anderes Stück des Trauminhalts die Aufmerksamkeit auf sich, und man findet den Zugang zu einer neuen Schicht von Traumgedanken. Man kann das die ›fraktionierte‹ Traumdeutung heißen.«99 Einerseits geht es also um das Gelenktwerden der Aufmerksamkeit durch das assoziativ auftauchende Material, andererseits setzt Freud auf das Weiterarbeiten der Gedanken, auch wenn das Subjekt nicht (bewußt) an die Sache denkt, die es beschäftigt hat. Wenn die psychoanalytische Arbeit nun ganz auf der Produktivität des Unbewußten aufbaut, allein die Beobachtung des Geschehens dem Bewußtsein überläßt und es der (intuitiv zu nennenden) Erfahrung des Analytikers anheimstellt, Deutungen zu geben oder zurückzuhalten (d.h. sich auch dem ›eigenen‹ Unbewußten gegenüber vernehmend zu verhalten), so bleibt doch noch genug zu tun, um die Arbeit fortzusetzen und die analytische Behandlung zu einem Punkt zu bringen, der es dem Analysanten erlaubt, ohne Analyse leben zu können. Diese Finalität des Prozesses ist nicht planbar, doch sie zeitigt sicher von Beginn an ihre Wirkung, eine gewisse Ungeduld, jetzt endlich auf den Punkt zu kommen: »Am schwierigsten ist der Anfänger in der Traumdeutung zur Anerkennung der Tatsache zu bewegen, daß seine Aufgabe nicht voll erledigt ist, wenn er eine vollständige Deutung des Traums in Händen hat, die sinnreich, zusammenhängend ist, und über alle Elemente des Trauminhalts Auskunft gibt.«100

99. Freud 1900, 501. 100. Ebd. 469

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Hier tritt nun die prinzipielle Unabschließbarkeit des Assoziations- und Deutungsgeschehens in Form der Überdeterminierung auf den Plan: »Es kann außerdem eine andere, eine Überdeutung, desselben Traums möglich sein, die ihm entgangen ist. Es ist wirklich nicht leicht, sich von dem Reichtum an unbewußten, nach Ausdruck ringenden Gedankengängen in unserem Denken eine Vorstellung zu machen und an die Geschicklichkeit der Traumarbeit zu glauben, durch mehrdeutige Ausdrucksweise jedesmal gleichsam sieben Fliegen mit einem Schlage zu treffen, wie der Schneidergeselle im Märchen. Der Leser wird immer geneigt sein, dem Autor vorzuwerfen, daß er seinen Witz überflüssig vergeude; wer sich selbst Erfahrung erworben hat, wird sich eines Besseren belehrt finden.«101 Es gibt immer mehr Bedeutung, mehr unbewußte Gedankengänge, als zu aktualisieren (d.h. für das Bewußtsein zu rekonstruieren) möglich ist. Aber auch das Unbewußte denkt: Es unterhält mannigfaltige Verbindungen mit dem bewußten Denken, und die Einfälle verdanken sich assoziativen Verknüpfungen, die, zu passenden Gelegenheit ›aktiviert‹, die assoziierten Elemente ›aufrufen‹. Es ist eine nahezu unglaubliche, märchenhafte Schläue am Werk, die der skeptische Leser nur zu gern dem Witz des Autors, d.h. des Analytikers Freud anlastet, solange er sich nicht selbst die Erfahrung in der Analyse verschafft hat. Damit ist noch nichts über die Triftigkeit bestimmter Assoziationen gesagt, sondern allein die Möglichkeit reichhaltiger assoziativer Verbindungen aufgezeigt. Was sie im einzelnen und d.h. in jedem speziellen Fall bedeuten mögen, muß aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus plausibilisiert werden. Allerdings zeigen sich dabei immer wieder schon bekannte, verallgemeinerbare Muster der Deutung, die die Teilhabe des Einzelnen am Allgemeinen vorführen. In welcher Weise dies aber jeweils realisiert ist, läßt sich wiederum nicht mit Sicherheit vorhersagen. Insofern taugt die Freudsche Traumdeutung nicht zur schnellen Diagnose, da sie keine allgemeinen Regeln zur Eruierung der individuellen, dem Subjekt selbst verborgenen Bedeutung bereitstellt, sondern nur ein Setting als Erfahrungsraum und als Forschungsinstrumentarium. Freud hat verschiedentlich die psychoanalytische Arbeit in Metaphern des Kampfes mit »den inneren Widerständen« und als Operieren in einem Feld psychischer »Kräfteverhältnisse« beschrieben, die sich auf der interpersonalen Ebene zeigen: Nur hartnäckiges »intellektuelles Interesse« und die »Fähigkeit zur Selbstüberwindung«, aber auch »psychologische Kenntnisse« und die »Übung in der Traumdeutung« können helfen, den »inneren Widerständen den Herrn [zu] zeigen«.102 Und wer ist der Herr? Es ist die gelungene Deutung, also der zugewiesene Sinn, der (wieder-)gefundene Zusammenhang; es ist das lösende Wort, der treffende Signifikant, der in der Artikulation des Analysanten eine entschei-

101. Ebd.; vgl. Freud 1900, 298f., Anm. 102. Freud 1900, 502. 470

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dende Rolle spielt und durch die analytische Arbeit dem Subjekt wieder zugespielt wurde, so daß es nun eine andere Stellung zu ihm einzunehmen in der Lage ist.103 Mit deutlichen Worten konstatiert Freud: »Die Frage, ob jeder Traum zur Deutung gebracht werden kann, ist mit Nein zu beantworten.«104 Aber trotz dieser prinzipiellen Einsicht kann der Analytiker gleichwohl den Eindruck gewinnen, daß die Deutung eines Traums noch nicht weit genug vorangetrieben worden, also auf Widerstände getroffen ist. So »gestattet ein nächstfolgender Traum, die für den ersten angenommene Deutung zu versichern und weiterzuführen. Eine ganze Reihe von Träumen, die sich durch Wochen oder Monate zieht, ruht oft auf gemeinsamem Boden und ist dann im Zusammenhange der Deutung zu unterwerfen.«105 Diese fraktionierte Deutung weist jenen supplementären Charakter auf, der sich in allem kommunikativen Geschehen nachweisen läßt und für die Konstitution von Signifikanten, Zeichen und Bedeutung in Sprache und Sprechen grundlegend ist. Aber trotz dieser prinzipiell unabschließbaren Dynamik des Deutungsgeschehens gibt es jene Punkte, an denen nichts mehr geht: »In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt.106 Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.«107 Das ›normale Denken‹ wird von Freud selbst als ein Denken von rhizomatischem Charakter bezeichnet (»die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt«) und ähnelt dem Traum, insofern dieser auf ›seinen‹ Traumgedanken hin analysiert worden ist. Der Traumgedanke ist ja nicht mit dem Traumgeschehen selbst gleichzusetzen, sondern eine Rekonstruktion der dem Traum vermutlich zugrundeliegenden, ihn motivierenden Konstellation, gewissermaßen die den Traum bestimmende Tendenz als Gedanke formuliert. Diese Ergebnisse des Deutungsprozesses lassen sich also einerseits als Konstruktionen der Analyse verstehen, andererseits bringen sie die dem Traum innewohnende, ihn beherrschende, unbewußte Tendenz nach Maßgabe des bewußten Verständnisses zur Darstellung. Zugleich wird durch die intensive (affektive) und extensive (weitausgreifende) Verknüpfung des assoziativ hervorgerufenen Materials mit denjenigen psychischen

103. Dies muß, wie gesagt, kein bewußter Akt sein, sondern kann sich als Fortschritt in der Analyse ebenso zeigen wie im Abbruch der Behandlung. 104. Freud 1900, 502. 105. Ebd.; vgl. auch 205, 356, 330. 106. Vgl. Freud 1900, 130, Anm. 2. 107. Freud 1900, 503. 471

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Elementen, die als der »Instanz des normalen Denkens« zugehörig angesehen werden, jene Trennlinie unscharf, die zwischen dem sog. vernünftigen, geordneten Denken und den unvernünftigen, unzusammenhängenden Einfällen, zwischen dem Verständlichen und dem Unverständlichen, dem Wach- und dem Traumbewußtsein verlaufen soll. Freud entwickelt also eine Vorgehensweise, die es erlaubt, sich gleichermaßen in beiden Bereichen zu bewegen bzw. eine Passage zwischen beiden zu finden. Diese Durchquerung des Psychischen arbeitet mit dem Kontrast der unterschiedlichen Qualitäten der psychischen Phänomene, die es zu analysieren gilt, indem einerseits möglichst jede Sprunghaftigkeit und Leitfähigkeit für die Erfahrung zugelassen wird (freie Assoziation, gleichschwebende Aufmerksamkeit), andererseits jedoch am Postulat eines immer möglichen Zusammenhangs, gar einer Systematizität, welche(n) das Psychische als sinnhaft operierendes Medium exemplifiziert, festgehalten wird.

Zusammenhang als Postulat Gegen die von der psychoanalytischen Deutung behauptete Triftigkeit einer Assoziation kann jederzeit der Einwand geltend gemacht werden, es sei nicht überraschend, daß ein herausgegriffenes Element mit irgendeinem anderen in assoziativer Verbindung stehe, da es gar kein Element geben kann, das nicht durch solche assoziativen Relationen bestimmt wird. Doch Freuds Entgegnung beruft sich auf die »Unwahrscheinlichkeit, daß etwas, was den Traum so erschöpfend deckt und aufklärt wie eine unserer Traumdeutungen, anders gewonnen werden könne, als indem man vorher hergestellten psychischen Verbindungen nachfährt.«108 Damit kommt etwas konstitutiv ins Spiel, was »Gedächtnis« genannt zu werden verdient: sei es als ›psychische Präexistenz‹ im Sinne einer im Psychischen gegebenen Erinnerung, die bloß noch nicht bewußt geworden ist, sei es als ›präexistierendes Psychisches‹, das das vorherige Dasein von Psychischem meint, also eine Existenzbehauptung für vergangene Zeitpunkte aufstellt. Freud gesteht ein: »Wir haben keinen Grund, dem Problem, wieso man durch Verfolgung einer sich willkürlich und ziellos weiterspinnenden Gedankenkette zu einem präexistenten Ziele gelangen könne, aus dem Wege zu gehen, da wir dieses Problem zwar nicht zu lösen, aber voll zu beseitigen vermögen.«109 Wenn nun alles, was für und gegen die Psychoanalyse spricht, was ihre theoretische Rechtfertigung und ihr praktisches Vorgehen betrifft, mit dem Hinweis auf den psychischen Zusammenhang begründet werden soll, dann muß gezeigt oder wenigstens plausibel gemacht werden können, daß alles dafür spricht, einen solchen anzunehmen, auch wenn man ihn nicht in einem strengen Sinne beweisen kann. Der psychische Zusammenhang ist ein Postulat der psychoanalytischen Ar-

108. Freud 1900, 505. 109. Ebd. 472

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beit, ohne das die Durchführung der Behandlung, die Deutung der Träume, ja selbst die Beobachtung von Fehlleistungen und Symptomen überhaupt nicht möglich wäre. Denn erst vor dem Hintergrund der Annahme eines kohärenten (Sinn-)Zusammenhangs erscheinen die Abweichung, der Fehler, der Zufall als solche. Deshalb bedarf es besonderer Vorkehrungen, v.a. einer spezifischen Haltung gegenüber dem Material, die das Gleichschweben der Aufmerksamkeit mit dem Postulat der Kohärenz des psychischen Zusammenhangs verknüpft. Der Verzicht auf das Zusammenhangspostulat liefe auf die entgegengesetzte Annahme hinaus, daß es keine Ordnung, keinen Zusammenhang im Psychischen gäbe. Die Analyse der Assoziation zeigt jedoch regelmäßig (wenn auch nicht immer), daß es einen Zusammenhang zwischen spezifischen Elementen gibt, auch wenn dieser sich zunächst nicht als solcher offenbart: »Es ist nämlich nachweisbar unrichtig, daß wir uns einem ziellosen Vorstellungsablauf hingeben, wenn wir, wie bei der Traumdeutungsarbeit, unser Nachdenken fallen- und die ungewollten Vorstellungen auftauchen lassen. Es läßt sich zeigen, daß wir immer nur auf die uns bekannten Zielvorstellungen verzichten können und daß mit dem Aufhören dieser sofort unbekannte – wie wir ungenau sagen: unbewußte – Zielvorstellungen zur Macht kommen, die jetzt den Ablauf der ungewollten Vorstellungen determiniert halten. Ein Denken ohne Zielvorstellungen läßt sich durch unsere eigene Beeinflussung unseres Seelenlebens überhaupt nicht herstellen; […] Die Psychiater[110] haben hier viel zu früh auf die Festigkeit des psychischen Gefüges verzichtet.«111 Freud bringt also noch einmal die Gesetzmäßigkeiten der traditionellen Assoziationspsychologie ins Spiel, um die Mittel und Wege der Assoziation unter den Bedingungen von Widerstand und Zensur deutlich zu machen und um dann um so stärker auf den Zusammenhang zwischen den offenbar unsinnigen und den für sinnvoll erachteten Assoziationen hinzuweisen: »Als ein untrügliches Zeichen der von Zielvorstellungen freien Assoziation hat man es betrachtet, wenn die auftauchenden Vorstellungen (oder Bilder) untereinander durch die Bande der sogenannten oberflächlichen Assoziation verknüpft erscheinen, also durch Assonanz, Wortzweideutigkeiten, zeitliches Zusammentreffen ohne innere Sinnbeziehung, durch alle die Assoziationen, die wir im Witz und beim Wortspiel zu verwerten uns

110. Tatsächlich mag es im Bereich der klinischen Psychopathologie unter bestimmten Umständen solche nicht weiter deutbaren Phänomene geben: »Das freie Spiel der Vorstellungen nach beliebiger Assoziationsverkettung kommt vielleicht bei destruktiven organischen Gehirnprozessen zum Vorschein; was bei den Psychoneurosen für solches gehalten wird, läßt sich allemal durch Einwirkung der Zensur auf eine Gedankenreihe aufklären, welche von verborgen gebliebenen Zielvorstellungen in den Vordergrund geschoben wird.« (Freud 1900, 507) 111. Freud 1900, 505f. Vgl. hierzu Schleiermacher, der in seiner Dialektik (1822) eine vergleichbare Überlegung anstellt (Schleiermacher 1814/1822, 445f.). 473

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

gestatten. Dieses Kennzeichen trifft für die Gedankenverbindung, die uns von den Elementen des Trauminhalts zu den Zwischengedanken und von diesen zu den eigentlichen Traumgedanken führen, zu; wir haben bei vielen Traumanalysen Beispiele davon gefunden, die unser Befremden wecken mußten. Keine Anknüpfung war da zu locker, kein Witz zu verwerflich, als daß er nicht die Brücke von einem Gedanken zum anderen hätte bilden dürfen. Aber das richtige Verständnis solcher Nachsichtigkeit liegt nicht ferne. Jedesmal, wenn ein psychisches Element mit einem anderen durch eine anstößige und oberflächliche Assoziation verbunden ist, existiert auch eine korrekte und tiefergehende Verknüpfung zwischen den beiden, welche dem Widerstande der Zensur unterliegt.« 112 Der Analysant ist nicht einmal dann frei, wenn er es sich vornimmt bzw. dazu aufgefordert wird. Immer gibt es irgendein Motiv, das sein Denken, sein Verhalten und Handeln bestimmt, denn er kann sich nur das zu vergessen vornehmen, wessen er sich bewußt ist – aber alles andere ihm nicht Bewußte kann sofort an die Stelle der bewußt ausgeschalteten Zielvorstellung treten und so das Subjekt unbewußt determinieren.113 Freud gibt das folgende Beispiel: »Wenn ich einem Patienten auftrage, alles Nachdenken fahrenzulassen und mir zu berichten, was immer ihm dann in den Sinn kommt, so halte ich die Voraussetzung fest, daß er die Zielvorstellung der Behandlung nicht fahrenlassen kann, und halte mich für berechtigt zu folgern, daß das scheinbar Harmloseste und Willkürlichste, das er mir berichtet, im Zusammenhang mit seinem Krankheitszustande steht. Eine andere Zielvorstellung, von der der Patient nichts ahnt, ist die meiner Person.« 114 Mit Freud kann also gesagt werden, daß es, sofern es Psychisches gibt, Zusammenhang geben muß, wie immer dieser auch in seinen spezifischen Verknüpfungen bestimmt sein mag. Denn nur unter der Annahme eines Zusammenhangs kann Psychisches bestimmt und gedeutet werden. Noch die offensichtlichsten Sprünge und Brüche gehören in diesen Zusammenhang. Bewußtes und Unbewußtes stellen sich also als zwei Perspektiven der Deutung des Psychischen dar, die jeweils unterschiedlichen Dynamiken, Anordnungen und Modi der Verknüpfung unterliegen, Kontinuitäten ebenso wie Diskontinuitäten enthalten. Diskontinuitäten verweisen auf mögliche andere Verbindungen, ohne daß diese immer aufzeigbar wären. Darum heben sich die Brüche nicht einfach oder in letzter Instanz auf, vielmehr bleiben sie im Zusammenhang, der sich so nicht, noch nicht, zu schließen vermag.

Resümee In einer pointierten Gegenüberstellung der grundsätzlichen Charakteristika von Hegels Philosophie und Freuds Psychoanalyse kann man also zu folgendem Fazit

112. Freud 1900, 507. 113. Vgl. Freud 1900, 505. 114. Freud 1900, 508f. 474

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

gelangen: Während Hegels Philosophie des Geistes den Weg einer letztlich vollständigen Aneignung der Geschichte als Verwirklichung des Geistes durch Er-innerung im Bewußtsein nachzuzeichnen versucht, kann man bei Freud von einer Insistenz des Unbewußten, des Verdrängten, sprechen, das die Form eines Gedächtnisses für das Subjekt annimmt, das wesentlich unerinnerbar bleibt. Hat Hegel nämlich für das vollkommen Vergangene nur das restlose Vergessen übrig, so ist die psychoanalytische Erfahrung mit dem Nichtvergessenkönnen des traumatisierenden Rests konfrontiert. Hegels Verabsolutierung des Geistes als Substanz und Subjekt, als universelle Vermittlung, muß die Hartnäckigkeit des Partikularen, die sich in der Symptomatologie der Psychoanalyse wiederfindet, zugunsten des Ganzen vernachlässigen. Während also der gesamte Prozeß des Geistes – so differenziert und dialektisch, d.h. durch die Widersprüche hindurch, er sich im Einzelnen auch vollzieht – in einer identitätsphilosophischen Aufhebung, in einer Synthese, kulminiert, bleibt die psychoanalytische Erfahrung und Theoretisierung im analytischen Modus der differenztheoretischen Verschiebung, die eine abschließende Totalisierung als System des Wissens hintertreibt. Um den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«, der sich Geschichte nennt, in allen seinen Stufen nachzuzeichnen, ordnet Hegel alles Erscheinende dieser Leitidee unter, um entscheiden zu können, was wesentlich und was unwesentlich ist; mithin folgt er einer (wenn auch konstruktiven) Metaphysik des Wesentlichen, die alles andere – das Unwesentliche – hinter sich läßt. Freud hingegen beharrt auf der Nichtsubstantialität des Partikularen, das sich so hartnäckig als nicht integrierbar, nicht aufhebbar zeigt. Der durch Aussortieren erlangten akkumulativen Synthese des Geistes kontrastiert demnach die von der Wiederkehr des Verdrängten heimgesuchte Analyse des Unbewußten. Gegenüber dieser auch theoretisch nachhaltigen Verlegenheit des Subjekts des Unbewußten reagiert Freud mit konstruktiver Mythologie,115 während Hegel an der geschichtsphilosophischen Idee eines Systems des Geistes festhält, das sich als ein Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes verwirklicht und totalisiert. Deshalb bleibt die Philosophie Hegels dem Muster des grand récit verpflichtet, in den alles, was wesentlich ist, eingearbeitet wird, während Freud noch seine theoretischen und spekulativen Zusammenhangsbildungen an die Novellistik seiner Fallbeschreibungen bzw. an die Traumanalysen bestimmter Individuen rückbindet, an denen sich erweist, »wie gerade die geringfügigsten Züge des Traumes zur Deutung unentbehrlich sind«.116

115. Bekanntlich hat Hans Blumenberg den Mythos ebenso wie die Metapher als wiederholten Antwortversuch auf eine existentielle Verlegenheit bezeichnet (vgl. Blumenberg 1979). 116. Freud 1900, 492. 475

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

6.2 Medien-Symptome. Medientheoretische Perspektiven in den psychoanalytischen Überlegungen zur KulturTechnik Symptom und Technik Wird über den »psychischen Apparat« im Zusammenhang mit Techniken und Symptomen gesprochen, so kann man sich auf die Versuche Freuds stützen, den psychischen Apparat für die theoretische Darstellung zu analysieren. Das heißt im einzelnen, ihn in einzelne Funktionen und Topoi zu zerlegen, seine allgemeinen Steuerungsprinzipien im Rahmen eines Energiemodells der Transformation zu fassen, von Homöostase, Konstanz- und Nirvanaprinzip zu sprechen, dann die Strukturierung dieser Vorgänge mit symbolischen Medien, z.B. der Sprache und dem Bild, zu verbinden und so den verschiedenartigsten Wegen der Bewältigung von Spannungszuständen nachzugehen, die das ausmachen, was gemeinhin Erfahrung genannt wird. Hierbei gehen die Darstellungstechniken und die zur Darstellung benötigten bzw. gebrachten technischen Modelle eine enge Verbindung ein, so daß Freud einen Apparat konstruiert, »der keinem anatomischen Nachweis zugänglich ist, sondern nur als Gleichnis oder Bild im doppelten Wortsinn existiert: als eine hypothetische oder virtuelle Optik, die ihrerseits neben physikalisch-realen Elementen auch im technischen Wortsinn virtuelle Bilder einschließt.«117 Einzig in der Modellbildung des psychischen Apparats gelingt die – wenn auch metaphorische – Schließung zwischen »physikalisch-realen Elementen« und »virtuellen Bildern« (mögen diese auch »im technischen Wortsinn« bestimmt sein). Der psychische Apparat läßt sich nicht anders als in sprachlich-diskursiver Form als jene Konstruktion bzw. Hypothese einführen und begründen, die Empirisches und Theoretisches, Meßbares und Denkbares aufeinander beziehbar macht. Der in dieser Arbeit (v.a. in Kap. 4) bislang verfolgte Weg zur Erläuterung des psychischen Apparats soll nun zu der Frage führen, was ein Symptom in der Psychoanalyse ist, um dann den technischen Sinn der Wortfügung psychischer Apparat mit Hilfe des Medien-Begriffs in Bezug auf die Bedeutung des Symptom-Begriffs für Fragen nach Erinnerung und Unerinnerbarem zu erläutern. Dabei kann – wie bereits in Kap. 4.2 vorgeführt – das Phänomen der Übertragung als ein Hauptcharakteristikum des psychischen Apparats in medientheoretischer Sicht bestimmt werden, wobei diese Kennzeichnung nun ihrerseits zum Symptom-Begriff und zur Frage nach der MedienTechnik ins Verhältnis gesetzt sei, die Freud insbesondere in seinen kulturtheoretischen Schriften des Spätwerks exponiert. Symptome werden ja im Sinne der Psychoanalyse als Gedächtnismark(ierung)en aufgefaßt, die die direkte Erinnerung sowohl unterbinden (haben sie sich doch an jene Stelle gesetzt, an der das in die Psyche eingegangene pathogene Ereignis sich dem Erinnerungsfundus des Gedächtnisses hätte einverleiben sollen)

117. Kittler 2000, 210f. 476

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als auch das indirekte Erinnern anreizen (denn das Symptom ist – als ein Verweis auf anderes – jene Marke, die als verdeckende und entstellende genau darauf aufmerksam macht, daß etwas nicht in Ordnung ist in der Ordnung des Sichtund Wißbaren). Die Doppelfunktion des Symptoms liegt also darin, etwas Verborgenes zu bergen, etwas in der Entstellung darzustellen.118 Das Symptom wäre also das Supplement einer Erinnerung: An die Stelle der zu erinnernden Vergangenheit tritt das neurotische Symptom. Es ist das Äquivalent einer entstellten Erinnerung, einer Erinnerung unter Bedingungen von Zensur und Verdrängung. In der 23. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse kommt Freud zu einem verwirrenden Ergebnis, was die »Heilung« der psychischen Erkrankungen anbelangt: »Aber was nach Beseitigung der Symptome Greifbares von der Krankheit übrigbleibt, ist nur die Fähigkeit, neue Symptome zu bilden.«119 Damit ist der Horizont therapeutischer Intervention klar umgrenzt. Selbst wenn alle Symptome beseitigt wären, bliebe immer noch die Fähigkeit, Symptome zu bilden. Daraus ließe sich schon die Vermutung ableiten, daß Symptombildung eine ›normale‹ Fähigkeit des Subjekts ist. Tatsächlich gibt es genügend Belege in den Freudschen Schriften, daß die Symptome eine wichtige, konstitutive Funktion im psychischen Geschehen haben und eine irgend geartete Entwicklung menschlicher Individuen nicht ohne sie vonstatten geht. Es sei hier nur an die Formulierung aus Das Ich und das Es (1923) erinnert, wo das Ich als ein Niederschlag vergangener Identifizierungen mit inzwischen aufgegebenen Objektbesetzungen bezeichnet wird, also Fixierungen besonderer Art vom Subjekt ausgebildet werden, die in vielem einem neurotischen Symptom gleichen.120 Diese eher skeptisch-pragmatische Haltung Freuds zeigt sich nicht nur bezogen auf die klinisch-therapeutischen Probleme mit den einhergehenden Heilungsversprechen, sondern ebenso in den metapsychologischen oder kulturtheoretischen Passagen seines Werkes. An verschiedenen Stellen vertritt Freud die These, daß für den Fortschritt in der kulturellen Entwicklung der menschlichen Gattung mitunter ein hoher Preis bezahlt werden muß. Im sog. Wolfsmann schreibt Freud an einer Stelle, wo es um die spekulative These vom phylogenetischen Erbe geht: »Gäbe es einen solchen instinktiven Besitz auch beim Menschen, so wäre es nicht zu verwundern, wenn er die Vorgänge des Sexuallebens ganz besonders beträfe, wenngleich er auf sie keineswegs beschränkt sein kann. Dieses Instinktive wäre der Kern des Unbewußten, eine primitive Geistestätigkeit, die später durch die zu erwerbende Menschheitsvernunft entthront und überlagert wird, aber so oft, vielleicht bei allen, die Kraft

118. Vgl. zu Walter Benjamins Begrifflichkeit der ›entstellten Ähnlichkeit‹: Weigel 1997. 119. Freud 1916-17, 350. 120. Freud 1923, 297; vgl. Freud 1916-17, 502. Freud war auf diesen Zusammenhang im Zuge seiner Beschäftigung mit der Psychopathologie von »Trauer und Melancholie« (Freud 1917) gestoßen. 477

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

behält, höhere seelische Vorgänge zu sich herabzuziehen. Die Verdrängung wäre die Rückkehr zu dieser instinktiven Stufe, und der Mensch würde so mit seiner Fähigkeit zur Neurose seine große Neuerwerbung bezahlen und durch die Möglichkeit der Neurosen die Existenz der früheren instinktartigen Vorstufe bezeugen. Die Bedeutung der frühen Kindheitstraumen läge aber darin, daß sie diesem Unbewußten einen Stoff zuführen, der es gegen die Aufzehrung durch die nachfolgende Entwicklung schützt.« 121 Der Konjunktiv zeigt an, daß Freud hier eine Hypothese durchspielt, die allen therapeutischen Omnipotenzphantasien eine klare Absage erteilt. Diese Betonung der Grenzen der Machbarkeit ist für den im folgenden entfalteten Zusammenhang wichtig, weil es vielleicht merkwürdig anmutet, daß hier Symptom und Technik in einem Atemzug genannt werden. In der Tat lautet die hier vertretene These, daß die Wege der Symptombildung (so der Titel von Freuds 23. Vorlesung) als Techniken dargestellt werden können. Zumindest sind die Fähigkeiten, die Freud dem psychischen Apparat zuspricht, wie Vorgänge oder – so drückt Freud sich gern aus – Mechanismen zu beschreiben, die ebensogut einem technischen Gerät entstammen könnten. Aber es gibt gewichtige Unterschiede zur Redeweise in den Technikwissenschaften: Die Fähigkeit zu etwas zu haben kann zwar gleichgesetzt werden mit einem Wissen, etwas tun zu können, aber dieses Wissen ist in der Perspektive der Psychoanalyse keines, das beliebig zur Verfügung steht. Insofern konzipiert die Psychoanalyse ein Wissen, von dem das Subjekt nicht weiß, dessen Wirkungen es gleichwohl unterliegt und nach dem es sich – automatisch, möchte man sagen – verhält. Dieses Wissen ist also eines, dem sich das Subjekt immer schon ausgesetzt sieht, sofern es ihm gelingt, es nachträglich zu rekonstruieren. Das Automatische, Gesteuerte, Mechanische bezeichnet in den Debatten der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit den Hauptcharakter der modernen Technik und greift von hier auf die Bestimmung der (neuen und alten) Medien aus. Hierzu wird Subjektivität gern in einen Gegensatz gebracht, denn Technik verschaffe eben nicht nur Nutzen und Erleichterung des Lebens, mache nicht schlechthin Freude, sondern sei immer auch unzuverlässig, gar unheimlich und verbreite Angst. Aber avancierte Medientheorie sowie Psychoanalyse geben keinen Grund zu der Annahme, daß es sich um eine strikte Trennung bzw. ein einfaches antagonistisches Verhältnis zwischen »Mensch und Maschine« oder »Subjekt und Objekt« handelt.

Kategorien der Medialität Versteht man mediales Geschehen – zu dem auch das Psychische gerechnet werden kann, soweit es sich einer theoretischen Betrachtungsweise erschließt (vgl. Kap. 1.3) – nach dem Modell von Kommunikation, die sich auf der Basis elemen-

121. Freud 1918, 230. Die von Freud bemühte wissenschaftliche Mythologie braucht für meinen Zusammenhang nicht diskutiert werden, denn wichtig ist hier nicht, was, sondern wozu es gesagt wird. 478

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tarer Unterscheidungen vollzieht, also Information verwendet – nämlich als denjenigen Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson) –, dann muß Kommunikation zugleich mit Bezug auf jeweils andere Unterscheidungen als jene Einheit der drei Selektionen Mitteilung, Information und Verstehen aufgefaßt werden, die ihrerseits auf Medialität rückverweist (Luhmann).122 Eine der heutigen komplexen Situation gesellschaftlicher Kommunikation angemessene Konzeption der Medien umfaßt eine Reihe von Dimensionen, die im einzelnen kulturwissenschaftlich auszubuchstabieren wären, um zu historisch konkreten Bestimmungen zu gelangen. Hier seien nur folgende abstrakte Kategorien angeführt: (1) Vermittlung zwischen Individuen, Gegenständen und Kulturen, da man sich nicht zuletzt auf ein Minimum an Gemeinsamkeiten beziehen bzw. einigen können muß. Ohne vermittelnde Prozesse blieben die Relationen zwischen den genannten Elementen und diese Elemente selbst unbestimmt. Eine Beobachtung von Systemen und deren Spezifikation und Modifikation fände keinen Ansatzpunkt. (2) Übertragung von Information, insofern ein Beobachter bzw. Kommunikationsteilnehmer sich in dem Maße informiert, wie er von etwas Anderem, Fremden oder Unbekannten, sich informieren läßt, d.h. insofern ein wahrgenommener Unterschied für ihn einen Unterschied macht, also neu, bisher nicht bekannt und relevant ist (»Information ist innere Formation« – so Ernst von Glasersfeld mit den Worten Carl Auers123). Es geht demnach nicht um Import von Information, sondern entscheidend sind die Bedingungen, unter denen einem Beobachter, einem System, einem Subjekt etwas als Information dienen kann. (3) Artikulation der Gegenstände und der Beteiligten, also Welt- und Selbstgestaltung bzw. wechselseitige Veränderung, insofern z.B. jemand als ein anderer aus einem Gespräch hervorgeht, d.h. insofern Selbst und Situation eine andere Form und einen anderen Sinn angenommen haben, auf die nicht in bisheriger Weise reagiert werden kann, sondern anders angeknüpft werden muß. Die Konstitution nicht nur von Gegenständen, sondern Situationen, in denen sich Beobachter, Systeme, Subjekte befinden, ist als dynamisches Geschehen von Medialität zu begreifen, in der sich Beobachter, Systeme, Subjekte ihrerseits modifizieren. (4) Materialität der Kommunikation, ihre technische Seite, darf nicht verkürzt werden auf verfügende oder gewitzte Regelanwendung (nach dem Modell des Schachspiels), sondern muß der durch die Medien gesetzten technischmateriellen Dimension124 Rechnung tragen, die immer auch eine zugleich

122. Luhmann 1984, S. 191ff; vgl. hierzu auch Lacan 1955 sowie Bateson 1971, 408. 123. Glasersfeld 1990, 37. Dort der Verweis auf Auer 1943. 124. Die Geschichte der Philosophie kennt reichhaltigere Denkmodelle als die blo479

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zeitlich-räumlich-sozial-symbolisch lokalisierte Situation impliziert, welche nie auf Ausschnitte, bestimmte Aspekte oder »das Wesentliche« vollständig reduzierbar ist: »Materialismus des Unkörperlichen« (Foucault)125. Wenn man Medien in Hinblick auf die ›natürlichen‹ menschlichen Fähigkeiten analysiert, so sind sie einerseits als äußere Extensionen der Sinnesorgane und des Nervensystems des Menschen sowie andererseits als korrelative Innervationen der vergegenständlichten Technik in die leibliche Innenwelt des Menschen anzusehen.126 Durch Implantation und Prothetik bahnt sich die ›Verschmelzung‹ von Mensch und Maschine an, die die Innen-Außen-Dichotomie außer Kraft zu setzen droht: Medien wirken als Filter und Schutzschirm, aber ebenso als Produktivkräfte, die die natürliche Ausstattung und Einrichtung der leiblichen Sinnlichkeit überschreiten (Verstärkung und Übersetzung).127 Darüber darf man allerdings die nichtanthropozentrische Dimension der Technik nicht unterschlagen: Die Eigendynamik technischer Geräte und Organisationen folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als denen der physischen Bestimmungen des Menschen. Dabei ist eine paradox anmutende Eigenschaft festzustellen: Ein Medium ist nicht neutral oder gleichgültig gegenüber seinem ›Gegenstand‹ bzw. den involvierten ›Subjekten‹, d.h. es vollbringt eine nicht-äußerliche Vermittlung. So durchziehen und artikulieren Medien die Subjekte, die jene zu benutzen glauben.128 Und so geht nicht etwas, z.B. die Botschaft, unbeschadet durch das Medium, sondern das Medium geht durch etwas hindurch, und nur dadurch ist dieses ein Etwas (etwas Bestimmtes, z.B. eine verstehbare Mitteilung).129 Vermittlung,

ße Dualität von Stoff und Form: Die Aristotelische Vier-Ursachen-Theorie nennt bekanntlich neben der Causa formalis auch die Causa materialis und zudem die Causa efficiens sowie die Causa finalis. 125. Foucault 1970, 40. 126. Verschiedentlich ist zurecht vor dem Anthropozentrismus dieser ganz auf den Menschen zugeschnittenen Deutung der Medien gewarnt worden (vgl. Tholen 1999). Materialität und Eigendynamik der Medien/ Technik lassen sich nicht auf die ›menschliche‹ Perspektive reduzieren, auch wenn sie sich allein aus ihr heraus überhaupt (von wo sonst?) erschließt. 127. Norbert Bolz formuliert im Hinblick auf Walter Benjamin: »Die Medien genannten Extensionen des Menschen sind also nicht dort draußen. Der technischen Realität der neuen Medien gerecht zu werden, heißt demnach zweierlei: Einmal geht es um die kollektive Innervation der Apparaturen. Zum anderen aber soll der Kollektivleib in der Technik organisiert werden.« (Vgl. hierzu und zum folgenden Bolz 1990, 98) 128. Es handelt sich somit für die Psychoanalyse um eine Geschichte, »wie das Subjekt aus dem Durchlauf eines Signifikanten eine höhere Determinierung erfährt.« (Lacan 1956, 10) 129. Das Medium eines Kunstwerks können z.B. die Leinwand und die Farben sein, ohne die es als dieses spezifische Bildwerk nicht bestünde. Es ist Bild, das etwas zeigt, sofern es Farbe ist, die in bestimmter Weise angeordnet ist. Als Medium stellen Farben ein Bild dar (Dewey 1934; vgl. a. Kap. 1.3). 480

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bei aller Flexibilität, ist weder vollkommen neutral, noch läßt sie das Vermittelte unverändert: Medien konstituieren qua Vermittlung ihre sogenannten Inhalte mit und bringen sie als solche in gewisser Weise erst hervor. Zudem haben Medien eine integrative Funktion, die Austauschbeziehungen zwischen diversen Phänomenen und Kommunikationsteilnehmern herstellt. Medien sind von einer spezifischen Materialität gekennzeichnet, weisen jedoch gegenüber anderen Materialien ein höheres Maß an Auflösevermögen mit einer gleichzeitigen Aufnahmefähigkeit für Gestaltfixierungen auf. Dadurch wird die De- und Rekombination von Elementen möglich. Ein Medium bildet also nicht nur eine Streuung von Elementen, sondern auch die Möglichkeit ihrer (Um-) Formbarkeit und Kopplung (Fritz Heider, vgl. Kap. 1.3). Kommunikationsmedien benötigen symbolische Codes, um die doppelte Kontingenz (Luhmann)130 zwischen den Kommunizierenden zu überbrücken. Die gemeinsamen Symbole unterbreiten dabei ein ›Sinn-Form-Angebot‹, nämlich Unterscheidungen bzw. Selektionen des jeweils anderen zu Voraussetzungen des eigenen weiteren Operierens zu machen. Erst der beiderseitige Vollzug der dreifachen Selektion von Mitteilung, Information und Verstehen macht Kommunikation möglich – und das, obwohl eine Identität der Botschaft für beide Seiten nicht garantiert ist oder verwirklicht zu sein braucht, denn Kommunikation schließt Mißverstehen ein. Gleichwohl kann ein solcher Anspruch implizit oder explizit gestellt werden, ohne den vieles, was den Sinn von Kommunikation betrifft – wenigstens auf Dauer –, unsinnig erschiene: Kommunikation würde allzu schnell abreißen, es fehlte ihr eine plausible Motivation zur Fortsetzung, also: Anschlußfähigkeit. Die Anschlüsse können vordergründig als sinnvoll/nicht-sinnvoll erscheinen, nachträglich jedoch genau den entgegengesetzten Wert annehmen und sind in dieser Hinsicht nicht absolut gebunden an Bewußtsein, Präsenz oder Absicht. Sinn als Anschlußfähigkeit bildet (autologisch) die Bedingung seiner Fortsetzbarkeit. Mit Medien werden im allgemeinen vier Grundfunktionen verbunden: Aufnehmen (Erzeugen), Verarbeiten (Umformen), Speichern (Festhalten), Übertragen (Weitergabe) von Information. Dabei setzt jede Information schon eine weitere Unterscheidung voraus, einen Kontext, und jeder Kontext als ein bestimmter erfordert wiederum andere Unterscheidungen. Mit der ersten Unterscheidung sind schon alle möglichen anderen impliziert und determiniert – auch wenn noch nicht absehbar ist, in welchem Maße und in welcher Weise. Mit der Zeit kommt eine Dynamik in die Unterscheidungsverhältnisse, die sie von Anfang an als Prozeß kennzeichnet. Die Psychoanalyse stellt dafür den Terminus der Nachträglichkeit bereit. Tritt man aus der Unmittelbarkeit der einen Unterscheidung heraus und bezieht sich auf den näheren oder weiteren Kontext, so nimmt man andere Unterschiede in Anspruch, die den Charakter längst getroffener Unterscheidungen in ein völlig anderes Licht zu stellen vermögen. Sie können einen vollkommen veränderten Wert annehmen, unwichtig werden oder sich als besonders be-

130. Luhmann 1984, 148ff. 481

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deutsam erweisen. Die Zeitlichkeit der symbolisch strukturierten medialen Prozesse verkehrt die gewohnten Orientierungen: Was später kommt, kann das Vorhergehende bestimmen (Retroaktivität). Medienprozesse eröffnen so die wechselseitige und nachträglich-vorläufige Bestimmung von – ansonsten unbestimmten, kontingenten – Selbst- und Weltverhältnissen. Freud hat aus seiner Erfahrung mit der Psychoanalyse verschiedene, zum Teil gegenstrebige Dimensionen von Nachträglichkeit zur Sprache gebracht. Ausgehend vom psychoanalytischen Prozeß zwischen Analytiker und Analysant spricht Freud die grundsätzliche Mahnung aus: »Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird.«131 Die Nachträglichkeit kann also die Möglichkeit für Deutungen und für das Verstehen eröffnen. Das nachträgliche Verstehen, welches also Gedächtnis voraussetzt, wird von Freud auch für die kindliche Beobachtung des elterlichen Beischlafs aufgezeigt, da das Kind zu der Zeit, als es diesen Wahrnehmungseindruck bekommt, nicht in der Lage ist, ihn adäquat zu verarbeiten. Hier bildet die Nachträglichkeit ein Einfallstor für spätere, mitunter pathogene Sinnzuschreibungen eines zunächst unverstandenen Eindrucks, wodurch sich ein aktueller psychischer Konflikt seine passenden Belege aus der Erinnerung herbeiholt. In der Nachträglichkeit kann sich auch ein Vergessen einstellen, das sowohl die ursprünglich traumatischen Erlebnisse als auch einen gelungenen »Heilungsprozeß« zu verdecken vermag. So bekennt der ehemalige »kleine Hans« als Neunzehnjähriger das Befremden über seine eigene Kindheitsgeschichte: »Als er seine Krankengeschichte las, erzählte er, es sei ihm alles fremd vorgekommen, er erkannte sich nicht, konnte sich an nichts erinnern, und nur als er auf die Reise nach Gmunden stieß, dämmerte ihm etwas wie ein Schimmer von Erinnerung auf, das könnte er selbst gewesen sein. Die Analyse hatte also die Begebenheit nicht vor der Amnesie bewahrt, sondern war selbst der Amnesie verfallen.«132 Freud zieht daraus bekanntermaßen den skeptischen Schluß, daß man eigentlich in den meisten Fällen nicht genau wisse, wie eine erfolgreiche psychoanalytische Behandlung zustandekomme. Man könne zwar der wünschenswerten Effekte gewahr werden, aber nicht unbedingt sagen, welchen psychischen Vorgängen sich dieser Erfolg verdanke. Die Unmerklichkeit und Unerklärlichkeit jener Prozesse, die zu einem Fortgang in der Analyse beitragen, steht im Gegensatz zu der Deutlichkeit der Mißerfolge, die sofort ins Auge stechen. Verdrängungswiderstände mögen zwar nicht unerschütterlich sein, und »die Neurose kann noch durch die Wirklichkeit überwunden werden. Wir können aber nicht allgemein berechnen, bei wem und wodurch diese Heilung möglich wäre.«133 Hinterher ist man also keineswegs immer klüger.

131. Freud 1912a, 172. 132. Freud 1922, 123. 133. Freud 1905a, 176. 482

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Medientheorie und Psychoanalyse Peter Weibel134 hat noch 1991 angemerkt, daß bislang kaum eine ernstzunehmende Resonanz der Psychoanalyse in Semiotik und Medientheorie135 zu verspüren sei und daß damit das Verhältnis dieser Disziplinen zum Werk Freuds einigen seiner bekanntesten, wenn auch in ihren kulturtheoretisch relevanten Konsequenzen wenig verstandenen Kategorien entspreche, nämlich denen »der Verdrängung und Verneinung, der Verdichtung und Verschiebung«. Entgegen diesem – als symptomatisch aufgefaßten – Zug lassen sich die medialen Phänomene und das Verhältnis der Medienwissenschaft zum psychoanalytischen Diskurs gerade mit Hilfe dieser verleugneten Kategorien analysieren.136 Weibels Bestimmungen der Medien am Beispiel der (Presse-)Photographie und des Spiegelbilds bleiben jedoch einseitig im Rahmen eines Kompensationsmodells und reduzieren Medien auf die Funktion der Präsenzrestitution. In den Medien suche sich ein »Begehren nach Transzendenz der Zeit« sowie nach Überwindung des Raums seine Artikulation und Fassung: »Schrift, Kultur, Technik als Strategie, das Gefängnis von Raum und Zeit zu überwinden, das Entschwindende und Abwesende festzuhalten und Anwesenheit zu simulieren, dienen dem gleichen Verlangen.« Medien/Technologien erscheinen in dieser Perspektive als »Sprache der Absenz«,137 mit der ein ursprünglicher Verlust ›bewältigt‹ werden könne – angefangen mit der Spule des Fort-Da-Spiels.138 Schlußendlich kämen die Medien einer Heilung nahe: »Im Überwinden von Distanz und Zeit überwinden die Medien auch die Schrecken, welche diese auf die Psyche ausüben.«139 Hierzu sind zwei Einwände zu machen: (1) Abwesenheit ist nicht nur etwas Negatives, sondern kann gerade die Negation einer bestimmten Form von Anwesenheit ermöglichen, die für das Subjekt zuviel ist und zuviel bedeutet, die es überfordert und deshalb nicht verarbeitbar ist, also traumatisch wirkt. Abwesenheit in diesem Sinne kann einem Entkommensein gleichgestellt

134. Weibel 1991, 3. 135. Daran hat sich im großen Ganzen wenig geändert, wie der Überblick Filk/Grisko 2002 zeigt. Eine wichtige Ausnahme im deutschsprachigen Raum bilden seit den 1980er Jahren die Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse (hg. vom Wissenschaftlichen Zentrum II, Universität Kassel, Ulrich A. Müller, Georg Christoph Tholen), die sich (auch mit den publizierten Tagungsdokumentationen der zahlreichen Kasseler Tagungen) dann in den 1990er Jahren verstärkt den Schnittpunkten der drei genannten Felder unter dem veränderten Reihentitel Fragmente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse gewidmet haben. 136. Daß das Umgekehrte ebenso gilt, muß nicht besonders hervorgehoben werden: Der Mainstream der Psychoanalyse nimmt wenig bis keine Notiz von medientheoretischen Einsichten. Als Ausnahmen vgl. z.B. Pazzini/Porath/Gottlob 2001 sowie das »Medien«-Heft: Riss 2001. 137. Vgl. Freud 1930, 221. 138. Weibel 1991, 18-20. 139. Weibel 1991, 20. 483

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

werden. Wie Weibel selbst erwähnt, dienen Medien immer auch als Filter, insofern schützen sie, mildern den Kontakt, verhindern die direkte Berührung mit dem Realen, teilen den Reiz und entsprechend die Erregung ein. (2) Technik ist kein positives Gut als solches. Von der Technik selbst können immer auch negative Wirkungen ausgehen, sie ist als ein Medium zugleich ein Akkumulator von Macht, ein Verstärker menschlicher Möglichkeiten zum Guten und Schlechten. Sie kann Bedürfnisse wecken oder erst produzieren, die ohne sie nicht existieren würden. In der Prothetik der Technik liegt auch die Möglichkeit der Abhängigkeit und Degeneration ihrer Benutzer (Freud spricht vom »Prothesengott«, dem seine »Hilfsorgane […] gelegentlich noch viel zu schaffen« machen140). Weibel hebt den phantasmatischen Aspekt der Medien hervor, der eine »Überwindung des Mangels« und »im Bejahen des Seinsentzugs« einen »symbolischen Triumph« ermöglichen soll: »Die Medien werden zu einem zweiten virtuellen Körper, der das Kind nie verläßt«, und »solange ein Foto noch Anwesenheit suggerieren kann, solange kann das Kind bzw. der Mensch seine Angst bannen und auch die verheerenden Folgen eines imaginären Kastrationskomplexes.«141 Weibel schreibt nun diese reine Kompensationstheorie der Technik Freuds Psychoanalyse zu, was hier aber bestritten werden soll. In seiner skeptischen Kulturdiagnose von 1930 unterscheidet Freud »drei Quellen [...], aus denen unser Leiden kommt: die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln.«142 Freud hat durch »das Wort ›Kultur‹ die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.«143 Schon in diesen Formulierungen findet sich die Doppelbestimmung der Technik, Schutzfunktionen zu erfüllen und eine Entfernung herzustellen, die eben ein verändertes, neuartiges Verhältnis zur Natur konstituiert. Aber noch in den kulturellen Errungenschaften, zum Nutzen des Menschen erfunden, sieht Freud ein »Moment der Enttäuschung«, obwohl – das ist »erstaunlich« an dieser Diagnose, wie Freud genau weiß – »alles, womit wir uns gegen die Bedrohungen aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört.«144 Hiermit ist eine zentrale Denkfigur der Dialektik der Aufklärung formuliert. Zwar gesteht Freud zu: »In den letzten Generationen haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihrer technischen

140. 141. 142. 143. 144.

Freud 1930, 222. Weibel 1991, 20. Freud 1930, 217. Freud 1930, 220. Freud 1930, 217. 484

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt.«145 Doch dämpft er den berechtigten Stolz des erfindungsreichen Menschengeschlechts gleich im nächsten Satz: »Aber sie glauben bemerkt zu haben, daß diese neu gewonnene Verfügung über Raum und Zeit, diese Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung jahrtausendealter Sehnsucht, das Maß von Lustbefriedigung, das sie vom Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach ihren Empfindungen nicht glücklicher gemacht hat.«146 Darum kann »die Macht über die Natur nicht die einzige Bedingung des Menschenglücks« sein, ebensowenig »wie sie ja auch nicht das einzige Ziel der Kulturbestrebungen ist«. Und obwohl man nach Freud »nicht die Wertlosigkeit der technischen Fortschritte für unsere Glücksökonomie daraus ableiten«147 kann und sollte, gelangt er dennoch zu einem unerbittlichen Realismus, letztlich und aufs ganze gesehen: Das »Programm des Lustprinzips [...] ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten.«148 Mit diesem Verzicht auf ein natürliches Ziel, ein dem Sein innewohnendes positives telos, reiht sich Freud in die neuzeitliche Stufenleiter der großen Desillusionierungen ein. Ein wesentliches Merkmal unserer Modernität besteht ja gerade in der Anerkennung der Kränkungen, von denen Freud bekanntlich drei nennt, die er mit den Namen Kopernikus, Darwin und seinem eigenen verbindet. Der Mensch steht demnach weder im Zentrum der Welt noch als Krone der Schöpfung, als deren höchste Errungenschaft und eigentliches Ziel da. Die Psychoanalyse fügt die narzißtische Kränkung hinzu, daß das Ich nicht einmal Herr im eigenen Hause (oikos), in der Psyche, sei, weswegen auch die Haushaltung im Sinne einer Glücksbilanz nur negativ ausfallen kann. Im Lichte dieser Einschätzung sind Medien/Techniken und Symptome zu betrachten. Freuds Technik-Diagnose hebt die folgenden Charakteristika hervor: Technik bringe »Hilfsapparate« zur »Verbesserung oder Verstärkung unserer Sinnesfunktionen« hervor,149 was wiederum einer Doppelbestimmung entspricht: »Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistungen weg.«150 In diesem Zusammenhang fällt das Wort von der »vorbildlose[n] Leistung«,151 was den offenen Charakter der Technik gut erfaßt. Selbst im Sinne einer Rückfüh-

145. 146. 147. 148. 149. 150. 151.

Freud 1930, 218. Freud 1930, 218f. Ebd. Freud 1930, 208. Freud 1925b, 366. Freud 1930, 221. Ebd. 485

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rung auf den Wunsch vergißt Freud den Überschuß bzw. den innovativen Aspekt technischer Geräte nicht: »Mit Hilfe des Telephons hört er auf Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde«.152 Wenn auch ein ursprüngliches Motiv zur Entwicklung der Medien/Technik einem Verlust oder einer Bedrohung entspringt, so lassen sich daraus jedoch Verlauf und Richtung dieser Entwicklung nicht ableiten. Insofern ist es zwar die Not, die erfinderisch macht, aber für ein gestelltes Problem gibt es prinzipiell immer mehrere Lösungsmöglichkeiten, auch wenn man sie tatsächlich noch nicht gefunden hat. Desweiteren macht Freud darauf aufmerksam, »daß die Kultur nicht allein auf Nutzen bedacht ist«, sondern sich u.a. an der Schönheit als einem geschätzten Wert orientiert: Neben den Nutzen tritt das Streben nach »Lustgewinn«.153 Freuds Auffassung der technischen Medien schwankt zwischen nützlichem Mittel (Werkzeug), unbehaglicher Abhängigkeit (Prothese) und innovativer Überschreitung (vorbildlose Leistung). Erstaunlicherweise beruht die Unzulänglichkeit der Technik für den Menschen gerade darauf, daß seine Hilfsorgane »nicht mit ihm verwachsen«154 sind und ihm äußerlich bleiben – erstaunlich deswegen, weil Freud an anderen Stellen desselben Textes die Unterscheidbarkeit von Innen und Außen radikal in Frage stellt: »Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt. Daß dieser Anschein ein Trug ist, daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient, das hat uns erst die psychoanalytische Forschung gelehrt, die uns noch viele Auskünfte über das Verhältnis des Ichs zum Es schuldet. Aber nach außen wenigstens scheint das Ich klare und scharfe Grenzlinien zu behaupten. Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man aber nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, daß Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen. Was vorübergehend durch eine physiologische [d.h. normale] Funktion aufgehoben werden kann, muß natürlich auch durch krankhafte Vorgänge gestört werden können. [...] Also ist auch das Ichgefühl Störungen unterworfen, und die Ichgrenzen sind nicht beständig.«155 Die Unterscheidung zwischen Ich und anderem ist weder nach Innen noch nach Außen ursprünglich gegeben oder immer trennscharf, sondern muß konstituiert und aufrechterhalten werden. Freud zieht für seine Beurteilung der Technik keine Konsequenz aus seiner Einsicht, daß die Grenzen zwischen Ich und Außen-

152. 153. 154. 155.

Ebd. Freud 1930, 224f. Freud 1930, 222. Freud 1930, 198f. 486

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

welt keineswegs ursprünglich und stets eindeutig sind. Insofern die Technik das Psychische ebenso eindringlich und nachhaltig formt wie soziale Beziehungen, behält sie einen durch und durch ambivalenten Charakter und gleicht einem Symptom: einem psychischen Symptom ebenso wie einem Symptom der Kultur. Darüber hinaus bildet die Frage der Technik ein Symptom der Psychoanalyse in dem Sinne, daß der historische Entwicklungsstand der Technik als eine (mediale) Voraussetzung für Theorie und Praxis der Psychoanalyse zu wenig bedacht worden ist.156 Allerdings darf man Freuds Aufmerksamkeit für die Metaphorik seines eigenen Diskurses nicht vernachlässigen: Er zeigt ein genaues Gespür für die Metaphern aus technischen oder anderen Bereichen, mit deren Hilfe er dem Rätsel des Psychischen nachgeht. Schließlich ist es ein »Apparat«, der mit der Psychoanalyse ins Psychische Einzug hält. Der »psychische Apparat« ist nicht einfach ein Begriff, der bündig definiert werden kann, sondern funktioniert gerade durch seinen reichhaltigen Assoziationshof im psychoanalytischen Diskurs, ja, er exemplifiziert den Charakter des Psychischen selbst als etwas wesentlich Metaphorisches, durch Übertragung Konstituiertes (vgl. Kap. 4).

Symptome und Techniken als Medien der Artikulation Laut Freud kann das Symptom als Kompromiß eines Triebes bzw. Wunsches und seiner Abwehr bzw. Verdrängung aufgefaßt werden. Ebenso wie das Symptom bildet die Technik den Kompromiß eines Wunsches, sich einerseits Natur anzueignen, um sie zu beherrschen, und sich andererseits zugleich von ihr zu befreien, sich ihrer zu entledigen, was jedoch letztlich daran scheitert, daß dafür gerade diese technisch geformte Natur selbst eingesetzt werden muß und so eine neue Abhängigkeit schafft, die zu überwinden man mit ihrer Hilfe doch angetreten war. Diese Verstrickung führt Freud im Zusammenhang mit der »Symptombildung« und den Reaktionen des Ichs vor: Einerseits ist es das Ich, welches durch Verdrängung Symptome provoziert, andererseits bleibt dem Ich nicht viel anderes übrig, als sich mit den einmal vorhandenen Symptomen zu identifizieren und sie in seine Ich-Organisation zu integrieren.157 Symptome können »sowohl der Sexualbefriedigung als auch ihrem Gegensatz dienen […]. Sie sind nämlich […] Kompromißergebnisse, aus der Interferenz zweier gegensätzlicher Strebungen hervorgegangen, und vertreten ebensowohl das Verdrängte wie das Verdrängende, das bei ihrer Entstehung mitgewirkt hat.«158 Neben ihrer Funktion als Schutz-Schirme sind Medien Identifizierungsbildner: Zum einen schützen sie durch elementare Symbolisierung vor der direkten Berührung mit dem Realen und bieten so eine symbolische Vermittlung, die jedoch

156. Kittler 1985 spricht sogar von der Technik als dem Unbewußten der Psychoanalyse. 157. Vgl. Freud 1926b. 158. Freud 1916-17, 298. 487

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gerade nicht das Reale assimiliert oder absorbiert, sondern vielmehr eine Schicht des Dazwischen bildet. Zum anderen produzieren Medien Identifikationsangebote, über deren Beziehung das Subjekt etwas (als Betrachter zu sehen, als Hörer zu vernehmen) bekommt, wodurch und zu dem es sich im Unterschied (zu allem anderen) bestimmt und zugleich ein Gegenüber konstituiert, indem es dieses von sich abhebt. Eine Psychoanalyse der Medien – gerade wenn man die Anregungen aufnimmt, die vom Werk Jacques Lacans ausgehen – hätte auf diesen unauflösbaren Charakter, den Kern eines Symptoms, Bezug zu nehmen. Medien können nämlich eine vornehmlich neurotische oder perverse Rolle annehmen: Sie bilden sowohl eine Verbindung von Imaginärem und Realem (Perversion) wie auch von Symbolischem und Realem (Neurose). Medien fungieren also immer auch als Fetische und als (neurotische) Symptome. Aber als Symptome haben sie wiederum die Funktion, Reales, Symbolisches und Imaginäres überhaupt und auf spezifische Weise miteinander zu verbinden. D.h. Symptome konstituieren Wirklichkeit, wodurch umgekehrt der Wirklichkeits-Begriff unabstreifbar einen symptomatischen Charakter annimmt. Wenn es zunächst scheinen möchte, als ob Symptom und Technik sich wechselseitig ausschließen – Technik hat etwas mit (sich und anderes) Beherrschen, mit Mitteln und Methoden zu tun, über die verfügt werden kann und die eingesetzt werden, um einem bestimmten Zweck, einer Absicht zu dienen; das Symptom hingegen wäre dasjenige, was die Selbstbestimmung untergräbt, dysfunktional ist und in diesem Sinne sich gerade als das Unbeherrschbare des Subjekts darstellt –, so zeigen sich bei genauerer Betrachtung doch starke Ähnlichkeiten. Die Kompromißbildungen, wie Freud solche psychischen Phänomene (aber auch den Traum, die Fehlleistungen etc.) nennt, erscheinen so in einem anderen Licht: Sie sind nicht einfach pathologisch, sondern stellen selbst eine Möglichkeit des Seins der Subjekte dar. Ausgehend von der Existenz der Symptome kann man sie daraufhin befragen, in welcher Weise sie Medien des Lebens, zum Leben da sind: »Die Symptome und Phantasmen erweisen sich in der Erfahrung des Sprechens als Begrenzungen der psychischen Struktur, die ein Stück fragile Sicherheit vermitteln, sich deshalb der Auflösung widersetzen.«159 Sowenig die Symptombildung ausschließlich der Seite der Erkrankung zugewiesen werden kann, sowenig ist es richtig, den Menschen im strikten Gegensatz zur Technik zu definieren, denn Technik stellt eine Artikulationsweise der Existenzmöglichkeiten von Menschen dar – auch wenn diese wiederum durch Bedingungen determiniert sind, die selbst technischer Art und ihrer Verfügung wesentlich entzogen sein können. Aus dieser strukturellen Fassung des Symptom-Begriffs ist ersichtlich, daß man sich von der Vorstellung resp. Erwartung lösen muß, ein Symptom erschöpfe sich darin, etwas Unbewußtes, ein traumatisches Erlebnis zu verdecken bzw. eine Kompromißbildung widerstrebender Tendenzen des Psychischen (Verdrängung und Verdrängtes) zu sein, wobei die Aufdeckung des unbewußten Ver-

159. Widmer 1990, 156. 488

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

drängten auch die Auflösung des Symptoms bedeute. Dies ist zwar richtig, jedoch eröffnet die Möglichkeit der fallweisen Beseitigung von Symptomen nicht die Perspektive einer Heilung160 im Sinne des vollständigen Verschwindens von Symptomatik. Mit Hinblick auf die These, daß Symptome ebenso wie Medien als existentielle Artikulationsmöglichkeiten von Subjektivität verstanden werden können (Freud), ergibt sich eine Konzeption des Symptom-Begriffs, dessen Hauptfunktion in der Verknüpfung von Symbolischem, Imaginärem und Realem besteht (Lacan), was sich zugleich als wesentliches Merkmal der Medien erweist, nämlich als Wirklichkeitskonstitution.161 Wenn in dieser Weise der Begriff des Symptoms aus seinem psychopathologischen Bann befreit ist (ohne daß die pathologische Dimension als existentielle Möglichkeit aufgehoben wäre), stellt sich dennoch die Frage, worauf Symptomatik im psychoanalytischen Sinne verweist. Was rechtfertigt die Redeweise vom Symptom, das ja zunächst in der antiken Medizin ein Krankheitszeichen162 war, im Kontext der Psychoanalyse? Was dessen Anwen-

160. Trotz etlicher durchaus positiver Verwendungen des Wortes stand Freud dem Konzept des Heilens sowohl in theoretischer als auch in therapeutischer Hinsicht durchaus skeptisch gegenüber, sofern es sich dabei um eine Idee der Ganzheit und Unversehrtheit handelt bzw. sich darin ein Wille, ein Begehren zu heilen zeigt, welches die Position des Psychoanalytikers gegenüber seinen Analysanten mit Interessen belegt, die nicht unbedingt die des zu analysierenden Subjekts sind. Um nicht wieder nur auf die berühmt-berüchtigte Formel: »Nur nicht heilen wollen, lernen und Geld erwerben! Das sind die brauchbarsten bewußten Zielvorstellungen.« (Freud/Jung 1974, Brief vom 25.1.1909, 224) zu verweisen, sei hier an eine Stelle aus der Korrespondenz mit Wilhelm Fließ erinnert: »Wenn man so sieht, daß das Unbewußte niemals den Widerstand des Bewußten überwindet, so sinkt auch die Erwartung, daß es in der Kur umgekehrt gehen müßte bis zur völligen Bändigung des Unbewußten durch das Bewußte« (Brief Nr. 69, 21.9.1897, Freud 1950, 186). 161. Hierzu sei nur angemerkt, daß diese Lacanschen Termini sich der Sache (oder auch dem Wort) nach sehr wohl schon bei Freud nachweisen lassen: Freud unterscheidet den Begriff der Wirklichkeit bzw. der Realität klar von dem des psychischen Realen, welches unerkennbar bleibe; er ist es, der auf der Zeichen- bzw. Sprachförmigkeit des Psychischen mit Nachdruck beharrt, und er hat auch die besondere Qualität der Visualität hervorgehoben, die eine zentrale Rolle für die Identifikation des Subjekts (als geschlechtliches Wesen) und die Identifizierung mit dem Bild des anderen (im Spiegel) spielt. 162. Symptom = gr. Zufall, vorübergehende Eigentümlichkeit; Anzeichen, Vorbote; Warnungszeichen; Kennzeichen, Merkmal; Krankheitszeichen, das charakteristisch für ein bestimmtes Krankheitsbild ist, aber keine selbständige Erkrankung darstellt, sondern ein Zeichen einer anderen Krankheit ist. Im psychoanalytischen Sinne wäre also das Symptom gerade doppeldeutig: Symptombildung ist sowohl normale Ausdrucksfähigkeit des Subjekts wie Zeichen seiner Krankheit. Letzteres ist das Symptom allerdings in der Weise, daß es nicht auf eine andere Krankheit hinweist, sondern daß es selbst konstitu489

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

dung auf Medialität? Es ist die existentielle Dimension einer nicht kompensierbaren, unaufhebbaren Spannung, die sich dem Subjekt als das Fehlen von etwas, als Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit zeigt – trotz aller Determinationen, denen es gleichermaßen unterliegt, sich verdankt und sich zu entziehen versucht. Die in diesem Zusammenhang deutlich werdende Dezentrierung – nicht: Auflösung – von Subjektivität weist also in zwei unterschiedliche Dimensionen: die einer unbeherrschbaren Bedingtheit des Subjekts und die einer unaufhebbaren Unvollständigkeit seiner Existenz. Was sich als existenzphilosophisches Thema der Endlichkeit des Daseins von Kierkegaard bis zu Heidegger zeigt, eröffnet den Horizont der Subjektivität hin auf irreduzible Freiheit und läuft zugleich auf die Frage nach dem Tod als der unausweichlichen Möglichkeit eines unübersteigbaren Unvermögens (Lévinas) hinaus.163

6.3 Tod und Gedächtnis Überlegungen zur Vergänglichkeit (1916) treten in dem Moment auf den Plan, als Freud sich mit den lebens- und kulturzerstörerischen Mächten des 1. Weltkriegs konfrontiert sieht, und lösen also Fragen nach der Positivität des Gedächtnisses genau dann ab, als die Tradierung der Kultur als ganze zur Debatte steht. Fragen des individuellen wie kollektiven Überlebens stellen sich als Fragen der kulturellen Transmission und des medialen Nachlebens dar. Wie lassen sich von den Einsichten der Psychoanalyse aus der Zivilisationsbruch (schon des 1. Weltkriegs) sowie die Unterbrechung und Auflösung der Tradition (nicht nur des Judentums) als drohender Verlust der Überlieferung begreifen, wenn (wie noch von Friedrich Schiller kompensatorisch gefordert) eine spekulative Ergänzung nicht mehr plausibel erscheint und stattdessen eine unerbittliche Verlustbilanz und Selbstwidersprüchlichkeit der Kultur als Menschheitsprojekt konstatiert werden muß? Die destruktiven Kräfte in der Kultur, ja die Destruktion der Kultur und – mehr noch – als Kultur (des Krieges) verweisen Freud auf die Annahme eines Todestriebs.164 Deshalb ist es das Gebot des Kulturmenschen schlechthin, der Frage nachzugehen, wie man angesichts von Barbarei und Katastrophe nicht vergißt, verdrängt,

tiven Anteil an der psychischen Erkrankung hat. Nur in Bezug auf das Unbewußte hat es Verweischarakter auf etwas, das sich im Symptom allein in der Kompromißbildung Geltung zu verschaffen vermochte. 163. Kierkegaard sprach von der »Krankheit zum Tode«, Heidegger, was das Dasein anbelangt, schlicht vom »Sein zum Tode«. Wenn Heidegger in Sein und Zeit (1927) das Vorlaufen zum Tode als Bedingung der Möglichkeit der Entdeckung und des Ergreifens der Freiheit des Daseins bezeichnet, so hat Lévinas eingewendet, daß der Tod alles andere als die letzthinnige Möglichkeit des sich zu sich Verhaltens darstellt, sondern vielmehr ein wesentliches Unvermögen markiert. 164. Klinisch geht Freud vom Wiederholungszwang aus, den er besonders bei den Kriegsneurotikern findet (vgl. Freud 1920). 490

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verleugnet, verwirft, was real ist: An die Stelle jeglicher Vorstellung von bildungsbürgerlicher Behaglichkeit wird später die Formulierung des Unbehagens in der Kultur treten. Unvergänglichkeit wird hingegen als heillose Wiederkehr (des Verdrängten, aber wie von außen), als Nicht-weichen-Wollen des Traumas und seiner Abkömmlinge konzipiert, derer man sich nicht anders zu erwehren weiß als durch Verdrängung. Im quälenden Nicht-vergessen-Können erwächst die Kontinuität gerade aus dem Schrecken, aus dem Trauma selbst, die es allerdings – im Sinne eines freien, selbstbestimmten Lebens – aufzubrechen gilt, um aus dem Bann des Unheils zu treten, ohne dem Phantasma des Heils und der totalen Heilung zu erliegen.

Vergänglichkeit und Kultur In seinem kleinen Text zur Vergänglichkeit nähert sich Freud – ausgehend von der existentiellen Beobachtung, »daß all diese Schönheit dem Vergehen geweiht war« – auf einem Spaziergang dem melancholischen Vanitas-Motiv der Vergeblichkeit, das einer seiner Begleiter, ein »junge[r], bereits rühmlich bekannte[r] Dichter« angesichts der »blühende[n] Sommerlandschaft« anspricht: »Alles, was er sonst geliebt und bewundert hätte, schien ihm entwertet durch das Schicksal der Vergänglichkeit, zu dem es bestimmt war.«165 Der Gedanke der »Hinfälligkeit alles Schönen und Vollkommenen«166 erregt jedoch sogleich den Widerwillen des Subjekts: Es will sich nicht mit seiner Endlichkeit und Vergänglichkeit abfinden, will sich auflehnen gegen sein Schicksal, zeigt sich vielleicht ungläubig, zumindest nicht überzeugt davon, daß alles ein Ende für es haben wird; oder aber es wird melancholisch, verdrossen, vom existentiellen Ekel ergriffen: »Schmerzlicher Weltüberdruß« oder »Auflehnung gegen die behauptete Tatsächlichkeit«.167 Hat man einmal die Tatsache eigener Vergänglichkeit anerkannt, bleibt einzig der Ausweg eines Fortbestands für andere: »Nein, es ist unmöglich, daß all diese Herrlichkeiten der Natur und der Kunst, unserer Empfindungswelt und der Welt

165. Freud 1916, 225. 166. Ebd. Dementgegen kann gefragt werden, wie es denn um die Vollkommenheit bestellt ist, wenn sie doch hinfällig ist. Es drängt sich der Schluß auf, daß Hinfälliges nicht vollkommen sein könne. Ist es nicht eines der Hauptkriterien des Vollkommenen, daß es ewig, unvergänglich sei (vgl. Arendt 1958, 23ff.: »Unsterblichkeit vs. Ewigkeit«)? Umgekehrt: Müßte das Ewige etwa vollkommen sein? Könnte nicht gerade die imperfectibilité jener Zustand des Seins als solcher sein? Wäre seiend bzw. zu sein nicht eben ein anderer Ausdruck dafür, unvollkommen zu sein? Ist nicht das Nichtsein allein ohne Fehl und Tadel: Hat es doch keine weiteren Gründe für sich nötig – es ist einfach nicht –, während das, was ist, eines Grundes, einer Erklärung bedarf – und keines/r besseren fähig zu sein scheint als Gott (genannt zu bekommen)? 167. Freud 1916, 225. 491

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draußen, wirklich in Nichts zergehen sollten. [...] Sie müssen in irgendeiner Weise fortbestehen können, allen zerstörenden Einflüssen entrückt.«168 Es gibt also ein mächtiges Bedürfnis nach Dauer – in aller Maßlosigkeit: nach Unvergänglichkeit, kurz: nach Ewigkeit. Ist dies alles in der Realität nicht zu haben, so wenigstens virtuell und im Nachleben: im Gedächtnis. Etwas soll bleiben, wenn schon nicht die Sache selbst, so doch eine Erinnerung, ein Bild, ein Zeichen. Oder es wird eine Fortsetzung – durch andere, im anderen – angestrebt, so daß sich etwas fortschreibt im wirklichen Leben: Fortpflanzung, mit der ein Individuum imaginieren kann, daß etwas von ihm fortlebt, ›sein‹ Leben sich über seine Existenz hinaus fortsetzt und etwas von ihm sich erhält und daß, anders herum, von ihm etwas Leben erhält, selbst zu leben beginnt, es diesem Etwas Ursprung und Anstoß gewesen ist, es sich an seinen Ursprung gesetzt und bei ihm eingeschrieben habe – wenigstens etwas eingeschrieben habe, daß es nicht mehr selbst sein wird. Neben der Fortpflanzung eröffnet sich als eine die individuelle Existenz überschreitende Möglichkeit also die Traditionsstiftung – allerdings als eine Perspektive, an der das Subjekt letztlich selbst nicht teilnehmen kann: Transzendenz des Zurückbleibenden, die ihm selbst unerreichbar bleibt. Freud hat immer wieder den nahezu unvermeidlich illusionären bzw. illusionsbildenden Charakter der menschlichen, allzumenschlichen Wünsche betont. Ewigkeit bleibt in psychoanalytischer Perspektive ein Postulat, eine bloße Extrapolation, die außerhalb der Möglichkeiten des wünschenden Subjekts liegt: »Allein diese Ewigkeitsforderung ist zu deutlich ein Erfolg unseres Wunschlebens« und ohne »Realitätswert«. Lapidar resümiert Freud: »Auch das Schmerzliche kann wahr sein.«169 Andererseits vergißt Freud die andere Seite der Medaille nicht: Schon die bloße Möglichkeit der Vergänglichkeit kann dem, was ist, einen Wert geben. Die Unerbittlichkeit des Vergehens macht es so kostbar: »Der Vergänglichkeitswert ist ein Seltenheitswert in der Zeit. Die Beschränkung in der Möglichkeit des Genusses erhöht dessen Kostbarkeit.«170 Ganz entropisch gedacht, verfällt alles, was überhaupt ist, der Vergänglichkeit. Es kann nur unterschiedliche Grade, d.h. Geschwindigkeiten des Vergehens geben, also relative Unvergänglichkeit. Unter diesem Vorbehalt bildet die sich stetig erneuernde Natur den Gegenpol – allein vom Standpunkt der endlichen Existenz aus betrachtet erscheint sie ewig. Die zyklische Natur, das Entstehen und Vergehen in Flora und Fauna, ist einerseits ein objektives Geschehen, andererseits verweist deren Schönheit auf das Subjekt, welches sich zur natürlichen Welt in Beziehung setzt, und relativiert ihren ästhetischen Wert: »[D]iese Wiederkehr darf im Verhältnis zu unserer Lebensdauer als ein Ewiges bezeichnet werden.«171 Nicht von ungefähr findet sich hier die Wen-

168. 169. 170. 171.

Ebd. Ebd. Ebd. Freud 1916, 226. 492

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dung von der »Wiederkehr«, ein durch Nietzsche um die Jahrhundertwende prominent gewordener philosophischer Ausdruck, der auf den Zusammenhang zwischen der Ewigkeit des Wandels und der Rückkehr, ja Wiederholung des »Gleichen« abzielt. Freud verbleibt mit seinen Überlegungen jedoch ganz in der Perspektive des Subjekts und verzichtet an dieser Stelle auf ontologische Spekulationen. Das für Freud Entscheidende liegt in der Anerkenntnis der existentiellen Vergänglichkeit. Die Unerbittlichkeit der Zeit begrenzt nicht nur die individuelle Existenz, sondern entrückt dem Subjekt von Moment zu Moment alles, was ihm eben jene Zeit gerade an Erfahrung gebracht hat. Das Vergehen besiegelt seine Endgültigkeit in der Unwiederbringlichkeit des Vergangenseins, welche sich unabschüttelbar in die leibliche Existenz einschreibt: »Die Schönheit des menschlichen Körpers und Angesichts sehen wir innerhalb unseres eigenen Lebens für immer dahinschwinden.«172 Das Altern ist somit jene unaufhaltbar stetige Verlusterfahrung, die sich einzig in der Erinnerung für ein Bewußtsein akkumuliert. Freud nimmt eine radikale Subjektivierung der Wertigkeit von ästhetisch oder ethisch-moralisch geschätzten Objekten, Handlungen, Personen vor: »[D]er Wert all dieses Schönen und Vollkommenen wird nur durch seine Bedeutung für unser Empfindungsleben bestimmt, braucht dieses selbst nicht zu überdauern und ist darum von der absoluten Zeitdauer unabhängig.«173 Aber was ginge endliche Subjekte die absolute Vergänglichkeit überhaupt an? Sie mag den menschlichen Individuen nur dann mehr am Herzen liegen, als es der Spanne der »Lebensdauer« angemessen sein sollte, wenn noch nicht begriffen worden ist, daß allein die eigene begrenzte Existenz all den geliebten und verehrten Dingen und Personen den Wert verleiht, den jene für diese haben. Die Individuen selbst sind es, die wertstiftend sind, nicht die Dinge oder Ereignisse aus sich heraus. Ohne diese strikte Referenz auf einen Organismus, ein Subjekt, ein System, aus dessen Perspektive etwas Wert hat, ist es so, als verwechselte sich ein endliches Bewußtsein mit dem ›Weltgeist‹ oder sonstigen göttlichen Wesenheiten – welche in der Tat in einer unermeßlichen Trauer versinken könnten, da ihre Existenz ewig währte, nicht jedoch das Sein alles anderen in der Zeit, das sie geschaffen hätten. Die Größenphantasie, historische, d.h. vergängliche Existenzen seien potentiell vom Vergehen einer Kultur in tausend Jahren betroffen oder hätten das Leiden zu fürchten, das über sie käme, wenn die geliebte Person lange nach ihnen stirbt, scheint von einer virtuellen Unsterblichkeit des Ich beseelt.174 Ansonsten bleibt

172. Ebd. 173. Ebd. 174. Vgl. Schopenhauers (1818) Mitleiden mit der Kreatur (einerseits ein Grundmotiv aller Ethik, andererseits unermeßlicher Quell des Leidens an der Existenz) und das Verschmelzen, das sich Identifizieren mit dem Anderen; Nietzsches Kritik am Mitleiden und seine Umwertung des Willenspessimismus; man könnte von zeitlicher Tiefe wie von räumlich-gegenwärtiger Breite der Identifikation mit dem Dasein sprechen. 493

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

nur die fruchtlose Antizipation einer angstbereitenden Zukunft, von der man eben nicht mehr wissen kann, als dem bekannten Syllogismus entspricht, daß es einmal so kommen muß, da alle Menschen sterblich sind. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Es sind die Dinge selbst, schon die einfachen des täglichen Umgangs, die sich mit jenem Wert aufladen, den Subjekte in sie hineinlegen und der zu ihrer Funktion für die Kulturdynamik beiträgt.175 Untrennbar erscheinen dem Liebhaber die Dinge von ihrem ›Wert‹, so daß davon gesprochen werden kann, daß sich in den Dingen etwas von den Wünschen, Träumen, Gefühlen und Leidenschaften materialisiert, die das Subjekt umtreiben. Die Dinge werden so zu einem nicht nur subjektiven Teil der Existenz, wie es besonders deutlich am Sammler hervortritt.176 So kann Freud angesichts der »beiden Empfindsamen«, wie er seine Spaziergangbegleiter nennt, »die Einmengung eines starken affektiven Moments, welches ihr Urteil trübte«177, feststellen, das auch ihm selbst als Sammler von Antiken nicht unbekannt gewesen sein kann. Tatsächlich postuliert Freud für den psychischen Apparat: »Wir stellen uns vor, daß wir ein gewisses Maß von Liebesfähigkeit, genannt Libido, besitzen, welches sich in den Anfängen der Entwicklung dem eigenen Ich zugewendet hatte. Später, aber eigentlich von sehr frühe an, wendet es sich vom Ich ab und den Objekten zu, die wir solcherart gewissermaßen in unser Ich hineinnehmen.«178 Das antizipative Transzendenzbewußtsein vergegenwärtigt sich die zukünftigen Geschehnisse als mögliche Gegenwart, an der es selbst virtuell teilhat. So kann die Trauer des Zurückbleibens sich ebensogut auf vergangene wie zukünftige Situationen beziehen und somit schon das gegenwärtige Erleben melancholisch grundieren: »Es muß die seelische Auflehnung gegen die Trauer gewesen sein, welche ihnen den Genuß des Schönen entwertete.«179 Freud spricht vom »Vorgeschmack der Trauer«,180 später wird er die Melancholie in einen systema-

175. In diesem Sinne formuliert Kittler pointiert: »Allen Psychoanalysen und Soziologien zum Trotz lassen sich die Beziehungen zwischen Menschen und Menschen von den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen offenbar nicht leichtfertig trennen. Die kommunikative und die instrumentelle Vernunft, wie beispielsweise Jürgen Habermas sie diametral entgegengesetzt hat, scheinen verschwisterter, als es Moralaposteln lieb ist. Freud, im Unterschied zu Habermas, wäre nicht Freud, hätte er nicht auch eine Theorie von Waffen, Werkzeugen, Medien usw. Das Erbe der Helmholtzschule wäre wahrhaft verraten worden, wenn Freud nur unbewußte Intersubjektivitäten, also Mordwünsche zwischen Söhnen und Vätern, Töchtern und Müttern nachgewiesen hätte.« (Kittler 2000, 203) 176. Vgl. hierzu Porath 2001 und Porath 2002. 177. Freud 1916, 226. 178. Ebd. 179. Ebd. 180. Ebd. 494

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

tischen Gegensatz zur Trauer bringen, denn wer trauert, braucht nicht in Melancholie zu versinken.181 Wenn jedoch die Psychopathologie der Melancholie182 durch das Festhalten am verlorenen Objekt gekennzeichnet ist, dann könnte sich das Im-GedächtnisBehalten als vorbeugende Maßnahme gegen jederzeit möglichen Verlust erweisen. »Trauer über den Verlust« ist, so Freud, dem Laien etwas Natürliches, dem Psychologen aber ein »großes Rätsel, eines jener Phänomene, die man selbst nicht klärt, auf die man aber anderes Dunkle zurückführt.«183 Damit hat Freud das Problem markiert. Wenn nun die drei Voraussetzungen zur Ausbildung einer Melancholie mit psychopathologischen Zügen, nämlich »Verlust des Objekts, Ambivalenz und Regression der Libido ins Ich«184 erfüllt sind, dann zeichnet sich die Trauer durch eine Auflösung der das Ich lähmenden Fixierung seiner libidinösen Bindung ans Objekt aus, neben der an der Erinnerung an das geliebte Objekt festgehalten werden kann, ohne dadurch gehemmt zu sein. Wenn jedoch die Lösung vom geliebten Objekt auch Freisein bedeutet, warum verbucht das melancholische Subjekt das dann nur als Verlust und empfindet Schmerz?185 Freud hält an der Beobachtung fest, die das Bild des Trauernden abgibt, ohne einen psychologischen Grund zu nennen: »Das also ist die Trauer […], daß sich die Libido an ihre Objekte klammert und die verlorenen auch dann nicht aufgeben will, wenn der Ersatz bereitliegt.«186 Diese soweit geführten Überlegungen terminiert Freud vor der bedeutsamen Zäsur des Ersten Weltkriegs, dann aber bricht der Krieg als reale Ursache für den Verlust der Schönheiten der Welt mit aller Macht und Deutlichkeit ein: »er brach auch unseren Stolz auf die Errungenschaften unserer Kultur, unseren Respekt vor so vielen Denkern und Künstlern, unsere Hoffnungen auf eine endliche Überwindung der Verschiedenheiten unter Völkern und Rassen. Er beschmutzte die erhabene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte unser Triebleben in seiner Nacktheit bloß, entfesselte die bösen Geister in uns, die wir durch die Jahrhunderte währende Erziehung von seiten unserer Edelsten dauernd gebändigt glaubten. Er machte unser Vaterland wieder

181. Freud 1917. 182. Diese ist selbstverständlich nicht mit der reichhaltigen Phänomenologie der Melancholie und den verschiedenen Rollen, die sie in der Geschichte bekleidet hat, gleichzusetzen (vgl. etwa Völker 1983, Heidbrink 1994, Goebel 2003). 183. Freud 1916, 226. 184. Freud 1917, 211. 185. »Werden die Objekte zerstört oder gehen sie uns verloren, so wird unsere Liebesfähigkeit (Libido) wieder frei. Sie kann sich andere Objekte zum Ersatz nehmen oder zeitweise zum Ich zurückkehren. Warum aber diese Ablösung der Libido von ihren Objekten ein so schmerzhafter Vorgang sein sollte, das verstehen wir nicht« (Freud 1916, 226f.). 186. Freud 1916, 227. 495

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

klein und die andere Erde wieder fern und weit. Er raubte uns so vieles, was wir geliebt hatten, und zeigte uns die Hinfälligkeit von manchem, was wir für beständig gehalten hatten.«187 Freud legt die Betonung auf das Selbstgemachte und Selbstverschuldete, auf das eigene Wirken und Werk: unsere Kultur, unsere Wissenschaft, unser Vaterland, die alles das, worauf wir uns etwas einbilden, unseren Stolz, unseren Respekt, unseren Sinn für Schönheit, nicht zu schützen vermochten, ja möglicherweise sogar ihren Anteil daran hatten, daß dies alles durch Krieg zerstört wurde. Die Subjekte haben also letztlich sich selbst ›getroffen‹: Sie haben sich Schaden zugefügt, aber sich auch von einer neuen Seite kennengelernt. Und dennoch: Freud weist auf die Folgen dieser Anfechtungen und Bedrängnisse hin: »Es ist nicht zu verwundern, daß unsere an Objekten so verarmte Libido mit um so größerer Intensität besetzt hat, was uns geblieben ist, daß die Liebe zum Vaterland, die Zärtlichkeit für unsere Nächsten und der Stolz auf unsere Gemeinsamkeiten jäh verstärkt worden sind.«188 Freud rechnet nicht damit, daß sich grundlegend etwas ändert. Illusionslos registriert er eine Rückkehr zu den alten Werten, obwohl viele Objekte der Wertschätzung verloren sind, ja selbst wenn theoretisch der Zusammenhang eingesehen würde, daß es eben jene Werte waren, die paradoxerweise den Verlust der ihnen zugeordneten Objekte verursacht haben mögen: »Aber jene anderen, jetzt verlorenen Güter, sind sie uns wirklich entwertet worden, weil sie sich als Hinfällig und widerstandsunfähig erwiesen haben?«189 Die Tragfähigkeit der Kultur mag sich temporär als unzureichend erwiesen haben, nichts rechtfertigt deswegen zum Aufgeben der Ideale, das ein Zeichen der Schwäche, der vorschnellen Verzweiflung wäre, die psychopathologisch zu betrachten ist: »Ich glaube, die so denken und zu einem dauernden Verzicht bereit scheinen, weil das Kostbare sich nicht als haltbar bewährt hat, befinden sich nur in der Trauer über den Verlust.«190 Freud suspendiert hier den grundsätzlichen Zweifel an der Kultur, weil er der Überzeugung ist, daß den endlichen, menschlichen Subjekten nichts anderes zur Verfügung und zu Gebote steht, als an sich selbst zu appellieren, die Arbeit wieder aufzunehmen und mit dem Gleichmut des Sisyphos sich dem Unvermeidlichen zu stellen – und vor allem: niemand anderen für die Fehler oder Untaten verantwortlich zu machen, die sie allein sich selbst zuschreiben müssen. Deshalb dürfe man sich auch der Trauer nicht ergeben, selbst wenn man sie als ein notwendiges Stadium unseres psychischen Erlebens begreift: »Wenn sie [die Trauer] auf alles Verlorene verzichtet hat, hat sie sich auch selbst aufgezehrt«.191 In dieser Weise frei geworden, kann ein Neuanfang stattfinden. Nur das übermäßige Fest-

187. 188. 189. 190. 191.

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 496

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halten am Verlorenen erweist sich als pathologischer Zustand, den Freud mit dem alten Namen der Melancholie belegt, als das Nicht-Loslassen-Können.192 Erstaunlich optimistisch beendet Freud seinen kleinen Essay: »Wenn erst die Trauer überwunden ist, wird es sich zeigen, daß unsere Hochschätzung der Kulturgüter unter der Erfahrung von ihrer Gebrechlichkeit nicht gelitten hat. Wir werden alles wieder aufbauen, was der Krieg zerstört hat, vielleicht auf festerem Grund und dauerhafter als vorher.«193 Aber dieses hoffnungsvolle Bild des Wiederaufbaus bedürfte jedenfalls einer Erinnerung, die unbeschadet die Katastrophe überdauert hätte. Schon ein traumatisch bedingter Einschluß des Vergangenen würde es dem Subjekt verunmöglichen, ans Verlorene und Zerstörte anzuknüpfen. Insofern muß man diese Überlegungen Freuds immer vor dem Hintergrund seiner langjährigen psychoanalytischen Erfahrung in der Arbeit mit Analysanten einschätzen, die ihn darüber belehrt hat, wie fragil, unverfügbar und beschränkt die Möglichkeiten der Erinnerung für das Subjekt sind. Hier ist zudem daran zu erinnern, daß Freud drei Jahre zuvor, vor Kriegsbeginn, die Unerbittlichkeit des Todes schon in Das Motiv der Kästchenwahl behandelt hatte, wo die Interpretation des antiken griechischen Mythos von den drei Moiren darauf hinausläuft, das Schicksal der individuellen Existenz unlösbar mit dem Tod zu verbinden.194

192. Es bleibt ambivalent, daß Freud nicht den moderneren Terminus Depression wählt, der eindeutig der klinischen Erfahrung entstammt, und stattdessen auf den älteren, vieldeutigen und traditionsreichen Begriff der Melancholie zurückkommt. Denn einerseits wahrt er so den Zusammenhang von Klinik und kulturgeschichtlicher Erfahrung, andererseits droht der Begriff auf ein psychopathologisches Phänomen verkürzt zu werden. 193. Freud 1916, 227. 194. Die dritte der Schwestern, die »Atropos heißt: die Unerbittliche« (Freud 1913b, 188), schneidet den Lebensfaden ab, den die erste spinnt und die zweite zuteilt. Aus der Perspektive Freuds erlangt der Mann immer nur die Dritte der Schwestern, denn die Mutter – die Spinnerin Klotho in der »Bedeutung der verhängnisvollen, mitgebrachten Anlage« – ist durch das Inzestverbot untersagt; der Geliebten bzw. Gefährtin – Lachesis als Zuteilerin des Schicksals »scheint das ›innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Schicksals Zufällige‹ zu bezeichnen« (Freud 1913b, 190) – kann man sich nicht versichern; während allein Atropos »das Unabwendbare« des Schicksals, den Tod, repräsentiert, dem niemand entgeht: »Man könnte sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Lauf des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt. Der alte Mann aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er sie zuerst von der Mutter empfangen; nur 497

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Revenants Die Vergänglichkeit, der alle Menschen unterliegen, empfinden sie umso mehr den Geliebten gegenüber. Ausgehend von der Beobachtung, daß im Traum auftauchende Personen durch den puren Wunsch, sie mögen verschwinden, liquidiert werden können, kommt Freud auf das Erscheinen der Personen selbst zu sprechen, die ohne Ansehen ihrer gegenwärtigen Existenz als Lebende dargestellt werden und gegen die selbst der im Traum geäußerte Einwand, »daß P. (ja gar nichts wissen kann, weil er) gar nicht am Leben ist«, nichts verschlägt. Erst ein von einem Zauberspruch begleiteter magischer Blick erlöst den Träumer Freud von der unliebsamen Anwesenheit dieses Untoten: »Ich sage aber, den Irrtum selbst bemerkend: Non vixit. Ich sehe dann P. durchdringend an, unter meinem Blicke wird er bleich, verschwommen, seine Augen werden krankhaft blau – und endlich löst er sich auf.«195 Es hatte sich also um »nur eine Erscheinung« gehandelt, und erleichtert schließt Freud, daß P. »ein Revenant war, und ich finde es ganz wohl möglich, daß eine solche Person nur solange besteht, als man es mag, und daß sie durch den Wunsch des anderen beseitigt werden kann.«196 Dieser »andere« vermag, laut Prämisse der Traumdeutung, als Träumer – der in diesem Falle Freud selbst ist – nicht nur verschwinden zu machen, vielmehr ist dessen Wunsch der Grund der Traumerscheinungen. Insofern zehrt der Wunsch vom Gedächtnis, da sich die Erscheinungen als Wiedergänger entpuppen. Der Wunsch verfügt über die Toten wie die Lebenden, indem er sie als Erinnerung in den Traum hineinholt.197 Zugleich erweist sich der Traum als Schauplatz von Ersetzungen und Verschiebungen: »Es geschieht dir ganz recht, daß du mir den Platz hast räumen müssen;

die dritte der Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgöttin, wird ihn in die Arme nehmen.« (Freud 1913b, 193) 195. Freud nennt es »meinen Irrtum, Non vixit zu sagen statt Non vivit [das bedeutet, ›er hat nicht gelebt‹ statt ›er ist nicht am Leben‹]«, weil es ihm um »den unbefangenen Verkehr mit Verstorbenen« geht, »die der Traum selbst für verstorben erklärt« (Freud 1900, 409). 196. Freud 1900, 409. 197. »Die Häufigkeit, mit welcher im Traume tote Personen wie lebend auftreten, handeln und mit uns verkehren, hat eine ungebührliche Verwunderung hervorgerufen und sonderbare Erklärungen erzeugt, aus denen unser Unverständnis für den Traum sehr auffällig erhellt. […] Wie oft kommen wir in die Lage, uns zu denken: Wenn der Vater noch leben würde, was würde er dazu sagen? Dieses Wenn kann der Traum nicht anders darstellen als durch die Gegenwart in einer bestimmten Situation.« (Freud 1900, 416) Der Wunsch nach der Anwesenheit wichtiger geliebter oder gefürchteter Personen drückt alle Ambivalenz aus, die im Verhältnis zu den Abwesenden enthalten ist: »Was wir für Auflehnung gegen den Traum halten, der Einspruch aus unserem besseren Wissen, daß der Mann doch schon gestorben sei, ist in Wirklichkeit der Trostgedanke, daß der Verstorbene das nicht zu erleben brauchte, oder die Befriedigung darüber, daß er nichts mehr dreinzureden hat.« (Ebd.) 498

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

warum hast du mich vom Platze verdrängen wollen? Ich brauche dich nicht, ich werde mir schon einen anderen verschaffen, mit dem ich spiele usw.«198 Das Moment der Rechtfertigung des eigenen Begehrens, über den anderen zu verfügen, ihn gar nach Belieben zu beseitigen, geht einher mit einer projektiven Entlastung, der andere hätte eigentlich den bösen Gedanken: »Aber der Traum straft, wie begreiflich, diesen rücksichtslosen Wunsch nicht an mir, sondern an ihm. ›Weil er herrschsüchtig war, darum erschlug ich ihn.‹ Weil er nicht erwarten konnte, daß ihm der andere den Platz räume, darum ist er selbst hinweggeräumt worden.«199 Jedes Wegräumen eröffnet die Möglichkeit, etwas anderes bzw. jemand anderen an die Stelle zu setzen: »Es ist wirklich niemand unersetzlich; wie viele habe ich schon zum Grabe geleitet; ich aber lebe noch, ich habe sie alle überlebt, ich behaupte den Platz.«200 Scham darüber, daß der andere sterben mußte und nicht ich, und Freude darüber, »wieder jemanden zu überleben« bzw. »daß nicht ich gestorben bin sondern er, daß ich den Platz behaupte«, können sich gleichermaßen mit dieser Einsicht verbinden. Liebe und Haß, die sich aus infantilen Erlebnissen speisen, mischen sich besonders in jene Träume, in denen Tote und Lebende, Anwesende und Abwesende miteinander vertauscht werden. Tröstlich und trotzig spricht Freud den Gedanken aus: »Ich habe so viele teure Freunde verloren, die einen durch Tod, die anderen durch Auflösung der Freundschaft; es ist doch schön, daß sie sich mir ersetzt haben, daß ich den einen gewonnen habe, der mir mehr bedeutet, als die anderen konnten, und den ich jetzt in dem Alter, wo man nicht mehr leicht Freundschaften schließt, für immer festhalten werde.«201 Dieser gute Vorsatz kontrastiert jedoch in merkwürdiger Anhänglichkeit mit dem anderen, schon erwähnten Grundsatz über das Auftauchen von Personen im Traum: »Es ist niemand unersetzlich. Sieh’, nur Revenants; alles was man verloren hat, kommt wieder.«202 Der Zugang zu einer Art Unsterblichkeit ist der Traum, den die Überlebenden träumen: Allein im psychischen Nachleben der anderen, in Traum und Erinnerung, erlangt das Subjekt eine Transzendenz über das eigene Existieren hinaus. Aber dieser Unsterblichkeit im anderen ist zugleich eine Wiederkehr des Verlorenen. Denn die Kinder werden durch Namengebung als Revenants der geliebten Personen eingesetzt, die man verloren hat: »Ihre Namen machen die Kinder zu ›Revenants‹. Und schließlich, ist Kinder haben nicht für uns alle der einzige Zugang zur Unsterblichkeit?«203 Wenn in der Namengebung der eigenen Kinder sich also der Wunsch ausdrückt, es mögen die unvergeßlichen Personen wiederkehren, so ist ein zweites, gegenläufi-

198. Freud 1900, 466. 199. Freud 1900, 467. Das Zitat, so der Hinweis der Hg. der Studienausgabe, spricht Brutus in Shakespeares Julius Cäsar, III. Akt, 2. Szene. 200. Freud 1900, 467. 201. Freud 1900, 468. 202. Ebd. 203. Freud 1900, 469. 499

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ges Moment assoziiert, das jenes entlastende Vergessen bringt, welchem das Gedächtnis bisher so hartnäckig zu widerstehen vermochte: »Im Traume ist aber außerdem ein deutlicher Hinweis auf einen anderen Gedankengang enthalten, der in Befriedigung auslaufen darf. Mein Freund [Fließ] hat kurz vorher nach langem Warten ein Töchterchen bekommen. Ich weiß, wie sehr er seine früh verlorene Schwester betrauert hat, und schreibe ihm, auf dieses Kind würde er die Liebe übertragen, die er zur Schwester empfunden; dieses kleine Mädchen würde ihn den unersetzlichen Verlust endlich vergessen machen.«204 Wenn Lieben heißt, die geliebte Person möge nie sterben (Gabriel Marcel), dann könnte dies zunächst wie ein vollkommener Altruismus erscheinen. In Verbindung allerdings mit dem notwendigerweise korrespondierenden Liebesbegehren des Liebenden verschafft sich der Wunsch Geltung, an dieser dem anderen gewünschten Unsterblichkeit teilzuhaben. Es ist dieses Geflecht aus durchaus gegenläufigen Tendenzen, das die Spannung ausmacht, die sich im Traum zur Darstellung bringt. Mit Freuds Worten: »Und nun werden die assoziativen Bande zwischen den widerspruchsvollen Bestandteilen der Traumgedanken enger angezogen«.205 Freud betont in diesem Zusammenhang die »Befriedigung«, die mit dem Hören von Eigennamen verbunden sein kann. Diese Befriedigung scheint an die Wiederkehr gebunden zu sein und verwirklicht also auch den eigenen Wunsch nach Unsterblichkeit um den Preis eines endgültigen Vergessens – nicht des anderen, aber doch der Liebe zum anderen. Oder genauer: Nicht um das vollständige Vergessen geht es, sondern um die Lösung vom Liebesobjekt und um die Transformation bzw. die Übertragung der Liebe auf andere. Damit würde sich die Trauer über den Verlust erst im Sich-lösen-Können vollenden, d.h. aufheben. Es ist nicht das vollständige Vergessen desjenigen, den man geliebt hat, aber die Freisetzung vom Zwang, ständig an jene/n denken zu müssen. Zugleich erhält man dessen Namen, den man an seiner statt weitergibt, in gewisser Weise verewigt, indem man ihn einem neuen anderen gibt. Es geht um das Loskommenund Loslassen-Können, damit Leben wieder möglich wird. In diesem Sinne handelt es sich also um die ›kleine Unsterblichkeit‹, nämlich um das Hier-und-jetztweiterleben-Können. Es ist die Aufgabe des Liebesobjekts – und die Ersetzung durch ein anderes.206 Auch die Liebe ist nicht im strikten Sinne vergessen, son-

204. Freud 1900, 468. 205. Ebd. 206. »Man kann sich’s nicht verbergen, daß schwere Selbstüberwindung dazugehört, seine Träume zu deuten und mitzuteilen. Man muß sich als den einzigen Bösewicht enthüllen unter all den Edlen, mit denen man das Leben teilt. Ich finde es also ganz begreiflich, daß die Revenants nur so lange bestehen, als man sie mag, und daß sie durch den Wunsch beseitigt werden können. Das ist also das, wofür mein Freund Josef gestraft 500

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dern der unbedingte Anspruch, der sich im Liebesbegehren ausdrückt und den Liebenden ganz in seinen Bann schlägt, ist vergangen und hat seine Macht über die Gegenwart des Subjekts verloren. Der Liebende ist keiner mehr, seine Welt ist eine andere und der/die/das Geliebte gleichgültig geworden. Wenn umgekehrt die Fortpflanzung immer schon als Wiederkehr gedacht werden kann (und vielleicht: muß), dann fragt es sich, ob der Wunsch als eigensinniger sich darauf reduziert, das erfahrene Glück und die vergangene Freude wieder zu vergegenwärtigen? Da die (biologische) Reproduktion als Wiederkehr des Gleichen bzw. Ähnlichen, nicht jedoch des Selben, realisiert werden kann, d.h. immer auch als eine Wiederkehr des anderen aufgefaßt werden kann, würde es eine phantasmatische Einschließung jeglicher Nachkommenschaft bedeuten, an der ein Kind psychotisch werden müßte, wenn es ausschließlich zum Subjekt des anderen – des Wunsches der Eltern – erklärt würde. Es bliebe kein Raum für ein Kind, ein anderes Subjekt zu werden, wenn es, mit dem Namen der Vorfahren belegt, immer nur den anderen des anderen verkörpern soll, der es doch nicht ist.207 Das werdende Subjekt ist, auch als anderes des anderen, immer noch anders, irreduzibel. Da aber Subjekte nie monolithische Blöcke unilinearer Kräfte sind, sondern aufgrund der vielschichtigen Bezüglichkeiten, die ihre Konstitution und Genese überhaupt erst ermöglichen, immer schon interne Mannigfaltigkeit enthalten, und da die ineinandergreifenden Dimensionen von Sprache, Zeitlichkeit, Kommunikation, Sozialität und Bezügen zur Sphäre der natürlichen Umwelt sich nicht auf eine einzige Schiene reduzieren lassen, ist nicht damit zu rechnen, daß die nachfolgenden, heranwachsenden Subjekte dazu verdammt sein könnten, einer solchen Reduktion zu erliegen. Das Gedächtnis der Erwachsenen und die gemeinschaftlich kommunizierten Erinnerungen bilden ein Kräftepotential gegenüber den je aktuellen Ansprüchen raum-zeitlich-sozialer Notwendigkeiten, wie umgekehrt die Entwicklungsmöglichkeiten eigensinniger Subjektivität die äußeren Beharrungskräfte aufzubrechen und zu diversifizieren vermögen, so daß davon ausgegangen werden kann, daß Zukunft und Vergangenheit – nämlich als Antizipation und Erinnerung, als Wiederholung und Variation – im Subjekt in komplexer, nahezu paradoxer Weise aufeinander bezogen sind. Nimmt man das Gedächtnis als die mögliche und Erinnerung als die bewußte Aktualisierung des

worden ist. Die Revenants sind aber die aufeinanderfolgenden Inkarnationen meines Kinderfreundes; ich bin also auch befriedigt darüber, daß ich mir diese Person immer wieder ersetzt habe, und auch für den, den ich jetzt zu verlieren im Begriffe bin, wird sich Ersatz schon finden. Es ist niemand unersetzlich.« (Freud 1900, 467) 207. Dieser andere des anderen ist in diesem Falle ein und derselbe, nämlich die geliebte, verlorene Person eines Elternteils: »Alle meine Freunde sind in gewissem Sinne Inkarnationen dieser ersten Gestalt [«einem um ein Jahr älteren Neffen» Freuds], die ›früh sich einst dem trüben Blick gezeigt‹, Revenants.« (Freud 1900, 465; vgl. Goethe: Faust, Zueignung). 501

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

im Subjekt realisierbaren Bezugs auf Vergangenes, dann stellt sich in der Perspektive der Freudschen Traumdeutung die Frage nach der Rolle des Traums und des Träumens für die Erfahrung des Subjekts noch einmal in zeitlicher Hinsicht. Die Schlußpassagen der Traumdeutung werfen die Frage nach dem »Wert des Traums für die Kenntnis der Zukunft«208 auf. Freud weist diese Möglichkeit von sich und seiner Wissenschaft der Traumdeutung, so wie er es schon zu Beginn des Textes209 in der Auseinandersetzung mit älteren Theorien und Praktiken der Traumdeutung getan hat: »Daran ist natürlich nicht zu denken.«210 Stattdessen kehrt er die Blickrichtung in die Zeit um und erklärt den Traum und dessen Deutung zu einem wichtigen Auskunftsmittel »für die Kenntnis der Vergangenheit«.211 Aber gegen eine einseitige Sichtweise setzt Freud eine wechselseitige Bestimmung der Rolle des Traums durch Zukunft und Vergangenheit, die auf jene Zeitlosigkeit des Unbewußten zurückweist, aus der das Traumgeschehen sich speisen soll. Es sind die nahezu in dialektischer Weise aufeinander bezogenen Sätze dieses Schlußabsatzes, die das komplexe Beziehungsgefüge skizzieren, welches über die manifesten Behauptungen der einzelnen Sätze jeweils hinausführt und ihnen einen Gegenakzent verleiht. So scheint Freud nach der Abweisung der prognostischen Funktion also direkt zum Gegenteil überzugehen: »Denn aus der Vergangenheit stammt der Traum in jedem Sinne«, um jedoch umgehend im nächsten Satz die Relativierung mit Bezug auf jene zuerst abgewiesene These älterer Traumdeutung anzuführen: »Zwar entbehrt auch der alte Glaube, daß der Traum uns die Zukunft zeigt, nicht völlig des Gehalts an Wahrheit.«212 Wie so oft bei Freud verbirgt sich im scheinbar Überwundenen etwas, das seine Gültigkeit behauptet, wenn auch oft auf Umwegen und in entstellter Weise: Im ›alten Glauben‹ steckt ein gewisser ›Gehalt an Wahrheit‹. Und das dialektische Moment der Argumentation Freuds kulminiert in der Feststellung: »Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.«213 Man darf diese Passage getrost damit in Zusammenhang bringen, was Freud an anderen Stellen der Traumdeutung in mahnender Weise über die Deutung der Träume gesagt hat: Das Entscheidende für die psychoanalytische Arbeit bei der Deutung von Träumen sei nicht der latente, verborgene Sinn (Traumgedanke) hinter der zunächst vorgetragenen Erzählung des Geträumten (manifester Trauminhalt), sondern die Umsetzung des einen in das andere, also die Traumarbeit des psychischen Apparats. Deshalb würde man also an der Oberfläche hängen

208. 209. 210. 211. 212. 213.

Freud 1900, 588. Vgl. Freud 1900, 32 und Anm. Freud 1900, 588. Ebd. Ebd. Ebd. 502

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6. VERGÄNGLICHKEIT. PERSPEKTIVEN

bleiben, wenn man den Traum direkt als Darstellung erfüllter Zukunft nähme; aber ebensowenig handelt es sich bloß um ein Ebenbild der Vergangenheit. Aber worauf es Freud ankommt, das ist die Verknüpfung der ›vom Träumer für gegenwärtig genommenen Zukunft‹ mit dem ›Ebenbild jener Vergangenheit‹, die eben ›durch den unzerstörbaren Wunsch gestaltet‹ wird. Es wäre also weniger die Ebenbildlichkeit214 im Sinne der identischen Wiederholung des immer Gleichen, sondern die unbeendbare, jedenfalls für das lebendige Subjekt unbeendete Gestaltungsarbeit des Wunsches, die dem Traum zugrundeliegt. Während der Traum ein Produkt jener Arbeit ist, erschöpft sich die Arbeit nicht in ihrem Produkt. Der Wunsch arbeitet weiter und »führt […] uns allerdings in die Zukunft«, wenn auch nicht im Sinne einer Erfüllung, die sich selbst, d.h. dem Wunsch bzw. dem Subjekt des Wunsches, genügte. Nur für dieses Subjekt des Traums ist der Wunsch jenes Unzerstörbare. Ansonsten bleibt die »schweigsame Todesgöttin« – sie »wird ihn in die Arme nehmen.«215 Die Beredsamkeit der Träume, die seit Freuds Traumdeutung alle Bereiche der modernen Kultur, die alltägliche Lebenswelt wie die Wissenschaften, geprägt hat, bis hin zu ihrer Entkräftung und Wirkungslosigkeit durch Trivialisierung, bleibt bei Freud begrenzt durch die Unbeantwortbarkeit des Todes.

214. Auf die religiöse Konnotation dieses Begriffs geht Freud mit keinem Wort ein. Sie ließe sich jedoch leicht ins Spiel bringen, da sie ja gerade keine unmittelbare Gleichsetzung oder Identität von Mensch und Gott behauptet. 215. Freud 1913b, 193. 503

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) vakat 504.p 94863182830

7. LITERATURVERZEICHNIS

7. Literaturverzeichnis Zur Zitierweise: Im Text werden die Zitate unter Angabe des Autornamens und (soweit ermittelbar) der Jahreszahl der Originalpublikation des Textes sowie der Seitenzahl ausgewiesen. Der vollständige Titel erscheint im Literaturverzeichnis unter der Rubrik des Autornamens und dann in der chronologischen Reihenfolge der Veröffentlichung. Falls nicht nach der Originalpublikation zitiert wird, erscheint zusätzlich die Jahreszahl der benutzten Ausgabe. Sofern nicht anders markiert, werden alle Zitate unverändert wiedergegeben, insbesondere Kursivierungen erscheinen wie im Original. Alle Veränderungen oder Ergänzungen von Zitaten erfolgen innerhalb eckiger Klammern; Zitate innerhalb der zitierten Originaltexte sind durch einfache Anführungsstriche markiert.

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Foucault, Michel (1984a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1989.

Foucault, Michel (1984b): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989.

Frank, Manfred (1988): Subjekt, Person, Individuum, in: Ders./Raulet/van Reijen 1988, S. 7-28.

Frank, Manfred/Raulet, Gérard/van Reijen, Willem (Hg.) (1988): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt a.M.

Franz, Michael (1999): Unbegrenzte Semiose und literarische Selbstvergewisserung. Aspekte des semiotischen Zugangs zur Literatur, in: Goebel, Eckart/ Klein, Wolfgang (Hg.): Literaturforschung heute, Berlin, S. 133-145. Freeman, Judi (1993): Mark Tansey, Katalog des Los Angeles County Museum. Freud, Sigmund (1890): Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), in: StA Erg., S. 13-35. Freud, Sigmund (1891): Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie, Frankfurt a.M. 1992. Freud, Sigmund (1895): Entwurf einer Psychologie, in: Freud 1950, S. 297-384. Freud, Sigmund/Breuer, Josef (1895): Studien über Hysterie, Frankfurt a.M. 19755. Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung, in: StA II. Freud, Sigmund (1901/1904): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt a.M. 1954. Freud, Sigmund (1904): Die Freudsche psychoanalytische Methode, in: StA Erg., S. 99-106. Freud, Sigmund (1905a): Bruchstück einer Hysterie-Analyse [»Dora«, 1901], in: StA VI, S. 83-186. Freud, Sigmund (1905b): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: StA V, S. 37-145. Freud, Sigmund (1908): Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität, in: StA IX, S. 9-32. Freud, Sigmund (1910): Über den Gegensinn der Urworte, in: StA IV, S. 227234. Freud, Sigmund (1911): Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides), in: StA VII, S. 133-203. Freud, Sigmund (1912a): Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, in: StA Erg., S. 169-180. Freud, Sigmund (1912b): Totem und Tabu, in: StA IX, S. 287-444. Freud, Sigmund (1913a): Das Interesse an der Psychoanalyse, in: GW VIII, S. 389-420. Freud, Sigmund (1913b): Das Motiv der Kästchenwahl, in: StA X, S. 181-193. Freud, Sigmund (1913c): Zur Einleitung der Behandlung, in: StA Erg., S. 181203. Freud, Sigmund (1914): Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: StA Erg., S. 205-215. 512

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Freud, Sigmund (1915a): Bemerkungen über die Übertragungsliebe, in: StA Erg., S. 217-230.

Freud, Sigmund (1915b): Das Unbewußte, in: StA III, S. 119-173. Freud, Sigmund (1915c): Triebe und Triebschicksale, StA III, S. 75-102. Freud, Sigmund (1916): Vergänglichkeit, in: StA X, S. 223-227. Freud, Sigmund (1916-17): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1915-17], in: StA I, S. 33-445.

Freud, Sigmund (1917): Trauer und Melancholie [1915], in: StA III, S. 193-212. Freud, Sigmund (1918): Aus der Geschichte einer infantilen Neurose [1914], in: StA VIII, S. 125-232.

Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche, in: StA IV, S. 241-274. Freud, Sigmund (1920): Jenseits des Lustprinzips, in: StA III, S. 213-272. Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: StA IX, S. 61134.

Freud, Sigmund (1923): Das Ich und das Es, in: StA III, S. 273-330. Freud, Sigmund (1925a): Die Verneinung, in: StA III, S. 371-377. Freud, Sigmund (1925b): Notiz über den »Wunderblock«, in: StA III, S. 363-369. Freud, Sigmund (1925c): Selbstdarstellung, Frankfurt a.M. 19776. Freud, Sigmund (1926a): Die Frage der Laienanalyse, in: StA Erg., S. 271-341. Freud, Sigmund (1926b): Hemmung, Symptom und Angst, in: StA VI, S. 227308.

Freud, Sigmund (1927): Nachwort zur Frage der Laienanalyse, in: StA Erg., S. 342349.

Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur, in: StA IX, S. 191-270. Freud, Sigmundd (1932): Über eine Weltanschauung, in: StA I, S. 586-608. Freud, Sigmund (1937a): Die endliche und die unendliche Analyse, in: StA Erg., S. 351-392.

Freud, Sigmund (1937b): Konstruktionen in der Analyse, in: StA Erg., S. 393406.

Freud, Sigmund (1938): Abriß der Psychoanalyse, in: Ders.: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M./Hamburg 1953, S. 5-87; auch in: GW 17, S. 63-138. Freud, Sigmund (1940-1952): Gesammelte Werke in 17 Bänden und einem Nachlaßband, hg. v. Anna Freud u.a., Frankfurt a.M. 1968. (Einzelne Schriften werden nach dem Erscheinungsjahr mit Sigle GW und römischer Bandnummer zitiert.) Freud, Sigmund (1950): Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, Frankfurt a.M. 19622. Freud, Sigmund (1969ff.): Studienausgabe in 10 Bänden und einem Ergänzungsband, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. (Einzelne Schriften werden nach dem Ersterscheinungsjahr mit Sigle StA und römischer Bandnummer zitiert.) Freud, Sigmund/Jung, Carl Gustav (1974): Briefwechsel, hg. v. William McGuire/ Wolfgang Sauerländer, Frankfurt a.M. 513

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

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Fröhlich, Werner D. (1968): dtv-Wörterbuch zur Psychologie, München 198715. Fuchs, Peter (1998): Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, Frankfurt a.M.

Fukuyama, Francis (1989): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

Gadamer, Hans-Georg (1996): Präludium: Erinnerung und Geschichte, in: Borchmeyer, Dieter (Hg.): »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, Frankfurt a.M., S. 11-14. Gamm, Gerhard (1994): Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt a.M. Gasché, Rodolphe (2003): Das harmlose Detail. Zu Hegels Ästhetik, in: Schäffner, Wolfgang/Weigel, Sigrid/Macho, Thomas (Hg.): »Der liebe Gott steckt im Detail«. Mikrostrukturen des Wissens, München, S. 53-71. Gehlen, Arnold (1956): Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 19865. Gehlen, Arnold (1957): Sozialpsychologie. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, zuerst als: Die Seele im technischen Zeitalter, jetzt in: Ders.: Anthropologische und sozialpsychologische Studien, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 145-259. Geser, Guntram (1994): Grundlagen der Rekonstruktion der Psychoanalyse. Freuds Hilfsvorstellungen, in: texte – psychoanalyse.ästhetik.kulturkritik., Heft 3, S. 52-60. Gheorghiu, Vladimir A. (1972): Betrachtungen über Suggestion und Suggestibilität, in: Scientia, 3, S. 1-29. Gheorghiu, Vladimir A. (1992): Vortrag auf dem Kongreß Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg, Oktober 1992, zitiert nach der Tonaufzeichnung des öffentlichen Vortrags, Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 1992. Gibello, Bernard (1977): Die drei Realitätsordnungen, in: Anzieu, Didier u.a.: Psychoanalyse und Sprache. Vom Körper zum Sprechen, Paderborn 1982, S. 4190. Giegel, Hans Joachim (1969): Die Logik seelischer Ereignisse. Zu Theorien von L. Wittgenstein und W. Sellars, Frankfurt a.M. Giegel, Hans Joachim (1987): Interpenetration und reflexive Bestimmung des Verhältnisses von psychischem und sozialem System, in: Haferkamp, Hans/Schmid, Michael (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt a.M., S. 212-244. Giesecke, Michael (1992): Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt a.M. Ginzburg, Carlo (1979): Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaften auf der Suche nach sich selbst, in: Freibeuter, Heft 3, 7-17, u. Heft 4, 11-36 (1980); jetzt in: Ders.: Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78-125.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

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Glaser, Hermann (1976): Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert. Seelenbilder einer Epoche. Materialien und Analysen, Frankfurt a.M. 1979.

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Halbwachs, Maurice (1925): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985.

Hamacher, Werner (1976): pleroma. Zum Begriff der Lektüre bei Hegel (Genesis und Metaphorik einer dialektischen Hermeneutik), in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Der Geist des Christentums«. Schriften 1796-1800, hg. u. eingel. v. Werner Hamacher, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978. Hardt, Stefan (1987): Tod und Eros beim Essen, Frankfurt a.M. Harth, Dietrich (1991): Die Erfindung des Gedächtnisses. Texte, Frankfurt a.M. Hartley, David (1749): Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations, Hildesheim 1967. Hartmann, Eduard von (1890): Philosophie des Unbewußten, Teil 1–3, Leipzig. Hartmann, Frank (1996): Cyber.Philosophy. Medientheoretische Auslotungen, Wien. Hartmann, Frank (2000): Medienphilosophie, Wien. Hasted, Heiner (1988): Das Leib-Seele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität, Frankfurt a.M. 1989 2. Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.) (1991): Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M. Hebel, Kirsten (1995): Der Unterschied, der wir sind. Geschichte und Gegenwart bei Michel Foucault, in: Porath 1995a, S. 103-114. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807): Phänomenologie des Geistes, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1822): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt a.M. 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1830): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1970. Hehlmann, Wilhelm (1963): Geschichte der Psychologie, Stuttgart 1967. Heidbrink, Ludger (1994): Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung, München. Heidbrink, Ludger (1995): Melancholie, Geschichte und Erinnerung. Einige Überlegungen zu ihrem Verhältnis, in: Porath 1995a, S. 45-54. Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit, Tübingen 197212. Heidegger, Martin (1947): Über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1949. Heidegger, Martin (1949a): Das Ding, in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 157-175. Heidegger, Martin (1949b): Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962. Heider, Fritz (1926): Ding und Medium, in: Symposium I, S. 108-157.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Heiligenthal, Peter/Volk, Reinhard (1973): Vorwort, in: Schreber 1973a, S. VIIXI.

Heise, Jens (1989): Traumdiskurse. Die Träume der Philosophie und die Psychologie des Traums, Frankfurt a.M.

Henningsen, Peter (1993): Subjektivität in der Neurologie, in: Frankfurter Rundschau Nr. 61, 6.4.1993, S. 16.

Henrich, Dieter (1985): Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas, in: Ders.: Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt a.M. 1987, S. 11-43. Herbart, Johann Friedrich (1816): Lehrbuch der Psychologie, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. V, hg. v. G. Hartenstein, Hamburg/Leipzig 18862. Herbart, Johann Friedrich (1824/25): Psychologie als Wissenschaft, neugegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. V + VI, hg. v. G. Hartenstein, Hamburg/Leipzig 18862-18882. Herder, Johann Gottfried (1771): Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Ders.: Von deutscher Art und Kunst und andere Schriften, hg. v. Karl-Gustav Gerold, Berlin o.J., S. 9-108. Hobbes, Thomas (1640): The Elements of Law: Natural and Politic, ed. with preface and notes by Ferdinand Tönnies [1889], London 1984. Hobbes, Thomas (1651): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher [1966], Frankfurt a.M. 1984. Hobbes, Thomas (1839-1845): The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, ed. William Molesworth, 11 Bd., London, Reprint Aalen 1966. Hobson, Allan J. (1988): The Dreaming Brain, New York. Hösle, Vittorio (1990): Vico und die Idee der Kulturwissenschaft, in: Vico 1744, S. XIX-CCXCIII. Hofmannsthal, Hugo von (1966): Gesammelte Werke, hg. v. Herbert Steiner, Bd. IV: Prosa, Frankfurt a.M. Hofstätter, Peter R. (1957): Fischer Lexikon: Psychologie, Frankfurt a.M. 1977 23. Holenstein, Elmar (1972): Phänomenologie der Assoziation, Den Haag. Hombach, Dieter (o.J. [1990]): Die Drift der Erkenntnis. Zur Theorie selbstmodifizierter Systeme bei Gödel, Hegel und Freud, München. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969. Humboldt, Wilhelm von (1827-29): Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, in: Ders.: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Über die Sprache, Wiesbaden 2003, S. 115-278. Humboldt, Wilhelm von (1836): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [Einleitung zum Kawi-Werk], in: Ders.: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Über die Sprache, Wiesbaden 2003, S. 279-565. Hume, David (1748): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1984.

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Husserl, Edmund (1887): Philosophie der Arithmetik. Logische und psychologische Untersuchungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1992. Husserl, Edmund (1905): Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. v. Martin Heidegger (1928), Nachdruck Tübingen 1980 2. Husserl, Edmund (1935/36): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: Husserliana GW, Bd. VI, hg. v. Walter Biemel, Den Haag 1954. Jahoda, Marie (1977): Freud und das Dilemma der Psychologie, Frankfurt a.M. 1985. Jakobson, Roman (1969): Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt a.M. James, William (1892): Psychology. Briefer Course, New York 1962. Janich, Peter (1994): Der Informationsbegriff in der Morphologie, in: Ders.: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt a.M. 1996, S. 290-304. Jappe, Gemma (1971): Über Wort und Sprache in der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. Jaspers, Karl (1931): Die geistige Situation der Zeit, Berlin 19555. Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. (Hg.) (1948): Das Problem der Gesetzlichkeit. Bd. 1: Geisteswissenschaften, Bd. 2: Naturwissenschaften, Hamburg. Jones, Ernest (1961): Sigmund Freud, Leben und Werk, Bd. I, München 1984. Jünger, Ernst (1934): Über den Schmerz, in: Ders.: Blätter und Steine, Hamburg, S. 154-213. Jünger, Ernst (1950): Über die Linie, Frankfurt a.M. 19585. Jünger, Ernst (1959): An der Zeitmauer, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8, Stuttgart 1978ff. Jünger, Friedrich Georg (1957): Gedächtnis und Erinnerung, Frankfurt a.M. Jüttemann, Gerd/Sonntag, Michael/Wulf, Christoph (Hg.) (1991): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim. Jung, Carl Gustav (1905): Diagnostische Assoziationsstudien, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Experimentelle Untersuchungen, hg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Olten/Freiburg 1979. Kaempfer, Wolfgang (1997): Zeit, in: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim/Basel, S. 179-197. Kafka, Franz (1952): Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe, hg. v. Jürgen Born/Michael Müller, Frankfurt a.M. 1986. Kant, Immanuel (1781/1787): Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III-IV, Frankfurt a.M. 1977. Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1977.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Kraepelin, Emil (1883): Psychiatrie: Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Aerzte, Leipzig 18965.

Krohn, Wolfgang/Küppers, Günther (Hg.) (1992): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M.

Krois, John Micha (1985): Einleitung, in: Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache, hg. v. Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois, Hamburg 19952. Kuhn, Thomas S. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1969. Kvale, Steinar (1974): Gedächtnis und Dialektik: Einige Überlegungen zu Ebbinghaus und Mao Tse-tung, in: Riegel, Klaus F. (Hg.): Zur Genese dialektischer Operationen, Frankfurt a.M. 1978, S. 239-265. Lacan, Jacques (1936): Jenseits des »Realitätsprinzips«, in: Ders.: Schriften III, Olten 1980, S. 15-37. Lacan, Jacques (1936/49): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Ders.: Schriften I, ausgew. u. hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 19913, S. 61-70. Lacan, Jacques (1953): Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Ders.: Schriften I, ausgew. u. hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 19913, S. 71-169. Lacan, Jacques (1953/54): Das Seminar I: Freuds technische Schriften, Weinheim/ Berlin 1990. Lacan, Jacques (1954/55): Das Seminar II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Olten 1980. Lacan, Jacques (1955): Psychoanalyse und Kybernetik oder von der Natur der Sprache, in: Lacan 1954/55, S. 373-390. Lacan, Jacques (1955/56): Das Seminar III: Die Psychosen, Weinheim/Berlin 1997. Lacan, Jacques (1956): Das Seminar über E. A. Poes »Der entwendete Brief«, in: Ders.: Schriften I, ausgew. u. hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 19913, S. 7-41. Lacan, Jacques (1957): Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: Ders.: Schriften II, ausgew. u. hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 19913, S. 15-55. Lacan, Jacques (1964): Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten/Freiburg 1978. Lacan, Jacques (1972/73): Das Seminar XX: Encore, Weinheim/Berlin 1986. Lang, Hermann (1973): Die Sprache und das Unbewußte, Frankfurt a.M. 1986. Lang, Hermann (1988): Zum Begriff des Unbewußten, in: Lang 2000, S. 107-121. Lang, Hermann (1993): Zur Phänomenologie der Affektivität in der Psychotherapie, in: Fink-Eitel/Lohmann 1993, S. 293-306. Lang, Hermann (2000): Strukturale Psychoanalyse, Frankfurt a.M. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1967): Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frankfurt a.M. 19825. Leclaire, Serge (1968): Der psychoanalytische Prozeß, Frankfurt a.M. 1975.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1677): Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten, in: Ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 1, Hamburg [1904/1906] 19663, S. 15-21. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1714): Monadologie, in: Ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 2, Hamburg [1904/ 1906] 19663, S. 435-456. Lepenies, Wolf (1985): Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1988. Lévi-Strauss, Claude (1949): Die Wirksamkeit der Symbole, in: Lévi-Strauss 1958, S. 204-225. Lévi-Strauss, Claude (1950): Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, in: Marcel Mauss: Sociologie et Anthropologie, Paris 1950, dt. in: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978, S. 7-41. Lévi-Strauss, Claude (1958): Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a.M. 1967. Lévi-Strauss, Claude (1973): Strukturale Anthropologie II, Frankfurt a.M. 1975. Lévinas, Emmanuel (1963): Die Spur des Anderen, in: Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. u. eingel. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 19872, S. 209-235. Lévinas, Emmanuel (1968): Humanismus und An-archie, in: Ders.: Humanismus des anderen Menschen, übers. u. hg. v. Ludwig Wenzler, Hamburg 1989, S. 61-83. Lincke, Harold (1981): Instinktverlust und Symbolbildung. Die psychoanalytische Theorie und die psychobiologischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens, Berlin. Linke, Detlef Bernhard (1992): Identität durch Mord? Der Traum des Konstrukteurs. Vortrag auf dem Kongreß Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg, Oktober 1992, zitiert nach der Tonaufzeichnung des öffentlichen Vortrags, Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 1992. Locke, John (1690): Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I und II, Hamburg 19814. Löwith, Karl (1959): Curriculum vitae, in: Ders.: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt a.M. 1989, S. 146-157. Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 19762. Lütkehaus, Ludger (Hg.) (1989): »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdekkung des Unbewußten vor Freud, Reinbek bei Hamburg. Luhmann, Niklas (1969): Legitimation durch Verfahren, Neuwied/Berlin. Luhmann, Niklas (1971a): Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Habermas, Jürgen/Ders. (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M., S. 25-100. Luhmann, Niklas (1971b): Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas, in: Habermas, Jürgen/Ders. (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M., S. 291-405. Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München.

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 19882.

Luhmann, Niklas (1985): Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Soziale Welt, 36, S. 402-446; jetzt in: Hahn, Alois/Kapp, Volker (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 25-94. Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation, Opladen. Luhmann, Niklas (1988): Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: Gumbrecht/Pfeiffer 1988, S. 884-905. Luhmann, Niklas (1989): Individuum, Individualität, Individualismus, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik 3, Frankfurt a.M. 1993, S. 149-258. Luhmann, Niklas (1990a): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992. Luhmann, Niklas (1990b): Weltkunst, in: Ders./Bunsen, Frederick D./Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld, S. 7-45. Luhmann, Niklas (1992): Einführung in die Systemtheorie. Vorlesungen im WS 1991/92, Abschnitt: Zeit (Tonaufzeichnung), Heidelberg. Luhmann, Niklas (1993): Die Paradoxie der Form, in: Baecker, Dirk (Hg.): Kalkül der Form, Frankfurt a.M., S. 197-212. Luhmann, Niklas (1996): Takt und Zensur im Erziehungssystem, in: Luhmann/ Schorr 1996, S. 279-294. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (Hg.) (1996): Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. Lurija, Alexander R. (1971): Kleines Portrait eines großen Gedächtnisses, in: Ders.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 147-249. Lyotard, Jean-François (1979): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986. Lyotard, Jean-François (1983): Der Widerstreit, München 1987. Mai, Lutz (1981): Die Übertragung ist…, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 8, S. 39-51. Mannoni, Octave (1968): Sigmund Freud in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 19734. Margalit, Avishai (1997): Identität und Vergangenheit. Vergeben heißt nicht vergessen: Die Erinnerung an die Tradition muß von ihrer Bewahrung unterschieden werden, in: Frankfurter Rundschau Nr. 274, 25.11.1997, S. 12. Markowitsch, Hans-Joachim (2002): Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Darmstadt. Markus, D. F. (1901): Die Assoziationstheorien im XVIII. Jahrhundert, in: Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Heft 15, Halle a. d. Saale. Marquard, Odo (1962): Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987. Marquard, Odo (1994): Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur, in: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen, S. 909-918. Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert (Hg.) (1985): Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 19912.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1845/1846): Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Dies.: Werke (MEW), Bd. 3, Berlin 1969, S. 9-530. Mathieu, Michel (1977): »Sei’s drum«, in: Anzieu, Didier u.a.: Psychoanalyse und Sprache. Vom Körper zum Sprechen, Paderborn 1982, S. 175-202. Maturana, Humberto (1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig/Wiesbaden. Maturana, Humberto (1990): Gespräch mit Humberto R. Maturana, in: Riegas/ Vetter 1990, S. 11-90. Maturana, Humberto/Varela, Francisco (1984): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern/München/Wien 1987 3. McLuhan, Marshall (1964): Die magischen Kanäle, Frankfurt a.M./Hamburg 1970. McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin (1967): The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, dt. Das Medium ist Massage, koordiniert von Jerome Agel, Frankfurt a.M. u.a. 1969. Mead, George Herbert (1934): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1968. Menninghaus, Winfried (2003): Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a.M. Merten, Klaus/Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (Hg.) (1994): Die Wirklichkeit der Medien, Opladen. Michels, André/Müller, Peter/Perner, Achim (Hg.) (1997): Psychoanalyse nach 100 Jahren. Zehn Versuche eine kritische Bilanz zu ziehen, München/Basel. Mill, John Stuart (1843): System der deduktiven und induktiven Logik, Leipzig 1884-18862. Miller, George A. (1991): Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik, Heidelberg 1993. Mitscherlich, Alexander (1967): Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin, 2 Bde., Frankfurt a.M. Müller, Max/Vossenkuhl, Wilhelm (1974): Person, in: Krings, Hermann/Baumgartner, Hans Michael/Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München, S. 1059-1070. Müller-Funk, Wolfgang (1996): Ouvertüren zu einer Philosophie der Medialität des Menschen, in: Reck/Müller-Funk 1996, S. 63-86. Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hg.) (2003): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M. Niederland, William G. (1959): Schrebers ›angewunderte‹ Kindheitswelt, in: Psyche, 23 (1969), S. 196-223. Niemitz, Carsten (1987): Die Stammesgeschichte des menschlichen Gehirns und der menschlichen Sprache, in: Ders. (Hg.): Erbe und Umwelt. Zur Natur von Anlage und Selbstbestimmung des Menschen, Frankfurt a.M., S. 95-118. Niethammer, Lutz (Hg.) (1980): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«, Frankfurt a.M.

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Nietzsche, Friedrich (1873): Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: KSA 1, S. 873-890.

Nietzsche, Friedrich (1874): Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück), in: KSA 1, S. 243-334.

Nietzsche, Friedrich (1883-1885): Also sprach Zarathustra, in: KSA 4. Nietzsche, Friedrich (1956): Werke, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1981.

Nietzsche, Friedrich (1980): Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 19882. Nora, Pierre (1984): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990. Nørretranders, Thor (1991): Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1994. Nowack, Walter (1925): Zur Lehre von den Gesetzen der Ideenassoziation seit Herbart bis 1880, in: Pädagogisches Magazin, Heft 1018. Nowotny, Helga (1989): Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 19903. Oexle, Otto Gerhard (1994): Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Heinzle, Joachim (Hg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a.M./Leipzig 1999, S. 297-323. Ong, Walter J. (1982): Orality and Literacy, London/NY. Orzechowski, Axel (1993): Bewußtsein als Übersetzung. Schellings Philosophie der Psyche und die Anfänge der Psychoanalyse. Vortrag auf dem Internationalen Hegel-Kongreß, Stuttgart. Panahi, Badi (1980): Die wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen der Tiefenpsychologie und der modernen Psychotherapie, Berlin. Pazzini, Karl-Josef (1992): Bilder und Bildung. Vom Bild zum Abbild bis zum Wiederauftauchen der Bilder, Münster. Pazzini, Karl-Josef (2000): Vorurteil gegenüber der Anwendung, in: Jacques Derrida (1995): As if I were Dead/Als ob ich tot wäre, hg. v. Ulrike Oudée Dünkelsbühler u.a., Wien 2000, S. 67-72. Pazzini, Karl-Josef/Porath, Erik/Gottlob, Susanne (Hg.) (2000): Kontaktabzug. Medien im Prozeß der Bildung, Wien. Peirce, Charles Sanders (1905): Pragmatizismus und kritischer Commonsense, in: Ders.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1976, S. 485-489. Peirce, Charles Sanders (1907): Überblick über den Pragmatismus, in: Ders.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1976, S. 498-538. Piepmeier, Rainer (1981/82): Weltgeist – Erinnerung – Er-Innerung, in: HegelJahrbuch, S. 145-155. Pöppel, Ernst (1985): Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart. Pöppel, Ernst (2000): Kosmos im Kopf. Wie das Gehirn funktioniert. In: Gehirn und Denken. Kosmos im Kopf, hg. v. Deutschen Hygiene-Museum in Zusammenarbeit mit Via Lewandowsky und Durs Grünbein, Dresden, S. 20-27. 524

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Popper, Karl R. (1944): Die offene Gesellschaft und ihr Feinde, 2 Bde., München 19806.

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Richards, John/Glasersfeld, Ernst von (1984): Die Kontrolle von Wahrnehmung und die Konstruktion von Realität. Erkenntnistheoretische Aspekte des Rückkopplungs-Kontroll-Systems, in: Schmidt 1987, S. 192-228. Rickels, Laurence A. (1988): Der unbetrauerbare Tod, Wien 1989. Rickert, Heinrich (1899): Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986. Ricœur, Paul (1965): Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a.M. 1969. Ricœur, Paul (1998): Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen. Riegas, Volker/Vetter, Christian (Hg.) (1990): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes, Frankfurt a.M. Rilke, Rainer Maria (1919): Ur-Geräusch, in: Werke, hg. v. Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn [1955], Frankfurt a.M. 1987, Bd. VI, S. 1085-1093. Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse – Freud – Lacan (2001), 16. Jg., H. 52: »Medien«. Rössner, Hans (Hg.) (1986): Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie, München. Rötzer, Florian (1992): Die Schönheit des Fujijama im Neonlicht der Chaostheorie. Florian Rötzer im Gespräch mit Friedrich Cramer, in: Frankfurter Rundschau, 24.10.1992. Rorty, Richard (1984): Freud und die moralische Reflexion, in: Ders.: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 38-81. Rosenfield, Israel (1993): Kein Speicher von Erinnerungsbildern, in: Frankfurter Rundschau Nr. 61, 6.4.1993, S. 16. Roth, Gerhard (1986): Selbstorganisation – Selbsterhaltung – Selbstreferentialität. Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismen und Umwelt, in: Dress, Andreas/Hendrichs, Hubert/Küppers, Günter (Hg.): Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, München/Zürich, S. 149-180. Roth, Gerhard (1987a): Autopoiese und Kognition. Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung, in: Schmidt 1987, S. 256286. Roth, Gerhard (1987b): Erkenntnis und Realität. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Schmidt 1987, S. 229-255. Roth, Gerhard (1992a): Das konstruktive Gehirn. Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis, in: Schmidt 1992, S. 277-336. Roth, Gerhard (1992b): Kognition. Die Entstehung von Bedeutung im Gehirn, in: Krohn/Küppers 1992, S. 104-133. Roth, Gerhard (1992c): Vortrag auf dem Kongreß Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg, Oktober 1992, zitiert nach der Tonaufzeichnung des öffentlichen Vortrags, Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 1992.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Roth, Gerhard (1993): In das Wahrnehmungssystem dringt nur das ein, was nicht zu erwarten war, in: Das neue Bild der Welt. Wissenschaft und Ästhetik, Kunstforum Nr. 124, hg. v. Florian Rötzer, S. 152-157. Roth, Gerhard (1994): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a.M. Roth, Gerhard (1995): Ein Vernichtungsangriff auf die philosophische Erkenntnistheorie? Eine Erwiderung auf Hans Jürgen Wendel, in: Information Philosophie, hg. v. Peter Moser, Heft 1, Dezember, S. 66-69. Rusch, Gebhard (1994): Kommunikation und Verstehen, in: Merten/Schmidt/ Weischenberg 1994, S. 60-78. Rusch, Gebhard (1995): Erkenntnistheorie oder Theorie des Wissens? Zu Hans Jürgen Wendel: »Radikaler Konstruktivismus oder Erkenntnistheorie?«, in: Information Philosophie, hg. v. Peter Moser, Heft 1, Dezember, S. 70-76. Sachs-Hombach, Klaus (1993): Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, Freiburg/München. Sacks, Oliver (1985): Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek bei Hamburg 1987. Sartre, Jean-Paul (1949): Bewußtsein und Selbsterkenntnis, Reinbek bei Hamburg 1973. Sartre, Jean-Paul (1969): Der Narr mit dem Tonband oder Die psychoanalysierte Psychoanalyse, in: Neues Forum, XVI, S. 705-709. Saussure, Ferdinand de (1916): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 19672. Schadewaldt, Wolfgang (1972): Sprache als vorphilosophischer Denkvorgang, in: Ders.: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Bd. 1, hg. v. Ingeborg Schudoma, Frankfurt a.M. 1978, S. 471-481. Schäfer, Lothar (1993): Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur, Frankfurt a.M. Scheidt, Carl Eduard (1986): Die Rezeption der Psychoanalyse in der deutschsprachigen Philosophie vor 1940, Frankfurt a.M. Schirrmacher, Wolfgang (1983): Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg/München. Schleiermacher, Friedrich (1814/1822): Dialektik, hg. v. Manfred Frank, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2001. Schmid, Wilhelm (1992): »Alle Widersprüche finden sich in mir«: Lebenskunst als »Ethik« der Selbstfindung bei Montaigne, in: Die Aktualität des Ästhetischen, hg. v. Stiftung Niedersachsen, Hannover 1992. Schmidt, Nicole D. (1995): Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven, Reinbek bei Hamburg. Schmidt, Siegfried J. (Hg.) (1987): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M. Schmidt, Siegfried J. (1991): Einleitung, in: Ders. (Hg.): Gedächtnis. Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a.M., S. 9-55.

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2005-09-16 12-54-08 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 505-533) T07 Literaturverzeichnis.p 94863182950

GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Schmidt, Siegfried J. (Hg.) (1992): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt a.M.

Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (1994): Mediengattungen, Berichterstattungsmuster, Darstellungsformen, in: Merten/Schmidt/Weischenberg 1994, S. 212-236. Schmitz, Hermann (1964): Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Erich Rothacker, Bonn 1960, Bd. 9, S. 37-44. Schnädelbach, Herbert (1985): Philosophie, in: Martens/Schnädelbach 1985, Bd. 1, S. 37-76. Schnädelbach, Herbert (1987): Philosophie als Wissenschaft und als Aufklärung, in: Schnädelbach 1992, S. 372-386. Schnädelbach, Herbert (1989): Das Gesicht im Sand. Foucault und der anthropologische Schlummer, in: Schnädelbach 1992, S. 277-306. Schnädelbach, Herbert (1992): Zur Rehabilitation des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a.M. Schönherr, Hans-Martin (1989): Die Technik und die Schwäche. Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem »schwachen Denken«, Wien. Schöpf, Alfred (1982): Sigmund Freud, München. Schopenhauer, Arthur (1818): Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Werke in zehn Bänden, hg. v. Arthur Hübscher, Bde. 1-4, Zürich 1977. Schreber, Daniel Paul (1903a): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hg. v. Peter Heiligenthal/Reinhard Volk, Wiesbaden 1973. Schreber, Daniel Paul (1903b): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hg. v. Samuel M. Weber, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1973. Schröder, Jürgen (2004): Einführung in die Philosophie des Geistes, Frankfurt a.M. Schrödinger, Erwin (1943): Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, übers. v. L. Mazurcak, hg. v. Ernst Peter Fischer, München/ Zürich 20015. Schuller, Marianne (1996): Bilder-Schriften zum Gedächtnis. Freud, Warburg, Benjamin. Eine Konstellation, in: Sauerland, Karol (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung in der Literatur, Warszawa, S. 35-65. Schulte, Joachim/McGuinness, Brian (Hg.) (1992): Einheitswissenschaft, mit einer Einl. v. Rainer Hegselmann, Frankfurt a.M. Schwalm, Helga (1995): Erinnern und Erzählen. Das schreibende Subjekt in der postkolonialen Literatur V. S. Naipauls und Salman Rushdies, in: Porath 1995a, S. 143-150. Schwegler, Helmut (1992): Systemtheorie als Weg zur Vereinheitlichung der Wissenschaften?, in: Krohn/Küppers 1992, S. 27-56. Searle, John R. (1996): Das Rätsel des Bewußtseins. Biologie des Geistes – Mathematik der Seele, in: Lettre International, Heft 32. Seigies, Raimund (1995): Tierisches Gedächtnis, in: Porath 1995a, S. 151-158. Semon, Richard (1904): Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1908. 528

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Sellars, Wilfried (1963): Science, Perception, and Reality, London. Sextus Empiricus: Grundriß der Pyrrhonischen Skepsis (3. Jahrhundert n. Chr.), übers. u. eingel. v. Malte Hossenfelder, Frankfurt a.M. 1985.

Shannon, Claude E. (1948): The Mathematical Theory of Communication, in: Bell Systems Technical Journal, 27, S. 379-423, S. 623-656.

Shannon, Claude E./Weaver, Warren (1949): The Mathematical Theory of Communication, Urbana/Ill.

Sheldrake, Rupert (1988): Presence of the Past, dt.: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, Bern/München/Wien 1990. Simmel, Georg (1910): Soziologie der Mahlzeit, in: Ders.: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918 (Bd. 1), Frankfurt a.M. 2001, S. 140-147; zuvor in: Ders.: Brücke und Tür, Stuttgart 1957, S. 243-250. Simmel, Georg (1918): Vom Wesen des historischen Verstehens, in: Ders.: Geschichtliche Abende. Zehn Vorträge im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin. Singer, Wolf (1989): Das Gehirn: Ein biologisches Lernsystem, das sich selbst organisiert, in: Klivington, Kenneth A. (Hg.): Gehirn und Geist [Cambridge, Mass./London 1989], Heidelberg/Berlin/New York 1992, S. 174-178. Sloterdijk, Peter (1983): Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M. Sloterdijk, Peter (Hg.) (1990): Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Frankfurt a.M. Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. Snow, Charles Percy (1959): Die zwei Kulturen, in: Kreuzer, Helmut (Hg.): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion, München 1987, S. 19-59. Sonnemann, Ulrich (1986): Zeit ist Anhörungsform. Über Wesen und Wirken einer kantischen Verkennung des Ohrs, hg. v. IAG für Philosophische Grundlagenprobleme, Gesamthochschule Kassel (Sonderdruck), Kassel. Spencer-Brown, George (1969): Laws of Form, New York 19722. Stadler, Michael/Kruse, Peter (1990): Über Wirklichkeitskriterien, in: Riegas/ Vetter 1990, S. 133-158. Strowick, Elisabeth (1999): Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart. Sulloway, Frank J. (1979): Freud: Biologist of the Mind, dt. Freud: Biologie der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende, Köln-Lövenich 1982. Tansey, Mark (1986): Doubting Thomas, Öl auf Leinwand (147,3 x 137,2), in: Freeman 1993, S. 36. Taureck, Bernhard H. F. (1988): Französische Philosophie im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg. Taureck, Bernhard H. F. (1991): Lévinas zur Einführung, Hamburg. Taureck, Bernhard H. F. (1992a): Ethikkrise – Krisenethik. Analysen, Texte, Modelle, Reinbek bei Hamburg. 529

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Taureck, Bernhard H. F. (1992b): Die Psychoanalyse zwischen Empirie und Philosophie, in: Ders. (Hg.): Psychoanalyse und Philosophie. Lacan in der Diskussion, Frankfurt a.M., S. 7-31. Taureck, Bernhard H. F. (1995): Inwiefern gibt es Vergangenes?, in: Porath 1995a, S. 63-71. Tausk, Viktor (1919): Über die Entstehung des »Beeinflussungsapparates« in der Schizophrenie, in: Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, V, S. 1-33, auch in: Ders.: Gesammelte psychoanalytische und literarische Schriften, Wien/Berlin 1983, S. 245-286. Theunissen, Michael (2001): Reichweite und Grenzen der Erinnerung, Tübingen. Tholen, Georg Christoph (1986): Wunsch-Denken oder Vom Bewußtsein des Selben zum Unbewußten des Anderen. Ein Versuch über den Diskurs der Differenz, Kassel. Tholen, Georg Christoph (1999): Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität, in: Schade, Sigrid/Ders. (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München, S. 15-34. Tholen, Georg Christoph/Schmitz, Gerhard/Riepe, Manfred (Hg.) (2001): Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans, Bielefeld. Tholen, Georg Christoph (2002): Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. Thompson, D’Arcy Wentworth (1917): Über Wachstum und Form, Frankfurt a.M. 1983. Thüring, Hubert (2001): Geschichte des Gedächtnisses. Nietzsche und das 19. Jahrhundert, München. Trabant, Jürgen (1998): Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt a.M. Tugendhat, Ernst (1979): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. Turing, Alan M. (1937): On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem, dt.: Über berechenbare Zahlen mit einer Anwendung auf das Entscheidungsproblem, in: Ders.: Intelligence Service. Schriften, hg. v. Bernhard Dotzler/Friedrich Kittler, Berlin 1987, S. 17-60. Varela, Francisco (1990): Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Ein Skizze aktueller Perspektiven, Frankfurt a.M. Vedder, Ulrike (2002): Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman »Les Liaisons dangereuses« und in der Gegenwartsliteratur, Köln/ Weimar/Wien. Vico, Giovanni Battista (1744): Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers., eingel. u. hg. v. Vittorio Hösle/Christof Jermann, Hamburg 1990. Völker, Ludwig (Hg.) (1983): »Komm, heilige Melancholie«. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Mit Ausblicken auf die europäische Melancholie-Tradition in Literatur- und Kunstgeschichte, Stuttgart.

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2005-09-16 12-54-11 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 505-533) T07 Literaturverzeichnis.p 94863182950

7. LITERATURVERZEICHNIS

Vogl, Joseph (1995): Foucault, Journalist. Vernunft als Verpflichtung zum Anderswerden. Zu einer Ausgabe verstreuter Arbeiten Michel Foucaults aus vierzig Jahren, in: taz, 23.3.1995, S. 17f. Vollmer, Gerhard (1992): Vortrag auf dem Kongreß Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg, Oktober 1992, zitiert nach der Tonaufzeichnung des öffentlichen Vortrags, Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 1992. Wahrig-Schmidt, Bettina (1994): Thomas Hobbes und der Doppelcharakter des Zeichens, in: Haas, Norbert/Nägele, Rainer/Rheinberger, Hans-Jörg (Hg.): Im Zug der Schrift. Liechtensteiner Diskurse I, München, S. 77-96. Wasser, Harald (1995): Sinn – Erfahrung – Subjektivität. Eine Untersuchung zur Evolution von Semantiken in der Systemtheorie, der Psychoanalyse und dem Szientismus, Würzburg. Weber, Elisabeth (Hg.) (1997): Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien. Weber, Samuel M. (1973): Vorwort, in: Schreber 1903b. Weber, Samuel M. (1979): Freud Legende, Olten/Freiburg. Weber, Samuel M. (1995): Humanitäre Interventionen im Zeitalter der Medien. Zur Frage einer heterogenen Politik, in: Pfeil, Hannelore/Jäck, Hans-Peter (Hg.): Politiken des Anderen, Bd. 1: Eingriffe im Zeitalter der Medien, Rostock/ Bornheim-Roisdorf, S. 5-27. Weber, Stefan (Hg.) (2003): Theorien der Medien, Konstanz. Wegener, Mai (2004): Neuronen und Neurosen. Zum psychischen Apparat bei Freud und Lacan. Ein historisch-theoretischer Versuch zum sogenannten »Entwurf einer Psychologie« von 1895, München. Weibel, Peter (1991): Freud und die Medien, in: Camera Austria, 36, S. 3-21. Weigel, Sigrid (1994): Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur, Dülmen-Hiddingsel. Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. Weigel, Sigrid (2002): Der Text der Genetik. Metaphorik als Symptom ungeklärter Probleme wissenschaftlicher Konzepte, in: Dies. (Hg.): Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte, Berlin, S. 223-246. Weigel, Sigrid (2003): »Nichts weiter als...« Das Detail in den Kulturtheorien der Moderne: Warburg, Freud, Benjamin, in: Schäffner, Wolfgang/Dies./Macho, Thomas (Hg.): »Der liebe Gott steckt im Detail«. Mikrostrukturen des Wissens, München, S. 91-111. Weigel, Sigrid (2004a): Phantombilder zwischen Messen und Deuten. Bilder von Hirn und Gesicht in den Instrumentarien empirischer Forschung von Psychologie und Neurowissenschaft, in: Florian Steger/Bettina von Jagow (Hg.): Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne, Heidelberg, S. 137-176. Weigel, Sigrid (2004b): Pathos – Passion – Gefühl. Schauplätze affekttheoretischer Verhandlungen in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, in: Dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München, S. 147-172. 531

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Weinrich, Harald (1988): Über Sprache, Leib und Gedächtnis, in: Gumbrecht/ Pfeiffer 1988, S. 80-93.

Weinrich, Harald (1996): Gibt es eine Kunst des Vergessens?, Basel. Weinrich, Harald (1997): Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München. Weizsäcker, Carl Friedrich von (1977): Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München.

Weizsäcker, Viktor von (1940): Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Frankfurt a.M. 1973.

Welsch, Wolfgang (1987): Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart.

Welsch, Wolfgang (1995): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M.

Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München.

Wendel, Hans Jürgen (1994): Radikaler Konstruktivismus oder Erkenntnistheorie?, in: Information Philosophie, hg. v. Peter Moser, Heft 5, Dezember, S. 3646. Wettengl, Kurt (Hg.) (2000): Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart, Ostfildern-Ruit. Whitehead, Alfred North (1925): Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a.M. 1988. Whitehead, Alfred North (1929): Prozeß und Realität, Frankfurt a.M. 1987. Widmer, Peter (1990): Die Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. Wiener, Norbert (1948/1961): Cybernetics or Control and Communication in the Animal and in the Machine, dt. Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Reinbek bei Hamburg 1968. Wiener, Norbert (1950): The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society, dt.: Mensch und Menschmaschine, Frankfurt a.M. 1964. Windelband, Wilhelm (1878-1880): Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, Karben 1996. Windelband, Wilhelm (1894): Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburg. Winson, Jonathan (1985): Brain and Psyche. The Biology of the Unconscious, dt.: Auf dem Boden der Träume, Weinheim/Basel 1986. Wittgenstein, Ludwig (1921): Tractatus logico-philosophicus, in: Wittgenstein 1984, Bd. 1, S. 7-85. Wittgenstein, Ludwig (1953): Philosophische Untersuchungen, hg. von G. E. M. Anscombe/G. H. v. Wright/Rush Rhees, in: Wittgenstein 1984, Bd. 1, S. 225580. Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in 8 Bänden, neu durchges. v. Joachim Schulte, Frankfurt a.M. Wundt, Wilhelm (1874): Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1., 2. und 3. Bd., Leipzig 19025. Wundt, Wilhelm (1896): Grundriß der Psychologie, Leipzig 1922. 532

2005-09-16 12-54-12 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 505-533) T07 Literaturverzeichnis.p 94863182950

7. LITERATURVERZEICHNIS

Yates, Frances A. (1966): The Art of Memory, London, dt. Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990.

Zaumseil, Eberhardt (1939): Zur Geschichte und Systematik eines rein psychologischen Begriffes der Assoziation, Leipzig.

Zemb, Jean-Marie (1961): Aristoteles in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1986.

Ziehen, Theodor (1923): Allgemeine Psychologie, Berlin. Zill, Rüdiger (1999): Wie die Vernunft es macht... Die Arbeit der Metapher im Prozeß der Zivilisation, in: Wetz, Franz Josef/Timm, Hermann (Hg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a.M., S. 164-183. Zimmerli, Walther Ch. (1989): Technik als Natur des westlichen Geistes, in: Dürr, Hans-Peter/Ders. (Hg.): Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern/ München/Wien, S. 389-409. Zˇizˇek, Slavoj (1993): Hegels Wesenslogik als Theorie der Ideologiekritik, Vortrag in einer Vortragsreihe der LE[ ]RSTELLE zu Fragen von Übertragung, Vermittlung, Tradition, Eros, Hamburg, 26.02.1993 (unveröff. Typoskript). Zoll, Rainer (Hg.) (1988): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M.

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2005-09-16 12-54-12 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 505-533) T07 Literaturverzeichnis.p 94863182950

2005-09-16 12-54-13 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 534

) vakat 534.p 94863183278

8. PERSONENVERZEICHNIS

8. Personenverzeichnis Adam ... 215 Adorno, Theodor W. ... 24-27, 99, 448, 453 Agamben, Giorgio ... 438 Allen, Woody ... 360 Alquié, Ferdinand ... 163 Amin, Ismail ... 141, 155, 157, 163-168, 183-187 Anders, Günther ... 327, 349 Angehrn, Emil ... 9, 143 Antoine, Jean-Philippe ... 127 Anzieu, Didier ... 230 Apel, Karl-Otto ... 13, 30, 32, 100f. Arendt, Hannah ... 491 Aristoteles ... 137-141, 166, 299 Arnheim, Rudolf ... 318 Artemidor von Daldis ... 228 Asendorf, Christoph ... 379 Assmann, Aleida ... 13, 20, 37, 48 Assmann, Jan ... 13, 20, 37, 48 Auer, Carl ... 81, 479 Austin, John L. ... 89 Ayer, Alfred J. ... 83 Bacon, Francis ... 98 Baecker, Dirk ... 19, 84, 87f. Bahr, Hans-Dieter ... 46, 450 Bain, Alexander ... 168, 214 Bammé, Arno ... 33f., 46 Baraldi, Claudio ... 307 Barck, Karlheinz ... 55 Barnes, Jonathan ... 138, 140 Barthes, Roland ... 111 Baruzzi, Arno ... 46 Bataille, Georges ... 386, 438 Bateson, Gregory ... 40, 77, 87, 350, 479

Baumeyer, Franz ... 377 Becquerel, Antoine Henri ... 379 Bekker, Immanuel ... 138 Benjamin, Walter ... 126, 320, 332, 441, 480 Benveniste, Emile ... 247 Bernal, John Desmond ... 379 Bernet, Rudolf ... 292f. Blumenberg, Hans ... 27, 99, 285, 289, 297, 299, 319f., 329, 373, 475 Bolz, Norbert W. ... 209, 291, 480 Bopp, Franz ... 223 Bowie, Malcom ... 319 Breuer, Josef ... 198, 200-205, 207-211, 218, 220-223, 279, 339, 423 Brill, Abraham A. ... 234 Broca, Paul ... 192 Brown, Thomas ... 166-168, 186, 246 Brücke, Ernst Wilhelm von ... 200, 474 Bühler, Karl ... 89, 176 Bürger, Peter ... 218 Byron, George Gordon Noel Lord ... 190 Canetti, Elias ... 375, 380 Carnap, Rudolf ... 28 Cassirer, Ernst ... 107 Charcot, Jean Martin ... 198 Ciompi, Luc ... 90, 346 Clair, Jean ... 46 Corsi, Giancarlo ... 307 Cramer, Friedrich ... 61 Curie, Marie ... 379 Curie, Pierre ... 379 Dahmer, Helmut ... 197, 201 Darwin, Charles ... 27, 37, 313, 485

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2005-09-16 12-54-14 --- Projekt: T386.typo.kumedi.porath / Dokument: FAX ID 022594863180334|(S. 535-540) T08 personenverzeichnis.p 94863183334

GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Darwin, Erasmus ... 168 Dawkins, Richard ... 47 Deleuze, Gilles ... 159-161 de Man, Paul ... 72 Derrida, Jacques ... 50, 75, 116, 220, 269f., 283, 289, 294, 353, 395, 415 Descartes, René ... 24, 97f., 112, 154, 291, 400 Devereux, Georges ... 122 Dewey, John ... 480 Dilthey, Wilhelm ... 10, 24, 27, 30, 45f., 101, 170, 173, 237, 240, 256, 285, 290, 313 Droysen, Johann Gustav ... 24 Drüe, Hermann ... 444 Duchesneau, François ... 169 Duerr, Hans-Peter ... 38 Ebbinghaus, Hermann ... 13, 21, 187-191, 206, 230 Eccles, John C. ... 368 Echterhoff, Gerald ... 20, 37 Eco, Umberto ... 406 Edison, Thomas Alva ... 397 Ehrenfels, Christian von ... 50 Einstein, Albert ... 27 Eisler, Rudolf ... 57 Elkana, Yehuda ... 115, 308, 321, 327 Ellenberger, Henry F. ... 107 Empiricus, Sextus ... 347 Emrich, Hinderk M. ... 133, 321, 332 Engels, Friedrich ... 28 Enzensberger, Hans Magnus ... 437 Erb, W. ... 46 Ernst, Wolfgang ... 26 Esposito, Elena ... 307 Falke, Gustav-H. H. ... 446 Fechner, Gustav Theodor ... 188 Fehr, Johannes ... 289 Feijoo, Benito Jerónimo ... 321 Ferenczi, Sándor ... 234 Filk, Christian ... 483 Fiore, Quentin ... 335 Flechsig, Paul Emil ... 378, 382, 390f., 393, 397, 399, 410, 414 Flick, Uwe ... 44

Fließ, Wilhelm ... 238, 240f., 328, 456, 489, 500 Flusser, Vilém ... 23 Foerster, Heinz von ... 43, 56, 69, 71f., 80f., 83, 91-93, 96, 297, 306, 337, 399, 436 Foucault, Michel ... 21, 29, 35, 40, 72, 106, 108-112, 121, 174, 176f., 212, 214-218, 223, 283f., 329, 332, 345, 375, 397, 480 Frank, Manfred ... 29 Franz, Michael ... 65, 415 Freud, Sigmund ... 11f., 15-17, 27, 30, 34-36, 46f., 49f., 52, 56, 61f., 67, 79, 86, 88, 97, 100-103, 106-108, 113-130, 133f., 144, 149f., 158, 187, 191-213, 218-223, 225-230, 232f., 236-277, 279, 281-290, 293-295, 297-300, 302-304, 306-317, 320-329, 335, 339-348, 350f., 353, 358, 360, 378, 382f., 388, 392, 394, 396f., 401, 405f., 408f., 415-436, 439-441, 452, 455-478, 482-503 Fröhlich, Werner D. ... 137 Fukuyama, Francis ... 438 Gadamer, Hans-Georg ... 40 Galton, Francis ... 187 Gamm, Gerhard ... 329 Gasché, Rodolphe ... 448 Gehlen, Arnold ... 21, 25, 46 Gheorghiu, Vladimir ... 346 Gibello, Bernard ... 292f., 335 Giegel, Hans Joachim ... 136, 320 Giesecke, Michael ... 217 Gigon, Olof ... 141 Ginzburg, Carlo ... 284, 435 Glanville, Ranulph ... 19f., 44 Glaser, Hermann ... 46 Glasersfeld, Ernst von ... 56, 58, 60, 71, 79, 81, 93, 479 Goebel, Eckart ... 495 Gödel, Kurt ... 28 Goethe, Johann Wolfgang von ... 331, 501 Goffman, Erving ... 91 Goldschmidt, Georges-Arthur ... 393

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8. PERSONENVERZEICHNIS

Gori, Roland ... 348 Gottlob, Susanne ... 483 Gottwald, Franz-Theo ... 38 Grisko, Michael ... 483 Grünbaum, Adolf ... 101 Günther, Gotthardt ... 231 Gumbrecht, Hans Ulrich ... 332 Haas, Norbert ... 114, 327 Habermas, Jürgen ... 27, 32, 40, 98, 101, 494 Haeckel, Ernst ... 38 Hagen, Wolfgang ... 126, 468 Halbwachs, Maurice ... 191, 358 Hall, Stanley ... 187 Hamacher, Werner ... 441 Hamilton, Sir William ... 166 Harth, Dietrich ... 20 Hartley, David ... 163-166, 168, 172 Hartmann, Eduard von ... 222, 271 Haverkamp, Anselm ... 20 Hebel, Kirsten ... 10 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich ... 10, 17, 22, 24, 27, 82, 84, 90, 97, 227, 256, 264, 318, 326, 338, 346, 390, 435, 437-446, 448-455, 468, 474 Hehlmann, Wilhelm ... 137, 173, 188 Heidbrink, Ludger ... 495 Heidegger, Martin ... 23f., 29, 46, 71, 75, 97, 333, 490 Heider, Fritz ... 13, 50-53, 56, 66, 82, 88, 173, 255, 283, 331, 481 Heiligenthal, Peter ... 377 Heine, Heinrich ... 440 Heise, Jens ... 275 Helmholtz, Hermann von ... 200, 494 Henningsen, Peter ... 84 Henrich, Dieter ... 98 Herbart, Johann Friedrich ... 183-187, 210, 222 Hobbes, Thomas ... 142-153, 172, 249 Hobson, Allan J. ... 86 Hölscher, Tonio ... 20 Hösle, Vittorio ... 408 Hofmannsthal, Hugo von ... 224 Hofstätter, Peter R. ... 137

Holenstein, Elmar ... 178, 290, 293f. Holl, Ute ... 10 Horkheimer, Max ... 26, 99 Humboldt, Wilhelm von ... 97, 121, 223, 235 Hume, David ... 141, 156-163, 165, 169, 175-177 Husserl, Edmund ... 10, 28f., 59f., 66, 72, 75, 99, 109, 198, 264, 271, 290-293, 313, 373, 456 Jackson, Hughlings ... 198 Jahoda, Marie ... 222 Jakobson, Roman ... 247 James, William ... 85f., 168, 187 Janich, Peter ... 40 Jappe, Gemma ... 197, 204f., 207 Jaspers, Karl ... 27 Jesenská, Milena ... 415 Jünger, Ernst ... 46, 331, 349 Jüttemann, Gerd ... 44 Jung, Carl Gustav ... 246, 489 Jungius, Joachim ... 130 Kaempfer, Wolfgang ... 433 Kafka, Franz ... 415 Kant, Immanuel ... 10, 27f., 32, 48, 53, 56-58, 63f., 71, 94, 97-99, 106, 114, 144, 163, 175-184, 222, 247, 290f., 343, 368, 406, 431f. Kebeck, Günther ... 262 Keil, Geert ... 14 Khurana, Thomas ... 101, 103-105, 257 Kierkegaard, Sören ... 42, 212, 490 Kim, Jaegwon ... 295 Kittler, Friedrich A. ... 21f., 34f., 49, 74, 88, 113, 125, 189-192, 194, 196f., 210f., 234, 237, 242, 246, 250f., 255, 283-288, 330, 365, 370, 372f., 380, 396-398, 402, 407f., 415, 437, 476, 487, 494 Kleist, Heinrich von ... 366 Köhler, Thomas ... 101, 199, 222, 242, 253, 256 Kojève, Alexandre ... 438 Koller, Christoph ... 10, 441 Kopernikus, Nikolaus ... 27, 485 Koselleck, Reinhart ... 22

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Kraepelin, Emil ... 412 Krafft-Ebing, Richard von ... 46 Kruse, Peter ... 14 Kuhn, Thomas S. ... 108 Kvale, Steinar ... 188, 191 Lacan, Jacques ... 34, 47, 49, 65, 73, 111f., 114, 212, 247, 278f., 283, 292, 306, 316, 319f., 335, 342, 347f., 356, 402, 406, 463, 479, 488f. Lachmann, Renate ... 20 Lang, Hermann ... 341 Lang, Susanne ... 10 Laplanche, Jean ... 294, 339-341 Le Bon, Gustave ... 340, 346 Leclaire, Serge ... 241, 243, 267f., 270 Leibniz, Gottfried Wilhelm ... 143, 172, 222, 368, 381 Lepenies, Wolf ... 101, 106 Lévi-Strauss, Claude ... 27, 111, 124, 239f. Lévinas, Emmanuel ... 71, 75, 111, 333, 490 Lichtenberg, Georg Christoph ... 55 Linke, Detlef Bernhard ... 337 Lipps, Theodor ... 271, 274 Locke, John ... 153-157, 163, 172, 175-177, 190 Löwith, Karl ... 447 Lohmann, Margret ... 10 Lütkehaus, Ludger ... 107 Luhmann, Niklas ... 14, 27, 50f., 55f., 64-67, 69f., 73, 75, 77, 79, 85, 87, 89-91, 96, 104f., 108, 111, 232, 257, 279, 303, 326, 331, 338, 346, 350, 367, 374, 401, 431, 462, 479, 481 Lurija, Alexander R. ... 358 Lyotard, Jean-François ... 10, 28, 438 Mai, Lutz ... 123, 307, 312 Mannoni, Octave ... 267, 269 Marcel, Gabriel ... 500 Margalit, Avishai ... 41 Markowitsch, Hans-Joachim ... 20 Marotzki, Winfried ... 10 Marquard, Odo ... 23, 48, 50, 106 Martens, Ekkehard ... 27

Marx, Karl ... 22, 24, 28, 438 Mathieu, Michel ... 330, 339, 346 Maturana, Humberto... 56, 71, 85, 302, 335f., 338 McGuinness, Brian ... 29 McLuhan, Marshall ... 47, 49, 90, 335 Meiffert, Thorsten ... 10 Meinong, Alexius ... 50 Menninghaus, Winfried ... 305 Merleau-Ponty, Maurice ... 84 Meynert, Theodor ... 200 Mill, James ... 168 Mill, John Stuart ... 168-172, 197, 214 Miller, George A. ... 193 Mitscherlich, Alexander ... 129 Montaigne, Michel de ... 347 Müller, Ulrich A. ... 483 Nestroy, Johann Nepomuk ... 124 Newton, Isaac ... 158 Niederland, William G. ... 376, 381 Niemitz, Carsten ... 80 Nietzsche, Friedrich ... 21f., 24, 26f., 42, 71, 74, 80, 84, 95, 99, 144, 190, 255, 269, 304, 321, 328, 331, 349, 375, 389, 400, 416, 493 Nørretranders, Thor ... 306 Nowack, Walter ... 186 Oexle, Otto Gerhard ... 22 Orzechowski, Axel ... 106 Otto, Gunther ... 10 Panahi, Badi ... 274 Pazzini, Karl-Josef ... 10, 119, 380, 410, 415, 483 Peirce, Charles Sanders ... 33, 65, 328f. Pfeiffer, K. Ludwig ... 332 Pichler, Cathrin ... 46 Piepmeier, Rainer ... 449, 454 Pircher, Wolfgang ... 46 Platon ... 24, 70, 72, 212, 264, 309, 348 Pöppel, Ernst ... 20, 76, 85, 245, 279 Pontalis, Jean-Bertrand ... 294, 339-341 Popper, Karl R. ... 101, 344, 368, 439 Porath, Erik ... 75, 125, 236, 483, 494 Preston, Richard ... 334 Priestley, Joseph ... 165f.

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8. PERSONENVERZEICHNIS

Rapaport, David ... 262 Raulet, Gérard ... 29 Reese-Schäfer, Walter ... 10 Reid, Thomas ... 166 Reijen, Willem van ... 29 Rickels, Laurence A. ... 50 Rickert, Heinrich ... 101 Ricœur, Paul ... 20, 101, 290, 293f. Riepe, Manfred ... 36 Rilke, Rainer Maria ... 13, 16, 353-366, 368-372, 374, 435f. Rössner, Hans ... 111 Rötzer, Florian ... 334 Rorty, Richard ... 11 Rosenfield, Israel ... 67, 75, 90 Roth, Gerhard ... 14, 69, 279, 302, 306, 337f., 346, 384 Rusch, Gebhard ... 14 Russell, Bertrand ... 297 Saar, Martin ... 20 Sacks, Oliver ... 84 Sander, Angelika ... 10 Sartre, Jean-Paul ... 116, 118 Saussure, Ferdinand de ... 32f., 66, 111, 127, 136, 194, 197, 223, 247, 251, 289, 349f. Schadewaldt, Wolfgang ... 320 Schäfer, Lothar ... 99 Scheidt, Carl Eduard ... 35 Schelske, Andreas ... 10 Schiller, Friedrich ... 490 Schirrmacher, Wolfgang ... 46 Schleiermacher, Friedrich ... 19, 473 Schmid, Wilhelm ... 85, 314 Schmidt, Nicole D. ... 10, 45, 106 Schmidt, Siegfried J. ... 19f., 37, 85 Schmitz, Gerhard ... 36 Schmitz, Hermann ... 445 Schnädelbach, Herbert ... 9, 14, 27-29, 31, 97, 99-111 Schönherr, Hans-Martin ... 46 Schöpf, Alfred ... 134 Schopenhauer, Arthur ... 27, 65, 99, 114, 222, 343 Schreber, Daniel Gottlieb Moritz ... 376

Schreber, Daniel Paul ... 13, 17, 211, 353, 375-377, 379-415, 435f. Schröder, Jürgen ... 295 Schrödinger, Erwin ... 434 Schuller, Marianne ... 432 Schulte, Joachim ... 29 Searle, John R. ... 144 Seidel, Florian ... 334 Sellars, Wilfried ... 320 Semon, Richard ... 47 Shakespeare, William ... 499 Shannon, Claude E. ... 306 Sheldrake, Rupert ... 36, 38 Simmel, Georg ... 269, 287 Simonides von Keos ... 22 Singer, Wolf ... 136 Sloterdijk, Peter ... 27, 29 Snow, Charles Percy ... 101 Sokrates ... 72 Sonnemann, Ulrich ... 249 Spencer-Brown, George ... 79, 87, 232, 373, 431 Spengler, Oswald ... 331 Spinoza, Baruch de ... 188 Spitta, H. ... 256 Stadler, Michael ... 14 Stewart, Dugald ... 166 Strowick, Elisabeth ... 42 Strümpell, L. ... 266 Suhr, Martin ... 9 Sulloway, Frank J. ... 199 Tansey, Mark ... 364 Taureck, Bernhard ... 10, 25, 29, 31, 101f., 114, 117 Tausk, Viktor ... 347f. Taylor, Frederick Winslow ... 45 Theunissen, Michael ... 20, 445, 454 Thies, Christian ... 10 Tholen, Georg Christoph ... 9, 34, 36, 53, 119, 330, 349, 423, 480, 483 Thompson, D’Arcy Wentworth ... 37-39 Thüring, Hubert ... 441, 454 Trabant, Jürgen ... 226, 235 Turing, Alan M. ... 35 Uexküll, Jakob von ... 70

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GEDÄCHTNIS DES UNERINNERBAREN

Vaihinger, Hans ... 343 Varela, Francisco ... 72, 302, 338 Vedder, Ulrike ... 10, 415 Vico, Giovanni Battista ... 98, 408 Völker, Ludwig ... 495 Vogl, Joseph ... 329 Volk, Reinhard ... 377 Vollmer, Gerhard ... 330 Wagner, Richard ... 385 Wahrig-Schmidt, Bettina ... 145f., 152 Watzka, Heinz ... 10 Weaver, Warren ... 306 Weber, Ernst Heinrich ... 188 Weber, Samuel M. ... 10, 220, 376-381, 396, 401, 404-406 Wegener, Mai ... 16, 299 Weibel, Peter ... 483f. Weigel, Sigrid ... 10, 37, 136, 261, 321, 435, 441, 477 Weinrich, Harald ... 358, 406 Weizsäcker, Carl Friedrich von ... 111 Weizsäcker, Viktor von ... 129 Welsch, Wolfgang ... 138, 336 Welzer, Harald ... 20, 37 Wendel, Hans Jürgen ... 14 Wernicke, Carl ... 192 Whitehead, Alfred North ... 58 Widmer, Peter ... 488 Wiener, Norbert ... 297, 301, 305f. Winckelmann, Johann Joachim ... 408 Windelband, Wilhelm ... 101, 173 Winson, Jonathan ... 198 Wittgenstein, Ludwig ... 32f., 91, 97, 331 Wundt, Wilhelm ... 111, 168, 173, 187, 266 Yates, Frances A. ... 22 Zemb, Jean-Marie ... 139 Ziehen, Theodor ... 245 Zill, Rüdiger ... 319 Zimmermann, Jörg ... 9 Zizek, Slavoj ... 330 ^ ^

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Die Titel dieser Reihe:

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse II Setting, Traumdeutung, Sublimierung, Angst, Lehren, Norm, Wirksamkeit

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) (unter Mitarbeit von Jeannie Moser) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen

November 2005, ca. 150 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-391-7

Februar 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-284-8

Erik Porath Gedächtnis des Unerinnerbaren Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse

Jutta Prasse Sprache und Fremdsprache Psychoanalytische Aufsätze (herausgegeben von Claus-Dieter Rath)

Oktober 2005, 542 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 3-89942-386-0

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse I Einfühlen, Unbewußtes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion April 2005, 160 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 3-89942-348-8

2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-322-4

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-269-4

Peter Widmer Angst Erläuterungen zu Lacans Seminar X 2004, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-214-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Titel dieser Reihe: Marianne Schuller, Gunnar Schmidt Mikrologien Literarische und philosophische Figuren des Kleinen 2003, 182 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-168-X

Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002, 224 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-104-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de