Geburt und Teufelsdienst. Franz Kafka als Schriftsteller und als Jude [1. ed.]
 9783826038020

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Manfred Voigts

Geburt und Teufelsdienst Franz Kafka als Schriftsteller und als Jude

Königshausen & Neumann

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ISBN 978-3-8260-3802-0 www.koenigshausen-neumann.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

In Erinnerung an Klaus Hermsdorf

·Über sein Nachwort zu einer Kafka-Ausgabe von 1964: „ 0 schöne Zeit, damals glaubte ich immer noch, ich könnte Kafka verstehen.« Wenige Jahre später lehnte er die Vorstellung ab, ,,Kafkas Texte seien wie beliebige andere und mit meinem ,eindeutigen c Ergebnis interpretierbar. Vielmehr sei ihre Undeutlichkeit kein Mangel, sondern das Grundelement einer packenden, auf die Herausforderung des Lesers gestellten Ästhetik. '' Klaus Hermsdorf: Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten. Hrsg. v. Gerhard Schneider u. Frank Hörnigk, Berlin 2006, S. 198 u. 236

Inhaltsverzeichnis Vorwort ..........................................................................., ................ 9 1

Lesen ...................................................-.............................. 15

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Zwei Beispiele............................................................. 39

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Schreiben als Geburt .................................................. 47

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Judentum ............................................................................75

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Chassidismus und Zionismus .................................... 75

4.2

Abgötterei und heilige Schrift ................................... 95

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Vorwort Im Zentrum des Interesses der Kafka-Forschung steht seit längerem Kafkas Identität als Jude und - daraus abgeleitet - sein Interesse und seine Stellung gegenüber den Fragen des Judentums seiner Zeit. Eine zweite immer 'Stärker werdende Auseinandersetzung mit Kafka setzt sich ganz von den traditionellen Formen der Interpretation ab und sagt, dass Kafka gar nicht verstanden werden kann, dass seine Texte in alle Richtungen und daher ohne jede Verbindlichkeit und Autorität für andere Leser interpretiert werden können. Ein extremes Beispiel hierfür ist die umfangreiche Beschäftigung mit Kafkas Roman Das Schloß, die eine Art Selbstanalyse mit Hilfe dieses Textes darstellt; dort heißt es gleich zu Beginn, dass „Kafka nicht verstanden werden darf". Kafka dürfe nicht verstanden werden, weil jeder ,objektive', also die Subjektivität des Lesers zumindest der Tendenz nach unterdrückende Zugang zu Kafka das eigentliche Problem verschleiere, nämlich die „Auswirkung der Texte" auf den Leser 1• Nur im Dialog mit dem Text könne dieser erschlossen werden, die Subjektivität' des Zuganges zum Text sei unabdingbarer Teil des Verstehensprozesses. Werden die Probleme der Interpretation in dieser Weise im Rahmen einer psychologischen Analyse von Übertragung und Gegenübertragung erörtert, dann fehlt jede Möglichkeit, literarische oder historische Deutungsansätze einzuführen und es gibt hier keine Möglichkeit, nach Kafka als Juden auch nur zu fragen. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Kafka-Philologie nicht zu lange einer ,,Inversion von Textbegehren und Interpretationsbegehren" gefolgt ist: ,,Während der Text auf der ganzen Linie eine diskontinuierliche, inkohärente und unlogische Handlung ausbreitet, unternimmt die Interpretation den Versuch, diese Geste als Ausdruck eines kontinuierlich vorgetragenen, kohärenten und in sich logischen Ausdrucks zu begreifen. "2 Schon 1971 hat Heinz Politzer gefragt, ob nicht alle Deutungen des Schlossesselbst ,Luftschlösser' sind, weil man „den kakanischen Juden Kafka am Richtmaß der klassischen deutschen Ästhetik und ihrer Tradition" gemessen habe: ,,Kafirn kommt vielmehr aus Prag, diesem Wetterleuchtwinkel Europas, in dem sich slawische, jüdische und deutsche Geschichte unlösbar ineinander verfitzt hatte, der Stadt des Habsburger Kaisers Rudolf II., des Rabbi Löw und des Golem, die stets von Eindringlingen umkämpft, doch nie in ihrem Inneren erobert worden ist. "3 Ebenso - dies kann

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Alfrun von Vietinghoff-Scheel: Es gibt für Schnee keine Bleibe. Trauma-analoge Literaturdeutungstheorie als Beziehungsanalyse von Text und Leser am Beispiel von Franz Kafkas ,,Schloß", Frankfurt am Main 1991, S. 7. Christian Schärf: Franz Kafka. Poetischer Text und heilige Schrift, Göttingen 2000, S. 135. Heinz Politzer: Einleitung, in: Franz Kafirn, hrsg. v. Heinz Politzer (Wege der Forschung Bd. CCCXXII), Darmstadt 1973, S. 14.

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wohl hinzugefügt werden - wurde Kafka umkämpft, aber nie in seinem Inneren erobert. Dass Kafka ein deutschsprachiger Schriftsteller 4 war, wird ebenso wenig bezweifelt wie dass er ein Jude war. In den Literaturgeschichten kann man viel lesen über Personen, für die diese doppelte Bestimmung kein ernsthaftes Problem war. Bei Kafka allerdings -:,dies ist eine zentrale These dieses Versuches - war es ein Problem, vielleicht soga~ ein zentrales Problem seiner Existenz als Schriftsteller. Bei den Deutungen Kafkas, die auf sein Judentum abzielten, vVUrdefast ausschließlich der Blick von ihm aus auf das Judentum gewendet, selten wurde danach gefragt, wie denn das Judentum zu Kafka stehe. Diese Frage schließt ein, dass Kafka vom Judentum aus auch durchaus kritisch gesehen werden kann. Als erster, den Titel erklärender Hinweis auf die im letzten Abschnitt darzustellende Problematik sei schon hier auf Moses Mendelssohn hingewiesen, für den „das Bedürfnis der Schriftzeichen die erste Veranlassung zur Abgötterei" war; für Kafirn war das Schreiben „Lohn für Teufelsdienst" 5 • Es wäre sicher aufschlussreich, Kafkas Reaktion auf eine Lektüre von Mendelssohns Jerusalem oder iiber religiöse Macht und Judentum von 1783 zu kennen, aber er kannte den Text nicht. Das kann auch nicht überraschen, denn weder bei den Ostjuden und Chassiden noch bei den Zionisten wurde Mendelssohn geschätzt, er galt bei beiden eher als einer, der die guten Traditionen verdarb und den Weg in die Assimilation ebnete. Kafka war kein aktives Mitglied einer jüdischen Gemeinde, er richtete seinen Lebenswandel in keiner Weise nach jüdischen Vorschriften und Gesetzen ein - dies ist seit langem bekannt. Ein Schriftsteller aber unterliege - so die gängige Meinung - anderen Maßstäben als dem der religiösen ,Korrektheit', Literatur dürfe an religiösen Maßstäben nicht gemessen werden. Dennoch wurde immer wieder versucht, jüdisch-religiöse Hintergründe in Kafkas Texten aufzuspüren. Das Problem dabei ist, dass die moderne Literatur zwar auch religiöse Elemente enthält, dass diese aber nicht im traditionellen Sinne konfessionell gebunden sind; wo dies dennoch geschieht, ist fraglich, ob solche konfessionell gebundene Literatur ,modern' ist. Im Falle Kafka stellte sich diese Problematik allerdings in

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Die häufig zitierten Texte Kafkas werden im Text zitiert nach der Ausgabe der Werke in der Fassung der Handschrift mit folgenden Sigeln: Proc = Der Process, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990; NSF = Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. I, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1993; Bd. II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 1992; Tagebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990; DzL = Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Wolf Kitder u, Gerhard Neumann, Frankfurt am Main 1994; die häufig zitierten Briefsammlungen werden mit folgenden Sigeln zitiert: BK.Brw = Max Brod Franz Kafka. Eine Freundschaft, hrsg. v. Malcolm Pasley, Bd. II: Briefwechsel, Frankfurt am Main 1989; BrF = Franz Kafirn: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hrsg. v. Erich Heller u. Jürgen Born, Frankfurt am Main 1979; BrM = Franz Kafka: Briefe an Milena, erweit. u. neu geord. Ausgabe, hrsg. v. Jürgen Born u. Michael Müller, Frankfurt am Main 1983. Nachweise im letzten Kapitel.

einer besonderen und besonders widersprüchlichen Form dar: Dass Kafka ein moderner Schriftsteller war, dass er heute als Klassiker der Moderne gilt, kann ernsthaft nicht bezweifelt werden; andererseits aber thematisierte er mit einer größeren Intensität als viele andere Fragen, die im Zentrum des Judentums standen und stehen: die Frage nach dem Gesetz und nach einem persönlichen Gott. Da. Kafka in seinen Texten aber fast nie explizit auf das Judentum einging, konnten diese Fragen auch ganz anders, nämlich als allgemein philosophisch oder gar als christlich 6 gedeutet werden. In dieser ungewöhnlichen Konstellation haben Kafkas Werke die verschiedensten Interpretationen erfahren, die aber nur selten die innere Spannung der Widersprüche, in denen Kafka als Autor stand, ausreichend berücksichtigten. Der hier vorgelegte Versuch setzt sich zum Ziel, nicht die ,Inhalte' der Texte zum Judentum in Verbindung zu setzen, denn diese sind als solche von der Schreibweise Kafkas gar nicht zu lösen; nicht eine neue Interpretation soll den zahllosen Interpretationen hinzugefügt werden, sondern das Problem der objektiven Uninterpretierbarkeit der Texte Kafkas, deren Zustandekommen er als ,Geburt' bezeichnete, soll mit seiner Existenz als Jude verbunden werden, indem das eine durch das andere möglichst weit erschlossen werden kann. Dies erfordert eine genauere Untersuchung von Kafkas Texten und seiner Schreibweise, bevor die Fragen der Verbindung mit dem Judentum angegangen werden können. In der Kafka-Forschung wurde jeder kritische Blick vom Judentum aus auf Kafka vermieden. Immer wurde das Judentum von Kafkas Perspektive aus in den Blick genommen, nie wurde von der Hauptströmung des Judentums aus auf Kafka gesehen. Dadurch stellte sich sein Verhältnis zum Judentum fast ausschließlich so dar, dass Kafka als West-Jude dargestellt wird, der zum vollgültigen Judentum zurückkehren wollte und dies zumindest am Ende seines Lebens auch hätte tun können. Diese Möglichkeit aber bestand - wie darzustellen sein wird - tatsächlich nicht; Kafka war und blieb West-Jude, und selbst die in Aussicht genommene Übersiedelung nach Jerusalem hätte hieran nichts ändern können. Es gibt m. W. nur eine Ausnahme, eine Darstellung Kafkas, die diesen vorn Standpunkt der Hauptströmung des Judentums aus betrachtet. 1954, zum dreißigsten Todestag Kafkas, schrieb der große aus dem Judentum stammende Germanist Fritz Strich den Aufsatz Franz Kafka und das Judentum; dieser ist heute praktisch vergessen, und auch Fritz Strich kennt man allenfalls als Autor des Buches Deutsche Klassik und Romantik von 1922. Strich hat die Grundpositionen des Judentums beschrieben und Kafka an diesen gemessen: Das Judentum verlangt vom Menschen viel, sehr vie an Leid und Mühe. Aber es behütet ihn auch vor der Lebensangst und Verzweiflung, weil es ihm eine höchste, wenn auch schwerste Bestimmung gibt: nämlich Genosse der Schöpfung zu sein, und das heißt, sich an der Errichtung des Got6

S. Rudolf Kreis: Kafkas ,Proceß'. Das große Gleichnis vom abendländisch „verurteilten Juden". Heine - Nietzsche - Kafka, Würzburg 1996; bei aller Sympathie für Juden bleibt Kreis auch in seiner Argumentation Christ.

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tesreiches, welches das Reich der Liebe und der Gerechtigkeit ist, zu bewähren und damit erst die Schöpfung zu vollenden und Gottes Einheit in der Gemein.schaft alles Lebens zu verwirklichen. Die jüdische Religion ist von Ethos gar nicht zu trennen. Das macht ihren einzigartigen Charakter aus, daß sie auf Religion gründet, aus Religion strömende Sittlichkeit ist.7

Kafka kannte diese zentrale/'überzeugung des Judentums, sein Schulfreund Hugo Bergmann, der schon 1921 nach Palästina ging und dort erster Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem wurde, veröffentlichte 1914 in dem vom ,Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag' herausgegebenen Sammelband Vom Judentum den Aufsatz Die Heiligung des Namens, in dem es heißt: So ist also der Mensch ebenso Welterhalter wie Gott. Gott schuf die Welt, der Mensch aber erhält sie, indem er sie als göttlich erkennt; er erhält seine Welt, indem er sich mit dem Göttlichen vereinigt, es in seine Welt herunterbringt. Wer eine sittliche Tat vollbringt, wie z. B. der gerechte Richter, wird ein Genosse des Heiligen im Werke des Urbeginns. 8

Es ist sogar denkbar, dass Fritz Strich selbst diesen seiner Zeit breit rezipierten Aufsatz 9 kannte. Kafka jedenfalls konnte nach Strichs Meinung diesen Anforderungen des Judentums nicht entsprechen; über den in diesem Sinne lebenden Juden schrieb Strich: Er steht nicht sein Leben lang vor jener Tür des Gesetzes, das der Mensch in Kafkas Roman nicht betreten darf. Er schreitet hinein; kein Türhüter karin und wird ihm den Eingang wehren, kein Schloß kann und wird ihm den Weg versperren. Er hört auf die Stimme, die ihn ruft, und folgt ihr, vertrauend und gehorchend. 10

Fritz Strich zitierte die berühmte - und hier noch zu betrachtende - Passage, in der Kafka schrieb, dass er weder dem Christentum noch dem Judentum angehöre: ,,Ich bin Ende oder Anfang."" (NSF II 98) Strich kommentierte: Ende oder Anfang! Ich meine, daß er ein Ende ist, weil das Judentum in ihm seine Dekadenz erlebte und die jüdische Religion ja doch eine messia-

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Fritz Strich: Franz Kafka und das Judentum, in: Kunst und Leben. Vorträge und Abhandlungen zur deutschen Literatur, Bern und München 1960, S. 149. Hugo Bergmann: Die Heiligung des Namens (Kiddusch haschem), in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1914, S. 35; der Satz endet mit Anführungsstrichen, der Beginn des Zitates, das Bergmann nachweist, ist nicht gekennzeichnet. S. Manfred Voigts: Mathematik und Telepathie. Zu Hugo Bergmanns umgreifender Weltsicht, in: Mystik, Mystizismus und Modeme in Deutschland um 1900, hrsg. v. Moritz Baßler u. Hildegand Chatellier, Strasbourg 1998, S. 142. Fritz Strich: Franz Kafka und das Judentum, a.a.O. S. 149f.

nische ist, die ihre hohe Forderung erst in der Zukunft verwirklichen kann. 11

Hier wurde Kafka von einer rabbinisch-jüdischen Position aus durchaus kritisch, letztlich sogar ablehnend beurteilt. Diese Kritik aber war religiös-weltanschaulich begründet und konnte Kafka als Schriftsteller gar nicht erfassen. Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, Kafkas Literatur von ihren Besonderheiten her zu verstehen, von den Eigenheiten also, die Kafkas Texte von den Texten anderer Schriftsteller unterscheiden. Diese Besonderheiten, die zu der unendlichen Interpretierbarkeit seiner Texte führen, können zurückgeführt werden auf Besonderheiten seiner Schriftstellerexistenz und seiner Art und Weise zu schreiben. Zwei Beispiele, die Untersuchung eines Details aus Ein altes Blatt und eine Lektüre von Schakale und Araber, sollen die Problematik der Unverständlichkeit exemplarisch verdeutlichen. Diese Besonderheiten, weniger also die ,Inhalte' seiner Texte - falls man von ihnen bei Kafka überhaupt sprechen kann-, sollen in den Schlussabschnitten in einen Zusammenhang mit dem Judentum gestellt werden, wobei dieses Judentum nicht ausschließlich von Kafka aus gesehen werden kann; neben den Richtungen des Ostjudentums und des Chassidismus auf der einen Seite und dem Zionismus auf der anderen Seite, denen Kaflca verbunden war, dürfen die zentralen jüdischen Traditionen, die sich weiterhin der Orthodoxie verbunden fühlten, nicht übersehen werden. Im letzten Abschnitt wird versucht, Kafka gewissermaßen aus der Sicht von Moses Mendelssohn zu sehen, einem Großen der jüdischen Tradition. Innerhalb dieses Zusammenhanges sollen positive wie negative Beziehungen dargestellt werden, die eine differenzierte, also weder schlicht positive noch schlicht negative Beurteilung ermöglichen.

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Ebd. S. 150.

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LESEN

Die in der neueren wissenschaftlichen Literatur bezeugte Verwirrung bei der Lektüre der Texte Kafkas stellt nicht den Anfang der Problematik dar, sondern das Ende. Es war eine sehr wichtige Feststellung von Christian Schärf, als er Kafka als den ersten Leser seiner Texte bezeichnete, denn trotz seiner Autorschaft wusste er nach dem Schreiben nicht, ,,was er in seinem Text eigentlich sagen wollte" 12• Dies betraf nicht nur seine literarischen Texte; im Oktober 1914 schrieb er im Tagebuch: Das Tagebuch ein wenig durchgeblättert. Eine Art Ahnung der Organisation eines solchen Lebens bekommen. (TB 681)

Im Februar 1913 notierte er im Tagebuch: Anläßlich der Korrektur des „Urteils" schreibe ich alle Beziehungen auf, die mir in der Geschichte klar geworden sind, soweit ich sie gegenwärtig habe. (TB 491) -

Nach einer Darstellung der Beziehungen zwischen den Personen ging er auf die Namen ein und versuchte bis in einzelne Buchstaben hinein Beziehungen zu seinem eigenen Namen herzustellen. Vier Monate später schrieb er an Felice: Findest Du im „Urteil" irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären. Aber es ist viel Merkwürdiges daran. Sieh nur die Namen! (BrF 394)

Und wieder versuchte er Beziehungen mittels der Namen herzustellen, diesmal vor allem zu Felice Bauer. Gerade die im Entstehungsprozess veränderten Namen waren für Hartmut Binder „ein Indiz für das unkontrollierte, freie Fließen des vorbewußten Vorstellungsstromes, dessen Gesetzmäßigkeit dem Autor trotz inzwischen erfolgter mehrmaliger Lesung des Urteils erst bei der im Zusammenhang mit der Drucklegung erfolgen Fahnenkorrektur bewußt wurden. "13 Ganz ähnlich verhielt es sich nach der Niederschrift von Vor dem Gesetz, als er die Geschichte Felice vorlas: Mir gieng die Bedeutung der Geschichte erst auf, auch sie erfasste sie richtig, dann allerdings fuhren wir mit groben Bemerkungen in sie hinein, ich machte den Anfang. (TB 723)

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Christian Schärf: Franz Kafka, a.a.O. S. 12f. Hartmut Binder: Kafka. Der Schaffensprozeß, Frankfurt am Main 1983, S. 349.

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Vielleicht traf der Satz, den er schon 1903 an seinen Freund Oskar Pollak über Gustav Theotl.or Fechner und Meister Eckehard schrieb, noch genauer auf seine eigenen Texte zu: Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses. 14

Gleichzeitig wird hier eine Bedeutungsebene der späteren Schloss-Imaginationen deutlich, die auf das verschlossene und verrätselte Ich des Autors hinweist: Wenn der Autor selbst sich nicht oder allenfalls ,hinterher' versteht - was kann dann der Leser tun? Nie ist für und bei Kafka etwas unmittelbar verständlich, als sei das Verstehen schon ein Zeichen der Unwahrheit. Über eine Beurteilung der Veröffentlichungen Kafkas durch Rainer Maria Rilke heißt es in einem Brief an Felice: Die Bemerkung ist nicht ohne weiteres verständlich, aber einsichtsvoll. (BrF 744)

In diesen Zusammenhang gehören die vielen Missverständnisse, die in Kafkas Texten eine unübersehbar wichtige, ja zentrale Rolle spielen und die auf eine tief angelegte Unverständlichkeit hinweisen, so, wenn einer der Männer, die Josef K. verhaften sollten, sagt: „Es ist so, glauben Sie es doch", sagte Franz, führte die Kaffeetasse die er in der Hand hielt nicht zum Mund sondern sah K. mit einem langen wahrscheinlich bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blicke an. (Proc 13)

Dass die Figur, die so bedeutungslos-unverständlich blickt, den Namen Franz trug, verweist wieder auf die inneren Verständnisprobleme Kafkas. Der Vorgang des Lesens war bei Kafka situationsabhängig, und wir werden sehen, wie sehr auch sein Schreiben von äußeren Umständen bestimmt wurde. Besonders klare Hinweise finden wir bei seiner Goethe-Lektüre: Ein Verzeichnis jener Stellen aus „Dichtung u. Wahrheit" die durch eine nicht festzustellende Eigenheit einen besonders starken, mit dem eigentlich Dargestellten nicht wesentlich zusammenhängenden Eindruck des Lebendigen machen z.B. die Vorstellung des Knaben Goethe hervorrufen, wie er neugierig, reich angezogen, beliebt und lebhaft bei allen Bekannten eindringt, um nur alles zu sehen und zu hören, was zu sehen und zu hören ist. Da ich jetzt das Buch durchblättere kann ich solche Stellen nicht finden, alle scheinen mir deutlich und enthalten eine durch keinen Zufall zu überbietende Lebendigkeit. Ich muß warten, bis ich einmal harmlos lesen werde und dann bei den richtigen Stellen mich anhalten. (TB 323)

Hier lässt sich der komplizierte und in sich widersprüchliche Lesevorgang rekonstruieren: Der besonders starke Eindruck wird von Passagen hervorgeru-

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Franz Kafka: Briefe 1902-1924, Frankfurt am Main 1975, S. 20.

fen, die mit dem Gesamttext wenig zusammenhängen, dennoch aber einen lebendigen Eindruck hinterlassen; später findet Kafka keine derartigen Stellen, weil alles deutlich und von einer besonderen Lebendigkeit ist, die „durch keinen Zufall" überboten werden kann - ein Hinweis auf Kafkas eigene Schreibweise. So, wie bei Kafka die Bekleidung immer eine große Rolle spielt, stellt er sich hier Goethe „reich angezogen" vor. Beliebt und lebhaft dringt er bei allen Bekannten ein, ein sexueller Unterton ist unüberhörbar. Die Sinnesvorgänge Seh~n und Hören werden ohne Not doppelt benannt. Und dann die Wendung: das Gesuchte könne er nur finden, wenn er „einmal harmlos lesen" kann. Das Lesen war ebenso wenig beherrscht wie das Schreiben. Als Kafka das Drama Eine Königin Esther von Max Brod las, schrieb er ihm aus Zürau: Aber andererseits wußte ich auch im Voraus, daß ich das Stück anders lesen würde, als in der schlechten Unruhe in Prag. Das Ergebnis dessen aber ist, daß ich das Stück weniger gut zu verstehen glaube und daß mir gleichzeitig die Wichtigkeit des Stückes noch mehr aufgegangen ist. (BKBrw 212)

Nicht nur, dass Kafka einen Text an verschiedenen Orten verschieden las und verstand, hier erhöhte außerdem der Mangel an Verständnis die Wichtigkeit des Stückes. Die eigene Unsicherheit beim Lesen hat Kafka wohl von seiner Abhängigkeit vom Leser überzeugt. An Felice schrieb er über die Geschichte Das Urteil: Sie ist ein wenig wild und sinnlos und hätte sie nicht innere Wahrheit (was sich niemals allgemein feststellen läßt, sondern immer wieder von jedem Leser oder Hörer von neuem zugegeben oder geleugnet werden muß) sie wäre nichts. (BrF 156)

Hier spiegelt sich die eigene innerlich gespannte und unsichere Lese-Erfahrung wieder, die kein festes Urteil kennt, sondern bei jedem Lesen neu ansetzen und das Urteil neu bilden muss. Die grundsätzliche Frage, die sich der Leser Werner Kraft stellte, als er Der Jäger Gracchus zu interpretieren versuchte: ,,ob es eine gute Geschichte ist oder eine böse, ob es sich also lohne, über sie nachzudenken, oder ob es besser wäre, nicht über sie nachzudenken" 15 - diese Frage stelle sich bei jedem Lesen neu und könne immer neu auch gegen die „innere Wahrheit" entschieden werden. Die ;Bedeutung der Kafkaschen Selbstdarstellung wird noch klarer, wenn man eine· ähnliche Aussage des expressionistischen Schriftstellers Robert Müller (1887-1924) hinzuzieht. Formuliert wurde sie am Schluss einer Rede im November 1917 in Wien:

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Werner Kraft: Der falsche Tod. Der Jäger Gracchus,in: Franz Kaflca. Durchdringung und Geheimnis,Frankfurt am Main 1972, S. 181.

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Die Kunst dieser Zeit kann man nicht verstehen. Man kann sie nur verdauen oder nicht verdauen. Ob man mit ihr eins wird, ob man sie sich einverleibt, das ist schließlich eine Frage jenes frenetischen Lebensappetites, der diese Generation kennzeichnet. 16

Gerade wegen der Ähnlichkei~ der Aussage mit der Kafkas wird der Unterschied deutlich: Mit der inneren Wihrheit kann man nach Kafka nicht ,eins' werden, man kann sie sich nicht ,einverleiben', die Frage nach ihr muss immer wieder neu beantwortet werden, mit Kafkas Texten kann kein ,Lebensappetit' befriedigt werden. Es ist anzunehmen, dass Kafka gerade einen Leser haben wollte, der nicht über dem Text steht und fast objektiv mit diesem umgeht. Er schrieb in seinem Tagebuch, dass es sich „bei allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen" in seinen Werken um Sterbeszenen handele, denn für den Leser stelle der Tod ein „Unrecht" und eine „Härte" dar, die ,,für den Leser wenigstens meiner Meinung nach rührend wird." Und Kafka fügte an: Für mich aber, der ich glaube auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können, sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Bere~hnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei viel klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird [...] (TB 708)

Kafka hofft und glaubt durch seine Schreibweise den Leser führen zu können, und zwar in der Weise, dass dieser bei weniger klarem Verstande sein solle als er selber: Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklagte, die beiweitem nicht so groß waren wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht so viel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser. (TB 709)

Walter H. Sokel schrieb in diesem Zusammenhang, es sei Kafkas Ziel gewesen, „den Leser zu betrügen. " 17 Auch wenn man so weit nicht gehen will, allein schon deshalb, weil dies eine zu bewusste Strategie gewesen wäre, so ist doch eines sicher: Kafka wollte einen verunsicherten Leser, und er sprach dies klar aus: Überzeugungskraft gegen den Leser gerichtet (NSF I 422)

Dieser lapidare und selten (oder nie) zitierte Satz - dem man die „Kälte gegen das Publikum" (TB 378) zur Seite stellen kann, die er während seines Vortrages über den jüdischen Jargon empfand - zeigt zumindest eines, nämlich dass Kafka 16

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Robert Müller: Die Zeitrasse, in: Der Anbruch. Ein Jahrbuch neuer Jugend, mit einem Nachwort hrsg. v. Otto Schneider u. Arthur Ernst Rutra, München-Pasing 1920, S. 9. Walter H. Sokel: Zur Sprachauffassungund Poetik Franz Kafkas, in: Franz Kafka. Themen und Probleme, hrsg. v. Claude David, Göttingen 1978, S. 26.

nicht gelesen werden wollte wie andere Autoren, dass seine in den Texten gesammelte Überzeugungskraft den Leser aus seiner gewohnten Lese-Haltung herauszwingen sollte, um ihm die entscheidende Frage nach Sinn oder Un-Sinn des Textes in aller Ernsthaftigkeit und Entscheidungsoffenheit zu stellen. Gerhard Neumann hat entsprechend davon geschrieben, dass Kafka „Unstimmigkeiten und Ablenkungsmanöver" veranstaltet habe, um den Leser in einen Bereich zu führen, ,,wo alle starre Begrifflichkeit ins Gleiten kommt;" das Ergebpis von Kafkas paradoxalem Schreiben sei „die Desorientierung des Lesers und die Aufhebung aller herkömmlichen Denkgesetze" 18• Ob solche ,Manöver' von Kafka tatsächlich bewusst eingesetzt worden sind, erscheint angesichts seiner ,unbeherrschten' Schreibweise - die im dritten Kapitel dargestellt wird - fraglich, aber dass der Leser und damit auch die Notwendigkeit, ihn zu einer bestimmten Art und Weise des Lesens zu führen, eine große Rolle in Kafkas Schreib-Motiven spielte, ist offensichtlich 19• Dieses besondere Verhältnis des Lesers zu Kafkas Werk wurde von Hannah Arendt schon 1944 erkannt und beschrieben: Das einzige, was den Leser in Kafkas Werk lockt und verlockt, ist die Wahrheit selbst, und diese Verlockung ist Kafka [...] bis zu dem unglaublichen Grade geglückt, daß seine Geschichten auch dann in Bann schlagen, wenn der Leser ihren eigentlichen Wahrheitsgehalt erst einmal nicht begreift. Kafkas eigentliche Kunst besteht darin, daß der Leser eine unbestimmte, vage Faszination, die sich mit der unausweichlich klaren Erinnerung an bestimmte, erst scheinbar sinnlose Bilder und Begebenheiten paart, so lange aushält und sie so entscheidend in sein Leben mitnimmt, daß ihm irgendwann einmal, auf Grund irgendeiner Erfahrung plötzlich die wahre Bedeutung der Geschichte sich enthüllt mit der zwingenden Leuchtkraft der Evidenz. 20

Arendt betont das Subjektive des Lesevorganges, sie hält es offenbar sogar für möglich, dass einem Leser, der die enthüllende Erfahrung nicht macht, die Evidenz verborgen bleibt. Dass hinter Kafkas Werk, das sich nicht selbst der Erkenntnis öffnet, eine Wahrheit verborgen ist, unterliegt für Arendt keinem Zweifel, sie macht die Erkenntnis dieser Wahrheit aber von einem Ereignis abhängig, das mit dem Text in keinem kausalen Zusammenhang steht und den Text von außen erschließt. Eine andere Passage bei Hannah Arendt lautet:

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Gerhard Neumann: Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas „Gleitendes Paradox", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft: Literatur des 20.Jahrhunderts, 42. Jg. Nov. 1968, S. 722 u. 726. S. Hans-Thies Lehmann: Der buchstäbliche Körper, Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Kafka, in: Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt am Main 1984, S. 225. Hannah Arendt: Franz Kafka, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt am Main 1976, S. 89.

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Zu ihrem Verständnis bedarf der Leser der gleichen Einbildungskraft, die am Werke war, als sie entstanden, und er kann dies Verständnis aus der Einbildungskraft her leisten, weil es sich hier nicht um freie Phantasie, sondern um Resultate des Denkens selbst handelt, die als Elemente für die Kafkaschen Konstruktionen 'benutzt werden. Zum ersten Male in der Geschichte der Literatur_i\terlangt ein Künstler von seinem Leser das Wirken der gleichen Aktivitat, die ihn und sein Werk trägt. 21

Wenn Arendt hier auch von einem ,Denken' sprach und die ,freie Phantasie' verwarf, so ist die Grunderkenntnis doch richtig: Der Leser muss dem ,Wirken', also der Schreib-Tätigkeit folgen, um ein Verständnis der Texte Kafkas zu erlangen. Deutlicher als 1944, als der Widerspruch der beiden Zitate eigentlich offensichtlich war - einmal führen äußerliche Umstände zum Verständnis, dann aber der N achvollzug der Einbildungskraft -, können wir heute auf der breiten Textbasis erkennen, dass bei Kafka gerade hier kein Widerspruch existiert, dass äußerer Einfluss und innere Einbildungskraft gerade und nur bei Kafka eine unauflösbare Einheit bilden. Gewöhnlich wird der professionelle Leser vom normalen, in gewissem Sinne dilettantischen Leser unterschieden. Der professionelle Leser ist der Germanist, der eine wissenschaftlich geleitete und geschichtlich fundierte Interpretation vornimmt, der normale Leser lässt den Text auf sich wirken und versucht sein eigene Position ihm gegenüber zu finden. Der Germanist muss davon ausgehen, dass seine Interpretation- die Intentionen des Schriftstellers aufnehmen kann und diese affirmativ oder kritisch mit den Traditionen verbinden kann. Beides kann bei Kafka nicht oder nicht in der gewohnten Weise vorausgesetzt werden. Weder konnte die Germanistik bisher eine weitgehend unbezweifelte Intention des Autors nachweisen, noch konnte sie einen Konsens über jene Traditionen finden, in die sich Kafka gestellt hat oder mit denen er verbunden werden konnte. Für die wissenschaftliche Germanistik ist Kafkas Werk ein Grenzphänomen, das gerade wegen dieser Eigenart unzählige und unvereinbare Interpretationen hervorgerufen hat. Die Ursachen der weltweiten Faszination der Texte Kafkas können zwar nur vermutet werden, aber es liegt nahe, sie in der Besonderheit zu finden, dass jeder Text Kafkas „einen unentrinnbaren Deutungszwang" ausübt 22 • Schon 1954 stellte Fritz Strich fest: ,,Kein Wort, kein Satz, kein Bild, bei dem man nicht zur Deu-:tung genötigt würde und trotzdem nie auf festen Boden gelangt. "23 So, wie der Germanist mit seiner notwendigen Voraussetzung, dass der Text interpretierbar sei, scheitert, so ist umgekehrt der normale Leser gezwungen, in den Prozess der nicht beendbaren Interpretation einzutreten. Es wurde schon zitiert, dass nach Kafka die „innere Wahrheit" des Textes „immer wieder von jedem Leser oder 21

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Ebd. S. 101. Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 94. Fritz Strich: Franz Kafka und das Judentum, a.a.O. S. 140.

Hörer von neuem zugegeben oder geleugnet werden muß" (BrF 156) - ein Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer vorausgesetzten Interpretierbarkeit; aber auch hier bleibt Kafka zweideutig: Sowohl das ,Zugeben' als auch das .,Leugnen' setzt gerade diese innere Wahrheit des Textes voraus. Kafkas Texte entziehen sich den klassischen Möglichkeiten der Interpretation, wie sie vor allem von Hans-Georg Gadamer beschrieben wurden. Die Einzelheiten in seinen Texten gehorchen nicht den Vorgaben, dass sie nur im Rahmen des Ganzen verstanden werden können, wie umgekehrt das Ganze erst von der Gesamtheit der Einzelheiten bestimmt wird 24 • Gadamer beschrieb emphatisch die Leistung der Schrift: Nichts ist so sehr reine Geistesspur wie Schrift, nichts aber auch so auf den verstehenden Geist angewiesen wie sie. In ihrer Entzifferung und ihrer Deutung·geschieht ein Wunder: die Verwandlung von etwas Fremdem und Totem in schlechthinniges Zugleichsein und Vertrautsein. Keine sonstige Überlieferung, die aus der Vergangenheit auf uns kommt, ist dem gleich. [...] Wer schriftlich Überliefertes zu lesen weiß, bezeugt und vollbringt die reine Gegenwart der Vergangenheit." 25

Nicht nur das ,Vertrautsein' kann bei Kafka nicht zutreffen, auch das ,Zugleichsein' passt bei ihm nicht. Bei ihm ist die Zeit keineswegs „der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt." Der Abgrund der Zeit ist bei Kafirn keineswegs „angefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt. "26 Kein ,Licht der Überlieferung' kann die Texte Kafkas erleuchten und verständlich machen; umgekehrt zeigen die Details, in denen Kafka an Überlieferungen anknüpft, gerade die Unmöglichkeit dieser Anknüpfung. Die Texte, in denen er sich ausdrücklich mit alten Traditionen befasst, Das Schweigen der Sirenen, Prometheus und Poseidon, haben keine breiter akzeptierte, d. h. traditionsbildende Interpretation gefunden. Der Text Prometheus, dessen Anordnung im Original anders ist als in der von Brod herausgegebenen Fassung, zeigt gerade die schrittweise Negierung der Sage, denn hier schließt sich, wenn auch „müde", die Wunde (NSF II 70). Gleich am Beginn des Textes - nicht wie bei Brod am Ende heißt es: Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden. (NSF II 69)

Die Sage, die das Unerklärliche erklären will, endet wieder im Unerklärlichen nicht wegen eines Unvermögens der Erklärung, sondern aufgrund der Bindung

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S. Hans-Georg Gadamer:Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tübingen 1975, S. 166. Ebd. S. 156. Ebd. S. 281.

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an den Wahrheitsgrund. Wahrheit ist hier unübersehbar gegen alle erklärende Tradition gestellt. Der zentrale Ausgangspunkt der traditionellen Interpretation ist der Autor, auch wenn er nur Ausgangspunkt ist: ,,Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines TeJStes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets,r~uch ein produktives Verhalten. « 27 Dieses produktive Verstehen setzt die Intention des Autors, die mens auctoris voraus, die bei Kafka - was noch deutlicher zu zeigen sein wird - aber nicht gegeben ist. Das Fehlen des auktorialen Erzählers begründet bei ihm die Möglichkeit der unendlichen Interpretation. Dies betrifft aber auch den Gegensatz zur klassischen Interpretation, den Dekonstruktivismus. Wenn es diesem um den Widerspruch gegen den „Traum vom Transzendieren der Lektüre" und gegen eine „Flucht von der Materialität der Zeichen in den Geist" geht 28 , was Gadamer zentral trifft, so scheint dies Kafkas Texten zunächst angemessen zu sein: ,,Texte auf ihre Unlesbarkeit hin zu lesen bedeutet, gegen den Verstehenszwang als eine immanente oder angelernte Tendenz des menschlichen Geistes anzugehen und im Gegenzug dazu herauszustellen, was die Sinnproduktion notwendig verstellt: das Widerständige, Unzusammenhängende, Fragmentarische, Beziehungslose, Entzogene, Verlorene." 29 All dies scheint auf Kafka zuzutreffen, scheint ihm gegenüber der angemessene Standpunkt zu sein. Aber die Dekonstruktion bezieht sich auf Texte, die in sich sinnvoll strukturiert sind, weshalb die Kraft der Dekonstruktion allein vom Leser ausgeht: ,,Die Fundamentalisierung der Lektüre zerstört die Illusion einer objektiv gültigen, vorbildlichen, übertragbaren Interpretation." 30 Diese Zerstörung aber braucht bei Kafka vom Leser nicht mehr geleistet zu werden, Kafka selbst hat sie in seinen Texten schon vollbracht, an ihnen kann sich keine interpretatorische Illusion aufrichten, um dann zerstört zu werden. Eigentlich ist diese Situation bekannt, aber immer wieder wurden die Konsequenzen nicht realisiert. Jost Schillemeit hat bei Wilhelm Emrich kritisiert, dieser habe „sich grundsätzlich gegen jede allegorische oder symbolische Interpretation ausgesprochen, sei dann aber, in der Durchführung, Aussagen wie: die Beamten im Schloßseien ,Repräsentanten' der ,Gesetzmäßigkeit des Dasein' oder auch: sie seien ,nichts anderes als diese Selbstbeobachtung des Menschen', nicht entgan-

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22

Ebd. S. 280. Aleida Assmann: Einleitung: Metamorphqsen der Hermeneutik, in: Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, hrsg. v. Aleida Assmann, Frankfurt am Main . 1996, s. 18 Ebd. S. 16. Ebd. S. 19.

gen." 31 Nur so konnte er zu Aussagen kommen wie: ,,Damit kann aber auch die Gleichniswelt Kafkas zulänglich entschlüsselt und interpretiert werden", oder: „Damit ist die geistige Struktur des ,Prozeß'-Romans grundsätzlich geklärt und kann daher auch in allen Einzelheiten verstanden werden. "32 Günter Heintz stellte fest, ,,daß man Kafka nicht richtig, sondern allenfalls stimmig deuten kann" 33, was die Objektivität einer Interpretation relativiert und der Subjektivität breiten Spielraum gibt. In diesem Sinne hieß es bei Gerhard Kurz: ,,Das Werk lebt auch nur im Rezipienten. "34 Dennoch wusste er - unmittelbar nach der Zitation der Passage über das ,Zugeben' und ,Leugnen' - ,,wie Literatur nach Kafka wirkt und wirken soll. " 35 Und Sätze wie „Die Wahl des Wortes ,Lumpenpack' soll dem Bürgermeister sagen, wie sehr der Jäger die Dinge des Lebens verachtet. " 36 widersprechen dem Spielraum des subjektiven Lese-Prozesses, der wiederum von Theo Buck erweitert wurde: ,,Der Leser Kafkas darf sich dem Werk nicht mit seiner gewohnten Außenperspektive nähern; er muß sich stattdessen der extrem gegensätzlichen Opazität des ganz bewußt rein subjektiv Erzählten ausliefern, um dann erst seine wiederum ganz eigene Auseinandersetzung mit all dem aufzunehmen, was er neu erfahren hat. "37 Das bedeutet nichts anderes, als dass jede Interpretation von der subjektiven Zustimmung des Lesers abhängig ist und nicht ,von außen' als objektive Tradition angewendet werden kann. Ein Beispiel: Der verurteilte Diener in der Strafkolonie ist mit einer Reitpeitsche geschlagen worden und hat daraufhin den Hauptmann bedroht (DzL 213). Die Strafe ist der langsame Tod unter der Egge, einer ,Schreibmaschine', die das Urteil mit vielen Nadeln dem Verurteilten in die Haut sticht. In der „sechsten Stunde" beginnt der Verurteilte zu verstehen: ,,Verstand geht auch dem Blödesten auf." (DzL 219) Daraufhin sagt der Offizier zu dem Reisenden: Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. (DzL 219f.)

Als Heinrich Heine in Geständnisse seine Rückkehr zum Glauben seiner Väter beschrieb, erinnerte er sich an seine „Orgien des Geistes" in allen Systemen der Philosophie und kam dann auf Onkel Tom aus Harriet Beecher-Stoves Onkel Toms Hütte zu sprechen - dieser Aufsehen erregende Roman war im Jahr zuvor in deutscher Übersetzung erschienen:

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Jost Schillemeit: Wege der Kafka-Forschung (1962-1984). Politzer, Sokel, Allemann, in: Kafka-Studien, hrsg. v. Rosemarie Schillemeit, Göttingen 2004, S. 8. Wilhelm Emrich: Franz Kafka, Bonn 4. Aufl. 1957, S. 98 u. 269. Günter Heintz: Franz Kafka. Sprachreflexion als dichterische Einbildungskraft, Würzburg 1983,

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s. 120.

Gerhard Kurz: Traum-Schrecken, a.a.O. S. 100. Ebd. S. 105. Ebd. S. 112. Theo Buck: Reaktionen bei Kafka bei den Schriftstellerkollegen, in: Franz Kafka. Themen und Probleme, a.a.O. S. 211.

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Jetzt befinde ich mich plötzlich auf demselben Standpunkt, worauf auch der Onkel Tom steht, auf dem der Bibel, und ich knie neben dem schwarzen Betbruder nieder mit derselben Andacht. Welche Demütigung! Mit all meiner Wissenschaft habe ich es nicht weiter gebracht, als der arme unwissende Neger, der kaum buchstabieren gelernt! Der arme Tom s~heint freilich in dem heiligen Buche noch tiefere Dinge zu sehen, als ich, fdem besonders die letzte Partie noch nicht ganz klar geworden. Tom versteht sie vielleicht besser, weil mehr Prügel darin vorkommen, nämlich jene unaufhörlichen Peitschenhiebe, die mich manchmal bei der Lektüre der Evangelien und der Apostelgeschichte sehr unästhetisch anwiderten. So ein armer Negersklave liest zugleich mit dem Rücken. 38

Es ist bekannt, dass Kafka Heine gut kannte 39 , dennoch aber bleibt es jedem überlassen, hier eine Verbindung herzustellen und diese auszudeuten. Selbst wenn es einen Hinweis darauf gäbe, dass Kafka auch diesen speziellen Text Heines kannte, so kann doch das Deutungspotenzial der Heine-Passage im Gesamtzusammenhang völlig verneint oder - wenn es anerkannt wird - vollkommen unterschiedlich beurteilt werden. Die dargestellte Konfrontation der alten Durchführung von Strafen, bei der Verurteilte ohne Gerichtsverfahren und ohne Möglichkeit der Verteidigung wörtlich vom Geset?estext getötet werden, mit den aufgeklärten Vorstellungen eines Verfahrens, das Verteidigungsmöglichkeiten erlaubt und Todesstrafen möglichst vermeidet, kann dem christlichen Hintergrund der Lektüre der Bibel kaum oder nur mit interpretatorischer Gewaltsamkeit verbunden werden. Die Einsicht in die Subjektivität jeder Kafka-Interpretation wurde nicht nur durch die von der Germanistik notwendig vorausgesetzte Behauptung ihrer objektiven Interpretierbarkeit behindert, sondern auch von der Behauptung, Kafka habe in einem geradezu klassisch-klaren Deutsch geschrieben. So schrieb Hannah Arendt: Seine Sprache ist klar und einfach wie die Sprache des Alltags, nur gereinigt von Nachlässigkeiten und Jargon. [...] Seine Prosa scheint durch nichts Besonderes ausgezeichnet, sie ist nirgends in sich s.elbst bezaubernd oder betörend; sie ist vielmehr reinste Mitteilung, und ihr einziges Charakteristikum ist, daß - sieht man genauer hin - es sich immer wieder herausstellt, daß man dies Mitgeteilte einfacher und klarer und kürzer keinesfalls hätte mitteilen können. 40

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Heinrich Heine: Geständnisse, in: Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 6/1, München 1975, S. 480. S. Hartmut Binder: Kafka. Der Schaffenprozeß, a.a.O. S. 268, Anm. 186. Hannah Arendt: Franz Kafirn,a.a.O. S. 88f.

Ganz ähnlich äußerte sich Kafkas Freund Felix Weltsch: Seine Sprache ist reinstes, spiegelklares Deutsch, von keinem Dialekt gefärbt, höchstens von gewissen kleinen Eigenheiten, die dem in Prag gesprochenen Deutsch entstammen (die manchmal falsche Verwendung des „bis" und das Wörtchen „förmlich" für „geradezu, das sehr oft wiederkehrt).41

Heinz Politzer meinte, Kafkas Sprache sei „die ebene und kühle Sprache der deutschen Anekdote - etwa Johann Peter Hebels oder Heinrich von Kleists-", aber er fügte hinzu: ,,aber der Gehalt seiner Dichtungen ist kryptisch." 42 Tatsächlich ist Kafkas Sprache alles andere als klar oder rein oder kühl, sie ist so dicht mit Unklarheiten und vieldeutigen Beziehungen erfüllt, dass jede ,Mitteilung' geradezu wie gewollt verhindert wird, und diese Sprache ist der Grund des kryptischen Charakters seiner Werke. Diese sprachliche Ebene der Texte Kafkas wird von den Interpretationen nur selten und unzureichend beachtet, sie spielt aber dennoch für die Irritation des Lesers und für den ,Deutungszwang' eine wichtige, vielleicht die wichtigste Rolle - die Lesung von Schakale und Araber soll dafür ein exemplarisches Beispiel geben. Die Schwierigkeiten, die sich jedem Leser, also auch Kafka, bei einem verstehenden Lesen entgegenstellen, haben ihren Grund vor allem in den Details, in den kleinen Unsicherheiten und Abweichungen vom gewohnten Sprachgebrauch, in der Schiefheit vieler Bilder, denn diese zerstören den Gesamtaufbau und verhindern eine Deutung des Ganzen. Was sich hier im Schreiben offenbart, ist eine Besonderheit der Erlebnisweise Kafkas. Diese bestimmte zumindest teilweise auch sein Verhältnis zum Judentum. In einem Brief an Max Brod beschrieb Kafka im Juli 1916 seine Begegnung mit dem Belzer ,Wunderrabbi' in Begleitung von Georg M. Langer, der einige Zeit bei dem Rabbi zugebracht hatte: Ich werde das Ganze nur beschreiben, mehr als das was man sieht kann ich nicht sagen. Man sieht aber nur allerkleinste Kleinigkeiten und das allerdings ist bezeichnend meiner Meinung nach. Es spricht für Wahrhaftigkeit auch gegenüber dem Blödesten. Mehr als Kleinigkeiten kann man mit bloßem Auge dort wo Wahrheit ist nicht sehen. (BKBrw 150)

Wir hatten aus In der Strafkolonie zitiert: ,,Verstand geht auch dem Blödesten auf." Aber dieser Zusammenhang interessiert hier nicht, sondern die Feststellung, dass man mit bloßem Auge nur an oder in den Kleinigkeiten die Wahrheit sehen kann, also in den Details, derer seine Texte voll sind, ohne einen Gesamtzusammenhang auch nur anzudeuten. Den Eindruck, den er von dem Rabbi erhielt, beschrieb Kafka so: 41

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Felix Weltsch: Franz Kafkas Geschichtsbewusstsein, in: Deutsches Judentum, Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke, Stuttgart 1963, S. 279. Heinz Politzer: Problematik und Probleme der Kafka-Forschung, in: Franz Kafka, hrsg. v. Heinz Politzer, a.a.O. S. 214.

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Der Anblick des Rückens, der Anblick der Hand, die auf der Hüfte liegt, der Anblick dieses breiten Rückens - alles das gibt Vertrauen. (BKBrw 153)

Nicht der Rücken allein, sondern der Anblick des Rückens gibt Vertrauen, mit dem es aber, wie wir sehen wepden, nicht weit her ist. Eine Verbindung von Hüfte und Hand begegnet bei Kafka häufiger, so in Der Process: „Schrecklich", sagte K. aber er dachte jetzt gar nicht daran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein Bürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte - der Elbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane - während die andere Hand langsam die Hüfte strich. (Proc 43, s.a. 41)

Was hier ein erotisches und weibliches Detail zu sein scheint, war tatsächlich keines: Als K. verhaftet wurde, betrachteten aus einem gegenüberliegenden Haus drei Personen die Vorgänge um K. - im Gesehen-Werden kann man vielleicht das Gelesen-\Verden erkennen-, und über diese hieß es: Die drei Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und sahen ziellos herum. (Proc 24)

Die Bedeutung dieses Details, das dann in dem Brief über den Belzer Rabbi wiederkehrt, ist also alles andere als eindeutig. In dem Brief an Brod schrieb Kafka etwas später über das vom Rabbi Gesagte: Im Ganzen sind es die belanglosen Reden und Fragen umziehender Majestäten, vielleicht etwas kindlicher und freudiger, jedenfalls drücken sie alles Denken der Begleitung widerspruchslos auf das gleiche Niveau nieder. L. [Langer] sucht oder ahnt in allem tiefem Sinn, ich glaube, der tiefere Sinn ist der, daß ein solcher fehlt und das ist meiner Meinung nach wohl genügend. Es ist durchaus Gottesgnadentum, ohne die Lächerlichkeit, die es bei nicht genügendem Unterbau erhalten müßte. (BKBrw 154)

Wie immer man diese Passage versteht, deutli~h ist, dass Kafka einen ,tieferen Sinn' ablehnt, und dass gerade das Fehlen dieses tiefern Sinnes - und wir können hinzufügen: - und die Wahrheit der Kleinigkeiten, auch und gerade weil sie nicht sinnvoll miteinander verbunden werden können, in Kafkas Verständnis genügen, ja vielleicht sogar an ein Gottesgnadentum heranreichen. Die professionelle Interpretation muss, auch wenn sie zwar keine Richtigkeit, sondern nur eine Stimmigkeit aufweisen will, viele der hier benannten Details übergehen und eine Auswahl von ihnen zu Eckpunkten machen, die dann aber eben von den übergangenen Details aus in Frage gestellt werden können. Bei keinem anderen Autor stehen der ,Inhalt' und die in größeren Texten nicht mehr überblickbare Fülle von Details in einem so spannungsreichen Widerspruch wie bei Kafka. Das Detail dient nicht dem Ganzen, es emanzipiert sich aus dem Ganzen und macht es dadurch uninterpretierbar - dies ist das Ergebnis des noch darzustellenden ,unbeherrschten' Schreibens. Die Folge ist, dass es keine Rangord-

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nung der Details gibt, dass es keine wichtigen und unwichtigen Details gibt, denn keines ist durch eine Sinn-Verbindung enger oder weiter an ein Zentrum gebunden. Die Vorstellung einer ,umfassenden Idee', die im Kunstwerk - wie verborgen auch immer - vorhanden sein müsse) führt bei Kafka in die Irre. Es gibt keinen ,festen Punkt', von dem aus man die Interpretation beginnen könnte. In einem der untypischen Texte Kafkas, der nicht nur leichter zu interpretieren ist, sondern offensichtlich einen ,Inhalt' reflektiert, scheint genau dieses Thema angesprochen zu sein. Unter dem hinzugefügten Titel Der Kreisel oder Der Philosophund der Kreisel wird dargestellt, dass ein Philosoph Kinder beim KreiselSpiel beobachtet und versucht, den Kreisel zu fangen: Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also z.B. auch eines sich drehenden Kreisels genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Daum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihn unökonomisch, war die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. (NSF II 361)

Immer wieder versucht er es, es gelingt ihm auch, aber immer, wenn es gelang, hatte er „das dumme Holzstück in der Hand", und das vorher nicht wahrgenommene Geschrei der Kinder „jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche." (NSF II 362) Das Ziel seiner Beobachtung war der sich drehende Kreisel, was er dann aber in Händen hielt, war der bewegungslose Kreisel, der durch den Zugriff gerade das einbüsste, was ihn zum Objekt der Erkenntnis gemacht hatte. In dem Moment, in dem der Philosoph von seinem sinnlosen Vorhaben abließ, trat er selbst in jene Bewegung ein, die ihn interessiert hatte, um das Allgemeine zu ver$tehen - wenn auch von einer ungeschickten Peitsche. Die Kleinigkeiten sind nur zu erkennen, wenn man sie ,in Bewegung' betrachtet, wenn man selbst in das Spiel der Bewegung eintritt und die Bewegung nachahmt. Jede Hoffnung auf einen ,Fixpunkt' ist irrig - auch hier in diesem kleinen Text, denn es spielt in das Kreisel-Spiel der Kinder die Bedeutung von ,Kinderspiel' hinein (NSF II 123 u. 514), die dem Ganzen den philosophischen Ernst nehmen kann, und diese Nebenbedeutung wirft die Frage auf, ob die ,ungeschickte Peitsche' auch von einem Kind geführt wurde. Ein Beispiel soll die Fragwürdigkeit fixierender Interpretationen verdeutlichen. In Das Schloßbeschrieb Olga dem (vorgeblichen?) Landvermesser K. das Aussehen Klamms: Er soll ganz anders aussehen, wenn er ins Dorf kommt und anders wenn er es verlässt, anders ehe er Bier getrunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders im Schlafen, anders allein, anders im Gespräch und, was hienach verständlich ist, fast grundverschieden oben im Schloß. Und es sind schon selbst innerhalb des Dorfes ziemlich große Unterschiede, die berichtet werden, Unterschiede der Größe, der Haltung, der Dicke, des Bartes, nur hinsichtlich des Kleides sind die Berichte glücklicherweise ein-

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heitlich, er trägt immer das gleiche Kleid, ein schwarzes Jackettkleid mit langen Schößen. Nun gehen natürlich alle diese Unterschiede auf keine Zauberei zurück, sondern sind sehr begreiflich, entstehen durch die augenblickliche Stimmung, den Grad der Aufregung, die unzähligen Abstufungen der Hoffnung oder Verzweiflung, in welcher sich der Zuschauer, der überdies .meist nur augenblicksweise Klamm sehen darf,

befindet'.43

/

Ingeborg C. Henel versuchte in ihrem Aufsatz über Die Deutbarkeit von Kafkas Werken die Gegenordnung zum Helden zu erklären: ,,Gelegentlich macht Kafka das ganz klar: Das Gericht zum Beispiel tagt da, wo Josef K. sich entschließt, ihm entgegenzutreten. Die Erscheinungen der Gegenordnung entstehen durch die augenblickliche Stimmung, den Grad der Aufregung, die unzähligen Abstufungen der Hoffnung oder Verzweiflung, in welcher sich der Zuschauer [...] befindet'. Das ist in Bezug auf Klamm gesagt, aber es gilt für die gesamte Gegenwelt [...] "44 Ulf Abraham erkennt in der Passage das Problem der „Bürokratisierung der Macht": ,,Das Motiv der Entrückung der Verhörinstanzen und Richtergewalten, das sich im Lauf seiner Textproduktion immer mehr in den Vordergrund spielt, thematisiert genau dieses Problem einer Macht ohne Gesicht. (Klamm im Schloß ist nur noch ein Name: ,Er soll ganz anders aussehen, wenn er ins Dorf kommt, und anders, wenn er es verlässt, anders, ehe er Bier getrunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders im Schlafen ...• und so fort.) "45 Henel nahm aus der zitierten Passage den Teil heraus, der sich mit dem subjektiven Blickwinkel, der Begründung des unterschiedlichen Aussehens Klamms befasste, Abraham nahm den Teil, in dem nur die Unterschiede beschrieben wurden; beide Belege für die generalisierenden Thesen sind fast gewaltsam aus dem Zusammenhang herausgeschnitten. Der Zusammenhang beider Ausschnitte führt nicht nur zu einer gegenseitigen Relativierung, sondern führt noch einen entscheidenden Schritt weiter, denn erklärungsbedürftig sind nicht die in der Subjektivität begründeten Unterschiede des Aussehens Klamms, sondern der Umstand, dass diese Subjektivität bei der Bekleidung Klamms zu keiner unterschiedlichen Wahrnehmung führte. Die zentral zur Interpretation herausfordernde Besonderheit wurde von beiden nicht berührt, genauer: Diese Besonderheit wurde weder von Henel noch von Abraham als interpretationsbedürftig angesehen. Es ist - dieses Beispiel steht für zahllose andere - von entscheidender Bedeutung, wie konkret man sich auf die Texte Kafkas einlässt, ob man von vorn herein nur jene Textpassagen heranzieht, die eine Gesamtinterpretation ermöglichen, oder ob man sich auf die zahllosen Details einlässt, die jede übergreifende Interpretation unmöglich machen. 43 44

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Franz Kafka: Das Schloß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1982, S. 278. Ingeborg C. Henel: Die Deutbarkeit von Kafkas Werken, in: Franz Kafka, hrsg. v. Heinz Politzer, a.a.O. S. 415. Ulf Abraham: Der verhörte Held. Recht und Schuld im Werk Franz Kafkas, München 1985,S.137.

Texte konstituieren sich erst in dem Moment, in dem sie gelesen und, auf welche Weise auch immer, verstanden werden; sie sind immer ein Konstrukt, an dem Autor und Leser beteiligt sind. Normalerweise ist dies kein entscheidendes Problem, weil der Leser die hinter dem Text vorhandene Intention des Autors rekonstruieren und sich dadurch auf ein prinzipielles Zusammenstimmen von Autor, Text und Leser verlassen kann. Alles Subjektive der Interpretation wird durch das Objektive eines Vor-Verständnisses der gesamten Leserschaft g~tragen oder korrigiert. Hier vollzieht sich das Lesen innerhalb einer Tradition, die zwar offen ist, die aber bloße interpretatorische Willkür ausscheidet. Solch eine aus traditionellen Lese-Erfahrungen entstandene Objektivität gibt es bei Kafka nicht, einen Grundkonsens über die Bedeutung der Kafkaschen Texte hat die Germanistik nicht finden können, und daher sind bei Kafka der Subjektivität des Lesers kaum Grenzen gesetzt. Schon sehr früh, nämlich 1962 in der amerikanischen und 1965 in der deutschen Ausgabe seines Kafka-Buches, hat Heinz Politzer dies in seiner Bemerkung über Kafkas Parabeln geradezu klassisch ausgesprochen: ,,Im Grunde werden sie ebenso viele Deutungen wie Leser finden. Die Offenheit ihrer Form erlaubt dem Leser eine totale Projektion seines eigenen Dilemmas auf die Seiten Franz Kafkas." Und Politzer zog folgenden Schluss: „Diese Parabeln sind ,Rorschachtests' der Literatur und ihre Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter aus als über das Wesen ihres Schöpfers." 46 Das umfangreiche Buch Politzers zeigt dann aber keineswegs den ,Charakter des Deuters', sondern versucht eine wissenschaftlich-germanistische Deutung der Texte. Ganz ähnlich hat Walter H. Sokel die Vieldeutigkeit der Texte Kafkas beschrieben: ,,Es liegt im Wesen von Kafkas unergründlich vieldeutiger Kunst, daß keine Einzeluntersuchung in der Lage ist, sein vielschichtiges Werk vollständig zu erfassen.Jede Untersuchung kann nur ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Enthüllung des ,Geheimnisses' sein, dessen Kern sich vielleicht nie völlig aufdecken läßt." Er wolle daher keine vorausgegangenen Untersuchungen „ersetzen", sehr wohl aber sie „ergänzen" 47 • Eine ,Ergänzung' aber geht davon aus, dass es ein Ganzes geben kann, dass also die Enthüllung ,des Geheimnisses' doch möglich sei. Konsequent hat Hans-Thies Lehmann auf die Unmöglichkeit einer ,globalen', einer ,autoritativen und totalitären Deutung' 48 hingewiesen. Für eine solche Deutung sei hier ein fast willkürliches Beispiel angeführt. Heinz Politzer versuchte eine. Passage von Der Process folgendermaßen zu deuten: ,,Wenn K. im Schlusskapitel des Romans Fräulein Bürstner - oder ihrem Schatten - begegnet ist, folgt er dem Weg, den sie vor ihm und seinen Begleitern nimmt, ,nicht etwa, weil er sie 46 47

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Heinz Politzer: Franz Kafka. Der Künstler, Frankfurt am Main 1978, S. 42f. Walter H. Sokel: Kafkas ,Verwandlung': Auflehnung und Bestrafung, in: Franz Kafka, hrsg. v. Heinz Politzer, a.a.O. S. 270. S. Hans-Thies Lehmann: Der buchstäbliche Körper, a.a.O. S. 240.

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einholen, nicht etwa weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen'. An keiner Stelle der Erzählung verrät Kafka, was es denn mit dieser Mahnung auf sich habe und worin sie tatsächlich bestehe." Dies ist also eines jener Details, die zwar. unverbunden mit anderen steh~n, gerade deshalb aber nach Deutung verlangen. Politzer weiter: ,,K.s Haltung 1~ährend der Hinrichtung deutet jedoch darauf hin, . daß er die Worte im Gedächtnis behalten hat, die ihm das Fräulein auf dem Höhepunkt ihrer ersten und einzigen Unterhaltung entgegenhielt. Damals hatte sie gesagt: ,Ich kann für alles, was in meinem Zimmer geschieht, die Verantwortung tragen, und zwar gegenüber jedem.' [...] An und für sich hatten diese Worte nichts anderes sagen wollen, als daß das Fräulein jeder üblen Nachrede, die sich im Hause über sie erheben sollte, gleichgültig und mit Verachtung entgegentreten werde. Sie waren dem ,momentanen Zwang' entsprungen [...] Die tiefere Bedeutung, die innere. Wahrheit dieser Phrase wird erst am Ende sichtbar, wenn sich K., der Mann, ihrer erinnert und ihr durch diese Erinnerung die Richtung ins Metaphysische gibt. "49 Ziel dieser Deutung war es offensichtlich, das unverbundene Detail in den Gesamtrahmen einzufügen, der als das ,Metaphysische' gesetzt war; zunächst ,deutet' die Haltung K's darauf hin, dass er die Worte im Gedächtnis behalten hat - wofür es keinerlei Beleg im Text gibt-, dann erschließt umgekehrt der spätere Vorgang den früheren und ,deutet' diesen in die „Richtung ins Metaphysische" .. Von Schritt zu Schritt wird das unerklärte und unverbundene Detail fester in den Gesamtrahmen eingebunden, indem ein vages Hindeuten zur ,inneren Wahrheit' erklärt wird. Hans-Thies Lehmann formulierte umgekehrt seinen Wunschtraum, ,,daß alle Kafka-Leser alle Anspielungen; Wortspiele, Etymologien, Strukturen, die ihnen auffielen, zusammentrügen: ein Spiel von riesigen Ausmaßen, das doch dem Ernst von Kafkas Unter~ehmen durchaus angemessen wäre." 50 Hier erst und wir werden auf diesen Gedanken im letzten Kapitel zurückkommen - hätte der Leser gegenüber dem _wissenschaftlichen Interpreten das Übergewicht. Dass . dieses ,Unternehmen' ein berühmtes Vorbild haben könnte, nämlich das Riesenwerk des babylonischen Talmud, in dem ungeachtet der Frage, ob die Auslegungen in sich oder zusammenhängend stimmig sind, die Meinungen vieler Rabbiner gesammelt wurden, war Lehmann offensichtlich nicht aufgefallen, hierauf werden wir im letzten Kapitel ausführlich eingehen. Der Talmud hatte alles andere zum Ziel als eine in sich kohärente Interpretation der Tora. Auf das kurze Stück Ein Kommentar hinweisend, in dem ein nach dem Weg zum Bahnhof gefragter Schutzmann „Gibs auf, gibs auf" antwortet (NSF II 530), schrieb Lehmann: „Insofern stellt Kafkas Werk insgesamt etwas dar, was in dem ,Kommentar' Gibs auf mitzuhören ist: einen Kommentar über die Verfassung einer Literatur, die die

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Heinz Politzer: Franz Kafka, a.a.O. S. 314f.; die Kafka-Zitate: Proc 308 u. 46. Hans-Thies Lehmann: Der buchstäbliche Körper, a.a.O. S. 240.

Aufgabe der Interpretation verlangt. "51 Vielleicht hat Harold Bloom auch diesen Schutzmann gemeint, als er schrieb: ,,Odradek gibt dir nicht nur den Rat, nichts mit ihm zu tun, sondern ist eindeutig eine weitere Figur, durch die Kafka davon abrät, Kafka zu interpretieren. "52 Diesem Rat muss natürlich nicht gefolgt werden und die vorhandenen Interpretationen sind nicht ,falsch' - schon deshalb nicht, weil es keine ,richtige' Interpretation gibt. Außerdem ist die hier vertretene Auffassung eine, dje sich möglichst nur von den Eigenheiten der Texte Kafkas herleitet, die ihn von anderen Schriftstellern unterscheidet, die also das Besondere Kafkas betont, während andere Darstellungen die Eigenschaften dieser Texte betonen, die sie mit der Literatur anderer Schriftsteller verbindet. Und das Besondere Kafkas ist, dass er sich nicht in ein vorgegebenes Muster einfügen lässt, weder in ein inhaltliches noch in ein formales. Wenn eines bei Kafka deutlich ist, dann sein Wille, nichts zu hinterlassen, was ihn in der ,normalen' Welt festlegen könnte. So wenig, wie sich Kafka als Vertreter einer Weltanschauung, einer Philosophie oder Religion identifizieren lässt, so wenig sind seine Texte als Erzählung, Parabel oder Gleichnis zu identifizieren. Für .den normalen Leser, aber auch für sehr viele wissenschaftliche Interpretationen ist ein Bezugsrahmen sowohl selbstverständlich als auch unverzichtbar: der biographische Bezug auf die Person Franz Kafka. Er selbst hat diese Richtung vorgegeben, indem er die Hauptpersonen zweier Romane als ,K.' bezeichnete und indem er andere Namen durch Buchstabenähnlichkeiten zu seinem eigenen Namen in Beziehung setzte. In dem berühmten Brief an den Vater hat er Hinweise auf eine biographische Deutung gegeben (s. NSF II 184) und sein Schreiben als „absichtlich in die Länge gezogener Abschied" vom Vater bezeichnet (NSF II 192). Schon 1967 aber stellte Paul Raabe fest: ,,Gerade diese Verquickung von Leben und Werk, die im Expressionismus typisch war und zu seinem Wesen gehörte, machte Kafka nicht mit [...] "53 Alle diese interpretatorischen Vor-Annahmen übersehen einen Umstand, der erst in den letzten Jahren deutlicher ins Bewusstsein auch der Germanisten trat, die seitdem auch mit Interpretationen vorsichtiger geworden sind: Es gab eine tiefe Spaltung zwischen dem ,täglichen' Kafka und dem ,nächtlichen' Kafka, zwischen dem, wie oft berichtet wurde, freundlichen und offenen Kafka, dem Kafka, der seinen Beruf ausübte und Freundschaften pflegte - obwohl auch diese schwieriger und doppelbödiger waren als oft dargestellt, so auch sein Verhältnis zu Max Brod (s. TB 258, 331, 339f., 597, 774 u. 834) -, und dem anderen Kafka, der nachts wie besessen an seinen Texten arbeitete.

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Ebd. Harold Bloom: Kafka Freud Schalem. 3 Essays, Basel/Frankfurt am Main 1990, S. 20. Paul Raabe: Franz Kafka und der Expressionismus, in: Franz Kafka, hrsg. v. Heinz Politzer, a.a.O. S. 397.

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Diese Zerrissenheit, ja Aufspaltung Kafkas wurde von em1gen Freunden und Bekannten Kafkas bemerkt. So schrieb Friedrich Thieberger, bei dem Kafka Hebräisch zu lernen versuchte, in seinen Erinnerungen an ihn: ,,Er schien nach innen der strengste, für die Welt der freundlichste Mensch zu sein." Und: ,,Aber wenn er im Gespräch auf einen_,Gedanken reagierte, war man im Tiefsten überrascht: sein Wort kam wie aus/einer ganz anderen Welt und paßte doch zu dem, was man gesagt hatte." 54 Auch Thieberger war ein Leser der Texte Kafkas, und er war ein Leser traditioneller Art: ,,Alle Bemühungen, von uns aus ein System in seine rätselhafte Welt zu bringen, sind vergeblich. "55 In dem Nachruf, den Otto Pick, einer der engeren Freunde Kafkas, schrieb, · kann man den zwiespältigen Eindruck Kafkas nachvollziehen: Franz Kafka hat nicht wider die Welt gelebt und geschaffen, er hat - innerhalb bürgerlicher Umzirkung - in anderem als dem uns geläufigen Sinne außerweltlich existiert. Immer war Klarheit kristallen in seinem geschriebenen und gesprochenen Worte, immer Unbedingtheit in seinem Tun und Lassen - und doch war eine, wenn auch durchsichtig scheinende, undurchschaubare, unirdisch klare Nebelwand zwischen ihm und uns errichtet.

Dieser offenbar unauflösliche Widerspruch zwischen der Klarheit und der Undurchschaubarkeit kennzeichnete auch den persönlichen Umgang: Keiner Begegnung mit Menschen und Dingen stand er gleichgültig gegenüber. Immer aber ließ er seine eigene Person gleichsam aus dem Spiele, schaltete unmerklich sich selber aus, war lächelnd einfach nicht vorhanden.

Zusammenfassend schrieb Pick: Franz Kafkas Dasein, Franz Kafkas Werk: unergründlich eines wie das andere. Fremdnah hat er unter uns geweilt, um Geheimnisse wissend, die zu erkennen uns ewig versagt bleibt. 56

Und auch Kasimir Edschmid hat die ,Verdoppelung' der Welt in den Erzählungen Kafkas erkannt: Die Figuren bekommen in ihren Konturen schon etwas Vermittelndes hin zu jenem Geist und jenem Gesetz, das außerhalb der Erde und Erkenntnis die Hand über sie gelegt hat, sie zu sich hinüberzuziehen. 57

Ein anderer zeitgenössischer Leser, Eugen Loewenstein, beschrieb diesen Vorgang anlässlich der Veröffentlichung von Die Verwandlung so:

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Friedrich Thieberger: Kafka und die Thiebergers, in: ,,Als Kafka mir entgegenkam ...'' Erinnerungen an Kafka, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, erw. Neuausgabe Berlin 2005, S. 128. Ebd. S. 132. Otto Pick: ,Franz Kafka', in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924-1938, hrsg. v.Jürgen Born, Frankfurt am Main 1983, S. 34. Kasimir Edschmid: ,Deutsche Erzählungsliteratur', in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, hrsg. v. Jürgen Born, Frankfurt am Main 1979, S. 85.

Und das merkwürdige ist, daß der Leser über die Begebenheiten nicht erstaunt und daß sie ihm selbstverständlich werden, weil der Geist eines selten imaginär veranlagten Menschen ihm das Vernunftwidrige übermittelt. Der natürliche Standpunkt des Menschen seiner Umgebung gegenüber wird hier ausgeschaltet, und wir erblicken von der Wanzenperspektive aus eine riesenhafte, seltsame Welt. 58

Andere wiederum sahen zwar die Problematik, schlugen aber harmonisierende Lösungen vor. Hermann Hesse, der die doppelte Bindung Kafkas an Judentum und Christentum schon 1935 erkannt hat, beschrieb das zentrale Problem sehr genau: Nächst der K.i.erkegaard'schen Existenzfrage hat wohl kein Problem ihn so dauernd und tief beschäftigt, hat ihn leiden gemacht und schöpferisch gemacht wie das Problem des Verstehens; alle Tragik bei ihm - und er ist ganz und gar tragischer Dichter - ist Tragik des Unverstehens, des Mißverstehens zwischen Mensch und Mensch, zwischen Person und Gemeinschaft, zwischen Mensch und Gott. 59

Aber er hat die Spaltung Kafkas nicht gesehen. Ähnlich verkürzend hat Kurt Tucholsky, obwohl er ein durchaus ,moderner' Leser - hier von In der Strafkolonie - war, Kafka doch wieder in eine Tradition gestellt: Ihr müßt nicht fragen, was das soll. Das soll garnichts. Das bedeutet garnichts. Vielleicht gehört das Buch auch garnicht in diese Zeit, und es bringt uns sicherlich nicht weiter. Es hat keine Probleme und weiß von keinem Zweifel und Fragen. Es ist ganz unbedenklich. Unbedenklich wie Kleist. 60

Es scheint Tucholsky nicht bewusst gewesen zu sein, dass der letzte Satz in einem unauflöslichen Widerspruch zum Vorhergehenden steht, oder er hat tatsächlich keinen Widerspruch anerkannt, was dann aber die Beurteilung Kafkas fragwürdig werden lässt. Schon die frühen Leser sahen sich bei der Lektüre Kafkas mit einer vollkommen ungewöhnlichen, einer unbegreiflichen, einer unirdischen Welt konfrontiert, die entweder die Geheimnisse der Welt zu offenbaren versprach oder umgekehrt keinerlei reale Bedeutung hätte. Dass diese von vielen als außergewöhnlich erkannte Erfahrung auf die Spaltung Kafkas zurückzuführen ist, konnte damals noch nicht so deutlich sein. Kasimir Edschmid sprach von einer Welt „außerhalb der Erde" und hat damit etwas geahnt, was Kafka 1918 in einem Brief an Max Brod ausgeführt hat, als er über die Literaturkritik allgemein und die Kritik seiner.Texte im Besonderen schrieb:

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Eugen Loewenstein: ,Die Verwandlung. Ein Buch von Franz Kafka', in: ebd. S. 68. Hermann Hesse: ,Eine Kafka-Gesamtausgabe', in: Franz Kafirn. Kritik und Rezeption 1924-1938, a.a.O. S. 370. Peter Panter (Kurt Tucholsky): ,In der Strafkolonie', in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten, a.a.O. S. 96.

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Im übrigen wiederholt sich mir immer das Gleiche: am Werk wird der Schriftsteller nachgeprüft; stimmte es, so ist es gut; ist es in einer schönen und melodischen Nichtübereinstimmung, ist es auch gut; ist es aber in einer sich reibenden Nichtübereinstimmung, ist es schlecht.

Solche Kriterien aber seien nur möglich in einer „von lebendiger Idee geordnete [n] Welt, wo die Kunst den i;riiraus Erfahrung unbekannten Platz hätte, der ihr gebührt." Max Brod und ihm selbst gegenüber sei die Anwendung solcher Prinzipien nicht möglich, [...] wir bleiben immer ganz (in diesem Sinne), wir haben, wenn wir etwas schreiben, nicht etwa den Mond ausgeworfen, auf den man Untersuchungen über seine Abstammung machen könnte, sondern wir sind mit allem was wir haben auf den Mond übergesiedelt, es hat sich nichts geändert, wir sind dort was wir hier waren, im Tempo der Reise sind tausend Unterschiede möglich, in der Tatsache selbst keine, die Erde, die den Mond abgeschüttelt hat, hält sich selbst seitdem fester, wir aber haben uns einer Mondheimat halber verloren, nicht endgültig, hier gibt es nichts endgültiges, aber verloren. (BKBrw 250f.)

Der Mond, das blasse Licht der Nacht, in der Kafka allein schreiben konnte, dreht sich nicht mehr um die Erde, er ist eine Art eigener Planet geworden, auf den Kafka (und seiner Meinung nach auch Max Brod) ,übergesiedelt' ist, weshalb der sonst übliche Rückschluss von einem Werk auf seinen Autor unmöglich geworden sei. Gleichzeitig kritisierte Kafka Brod und dessen Begriffe von „Wille und Gefühl", und er tat dies mit einer Konsequenz, derer die Germanistik erst seit wenigen Jahren fähig ist: Darum scheint mir jede Kritik die mit Begriffen von Echt, Unecht umgeht, und Wille und Gefühl des nicht vorhandenen Autors im Werk sucht, ohne Sinn und eben nur dadurch zu erklären, daß auch sie ihre Heimat verloren hat und alles eben in einer Reihe geht, ich glaube natürlich: die bewusste Heimat verloren hat. (BKBrw 251)

Der Text, der in der nächtlichen Gegen-Welt geschrieben wurde -