Franz Kafka und die Musik [1 ed.]
 9783412512378, 9783412511128

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:: Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena) und Václav Petrbok (Prag)

Band 12

FRANZ KAFKA UND DIE MUSIK Herausgegeben von Steffen Höhne und Alice Stašková

2018 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.

Steffen Höhne ist Professor für Kulturwissenschaft und -management am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Alice Stašková ist Professorin für Literaturwissenschaft und hat den Lehrstuhl II für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Links: Martin Smolka, Wunsch, Kafka zu werden für zwei Chöre, nach Texten von Franz Kafka, 2004 (Partiturauszug). © by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Rechts: Franz Kafka, Porträtaufnahme 1917 (Ausschnitt aus dem Doppelporträt mit Felice Bauer). © akg-images / Archiv Klaus Wagenbach.

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena

ISBN 978-3-412-51237-8

Inhaltsverzeichnis Vorwort........................................................................................................................9

Kafkas Musik „War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff ?“ Mythen des Musikalischen bei Franz Kafka Gerhard Neumann......................................................................................................11 Kafka, die Operette und die Musik des jiddischen Theaters Moritz Csáky.............................................................................................................35 Kafka, Kunst, Musik – eine intensive Wirkungsbeziehung Steffen Höhne.............................................................................................................63 Kafka und Mahler Albrecht von Massow..................................................................................................83 Klang und Klangentzug als Schriftverfahren: Zum Verhältnis von Sehen und Hören in Kafkas Texten. Mit einer optisch-akustischen Lektüre von Kleists Bettelweib von Locarno und einer Statistik der Sinneswahrnehmungen in Kafkas Gesammelten Werken Achim Küpper.............................................................................................................91

Vertonungen Kafkas Das System als Abfall – Die schönen Figuren als weggeworfene Fetzen. Die philosophischen und musikalischen Kafka-Lektüren von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Eduard Steuermann Martin Zenck...........................................................................................................117

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Inhaltsverzeichnis

„Einmal brach ich mir ein Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens.“ Die Kafka-Fragmente op. 24 von György Kurtág Friederike Wißmann................................................................................................139 Gewachsene Freiheiten. Der Umgang mit Kafkas LandarztErzählung in Musiktheaterwerken von Henze und Haas Jörn Peter Hiekel......................................................................................................149 Kafkaesk? Philip Glass: In the Penal Colony Frieder von Ammon...................................................................................................165 Ein Prozess experimentellen Erprobens. Salvatore Sciarrinos La porta della Legge nach Kafkas Vor dem Gesetz Marion Saxer...........................................................................................................183 „... eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen ...“ Zu Eduard Steuermanns Kafka-Kantate Auf der Galerie Martin Zenck...........................................................................................................205 Tod und Paradies – Verzweiflung und Erlösung. Zur dialektischen Konzeption der Kafka-Lieder op. 35 von Max Brod Kai Marius Schabram...............................................................................................233

Kafka in Jazz & Pop Die Kafka Band & Co.: Zur popkulturellen Aneignung Kafkas David Vondráček.....................................................................................................245 Der ‚Einbruch des Primitiven in die Musik des Abendlands‘ – Jazz, die tschechische Avantgarde der Zwischenkriegszeit und das Werk Franz Kafkas Rüdiger Ritter...........................................................................................................261

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Inhaltsverzeichnis

Werk- und Literaturverzeichnis Bibliographie zum Thema Kafka und Musik Sven Lüder...............................................................................................................275 Personen- und Ortsregister.................................................................................289 Adressen der Autoren..........................................................................................295

Vorwort Das Thema Franz Kafka und die Musik besitzt sowohl unmittelbar evidente als auch zutiefst ambivalente und sogar schwer zugängliche Perspektiven. Vor allem aber ist ihm eine erhebliche Faszinationskraft eigen. Die zumindest in musikinteressierten Kreisen geläufigste Dimension des Themas liegt wohl in der Tatsache, dass es im Komponieren der letzten Jahrzehnte eine erfreulich hohe Zahl von fruchtbaren Auseinandersetzungen mit Kafkas Texten gibt – und bemerkenswert ist dabei sowohl die große Variabilität der Besetzungen als auch die stilistische und konzeptionelle Mannigfaltigkeit der bislang vorliegenden Kafka-Vertonungen. Doch als ähnlich komplex und vielfältig erweist sich die Betrachtung jener Resonanzen des Musikalischen bzw. Klanglichen, die sich in Kafkas eigenen Werken finden. Die beiden in gewisser Weise komplementären Blickrichtungen prägen einen wesentlichen Teil der Beiträge des vorliegenden Bandes. Denn diese beleuchten einerseits bestimmte wesentliche Aspekte der Rezeption und Wirkung von Kafkas Texten im Bereich der neueren Musik, und sie bewegen sich andererseits im Rahmen von Kafkas Biographie und seines Œuvres. Doch zumindest punktuell spielt in diesem Buch noch ein dritter Aspekt eine Rolle, der das Thema bewusst noch etwas weitet: die Reflexion bestimmter kultureller Konvergenzen zwischen Kafkas Schreiben und der musikalischen Kultur seiner Zeit. Manche biographische Äußerungen von Kafka deuten an, dass dieser zur Musik ein ambivalentes Verhältnis hatte. Der von ihm selbst mehrfach aufgegriffene Topos des Unmusikalischen lenkt dabei den Blick auf die komplexe Problematik der Deutbarkeit überhaupt, die für die Auseinandersetzung auch mit seinem Werk selbst gelten kann. Welche Musik aber rezipierte Kafka und welche Rolle spielte die Musik in seinem Schreiben? Gerade Fragen wie diese legen es nahe, sowohl entsprechende kulturhistorische Kontexte freizulegen als auch die Bereiche zu identifizieren und zu reflektieren, in denen die Motivik des Musikalischen in seinen Texten Bedeutung erlangt. Betrachtet man die Kommunikationsmedien in Kafkas Werken und Briefen, begegnet einem die Musik einerseits anhand der für seine Poetik wichtigen Dimension des Akustischen und wird sie andererseits zum wichtigen Motiv nicht zuletzt in jenen Texten, in denen das Thema der tierischen Existenz aufscheint. Doch Relevanz besitzt das Thema Kafka und die Musik überdies auch mit Blick auf das Motiv des Schweigens.

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Vorwort

In der neueren Musik, die sich mit Literatur auseinandersetzt, ist seit langem eine signifikante Weitung der Möglichkeiten festzustellen. Hierzu passend und mit guten Gründen, die mit tiefem Respekt gegenüber den Besonderheiten von Kafkas Werken zu tun haben, werden gerade im Falle der Auseinandersetzung mit Kafka die Tradition des Klavierlieds sowie der mit diesem oft verbundene Habitus von Textvertonung immer wieder bewusst verlassen oder zumindest neu schattiert. Die exemplarischen Analysen des vorliegenden Bandes, die bekannten wie weniger bekannten Werken gewidmet sind, suchen die dabei kenntlich werdende Vielfalt an kompositorischen Ansätzen zu beleuchten. Und sie zeigen, dass die Perspektiven der musikalischen Reflexion von Kafkas Texten sich im Laufe der letzten Jahrzehnte auch erheblich wandelten – was zumindest teilweise auch damit zusammenhängen dürfte, dass Kafka inzwischen längst als ‚durchgesetzt‘ gelten kann. Die Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Oktober 2015 als Kooperationsveranstaltung des Instituts für Germanistik der Freien Universität Berlin, des Instituts für Musikwissenschaft Weimar-Jena, des Herder Forschungsrats Marburg sowie des Tschechischen Zentrums Berlin und des Deutschen Kulturforums östliches Europa im Roten Rathaus in Berlin stattfand. Der Band weist einige Verknüpfungen mit der Publikation Franz Kafka – Wirkung und Wirkungsverhinderung auf, die 2014 in der Reihe Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert im selben Verlag erschienen ist. Das hat schlicht damit zu tun, dass sich bei diesem früheren Anlass sehr nachdrücklich erwies, dass das Thema Franz Kafka und die Musik enorm facettenreich und längst noch nicht hinreichend aufgearbeitet ist. Der vorliegende Band möchte einen Beitrag dazu sein, die Forschungen hierzu zu verbreitern. Zu danken ist zunächst allen beteiligten Autorinnen und Autoren, sodann der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation. Weimar/Jena, Sommer 2017

Die Herausgeber

Gerhard Neumann

„War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff ?“ Mythen des Musikalischen bei Franz Kafka Dieses ununterbrochene Telephonieren hören wir in den hiesigen Telephonen als Rauschen und Gesang [...]. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln, alles andere ist trügerisch. (Kafka 1990: 116)

1. In der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1913 schreibt Kafka einen seiner in die Hunderte gehenden Briefe an Felice Bauer; einen sehr seltsamen ‚Liebesbrief‘. Darin heißt es: Sehr spät, Liebste, und doch werde ich schlafen gehn, ohne es zu verdienen. Nun ich werde ja auch nicht schlafen, sondern nur träumen. Wie gestern z.B. wo ich im Traum zu einer Brücke oder einem Quaigeländer hinlief, zwei Telephonhörmuscheln, die dort zufällig auf der Brüstung lagen, ergriff und an die Ohren hielt und nun immerfort nichts anderes verlangte, als Nachrichten vom ‚Pontus‘ zu hören, aber aus dem Telephon nichts und nichts zu hören bekam, als einen traurigen mächtigen wortlosen Gesang und das Rauschen des Meeres. Ich begriff wohl, daß es für Menschenstimmen nicht möglich war, sich durch diese Töne zu drängen, aber ich ließ nicht ab und gieng nicht weg. (Kafka 1999: 55)

Das Pendant zu diesem Text, seine späte, im Rückblick gefasste Interpretation gewissermaßen, liefert der berühmte Satz über Kafkas Unmusikalität in dem Brief an Milena Jesenská vom 14. Juni 1920 aus Meran, in dem er behauptet, in „sonst nicht vorkommende[r] Vollständigkeit unmusikalisch“ zu sein (Kafka 2013: 186). Kafkas Brief an die ferne Geliebte Felice Bauer handelt, wie sollte es anders sein, von dem Transport von Nachrichten und von der Störung dieses Transports. Dabei beruft er sich, als Zeugen, auf zwei Figuren aus dem Feld der Literatur: auf Hamlets Wort von den Träumen, die über das Leben hinausreichen,1 und auf Ovid, den von Augustus ans Schwarze Meer ver1 „Schlafen: vielleicht auch träumen? Ja, da liegt’s“ Shakespeare, Hamlet, 1. Akt, 3. Szene.

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bannten Dichter, der von dort seine epistulae ex ponto (Briefe aus dem Pontus) schrieb – Klagen des exilierten Dichters. Das ist ja auch seine, Franz Kafkas, Situation: Ist er doch selbst ein, zwar nicht durch den Kaiser aus Rom, aber doch durch den Vater aus der Familie Verstoßener, der das Rätsel der Welt, die ihn aus sich entlassen hat, nicht zu lösen vermag, nicht lösen kann. Was Kafka in seiner kurzen Briefpassage entwickelt, ist das Modell seiner Weltwahrnehmung und seiner eigenen Positionierung in der Welt, wie er es mit den Protagonisten seiner Novellen und Romane in immer neuen Experimenten in Szene setzt. Dieses Modell der Weltwahrnehmung aber präsentiert sich so: Kafkas Helden erwachen aus dem Schlaf, sie öffnen ihre Augen und erleben einen Orientierungsschock, dessen Grund wie dessen Absicht, dessen Urheber wie dessen ordnendes Gesetz sie nicht zu erkennen vermögen. Kafkas Protagonisten suchen eine Orientierung in der Welt, und sie versuchen, den Sinn der Rituale, der Zusammenkünfte, der Lebensordnungen, der Wertsetzungen, die ihnen begegnen, freizulegen und dem Verständnis zu öffnen. Freilich gelingt dies kaum einmal; aber die Auseinandersetzungen werden immer von Neuem angezettelt. Man denkt, was die ‚Orientierungskrise‘ angeht, natürlich an Gregor Samsa, der als Tier erwacht („‚Was ist mit mir geschehen?‘“; Kafka 1996: 115), um seine Selbstgewissheit und sein Selbstgefühl wiederzuerhalten; man denkt an Josef K., der am Morgen seines dreißigsten Geburtstags verhaftet wird, obwohl er sich keiner Schuld bewusst ist; man denkt an den Affen Rotpeter im Bericht für eine Akademie, der nach seiner Genesung von einem „frevelhaften Schuß“ (Kafka 1996: 302) an der Tränke auf dem Expeditionsschiff in der Welt der Menschen erwacht und nach einem Ausweg sucht; man denkt an Karl Roßmann, der in Amerika – wie ihm sein Onkel erklärt – gleichsam zum zweiten Mal geboren wird, aufwacht und einer ihm unverständlichen Welt ausgeliefert wird, in deren Dickicht er seine Identität verliert und zuletzt unter dem Namen Negro im ‚Wilden Westen‘ verschwindet. Man könnte noch viele Beispiele finden. Zu dieser Orientierungskrise, diesem Orientierungsschock tritt aber nun noch die Erfahrung der Fremdheit und der in ihren Funktionen gestörten modernen Kommunikationsmedien, namentlich des Telefons. Es ist sicher kein Zufall, dass das Telefon in dem hier infrage stehenden Pontus-Text ausgerechnet auf einer Brücke liegt, dem Kommunikationssymbol schlechthin. Und das Telefon spielt eine Schlüsselrolle in dem Pontus-Text, wie es eine solche in vielen anderen Texten spielt – ich erinnere an den Telefonsaal in der Fabrik des Onkels im Roman Der Verschollene oder an die umfassende, alles

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durchflechtende Telefonanlage im Schloß-Roman: „Im Schloß [...] wird [...] ununterbrochen telephoniert“. (Kafka 1982: 116) Wie in all diesen Stellen so auch hier, im Pontus-Text: Das Telefon transportiert nichts „als einen traurigen, mächtigen, wortlosen Gesang und das Rauschen des Meeres.“ Was da als Botschaft ankommt, ist in hohem Grade ambivalent: Einerseits ist es die Mitteilung einer mächtigen Strömung, einer Lebenskraft, die alles vorantreibt; andererseits ist diese „mächtige“ Bewegung „wortlos“, wie es im Text heißt, also ohne Code und semantische Ordnung und Referenz; mithin leer, ein nichtssagendes Geräusch (im Wortverstande); einerseits scheint die Musik lebenserfüllte Dynamik zu sein, andererseits aber „wortloser“, also noch nicht durch Sprache vermittelter Naturlaut. Menschliche Stimmen werden durch das Rauschen der Medien gelöscht. Aber, so schreibt Kafka zuletzt, und das ist der mir wichtigste Satz: „[I]ch ließ nicht ab und gieng nicht weg!“ (Kafka 1999: 55) Dieser Satz: „Ich ließ nicht ab und ging nicht weg“ ist ein manisches Insistieren auf Subjektbildung, von dem aus ich meinen Überlegungen zur Musik in Kafkas Werk und Kafkas Unmusikalität nachgehen möchte. Meine These, jetzt im Voraus formuliert, lautet: Die Musik in Kafkas Werk ist eine Metapher für den Akt der Weltwahrnehmung und das als unlösbares Rätsel sich präsentierende sinnliche Phänomen einer undurchschauten und vielleicht undurchschaubaren Ordnung der Welt. Die Musik, ein Medium, das Kafka als ,chaotisch‘, als indistinktes ‚Rauschen‘ erscheint, für dessen Entschlüsselung er keinen Code besitzt und in dem ihm auch kein solcher sichtbar oder hörbar wird. Musik ist ihm aber zugleich ein Phänomen, das gleichwohl als von großer akustischer Anziehungskraft sich erweist; also einen sinnlichen Gehörzauber ausstrahlt, dem man sich nicht entziehen kann; der bis in das innerste Gefühl des Lebenskerns eindringt, der das Subjekt trägt und dauerhaft modelliert. Es ist das Subjekt-Gefühl, das Selbst-Gefühl, das sich aus diesen ‚unmusikalischen‘ oder jedenfalls nicht sprachlich codierbaren ‚Erregungszuständen‘ herausbildet. (Ich verwende bewusst diese aus der romantischen Philosophie stammende, von dem evangelischen Theologen Schleiermacher ins Gespräch gebrachte Bezeichnung der Erregungszustände für eine von den Romantikern nicht näher charakterisierte Lebens- und Überlebenskraft: den Eros, in der Spannung zwischen Liebe und Theologie. Ich habe diese Zusammenhänge in einem Aufsatz über Foucaults Konstruktion des ‚inneren Triebes‘

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zu rekonstruieren versucht.)2 Es ist diese namenlose Kraft, die das Leben vorantreibt und die man nicht näher zu bezeichnen vermag; die einen bis in die Tiefe des Erlebens und der seelischen Überwältigung erfüllt und nicht loslässt, – es ist diese namenlose Kraft, für die Kafka das Wort Musik gebraucht: im Sinne eines nicht zu lösenden Rätsel- und Erregungszustandes, der gleichwohl auf unwiderstehliche Weise aus dem natürlichen Organismus Mensch in unser kulturelles Leben einwirkt. So gesehen ist es auch konsequent, wenn Kafka sich selbst – als von Musik überwältigt und doch zugleich als unmusikalisch – fühlt und bezeichnet: „[W]eißt Du eigentlich“, schreibt er in einem seiner Briefe, von dem hier schon die Rede war, an Milena Jesenská, „daß ich vollständig, in einer meiner Erfahrung nach überhaupt sonst nicht vorkommenden Vollständigkeit unmusikalisch bin?“ (Kafka 2013: 186)

2. Kafkas Vorstellung von seiner ‚vollständigen‘ Unmusikalität im Brief an Milena gehört in hervorgehobener Weise zu dem Mythos der Musikalität, der viele von Kafkas aus dem Kulturthema Musik heraus entwickelten Texte beherrscht, wie zum Beispiel die Forschungen eines Hundes oder Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. Dabei geht es Kafka um die Darstellung der Arbeit am Mythos (Blumenberg 2006), also um die Rezeption und Bearbeitung von Mythen ‚klassischer Art‘ in der Absicht ihrer Anpassung an das Kulturmodell der Moderne und seine Fruchtbarmachung für die Wahrnehmungsproblematik; also für die Gestaltung der Welt im Sinne einer modernen Zeichen-Kultur; einer Konzeption der Kultur als eines Denk- und Handlungsfeldes, das ein solches der gespaltenen Zeichen ist. Roland Barthes hat solche Denk- und Handlungsfelder, die metaphorisch besetzt sind, als Diskurse verstanden; Diskurse, die mit ihrem semantischen Überschuss demjenigen, der als unmusikalisch Empfindender in eine Orientierungskrise gerät, zu Hilfe kommen: einem desorientierten Unmusikalischen deshalb, weil dieser sich gezwungen sieht, mit Zeichen umzugehen, die aus einer ambigen Bedeutungserfahrung 2 Zu dieser Frage nach der ‚Aufgehobenheit‘ des neuen Diskurses im kulturellen Redezusammenhang vgl. meinen Aufsatz: Erotik und Wissensbegehren. Eine Relektüre von Michel Foucault. – In: Erregungsmomente. Funktionen des Erotischen in der Literatur. Hrsg. v. Juliane Blank und Anja Gerigk. Bochum: Bachmann 2017 (i. D.). Zum Thema Kafka und die Musik vgl. auch meinen Aufsatz Neumann (1990).

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erwachsen: nämlich der gleichzeitigen Bezauberung und Abstoßung durch die ‚unverstandene Musik‘. Musik erweist sich im Sinne Franz Kafkas als ein solches, freilich gespaltenes, Leitmuster in einer Orientierungskrise, als ein solches Ordnungsin­ strument, neben anderen solchen Gebilden und Konstellationen des Musikalischen und in Auseinandersetzung mit ihnen. Die Liebe hat, seit ältesten Zeiten der Literatur, ihr mythisches Ur- und Gegenbild in der Musik: Orpheus und Eurydike einerseits, Odysseus und die Sirenen andererseits. Kafka bedient sich der letzteren Konstellation, um gewissermaßen in der Arbeit am Mythos der Antike die mythische Szene der Liebe in der Moderne zu rekonstruieren und in ihrer Wandlung zu erkennen. Ich möchte mich zunächst der kurzen Geschichte von Odysseus und den Sirenen zuwenden, die wie in einem Brennspiegel das mythische Szenario der Musik vergegenwärtigt. Es ist das Szenario der gespaltenen Zeichen. Solche gespaltenen Zeichen hatte Sigmund Freud Fetische genannt, in Anlehnung an den Begriff des Fetischs in der Ethnologie und durch Ansiedlung dieses Begriffs nun zwischen sozialer und sexueller Bedeutung in der Kultur. In Freuds Nachfolge hatte dann Robert J. Stoller im Blick auf die Theorie und Funktion des Narrativs in der Moderne den Terminus ‚fetish‘ in das sprachliche Feld hinübergeführt und auf die Formel gebracht: „A fetish is a story masquerading as an object.“ (Stoller 1985: 155) Einen solchen Fetischcharakter erhält auch der antike Mythos, wenn die Moderne sich daran abarbeitet. Es geht also in dieser Moderne nicht mehr um die antike Auffassung von einer unerhörten Leidenschaft und tragischen Neugier, deren Träger auf der Bühne spektakulär scheitern, sondern um die Stärke des Protagonisten in der listig eingeschmuggelten homerischen Erzählung von Odysseus und den Sirenen; von Mast und Ketten, mittels deren sich Odysseus an seinem Schiff befestigen lässt; und um die paradox verkoppelte Erfahrung von Abscheu angesichts der an die Sirenengeschichte angekoppelten Erotik und der Faszination durch eben diese Erotik. Es ist ein zur Lebenskraft Kafkas verändertes Modell sexueller Kommunikation und der sie bestimmenden Erregungsmomente, wie sie, verwirrender als jemals, im Blick auf die professionelle wie auf die familienethische Auffassung von Geschlechterdifferenz, also von Bordell und Kleinfamilie, mehr und mehr ins Spiel kommen: ein Verwirrspiel im Garten der Gefühle.

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3. Ein besonders gelungenes Beispiel für diese ‚Arbeit am Mythos‘, als welche Kafkas Schreiben verstanden werden kann, ist die kurze Geschichte Das Schweigen der Sirenen. Dieser Text Kafkas greift den antiken Mythos von den Sirenen und ihrem unvergleichlichen, erotischen Gesang auf, dem jeder an den Felsen der singenden Monstren vorbeifahrende Seefahrer verfällt – wo er dann von den Sirenen getötet wird. Keiner außer Odysseus, so beginnt Kafkas Text, sei diesem Schicksal je entgangen. Es ist, für Kafkas Begriff des ‚neuen‘ Mythos, eine Konstellation der Moderne, die er in dem Prosastück Das Schweigen der Sirenen gestaltet (Kafka 1992: 40-42): im Sinne der Femme fatale und ihres Verhältnisses zu bürgerlichen Männern; im Sinne der Furcht dieser Männer aber auch, in die Fänge der Sirenen zu geraten und durch sie ruiniert zu werden. Odysseus sucht ein Mittel, um dieser Zerstörung durch die Frau zu entgehen; einer Frau, die ihn durch ihr Singen bezaubert und vernichtet. Er sucht die mythische Konstellation, die eine verderbliche Wahrnehmung im Blicktausch zwischen der singenden Sirene und dem lauschenden Spießbürger Odysseus3 darstellt, zu vermeiden, indem er sich an den Mast ketten lässt, um durch diese ‚Disziplinierung‘ dem legendären erotischen Sog der Sirene zu entgehen und doch gleichzeitig ihren Gesang zu hören. Er antwortet mithin der erotischen Verführung durch eine Gegenstrategie. Um diese noch zu verschärfen, fügt er zu allem Überfluss ein weiteres ‚Mittelchen‘, wie es im Text heißt, hinzu, das aber die Gegenstrategie ihrerseits unterläuft; Odysseus verstopft sich nämlich die Ohren mit Wachs, sodass er die verführende Musik nicht zu hören vermag. Auf diesen Schachzug antworten nun wiederum die Sirenen, indem sie auf die Gewalt der Musik verzichten und ein noch viel stärkeres Mittel der Verführung einsetzen, nämlich die Gewalt ihres Schweigens, der Stille; wobei genau hier die Kluft in der Kommunikation liegt. Denn wie kann Odysseus wissen, dass die Sirenen schweigen, wenn er sich doch die Ohren verstopft? Durch diese Umkehrung des klassischen Verlaufs der mythischen Erzählung (Neumann 1968) wird eine Anpassung an die ‚moderne‘ Auffassung des 3 Dies ist die an Kafka anknüpfende Deutung und Umdeutung Bertolt Brechts von der gleichen Geschichte (Brecht 1965). Brechts Fußnote zu Odysseus und die Sirenen: „Für diese Geschichte findet man auch bei Franz Kafka eine Berichtigung, sie scheint wirklich nicht mehr glaubhaft in neuerer Zeit.“ (Brecht 1965: 227)

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Mythos erreicht, die freilich auch die angestrebte Erfahrung der Sirenenmusik verhindert, welche, wenn man es so nennen will, die Wahrnehmungskanäle blockiert. Was Kafka mit seiner Umschreibung des antiken Mythos und seiner Bildung eines der modernen Kultur angepassten ‚neuen‘ Mythos (als Kommunikationsmodell) erreicht, ist die Einsicht in die Konstruktion der modernen erotischen Kultur als einer paradoxen Mischung oder Überkreuzung von Wollust und Disziplin, Ausleben der erotischen Lust und Zähmung ihres Überschwangs durch Askese, durch Maßnahmen der sexuellen Enthaltung. Wodurch er dies erreicht, ist das Eintreten der Stille zwischen Lärm und Musik – das Schweigen, als die stärkste Waffe zur Durchsetzung des Genusses der Musik. Die hier vorliegende Umschreibung des Mythos der Musik zeigt in aller Deutlichkeit die Wirkung von Kafkas Umgang mit der erotischen Lust und ihrer möglichen Ansiedlung in der Moderne: die Erfahrung der Musik als Bedrohung und leidenschaftliche Überwältigung, als Verleugnung und Anerkennung ihrer Verführungskraft zugleich, des Verhältnisses dieser paradoxen Haltung des unmusikalischen Menschen zu der Musik, die als Fetischzeichen, als gleichzeitige Verleugnung und Anerkennung des musikalischen Genusses erscheint; also die Auffassung der Musik als Fetisch; als Erfahrung der gespaltenen Zeichen, die, wenn sie strategisch eingesetzt werden, zwar keine Erlösung bieten, aber doch einen ‚Ausweg‘. Dieses ‚Sich-in-die-Büsche-Schlagen‘ (Kafka 1996: 312) ist die Strategie, die der Affe Rotpeter im Bericht für eine Akademie verfolgt.

4. Roland Barthes hat von Mythen des Alltags gesprochen und damit die Vorstellungen, Figuren, Konstellationen und erzählten Geschichten gemeint, die sich, ohne rationale Begründung, zu mehr oder minder verflochtenen Netzen und Geweben aus Sprache und Bildern verbinden und zu nicht weiter befragten flottierenden Sprachensembles und Emotionsspeichern, die Barthes Diskurse nennt, zusammenschießen. Dabei kristallisieren sich leitende Vorstellungen und Begriffe heraus, die sich in diesen Netzen festsetzen oder sich auch verschieben und überschneiden, und dabei so etwas wie Markierungen oder Beschwörungen von Kulturthemen sind. Barthes (1993) nennt sie ‚mythologies‘.

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Im Fall Kafkas sind das Vorstellungen wie Tierheit, Menschheit, Musik, Liebe, Eros, Nahrung, Sexualität, Verwandlung (Metamorphose) – und ebenso auch Musik. Wenn ich in meinem Vortragstitel von musikalischen Mythen spreche, so meine ich dies. Es scheint mir ein Mittel zu sein, um die kulturellen Bedeutungsfelder zu beschreiben, in die Kafkas Schreiben eingebettet ist; mit denen es sich auseinandersetzt. Unter diesen diskursiven Bedingungen scheint aber jede Art von homogener Hermeneutik, wie sie ja für die Mythen in der Antike möglich ist, zunächst zu versagen. Stattdessen gibt es in diesem Feld der mäandernden Methodengeschichte alterprobte motivgeschichtliche Analysen (Fingerhut 1969), semio­tische oder literarhistorische Ansätze, zu denen sich in letzter Zeit mehr und mehr kulturgeschichtlich orientierte Zugänge gesellen:4 also zum Beispiel Fragen wie Kafka und das Essen, Kafka und Verwandlung, Kafka und die Tierfiguren und weitere Themen mehr. Inzwischen scheint sich ein kulturhistorischer Ansatz zur Bearbeitung solcher Themen durchzusetzen und auch zu bewähren. Und die Perspektiven des Kulturthemas Musik als eines der komplexesten derartigen Beobachtungsfelder versprechen neue Erkenntnisse, die sich von der metaphern- und motivgeschichtlichen Untersuchung in Richtung eines wissenschaftsgeschichtlichen Denkens bewegen: mit den zwei Schwerpunkten Inszenierungsstruktur der Wirklichkeit und Verwindung einer Semiotik der Sprache mit einer solchen des Körpers. Kafkas Werk kann man sich als ein Gewebe vorstellen, das partiell aus verschiedenen Bild- und Wortkomplexen gebildet wird, die von mehreren, ineinander verflochtenen, manchmal auch verkeilten Komplexen bewegt werden. Für den hier relevanten Zusammenhang sind es namentlich vier solche ineinander verschraubten Komplexe von Ereignissen, Resümees, Metaphern und Rettungsmustern, die das Spiel auf der Bühne der Mythen organisieren, ja gerade entwerfen: Musik, Tier, Nahrung, Verwandlung. Sie bilden die Leitmarken, unter denen die oft wirren Mythen der Moderne sich bewegen und verwandeln. Sie erhalten ihre Geltungskraft nicht selten durch Verwindungen und Verschmelzungen oder Überlagerungen mehrerer mythischer Modelle. Dies ist auch bei Kafka der Fall, der den Mythos der Musik mit dem Mythos des Tiers (und seiner Nahrung) verkoppelt. Das Tier und sein Verhältnis zum Menschen werden über seine Möglichkeiten des Überlebens in den pädagogischen, technisierten, von Kämmen und Gehirnhälften traktierten Ritualen und Instituten der Menschenwelt befragt. 4 Einige Bemerkungen über diese mäandernde Forschungsgeschichte der Literaturwissenschaft in Neumann 2014.

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Unter diesem letzten genannten Aspekt erscheint Kafka aber dann gewissermaßen als unmusikalischer Semiologe, der in seinen Texten die Musik in immer neuen Experimenten namentlich im Zusammenhang mit seinen Tierfiguren nach ihrem Zeichenwert und ihrem Sinn, ihrer möglichen Botschaft befragt. So könnte man mit einer von Foucault entlehnten Formel sagen, dass Kafkas Protagonisten in seinen Texten die Frage ‚Wer bin ich?‘ nicht mehr an eine metaphysische Instanz und auch nicht an die Sexualität stellen, sondern an die Musik. Und dass umgekehrt fast immer Musik ins Spiel kommt, wenn die genannten Orientierungskrisen in der Karriere von Kafkas Protagonisten sich anbahnen.

5. So spielt beispielsweise, als der Affe Rotpeter aus dem Bericht für eine Akademie auf dem Schiff nach Europa seinen ersten Menschwerdungsversuch unternimmt, im Hintergrund ein Grammophon. Und als Karl Roßmann seine erste Krise im Haus seines Onkels erlebt, erinnert er sich der Harmonika spielenden Soldaten in seiner Heimat und erhofft sich, wie es wörtlich heißt, in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel [in New York] und schämte sich nicht wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. (Kafka 2002: 60)

Natürlich vergeblich, wie man bald erfährt. Am deutlichsten zeigt sich diese Orientierungskrise, die auf ein Musik­ ereignis stößt, natürlich auch in demjenigen Text, der diesen Orientierungsschock in Kafkas Werk am umfassendsten herausarbeitet, nämlich in der Erzählung Die Verwandlung. Hier ist die Frage nach Wert und Unwert der Musikalität für die Bildung und Ausbildung des Individuums am schärfsten zugespitzt: ja ihre Beantwortung entscheidet, so könnte man sagen, förmlich über Weiterleben oder Tod des Gregor Samsa, der in seinem lebensbedrohlichen Orientierungsschock sich selbst die Frage stellt: „Was ist mit mir geschehen?“ (Kafka 1996: 115), und, als ihn das Violinspiel der Schwester im Nebenzimmer verzaubert, voll Verzweiflung – im Modus der erlebten Rede – ausruft: „War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff ?“(Kafka 1996: 185) Dieser Satz ist auf zweifache Weise lesbar: entweder aus der Perspektive des musikalischen oder aus der des entgegengesetzten, also des unmusikalischen Hörers.

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Mit anderen Worten: Ist Musik eine Barriere, die dem Unmusikalischen a priori den Weg zum Verständnis der Lebensdynamik und des Lebenssinns versperrt? Oder ist sie vielmehr ein fremdes semiotisches System, zu dem der durch sie so tief Ergriffene, obwohl ihn schon das bloße Hören der Musik unwiderstehlich überwältigt, keinen verstehenden Zugang findet? Oder abermals anders formuliert: Warum erscheint dieser folgenschwere Satz, der über Leben und Tod entscheidet, hier als erlebte Rede? (Und zwar als einziger in dem ganzen Text, soviel ich sehe.) Wohl darum, weil er unverbürgt erscheinen und bleiben soll. Dieser Satz kann, auch in diesem Sinne, doppelt verstanden werden: Entweder Gregor wäre in diesem Augenblick, eben weil er ein Tier ist, imstande, die Musik (zum Beispiel als Naturklang) zu verstehen und von ihr ergriffen zu werden. Oder aber umgekehrt: Er würde, eben weil er noch kein wirkliches Tier, sondern lediglich ein gebildeter, wenn auch in ein Tier verwandelter Mensch ist, von diesem Geigenspiel so maßlos ergriffen. Die Musik könnte, so mag er denken, ihm, Gregor, dem mit seinem Beruf unzufriedenen Geschäftsreisenden und dem in der Familie festgehaltenen Schuldentilger, den Weg zur Kunst bahnen. „Ihm war“, heißt es da beim Anhören der Musik, des schwesterlichen Geigenspiels, „als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung.“ (Kafka 1996: 185) Ich möchte behaupten – und ich habe es durch die Titelwahl schon angedeutet –, dass Die Verwandlung der wichtigste Text für unsere Frage nach der semiotischen Struktur und Funktion der Musik in Kafkas Schriften ist.

6. Das Phänomen der Verwandlung – als eines der wichtigsten Kulturthemenrituale, als wiederkehrendes ‚Ereignis‘, als Strategie im Schreiben und Handeln, als Szenario einer Orientierungskrise, als Probelabor und als was nicht noch alles mehr – das Phänomen der Verwandlung verknüpft die Frage nach der Bildung des Subjekts mit derjenigen nach der Tierheit und ihren Möglichkeiten des Überlebens in der Kultur. Hier klingt aber noch ein weiteres Kulturthema an, das bei Kafka dem Thema der Musik beigesellt ist und im Umkreis der Orientierungskrisen der Protagonisten Bedeutung gewinnt: das der Nahrung. Gregor Samsa sagt es selbst: Es sei so, „als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten

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Nahrung.“ (Kafka 1996: 185) An diesem Thema der Nahrung, und zumal ihrer Verweigerung, lassen sich zum Beispiel die Entwicklungen und Beschädigungen der Individualität Gregor Samsas im Hinblick auf eine finale ‚Zerstörung‘ oder ‚Erlösung‘ ablesen. Gregors ganze Entwicklung und Beschädigung seiner Identität sind an der Entwicklung seiner Essakte abzulesen. Die Musikhunde beziehen ihre Nahrung aus der Luft und der Protagonist des Amerika-Romans gerät von einer Essenszene in die andere bis hin zu der Krisensituation in Bruneldas Wohnung. Das Thema der Verwandlung bietet, so gesehen, einen der wichtigsten kulturellen Schlüsselbegriffe, ohne den weder Realwissenschaften noch Sozialwissenschaften noch auch historische Anthropologie oder Literaturwissenschaft betrieben werden können (Neumann 2006). Kafka setzt diesen Begriff sogar als Titel seiner Geschichte: Die Verwandlung. Und die englische Übersetzung des Kafkaschen Titels – Metamorphosis – macht noch viel deutlicher, in welche kultur- und weltgeschichtliche Tradition dieser Text eingeschrieben ist: eine Tradition, die Kultur als einen Akt, als eine Dynamik der Veränderungen erkennt und begreift. Ich meine Ovid und seine Metamorphosen. Es ist eine Charakterisierung von Kultur, des kulturell Realen, wie sie nicht besser gefunden werden kann. Kultur ist nicht anders denkbar denn als ein fortgesetzter Prozess der Verwandlung. Kultur ist, wenn man es zuspitzt, Verwandlung des Selben. Ovid war, wenn man so will, der erste Kulturhistoriker.

7. Seit dem Erscheinen von Foucaults Histoire de la sexualité (Foucault 1976, 1984a, b) wird auch das Wahrnehmungsmodell plausibler, das Kafka für seine Konzeption der Subjektfindung oder Subjektbildung entwirft. Foucault hat gezeigt, wie im 19. Jh. die Transzendenz ihre Rolle als Prüfstein für die Bildung des Subjekts verliert und die nicht definierbare, leidenschaftlich erfahrene und begehrenspendende Kraft der Sexualität (ein Verlegenheitswort für eine noch nicht kulturisierte emotionale Kraft) die Stelle der Transzendenz übernimmt – der Transzendenz, die ihre konkrete Bedeutung verloren hat. An ihrer Stelle wird ein in die Tiefe der Brust versenkter Kern des Begehrens angenommen, als dessen Subjekt im Wortverstande der Mensch sich erfährt oder doch erfahren kann; ein Prüfstein der Identität, an dem sich entscheidet, wie und in welche Richtung Individualität hergestellt wird; orientiert nicht mehr an einem

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göttlichen Heilsplan oder einer je und je sich einstellenden Instanz, sondern an der sexuellen Lust. Es war Foucault, der die bereits angepasste Formel geprägt hat, wir hätten die Frage, wer wir sind, an die Sexualität zu richten gelernt und die göttliche Instanz aus den Augen verloren. Die Foucault’sche Formel eignet sich aber, seit sich keine universale Instanz mehr in ihr artikuliert, auch zur Anwendung auf andere Treibsätze des Lebens; ich übertrage sie also probeweise auf die Musik.5 Denn etwas Ähnliches scheint Kafka mit seinem durch Lebenskraft gesteuerten Wahrnehmungsmodell als Bildungsmodell des Subjekts im Sinn zu haben. Seine Figuren richten ihre Frage, im Blick auf die kardinale Unterscheidung von musikalisch und unmusikalisch, darauf, wer sie sind und wie sie zum Subjekt gebildet werden können; an die Musik also, die als die große unbekannte, aber unsagbar leidenschaftliche und auch erotisch ergreifende Stimme aus der Tiefe der menschlichen Brust, aus einem dunklen Kraftzen­ trum des Lebens in unserem Inneren dringt: zwar in ihrem Sinn nicht fasslich, aber in ihrem Zauber unwiderstehlich. Es sind, nach Kafkas Auffassung, die musikalischen Menschen wie sein Freund Max Brod, der sich als Musiker und Musikkritiker versteht, die dies aufzufassen vermögen und sich in dieser Konstellation selbst finden; und es sind die Unmusikalischen, die an ihrer Hilflosigkeit angesichts dieses pulsierenden wortlosen Gefühls- und Lebensstroms scheitern. Ich habe darauf hingewiesen, wie sich bei Kafka an der Seite des Kulturthemas Musik das Thema Tierheit ansiedelt; begleitet von den Kulturthemen Nahrung und Verwandlung. Wo von Musik die Rede ist, da finden sich bei Kafka ganz nahebei auch die Tiere ein (und nicht selten ihre Nahrung). Wie bei dem Thema der Verwandlungen, das Kafkas Orientierungsversuche begleitet, erscheinen aber Tiere auch immer wieder als diejenigen Wesen, die an dem gelingenden oder versagenden Verständnis der Musik ihren Grad an Menschsein messen. Auch bei diesem Thema erweist sich Kafka als Experimentator, der seine Figuren auf der Grenze zwischen Mensch und Tier, unter

5 Etwas Ähnliches scheint sich im Briefwechsel (den wir ja nur als ‚halben‘ kennen) zwischen Kafka und Milena Jesenská abzuspielen, wenn das Thema ‚Liebe‘ in Gestalt der Vorstellungskomplexe Musik und Wald erscheint und diese sich ineinander verwinden.

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dem Gesichtspunkt ‚musikalisch – unmusikalisch‘ agieren lässt und auf die Probe stellt.

8. Ich möchte auf vier solcher Experimente an Tierfiguren aufmerksam machen, die Kafka gewissermaßen am Prüfstein der Musik anstellt. Die vier Texte lassen sich paarweise einander zuordnen. Da sind auf der einen Seite Die Verwandlung und Ein Bericht für eine Akademie: In dieser ersten Gruppe erfolgt die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, des Menschen Gregor Samsa, der zum Tier wird und der an dieser Grenzscheide samt ihrem musikalischen Postulat und ihrer Anforderung der Musikalität zugrunde geht, also die Musik nicht zu seinen Gunsten zu nutzen versteht; und es erfolgt andererseits, in dieser Gruppe, die Gegenüberstellung von Mensch und Affe, dem Affen Rotpeter nämlich, der, von der Musik angestoßen (der Grammophonmusik auf dem Schiffsdeck im Hintergrund), zwar keine Freiheit, aber doch einen Ausweg findet: durch scheinbare Verwandlung in einen Menschen, also durch Mimesis als Fiktion. Und da ist das zweite einander von Kafka zugeordnete Paar von Tiergeschichten und Musik: die Fragment gebliebenen Forschungen eines Hundes auf der einen Seite, die Novelle – wenn man sie so nennen will – Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse auf der anderen Seite. Es ist, wie ich schon angedeutet habe, das Experiment Kafkas mit der Zuschreibung des Musikthemas an den Forscher (den Musikhund) und an die Künstlerin (Josefine, die Sängerin). Auf der einen Seite steht (oder läuft) der Forscherhund im Kreis seiner allesamt musikalischen Artgenossen, als Anführer der Musikhunde, die als gleichermaßen musikalische Tiere, angeführt vom Forscherhund, die gewünschte Speise von oben erlangen; da ist aber, auf der anderen Seite, genau gegenüber, Josefine, die Sängerin, die zumindest vorgibt, also fingiert, musikalisch zu sein, und perlende ‚Koloraturen‘, als die höchste Form der musikalischen Virtuosität, zu praktizieren behauptet – zwar hört man (es sind die Mäuse gemeint) diesen Gesang, diese Koloraturen nicht; denn Josefines Singen ist eigentlich nur ein Pfeifen, und leiser als dasjenige der anderen Mäuse. Die hochstapelnde Künstlerin jedoch, umgeben von dem schlichtweg unmusikalischen Volk der Mäuse, weiß sich mit diesem Argument der virtuosen Musikalität lange Zeit zu behaupten, bis sie zuletzt verschwindet und verstummt. Aber ihre Wirkung ist nicht ausgeblieben; sie überträgt auf das andächtig

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lauschende Volk, und zwar durch ihre kunstvoll angesetzte ‚Propaganda‘, das Bewusstsein von einem Spielraum intensiver Musikkultur. An ihrem Beispiel zeigt Kafka, dass diese Fiktion der Musikalität – und gar in einem unmusikalischen Volk – sich nicht lange aufrechterhalten lässt. Der Musikhund vertritt also gewissermaßen den Wissenschaftlerpart, die Maus Josefine den Künstlerpart, in diesem Spiel um die identitätstiftende Bildungsfreiheit, die Selbstgewissheit, die durch das Verständnis der Musik als einer Lebens- und Überlebenskraft erreicht werden kann. So ist die abendländische Verwandlungskultur, an deren Anfang der großartige Ovid steht, den Kafka gewiss nicht zufällig in seinem Pontus-Brief nennt, für die Modellierung des Subjektbegriffs, namentlich was das Werk Kafkas betrifft, von zentraler Bedeutung. Für Franz Kafka ist dieser Subjektbegriff von einem Paradox geprägt, nämlich der Frage: Ist es möglich, dass ein Mensch, der sich ja dauernd verwandelt, zugleich doch als immer noch derselbe, der er zuvor war, angesehen werden kann? Dass er also den Keim seiner Individualität durch alle diese Orientierungskrisen hindurch bewahrt? Dieser Frage gehen Kafkas Verwandlungsgeschichten, die vorwiegend Tiergeschichten sind, nach. Gemessen und vermessen wird dieses Problem in Kafkas Vorstellung in doppelter Weise: zum einen am Verhältnis des Menschen zum Tier. Nähe und Abstand stehen für Kafka im Zeichen eines veredelten Darwinismus (Ein Bericht für eine Akademie). Zum anderen werden sie überprüft am Vorhandensein von Musikalität oder Unmusikalität; exemplarisch in der Gegenüberstellung von musikalischen Hunden und unmusikalischen Mäusen – zu denen auch die ‚falsche‘ Sängerin Josephine gehört.

9. Als Maß für den Anteil des Tierischen am Menschlichen und umgekehrt des Menschlichen am Tierischen gilt die Verwandlungsskala zwischen Mensch und Tier mit ihren Differenzen und Abstufungen. Was es mit diesen wechselnden Vermessungen auf sich hat, dem ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben, offenbar ohne auf Kafka Bezug zu nehmen, in seinem umstrittenen Buch Das Offene. Der Mensch und das Tier (Agamben 2003) nachgegangen. Agamben schreibt dem Menschen und seiner Menschwerdung nichts weiter als jenen alten philosophischen Sinnspruch nosce te ipsum zu, was bedeutet,

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„dass nur derjenige Mensch sein wird, der sich selbst als solcher erkennt; dass der Mensch dasjenige Tier ist, das sich selbst als menschlich erkennen muß, um es zu sein.“ (Agamben 2003: 36; Herv. i. O.) Genau diese Erkennungsprobe spielt sich auf dem Schiff mit dem Affen Rotpeter ab, der sich zuletzt, um der Gefangenschaft im Zoo zu entgehen, einfach entschließt, Mensch zu werden, und der diese Verwandlung nicht wirklich erzielt, weil sich ihm die Botschaft der Musik nur in ihrer trivialsten Form, als Grammophongeplärre, weder mit noch ohne Code, mit dem sie ihre Wirkung erlangen könnte, eröffnet. Rotpeter gewinnt also nicht die Freiheit, aber doch einen „Ausweg“. Er tritt als ‚Künstler‘ im Varieté auf. Er „[schlägt] sich in die Büsche“ (Kafka 1996: 312), wie Kafka mit jener schönen Wendung sagt. Es ist das, was dem Affen Rotpeter partiell gelingt und Gregor Samsa nicht, so Agamben: Der Tiermensch und das Menschentier sind die beiden Gesichter derselben Bruchstelle, die weder von der einen, noch von der anderen Seite her geschlossen werden kann. (Agamben 2003: 46)

Dies besagt, dass das Tier das Andere des Menschen ist, dabei aber zugleich das Eigene, das ihm aus ältester, dunkelster Vergangenheit entgegenkommt. Nur indem der Mensch das ihm Fremde in seine sozialen und künstlerischen Verhältnisse zu integrieren vermag, wird er auch das, was ihm ‚eigen‘ ist, verstehen lernen. Es ist die Heraufkunft einer Krise, die es erlaubt, das sprachliche Dilemma, das sich an dieser Stelle des Diskurses bei der Kontamination von den Vorstellungen des Eigenen und Fremden andeutet, wenn nicht zu lösen, so doch ihm eine greifbare Unterscheidung angedeihen zu lassen. Dabei wird klar, dass dieses Spiel der Vermessung der Distanz zwischen Mensch und Tier auch ein Politikum geworden ist und sich dieser Wissenschaft vom Fremdsein des anderen annähert und ihrer sich bedient, der Ethnologie. Ich erinnere nochmals an die Formulierung dieses Dilemmas durch Agamben: Die Festlegung der Grenze zwischen Humanem und Animalischem ist nicht eine Frage der Theologie oder Philosophie [...], sondern eine biographisch-politische Operation. (Agamben 2003: 45)

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10. Nun möchte ich, nach der Erörterung der Konstellation von Forscher und Künstler im Zeichen der Musik in der Zusammenstellung der von Kafka gewissermaßen einander zugeordneten Geschichten Forschungen eines Hundes und Josefine, die Sängerin, noch einen genaueren Blick auf diese Texte selbst werfen, weil ich verdeutlichen möchte, dass in diesem Doppelkonzept Hund und Maus die Frage nach der Musikalität und Unmusikalität bei Kafka wenn schon keine Lösung, so doch eine neue Färbung erhält. Denn es ist so etwas wie ein neues semiologisches Konzept, das Kafka in dieser Textkorrelation ins Spiel bringt. Die beiden exemplarischen Figuren, der Musikhund und die Koloraturensängerin Josefine, repräsentieren in gewisser Weise das Dilemma, an dem Gregor Samsa in der Verwandlung zugrunde geht, nämlich die für die Bildung von Individualität erlangte Gewissheit über die Entscheidung zwischen Musikalität und Unmusikalität. Samsa, der aus der bürgerlich-sozialen Lebenswelt verstoßene, tiergewordene Mensch, meint, in der Musik einen noch unartikulierten, ersehnten, ihm wesentlichen Lebenskern zu gewahren. Es scheint, als sei ihm Musik ein Medium, das jenseits aller kulturellen Zeichen ein innig Naturhaftes und Körperwahres aufzufassen und zu repräsentieren vermöchte. Das Besondere, im Kafkaschen Sinne, an diesen musikalischen Zeichen ist es, dass sie in einer verdoppelten und verdoppelnden Spannung stehen. Einerseits strömt, durch sie ausgelöst, eine zauberische Macht und Überwältigung auf den Hörenden ein; andererseits aber scheinen diese Zeichen der Musik etwas Fremdes, Unerklärliches, Rätselhaftes, ja Abstoßendes zu vermitteln: etwas Unerklärliches deshalb, weil der Zuhörende über keinen Code verfügt, um diese Zeichen zu übersetzen und zu ‚lesen‘, ja sie auch nur zu entziffern. Der Hörende erfährt sich als unmusikalisch, weil er die Musik nur als ihn überwältigenden, unartikulierten Strom ‚erleidet‘; weil die Musik die Referenzen, die sie als ein ihr eigenes, schon verinnerlichtes Zeichensystem möglicherweise bereits enthält, nicht konsequent dem Verständnis preisgibt. Dieser Grundgedanke, in der Verwandlung schon einmal experimentell als Prüfstein benutzt, wird in den beiden jetzt zu betrachtenden Geschichten, den Forschungen eines Hundes und Josefine, die Sängerin, gewissermaßen zerlegt und in der Gegenüberstellung von ‚musikalisch‘ und ‚unmusikalisch‘ von dem Experimentator als Fallgeschichte erzählt.

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11. Die Forschungen eines Hundes gelangen zu der Auffassung einer Tiergesellschaft, in der, wie es im Text heißt, „Musik schon seit [d]er Säuglingszeit [...] als [...] selbstverständliches unentbehrliches Lebenselement“ (Kafka 1992: 490) gepflegt und „von der nur dem Hundegeschlecht verliehenen schöpferischen Musikalität“ geprägt wird (Kafka 1992: 490). Die Mäusegesellschaft dagegen in Josefine, die Sängerin gilt Kafka als Inbegriff des ‚Unmusikalischen‘. „Wir sind doch ganz unmusikalisch“ (Kafka 1992: 651), erklärt denn auch die den Lebensweg Josefines kommentierende Maus; und sie bekräftigt erneut, dass „unser Geschlecht im Ganzen Musik nicht liebt.“ (Kafka 1992: 651) „Wir haben keine Jugend“, heißt es weiter. „Damit hängt wohl auch unsere Unmusikalität zusammen, wir sind zu alt für Musik, ihre Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere Schwere.“ (Kafka 1992: 667) Auf dem Hintergrund dieses Gegensatzes von musikalischer Hundegesellschaft hier, der Unmusikalität der Mäuse dort, entwickelt Kafka sein rezeptionsästhetisches Modell von der Musikalität und Unmusikalität als Lebensform, wobei er diese beiden Möglichkeiten der Weltwahrnehmung isoliert und in getrennten Stämmen wachsen lässt. Hier führt der Umgang mit Musik nicht zur Katastrophe, sondern zur Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von musikalischen Zeichen und ihrem Bildungswert. Umgekehrt verläuft Kafkas Experiment mit Josefine, der Sängerin. Hier ist nicht ein von Musikalität gesättigtes Volk, dessen Wesen durch einen Forscherhund ergründet werden soll, sondern ein durch und durch unmusikalischer Volkskörper, in dem einzig und allein Josefine versucht, beides zu verknüpfen und als die zwei Seiten einer Sache zu betrachten. Im Gegensatz zu Rotpeter, der aus dem Dilemma einen Ausweg findet, indem er sich als ‚Durchschnittseuropäer‘ inszeniert, der, wie er selbst feststellt, als Akademiker (vor der Akademie der Menschen) und als Varieté-Artist eine gute Figur macht, und sei es die eines Hochstaplers – im Gegensatz zum Schicksal Rotpeters misslingt dieses Experiment bei Josefine und diese verschwindet in der Masse ihrer ‚Volksgenossen‘, wie es im Text heißt; genau wie Karl Roßmann in den Weiten des Wilden Westens zum ‚Verschollenen‘ wird. Josefines Karriere scheitert, weil es ihr nicht gelingt, einen musikalischen Code zu vermitteln, der das Dilemma der Fremdheit, das Geheimnis der Unmusikalität und das Rätsel der gespaltenen Zeichen zu lösen vermag. Der Affe Rotpeter findet einen Ausweg, Josefine gelingt dies nicht.

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Forscherhund und Künstlermaus, Wissenschaft und Schöpfertum vergegenwärtigen zwei Seiten des Problems der Unmusikalität, d. h. der misslingenden Öffnung eines Kommunikationsraums in einer ästhetisch kultivierten Gesellschaft – der Forscherhund, also der einzelne Forscher, der vergeblich die Musikalität eines Volkskörpers zu ergründen unternimmt; und die vereinzelte Künstlerin, die vergeblich ihre Musik einem musikalisch nicht geschulten Volkskörper zugänglich und begreiflich zu machen sucht: Forschung und Künstlertum, Wissenschaft und Schöpfertum also. Es sind die beiden stärksten kulturbildenden Kräfte in vielerlei Gestalt, die in diesen beiden Figuren, dem Hund und der Maus, repräsentiert sind: die Wissenschaften und die Künste. Dass Kafka diese weltumspannende Aufgabe durch zwei Hochstaplerfiguren übernommen sein lässt, spricht für sich. Beide Figuren erreichen ihr Ziel im eigentlichen Sinne nicht; aber ihr Scheitern, zuletzt, erfolgt doch in je eigentümlicher Weise. Beide Experimente führen zu demselben Ergebnis: der momentanen rauschhaften Erfahrung einer alles überwindenden Kraft der Musik und der gleichzeitigen Unmöglichkeit ihrer Überführung in soziale Zeichen, in die Musik- und Nahrungswissenschaften der forschenden Hunde hier, in die Kunsterfahrung (Koloraturen) der unmusikalischen Mäuse dort.

12. An diesem Punkt, bei der Erzählung dieser Geschichten eines zumindest halben Scheiterns, kommt aber noch ein neues Argument in die beiden Texte, die, wie keine anderen, das Rätsel der musikalischen Zeichen umkreisen. Es ist das Argument der Stille, die eintritt; der akustischen Leere und des Schweigens, welche man als die eine Seite der ‚Botschaft‘ sendenden Zeichen auffassen könnte – die andere Botschaft wäre aber dann, so gesehen, das Rauschen und der wortlose Gesang, wie Kafka sagt. Es ist bemerkenswert, dass dieses Argument der Stille unversehens bei der Erörterung der Struktur der musikalischen Zeichen auftaucht und in beiden Geschichten, der Hunde- und der Mäusegeschichte, sorgfältig betrachtet wird. So heißt es über Josefine: Ist es ihr Gesang, der uns entzückt oder nicht vielmehr die feierliche Stille, von der das schwache Stimmchen umgeben ist? (Kafka 1996: 354)

Und von den Musikhunden heißt es ganz ähnlich:

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Sie redeten nicht, sie sangen nicht, sie schwiegen [...], aber aus dem leeren Raum zauberten sie die Musik empor. (Kafka 1992: 428)

Beide Experimente Kafkas enden denn auch mit dem Verzicht auf soziale Verzeichnung der Musik; also auf Mitteilung und Austausch von Sinn. Die Musik verwandelt sich zurück in naturhafte Empfindung und endet mit dem Versinken des die Musik erforschenden, des die Musik hervorbringenden ‚Subjekts‘ im Volkskörper oder in der Menschenmaske (Rotpeter). Letztes Ziel des Forscherhundes ist es, die Sehnsucht nach dem „höchste[n] Glück dessen wir fähig sind, de[m] warme[n] Beisammensein“ (Kafka 1992: 425), zu realisieren: Man könnte sagen: Erregungsmomente zu erschaffen; die Hoffnung, wie er bekennt, dass die ersehnte „Wärme versammelter Hundeleiber“, ein Wärmeglück zwischen Musik und Stille, ihn „umströmen“ möge (Kafka 1992: 469). Und von Josefine wird am Schluss der Erzählung gesagt: Selbst entzieht sie sich dem Gesang, selbst zerstört sie die Macht, die sie über die Gemüter erworben hat. [...] Josefine [...], erlöst von der irdischen Plage, [...] wird fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder. (Kafka 1992: 469)

In beiden Texten erscheint die Musik als eine natürliche und zugleich rätselhafte chaotische Kraft, die sich den verschiedenen in der Kultur entwickelten Zeichensystemen versagt: also dem Wissensdrang der Forschenden wie dem Darstellungsdrang des Künstlers. Die Musik ist dem musikalischen Menschen Bedeutung und Sinn, Versprechen von Wahrheit vor allem Zeichenwert. Und sie ist, für den unmusikalischen Menschen, Leere und Schweigen; wortloser Gesang. Weder der Mensch, der sich in ein Tier verwandelt, noch das Tier, das zum Menschen mutiert, vermögen den Klang der Musik zu ‚ver-zeichnen‘, also in Sprachzeichen zu verwandeln und aufzulösen. Sie können mit der Tatsache nicht umgehen, dass Zeichen voll überwältigender Lust und doch zugleich auch leer, ohne Struktur zu sein vermögen; dass sie in den Diskurs einschmelzen und dass es darauf ankommt, einen Diskurs zu entwickeln, der einer solchen Semantisierung gehorcht. Man könnte diese nicht eindeutig sprechenden Formen paradoxe Zeichen, aber auch ambige Zeichen nennen. Sie vermitteln Lust, und sie vermitteln Leere, ja Abwehr; je nachdem ob ein musikalischer oder ein unmusikalischer Hörer sich ihrer bedient oder sie zu entziffern sucht. Sowohl Josefine als auch Rotpeter haben keine Lösung für dieses Dilemma gefunden, aber sie haben nach einem Ausweg gesucht.

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13. Dafür, dass es nur ein Ausweg, aber gerade keine Erlösung, keine Himmelfahrt im christlichen Sinne ist, die Josefine erfährt, wenn der Erzähler von ‚gesteigerter Erlösung‘ Josefines spricht, gibt es eine schöne Bestätigung. Es war Felix Weltsch, der Jugendfreund Kafkas, der in seinem Nachruf auf den Dichter Kafka (Auerochs 2010: 327) überliefert hat, dass das Wort ‚Erlösung‘ nach dem jüdischen Sprachgebrauch in der Theologie nicht, wie im Christentum, eine überwältigende Erhebung und Freisetzung bedeutet, sondern nur einen ‚Ausweg‘ meint. In diesem Fall wären Rotpeters ‚Ausweg‘ und sein ‚Sich-in-die-Büsche-Schlagen‘ (Kafka 1996: 312) eben auch nichts anderes als Josefines ‚Erlösung‘, von der die erzählende Maus berichtet. Kafka lässt in der Verwandlung das Experiment mit der lebensbedrohlichen Verknotung von Leere und Lust scheitern, weil Gregor Samsa die Eigenschaft des Zeichens der Musik, seine Ambiguität, Lust zu gewähren und gleichzeitig Verständnis zu verweigern, nicht erkennt; weil Gregor also nicht merkt, dass musikalische Zeichen und Zeichensysteme einen widersprüchlichen Charakter haben können; weil ihm entgeht, dass diese Zeichen den Lauschenden mit rätselvoller, abstoßender Bedrängnis einerseits verschrecken und andererseits mit glücklicher Überwältigung beschenken; weil er nicht sieht, dass er es mit -– wie ich einmal sagen möchte – gespaltenen Zeichen zu tun hat:6 Die paradoxe Folge dieser vollkommenen Verkennung ist, dass die Musik den unmusikalischen Hörer bei dem Versuch, das Zeichen zu entziffern, mit rätselvollem Zauber und zurückstoßender Fremdheit begegnet und ihn damit in das Bewusstsein seiner ‚Unmusikalität‘ zurückversetzt. Kafka vermag daher durchaus mit Recht zu behaupten, völlig unmusikalisch zu sein und sich doch dem Genuss der Musik hingeben zu können, ohne sie zu verstehen. Wenn man dies berücksichtigt, so kommt man zu der Einsicht, dass der Umgang mit leeren und widersprüchlichen, also gespaltenen Zeichen zur Verzweiflung oder auch zu Lust und beglückender Überwältigung

6 Hier wäre an den Film Amadeus von Miloš Forman, nach dem Mozart-Drama von Peter Schaffer, zu erinnern, der die unbeantwortbare Frage nach dem Sinn der Musik, ihrer Semantik, gestellt von dem ratlosen Salieri, unter dem Eindruck der in der ersten Filmszene zu Gehör gebrachten großartigen Musik der Gran partita Mozarts einerseits, und dem läppischen erotischen Geplänkel zwischen Mozart und dem jungen, durch die Prachträume gejagten Mädchen andererseits als unauflöslichen Widerspruch zeigt: Himmelsparadies oder Höllentor.

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führen kann.7 Es ist, nach der klassischen Formulierung Watzlawicks, eine Doppelbindung im Spiel (Watzlawick/Beavin/Jackson 1974). Von der Musik geht, wenn sie einem unmusikalischen Hörer begegnet, eine widersprüchliche Handlungsaufforderung aus: ‚Liebe mich und liebe mich nicht!‘8

14. Kafkas ganze Aufmerksamkeit gilt aber der möglichen Lösung dieses paradoxen Problems. Und er kommt bei seinen Überlegungen zur Idee des ‚seitlichen Auswegs‘ (Deleuze/Guattari 1976), des ‚Sich-in-die-Büsche-Schlagens‘ (Kafka 1996: 312). Es wird dabei, angesichts des doppeldeutigen Charakters der musikalischen Zeichen und ihrer möglichen Entzifferung zwar keine Lösung gefunden; aber ein Ausweg öffnet sich manchmal auf wunderbare Weise. So gesehen ist das Problem dieser Zeichenverwirrung ein existentielles. Denn die Orientierungskrisen, die den Protagonisten Kafkas zustoßen, werden ja von solchen Verwirrungen der Zeichen der Welt, also zumal den ‚gespaltenen Zeichen‘, den doppeldeutigen Zeichen, angestoßen und geweckt. Und die Betroffenen sind gezwungen, diese Krisen zu bewältigen oder an ihnen zugrunde zu gehen. Wie wird man damit fertig, lautet ihre Frage, dass gewisse Zeichen Leere und Lust zugleich spenden? Kann man darin, in dieser Zwiespältigkeit der Zeichen, einen Maßstab für die Lebensgestaltung überhaupt gewinnen? Kann man mit ihnen Leben erzählen, was Kafka ja ausdrücklich wollte; oder muss man eine neue Ordnung finden, damit man sein Leben weiterführen kann?

7 Hier ist noch einmal an die These Hartmut Boehmes von dem Fetischcharakter der Zeichen in der Moderne zu erinnern: Zeichen, die in Doppelbindungen führen. Sie vermitteln Sinn und Sinnlosigkeit, ‚zeigen‘ das Beobachtete und ‚zeigen‘ es zugleich auch nicht, postulieren und verleugnen es. (Hier gilt Sigmund Freuds Fetischbegriff.) Diese Ambiguität der Zeichen gilt für alles Gezeigte: die Welt und zugleich das Subjekt, das sie im Hinblick auf die gemeinten Objekte und ihren Sinn zu lesen versucht. 8 Kafka war mit diesem Mechanismus der Doppelbindungen gut vertraut. Er hat sie in seinem Brief an den Vater und auch in seiner Geschichte Das Urteil lange vor Watzlawick kompetent formuliert: „Ein unschuldiges Kind warst Du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ (Kafka 1996: 60)

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(Genau dies fragt sich Gregor Samsa, als er sich als Verwandelten sieht.)9 Muss ich neue Ordnungen suchen? Muss ich ein Tier werden, um der Doppelbindung zu entgehen und die Zeichen der Musik ‚lesen‘ zu können? Was spenden mir die musikalischen Zeichen: Lust oder Leere? Diese Frage, die auch eine ästhetische ist, zwingt Kafkas Protagonisten immer wieder an den Rand der Verzweiflung. Und doch hat Kafka einmal von der Möglichkeit geträumt, diese Frage durch die Kunst zu beantworten: also die Musik des Lebens zu erzählen. Im Tagebuch heißt es einmal: Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. (Kafka 1990: 866)

Hat man sich dieser Sachlage vergewissert, so wird deutlich, dass es sich bei der genannten Verwirrung und ambigen Struktur der Zeichen um eine fundamentale Lebensfrage, einen kulturellen Befund handelt, der unmittelbar mit den Orientierungskrisen verknüpft ist, welche den Prozess der Selbstbildung von Kafkas Protagonisten interpungieren. Die Welt, in der wir leben, erscheint uns unter gespaltenen, unter ambigen, unter als Fetisch wirkenden Zeichen. Eines der auffälligsten zwiespältigsten Zeichensysteme, das sich den Menschen so präsentiert, ist ja dasjenige der Musik. Musik erfährt der ‚musikalische‘ Mensch als beglückende Überwältigung, der ‚Unmusikalische‘ als chaotischen, bedrohlichen Lärm. Auf der Grenze herrscht einerseits Stille, andererseits Rauschen. Je nach der Beschaffenheit des Lauschenden ist Musik eine Offenbarung oder ein Manko. Im Zwischenraum der Stille erscheint, bei der Begegnung mit der Musik, ein Zeichen, das etwas mitteilt und dasselbe gleichzeitig verleugnet. Seine Botschaft ist die paradoxe Einheit von Anerkennung und Verleugnung. Man könnte auch sagen, dass dieses Zeichen ‚mitteilend verschleiert‘. Dies gibt dem unmusikalischen Menschen den Eindruck einer gebrochenen Aussage, einer widersprüchlichen Handlungsaufforderung. Der Fetisch bewirkt Bezauberung und Sinnlosigkeit, unvereinbar und ineinander verwirkt zugleich (Neumann 2008, 2009). Genau dies ist die Erfahrung des unmusikalischen Franz Kafka. Er erfährt dabei einen dominierenden Wahrnehmungsmodus der Moderne: Libido und Unlust sind ein Kompromissverbund. Die Antwort auf die Bedrohung durch die gespaltenen Zeichen ist die Verwandlung des als Subjekt sich Erlebenden in eine fiktive Figur, genauer gesagt in die Rolle 9 „Er hatte also eine lange Zeit, um ungestört zu überlegen, wie er sein Leben jetzt neu ordnen sollte.“ (Kafka 1996: 145)

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des Hochstaplers. Rotpeter und Josefine sind Hochstapler, beide auf ihre eigene Art. Wenigstens einer der beiden überlebt – und zwar in der Maske des Menschen.

Literatur Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M.: ­Suhrkamp. Auerochs, Bernd (2010): Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. – In: Engel, Manfred/Auerochs, Bernd (Hgg.), Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 318-329. Barthes, Roland (1993): Le Mythe, aujourd’hui. – In: Ders., Œuvres complètes. Tome I 1942-1965. Édition établie et présentée par Éric Marty. Paris: Éditions du Seuil, 561-724. Blumenberg, Hans (2006): Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1965): Berichtigung alter Mythen. – In: Ders., Prosa I. Geschichten I. Unveröffentlichte und nicht in Sammlungen befindliche Geschichten, Eulenspiegelgeschichten 1913-1948. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 227-229. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976): Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Fingerhut, Karl-Heinz (1969): Die Funktion der Tierfiguren im Werke Franz Kafkas. Offene Erzählgerüste und Figurenspiele. Bonn: Bouvier. Foucault, Michel (1976): Histoire de la sexualité, 1. La volonté de savoir. Paris: Gallimard. Foucault, Michel (1984a): Histoire de la sexualité, 2. L’Usage des plaisirs. Paris: Gallimard. Foucault, Michel (1984b): Histoire de la sexualité, 3. Le souci de soi. Paris: Gallimard. Kafka, Franz (1982): Das Schloß. Hrsg. von Malcolm Pasley (= Schriften, Tagebücher, Briefe, Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1990): Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcom Pasley (= Schriften, Tagebücher, Briefe, Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit (= Schriften, Tagebücher, Briefe, Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1996): Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (= Schriften, Tagebücher, Briefe, Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer.

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Moritz Csáky

Kafka, die Operette und die Musik des jiddischen Theaters Auch wenn Max Brod berichtet, dass Franz Kafka „der eigentlichen Musikbegabung ermangelte“ und dass er, wie er einmal versichert habe, „die ‚Lustige Witwe‘ nicht von ‚Tristan‘ unterscheiden“ könne (Brod 1966: 103), kommt der Musik und dem Gesang in vielen seiner Werke doch eine keineswegs nur nebensächliche Bedeutung zu. Unter anderem wird von der Musikalität von Hunden berichtet, von „sieben großen Musikkünstlern […]. Sie redeten nicht, sie sangen nicht, sie schwiegen im allgemeinen fast mit einer gewissen Verbissenheit, aber aus dem leeren Raum zauberten sie die Musik empor. Alles war Musik“. (Kafka 2002d: 428) Und vor allem Josefine in Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, die die „Macht des Gesanges“ derart beherrschte, dass „wir einmal – was aber nicht geschieht – das Verlangen nach dem Glück haben sollten, das von der Musik vielleicht ausgeht.“ Denn mit Josefines Hingang werde „die Musik – wer weiß wie lange – aus dem Leben verschwinden“. (Kafka 2002a: 350) Kafka selbst relativiert damit Brods allzu apodiktischen Behauptungen und präzisiert sein Verhältnis zur Musik mit einem Eingeständnis: „Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, daß ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann“ (Kafka 1996a: 226; Herv. M. C.). Dem gegenüber attestiert Max Brod Kafka ein gewisses „natürliches Gefühl für Rhythmus und Melos“: „Oft hörte ich ihn die Löwe-Ballade vom ‚Grafen Eberstein‘ vor sich hinsingen, sie war seine Lieblingsmusik.“ (Brod 1966: 103) Für Kafkas „Gefühl für Rhythmus“ spricht unter anderem sein Interesse für Tanz- und Ballettaufführungen, die ihn sogar bis in den Traum begleiten konnten: „Ich bat die Tänzerin Eduardowa“, notiert er über einen Traum nach der Aufführung des Petersburger kaiserlich-russischen Balletts mit der Tänzerin Jewgenja Eduardowa in Prag im Mai 1909, sie möchte doch den Czardas noch einmal tanzen. […] Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewußten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art wie sie die Meldung anhörte, wurde mir schrecklich klar, daß sie nicht mehr tanzen werde. (Kafka 1996: 11-12, 275f.)

Dennoch dürfte Kafkas Verhältnis zur Musik anscheinend äußerst ambivalent gewesen sein. Er, der „sich um Kennenlernen hoher Musik nie sehr bemüht

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hat“ (Brod 1966: 103), und der folglich mit der Musik von Brahms nicht viel anzufangen wusste,1 bekannte dann später, nach einem Konzert, das Werke von Max Brod zur Aufführung brachte: Mein fast bewußtloser Zustand. Ich kann mich von jetzt an bei Musik nicht mehr langweilen. Diesen undurchdringlichen Kreis, der sich mit der Musik um mich bald bildet, versuche ich nichtmehr zu durchdringen, was ich früher wohl imstande wäre […]. (Kafka 1997: 60)

Kafka fühlte sich jedoch vor allem von verschiedenen Formen der Popularmusik angezogen, und sei es nur ein „Zigeunertanz“ aus Bizets Mädchen von Perth gewesen, den ihm Brod vorspielte (Kafka 1996a: 71), oder eben der angeführte Csárdás der Eduardowa. In diesem Zusammenhang wären Kafkas zahlreiche Besuche von Vergnügungsorten, von Kabaretts und Varietés zu nennen, wo er sich mit der Unterhaltungsmusik seiner Zeit anfreunden konnte. Dabei fällt auf, dass Kafka zumindest zeitweilig sich von einem bestimmten musikalischen Genre angezogen gefühlt haben dürfte, nämlich der Operette, mit der man ihn kaum in Verbindung zu bringen geneigt ist. „Sonntag aber war ich wieder hoch“, schreibt er zum Beispiel im April 1908 an seinen Freund Max Brod, ich war beim ‚Viceadmiral‘ und ich behaupte, daß man, wenn ein Stück geschrieben werden muß, nur bei Operetten lernen kann. Und selbst wenn es einmal oben gleichgültig und ohne Ausweg wird, fängt unten der Kapellmeister etwas an, hinter der Meerbucht schießen Kanonen aller Systeme ineinander, die Arme und Beine des Tenors sind Waffen und Fahnen und in den vier Winkeln lachen die Choristinnen, auch hübsche, die man als Seeleute angezogen hat. (Kafka 1999a: 83)2

Kafkas Affinität zur Operette dürfte freilich nur dann erstaunen beziehungsweise befremdlich sein, wenn man aufgrund eines noch bis in die Gegenwart vorherrschenden ‚bürgerlichen‘ Wertekanons zwischen E- und U-Musik unterscheidet und der U-Musik selbstverständlich eine mindere, wenn nicht gar schlechte Qualität zuschreibt. Dabei rechnet man auch die Operette fast unreflektiert zur U-Musik und disqualifiziert damit nicht nur – oft zu Recht – deren bisweilen seichten Libretti, sondern vor allem ihre musikalischen Ausdrucks1 Die Tagebucheintragung, der das Zitat entnommen ist, bezieht sich auf den BrahmsAbend des Deutschen Singvereins und des Deutschen Männergesangsvereins im Prager Rudolfinum am 13.12.1911. 2 Der Vice-Admiral ist eine Operette von Karl Millöcker (1842 Wien - 1899 Baden b. Wien) aus dem Jahr 1886. Das Libretto verfassten Richard Genée und Camillo Walzel (Pseudonym: F. Zell; Genée 2014: 102-103). Am 5., 12. und 19.04.1908 wurde die Operette im tschechischen Švanda-Theater (Švandovo divadlo) in Smíchov, einem Prager Arbeiterviertel, aufgeführt (Kafka 1999: 431).

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weisen. Man beruft sich dabei unter anderem auf einen wichtigen Kronzeugen, auf Karl Kraus. Dieser hatte die Wiener Operette der Jahrzehnte um 1900 gegenüber jener von Jacques Offenbach – von dem noch Gustave Flaubert gemeint hatte: wenn „sein Name fällt, Finger kreuzen, um den bösen Blick abzuwenden“ (Flaubert 1991: 121) – als „die ernstgenommene Sinnlosigkeit auf der Bühne“ apostrophiert, die „durchaus der Lebensauffassung einer Gesellschaft“ entspreche, „die auf ihre alten Tage Vernunft bekommen hat und dadurch ihren Schwachsinn erst bloßstellt.“ (zit. n. Csáky 1998: 29) Für Flaubert (1991: 163) war auch der Walzer, ein Tanz, der für die Operetten so typisch war, ein „Gegenstand der Entrüstung“, das heißt „ein schamloser, unzüchtiger Tanz“, ein Verdikt, das seit dem Aufkommen dieses Gesellschaftstanzes jahrzehntelang immer wieder bemüht wurde und das indirekt auch die Wiener Operette insgesamt treffen musste. Bei deren Beurteilung folgte man auch bereitwillig einer späteren Einschätzung von Hermann Broch, der die Operette als ein „spezifisches Vakuum-Produkt“ bezeichnete, „als ein Menetekel für das Versinken der Gesamtwelt in das unaufhaltsam weiterwachsende WertVakuum“, als einen „zur puren Idiotie verflachte[n] Abklatsch der komischen Oper.“ (Broch 1975: 152) Schließlich hat auch Theodor W. Adorno mit seiner radikalen Verwerfung der „Leichten Musik“ der „Bildungsphilister“ dazu beigetragen, nicht nur den (amerikanischen) Schlager abzulehnen, sondern vor allem „die abscheulichen Ausgeburten der Wiener, Budapester und Berliner Operette.“ (Adorno 1998: 200) Trotz solcher Verdikte – oder wie immer man sich aufgrund eines derart vorgefassten ästhetischen Urteils der Operette gegenüber auch verhalten mag – bleibt es von einer sozial- und kulturhistorischen Perspektive aus gesehen unbestritten, dass die Operette während der Jahrzehnte um 1900 zu den beliebtesten und meistbesuchten Theaterproduktionen zählte. Ihre Melodien fanden durch die Schallplatte sehr schnell auch in die häusliche Privatsphäre Eingang, noch bevor sie durch den Rundfunk und den Film breitere Bevölkerungsschichten erreichten und als Schlager, als Gassenhauer zum täglichen Amüsement avancierten. Daher haben sich vor den Einflüssen der Operette selbst bekannte Komponisten nicht zu entziehen vermocht. Zum Beispiel wurde die musikalische Faktur Gustav Mahlers, der in seinen jungen Jahren Operettenaufführungen dirigiert hatte, zuweilen von der typischen Rhythmik und der spezifischen Orchesterinstrumentierung der Operette beeinflusst (Freeze 2011; Csáky 1998: 23f.). Béla Bartók persiflierte im vierten Satz des Konzerts für Orchester (1943) nicht nur ein Motiv aus Franz Lehárs Lustiger Witwe (1905), zwar vielleicht indirekt als Reaktion auf Schostakowitschs entsprechende Anleihen in seiner Leningrader Symphonie, er zitierte – oder persiflierte – auch ein damals sehr populäres, Ungarn verherrlichendes

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Lied aus Zsigmond Vinczes Operette Die Hamburger Braut (1922; Kroó 1980: 240-241; Tallián 1988: 265f.).3 Dass Kafkas Beziehung zur Operette und ihren Melodien bislang wenig Beachtung gefunden hat, hängt sicher auch mit den eben angedeuteten Vorurteilen der U-Musik gegenüber zusammen. Ebenso wie Kafkas Verhältnis zu Witz und Humor von der Forschung lange Zeit nicht beachtet worden ist, weil es sich in ein vorgefasstes Kafka-Bild nur schwer hat einfügen lassen, wird auch Kafkas Naheverhältnis zur Unterhaltungsmusik beziehungsweise zur Operette zwar vielleicht wahrgenommen, jedoch kaum eingehender thematisiert beziehungsweise analysiert. Auch Max Brod hatte versucht, ein solches Vorurteil Kafka gegenüber immer wieder zu relativieren: Wie viele Abende verbrachten wir gemeinsam in Theatern, Kabaretts, ferner auch in Weinstuben bei schönen Mädchen. Es ist nämlich auch die Meinung, die in Kafka so etwas wie einen Wüstenmönch und Anachoreten sieht, völlig falsch. Zumindest für seine Studienzeit gilt das nicht. (Brod 1966: 103)

Freilich mag die Vernachlässigung dieser Thematik auch damit zusammenhängen, dass man im Œuvre Kafkas nur wenige Stellen mit relativ marginalen persönlichen Eintragungen findet, die sein Verhältnis zu diesem Genre direkt, manchmal freilich auch nur indirekt, andeuten und daher leicht überlesen werden können. Ich möchte daher versuchen, im Folgenden auf jene Stellen aufmerksam zu machen, an denen Kafka die Unterhaltungsmusik erwähnt und zu ihr zum Teil persönlich Stellung bezieht. Dies mag wohl auch zur Klärung der Frage beitragen, welche Bedeutung diese Musik insgesamt im Leben Kafkas eingenommen haben könnte. In seinem erzählerischen Werk bezieht sich Kafka nur an zwei Stellen explizit auf die Operette, am eindeutigsten in der Beschreibung eines Kampfes. In 3 Vermutlich war auch dieses musikalische Zitat (2. Thema des IV. Satzes) ironisch gemeint und nicht, wie oft behauptet wird, der Ausdruck für das Heimweh Bartóks (so auch Tallián 1988: 266), zumal dieses Lied Szép vagy, gyönyörű vagy Magyarország [Schön bist du, wunderbar bist du, Ungarn] von der politischen Rechten für ihre nationalistischen Zielvorstellungen instrumentalisiert wurde. Für Bartók, der 1919 mit der Räterepublik sympathisiert hatte, war ja gerade die rechte, faschistische Politik in Ungarn mit ein Grund für seine Emigration nach Amerika. Andererseits ist diese Operettenmelodie das typische Produkt einer falsch verstandenen ungarischen Folklore, denn es ist in Wirklichkeit städtische Kunstmusik, der Bartók mit der Erforschung und Propagierung der ursprünglichen bäuerlichen Folklore entschieden entgegentrat. Adorno dürfte daher wohl recht behalten, wenn er meint: „Soviel der frühe Bartók mit seinem Landsmann Liszt gemein hat, so sehr opponiert doch seine Musik dem für Großstädte zubereiteten Salonzigeunertum. Seine eigenen folkloristischen Forschungen richteten sich polemisch gegen die in den Städten fabrizierte Zigeunermusik, ein Verfallsprodukt der nationalen Romantik.“ (Adorno 1998: 362)

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der letzten, zweiten Fassung (Fassung B) dieser Erzählung wird sogar der konkrete Name einer Operette erwähnt: Als wir in die Ferdinandstraße kamen, bemerkte ich, daß mein Bekannter eine Melodie aus der ‚Dollarprinzessin‘ zu summen begann; es war leise, aber ich hörte es ganz gut. Was sollte das? Wollte er mich beleidigen? Nun ich war sofort bereit, auf diese Musik zu verzichten und auf den ganzen Spaziergang überdies. Ja warum sprach er denn nicht mit mir? Wenn er mich aber nicht nötig hatte, warum hatte er mich dann nicht in meiner Ruhe gelassen, dort in der Wärme bei Benediktiner und süßem Zeug. (Kafka 2002b: 125).

In der ersten Fassung (Fassung A) der Beschreibung eines Kampfes, von der die zweite (Fassung B) auch sonst geringfügig abweicht, wird weder auf eine Operette noch im Konkreten auf die Dollarprinzessin von Leo Fall verwiesen, vielmehr gibt es hier nur einen vagen Hinweis auf „eine Melodie“, die der Bekannte K.s zu summen beginnt: Als wir in die Ferdinandstraße kamen, bemerkte ich, daß mein Bekannter eine Melodie zu summen begann; es war ganz leise, aber ich hörte es. Ich fand, daß es für mich beleidigend sei. Warum sprach er nicht mit mir? Wenn er mich aber nicht nöthig hatte, warum hatte er mich nicht in Ruhe gelassen. Ich erinnerte mich ärgerlich an das gute süße Zeug, das ich seinetwegen auf meinem Tischchen liegen gelassen hatte. Ich erinnerte mich auch an den Benediktiner und wurde ein wenig lustiger, fast hochmüthig kann man sagen. (Kafka 2002b: 58)

Um einer Erklärung näherzukommen, warum die Fassung B die Dollarprinzessin namentlich erwähnt, während in der Fassung A nur von „einer Melodie“ die Rede ist, dürfte die unterschiedliche Abfassungszeit dieser Fragmente von Bedeutung sein. Fassung A wurde gegen Ende 1907, Fassung B Ende 1909 abgeschlossen. Auf die Dollarprinzessin, deren Uraufführung in Wien erst am 2. November 1907 im Theater an der Wien stattgefunden hatte (Frey 2010: 65-77; 272-274), konnte also aus begreiflichen Gründen in der Fassung A noch nicht Bezug genommen werden. Sie war Ende 1907 in Prag noch nicht bekannt, wurde aber recht bald auch hier heimisch und in einer tschechischen Fassung, die Karel Hašler4 besorgte, als Dolarová princezna zum ersten Mal am 4. Juli 1908 im Theater in den Weinbergen (Městské divadlo na Vinochradech) aufgeführt. Sie hatte hier einen noch größeren Erfolg als in Wien, wo sie nach der achtzigsten Aufführung einer Lehár-Operette weichen musste. In ihrer Prager tschechischen Fassung wurde sie hingegen hundertsieben Male in Folge wiederholt (Šulc 2002: 76-77, 415; Frey 2010: 273) – ganz abgesehen von der noch enthusiastischeren Aufnahme in Hamburg, Berlin, London oder 4 Karel Hašler (1879 Zlíchov b. Prag - 1941 KZ Mauthausen) war bis 1923 Leiter des 1910 eröffneten Cabaret Lucerna, das Kafka oft und zumeist in Begleitung von Freunden besuchte.

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New York (Frey 2010: 74-77). Kafka berichtet in seinen Tagebüchern immer wieder von Operettenaufführungen, die er besucht hatte, erwähnt jedoch die Dollarprinzessin an keiner einzigen Stelle. Jedoch aufgrund der Tatsache, dass er Operettenaufführungen besucht hatte, ist nicht auszuschließen, dass er eben diese tschechische Aufführung der Operette im Theater in den Weinbergen gesehen haben könnte. Er war ja des Tschechischen mächtig und gehörte, wie Hugo Hecht berichtet, zu jenen „jungen Juden“ in Prag, die „häufige Besucher der deutschen und tschechischen Bühnen waren.“ (Koch 2005: 37) Auch die eingangs erwähnte Millöcker-Operette, die Kafka besucht und über die er Brod begeistert berichtet hatte, wurde im Švanda-Theater in tschechischer Sprache aufgeführt. Über Kafkas Teilnahme am tschechischsprachigen kulturellen Leben Prags und seinen Umgang mit tschechischen Kollegen und Freunden berichtet unter anderem recht ausführlich auch Michal Mareš (Koch 2005: 86-91). Bestanden doch, wie Max Brod betont, „sehr wesentliche Freundschaftsstrahlungen zu tschechischen Dichtern hin, zu Musikern, Malern und zu tschechischen Menschen aller Stände, aller Klassen“, denn: „Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte.“ (Brod 1979: 41, 207)5 Das heißt, die Kenntnis von Melodien aus der Dollarprinzessin könnte sich für Kafka aus dem unmittelbaren Erlebnis der Vorstellung im Theater in den Weinbergen ergeben haben. Dass er die Operette dann in der Fassung B der Beschreibung eines Kampfes auch direkt bei Namen nennt und nicht nur von „einer“ Melodie, vermutlich einer Schlagermelodie spricht wie in der Fassung A, ist wohl nicht zufällig und ein Indiz dafür, dass ihn die Musik von Leo Fall beeindruckt haben dürfte; es war eine Musik, der sich selbst Adorno, der mit der „leichten Musik“ wenig anzufangen wusste, nicht ganz entziehen konnte. „Aus dem schmutzigen Strom“, so Adorno (1998: 201), „tauchte nur gelegentlich etwas locker Anmutiges auf wie manche Melodien von Leo Fall“, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Schlager weit verbreitet waren. In der Tat zählte der aus Olmütz gebürtige Leo Fall (1873-1925 Wien) zu den erfolgreichsten Operettenkomponisten seiner Zeit. Die Dollarprinzessin, deren Libretto Alfred Maria Willner und Fritz Grünbaum6 verfasst hatten, war neben der Rose von Stambul (1916) eine sei5 Über die Tschechischkenntnisse Kafkas vgl. u. a. die einschlägigen Arbeiten von Marek Nekula (2003; 2008). 6 Mit Fritz Grünbaum (1880 Brünn - 1941 KZ Dachau) sollte Kafka später noch zweimal in Berührung kommen: Ende Februar 1911 besuchte er in Reichenberg das Theater, wo die Operette von Rudolf Nelson Miss Dudelsack gegeben wurde, deren Libretto Fritz Grünbaum und Heinz Reichert verfasst hatten (Kafka 2008: 18, 224), und am 29. September 1911 erlebte er Grünbaum persönlich in einer Vorstellung im Prager Cabaret Lucerna,

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ner bekanntesten und erfolgreichsten Kompositionen. Die Handlung spielt in Amerika, einem Land der Sehnsucht, in dem man es, im Unterschied zu den ökonomisch bedrückenden Verhältnissen in der ehemaligen Monarchie, zu Wohlstand und Reichtum bringen konnte und wohin daher auch viele ausgewandert waren, wie ebenso Karl Roßmann in Kafkas Der Verschollene. Ein solches Amerikamotiv (Quissek 2012: 178-180), das mit Reichtum assoziiert wurde, kam auch in manchen anderen Operetten dieser Jahrzehnte vor, zum Beispiel in Emmerich Kálmáns Die Herzogin von Chicago (1928), hier freilich, im Unterschied zur Dollarprinzessin, auch musikalisch prononcierter betont durch die häufige Verwendung amerikanischer Jazzrhythmen, die sich vor allem in der Budapester Operette schon kurz nach 1900 vorfinden, wobei Jimmy, Charleston, Walzer und Csárdás nicht nur abwechselnd gespielt werden, sondern zuweilen ineinander übergehen und sich zu einer neuen musikalischen Einheit verschränken. Mit der direkten Nennung der Dollarprinzessin in der überarbeiteten Fassung B der Beschreibung eines Kampfes setzt Kafka wohl auch die Kenntnis dieser Operette bei den Lesern der Erzählung, seinen potentiellen Rezipienten voraus. Aber um welche Melodie der Operette könnte es sich im Konkreten handeln, die der Bekannte leise vor sich hin summt? Vermutlich um eine bekannte Melodie, denn K. erkennt sie sofort wieder. Er kennt wohl auch den der Melodie unterlegten Text und hält daher das Lied insgesamt in dieser angespannten Atmosphäre, die zwischen den beiden Wandernden besteht, für unangebracht und assoziiert es unvermittelt mit einem zuvor verkosteten aromatisch-süßen Benediktinerlikör. Oder: Die nur durch ein leises Summen angedeutete bekannte Operettenmelodie nimmt K. als eine einschmeichelndsüße Melodie wahr und wirkt auf ihn daher beleidigend; sie weckt bei ihm sofort Assoziationen zu der Süße des Geschmacks eines Benediktiners, den er entschieden bevorzugt und der „Süße“ der Melodie kontrastiv gegenüberstellt. Auf welche konkrete Melodie aus der Dollarprinzessin hier angespielt wird, darüber können freilich auch wieder nur Vermutungen angestellt werden. Auf jeden Fall dürfte es sich um eine solche Melodie handeln, die sich sehr rasch verbreitet haben musste und folglich auch sogleich mit der Dollarprinzessin identifiziert werden konnte, eine Melodie, die sich auch der weniger musikalische Kafka leicht eingeprägt haben dürfte. Nun ist bekannt, dass vor allem eine Melodie gleich nach der Uraufführung der Operette den unangefochtebei der u. a. auch die Nackttänzerin Gusti Odys aufgetreten war. Das Urteil Kafkas über Grünbaum war zwiespältig: „Grünbaum wirkt mit der angeblich nur scheinbaren Trostlosigkeit seiner Existenz.“ (Kafka 1996: 38, 288f.; Binder 2008: 296)

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nen Status eines Hits errungen hatte: das sogenannte Ringelreih’n-Duett. „In Act II of the Dollar Princess“, bemerkt der amerikanische Operettenspezialist Richard Traubner (1983: 286), „comes one of the first great hits: the HansDaisy duet […] containing the irresistible refrain, ‚Wir tanzen Ringelreih’n‘.“ Auch der Leo-Fall-Biograph Norbert Frey hält dieses Duett als den „unbestrittenen Schlager der Operette“, er beruft sich dabei auf eine Rezension der Uraufführung, die festhielt, dass gerade dieses Duett „über alle Maßen“ beeindruckt habe (Frey 2010: 73), vor allem sein Refrain in As-Dur, mit dem die vergnügte Unschuld des singenden Paares betont werde: Wir tanzen Ringelreih’n einmal hin und her. Dem Hänsel und der Gretel fällt das gar nicht schwer. Und streut der Sandmann leis‘ aus seinem Sack den Schlaf, dann singen alle Englein ‚Gott wie sind wir brav‘, dann singen alle Englein ‚Gott wie sind wir brav‘. (Fall 1907: 46f.)

In der Tat könnte K. bei der nächtlichen Wanderung, während der er und sein Bekannter schweigsam nebeneinander einher trotten, nicht nur das Summen des Liedes an sich, sondern gerade auch den der Melodie unterlegten „süßen“ Text in dieser ernsten, durch das Schweigen angespannten Situation als befremdlich, wenn nicht gar als obszön empfunden haben. Außer diesem Duett wurde auch eine andere Melodie aus der Dollarprinzessin rasch populär und avancierte ebenfalls zu einem ‚Gassenhauer‘. Es ist das bekannte Loblied auf die Dollarprinzessinnen: Wir sind die Dollarprinzessen, die Mädchen aus purem Gold, mit Schätzen ungemessen, sie haben das Glück im Sold! Sie können nie es vergessen, ihr vieles, vieles Geld, das sind die Dollarprinzessen, die kühnsten Schönen der Welt. (Fall 1907: 50)

Im Zusammenhang mit der nächtlichen Wanderung in Beschreibung eines Kampfes ergibt jedoch weder der Dreivierteltakt dieser Melodie noch der Text, der dieser Melodie unterlegt ist, wirklich Sinn. Ganz im Gegensatz zu dem Text und seiner im raschen Viervierteltakt dahinschreitenden Melodie des Ringelreih’nDuetts das den Klangrhythmus der Schritte – „ich achtete darauf, wie unsere Schritte klangen“, erinnert sich K. (Kafka 2002b: 125) – der beiden schweigsam neben- beziehungsweise hintereinander einher trottenden nächtlichen Wanderer viel treffender zu konterkarieren und mit seinem Stakkato auch musikalisch viel deutlicher hervorzuheben vermag. Es ist der Rhythmus von Schritten, der im Sinne von Michel de Certeau gleichsam als eine „Rhetorik des Gehens“, als eine „Kunst des Rundendrehens“ analog zur Kunst, „Sätze zu drehen und zu wenden“, gedeutet werden könnte (Certeau 1988: 192). Außer diesem Hinweis auf eine ganz konkrete Operette findet sich noch eine andere Stelle im erzählerischen Werk Kafkas, und zwar im Romanfrag-

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ment Der Verschollene, die sich auf eine Operette bezieht; wobei freilich im Dunkeln bleibt, um welche Operette es sich dabei gehandelt haben könnte. Wie in der Beschreibung eines Kampfes wird auch hier während einer Wanderung, als Karl Roßmann in Begleitung von Robinson und Delamarche von New York nach Butterford unterwegs ist, auf die Melodie einer Operette Bezug genommen. Den beiden Begleitern sei es unverständlich, heißt es im Text, dass Karl während seines zweimonatigen Aufenthaltes in New York „kaum etwas anderes von der Stadt gesehen hatte, als eine Straße“, und sie versprechen ihm daher, nach ihrer Rückkehr alles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluß daran mit vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen begleitete, das Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte die ihm hier mit dem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zuhause gefallen hatte. So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichts davon zu wissen. (Kafka 2002e: 145)

Es handelt sich hier um eine Operettenmelodie, die Karl sofort erkannte, weil sie „aus seiner Heimat“ stammte. Er musste sie dort oft gehört haben, was darauf hindeutet, dass es sich wohl um eine Melodie aus einer k. u. k. Operette handelt. Es war wohl eine Melodie aus einer jener zahlreichen Erfolgsoperetten, die bald auch in Amerika mit einer englischen Textfassung heimisch geworden waren. In einer englischen Bearbeitung wurde beispielsweise auch Die Dollarprinzessin im August und September 1909, also nicht einmal zwei Jahre nach der Wiener Uraufführung, auf zwei Bühnen in New York gespielt und erlebte hier mehr als vierhundert En-suite-Aufführungen, also beträchtlich mehr als in Wien oder in Prag (Frey 2010: 273; Traubner 1983: 286f.). Wie in ihrer Heimat wurden auch hier zahlreiche Operettenmelodien als Schlager beziehungsweise Gassenhauer weit über die Bühne hinaus bekannt und auf Englisch gesungen. Das heißt, das Operettenzitat in Der Verschollene ist kein Anachronismus, es ist vielmehr durchaus plausibel, dass Karl die Melodie des auf Englisch gesungenen Liedes aus seiner alten Heimat bekannt war und sich seiner gleich erinnerte. Dies entspricht durchaus der realen Präsenz, das heißt der Bekanntheit der k. und k. Operette in der Neuen Welt. Aufgrund dieser Tatsache könnte man vermuten, dass auch das Kneipenlied, das Karl in Oklahama auf einer Trompete zum Besten gibt, der einer Operette entlehnte Schlager sein konnte oder zumindest an eine Operettenmelodie erinnerte: „Karl blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zulassen, mit voller Brust ein Lied das er irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte.“ (Kafka 2002e: 393) Übrigens hatten die nach Amerika exportierten Operetten einen nicht

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unwesentlichen Anteil an der Entstehung des Musicals. Während sich amerikanische musikalische Elemente schon vor dem Ersten Weltkrieg in den Operetten der Monarchie, vor allem in den Werken von Jenő Huszka oder des in Amerika verstorbenen Viktor Jacobi vorfinden, waren es nicht zuletzt nach Amerika emigrierte Komponisten aus Österreich-Ungarn, wie der Böhme Karl L. Hoschna oder der Prager Rudolf Friml (Gammond 1991: 275, 210; Bordman 1992: 242, 283f.), die Frühformen des Musicals entwickelten, indem sie vor allem ihr Know-how, unterschiedlichste folklore Elemente musikalisch miteinander zu verschränken – ein typisches Kennzeichen der Operette der Monarchie –, auf eine der Monarchie vergleichbare kulturell heterogene Situation in Amerika übertrugen und sich die dortigen folkloren Elemente nutzbar zu machen wussten (Csáky 1998: 295). Im Werk Kafkas finden sich mehrere flüchtige Hinweise auf Personen, die ein Musikinstrument spielen. Zum Beispiel spielt Gregors musikalische Schwester in Die Verwandlung Violine (Kafka 2002a: 152-153, 183-186). Das Klavierspiel wird häufiger erwähnt und beiläufig auch in der Fassung A der Beschreibung eines Kampfes angedeutet (Kafka 2002b: 67, 98), wobei anzunehmen ist, dass es sich hier nicht um klassische Musik gehandelt haben wird, sondern eher um eine Musik, die in Kneipen und Gasthäusern gespielt wurden, also um Schlager und Gassenhauer. Auch in der Erzählung Kinder auf der Landstraße stimmen die Kinder einen Gassenhauer an: Hinter den Gebüschen in der Ferne fuhr ein Eisenbahnzug heraus, alle Coupées waren beleuchtet, die Glasfenster sicher herabgelassen. Einer von uns begann einen Gassenhauer zu singen, aber wir alle wollten singen. Wir sangen viel rascher als der Zug fuhr, wir schaukelten die Arme, weil die Stimme nicht genügte, wir kamen mit unseren Stimmen in ein Gedränge, in dem uns wohl war. Wenn man seine Stimme unter andere mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen. So sangen wir, den Wald im Rücken, den fernen Reisenden in die Ohren. (Kafka 2002a: 13; 2002b: 149)

Es ist wohl müßig, Vermutungen darüber anzustellen, welcher Gassenhauer im Konkreten gemeint sein könnte. Freilich kann man auch nicht ausschließen, dass es sich um den einer Operette entlehnten Schlager handelt, den die Erwachsenen zu Hause oft auf ihrem Grammophon spielten und mitsangen7 und der sich den Kindern daher eingeprägt haben musste, den sie nun, gleichsam um erwachsen zu wirken, „den fernen Reisenden in die Ohren“ 7 Vom Grammophon ist in Kafkas Werk öfter die Rede, zum Beispiel in Entlarvung eines Bauernfängers: „ein Grammophon, das gegen die geschlossenen Fenster irgendeines Zimmers sang“ (Kafka 2002a: 15) oder in Ein Bericht für eine Akademie: „vielleicht war ein Fest, ein Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwischen den Laternen“ (Kafka 2002a: 310). Das Grammophon und die Schallplatte wurden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu

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sangen. Dies könnte gleichermaßen voraussetzen, dass die Kinder annahmen, die Melodie könne auch den Reisenden sehr wohl bekannt sein und von ihnen daher auch erkannt werden. Somit übernimmt hier wie ebenso in Beschreibung eines Kampfes oder im Verschollenen eine Melodie die Funktion einer nonverbalen Verständigung, sie wird zum Surrogat für die reale, gesprochene Sprache. Operettenmelodie, Schlager oder Gassenhauer: Sie sind auf jeden Fall Bestandteile der Popularmusik der damaligen Jahrzehnte, und Kafka greift immer wieder auf solche Elemente der Popularmusik zurück; so auch auf das Lied Freut euch des Lebens, – weil noch das Lämpchen glüht des Schweizer Dichters Johann Martin Usteri, auf ein Kunstlied aus dem Jahre 1793, das in der Vertonung seines Landsmanns Hans Georg Nägeli (1794) in den folgenden Jahrzehnten, auch im Schulunterricht vermittelt, zu einem bekannten und sehr beliebten ‚Schlager‘ wurde, auf den man immer wieder gerne zurückkam. Auch Kafka erinnert an das beliebte Lied im ‚Unterstaatsanwalt‘-Konvolut (1914/15), und zwar im Zusammenhang mit einer Majestätsbeleidigung, die der Angeklagte begangen haben soll, indem der Angeklagte mit dem Weinglas auf ein an der Wand hängendes Bild des Königs gezeigt und dabei gesagt hatte: ‚Du Lump dort oben!‘ Die Schwere dieser Beleidigung wurde nur durch den damaligen teilweise unzurechnungsfähigen Zustand des Angeklagten gemildert sowie dadurch, daß er die Beleidigung in irgendeiner Verbindung mit der Liedzeile: ‚solange noch das Lämpchen glüht‘ vorgebracht und den Sinn des Ausrufes dadurch getrübt hatte. Über die Art der Verbindung zwischen dem Ausruf und dem Lied hatte fast jeder Zeuge eine andere Meinung und der Anzeiger behauptete sogar, ein anderer nicht der Angeklagte habe gesungen. (Kafka 2002b: 219f.)

Kafka zitiert die zweite Zeile des Gedichts insofern nicht ganz exakt, als er statt dem „weil“ ein „solange“ einsetzt: Aus dem „weil noch das Lämpchen glüht“ wird ein „solange noch das Lämpchen glüht“, wodurch sich der Sinnzusammenhang des Textes freilich nicht verändert. Dieses Abweichen vom Original könnte entweder darauf zurückzuführen sein, dass sich beim Singen des Liedes zuweilen diese kleine Wortveränderung eingebürgert hatte oder aber dass Kafka sich an den exakten Wortlaut nicht mehr genau erinnern konnte. Die Bekanntheit und Beliebtheit dieses Liedes lässt sich unter anderem daran ermessen, dass auch Komponisten der Unterhaltungsmusik es immer wieder aufgegriffen haben. So hat beispielsweise Johann Strauß Sohn 1869/70 seinen Walzer op. 340 mit der Überschrift Freut euch des Lebens versehen, freilich ohne in seiner Musik die Vertonung von Nägeli direkt zu zitieren oder diese, vielleicht mit Ausnahme in Teil fünf (in Es-Dur) nur mit einer indirekten musikawichtigen Multiplikatoren von Musik und vor allem für die Verbreitung der Unterhaltungsmusik von großer Bedeutung.

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lischen Anspielung geringfügig zu paraphrasieren (SEV 1997: 538-541). Und am Ende des zwölften Auftritts des zweiten Aufzugs der Operette Die Fledermaus von Johann Strauß beginnt Eisenstein im gesprochenen Dialog plötzlich ganz kurz „Freut euch des Lebens“ anzustimmen: „Eisenstein (singt): ‚Freut euch des Lebens …‘. Melanie: Erlaubt Ihnen denn aber auch Ihre Marquise, sich hier Ihres Lebens zu freuen?“ (Strauß 1997: 61)8 Ob freilich Kafka dieser umfassende, zeitübergreifende Kontext bewusst war oder ob er Kenntnis davon hatte, dass dieses Lied selbst das Œuvre von Strauß beeinflusst hatte, ist mehr als fraglich. Er bezieht sich weder im Tagebuch noch in den Briefen auf Johann Strauß, wohl aber auf andere Operettenkomponisten und Operettenschlager seiner Zeit, unter anderem auf Operetten der Monarchie, was vielleicht auch zu jenen diskursiven Austriazismen gehören könnte, die sich bei Kafka nachweisen lassen.9 Die Tagebücher Kafkas enthalten, zwar an nur sehr verstreuten Stellen, mehrere Eintragungen, die seine Vorliebe für die ‚leichte Musik‘ andeuten. Dabei handelt es sich zum Teil um Notate, mit denen er sich über Theater- und Kabarettbesuche Rechenschaft zu geben versucht. Doch erwähnt Kafka anscheinend nur sporadisch Operettenbesuche, ganz im Gegensatz zu seinen zahlreichen Besuchen von Kabaretts, die, wie er 1913 Felice Bauer gegenüber meint, in „jener längst vergangenen, angeblichen Bummelzeit“ stattfanden – zumeist an der Seite von Max Brod –, „in der ich viele Nächte in Weinstuben versessen habe, ohne zu trinken. Nach dem Namen zu schließen, waren es wunderbare Örtlichkeiten: Trokadero, Eldorado und in dieser Art.“ (Kafka 1999b: 17) In der Tat bezieht sich diese „Bummelzeit“ auf die wenigen Jahre vor 1913. Unter „und in dieser Art“ mag Kafka vor allem das erst 1910 eröffnete Cabaret Lucerna gemeint haben, das zu einem seiner Lieblingsetablissements gehörte. Was die Operettenbesuche betrifft, habe ich bereits darauf hingewiesen, dass zum Beispiel nur aus einem Brief an Max Brod ersichtlich wird, dass er sich von Millöckers Vice-Admiral begeistern ließ oder dass nur aufgrund von hypothetischen Rückschlüssen als sehr 8 1932 hat Bernhard Gruen (1901 Stařeč/Mähren-1972 Berlin) eine posthume Strauß-Operette Freut euch des Lebens zusammengestellt, es ist eine collagenhafte Zusammenführung von zahlreichen Melodien von Johann und Josef Strauß. Das Libretto verfassten Julius Wilhelm und Peter Herz. 9 Vgl. dazu u.a. Steffen Höhne (2014, v.a. 267-275), der auf die Austriazismen bei Kafka eingeht. Auch Pavel Petr (1992: 81) geht in seiner bislang leider wenig beachteten Monographie auf diese Austriazismen ein, auf Kafkas „Zugehörigkeit zur österreichischen Tradition“, die „für das Verständnis des literarischen Werkes Franz Kafkas […] deutlich anders als die Traditionen Deutschlands“ zu bewerten ist.

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wahrscheinlich angenommen werden kann, dass er 1908 Leo Falls Dollarprinzessin im Theater in den Weinbergen gesehen hatte. Doch bleiben auch manche seiner späteren Operettenbesuche nur recht vage angedeutet. Während des Paris-Aufenthaltes im Oktober 1910 besucht er gemeinsam mit Max Brod das Vaudeville La Maison de danses von Fernand Nozière (1874-1931) und Charles Muller, mit der berühmten algerisch-französischen Tänzerin Polaire (eig. Émilie Marie Bouchaud, 1874-1939) und im Variété La Cigale die große Revue T’en a tu vice, „ein Kabarett vorwiegend mit satirischen Liedern.“ (Hermes 1999: 60) Vielleicht haben jedoch gerade diese Erlebnisse in Paris Kafka dazu bewogen, sich zunächst vor allem für französische Operetten zu interessieren. Denn schon im Dezember 1910 besucht er, vermutlich in Berlin, Jacques Offenbachs (1819-1880) Pariser Leben (Hermes 1999: 61). In Prag sieht er am 31. Jänner 1912 im Neuen Deutschen Theater Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, doch die Aufführung mit Max Pallenberg (1877-1934) als Jupiter war anscheinend so schlecht, „daß ich mir nur dadurch zu helfen wußte, daß ich nach dem 2. Akt weglief und dadurch alles zum Schweigen brachte.“ (Kafka 1997: 28, 259) Etwas ähnlich fällt sein kritisches Urteil über die Inszenierung des Vaudevilles in drei Akten Mam’zelle Nitouche von Hervé (eig. Florimond Ronger, 1825-1892) aus, das am 18. März 1912 ebenfalls im Neuen Deutschen Theater gegeben wurde. „Die gute Wirkung eines französischen Wortes“, notiert er in sein Tagebuch, „innerhalb einer traurigen deutschen Vorstellung.“ (Kafka 1997: 61, 274) „Gestern ‚Polnische Wirtschaft‘“, notiert er, ohne weiteren Kommentar, am 15. August 1912 (Kafka 1997: 77, 281). Auch diese Vaudeville-Posse des deutschen Operettenkomponisten Jean Gilbert (eig. Max Winterfeld, 1879-1942) kam unter dem unverfänglicheren Titel Tolle Wirtschaft im Neuen Deutschen Theater zur Aufführung. Bereits ein Jahr zuvor, am 27. Januar 1911, schreibt Kafka an Max Brod, er gehe „jetzt in die Lucerna“, wo an diesem Abend Die schlaue Komtesse des im damaligen Oberungarn (Slowakei) geborenen Wiener Operettenkomponisten Béla Laszky (1867 Nitra - 1935 Wien) aufgeführt wurde (Kafka 1999a: 132, 480; Hermes 1999: 63). In Berlin besucht Kafka am 23. März 1913 das Metropol-Theater, wo die neueste Operette Die Kino-Königin von Jean Gilbert aufgeführt wird (Hermes 1999: 100). Wenige Monate zuvor setzte sich Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912 ausführlich mit Gilberts Das Autoliebchen – Kafka schreibt fälschlich: Das Autogirl (1912) – auseinander, die Felice im Berliner Thalia-Theater gesehen und von der sie Kafka anscheinend sehr genau berichtet hatte. Denn Kafka beschreibt die Handlung detailliert, vor allem ist ihm die formelhafte Aufforderung, zum Telefon zu gehen, in lebhafter Erinnerung geblieben:

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Moritz Csáky Ich weiß auch diese Formel noch, aber ich schäme mich sie aufzuschreiben, weil ich sie nicht richtig aussprechen, geschweige denn niederschreiben kann, trotzdem ich sie damals nicht nur genau gehört, sondern auch von Ihren Lippen abgelesen habe. (Kafka 1999a: 193, 533)

Die letzte Tagebucheintragung Kafkas über einen Operettenbesuch berichtet von einer Vorstellung von Bernhard Buchbinders (1849-1922) Posse mit Gesang Er und seine Schwester, die er am 31. Oktober 1915 im Neuen Deutschen Theater gesehen hat; die Musik stammte von Rudolf Raimann (1861 Veszprém/ Ungarn - 1913 Wien). Besonders beeindruckt dürfte ihn dabei der Auftritt Alexander Girardis (1850-1918) haben, denn er notiert sich eigens folgenden charakteristischen Ausspruch: „Haben Sie denn Talent? – Gestatten Sie daß ich dazwischen trete und für sie antworte: Ó ja, ó ja“. (Kafka 1996b: 111, 268) Abgesehen von den Operettenaufführungen, die er besuchte, begegnete Kafka der unterhaltenden Musik vor allem in den Prager Kabaretts. Im Kabarett Stadt Wien trat im Januar 1911 die Sängerin und Tänzerin Leonie Frippon auf, über die er kurz bemerkt: „sehr hübsch mit tragischen Bewegungen“ (Kafka 1996a: 113, 310f.) Im darauffolgenden Februar gastierte im Cabaret Lucerna ein Ensemble der Wiener Kleinen Bühne mit der Schauspielerin und Sängerin Mela Mars [Märzinger] (1882 Wien - 1919 Berlin), der Frau des Komponisten Béla Laszky, die ihn tief beeindruckte: Eine witzige Tragödin, die gewissermaßen auf einer verkehrten Bühne so auftritt, wie sich Tragödinnen hinter der Szene zeigen. […] Trotz der ewigen Blitze ihrer Bewegungen und Worte pointiert sie zart. (Kafka 1996a: 116, 312f.)

Noch im gleichen Monat besuchte er einen französischen Abend im Hotel Continental, wo die Diseuse und Chansonière Marya Delvard (1874-1965) und Marc Henry (1873-1943) mit einem gemischten Programm aufwarteten; es hinterließ jedoch bei Kafka einen recht zwiespältigen Eindruck, weckte aber zugleich auch Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Paris: Das durch den leeren Saal erzeugte tragische Gefühl im Zuschauer begünstigt die Wirkung ernster Lieder, schadet den lustigen. […] Bei dem Lied ‚a Batignolles‘ spürte ich Paris im Hals. (Kafka 1996a: 117f., 314f.)

Sehr ausführlich beschreibt Kafka einen Abend im Cabaret Lucerna am 16. März 1912, an dem unter anderem eine Wiener Sängerin und vier englische „Rocking Girls“ aufgetreten waren: Einige junge Leute singen jeder ein Lied. Ist man frisch und hört zu, so wird man durch einen derartigen Vortrag eher an die Folgerungen erinnert, welche der Text auf unser Leben erlaubt, als dies durch den Vortrag geübter Sänger geschehen kann. […] Fatinizza,

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Wiener Sängerin. Süßes inhaltsvolles Lachen. […] 4 Roking Girls. Eine sehr schön. (Kafka 1997: 58f., 272f.)10

Manchmal findet Kafka die Darbietungen im Cabaret Lucerna auch bedrückend, wie aus einer Andeutung in einem Brief an Felice Bauer vom 7./8. März 1913 hervorgeht: Unter dem Eindruck Deines Briefes den ich zuhause noch vor dem Weggehen rasch einmal gelesen habe und in der Brusttasche trage – Gong! Es wird dunkel, [!] So spät. Und ich bin doch lange vor Schluß weggegangen, nicht nur wegen meiner ewigen Müdigkeit, mein Kopf wartet heute den ganzen Tag krampfhaft darauf daß ich die Augen schließe, sondern auch deshalb weil es mir immer wohl tut aus einer festen Gemeinschaft vor der allgemeinen Auflösung zu entkommen. Verstehst Du das? (Kafka 1999b: 125)

Einen weiteren Lucerna-Besuch am 6. Dezember 1913 bestätigt Brod nur im Zusammenhang mit einem Buch, das er Kafka bei dieser Gelegenheit übergeben habe (Hermes 1999: 110). Am 5. Juli 1913 besucht Kafka „u.a. mit Max und Elsa Brod sowie Felix Weltsch“ das Kabarett Chat Noir im Hotel Goldener Engel. Am 25. Juli informiert er Felice Bauer über diesen Abend, der Bericht ist eine Selbstreflexion, die Einblick gewährt in sein Verhältnis zu dieser Art von musikalischer Unterhaltung, der er auch eine identitätsstiftende Funktion zuschreibt: Wir, Max, seine Frau, sein Schwager, Felix und ich waren in einem Chantant, in das meine Frau nicht hingehn dürfte. Ich habe im allgemeinen sehr viel Sinn für solche Sachen, glaube sie von Grund aus, von einem unabsehbaren Grund aus zu erfassen und genieße sie mit Herzklopfen, gestern aber versagte ich außer gegenüber einer tanzenden und singenden Negerin fast gänzlich. (Kafka 1999b: 231)

Unabhängig von solchen Vorbehalten suchten er und Max Brod am 23. August dieses Etablissement abermals auf (Hermes 1999: 105f.). Kafkas Vorliebe für die Operette, die freilich auch als eine distanzierte Nähe zu diesem Genre bezeichnet werden kann, und die zahlreichen Kabarettbesuche, denen er „viel Sinn“ abgewinnen konnte, auch wenn er den Aufführungen zuweilen mit „Herzklopfen“ folgte, können ein Indiz dafür sein, dass er diese Art von Musik gegenüber der Kunstmusik bevorzugte, die als ein Teil der vermeintlichen Hochkultur galt und der er nur wenig abgewinnen konnte. In den Tagebüchern und Briefen finden sich keine Einträge über Opern- oder Konzertbesuche, mit Ausnahme des bereits erwähnten Brahms-

10 Vermutlich handelt es sich hier nicht um eine Wiener Sängerin namens Fatinizza, sondern um ein Lied aus der Operette Fatinitza von Franz von Suppé (1819 Spalato/Dalmatien - 1895 Wien), das eine Wiener Sängerin vortrug.

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Konzerts und des Konzerts mit Werken von Max Brod. Hingegen war Kafka verschiedenen Arten der urbanen Popularmusik gegenüber nicht nur aufgeschlossen, er suchte sogar mit Vorliebe gerade solche Orte auf, an denen diese Musik aufgeführt wurde. Als ein integraler Bestandteil der kulturellen Semiosphäre trug freilich gerade auch diese Musik zur Orientierung in einem zunehmend heterogenen, fragmentierten beziehungsweise differenzierten soziokulturellen Umfeld bei. Auf diese identitätsstiftende Funktion der Popularmusik und auf ihre ästhetische Relevanz hat unter anderem Simon Frith nachdrücklich aufmerksam gemacht, wie nämlich gerade eine solche „Musik den Menschen in materieller Form verschiedene Identitäten verleiht und sie in verschiedenen sozialen Gruppen plaziert.“ (Frith 1999: 168) Bei Kafka wird die identitätsstiftende Funktion einer solchen Musik innerhalb eines kulturellen Kommunikationssystems besonders dann deutlich, wenn man sein Verhältnis zur Musik des jiddischen Theaters näher in Betracht zieht. Dabei soll es hier nicht so sehr um Kafkas Positionierung zum jiddischen Theater an sich, um dessen Inhalte und Akteure gehen, sondern um seine persönliche Stellungnahme zu dessen spezifischen musikalischen Ausdrucksformen, die zu den tragenden Elementen des jiddischen Theaters gehören (Moellendorff 2013). Darüber versuchte er sich immer wieder Rechenschaft abzulegen, freilich in einem jeweils umfassenderen Zusammenhang von Musik, Wort und Mimesis, den er zum Beispiel bei einer Charakterisierung der jiddischen Sprache in seinem Einleitungsvortrag über den Jargon am 18. Februar 1912 deutlich hervorhebt: „Jargon ist alles“, heißt es hier, „Wort, chassidische Melodie und das Wesen dieses ostjüdischen Schauspielers selbst.“ (Kafka 2002b: 193; Kafka 2002c: 67; Herv. M. C.) Kafkas Interesse und emphatische Begeisterung für das jiddische Theater, das er anlässlich eines längeren Gastaufenthaltes der Lemberger jiddischen Theatertruppe von Jizchak Löwy (1887 Warschau - 1942 KZ Treblinka) kennenlernen konnte, die vom 24. September 1911 bis zum 21. Januar 1912 im Prager Hotel Central und vor allem im Café Savoy aufgetreten war, ist in den Tagebüchern und indirekt auch in Briefen an Felice Bauer reichlich dokumentiert. Die ausführlichen Beschreibungen beziehen sich nicht nur auf einzelne Stücke, die aufgeführt wurden, und nicht nur auf deren Interpreten, sie beziehen sich ebenso auf den Eindruck, den die Musik dieser jiddischen Singspiele beziehungsweise ‚Operetten‘ bei ihm hinterließen, welche zahlreiche Anleihen von folkloren Elementen, zum Beispiel Tänzen und Liedern der slawischen Bevölkerung Galiziens verarbeiteten, die ganz ähnlich klangen wie manche tsche­chischen Volksweisen und Tänze, die Kafka gut kannte, zum Beispiel der Šlapak (Schlapak), ein „Treter“, der sogar auch auf eine Walzermelodie getanzt werden

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konnte.11 So vermochte er den Liedern und Tänzen der Komödie Der Meschumed von Abraham M. Scharkansky (1867-1907) nicht nur gut zu folgen,12 sondern, was wichtig ist, er wurde sich durch die Aneignung dieser jiddischen Melodien mit einem ‚Zittern‘ auch seiner eigenen jüdischen Identität bewusst: Die Melodien sind lang, der Körper vertraut sich ihnen gerne an. Infolge ihrer gerade verlaufenden Länge wird ihnen am besten durch das Wiegen der Hüften, durch ausgebreitete in ruhigem Atem gehobene und gesenkte Arme, durch Annäherung der Handflächen an die Schläfen und sorgfältige Vermeidung der Berührung entsprochen. Erinnert etwas an den Šlapak – Bei manchen Liedern, der Aussprache ‚jüdische Kinderloch‘, manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Christen, gieng mir ein Zittern über die Wangen. (Kafka 1996: 49)

Was hier wie auch bei anderen Eintragungen Kafkas auffällt, die seine musikalischen Erlebnisse in Worte zu fassen versuchen, ist nicht nur die Absicht, sich die Musik an sich bewusst zu machen, sondern sie durch die begleitenden mimetischen Darstellungen jener zu verdeutlichen, die diese Musik vortragen. Zugleich tritt ein selbstreflexives Moment hinzu: das Sichbewusstmachen der Konsequenzen, die sich für seine eigene Existenz aus der Erfahrung mit dieser Musik ergeben. Als einer der Väter des jiddischen Theaters gilt der aus Wolhynien stammende Abraham Goldfaden (1840 Starokostjantyniw - 1908 New York). Nach einer langjährigen Ausbildung am rabbinischen Seminar in Schitomir wandte er sich der Schriftstellerei zu, gründete und redigierte mehrere deutschsprachige jüdische Zeitungen und begann schließlich jiddische musikalische Singspiele (Operetten) zu verfassen und auch selbst zu vertonen. Sie wurden nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika mit großem Erfolg aufgeführt. Die wechselvollen Lebensstationen Goldfadens, unter anderem Simferopol, Odessa, Czernowitz, Jassy, Moskau, St. Petersburg, Warschau und New York, wo er auch starb, sind in der Tat ein Beleg für die Situation eines gehetzten und verfemten Joseph Roth’schen „Juden auf Wanderschaft.“ (Dalinger 1998: 23-27; Quint 2013) Bei Kafkas Rezeption der jiddischen Singspiele stellt sich in unserem Zusammenhang in erster Linie die Frage nach der Musik der Goldfaden’schen Stücke beziehungsweise welchem Genre seine Musik zugeordnet werden könnte. Goldfaden selbst bezog sich in einem 1900 in Wien publizierten Beitrag auf seine Kompositionspraxis, die in der Tat jener der 11 Der Schlapak (Šlapák) kommt auch bei Jaroslav Hašek vor: „Ich wer bißl tanzen“ sagte er [der Lange] nach dem fünften Bier, als er die Paare ‚Schlapak‘ tanzen sah.“ (Hašek 2011: 112) 12 Kafka bezeichnet irrtümlich Josef Lateiner (Latteiner) als den Autor des Stückes.

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Operettenkomponisten entsprach und damit auch Aufschluss gibt über den Charakter seiner Musik, die durchaus dem Fach der leichten Musik zuzuordnen ist, obwohl er auch manches von Verdi oder Wagner entlehnt haben wollte. Er habe manche Nummern selbst geschaffen, manche aber von anderen Komponisten entlehnt. […] Ich schmuggelte gelegentlich in meine Stücke leichte Melodien von Offenbach, Lecocq, Verdi, Meyerbeer, sogar von Wagner ein“, mit dem Ziel, den „musikalischen Geschmack weiter Kreise meines Volkes auf diese Weise zu läutern. (zit. n. Dalinger 1998: 26)

Freilich machte Goldfaden, wie auch die jüdische Klezmer-Musik, zahlreiche Anleihen bei der slawischen Volksmusik Ostgaliziens (Ukraine) und Russlands, vor allem was die melancholische Melodik in der häufig verwendeten Molltonart betrifft.13 Indirekt deutet Kafka kurz auf die Herkunft dieser Musik in der langen Beschreibung von Jakob Gordins (1853 Myhorod/Ukraine - 1909 New York)14 Der wilde Mensch an: „Tanzen in russischen Stulpenstiefeln, Tanzen mit gehobenen Frauenröcken“ (Kafka 1996: 155). Vor allem aber war Kafka von Goldfadens Sulamit ganz besonders beeindruckt und er bezweifelte, ob das Stück doch nicht zu Unrecht bloß als Operette bezeichnet werde: „Eigentlich eine Oper“, meint er entschieden, aber jedes gesungene Stück heißt Operette, mir scheint schon diese Kleinigkeit auf ein eigensinniges, übereiltes, auch aus falschen Gründen heißgewordenes, die europäische Kunst in einer zum Teil zufälligen Richtung durchschneidendes künstlerisches Bestreben zu deuten. (Kafka 1996: 64)

Die Rolle der Sulamit spielte die von Kafka bewundernd-verehrte Schauspielerin Amalie Tschisik. Abermals verschränken sich in Kafkas Beobachtungen die Gestik, Mimik und Physiognomie der jiddischen Schauspielerin mit Andeutungen an die von ihr vorgetragene Musik: Als Sulamith hatte sie meist die Haare gelöst, die ihre Wangen verdeckten, so daß ihr Gesicht manchmal wie ein Mädchengesicht aus früherer Zeit aussah. Sie hat einen großen, knochigen, mittelstarken Körper und ist fest geschnürt. Ihr Gang bekommt leicht etwas feierliches, da sie die Gewohnheit hat, ihre langen Arme zu heben, zu strecken und langsam zu bewegen. Besonders als sie das jüdische Nationallied sang, in den großen Hüften schwach schaukelte und die parallel den Hüften gebogenen Arme auf und ab bewegte mit ausgehöhlten Händen, als spiele sie mit einem langsam fliegenden Ball. (Kafka 1996: 77) 13 Vgl. dazu das Wiegenlied Rosinkes und Mandlen (Raisins and Almonds) auf Youtube: (Zugriff 06.03.2016) und eine Einspielung von Goldfadens bekanntesten Operettenmelodien auf einer CD, die in Rumänien produziert wurde: Avram Goldfaden – Selecţiuni Din Operetele Lui Goldfaden (Highlights from Goldfaden Operettas) – Electrecord–ECE 0201. 14 Über Jakob Gordin s. unter anderem Dalinger (1998: 30f.).

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Ähnlich wie Goldfadens Sulamit wirkte auf Kafka auch Joseph Lateiners Blümale oder die Perle von Warschau, ein Stück, in dem im Dezember 1911 die Schauspielerin Flora Klug auftrat: Der Tränenglanz in den Augen der Frau Klug beim Singen einer gleichmäßig welligen Melodie, in welche die Zuhörer ihre Köpfe hängen lassen, schien mir in seiner Bedeutung weit über das Lied, über das Teater, über die Sorgen des ganzen Publikums ja über meine Vorstellungskraft hinauszugehen. (Kafka 1996: 248)

Joseph Lateiner (1853 Jassy/Rumänien - 1935 New York) war der Verfasser von unzähligen Dramen, Melodramen und Komödien, die er sehr rasch und überhastet produzierte und zu denen er auch die Musik beisteuerte, er genoss daher bei vielen sehr bald den Ruf eines „Schundproduzenten“ (Dalinger 1998: 27-30). Kafkas Aufmerksamkeit galt jedoch vor allem dem Vortrag und Gesang der Hauptdarstellerin. Er fühlte sich von Flora Klug auch als Mensch geachtet, denn sie sprach ihn, wie er wenige Wochen vor der Aufführung notierte, mit „Herr Doktor“ an. Doch nicht nur ihre Person, vor allem die Lieder, die sie vortrug, hinterließen bei Kafka einen so tiefen Eindruck, dass er sich nicht nur den Text einzuprägen, sondern die Lieder in einer überschwänglichemphatischen Freude mitzusingen vermochte: Ich glänzte, wenn sie sang, ich lachte und sah sie an, die ganze Zeit während sie auf der Bühne war, ich sang die Melodien mit, später die Worte, ich dankte ihr nach einigen Vorstellungen; dafür konnte sie mich natürlich wieder gut leiden. (Kafka 1996: 169)

Dennoch mögen manche jiddischen Theaterstücke wegen ihrer zum Teil ungeordneten, seichten Handlung, ihrer minderwertigen Couplets oder der schlechten Inszenierungen auch Unbehagen hervorgerufen haben. Auch Kafka scheint solche Vorwürfe aufgrund seiner eigenen Erfahrungen sehr ernst genommen zu haben, wie einer Stelle seines Tagebuchs zu entnehmen ist, an der er über einen Brief berichtet, den ihm sein Freund Jizchak Löwy vorgelesen hatte. Darin wird nicht nur der „Niedergang“ des jiddischen Theaters beklagt, sondern indirekt auch die Nähe des jiddischen musikalischen Singspiels zur Operette angedeutet: Vorlesen eines Briefes aus Warschau, in dem ein junger Warschauer Jud über den Niedergang des jüdischen Teaters klagt und schreibt, daß er lieber in die ‚Nowosti‘ das polnische Operettenteater gehe, als in das jüdische, denn diese elende Ausstattung, die Unanständigkeiten, die ‚verschimmelten‘ Couplets u. s. w. seien unerträglich. Man denke nur an den Haupteffekt einer jüdischen Operette, der darin besteht, daß die Primadonna mit einem Zug kleiner Kinder hinter sich durch das Publikum auf die Bühne marschiert. Alle tragen kleine Thorarollen und singen: toire is die beste schoire – die Thora ist die beste Ware. (Kafka 1996: 219)

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Die intensive Beschäftigung mit dem jiddischen Theater und seiner Musik war für Kafka von mehrfacher, entscheidender Bedeutung: Erstens war ihm die Musik nicht fremd, er erkannte beziehungsweise erinnerte in ihr manche Ähnlichkeit mit der ihm bekannten tschechischen Musik und ihren Tänzen, und – zwar nur mittelbar – mit den ihm geläufigen Melodien mancher k. u. k. Operetten, die sich der musikalischen Vielfalt des Vielvölkerstaates bediente und daher ebenfalls zahlreiche slawische beziehungsweise ostgalizische musikalische Elemente aufwies. Zweitens erkannte er in manchen Handlungen der jiddischen Stücke typische Inhalte einer bislang unbekannten jüdischen Kultur, die ihm seine eigene mémoire juive bewusst werden ließ. Er entdeckte in der Folge den ‚Jargon‘, die jiddische Sprache, als eine historisch komplexe, von vielfältigen Fremdelementen bestimmte Kommunikationsweise, die gerade deshalb eine ‚mißachtete Sprache war‘ und als solche mit seiner eigenen komplexen, hybriden, multiplen Identität korrespondierte. Der Jargon „besteht nur aus Fremdwörtern“, meint er in seinem Einleitungsvortrag über den Jargon. „Diese ruhen aber nicht in ihm, sondern behalten die Eile und Lebhaftigkeit, mit der sie genommen wurden. Völkerwanderungen durchlaufen den Jargon von einem Ende bis zum anderen.“ (Kafka 2002b: 189) Drittens denkt er im Anschluss daran zugleich über die Möglichkeit, die Existenzberechtigung und den Stellenwert einer kleinen, nämlich der jiddischen Literatur nach. Und auch hier vergleicht er, ganz in Analogie zu seinen Beobachtungen über die Musik des jiddischen Theaters, bei welchem ihm Ähnlichkeiten zu tschechischen Volksweisen aufgefallen waren, die jiddische kleine Literatur mit einer anderen ihm bekannten kleinen Literatur, nämlich der „gegenwärtigen tschechischen Litteratur.“ (Kafka 1996: 243) Auch hier, wie bei dem Jargon, findet sich der Hinweis auf das ‚éclatement‘ dieser kleinen jiddischen Literatur, die auf die Zersplitterung ihrer Repräsentanten, der Juden, zurückzuführen sei: „Weil die zusammenhängenden Menschen fehlen, entfallen zusammenhängende litterarische Aktionen.“ (Kafka 1996: 249)15 Viertens wird er durch die Begegnung

15 Ich kann hier nicht auf die missverständliche Interpretation von Kafkas „kleinen Literaturen“ durch Gilles Deleuze und Félix Guattari eingehen, die aus einer „littérature petite“ eine „littérature mineure“ (minoritär, zweitrangig) konstruiert und daraus eine eigene Theorie entwickelt haben, die von den eigentlichen Intentionen Kafkas abweicht. S. dazu Deleuze/Guattari (2012) und die Kritik an ihrem Ansatz (Thirouin 2014). Im Titel der deutschen Übersetzung von Deleuze/Guattari (Kafka. Pour une littérature mineure) steht hingegen wieder „kleine Literatur“ (Kafka. Für eine kleine Literatur), wodurch das Missverständnis, das vermutlich auf eine mangelhafte Übersetzung von Kafkas Tagebüchern ins Französische zurückzuführen ist, nicht behoben wird.

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mit den jiddischen Schauspielern und Sängern sich seiner eigenen jüdischen Existenz bewusst und versucht seine jüdische Herkunft zu rekonstruieren: Ich heiße hebräisch Anschel, wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann […] erinnerlich ist. (Kafka 1996: 247)

Es ist dies ein Bewusstwerden seiner jüdischen Existenz, die er im väterlichen Haus nicht erfahren konnte. Im Judentum, schreibt er später im Brief an den Vater, wäre ja an sich Rettung denkbar gewesen, oder noch mehr, es wäre denkbar gewesen, daß wir uns beide im Judentum gefunden hätten oder daß wir gar von dort einig ausgegangen wären. Aber was war das für Judentum, das ich von Dir bekam! (Kafka 2002d: 185)

Schließlich, fünftens, wird sich Kafka „der Richtung [s]eines Wesens“, der Verpflichtung zum Schriftsteller bewusst, die alle anderen Fähigkeiten ausschließt, vor allem auch jene, sich mit Musik zu beschäftigen, was er ja im Zusammenhang mit dem jiddischen Theater so intensiv getan hatte: Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. Das war notwendig, weil meine Kräfte in ihrer Gesamtheit so gering waren, daß sie nur gesammelt dem Zweck des Schreibens halbwegs dienen konnten. Ich habe diesen Zweck natürlich nicht selbständig und bewußt gefunden, er fand sich selbst […]. (Kafka 1996: 264)

Die Operette, die Couplets, die Schlager, vor allem aber auch das jiddische Theater, das sich ganz wesentlich durch seine Musik repräsentierte, die sich unter anderem aus volksmusikalischen (ost-)slawischen Elementen und, wie vor allem bei Abraham Goldfaden, aus Anleihen bei der zeitgenössischen Operette zusammensetzte, hinterließen bei Kafka ohne Zweifel einen nachhaltigen Eindruck. Es waren dies musikalische Genres, die insgesamt der Popularmusik zuzurechnen sind und die als solche integrale Bestandteile eines kulturellen Bewusstseins der Zeit um 1900 waren. Versteht man unter Kultur einen Handlungsraum (Bronislaw Malinowski), ein Netzwerk von Verhandlungen (Stephen Greenblatt), eine Semiosphäre (Jurij M. Lotman), in der Individuen und Gruppen mittels Zeichen, Symbolen und Codes performativ verbal und nonverbal kommunizieren, ist auch die Popularmusik, die den Alltag so nachhaltig bestimmt, eine Form der nonverbalen kulturellen Kommunikation (Csáky 2010: 89-127; 2014). Sie versucht innerhalb eines komplexen, in sich heterogenen kulturellen Kommunikationsraumes ebenso wie die verbale, gesprochene Verständigung immer wieder zur Orientierung beizutragen, indem sie als eine nonverbale Sprache mit musikalischen Zeichen, Symbolen

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oder Codes argumentiert, die entweder allgemein verständlich sein können oder aber erst dekodiert werden müssen. Denn ein Kennzeichen der Semiosphäre ist ihre Heterogenität. Die Sprachen innerhalb eines semiotischen Raumes sind ihrer Natur nach verschieden, und ihr Verhältnis zueinander reicht von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit. (Lotman 2010: 166)

Diese Übersetzbarkeit beziehungsweise Unübersetzbarkeit erweist sich vor allem an bestimmten Schnittstellen, an ‚Grenzen‘, die sich im gesamten kommunikativen Raum vorfinden. „Der Begriff der Grenze ist ambivalent“ meint Lotman: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus […]. (Lotmann 2010: 182)

Die Grenze ist also jener Raum, in dem kommunikative Praktiken stattfinden, in dem sich die unterschiedlichsten Kommunikationssysteme bündeln und in dem es folglich zu kontinuierlichen Translations- und Austauschprozessen kommt, wobei jedoch die einzelnen Elemente ihre Eigenständigkeit nicht völlig verlieren. Die Grenze entspricht insofern dem von Homi Bhabha konzipierten ‚Dritten Raum‘, in welchem performativ kommunikative Prozesse stattfinden und kulturelle Elemente zu einer hybriden Gemengelage verschmelzen: Erst wenn wir verstehen, daß sämtliche kulturellen Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum [Dritter Raum] konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ‚Reinheit‘ von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empirisch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrieren. (Bhabha 2011: 57)

Solche „empirisch-historische Beispiele“ für hybride Dritte Räume sind in unserem Falle ohne Zweifel die Operette und das jiddische Theater.16 Sowohl 16 Es ist bemerkenswert, dass die Metapher der Grenze oder des hybriden Dritten Raums als ‚empirisch-historische Beispiele‘ bereits avant la lettre, das heißt noch vor ihrer Einführung in den kulturwissenschaftlichen Diskurs, bei der Charakterisierung der pluriethnischen und plurikulturellen Situation der Habsburgermonarchie eine Rolle spielen. Unter anderem weist der Geograph Friedrich Umlauft schon 1876 auf die zahlreichen „Grenzbezirke“ innerhalb der Monarchie hin, wo „häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden“ (Umlauft 1876: 2), und Hugo von Hofmannsthal spricht von Grenzen, an denen sich Kulturen begegneten und vermischten, und davon, dass folglich auch die Geschichte Österreichs „in ihrer inneren Polarität [liegt]: in der Antithese, die sie in sich schließt […],

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die Musik der Operette als auch die Musik des jiddischen Theaters sind von vielfältigen, heterogenen, zuweilen widersprüchlichen musikalischen Elementen durchsetzt, beide leben von der Vielfalt unterschiedlicher musikalischer Symbole und Codes, die zu einer hybriden musikalischen Sprache gerinnen. Vor allem die k. u. k. Operette ist ein Genre, in dem im Konkreten die kulturelle Heterogenität und Vielsprachigkeit der zentraleuropäischen Region musikalisch zum Ausdruck kommt. Ähnliches gilt, wie bereits angedeutet, auch für die Musik des jiddischen Theaters. Kafkas Affinität zu diesen beiden musikalischen Gattungen mag ein Indiz dafür sein, dass er sich einerseits mit einer solchen Vielsprachigkeit zu identifizieren wusste, insofern nämlich, als er in ihr die Realität seiner multiplen Identität wiedererkannte, und dass er andererseits sich dadurch einzelner Elemente seiner komplexen Identität bewusst wurde, im Falle des jiddischen Theaters seiner Existenz als Jude, der er sich auch durch noch so intensive Versuche, sich zu assimilieren, das heißt, sich einem nichtjüdischen Anderen anzugleichen beziehungsweise andere nachzuahmen (Mimikry), nicht zu entziehen vermochte. Kafkas Überlegungen über die Schauspielkunst beziehen sich nicht nur auf die Nachahmungskunst, die einen Schauspieler auszeichnet, sondern ganz allgemein auf die Problematik seiner eigenen mimetischen Anpassung an die Umwelt: „Mein Nachahmungstrieb hat nichts Schauspielerisches, es fehlt ihm vor Allem die Einheitlichkeit. Das Grobe, auffallend Charakteristische in seinem ganzen Umfange kann ich gar nicht nachahmen, ähnliche Versuche sind mir immer mißlungen sie sind gegen meine Natur.“ (Kafka 1996: 255) Schließlich verhält sich Kafkas persönliches Interesse für verschiedene Formen der ‚banalen‘ Popularmusik analog zu dem Interesse, das er als Schriftsteller für die Existenz gewöhnlicher, marginalisierter Menschen und ihre alltäglichen Verhaltensweisen bekundet. Die Hinweise auf die populare Musik im Œuvre Kafkas sollten daher nicht nur als beiläufige, zufällige Notate gelesen und abgetan werden, vielmehr sind sie meiner Meinung nach indirekte Belege für Kafkas andauerndes Bemühen, sich in seinem Alltag Orientierung zu verschaffen und damit seine eigene mehrdeutige, hybride existentielle Situation vor Augen zu halten.

Abschluß zu sein […] und zugleich fließende Grenze zu sein […], ja empfangend auch wieder und bereit zu empfangen.“ (Hofmannsthal 1979a: 456) Und in einem anderen Zusammenhang meint Hofmannsthal: „Diese alte Universalmonarchie kannte nur fließende Grenzen. Sie übte ihr Prestige und gab ihren Kultureinfluß in ein weites Gebiet, dessen Grenzen nie zum Bewußtsein kamen. […] Sich abzugrenzen, sich gegen fremde Eigenart in seine Grenzen zu verschließen, nichts lag der Geistesart, in der zwanzig Generationen auf österreichischem Boden aufgewachsen sind, ferner.“ (Hofmannsthal 1979b: 474)

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Kafka, Kunst, Musik – eine intensive Wirkungsbeziehung

1. Vorbemerkungen „Vor allem der Bereich des Akustischen stand dem Dichter offenbar fern, und Selbstzeugnisse legen den Gedanken nahe, er habe das Ohr als ein zu seiner Folter bestimmtes Organ empfunden.“ So Wolfgang Rothe (1979) in seiner Einführung zu einem Band Kafka in der Kunst, in dem Einflüsse Kafkas auf die bildende Kunst untersucht werden. Auf einen fehlenden musikalischen Bezug Kafkas wies auch Max Brod, der den Freund, dem es „der eigentlichen Musik­ begabung“ ermangelte, „öfters zu Konzerten [schleppte], es aber bald auf[gab], da seine Eindrücke bei ihm rein visueller Art waren.“ (Brod 1974: 103) Tatsächlich findet man eine Reihe biographischer Äußerungen Kafkas, die die These der Unmusikalität durchaus bestätigen könnten, seien es Erinnerungen an die häusliche Situation im „Hauptquartier des Lärms“ (Kafka 1994: 441), das auch Niederschlag in der Verwandlung fand; seien es Äußerungen, in denen Kafka seine Inkompetenz allem Musikalischen gegenüber offen dokumentiert. Er könne, so berichtet Max Brod, die Lustige Witwe nicht vom Tristan unterscheiden (Brod 1974: 103). Und im Tagebuch am 13. Dezember 1911 heißt es anlässlich eines vom Deutschen Singverein und vom Deutschen Männergesangsverein durchgeführten Brahms-Abends im Prager Rudolfinum unter Leitung des Dirigenten Gerhard von Keußler: Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, daß ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann, nur hie und da entsteht eine Wirkung in mir und wie selten ist die eine musikalische. Die gehörte Musik zieht natürlich eine Mauer um mich und meine einzige dauernde musikalische Beeinflussung ist die, daß ich so eingesperrt, anders bin als frei. (Kafka 1990: 291; s. a. Lüken 1984)1 1 Der Musikkritiker Wenzel Ritter von Bělsky: „Von den gestern zu Gehör gebrachten Tonstücken waren einige auf unserem Boden noch unbekannt. So der ‚Gesang der Parzen‘ […]. In gleich klingender Weise wurde die Kantate ‚Nänie‘ erschöpft, zu der die Anregung aus Schillers Gedicht hergeholt ist. […] Einen fesselnden Gegensatz […] bildete das ‚Triumphlied‘, dessen Motiv der ‚Offenbarung Johannis‘ entnommen erscheint aber auf den

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Diese auch in einem späteren Brief (14.06.1920) an Milena Jesenská konstatierte Unmusikalität – „[W]eißt Du eigentlich, daß ich vollständig, in einer meiner Erfahrung nach überhaupt sonst nicht vorkommenden Vollständigkeit unmusikalisch bin?“ (Kafka 2013: 186) – verlangte vom Zuhörer, so vermerkt es das Tagebuch am 17. März 1912, eine regelrechte Konzentrationsübung in unkonzentriertem Zuhören: Maxens Koncert am Sonntag. Mein fast bewußtloses Zuhören. Ich kann mich von jetzt an bei Musik nicht mehr langweilen. Diesen undurchdringlichen Kreis, der sich mit der Musik um mich bildet, versuche ich nicht mehr zu durchdringen, wie ich es früher nutzlos tat, hüte mich auch, ihn zu überspringen, was ich wohl imstande wäre, sondern bleibe ruhig bei meinen Gedanken, die in der Verengung sich entwickeln und ablaufen, ohne daß störende Selbstbeobachtung in dieses langsame Gedränge eintreten könnte. (Kafka 1990: 410)2

Und auch im Vergleich mit Werfel – Kafka schreibt von den „Gewichten“, „die ich nicht loswerden kann und von Musik bin ich ganz abgetrennt.“ (Kafka 1990: 299; 18.12.1911) – wird der Aspekt des Unmusikalischen betont. Diese Unmusikalität korrespondiert wiederum, so hatte es Kafka am 3. Januar 1912 im Tagebuch akzentuiert, mit einer ausschließlichen und notwendigen Affinität für das Schreiben: In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zuallererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. […] Jedenfalls darf ich aber dem nicht nachweinen, daß ich keine Geliebte ertragen kann, daß ich von Liebe fast genau so viel wie von Musik verstehe und mit den oberflächlichsten angeflogenen Wirkungen mich begnügen muß […]. (Kafka 1990:341)

Man könnte, zieht man Beispiele aus dem Werk hinzu, gar von einer Aversion gegen musikalische Wirkungen sprechen, zumindest von einer Musik, die „besinnungslos“ mache wie in den Forschungen eines Hundes. Denn diese, leicht erkennbar als ‚innere Musik‘, symbolisiert gerade nicht kreative Extase (Turner 1963: 275), sondern eher eine bedrohliche Überschreitung von Hörgewohnheiten und Erwartungen, die an die Grenze der Kafkaschen Welt

Sieg der deutschen Waffen gemünzt ist […]. Wie es schien, hat sich das ‚Triumphlied‘ gestern des größten Entgegenkommens zu erfreuen gehabt […]. Der Rest des Programmes umfaßte Bekanntes: die tragische Ouvertüre und den Doppelcanon: ‚Beherzigung‘“ (Prager Tageblatt, 14.12.1911, Morgenausgabe Nr. 345, S. 4; Kafka 1990 – Kommentarband 75f.). 2 Auf Kafkas Vorstellung von Musik als „Raum akultureller Insistenz des Körpers“ weist Gerhard Neumann (2013: 543).

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führt (Kudszus 1978: 253). Die frühe Forschung hat hier Elemente des Dionysischen erkannt: drehte mich im Kreise herum, als sei ich selbst einer der Musikanten, während ich doch nur ihr Opfer war, warf mich hierhin und dorthin, so sehr ich auch um Gnade bat, und rettete mich schließlich vor ihrer eigenen Gewalt, indem sie mich in ein Gewirr von Hölzern drückte […] den Kopf mir niederduckte und mir, mochte dort im Freien die Musik noch donnern, die Möglichkeit gab, ein wenig zu verschnaufen. (Kafka 1992: 430) 3

Somit scheint sowohl biographisch wie poetologisch der Topos des Unmusikalischen, ungeachtet einer gewissen Selbststilisierung Kafkas, Wahrheitsgehalt beanspruchen zu können, zumal wenn man den durchaus musikalischen engeren Freundeskreis bedenkt, der eine Gewähr für eine intensivere Beschäftigung mit Musik hätte bieten können. Max Brod als Musikkritiker, als Förderer von Jánaček und Übersetzer seiner Libretti oder Oskar Baum als Klavierlehrer und Musikkritiker, um nur zwei wichtige Bezugspersonen zu nennen. Und auch die in der Forschung häufig genannten Erwähnungen von Komponisten im Werk entpuppen sich im Vergleich mit bildenden Künstlern oder gar Schriftstellern als höchst marginal. Man findet einen Hinweis in den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande auf die von Paul Wiegler herausgegebenen Briefe, Gespräche, Erinnerungen Ludwig van Beethovens;4 ferner findet man Hinweise auf die Lektüre von Hector Berlioz’ Memoiren (München 1914) in einem Brief an Felice vom 25. Mai 1914 (Kafka 2005: 73).5 Allerdings lassen sich diese Werke eher den Interessen Kafkas für Künstlerbiographien zuordnen. Und auch die wenigen Hinweise auf Max Brods musikalische bzw. kompositorische Affinitäten,6 vor allem auf Jánačeks Jenufa, so in den Briefen an

3 „Immer stärker wurde sie; ihr Wachstum hatte vielleicht keine Grenzen und schon jetzt sprengte sie mir fast das Gehör. Das Schlimmste aber war, daß sie nur meinetwegen vorhanden zu sein schien, diese Stimme, vor deren Erhabenheit der Wald verstummte […] schon flog ich von der Melodie gejagt in den herrlichsten Sprüngen dahin.“ (Kafka 1992: 479) 4 S. a. den Brief Ende Januar 1917 an Paul Wiegler, in dem sich Kafka für die Zusendung des Bandes Ludwig van Beethoven. Briefe, Gespräche, Erinnerungen. Ausgewählt und eingeleitet von Paul Wiegler. Berlin 1916 bedankt (Kafka 2005: 285). Auf den Bezug von Beethovens Freund Graf Brunswick und dem Schloss weist Kleinwort (2013: 140-144). 5 In diesen Kontext lassen sich auch Hinweise wie auf Herbert Eulenburgs Vorlesungen, u. a. Das Schattenbild ‚Mozart‘, einordnen, von der am 30.11./01.12.1912 an Felice Bauer berichtet wird (Kafka 1999a: 288). 6 S. bspw. die Briefe vom 05.04.1905 an Max Brod mit dem Hinweis auf das Vierte Konzert für die Mitglieder des Deutschen Kammermusikvereins im Rudolfinum (gespielt wurde Beethoven, Brahms, Mozart und Haydn) (Kafka 1999b: 43); am 04.05.1905 an Max Brod die

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Elsa und Max Brod bzw. an Brod,7 stehen in keiner Relation zu der intensiven Beschäftigung Brods gerade mit diesem Werk, was allein der Briefwechsel mit Jánaček belegt (Racek/Rektorys 1953). „‚Jenufa‘ habe ich bekommen. Das Lesen ist Musik. Der Text und die Musik haben ja das wesentliche beigebracht“, so heißt es lapidar in einem Brief vom 7. oder 8. Oktober 1917 bei Kafka (2005: 343). Dieses biographische Bild wird abgerundet von den eher isolierten Erwähnungen, die auf die Besuche von Opern- und Konzertaufführungen rekurrieren, so wie das eingangs erwähnte Brahms-Konzert, eine Aufführung der Carmen von Bizet, die Brod und Kafka 1911 in der Pariser Oper sahen (Kafka 1990: 998),8 eine von Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt am 31. Januar 1912 im Neuen Deutschen Theater (Kafka 1990: 368) oder des Fidelio vom 22. Januar 1922 in einer Nachmittagsvorstellung des Národní divadlo [Nationaltheater] (Kafka 1990: 893). Nun lässt sich aus solchen Äußerungen, unabhängig von deren Realitätsgehalt bzw. deren Relevanz oder besser Nichtrelevanz für Vita und Werk, keinesfalls eine Unvertonbarkeit seines Werkes ableiten, weil bspw. Kafkas Sprache als interpretierende Begleitmusik ihres eigentlichen Themas keinerlei Deutung neben sich dulde, wie noch in den 1950er- und 1960er-Jahren behauptet wurde (Oppens 1968: 86; Saathen 1954). Allein der vorliegende Band weist offenkundig auf das Gegenteil, und eine entsprechend kursorische Sichtung von Nachschlagewerken und Handbüchern belegt eine höchst umfangreiche kompositorische Auseinandersetzung mit Werk und Autor (Sander 2003).

Anspielung auf die Komposition Brods, eine Vertonung von Georges Gedicht Indes deine Mutter dich stillt (Kafka 1999a: 409; s a. Prager Tagblatt 28.03.1905). 7 Am 02. oder 03.10.1917 bedankt sich Kafka bei Brod für die Zusendung der Ziehtochter, die „mein morgiges Liegestuhlvergnügen sein“ wird (Kafka 2005: 340). Es handelt sich um den ersten Abdruck des Textbuches. S. a. den Brief Brods (Kafka 2005: 673). S. a. den Austausch über die Alžběta von Janáček und die Kritik in der Hudební Revue im Schreiben vom 04.12.1917 an Brod (Kafka 2005: 706-709). Auf Janáček kam Kafka anlässlich des Verrisses Hans Liebstoeckls (Literat, Librettist und Theaterkritiker) von Brods Übersetzung der Jenufa zurück (Janáčeks ‚Jenufa‘ an der Wiener Hofoper. In: Prager Tagblatt 17.02.1918 sowie Jenufa. In: Prager Tagblatt 19.02.1918). Antwort Brods am 20.02.1918: Jenufa. Eine Erwiderung (Prager Tagblatt). Kafka schrieb am 05.03.1918 an Brod: „Liebstoeckls Notiz über Dich war ein widerlicher Haßausbruch, auch in der Widerlichkeit der Schreibweise von der übrigen Jenufa-Kritik unterschieden.“ (Kafka 2013: 32) 8 S. a. den Brief vom 29.02.1916 an Gertrud Thieberger, in dem Kafka einen geplanten Besuch von Bizets Carmen im Stadttheater Kgl. Weinberge absagt (Kafka 2005: 153).

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Doch bleiben wir noch kurz bei der biographischen Sichtung. Kann man für Kafka einerseits einen nur begrenzten Zugang zur sogenannten E-Musik konzedieren, so war er andererseits ein enthusiastischer Freund der ‚leichten Muse‘, der eben neben den Besuchen der beiden deutschen Theater, dem Ständetheater und dem Neuen Deutschen Theater sowie dem Národní divadlo auch von den tschechischen Vorstadtbühnen inklusive Chantans, Kabaretts und Varietés nebst Zirkusveranstaltungen und auch von zeitgenössischer jiddischer Musik fasziniert zu sein schien (Binder 2008: 288). Ein zweiter Bereich, der den Topos des Unmusikalischen zumindest relativiert, bildet die intensive Auseinandersetzung mit Musik im Werk, die leitmotivisch in einigen der wichtigsten Erzählungen, Das Schweigen der Sirenen, die Forschungen eines Hundes, Josephine und das Volk der Mäuse und auch in der Verwandlung mit der Geige spielenden Schwester erscheint, die aber auch in dem Roman Der Verschollene von den Übungen Karl Roßmanns am Klavier über die Diva Brunelda bis zu den Trompetenfanfaren des Naturtheaters von Oklahama die Handlung strukturiert. Bedenkt man ferner die Rolle von Musik im Kontext von Kommunikationsmedien (Neumann 2013: 458), so lässt sich eine durchaus zentrale werkimmanente Funktion konstatieren, die andererseits nicht weiter überraschend erscheint, gilt doch Musik seit der Romantik und mittels Schopenhauer und Nietzsche auch in der Moderne als höchste Kunstform, da „sie sich von empirischer Wirklichkeit und übersetzbarer Semantik am weitesten entfernt hat.“ (Engel 2010: 490) Für einen Autor, dessen Misstrauen in die Darstellungskompetenz und Repräsentationsfunktion von Sprache wohl außer Frage stehen dürfte, wohl allemal ein Grund, sich der Leitmotivik des Musikalischen zu bedienen, verstanden als ein „autonomer und metasprachlicher Zeichenkomplex“, der seit der literarischen Musik­ ästhetik der Romantik „in keinem Referenzverhältnis zur empirischen Realität steht.“ (Valk 2008: 25) Ein dritter Bereich, der allerdings über das Feld des Musikalischen hinausweist, verortet Kafka in den Klanglandschaften der Moderne, die ein Kontinuum zwischen Geräusch und Stille, zwischen Lärm und Musik bilden, das auch bei Kafka verarbeitet wird (Daiber 2015); sei es als Klage über die häuslichen Verhältnisse im „Hauptquartier des Lärms“ (Großer Lärm, Kafka 1994: 441f.), seien es Beobachtungen und Erfahrungen von Lärm in der modernen Großstadt wie Paris, sei es als Wechselspiel aus Musik und Stille wie in Josephine die Sängerin oder aus bedrohlichem Geräusch und Stille wie im Bau. Das sich längst vom musikalischen Kunstwerk entfernende Mäusevolk, das einer unmusikalischen Tradition folgt – „vielleicht wurde durch unsere besonderen Schicksale die Stille, die Zurückhaltung uns unwiderstehlich auferlegt“

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(Kafka 1992: 652) –, negiert einen dauerhaften Erfolg Josephines: „Bald wird die Zeit kommen, wo ihr letzter Pfiff ertönt und verstummt.“ (Kafka 1994: 376). Kunst und Künstlerin werden zur bloßen, bald dem Vergessen anheimgegebenen Episode. Auf einen weiteren Bezug Kafkas zur Musik wiesen zudem schon die Zeitgenossen, die zumindest vereinzelt eine Verbindung zwischen Kafkas Stil und Musik herausstellten. Kafka, „der Sinfoniker der Prosa“, habe Sätze „klar wie Bachsche Fugen“ erschaffen. „Sie sind mit goldenen Bändern des Klanges ineinander gebunden. Seine Einfachheit tönt, so erhaben ist sie.“ So Manfred Sturmann in einer Besprechung zur Edition des Proceß-Romans in der Königsberger Hartung’schen Zeitung (Kafka 1983: 119 – 28.07.1926). Anlässlich der Herausgabe des Hungerkünstler-Bandes vermerkte Heinrich Eduard Jacob im Prager Tagblatt, die Unmöglichkeit von Kunstvermittlung reflektierend, dass der Hungerkünstler „ein tragisches Gleichnis für eine furchtbare Tatsache [sei]: daß Beethovens ‚Appassionata‘ wirklich nur von einem einzigen Menschen verstanden werden kann – von dem, der sie schrieb.“ (Kafka 1983: 79 – 28.12.1924) Eine erste Analogie mit Mahler zog Pavel Eisner am 16. Juni 1931 in der Prager Presse. Kafkas Leit- und Leidmotivik decke sich mit „Gustav Mahlers ‚Dunkel ist das Leben, ist der Tod‘.“ (Kafka 1983: 282)9 Und der enthusiastische Max Brod übertrug gar einen Aphorismus Karl Barths, nach dem die Engel, wenn sie für Gott musizierten, Bach, unter sich aber Mozart spielen, auf Kafkas Prosa: Würden die Engel im Himmel Witze machen, so müßte es in der Sprache Franz Kafkas geschehen. Diese Sprache ist Feuer, das aber keinen Ruß hinterläßt. Sie hat die Erhabenheit des unendlichen Raumes, und dennoch zuckt sie alle Zuckungen der Kreatur. (Kafka 1979: 154)

Dass derartige Panegyrik der Einschätzung Kafkas vom Musikalischen widerspricht, mag eine Äußerung vom 26. August 1920 gegenüber Milena dokumentieren. „Niemand singt so rein, als die welche in der tiefsten Hölle sind; was wir für den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesang.“ (Kafka 2013: 318)

9 Der älteste mir bekannte Text von einem Komponisten über Kafka, Max Brod mal beiseitegelassen, stammt von Ernst Krenek vom 03.10.1937 in der Wiener Zeitung (Kafka 1983: 427-433).

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2. Kafka als unmusikalischer Autor? Offen lässt Kafka, was er unter Musikalität versteht.10 Zwar gibt es biographische Hinweise auf den musikpraktischen Bereich wie den ‚verzweifelnden‘ Musiklehrer, bei dem Kafka im Klavier- und Geigenunterricht offenbar nicht über die allerersten Anfänge hinauskam, wie er Felice Bauer am 17./18. November 1912 berichtete: Wenn ich nur die Melodie des Liedes behalten könnte, aber ich habe gar kein musikalisches Gedächtnis, mein Violinlehrer hat mich aus Verzweiflung in der Musikstunde lieber über Stöcke springen lassen, die er selbst gehalten hat und die musikalischen Fortschritte bestanden darin, daß er von Stunde zu Stunde die Stöcke höher hielt. Und darum ist meine Melodie zu dem Lied sehr einförmig und eigentlich nur ein Seufzer. (Kafka 1999a: 243)

Und Milena gegenüber wurde am 25. Juni 1920 gar von einer fehlenden familiären Tradition zur Musik berichtet: So zweifellos ist es nicht, daß Unmusikalität ein Unglück ist; zunächst ist es für mich keines, sondern ein Erbstück der Vorfahren (Kafka 2013: 197).

Greift Kafka somit auf Kategorien der Vererbbarkeit von Musikalität (‚Erbstück‘) bzw. auf Charaktereigenschaften (das fehlende musikalische Gedächtnis) zurück, so scheint – neben der Unfähigkeit zu musikästhetischem Urteil und nicht vorhandener musikalischer Praxis (Kleinwort 2013: 63f.) – im Zen­ trum das Selbstkonzept mangelnder kognitiver Kompetenzen (als Lernenbzw. Verstehen-Können von Musik) und vor allem mangelnder Erlebnisfähigkeit zu stehen, also die nicht vorhandene Fähigkeit, Musik angemessen empfinden, Freude an Musik entwickeln zu können. Kafka beobachtet bei sich Defizite hinsichtlich Aufmerksamkeit für Musik, Interesse für den Zusammenklang, rasches Auffassen und gutes Behalten von Melodien. Er steht damit im Einklang mit zeitgenössischen Konzepten von Musikalität, in denen Merkmale des Musikalischen aus den Erscheinungsformen der Musik selbst und den Fähigkeiten, die zur Produktion und Rezeption erforderlich sind, abgeleitet werden (Billroth 1895; Kries 1926). Nach Billroth, der an die musikästhetischen Anschauungen Eduard Hanslicks (Vom Musikalisch-Schönen, 1854) anknüpft, bilden die „akustische Wahrnehmungsfähigkeit für Tonhöhen, Rhythmen, Klangfarben“ (Gembris 2009: 76) sowie die Fähigkeit, Melodien zu behalten und zu reproduzieren, die zentrale Grundlage von Musikalität. Ferner werden Bedürfnisse nach Musik, die Fähigkeit Musik genießen 10 Zur Ungenauigkeit und Unbestimmtheit des Musikalitätsbegriffs s. Gembris (2009: 22).

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zu können, und die Bereitschaft, seine musikalischen Kenntnisse zu erweitern („ästhetische Arbeit“) in Verbindung mit Musikverstehen und damit Musikalität gestellt. Billroth konstatiert, dass es Menschen gebe, denen das rhythmische Gefühl nicht angeboren und auch nicht beizubringen ist. Sie müssen absolut unmusikalisch sein, denn die Fähigkeit die rhythmische Gliederung der Töne zu einer Melodie aufzufassen, ist die erste Bedingung zum Erfassen von Musik. (Billroth 1895: 26ff., Herv. i. O.; zit. n. Gembris 2009: 73) 11

Kafkas Reflexionen über Musik stehen offenbar im Kontext des klassisch-romantischen Repertoires der europäischen Kunstmusik und ihrer unhinterfragten Kanonisierung (Kleinen 2003: 21). Eine Kategorie wie Begabung, wonach ein musikalischer Mensch in der Lage sein müsse, „die musikalische Kunst richtig aufzufassen, zu behalten und am musikalisch strukturellen Geschehen Vergnügungen zu empfinden“ (Kleinen 2003: 25), wird a priori vorausgesetzt. „Wer das nicht vermag,“ so auch die Selbsteinschätzung Kafkas, „der ist unmusikalisch“ (Billroth 1895: 232)12

3. Fragwürdige Künstler Kafkas Künstlern, häufig „paranoide Einzelgänger“ (Alt 2005: 653) am Rande der Gesellschaft,13 bleibt in der Regel die Erkenntnis versperrt, dass Freiheit lediglich eine Fiktion der Moderne sei, weshalb man im Blick auf Erzählungen wie Erstes Leid oder Ein Hungerkünstler durchaus eine „tödliche Konsequenz“ 11 Zu Billroth und der Diskussion um die Frage der Musikalität s. Gembris (2009: 31-34). Musikalität, das zeigen die frühen Debatten, gilt nicht als Entität, sondern als Konstrukt, wobei die Diskussion um Musikalität und Begabung deutlich früher einsetzt, s. d’Aubigny von Engelbrunner (1803); Michaelis (1805). 12  Zur ambivalenten Bewertung Kafkas, was seine Unmusikalität angeht, s. Neumann (2013: 543): Mal erscheint diese als Indiz „der Unfähigkeit zur Kommunikation“, mal als „Fähigkeit zu ursprünglicher akultureller Erfahrung von Stimmen und Tönen“, mal als „Bindung des Musik-Motivs an die Sexualität“. Auf den hier nicht weiter auszuführenden Zusammenhang von Musik und technischen Medien, die „umgekehrt proportional“ angeordnet zu sein scheinen, da „Musik […] ‚Natur‘ im Stadium der ‚Bedeutung‘ repräsentiert“, während das technische Medium „ohne ‚Bedeutungs‘-Charakter als ‚Kultur‘ im Zustand reiner Funktionalität“ erscheint, weist Neumann (2013: 543). 13  Zum Komplex der Außenseiterrolle bei Kafka, in dessen „Erzählungen und Romanen […] kein einziger ernstzunehmender Künstler“ auftritt, s. Neumann (2013: 126).

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konstatieren kann, „die ihrem Weltflucht-Charakter“ zugrunde liege (Alt 2005: 644) und die auch einem Autor wie Kafka, der seine Kunst, das Schreiben, wie Josephine jenseits der sozialen Gemeinschaft anzusiedeln suchte, nicht fremd sein dürfte. Insofern darf man der Musik in Kafkas Werk zwar eine zentrale, gleichwohl nicht objektivierende Funktion zuordnen, wie sie beispielsweise Schopenhauer postuliert. Nach Schopenhauer ist Musik diejenige Kunst, die eine so ‚unmittelbare‘ Objektivation und Abbild des ganzen ‚Willens‘, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern ‚Abbild des Willens selbst‘, dessen Objektivität auch die Ideen sind […]. (Schopenhauer 1977: 324; Herv. i. O.)14

Musik ist daher bei Kafka als der nicht mehr der repräsentationslogischen Vorstellung verpflichtete, „sinnlichste, unmittelbarste Ausdruck“ (Alt 2005: 663) für die Wirksamkeit von Kunst im Sinne eines treibenden Prinzips von Welt zu verstehen. Nach Adorno resultiert daraus bei Kafka eine Entsprachlichung zugunsten des Musikalischen, die aber auf Kosten des Theatralischen gehe, während Walter Benjamin im Gegenteil Kafkas Welt explizit als eine des Theaters und damit des Performativen erfasste: „Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne.“ (Benjamin 1981: 22) Bevor nun dieser Aspekt des Performativen näher betrachtet wird, sei im Hinblick auf die Frage nach der Beziehung Kafka und Musik auf einen Text verwiesen, den Kafka in Korrespondenz und Tagebuch immer wieder aufruft: Der Arme Spielmann von Franz Grillparzer (Neumann 2013: 462f.). Grillparzer, der ebenfalls darum gerungen habe, literarische Tätigkeit und Ehe zu vereinbaren (Kafka 1999b: 275 – 02.09.1913), galt für Kafka als „Blutsverwandter“. Eine erste Reflexion vermerkt das Tagebuch am 9. August 1912, in dem Grillparzer durch Gestaltung von Männlichkeit, Wahrheit und Darstellung der eigenen Existenz als Vorbild dargestellt wird: Mein aus Eingebung fließendes Vorlesen des ‚Armen Spielmann‘. – Die Erkenntnis des Männlichen an Grillparzer in dieser Geschichte. Wie er alles wagen kann und nichts wagt, weil schon nur Wahres in ihm ist, das sich selbst bei widersprechendem Augenblickseindruck zur entscheidenden Zeit als Wahres rechtfertigen wird. (Kafka 1990: 427f. – 09.08.1912)

14 Zu Kafkas eher distanzierter Schopenhauer-Lektüre s. den Brief an Minze Eisner, Ende März 1921 (Kafka 1980: 310).

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Es folgen Verweise in den Briefen an Felice,15 an Grete Bloch16 und schließlich an Milena Jesenská, der er den Text zunächst nicht schicken will, „weil er eine so große Bedeutung“ für ihn habe. Kafka schickt ihn dann aber doch, „weil er so wienerisch, so unmusikalisch, so zum Weinen“ sei (Kafka 2013: 203 – 04./05.07.1920). Am 13. Juli 1920 kommt Kafka erneut auf den Armen Spielmann zurück, eine Geschichte mit einer „Menge Unrichtigkeiten, Lächerlichkeiten, Dilettantisches, zum Sterben Geziertes […] und besonders diese Art Musikübung ist doch eine kläglich lächerliche Erfindung“ (Kafka 2013: 223), eine Geschichte, die auf „unmusikalische Weise vormusiciert“ sei (Kafka 2013: 224). Der Künstler mit seinem Anspruch als Erzieher der Menschheit (Novalis) wird bei Grillparzer zur grotesken Gestalt, deren stümperhafte künstlerische Präsentation das Publikum nicht mehr erreichen kann. Im Werk zeigen sich dabei weniger Ähnlichkeiten mit Kafkas Josephine, die immerhin ungeachtet von Zweifeln und Kritik doch auch Anerkennung der Zuhörer findet,17 als vielmehr Schilderungen von unnachahmlicher Ironie wie in der Beschreibung eines Kampfes. In der Geschichte vom Beter führt Kafka einen Erzähler ein, der sich – als „erfolgreichen Pianisten“ (Alt 2005: 151) imaginierend – in den Kopf gesetzt hat, seine ‚Kunst‘ öffentlich zu präsentieren, obgleich alle in der Gesellschaft zu wissen scheinen, dass ihm die Fähigkeit dazu völlig abgehe. „Alle schienen zu wissen, daß ich es nicht konnte, lachten aber freundlich wegen der angenehmen Unterbrechung ihrer Gespräche.“ (Kafka 1993: 99) Was sich hier bereits andeutet ist ein fundamentaler Konflikt zwischen Künstler und Publikum, die von völlig unterschiedlichen Interessen geleitet sind. Geht es dem Publikum wie bei Grillparzer um Unterhaltung, so dem ‚Künstler‘, den Klavierspieler von seinem Platz drängend, um Selbstverwirklichung: „‚Haben Sie die Güte, geehrter Herr und lassen Sie mich spielen. Ich bin nämlich im Begriff glücklich zu sein. Es handelt sich um einen Triumph‘.“ (Kafka 1993: 99) Ungeachtet allgemeiner Ablehnung und mithilfe des Zimmermädchens – „Bitte, gnädige Frau, lassen Sie ihn doch spielen. Er will vielleicht irgendwie

15 S. den Brief vom 27.10.1912, in dem Bezug auf den Armen Spielmann genommen wird, den er vier Tage zuvor Ottla vorgelesen habe (Kafka 1999a: 191ff.). 16 Am 04.02.1914 fragt Kafka Grete Bloch, ob sie den Armen Spielmann kenne (Kafka 1999b: 332), erneute Nachfrage am 13.03.1914 (Kafka 1999b: 353). 17 Auf eine wichtige Parallele des Armen Spielmanns mit Max Brods Studie über Adolf Schreiber und dessen Missachtung des Publikums, dessen Kunstbegeisterung in Verbindung mit Ungeschicklichkeit und Schlichtheit, die Niederschlag in Kafkas Schreibstil finden, weist Kleinwort (2013: 65f.).

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zur Unterhaltung beitragen. Das ist zu loben. Bitte, gnädige Frau“ (Kafka 1993: 99) – setzt sich der Erzähler, seine Emphase kaum verbergend, durch: Ich zitterte und steckte nur, um es zu verbergen, meine Hände in die Hosentaschen. Auch konnte ich nicht mehr deutlich reden, denn mein ganzes Gesicht wollte weinen. […] Der Klavierspieler stand auf und stieg zartfühlend über die Bank, denn ich versperrte ihm den Weg. (Kafka 1993: 99f.)

Erst auf sein Verlangen, im Dunkeln zu spielen, d. h. sich in völliger Kontemplation der künstlerischen Darbietung hinzugegeben, schreiten die Gäste ein und beenden unter allgemeiner Zustimmung den performativen Akt: Da faßten zwei Herren die Bank und trugen mich sehr weit vom Piano weg zum Speisetisch hin, ein Lied pfeifend und mich ein wenig schaukelnd. […] Sehn sie, gnädige Frau, er hat ganz hübsch gespielt. Ich wußte es. Und Sie haben sich so gefürchtet. (Kafka 1993: 100)

Der Erzähler wird derweil gut verpflegt, aber: „Da mich alle so gut behandelten, wunderte ich mich freilich darüber, daß sie mich einmüthig zurückhielten, als ich wieder zum Piano wollte.“ (Kafka 1993: 101) Stattdessen wird er schließlich hinauskomplimentiert.

4. Künstler und Publikum Kafka, der zwar keine kunsttheoretischen Abhandlungen verfasste, aber Bilder entwarf und Geschichten erzählte (Engel 2010: 496), ironisiert die Positionierungen und Rollenzuschreibungen des Künstlers wie in Erstes Leid, im Hungerkünstler, in der Beschreibung eines Kampfes und persifliert zeitgenössische ästhetische Theorien sowie ‚radikale‘ Infragestellungen des Kunstsystems, wie sie wirkungsmächtig von Marcel Duchamp mit seinen Readymades inszeniert wurde. Kafka thematisiert aber immer auch die Wirkung von Kunst auf das i. d. R. unverständige Publikum. Als Beispiele aus dem Werk können hier neben den am Geigenspiel von Gregor Samsas Schwester eigentlich desinteressierten, unmusikalischen Zimmerherren (Kafka 1994: 185) die gleichermaßen unmusikalischen Mäuse dienen, die aber zumindest Josephines Gesang zu lauschen sich bemühen. Kunst entsteht, unabhängig von kategorialen Zuschreibungen des Auratischen, Authentischen, Autonomen oder Substantiellen, erst dann, wenn sie als solche wahrgenommen, wenn sie als Kunstwerk anerkannt wird. Ohne Erzählungen wie die Forschungen eines Hundes oder Josephine, die Sän-

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gerin auf die Dimension des Performativen reduzieren zu wollen,18 lässt sich doch auch wie schon in der Geschichte vom Beter eine ironische Betrachtung der Beziehung Künstler und Publikum konstatieren, sei es durch eine von den Akteuren völlig abgelöste Kunst wie in den Forschungen eines Hundes,19 sei es in der Gestalt des erzählenden unmusikalischen Nichtkünstlers in der Josephine, sei es in der sich als Diva produzierenden singenden Maus, die in ihrer „bewusst entworfenen Inszenierung des eigenen fiktionalen Status“ (Bronfen 2010: 91) wiederum nur Teil einer Konstruktion ist: Bei Josephine fallen wie z. B. im Hungerkünstler die Authentizität der Schauspielenden und die Authentizität der gespielten Figur zusammen. Kafka schildert die Figur der Josephine als eine „ironische und selbstironische Auseinandersetzung mit der Autonomieästhetik und ihren zentralen Theoremen und Topoi.“ (Schmitz-Emans 2010: 189) Dabei wendet sich Josephine nicht an ein modernes diffuses Publikum, welches nach dem Modell der vierten Wand konzipiert ist, sondern an ihr Volk (Auerochs 2010: 327), dennoch werden in den Erzählungen Gemeinschaftserfahrung (Engel 2010: 496) genauso aufgerufen wie die in der Moderne zunehmend fragwürdige Distinktion von Kunst gegenüber dem Alltag (Engel 2010: 495), deren lebensweltliche Bezüge ja gerade durch die ästhetische Praxis der Moderne unklar und ambivalent werden (Alt 2005: 664). Zwar erfolgt im Josephine-Text eine Reflexion über Künstlerschaft in Opposition zur Gesellschaft, man findet aber auch Reflexionen über die Unterscheidung von Musik und Alltagsgeräuschen, über die gesellschaftliche Funktion und Legitimation von Kunst. Im ersten Teil des Josephine-Textes geht es um das Rätsel des Gesangs, im zweiten Teil um die Wirkung des Gesangs (gesellschaftliche Funktion), im dritten um die paradoxe Beglaubigung der Kunst aus der Negation (Lubkoll 2006: 181f.) Bei Kafka findet man dabei sowohl eine Verbalisierung akustischer Phänomene als auch eine Schilderung von Zuhörerreaktionen,20 die – gleichwohl ironisch gebrochen – Rückschlüsse auf die individuelle Disposition des Hörers und auf die spezifische Besonderheit 18 Auf das Dilemma in den Forschungen eines Hundes weist Alt (2005: 658): „Die Musik der Tiere ist die Musik der Menschen: ein Sinnbild für die Illusion der Freiheit, die aus Fehlurteilen, Blindheit und Hybris entsteht.“ 19 „Ich glaubte nämlich zu erkennen, daß der Hund schon sang, ohne es noch zu wissen, ja mehr noch, daß die Melodie, von ihm getrennt, nach eigenem Gesetz durch die Lüfte schwebte und über ihn hinweg, als gehöre er nicht dazu, nach mir, nur nach mir zielte. […] der Melodie, die nun bald der Hund als die seine zu übernehmen schien, konnte ich nicht widerstehn.“ (Kafka 1992: 479) 20 Guarda weist auf die „bezwingend dynamische Stille“ des eigentlich „schrecklich stummen lärmenden“ (Brief an Felix Weltsch vom 15.11.1917, Kafka 2005: 365f. und Oskar Baum vom 20.12.1917, Kafka 2005: 388f.) Mäusevolkes im Kontrast zum Gesang

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des Werkes erlauben (Valk 2008: 21), die aber vor allem einen seit der Aufklärung einsetzenden Disziplinierungsprozess widerrufen, der das Publikum als schweigende Masse, als vierte Wand zunehmend in die Passivität drängte und diskursiv marginalisierte. Dabei ging es weniger um einen der Aufklärung bzw. dem Idealismus verpflichteten Transfer bildungsbürgerlicher und kunstästhetischer Normen auf den theater- und konzertpraktischen Kontext, als vielmehr um einen von Autoren wie Gottsched und Lessing, von Intendanten, Orchester- und Theaterleitern, Regisseuren, Dramaturgen und Komponisten intendierten Professionalisierungs-, Erziehungs-, Konditionierungs- oder Disziplinierungsprozess, der zur Herausbildung eines spezifisch hochkulturellen Publikumshabitus führen sollte. Normativ bestimmt wurde, was in Theater und Konzert als angemessen, tolerabel bzw. nicht oder nicht mehr tolerabel galt. Das Publikum – wohlerzogen, dabei passiv und schweigsam bzw. andächtig schauend – wurde zum bloßen Objekt, dem eine Mitwirkung jenseits des bloß kontemplativen Zuschauens bzw. Zuhörens verwehrt bleiben sollte.21 Nun findet man bei Kafka durchaus Aufzeichnungen, die einen Erfolg dieses Disziplinierungsprozesses mit zunehmend stabilen normativen Werten bezüglich ‚richtiger‘ sozialer Interaktions- und Verhaltensformen während der Aufführung belegen können, zumal der Kunstmusik eine kunstreligiöse Erwartung entgegengebracht wird: Solche Ehrerbietung wie vor der Musik gibt es im Publikum vor der Literatur nicht. Die singenden Mädchen. Vielen war der Mund nur von der Melodie offengehalten. Einer mit schwerfälligem Körper flog Hals und Kopf beim Gesang. – Drei Geistliche in einer Loge. Der Mittlere mit rotem Käppchen hört mit Ruhe und Würde zu, unberührt und schwer, aber nicht steif; der rechts ist zusammengesunken und mit spitzigem, starren faltigem Gesicht; der links dick hat sein Gesicht schief auf die halb geöffnete Faust gesetzt. – Gespielt. Tragische Ouvertüre. (Kafka 1990: 291f.)

Allerdings vermerkt der Tagebuchschreiber schon im nächsten Satz nicht ausschließlich musikästhetische Aufmerksamkeit:

respektive Pfeifen Josefines (Guarda 2013: 243), das Auditorium bleibt „mäuschenstill“ (Guarda 2013: 247). 21 Der Erzähler vermerkt entsprechend: „Da Pfeifen zu unsern gedankenlosen Gewohnheiten gehört, könnte man meinen, daß auch in Josephinens Auditorium gepfiffen wird; es wird uns wohl bei ihrer Kunst und wenn uns wohl ist, pfeifen wir; aber ihr Auditorium pfeift nicht, es ist mäuschenstill“ (Kafka 1994: 354.). S. zur historischen Publikumsforschung zuletzt Höhne (2016); Korte/Jakob (2012); Korte/Jakob/Dewenter (2015); Müller (2014).

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Weitere Einträge, die wiederum mit den hier vorgestellten Erzählungen korrespondieren, belegen dann eher das Gegenteil der Erwartungen, die an einen Zuhörer in einem Konzert gemeinhin gestellt werden; man ist gar versucht, von einem Widerruf Kafkas zu sprechen, was den o. e. Disziplinierungsprozess betrifft: Madame, la mort von Rachilde. Traum eines Frühlingsmorgens. Die lustige Dicke in der Loge. Die wilde mit der rohen Nase, dem aschebestaubten Gesicht, den Schultern, die sich aus dem übrigens nicht dekolltierten Kleide drängten, dem hin und her gezerrten Rücken, der einfachen weißgetupften blauen Bluse, dem Fechterhandschuh, der immer zu sehen war, da sie die Rechte meistens auf dem rechten Schenkel der neben ihr sitzenden lustigen Mutter ganz oder auf den Fingerspitzen ruhen ließ. Die über den Ohren gedrehten Zöpfe, nicht das reinste hellblaue Band auf dem Hinterkopf, das Haar vorn im dünnen aber dichten Büschel geht rund um die Stirn und vorn weit über sie hinaus. Ihr warmer, faltiger, leichter, nachlässig vor lauter Schmiegsamkeit hängender Mantel, als sie bei der Kassa unterhandelte. (Kafka 1990: 421f. – 22.05.1912)22

Es dürfte nicht weiter schwerfallen, einen Bezug zwischen dem selbstreflektierenden Zuhörer Kafka23 und dem wohl berühmtesten unkonzentrierten Konzerthörer der Literatur, Schnitzlers Leutnant Gustl, zu ziehen: 22 Dies gilt auch für den folgenden Eintrag: „Kabaret Lucerna. Einige junge Leute singen jeder ein Lied. Ist man frisch und hört zu, so wird man durch einen derartigen Vortrag eher an die Folgerungen erinnert, welche der Text auf unser Leben erlaubt, als dies durch den Vortrag geübter Sänger geschehen kann. Denn die Kraft der Verse wird durch den Sänger keinesfalls vergrößert, sie behalten ihre Selbständigkeit und tyrannisieren uns mit dem Sänger, der nicht einmal Lackstiefel hat, dessen Hand vom Knie einmal nicht loswill und wenn sie muß, noch ihren Widerwillen zeigt, der sich möglichst rasch auf die Bank hinwirft um die Menge kleiner ungeschickter Bewegungen, die er dafür aufbieten muß, möglichst wenig sehen zu lassen.“ (Kafka 1990: 407 – 12.03.1912) 23 S. a. eine weitere einschlägige Stelle im Tagebuch: „Frau Klug hatte Benefice und sang deshalb einige neue Lieder und machte ein paar neue Witze. Aber nur bei ihrem Antrittslied war ich ganz unter ihrem Eindruck, dann bin ich zu jedem Teilchen ihres Anblicks in der stärksten Beziehung, zu den beim Gesang ausgestreckten Armen und den schnippenden Fingern, zu den fest gedrehten Schläfenlocken, zu dem flach und unschuldig unter die Weste gehenden dünnen Hemd, zu der Unterlippe die sich einmal beim Genießen eines Witzes aufstülpt […]. Da sie aber gestern neue Lieder sang, schädigte sie ihre Hauptwirkung auf mich, die darin bestand, daß sich hier ein Mensch zur Schau stellt, der ein paar Witze und Lieder herausgefunden hat, die sein Temperament und alle seine Kräfte auf das vollkommenste vorführen. Da diese Vorführung gelingt, ist alles gelungen und macht es uns Freude diesen Menschen öfters auf uns wirken zu lassen, so werden wir uns natürlich

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Wie lange wird das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen … schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren … Fast viertel auf zehn? … Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt … Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen … Ja, richtig: Oratorium? Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche. Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigsten einen Ecksitz hätt’! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End’! Vielleicht ist es ja sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. (Schnitzler 1977: 207)

Auf der anderen Seite verraten auch die Künstlerfiguren und ihre Kunst alles andere als ästhetische Inspiration oder auch nur moralische Dignität. Es sind Scharlatane und Komödianten, „dubiose und betrügerische Figuren“ (Neumann 2013: 418), charakterisiert durch Askese und Isolation am Rand der Gesellschaft, durch Exzentrik und Ortlosigkeit, ein höchst prekäres Gegenmodell zum Leben gewöhnlicher Menschen. Kafkas einsame Künstlergestalten sind Opfer der eigenen Obsession wie der Artist in Erstes Leid oder der Hungerkünstler oder Josephine als Repräsentantin modernen Künstlertums, deren schöpferische Eigentümlichkeit in der Massengesellschaft zur Disposition steht (Lubkoll 2006: 184).24 Josephine inszeniert sich wie gezeigt als Diva und stellt als pfeifende Maus die Autonomie von Kunst infrage, entfaltet aber – und hier zeigt sich die ironische Brechung – gemeinschaftsbildende Wirkungen. Kunst fungiert hier als ein entautonomisierendes und desorientierendes Verfahren, das dem Präsentierten durch Kunst seine Eindeutigkeit nimmt, das zugleich aber konkretisiert wird durch die Suggestion, es könne sich um […] durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Lieder nicht beirren lassen, wir werden es vielmehr als Hilfsmittel der Sammlung ebenso z. B. wie die Verdunklung des Saales gutheißen und von der Frau aus gesehn jene Unerschrockenheit und Selbstbewußtheit darin erkennen, die wir gerade suchen. Als daher die neuen Lieder kamen, die an Frau Klug nichts neues zeigen konnten, da die früheren ihre Schuldigkeit so vollkommen getan hatten, und als daher diese Lieder Anspruch darauf machten, als Lieder betrachtet zu werden, wozu gar kein Grund war und als sie auf diese Weise von Frau Klug ablenkten, aber gleichzeitig zeigten, daß auch sie selbst in diesen Liedern sich nicht wohlfühlt und zum teil verfehlte zum Teil übertriebene Gesichter und Bewegungen machte, mußte man verdrießlich werden und blieb nur dadurch getröstet, daß die Erinnerungen an ihre vollkommene Darstellung von früher infolge ihrer unerschütterlichen Wahrhaftigkeit zu fest war, um sich durch den gegenwärtigen Anblick stören zu lassen.“ (06.01.1912, Kafka 1990: 349ff.) Zu dieser Aufführung s. Prager Tagblatt, Morgenausgabe 4, S. 9. 24  S. bspw. den Verweis auf die allerdings affirmative Wirkung von Kunst: „Aus schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger als das bringt er zuwege, und wenn er das Unglück nicht vertreibt, so gibt er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen.“ (Kafka 1994: 360)

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(Selbst-)Betrug handeln. Letztlich ist Jospehine eine Maus ohne Eigenschaften, deren Kunst nicht in der Einzigartigkeit des Gesangs besteht, sondern als performativer Akt im Erlebnis der Masse. Andererseits, und hier zeigt sich die subversive Ambivalenz der Texte Kafkas, erfolgt in der Josephine auch eine Auseinandersetzung mit der Kunst und dem Kunstbetrieb, dessen Akteure längst nicht mehr in der Lage sind, zwischen Kunst und Nichtkunst zu unterscheiden: „Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen?“ (Kafka 1994: 351) Was bleibt, ist das – für den Erzähler unerklärliche – „Rätsel ihrer großen Wirkung“ (Kafka 1994: 352). Mit dieser Ambivalenz zwischen dem negativen Bild von künstlerischem Außenseitertum und einer emphatisch behaupteten Kunstauffassung grenzt sich Kafka, der eine Scham vor öffentlichem Sich-Preisgeben besaß, von einem exhibitionistischen Moment des modernen Künstlertums ab (Stromšík 1997: 142), welches die Kunst gegenüber der Lebenswelt zu entgrenzen suchte. Gerade Erzählungen wie die Forschungen eines Hundes oder Josephine, die Sängerin dokumentieren die moderne Dialektik von Kunst und Antikunst, die das Außergewöhnliche als das Übliche enttarnt (Auerochs 2010: 319). Doch ungeachtet aller ironischen und selbstironischen Auseinandersetzung mit der Autonomieästhetik und ihren zentralen Topoi und Themen: Das Postulat rein künstlerischer Maßstäbe wird nicht infrage gestellt. Eine Entwertung der Kunst (wie von der Avantgarde) bedeutete für Kafka eine Entwertung des Lebens (Stromšík 1997: 151), weshalb Kafkas Erzählungen die Kunstkonzepte seiner Zeit infrage stellen: die Illusion von der ewigen, autonomen Kunst mit ihrem Absolutheitsanspruch, das aktivistische Erlösungspathos der Expressionisten, die dadaistische Aufhebung der Kunst durch Zufall und Spiel (Stromšík 1997: 152). Kafka nahm ca. zwei Monate vor seinem Tod Werfels Verdi-Roman, der 1924 erschien, noch zur Kenntnis (Briefe an Max Brod vom 20. und 28.04.1924).25 In diesem Roman setzte sich Werfel, dessen „musikalischen Sinn“ Kafka schätzte,26 sowohl mit der dualistischen romantischen Musikästhetik als auch mit dem Ästhetizismus der Décadance, die das Erbe der 25 „Es ist ja nicht so, daß ich wirklich lese (doch, Werfels Roman lese ich unendlich langsam, aber regelmäßig), dazu bin ich zu müde, Geschlossensein ist der natürliche Zustand meiner Augen, aber mit Büchern und Heften spielen macht mich glücklich.“ (Briefe 482) 26 Im Tagebuch verzeichnet Kafka: „Ich hasse W., nicht weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders. Außerdem hat er früh und leicht mit musikalischem Sinn sehr Gutes geschrieben, das glücklichste Leben hat er hinter sich und vor sich“ (Kafka 1990: 299 – 18.12.1911). Und ein paar Tage später heißt es: „Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von

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Romantik fortschreibe und radikalisiere, auseinander (Valk 2008: 41). In gewisser Weise zeigt sich hier die Tragik des frühen Todes Kafkas, der möglicherweise durch Werfel musikästhetisch weiter sensibilisiert worden wäre, was eine späte Erzählung wie die Josephine schon andeutet.

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Steffen Höhne

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Kafka und Mahler Der vorliegende Text bietet eine Gegenüberstellung von Gustav Mahler und Franz Kafka aus einer Perspektive der zwiespältigen Vertrautheit mit dem Werk beider, nicht aber eine Recherche zu der Frage, ob Kafka Musik von Mahler kannte. Einer solchen Gegenüberstellung also gelten die nachfolgenden Erwägungen.

1. Die Darstellung des Sinnlosen im Normalen mit Mitteln der Sinnstiftung Mahler und Kafka gemeinsam ist die Darstellung gesellschaftlicher Zwangsmechanismen, die sich verselbstständigen. Mahler verwendet hierzu Gebrauchsmusiken, deren Normalität und deren syntaktisches Wie-von-selbst-Funktionieren dies Gesellschaftliche darstellen. Er verwandelt sie so, dass ihr Leerlauf offenbar wird, beispielsweise indem er sie ins Getriebehafte oder als Trott zuspitzt. Kafka stellt Behörden bzw. deren Verwaltungsvorgänge dar, welche ein undurchsichtiges, gleichwohl planvoll erscheinendes Funktionieren suggerieren. Er schaltet sie scheinbar hierarchisch hintereinander, so dass man glaubt, mit jeder nächsten und höheren Stufe irgendwann ans Ziel zu kommen. Tatsächlich aber offenbaren alle Verwaltungsvorgänge immer wieder nur denselben Leerlauf. Kafka, geboren 1883, ist 23 Jahre jünger als Mahler. Das mag erklären, warum bei ihm die Auseinandersetzung mit der Sinnlosigkeit gesellschaftlicher Zwangsmechanismen schon ins Sachlich-Protokollarische übergegangen ist, während sie bei Mahler noch spätromantisch überspitzt erscheint. Bei Mahler gibt es das vergebliche Aufbegehren gegen das Sinnlose, bei Kafka die Hinnahme des Sinnlosen. Wo Mahler schreit, da bleibt Kafka stumm. Aber ihr Gegenüber ist jeweils vergleichbar, nämlich eine Gesellschaft, die sinnlos handelt mit dem Gebaren sinnvollen Handelns.

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2. Gegenüberstellung: Mahler, 1. Nachtmusik aus der 7. Symphonie in e-moll und Kafka, Der Prozeß In dieser Nachtmusik Mahlers gibt es zu Beginn und dann später noch mehrfach eine Bewegung, die wirkt wie der Ausdruck eines Festgehalten-Werdens in einem unentrinnbaren Getriebe, welches rasch eskalierend wie zwangsläufig in eine Katastrophe führt; ich nenne sie die ‚Getriebemusik‘. Sie stellt zugleich die Haupttonart dieses Satzes immer wieder her, und zwar so, dass dies wie ein Festgehalten-Werden in einer unentrinnbaren Situation erscheint. Ebenso erscheint die Mechanik dieses Getriebes unentrinnbar mit den rhythmischen und melodischen Repetitionsfiguren sowie mit der beständigen Erneuerung des Quint-Tons in der Melodik, der sie nie zu einem Grundton als Zielton finden lässt. Bei Kafka gibt es den Behördenleerlauf. Er stellt sich mit jeder neuen Situation bzw. neuen institutionellen Ebene immer wieder her, sodass das Neue sich letztlich als das immer wieder Gleiche erweist. Sein Merkmal sind Geschäftigkeit und Betriebsamkeit, die es dem Fragenden verwehren, sich nach ihrem Sinn zu erkundigen. Anders aber als bei Mahlers Getriebemusik geschieht diese Betriebsamkeit auffallend antidramatisch; mehr noch: Sie wirkt gegenüber der Ungeduld des Lesers, der nach ihrem Sinn fragt, sogar gezielt retardierend. Doch um so schockierender – jedenfalls beim erstmaligen Lesen – ist ihr jäh eintretendes katastrophales Endergebnis am Ende des Romans. Bei Mahler gibt es die Normalitätsmusik. Sie gibt dem Sinnlosen den Anstrich des Normalen und Harmlosen, indem sie an bekannte Gebrauchsmusikarten anknüpft. Sie übernehmen gleichwohl in kaschierter Form die rhythmischen und melodischen Repetitionsfiguren der Getriebemusik. Sie sind deren nur scheinbar harmlose Kehrseite. Überdies ist ihre Harmonik auch dort, wo sie in Dur ist, durchtränkt mit Moll-Tönen, die dieses Normale sozusagen unter ständigen und hintergründigen Vorbehalt stellen. Bei Kafka entwickelt sich das Geschehen permanent in normalen Situationen. Der Protagonist im Prozeß arbeitet, obwohl er von Beginn an als verhaftet gilt, so wie vorher weiter, sieht seine Freunde und wird von allen scheinbar wie bisher behandelt. Dennoch sind alle, auch als Unbeteiligte, an einem Zwangsmechanismus beteiligt, der schließlich zum Tod des Protagonisten führt. Bei Mahler gibt es merkwürdige Übergänge. Zwischen den verschiedenen Musikarten, die zugleich den Satz insgesamt unterteilen, gibt es diese Übergänge, die gleichwohl immer wieder die Frage aufkommen lassen, was

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sie denn mit dem Vorherigen und mit dem Folgenden zu tun haben. Sie bilden die Perspektive, aus der heraus die Musikarten in ihrer Sinnlosigkeit offenkundig werden. Die Übergänge bilden nämlich nicht deren Vermittlung, sondern nur deren Verzerrung. An manchen Stellen scheinen sie in eine neue Situation überzuleiten, führen tatsächlich jedoch wieder ins schon Bekannte. Gerade dadurch aber wird deutlich, dass jeglicher Wechsel hier kein Ziel hat, sondern immer nur wieder Bewegungen, welche sich selbst zum Ziel haben. Diese Fixiertheit äußert sich besonders mit den flirrenden Haltetönen, welche Aufmerksamkeit für einen Situationswechsel erheischen und dann dennoch wieder ins unaufgelöste und unaufhörliche Getriebe münden. Mit einem solchen unaufgelösten Halteton endet schließlich der Satz. Die Übergänge sind fast immer mit tiefen Instrumenten gespielt, deren dunkles Timbre dem scheinbar Selbstverständlichen der Musikarten den Charakter eines nächtlichen Spuks verleiht. Davon hat dieser Satz seinen Titel Nachtmusik; auch sein Ende ist nicht mehr als ein erstarrender Übergang. Ähnlich merkwürdig sind bei Kafka die Situationswechsel. Wichtiges räumliches Merkmal hierfür sind immer wieder Türen bzw. Portale. Sie verheißen den Weg in eine neue Situation, die endlich eine Auflösung des rätselhaften Geschehens bringen könne. Dem entsprechen als wichtige sprachliche Mittel die Fragen des Protagonisten. Sie führen in immer neue, bisher unbekannte Details des Geschehens und suggerieren, dass eine schließlich richtige Zusammensetzung ihres Mosaiks zu einer Antwort führe. Ebenso beleuchten die Kapitel und Kapitelabschnitte die unentrinnbare Verflochtenheit aller Beteiligten im Prozeß von immer neuen Situationen her. Alles zusammen aber, die Türen wie auch die Fragen, die Kapitel und die Kapitelabschnitte, führen immer wieder nur zu Scheinlösungen, deren Wert allein im Fortkommen oder Weiter-verwiesen-Werden besteht. Tatsächlich aber verbraucht sich hiermit die Kraft des Protagonisten, indem sie im Nebensächlichen, welches sich als Hauptsache aufspielt, versandet. Die Perspektive, aus der heraus der Protagonist dies alles erlebt, ist die des Traums. Der Prozeß beginnt mit dem Aufwachen, die letzten beiden Kapitel enden im Dunkeln.

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3. Kritik an der Normalitätskritik der künstlerischen Moderne Über Normalitätskritik in Kunstwerken der Moderne wie denen Mahlers oder Kafkas wird oft gesprochen, aber – wie ich finde – nicht selten insofern affirmativ, als man sich daran berauscht, weil man der Gesellschaft so schön ihre Sinnstiftungen, damit aber auch ihre Alltagstauglichkeit aus der Hand schlagen kann, etwa mit folgenden Passagen aus Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie: Daß die Kunstwerke, nach Kants großartig paradoxer Formel, ‚ohne Zweck‘, nämlich von der empirischen Realität abgesondert seien, keine für Selbsterhaltung und Leben nützliche Absicht verfolgen, hindert daran, den Sinn trotz seiner Affinität zur immanenten Teleologie als Zweck zu nennen. Aber den Kunstwerken wird es immer schwerer, sich als Sinnzusammenhang zusammenzufügen. Darauf antworten sie schließlich mit der Absage an dessen Idee. Je mehr die Emanzipation des Subjekts alle Vorstellungen gegebener und sinnverleihender Ordnung demolierte, desto fragwürdiger wird der Begriff des Sinns als Refugium der verblassenden Theologie. Schon vor Auschwitz war es angesichts der geschichtlichen Erfahrungen affirmative Lüge, irgend dem Dasein positiven Sinn zuzuschreiben. Das hat Konsequenzen bis in die Form der Kunstwerke hinein. (Adorno 1995: 229)

Und speziell zu Kafka schreibt Adorno: Ausdruck ist das klagende Gesicht der Werke. Sie zeigen es dem, der ihren Blick erwidert, selbst dort, wo sie im fröhlichen Ton komponiert sind [...]. Wäre Ausdruck bloße Verdoppelung des subjektiv Gefühlten, so bliebe er nichtig [...]. Eher als solche Gefühle ist [das] Modell [des Künstlers] der Ausdruck von außerkünstlerischen Dingen und Situationen. In ihnen bereits haben historische Prozesse und Funktionen sich sedimentiert und sprechen daraus. Kafka ist darin für den Gestus der Kunst exemplarisch [...]. Nur wird er doppelt rätselhaft, weil das Sedimentierte, der ausgedrückte Sinn, abermals sinnlos ist. (Adorno 1995: 170) Manchen Kunstwerken wohnt die Kraft inne, die gesellschaftliche Schranke zu durchbrechen, die sie erreichten. Während die Schriften Kafkas durch die eklatante empirische Unmöglichkeit des Erzählten das Einverständnis der Romanleser verletzten, wurden sie eben vermöge solcher Verletzung allen verständlich [...]. In der verwalteten Welt ist die adäquate Gestalt, in der Kunstwerke aufgenommen werden, die der Kommunikation des Unkommunizierbaren, die Durchbrechung des verdinglichten Bewußtseins. (Adorno 1995: 291) Gesellschaftlich entscheidet an den Kunstwerken, was an Inhalt aus ihren Formstrukturen spricht. Kafka, in dessen Werk der Monopolkapitalismus nur entfernt erscheint, kodifiziert am Abhub der verwalteten Welt getreuer und mächtiger, was den Menschen unterm totalen gesellschaftlichen Bann widerfährt, als Romane über korrupte Industrietrusts. [...] Der sprachliche Habitus des So-und-nicht-anders-Seins ist das Medium, kraft dessen der gesellschaftliche Bann Erscheinung wird. Ihn zu nennen hütet Kafka sich wohlweislich, als würde sonst der Bann gebrochen, dessen unüberwindliche Allgegenwart den Raum

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des Kafkaschen Werks definiert und der, als sein Apriori, nicht thematisch werden kann. (Adorno 1995: 342f.)

Mit der Kennzeichnung jenes „gesellschaftlichen Banns“ als unthematisiertes „Apriori“ des „Kafkaschen Werks“ öffnet Adorno – ob willentlich oder unwillentlich, muss undiskutiert bleiben – auch einer anderen Deutung die Tür: dass nämlich Kafka aus einer Kunstlogik heraus, die Sinnstiftung und Sinnlosigkeit jäh zueinander ins Verhältnis setzen wollte, sich dasjenige Sujet – nämlich gesellschaftliche Normalität aus der Sicht eines phantasiebegabten Exzentrikers – suchte, an welchem solche Kunstlogik sich am besten durchexerzieren ließ. Mit einer solchen Deutung lässt sich jenes Apriori jedenfalls nicht mehr als ‚schwarzer Peter‘ allein der ‚verwalteten Welt‘ zuschieben. Doch genau dies ist Adornos Intention. Aber wo soll das hinführen? – Jeder macht im Alltäglichen die Erfahrung, dass unhinterfragte Normalität in der Regel Weltvertrauen schaffen kann, hingegen nur in Ausnahmefällen zu absurden Geschehnissen führt. Gerade auch Adorno, welcher dem InfrageStellen von Normalität und Sinn in Kunstwerken – gerade auch in denen Mahlers und Kafkas – so viel abzugewinnen vermochte, war von Kindheit an – abgesehen von seiner Zeit im Exil – und dann wieder in seiner Zeit als Universitätsprofessor von Normalität geradezu umhegt – jedenfalls bis zu den unter anderem auch von seinen Schriften inspirierten Studentenprotesten 1968. Aber auch schon Mahler und Kafka waren jahrelang in beruflichen Strukturen tätig gewesen, welche zumindest auf der Verwaltungsebene jene Normalität gewährleisteten, ohne die auch das künstlerisch Besondere kaum eine Chance hat, und sei es in einer hart erarbeiteten Freizeit, in der beide ihre Werke schufen. Das Aufdecken von Sinnlosem oder gar Unfassbarem im Normalen wurde vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg prominent im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Alltäglichkeit, welcher man vorwarf, dass sie die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie kaschiert bzw. gedeckt habe. Zweifelsohne verwandten die Nationalsozialisten im deutsch-österreichischen Kerngebiet ihrer Machtsphäre erhebliche Mühe darauf, ihrem Treiben den Mantel des Normalen zu verleihen. Doch ebenso gut könnte man darauf hinweisen, dass alles in ihrer Ideologie und ihrem Treiben darauf aus war, einen permanenten Ausnahmezustand aufrechtzuerhalten, welcher gerade auch den herkömmlichen Alltag von Verwaltungsebenen und deren Objektivität und Gewährleistungsfähigkeit, wie sie in Jahrhunderten durch deutsches und österreichisches wie auch durch manch anderes europäisches Staatswesen entstanden waren, durch ständige Sonderverordnungen aushebelte. Dieser permanente Ausnahmezustand knüpfte zudem in seinem

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Veranstaltungsstil besonders an jene Musik des 19. Jahrhunderts an, aus der auch Mahlers Komponieren kam. Der Normalität und ihren Verwaltungsebenen vorzuhalten, dass sie diesem Treiben der Nationalsozialisten gegenüber willfährig war, mag hingehen. Doch weitergehend zu unterstellen, sie habe dieses Treiben der Nationalsozialisten geradezu miterzeugt, ginge zu weit. Überdies ist das Verhältnis der Nationalsozialisten zu Kunstwerken, die sie ablehnten, kulturpsychologisch gesehen komplexer. Peter Weiss hatte nach dem Zweiten Weltkrieg als einer von wenigen den Mut, dies herauszustellen: In Wien war auch Mahler zu Hause gewesen, sein Empfinden und Denken war dort geformt worden, von der Unstetigkeit, dem Wandertrieb, der zerrißnen Tiefe und Geistigkeit seiner Widersacher, zu ihrem Vorsänger war er geworden, viele derer, die jenseits der Grenze standen, hatten ihm gelauscht, vielleicht zu Tränen gerührt, bis sie ihn, lebte er noch, aufs Pflaster gedrückt, ihm den Mund am Stein zerrieben hätten. (Weiss 1986: 320ff.)

Der gesellschaftliche Kontext Mahlers wie auch der seiner Widersacher ist aus dieser kulturpsychologischen Sicht ein und derselbe. Mahlers Musik charakterisiert die Normalität Wiens, in der er – wie Weiss formuliert – „zu Hause“ gewesen war, auch von der „zerrißnen Tiefe und Geistigkeit seiner Widersacher“ her. Die Musik, die Mahler hierbei aufgriff, war zum Teil dieselbe, die auch den jungen Adolf Hitler faszinierte. Was im späteren Veranstaltungsstil der Nationalsozialisten zu Propagandamusik verflachte, erscheint bei Mahlers Musik durch das ständige Schwanken zwischen Dur und Moll sowie durch den klangfarblich gebrochenen Kontrapunkt ihrer Syntax äußerst hintergründig, ist somit letztlich ungeeignet für musikalisch stringent inszenierte gesellschaftliche Apotheosen. Dies wird aber nur einer Rezeption offenbar, die sich auf die Sinnstiftung dieser komplexen musikalischen Syntax einlässt, und zwar auch analytisch. Dasselbe gilt auch für den Umgang mit den Werken Kafkas. Dem steht allerdings Adornos Versuch, zwischen einer angemessenen und einer unangemessenen Kafka-Rezeption zu unterscheiden, entgegen. Ihm zufolge nehme die unangemessene eine „überschauende und kontemplative Haltung“ ein, welche mit „fortgeschrittener Kunst, die zuweilen, wie Kafka, kontemplative Haltung kaum mehr duldet [,…] unvereinbar geworden“ sei (Adorno 1995: 495). Adornos ästhetische Theorie ist nicht nur an dieser Stelle dogmatisch. Sie erheischt, dass das Sujet ‚Sinnlosigkeit‘ als Facette desjenigen, was an moderner Kunst zu „Ungesichertem und Strittigem“ führe (Adorno 1995: 495), nahezu zwangsläufig eine Rezeption bewirken müsse, durch welche „die sichere ästhetische Distanz zum Gegenstand schockhaft wackelt.“ (Adorno 1995: 505) Adorno ignoriert, dass gerade auch kontemplatives Hinnehmen

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eine durchaus geläufige Haltung im Wahrhaben von existentieller Sinnlosigkeit sein kann, eine Sinnlosigkeit, welche zumindest implizit eingeräumt wird in dem unter religiösen Existentialisten geläufigen gleichmütigen Spruch ‚Credo quia absurdum‘. Erst recht aber sieht sich mit Adornos Rezeptionsdogmatik eine analytische Herangehensweise diskreditiert, die sich aus ‚sicherer ästhetischer Distanz‘ für etwas, was in der Syntax eines Werks ihre Aufmerksamkeit erregt, interessiert. Doch für genau eine solche Herangehensweise wäre zu motivieren, zumal angesichts der Tatsache, dass selbst das Schockierende bei Mahler wie bei Kafka sich früher oder später verbraucht, sodass nicht zuletzt andere Herangehensweisen auch darüber entscheiden, ob beider Werke uns überhaupt noch etwas zu sagen haben. Über eine Mahler- und Kafka-Rezeption hingegen, die sich wieder und wieder dem Schockhaften als Bruchstelle zwischen Sinnstiftung und Sinnlosigkeit im Normalen widmet, wäre dasselbe Verdikt zu fällen, welches Adorno wiederkehrend über die Kulturindustrie wie auch über die Form mancher Kunstwerke des 19. Jahrhunderts fällte: nämlich ‚veranstaltet‘ zu sein.

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Achim Küpper

Klang und Klangentzug als Schriftverfahren: Zum Verhältnis von Sehen und Hören in Kafkas Texten. Mit einer optisch-akustischen Lektüre von Kleists Bettelweib von Locarno und einer Statistik der Sinneswahrnehmungen in Kafkas Gesammelten Werken 1. Einleitung: Optik und Akustik als literarische Kategorien Obwohl Literatur buchstäblich ein rein optisches Phänomen darstellt und allein das Auge, nicht das Ohr am Leseprozess beteiligt ist, werden literarische Schriftprodukte dennoch vielfach gerade nicht in optischen, sondern in akustischen Kategorien beschrieben: Wir reden vom spezifischen ‚Ton‘ eines Autors, dem ‚Klang‘ seiner Sprache, seinem besonderen ‚Sound‘. Michel de Certeau (1990: 253) erinnert in seinen Überlegungen zur Schriftund Lesekultur daran, dass das Lesen auf seiner elementarsten Ebene erst seit etwa drei Jahrhunderten zu einer reinen Bewegung des Auges geworden sei und dass das stille oder halblaute Lesen eine moderne Erfahrung bilde, die jahrtausendelang unbekannt gewesen sei. Mit de Certeau ließe sich schließen, dass beim Lesen quasi immer mental das gesprochene Wort nach- oder mithallt, dass im Kopf der Lesenden auch beim stillen Lesen eine literarische Klangwelt entsteht, dass wir in Gedanken also sozusagen immer laut oder halblaut lesen und aus dem Grund auch vom spezifischen Klang eines Autors reden können. Dieser Klang ist allerdings bisweilen eine diffuse Angelegenheit. In seinem Buch über Émile Zola charakterisiert Michel Serres den jeweiligen sprachlichen Ton oder Stil eines Autors als „eine spezifische Klangwolke“ – ein Gedanke, den auch Rainer Guldin (2006: 228) in seiner Kulturgeschichte der Wolken aufgreift. Auf einer ganz anderen, nämlich sehr viel konkreteren Ebene zu verorten sind solche akustischen Phänomene, die in einem literarischen Text selbst evoziert oder beschrieben werden, zum Beispiel das in einem Roman geschilderte Läuten einer Kirchenglocke, das imaginativ an den Gehörsinn der Le-

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senden appelliert, das aber nichtsdestotrotz rein schriftsprachlich, also visuell kommuniziert wird. Es handelt sich bei solchen Elementen sozusagen um eine optisch vermittelte Akustik. Man könnte sie vor dem Hintergrund von Roman Ingardens (1968: 53) epistemologisch-ästhetischer Theorie auch im Sinne einer „Konkretisation“ des literarischen Kunstwerks durch die Lesenden verstehen. Diese literarischen Elemente können sicher durchaus banal wirken, sie können aber eben auch in das grundlegende Spannungsfeld des reflexiven Verhältnisses von Optik und Akustik bei der Produktion und Rezeption eines literarischen Werks einbezogen werden.1

2. Klang und Klangentzug bei Kafka Im Gesamtwerk Franz Kafkas kommen akustische Phänomene, wenn man sich die Texte daraufhin einmal genauer ansieht, an unzähligen Stellen vor. Zugleich wird die akustische bei Kafka stets mit einer optischen Ebene verbunden. Das haben Gilles Deleuze und Félix Guattari (1975: 10) in ihrem Kafka-Buch zumindest angedeutet, wenn sie auf eine Opposition zwischen einem sonoren Block und einer visuellen Erinnerung bei Kafka verweisen. Immer wieder werden in Kafkas Werk Ereignisse des Hörens mit Ereignissen des Sehens konfrontiert. Akustik und Optik treten hier in ein wechselseitig verknüpftes, aber konfligierendes Verhältnis zueinander, das sich zuletzt auch im Spannungsfeld einer immanenten Reflexion des literarischen Produktionsund Rezeptionsakts deuten lässt. Der Klang ist tatsächlich omnipräsent bei Kafka. Abgesehen von der vielfachen und ausgiebigen Thematisierung von Musik oder Gesang in seinen Texten betrifft das auch einige kleinere, zunächst unscheinbarere Elemente. Eines der wohl prägnantesten unter ihnen stellt das Geräusch der Telefone aus dem 1922 entstandenen Schloß-Roman dar, das Gerhard Neumann (2012: 458) zu jenem merkwürdigen Bereich der Musikalität zählt, in dem „Kafka die Musik mit den technischen Kommunikationsmedien seiner Zeit konfrontiert“. Das telefonische Klangereignis im Schloß baut sich zugleich zu einem ganzen Klangsystem aus. Es ist allerdings ein hermetisches Mediensystem, das 1 Zum unheimlichen Auge der Schrift und dem „Konflikt zwischen dem Ästhetisch-Visuellen und dem Ethisch-Verbalen“ in russischen Texten des 19. Jahrhunderts zuletzt Murašov (2014: 243).

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keine eigentliche Kommunikation mit der Außenwelt ermöglicht. Im Roman sagt der Vorsteher zu K.: Im Schloß funktioniert das Telephon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat wird dort ununterbrochen telephoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telephonieren hören wir hier in den hiesigen Telephonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiß auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln, alles andere ist trügerisch. (Kafka 1982: 116)

Da die Beamten nur aus „Scherz“ und zur Zerstreuung auf Anrufe von außerhalb reagieren (Kafka 1982: 116) und man grundsätzlich, wenn überhaupt, eine andere Person erreicht als die, die man angerufen hat (Kafka 1982: 116f.), stellt das akustische Übertragungsnetz des Telefons aus dem Schloß-Roman ein groteskes, nach außen gestörtes Kommunikationsmodell dar. Akustische Phänomene spielen unter anderem noch in Kafkas später, gegen Ende 1923 entstandener, unvollendeter Erzählung Der Bau (Kafka 1992) eine zentrale Rolle. Meinte das erzählende Ich dort gegen Anfang: „Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille“ (Kafka 1992: 579), so wird die Ruhe bald durch „ein an sich kaum hörbares Zischen“ gestört (Kafka 1992: 606), das fortan die Bemühungen des Ich und den weiteren Verlauf der Erzählung bestimmt. Das Ich versucht, „das zischende Geräusch“ zu lokalisieren, also seinen Ursprung zu sichten bzw. zu visualisieren und es zum Verstummen zu bringen: Ich werde genau horchend an den Wänden meines Ganges durch Versuchsgrabungen den Ort der Störung erst feststellen müssen und dann erst das Geräusch beseitigen können. (Kafka 1992: 606)

Diese Arbeit ist für das Ich „die dringendste, es soll still sein in meinen Gängen.“ (Kafka 1992: 606) Es gelingt ihm jedoch nicht, die akustische Störung optisch zu identifizieren oder zu lokalisieren, geschweige denn zu beheben: Ich komme gar nicht dem Ort des Geräusches näher, immer klingt es unverändert dünn in regelmäßigen Pausen, einmal wie Zischen, einmal eher wie Pfeifen. (Kafka 1992: 607)

Die Art des Geräuschs treibt das Ich zu unterschiedlichsten Spekulationen über dessen Ursprung oder Urheber, über den „Zischer“ (Kafka 1992: 622) oder auch noch über „die Möglichkeit, daß es zwei Geräuschcentren gab“ (Kafka 1992: 609). Schließlich macht das Geräusch den Bau nahezu unbewohnbar für das Ich. „Tiefe Stille“ herrscht allein „an der Moosdecke“ (Kafka 1992: 621). So bewirkt das Geräusch eine „völlige Umkehrung der Verhältnisse im Bau, der bisherige Ort der Gefahr ist ein Ort des Friedens geworden,

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der Burgplatz aber ist hineingerissen worden in den Lärm der Welt und ihrer Gefahren.“ (Kafka 1992: 621) Der Lärm ist titelgebend für einen anderen Text Kafkas, nämlich für sein nach dem 5. November 1911 im Tagebuch notiertes und im Oktoberheft 1912 der Herderblätter veröffentlichtes kurzes Prosastück Großer Lärm. In einem Brief an Felice Bauer vom 7. November 1912 schreibt Kafka, das Prosastück biete eine „Darstellung der akustischen Verhältnisse unserer Wohnung“ und diene „zur wenig schmerzlichen öffentlichen Züchtigung meiner Familie“ (Kafka 1996: 540). In Großer Lärm (Kafka 1994) schildert ein Ich die Klangarchitektur einer Wohnung und berichtet von den als penetrant und störend empfundenen Geräuschen der Familie: Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. (Kafka 1994: 441)

Auch in diesem Text wird inmitten der Geräuschkulisse „ein Zischen“ beschrieben: Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt, durch die Vorzimmer Wort für Wort rufend, ob des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. (Kafka 1994: 441)

Am Ende des Texts wird dieses Zischen zur Tierfiguration verdichtet und kehrt in der Vorstellung des Schlangenhaften wieder: Nachdem der Vater gegangen ist, „beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm“ (Kafka 1994: 441) und das Ich fragt sich schließlich, „ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.“ (Kafka 1994: 441f.)2 Zugleich deutet das Prosastück Großer Lärm an, dass neben dem Lärm jedoch auch das, was eben nicht zu hören ist, was sich dem Gehör und der akustischen Wahrnehmung entzieht, von Belang und von besonderer Bedeutung ist. Darauf verweisen bereits die zwar namentlich erwähnten, aber eben nicht zu vernehmenden „Schritte“ sowie das – durch das „noch“ (als ‚Wedernoch‘ oder ‚Sogar-noch‘) allerdings sprachlich ambivalent gehaltene – „Zuklappen der Herdtüre“: 2 Zeitgleich mit der Fertigstellung dieses Beitrags ist eine Studie zu Franz Kafka und dem Lärm erschienen (Daiber 2015). Ihre Resultate konnten in die vorliegende Analyse nicht eingebracht werden, da sie dem Verfasser beim Abschluss des Beitrags noch nicht vorlagen. Eine ausführliche Besprechung der Studie wird in Arbitrium 34 (2016) erscheinen.

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Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. (Kafka 1994: 441)

Ebenso wichtig wie der Klang ist gerade auch das Fehlen von Klang, der Klang­entzug in Kafkas Texten. In der optisch-akustischen Spannung erscheint er als klanglose Optik, als reines Sehen ohne Ton. Hier soll zu zeigen versucht werden, in welcher Weise das Konfliktfeld von Klang und Klangentzug, von Ton und Tonverweigerung und damit auch von Akustik und Optik eine spannungsvolle Grundkonfiguration von Kafkas literarischem Schreiben darstellt. Ein schönes Beispiel für einen solchen Klangentzug bietet der am 23. Oktober 1917 notierte und später als Das Schweigen der Sirenen betitelte Text Kafkas über die Idee des Odysseus, sich mit Wachs die Ohren zu verstopfen, um den Gesang der Sirenen nicht zu hören. Die vielfach verschachtelte Crux ist, dass die Sirenen vor Odysseus tatsächlich schweigen: Nun haben die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht. (Kafka 1992: 40)

Gerade dieses „Verstummen“ nimmt Odysseus, zumindest nach einer ersten Deutungsmöglichkeit, jedoch nicht wahr. Die im Spannungsraum von Akustik und Optik paradoxe Situation gipfelt in der Formulierung: Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen und nur er sei behütet es zu hören, flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das Tiefatmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien die ungehört um ihn erklangen. (Kafka 1992: 41).3

3. Optik und Akustik in Ein Landarzt und Vom jüdischen Theater Im weiteren Zusammenhang soll auf einen Text Kafkas eingegangen werden, in dem die akustische und optische Situation nicht so offensichtlich ist, aber doch eine zentrale und auch für die Textorganisation entscheidende Rolle spielt. Es ist die Erzählung Ein Landarzt (Kafka 1994), die Kafka vermutlich um die Jahreswende 1916/17 niederschrieb und die erstmals 1918 erschien.4 3 Zum weiteren Komplex von Reden, Schweigen, Stimme und Schrift unter anderem im Schweigen der Sirenen Kittler (1985). 4 Einen umfangreichen Kommentar zu der Erzählung liefert Hiebel (1984).

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Sie liefert ein gutes Beispiel für die Relevanz und die Ubiquität von Klang und Klangentzug in Kafkas Œuvre überhaupt, auch dort, wo sie eben nicht so offenkundig sind. Im Folgenden soll eine optisch-akustische Lektüre der Erzählung vorgeschlagen werden. Die Handlung wirkt absonderlich: Ein Landarzt wird in der Kälte der Nacht zum Haus eines Patienten gerufen, weiß aber nicht, wie er ohne Pferd dorthin kommen soll; auf wundersame Weise taucht nun ein Pferdeknecht mitsamt Pferden aus seinem Schweinestall auf; in Windeseile findet sich der Landarzt im Haus seines Patienten wieder und muss sein Dienstmädchen Rosa zu Hause mit dem Pferdeknecht zurücklassen; der Arzt befindet den Patienten zunächst als kerngesund, dann als sterbenskrank; er kann den Jungen nicht heilen, wird von der Familie ausgezogen und zu ihm ins Bett gelegt; schließlich flüchtet er, über Nacht gealtert, mit seinen Pferden, die nun so langsam sind, wie sie vorher schnell waren, in den ewigen Winter hinein, ohne je zu Hause anzukommen. Die gesamte Handlung des Texts wird von einem akustischen Signal eröffnet: Als der Arzt im Haus des Patienten angekommen ist, meint er, „man hat mich wieder einmal unnötig bemüht, daran bin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich der ganze Bezirk“ (Kafka 1994: 257). Es ist gerade dieses zumindest etwas eigenartige Kommunikationsmedium der „Nachtglocke“, das den gesamten Raum der Handlung öffnet, genauer gesagt: Es ist der Klang dieser Nachtglocke, der die ganze Erzählung erst in Gang setzt. Allerdings scheint dieses Medium nicht recht zu funktionieren. Am Ende der Erzählung, wo der Landarzt mit seinen Pferden durch eine endlose Winterlandschaft irrt, kommt er noch einmal auf die „Nachtglocke“ zurück. Der letzte Satz des Texts lautet: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ (Kafka 1994: 261) Zwar ist der Junge ja tatsächlich krank, insofern kann also eigentlich nicht von einem „Fehlläuten“ die Rede sein. Auf einer anderen Ebene bewahrheitet sich diese Diagnose aber schließlich doch, nämlich dann, wenn man das „Fehlläuten“ auf die gestörte Verbindung der Zeichensysteme wie der Personenkommunikation in diesem Text bezieht. Denn mit dem Klang der Nachtglocke öffnet sich in der Erzählung nicht allein ein Raum der befremdlichen Handlung und der Absonderlichkeit, sondern, wie es hier zu zeigen gilt, auch ein Raum der gescheiterten Kommunikation und der Klangverweigerung. Die gesamte Erzählung Ein Landarzt ist nicht zuletzt auch ein Text über das Sehen und das Hören. Das zeigt sich schon an der Stelle, wo der Arzt sein Dienstmädchen Rosa allein mit dem Pferdeknecht zurücklässt und zum Haus des Patienten verschwindet. Nachdem der Knecht Rosa ins Gesicht gebissen

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hat, fordert er den Landarzt auf, in die Kutsche einzusteigen, er selbst aber bleibe dort, sagt der Knecht, „ich bleibe bei Rosa.“ (Kafka 1994: 254) Rosa freilich gefällt das nicht. Im Text lautet es aus der Perspektive des Arztes in einer Schilderung, die die Prägnanz der optischen und der akustischen Ebene in der Erzählung deutlich macht: ‚Nein‘, schreit Rosa und läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. (Kafka 1994: 254)

Auch die darauffolgende abrupte Abfahrt des Arztes kehrt die Signifikanz von Sehen und Hören, von „Augen und Ohren“ in diesem Text hervor. Sie wird ebenso wie die gesamte Handlung abermals von einem akustischen Signal eingeleitet, nämlich von dem Ruf und dem Klatschen des Knechts, und stellt damit eine Mise en Abyme des akustischen Resonanzraums der Erzählung dar, in die sie eingelagert ist. Im Text heißt es über den Knecht: ‚Munter!‘ sagt er; klatscht in die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung; noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des Knechtes birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt. (Kafka 1994: 254f.)

Dieses „Sausen“ bezeichnet in der medialen Eigenlogik der Erzählung einen sonderbaren Kommunikationskanal, der die beiden für den Text zentralen Sinne, den Sehsinn und den Gehörsinn, ebenso kurzschließt wie die räumliche Distanz zwischen dem Haus des Arztes und des Patienten, die in der topographischen Anlage der Erzählung doch immerhin, wie es heißt, „zehn Meilen“ auseinanderliegen (Kafka 1994: 252), die aber durch den Kanal des Sausens unmittelbar miteinander kurzgeschlossen werden. Im Text lautet es über dieses „Sausen“: „Aber auch das nur einen Augenblick, denn, als öffne sich unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof meines Kranken, bin ich schon dort“ (Kafka 1994: 255). In diesem Kurzschluss erhält das in der Schilderung evozierte „Sausen“ schließlich einen dritten Sinn, der sich zum Sehsinn und Gehörsinn hinzugesellt und auf die räumliche Fortbewegung, die sausende Fahrt des Arztes zu beziehen ist. Der Text arbeitet an einer Pluralisierung und Diffusion des einen Sinns zu verschiedenen Sinnen: dem Sehsinn, dem Gehörsinn, aber auch dem räumlichen Sinn und Unsinn der Reise des Arztes zum Patienten. Ein klarer, eindeutiger Sinn ist aus Kafkas Landarzt-Erzählung ganz sicher nicht zu destillieren, dafür aber eine Multiplikation und Diffusion der Sinne, auch in der Hinsicht einer Ausstrahlung oder Zerstreuung in ein plurales „Sausen“ der simultanen

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und konfligierenden Bedeutungen. Das für den Text konstitutive „Sausen“ stellt so etwas wie das Grundrauschen der Erzählung dar. Man könnte es mit der erwähnten Wolke Michel Serres’ (1975: 31) vergleichen, der eine solche Wolke im Allgemeineren sowie auch im besonderen Zusammenhang der historischen Entwicklung von Wissenschaft und Technik als ein diffuses Gebilde beschreibt, dessen Ränder unscharf sind, das über eine variable Dichte und Streuung verfügt und sich in zufälligen Stationen bewegt und verwandelt. Es ist offensichtlich, dass ein solches Gebilde keinen fixen, unveränderlichen Sinn und erst recht keine Eindeutigkeit zulässt. In seinem Kurzschlusscharakter ließe sich dieses kafkasche Grundrauschen auch mit dem ‚white noise‘, mit dem weißen Rauschen vergleichen, das als zufälliges, unvorhersehbares, unberechenbares und nicht zu beseitigendes Phänomen in Übertragungskanälen auftritt und das von der Stochastik verwendet wird, um unkorrelierte und aleatorische Störungen in einem Modell zu beschreiben. Es kommen noch viele weitere akustische Stellen in der Landarzt-Erzählung vor, bei denen es vielfach darum geht, dass bzw. ob etwas gehört wird – oder eben nicht. Der Junge bittet den Arzt: ‚Doktor, laß mich sterben.‘ Ich sehe mich um; niemand hat es gehört; die Eltern stehen stumm vorgebeugt und erwarten mein Urteil; die Schwester hat einen Stuhl für meine Handtasche gebracht. (Kafka 1994: 255)

Wie hier fällt die Familie des Jungen insgesamt vor allem durch ihre Stummheit auf. Die akustische Kulisse der wortlosen Szenen im Haus liefern allein zwei Elemente. Es sind erstens die diffusen Gesänge des eingetroffenen „Schulchor[s]“ (Kafka 1994: 259), deren erster, wie es ausdrücklich heißt, schon bald „verstummt“ (Kafka 1994: 259) und deren zweiter, zum Schluss verklingender in Analogie zum „Fehlläuten der Nachtglocke“, als „irrtümliche[r] Gesang“ bezeichnet wird (Kafka 1994: 261). Es ist zweitens das ebenso sinnfreie Wiehern der Pferde, die „jedes durch ein Fenster den Kopf stecken“ (Kafka 1994: 256). Es sind semantisch leere oder zumindest diffuse akustische Signale, die die stummen Szenen in der Familie beschallen. Die Figurenartikulation erfolgt dabei lediglich über sprachlose Zeichen und Gesten.5 Der Landarzt meint: „Die Mutter steht am Bett und lockt mich hin; ich folge und lege, während ein Pferd laut zur Zimmerdecke wiehert, den Kopf an die Brust des Jungen“ (Kafka 1994: 256). Ähnlich wie dies Alt (2009) an Kafkas Erzählung Ein Brudermord gezeigt hat, erinnern auch die Szenen in der Familie aus dem Landarzt an das Auftreten von Schauspielern im Stummfilm zu Kafkas Zeit. 5 Kurz (1980: 122) sieht „ein wichtiges Strukturelement der Geschichte“ in der „Gegenüberstellung von Gestik und Rede.“

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Im Landarzt lässt sich ein ebensolches stummfilmästhetisches kinematographisches Erzählen beobachten. An einer Stelle heißt es vom Arzt: Als ich aber meine Handtasche schließe und nach meinem Pelz winke, die Familie beisammensteht, der Vater schnuppernd über dem Rumglas in seiner Hand, die Mutter, von mir wahrscheinlich enttäuscht – ja, was erwartet denn das Volk? – tränenvoll in die Lippen beißend und die Schwester ein schwer blutiges Handtuch schwenkend, bin ich irgendwie bereit, unter Umständen zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist […], jetzt wiehern beide Pferde; der Lärm soll wohl, höhern Orts angeordnet, die Untersuchung erleichtern (Kafka 1994: 257f.).

In der Landarzt-Erzählung stehen diese stummen filmästhetischen Szenen zugleich im Zeichen einer gestörten Kommunikation, die sich auch auf die interpersonale Verständigung auswirkt: „Rezepte schreiben ist leicht“, sagt der Landarzt, „aber im übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer.“ (Kafka 1982: 257) Als das ultimativ Unsagbare erscheint dabei die fürchterlich anzusehende „handtellergroße Wunde“ des Jungen (Kafka 1994: 258), die der Arzt bei seiner Inspektion entdeckt. Die Reaktion auf dieses optische Horrorspektakel besteht bezeichnenderweise in einem semantisch leeren akustischen Signal: „Wer kann das ansehen“, fragt der Arzt, „ohne leise zu pfeifen?“ (Kafka 1994: 258) In narrativer Hinsicht ist Kafkas Erzählung insgesamt von einer traumähnlich wirkenden (siehe etwa Kurz 1980: bes. 120; auch Engel 2002: 251ff.), assoziativen Struktur geprägt. Die durch „die schauerliche Intensität der einzelnen Bilder“ entstehenden „Vignetten des Schreckens“ werden in einen „Strudel der Zusammenhanglosigkeit“ gerissen, „der sie an dem Leser vorbeispült.“ (Politzer 1965: 141). Diese assoziative Struktur äußert sich zugleich in einer traumähnlichen, lunarischen bzw. lunatischen Handlung. Nachdem der Arzt die „große Wunde aufgefunden“ und dem Jungen diagnostiziert hat, „an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde“ (Kafka 1994: 258), folgt schließlich eine kleine theatral anmutende Szene in der Familie des Kranken, die eine im wahrsten Sinn lunatische Assoziationskette etabliert und zugleich ein Kommunikationssystem der permanenten Verschiebung inszeniert. Im Text heißt es: Die Familie ist glücklich, sie sieht mich in Tätigkeit; die Schwester sagt’s der Mutter, die Mutter dem Vater, der Vater einigen Gästen, die auf den Fußspitzen, mit ausgestreckten Armen balancierend, durch den Mondschein der offenen Tür hereinkommen. (Kafka 1994: 258)

Der „Mondschein“ aus dieser theatralen Szene im Kleinen wirkt wie ein Signum der lunatischen, schlafwandlerischen, traumähnlichen Narration im Ganzen. Zugleich erinnert der Auftritt der Gäste, die „mit ausgestreckten Armen“ hereinbalancieren, an eine Vorführung von Artisten wie etwa den Gauklern,

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Akrobaten und Equilibristen im Varieté, die Kafka schon in seinen frühen Tagebucheinträgen beschreibt und zeichnet (Kafka 1990: bes. 10ff.) und die signifikanterweise auch mit seinen Traumaufzeichnungen in Zusammenhang stehen (Neumann 2009: 172-180). Über ihre artistenähnliche Rolle hinaus werden die Gäste im Landarzt zudem zu einem absurden Publikum, das gekommen ist, um die Krankheit und die Wunde des Jungen zu bestaunen. Die gesamte Szene lässt sich noch mit einem anderen Text Kafkas in Verbindung setzen, nämlich mit der im September/Oktober 1917 entstandenen Schrift aus dem Konvolut Vom jüdischen Theater (Kafka 1993). Sie soll die Erinnerungen von Kafkas Freund Isaak Löwy nacherzählen, der Text ist aber auch als ein narratives Konstrukt Kafkas zu betrachten. Dort berichtet eine sonderbar kindlich wirkende Stimme von den „Erinnerungen an das jüdische Theater“, so heißt es, „mit seinen Dramen, seinen Schauspielern, seinem Publikum, sowie ich das alles in mehr als zehn Jahren gesehen, gelernt und mitgemacht habe“ (Kafka 1993: 430). Der Text Vom jüdischen Theater lässt sich mindestens in dreifacher Hinsicht mit der Landarzt-Erzählung verbinden. Erstens bringt auch er explizit eine „Wunde“ zur Vorführung: Wie das Ich im Text ausdrücklich sagt, geht es bei seiner Darstellung des jüdischen Theaters darum, „den Vorhang zu heben und die Wunde zu zeigen.“ (Kafka 1993: 430) Zweitens bietet das jüdische Theater ähnlich wie die Erzählung vom Landarzt eine hybride Mischung aus Erlebnisweisen verschiedener Sinneskanäle, ein Potpourri der Sinneswahrnehmungen wie der Kunstformen: „Gespielt hat man“, sagt das Ich über den Besuch des jüdischen Theaters, „ein komisches Drama mit Gesang und Tanz in sechs Akten und zehn Bildern“ (Kafka 1993: 435), dabei ist es gerade diese konstitutive Heterogenität des jüdischen als eines „‚unreinen‘ Theater[s]“, wie es im Text heißt (Kafka 1993: 432), die den Berichtenden so anzieht, „war doch hier alles beisammen“, meint er, „Drama, Tragödie, Gesang, Komödie, Tanz alles beisammen, das Leben!“ (Kafka 1993: 435) Drittens schließlich verlängert sich die theatrale Situation in der Schrift Vom jüdischen Theater über die eigentliche Aufführung und ihre Beschreibung hinaus letztlich in den Text selbst und seine narrative Struktur hinein. Den Schluss des Berichts bildet ein Absatz, in dem der Junge sich vor dem Vater und der Familie für den heimlichen, verbotenen Besuch des jüdischen Theaters zu rechtfertigen hat. Dabei wirkt das Auftreten der Familie geradezu wie das von Schauspielern im Theater. Das Schlusstableau gestaltet sich zu einer theatralen Szene, die den Auftritten im Landarzt ähnelt:

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Die Mutter faltet erschrocken die Hände, der Vater, ganz bleich, geht fortwährend im Zimmer auf und ab, mir krampft sich das Herz, wie ein Verurteilter sitze ich, ich kann den Schmerz meiner treuen frommen Eltern nicht ansehn. (Kafka 1993: 436)

Das kindliche Ich aus Kafkas Schrift Vom jüdischen Theater wirkt nicht allein wie eine seltsam verschobene Neukonfiguration des kranken Jungen mit seiner dem Publikum zur Schau gestellten Wunde aus dem Landarzt, sondern darüber hinaus nimmt die Landarzt-Erzählung selbst strukturelle Anleihen bei einem medial und ästhetisch hybriden Modell wie unter anderem auch bei dem hier beschriebenen jüdischen Theater, die sich in die Darstellungsform wie in die narrative Situation der Erzählung hineinverlagern. Aufgrund der konstitutiven Heterogenität und Simultanität verschiedener Sinneswahrnehmungen und ‑kanäle ist gerade das wiederum aufschlussreich für eine Analyse kafkascher Narrativität im Spannungsfeld von Optik und Akustik.

4. Literarhistorischer Bezug: Eine optisch-akustische Lektüre von Heinrich von Kleists Bettelweib von Locarno Für Franz Kafkas optisch-akustische Schriftverfahren lassen sich zugleich literaturgeschichtliche Vorgänger aufspüren. Ein solcher Vorgänger ist Heinrich von Kleist. Kehren wir mit dieser diachronen Blickrichtung noch einmal zu der Szene aus Kafkas Ein Landarzt zurück, in der Rosas Reaktion auf die Ansage des Knechts, dass er allein mit ihr zurückbleibe, sowie die ruckartige Abfahrt des Wagens geschildert werden: ‚Nein‘, schreit Rosa und läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. […] „Munter!“ sagt er [der Knecht]; klatscht in die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung; noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des Knechtes birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt. (Kafka 1994: 254f.)

Diese Schilderung erinnert in mehreren Elementen an eine Szene aus Heinrich von Kleists erstmals 1810 erschienener Erzählung Das Bettelweib von Locarno (Kleist 1997). Gegen Ende der Erzählung wird der hastige Aufbruch der Marquise nach dem gemeinsam mit dem Marchese erlebten Spuk beschrieben, auf den der Marchese „gleich einem Rasenden“ reagiert (Kleist 1997: 14).

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Die Marquise lässt „anspannen, entschlossen, augenblicklich, nach der Stadt abzufahren“ (Kleist 1997: 14f.), so heißt es dort: Aber ehe sie noch einige Sachen zusammengepackt und nach Zusammenraffung einiger Sachen aus dem Thore herausgerasselt, sieht sie schon das Schloß ringsum in Flammen aufgehen. Der Marchese, von entsetzen überreizt, hatte eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die elendiglichste Weise bereits umgekommen […]. (Kleist 1997: 15)

Die Szene aus Kafkas Landarzt lässt eine Reihe von Reminiszenzen an diejenige aus Kleists Bettelweib erkennen. Zu den gemeinsamen Elementen gehören unter anderem: das Anspannen der Pferde und die plötzliche, rasante Abfahrt des Wagens des Landarztes bzw. der Marquise; der Blick des/der Fortjagenden zurück auf das Haus (im Landarzt: „ich sehe“) bzw. auf das „Schloß“ (im Bettelweib: „sieht sie schon“); die panische Reaktion des/der Zurückgelassenen, die sich in den beiden Fällen allerdings genau umgekehrt auswirkt, denn im Landarzt werden Lichter verlöscht (der Landarzt sieht, wie Rosa „im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen“), im Bettelweib dagegen angezündet (der Marchese „hatte eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines Lebens, angesteckt“); die „Unabwendbarkeit“ des Schicksals Rosas bzw. die Vergeblichkeit der Versuche der Marquise, ihrem Mann zu helfen („Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten“) usw. Die Dichte und Intensität der Verbindungen zwischen den beiden Szenen aus dem Landarzt und dem Bettelweib legen eine konkrete, wenn auch punktuelle Bezugnahme von Kafkas auf Kleists Text nahe. Über diesen intertextuellen Nexus hinaus ist mit Kleists Erzählung Das Bettelweib von Locarno zugleich ein historischer Vorläufer in der literarischen Gestaltung optischer und akustischer Phänomene ins Spiel gebracht. Wie Kafkas Landarzt-Erzählung lässt sich nämlich auch Kleists Bettelweib genereller im Zeichen einer Poetik der Sinneswahrnehmungen lesen. Im Folgenden soll eine optisch-akustische Lektüre von Kleists Bettelweib von Locarno angeschlossen werden, um Aspekte des literaturgeschichtlichen Vorfelds der bei Kafka beobachteten Phänomene zu beleuchten und zumindest einige der historischen Koordinaten anzuzeigen, vor denen sich Kafkas Poetik literarischer Optik und Akustik situieren lässt. Kleists Erzählung Das Bettelweib von Locarno beginnt mit einer optisch orientierten Schilderung: Im ersten Satz des Texts wird wie durch die Augen eines ankommenden Reisenden der Blick auf das verfallene „Schloß“ bei Locarno beschrieben, „das man jetzt, wenn man vom St. Gotthardt kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht“ (Kleist 1997: 9). Im Zent-

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rum dieser zutiefst brüchigen Erzählung6 aber steht ein akustisches Phänomen: Es ist das gespenstische „Geräusch“ in dem „leerstehenden Zimmer“ des Schlosses (Kafka 1982: 10), das offenbar von dem Geist des Bettelweibs verursacht werden soll. Der alten Frau hatte der Marchese nämlich einst befohlen, „aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehen, und sich hinter den Ofen zu verfügen“ (Kleist 1997: 9), worauf die Frau ausrutschte, sodass „sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter den Ofen aber, unter Stöhnen und Ächzen, niedersank und verschied.“ (Kleist 1997: 10) Die Geräusche dieses Vorfalls wiederholen sich anscheinend Jahre später, als „ein florentinischer Ritter“, der das Schloss kaufen will, in eben dem Zimmer untergebracht ist, „mitten in der Nacht“ jedoch herunterkommt und versichert, „daß es in dem Zimmer spuke“ (Kleist 1997: 10). Die Beschreibung dieses Spuks bietet alle Kategorien einer geisterhaft präsenten Akustik und absenten Optik auf. Im unheimlichen Ereignis eines Klangs unter gleichzeitigem Bildentzug besteht sogar der eigentliche Kern des gespenstischen Geschehens und des Entsetzens in Kleists Erzählung. Der Ritter behauptet, dass etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden, mit vernehmlichen Schritten, langsam und gebrechlich, quer über das Zimmer gegangen, und hinter dem Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei. (Kleist 1997: 10f.)

Auch „die Untersuchung“ durch den Marchese „in der nächsten Nacht“ bestätigt die gespenstische Akustik: Er hört „mit dem Schlage der Geisterstunde“ ebenfalls „das unbegreifliche Geräusch“, ein „Geseufz und Geröchel“ (Kleist 1997: 12), ohne dabei etwas zu sehen. Die nochmalige, gemeinsame Prüfung durch den Marchese und seine Frau ändert offenbar wenig an dem Befund: „Sie hörten“ (Kleist 1997: 12), heißt es, „dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Geräusch“ (Kleist 1997: 13). Auch die dritte Prüfung ergibt ein ähnliches Resultat: „Am Abend des dritten Tages“ nehmen der Marchese und 6 Die Erzählung Kleists weist so viele narrative Brüche, Widersprüche und Paradoxien auf, dass sich über die Handlung kaum eindeutige, sondern nur stark einschränkende Aussagen treffen lassen. So wird schon der im ersten Satz berichtete Umstand, dass man das Schloss „jetzt […] in Schutt und Trümmern liegen sieht“ (Kleist 1997: 9), vom letzten Satz revidiert, wo das Schloss nämlich wieder völlig intakt zu sein scheint, denn „noch jetzt liegen“, lautet es dort, die „weißen Gebeine“ des Marchese „in dem Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen.“ (Kleist 1997: 15) Ein Inventar der zahllosen narrativen Brüche im Text und zugleich den Aufweis ihrer systematischen Verdichtung zu einem konsequenten ‚Erzählprinzip‘ Kleists liefern Pastor/Leroy (1979).

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die Marquise den „Haushund“ mit „in das Zimmer“ (Kleist 1997: 13). Diesmal fällt die Schilderung des Geräuschs und des gesamten Klangereignisses unter gleichzeitigem Entzug der optischen Dimension sogar noch markanter aus und werden die akustischen Phänomene selbst sprachlich-performativ wiedergegeben bzw. wiederholt: Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, läßt sich das entsetzliche Geräusch wieder hören; jemand, den kein Mensch mit Auge sehen kann, hebt sich, auf Krücken, im Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt: tapp! tapp! erwacht der Hund, hebt sich plötzlich, die Ohren spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend, grad’ als ob ein Mensch auf ihm eingeschritten käme, rückwärts gegen den Ofen weicht er aus. (Kleist 1997: 14)

Danach kommt es schließlich zu der bereits beschriebenen Szene der Raserei des Marchese und der panischen Abfahrt der Marquise, die aus der Ferne sieht, wie der Marchese das Schloss angezündet hat. Auffällig ist neben der prägnanten Schilderung akustischer Phänomene auch immer wieder der Rekurs auf Kategorien der Optik in Kleists Erzählung, wenn dies auch zum Teil gerade in der Negation geschieht. So sind die ökonomischen Kriterien für den Kauf des Schlosses durch den Ritter mit allen für den geplanten „Handel“ entscheidenden Faktoren an vorwiegend optischen Begriffen, insbesondere an dem der Schönheit, orientiert, die von dem akustischen Spuk dann allerdings durchkreuzt werden: Der Ritter will das Schloss „seiner schönen Lage wegen“ kaufen, und der Marchese bringt ihn in dem besagten Zimmer unter, „das sehr schön und prächtig eingerichtet war“ (Kleist 1997: 10).7 Als ein Agent der Eindämmung optischer Wahrnehmung, der Einschränkung des Sehvermögens erscheint die für den Spuk so zentrale, ausschlaggebende „Nacht“ (Kleist 1997: 10): Der Marchese lässt sein Bett „beim Einbruch der Dämmerung“ aufschlagen, um den Spuk zu untersuchen, dieser tritt pünktlich um „Mitternacht“ auf, mit dem „Schlage der Geisterstunde“ (Kleist 1997: 12), der aber seinerseits zugleich wieder an den Hörsinn appelliert. Die „zwei Lichter“, die der Marchese und seine Frau bei der dritten Prüfung im Zimmer haben (Kleist 1997: 13), verorten sich ebenso in Kategorien der Optik wie zum Teil die „Kerze“, mit der der Marchese am Ende das Schloss anzündet (Kleist 1997: 15), sowie auch die gesamte Reaktion der Marquise: „Bei diesem Anblick“, nämlich bei dem des zurückweichenden Hundes (Kleist 1997: 14), „läßt sie anspannen, entschlossen“ (Kleist 1997: 14f.), so 7 Selbst die Reaktion auf den „Vorfall“ wird unter Rückgriff auf einen Begriff aus dem etymologischen Umfeld des Optischen beschrieben: Er bewirkte „außerordentliches Aufsehen“ (Kleist 1997: 11). Dagegen entspricht das sich hierauf erhebende „Gerücht“ (Kleist 1997: 11) wiederum eher einem Konzept der akustischen Vermittlung bzw. Verbreitung.

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heißt es wörtlich (mit auch optischem Zweit- oder Hintersinn), „augenblicklich, nach der Stadt abzufahren.“ (Kleist 1997: 15) Kleists Erzählung liefert insgesamt ein Beispiel für die literaturhistorische Tiefendimension einer Poetik der Optik und Akustik, wie sie ein Jahrhundert später in vergleichbarer Weise bei Kafka zu beobachten ist. Kafkas Werk stellt in dieser Hinsicht also nicht so sehr einen singulären Fall der Literaturgeschichte dar, sondern schreibt sich seinerseits offenbar auch in historisch entwickelte Koordinatenfelder ein. Diese finden mit Kleists Bettelweib von Locarno und dem darin entfalteten Kern des Gespenstischen aus dem Spannungsverhältnis von spukhaft präsenter Akustik und absenter Optik sicher ein prägnantes Beispiel, das aber ebenso sicher nicht das einzige Beispiel einer Literaturgeschichte des Sehens und des Hörens darstellt.

5. Akustische Textfenster: Flüchtige Blicke in eine Welt jenseits des Fixierten Die Erzählung Ein Landarzt endet mit einer der größten Paradoxien bei Kafka überhaupt: Obwohl der Text nicht zu den so zahlreichen Fragment gebliebenen Werken Kafkas gehört, findet die Erzählung dennoch keinen Abschluss. Der letzte Satz des Texts ist der verzweifelte Kommentar des Arztes: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ (Kafka 1994: 261) Damit erreicht der Text sprachformal gesehen einen klaren Schlusspunkt. Inhaltlich gesehen aber erzählt dieses Ende gerade davon, dass hier jemand nicht ans Ende gelangt, der Landarzt mit seinen Pferden nicht am Ziel ankommt, sondern sich seine Reise ins Endlose verliert: „Niemals komme ich so nach Hause“, sagt der Arzt im Schlussabsatz des Texts (Kafka 1994: 261). Damit wird das Ende der Erzählung zu einer kontraperformativen Geste: Gerade durch den Abschluss und die sprachliche Vollendung des Texts öffnet sich ein Raum der endlosen Wanderschaft, der permanenten Irrfahrt und einer Bewegung, die sich ins Unendliche perpetuiert. Dadurch löst sich der Text auf inhaltlicher Ebene auch aus der Festlegung, der Fixierung auf einen endgültigen Schlusspunkt. Man könnte beim Landarzt und seiner Irrfahrt sicher an den Ewigen Juden denken. Man könnte aber auch das weitere Konzept des Nomadischen ins Spiel bringen und damit schließlich eine Verbindung schaffen zwischen dem endlosen Ende der Erzählung und dem konfliktreichen Verhältnis von Optik und Akustik. Dieses Verhältnis erstreckt

106

Achim Küpper

sich nämlich nicht allein auf das eingangs angedeutete von lautem und stillem Lesen, sondern zugleich auch auf das umfassendere von gesprochener und geschriebener Sprache: Das gesprochene Wort ist Sache des Ohrs, ist eine akustische Angelegenheit; das geschriebene Wort dagegen gehört grundsätzlich in den Bereich des Auges, ist ein optisches Element. Schon für McLuhan (1964) gilt das gesprochene Wort als ein Medium des Nomadischen, weil es flüchtig ist und sich sein Klang nicht im Raum verfestigt, das geschriebene Wort hingegen als ein Medium des Sesshaften, weil es der Fixierung, dem Festhalten von Daten und Gesetzen dient und dabei selbst auf dem Papier fixiert wird. Vor diesem Horizont erscheinen die akustischen Phänomene in Kafkas Texten nicht zuletzt auch als kleine, textimmanente Fenster in eine Welt des Nicht-Fixierten und des Flüchtigen, des Unsesshaften und Nomadischen und das heißt auch: in eine Welt jenseits der schriftlichen Fixierung, der Vollendung und des Abschlusses. Diese das Sehen und das Hören in paradoxer Weise verbindenden akustischen Fenster bieten auch innerhalb eines sprachlich geschlossenen Texts die Möglichkeit, den Schrecken der Fixierung für den Augenblick eines Gedankens zu entkommen und die Endgültigkeit der Schrift in die flüchtige Bewegung eines Rauschens multipler und diffuser Sinne zu zerstreuen.8

6. Zu einer Statistik der Sinneswahrnehmungen in Kafkas Gesammelten Werken (digital erfasst) Den oben unternommenen Detailuntersuchungen vor allem in Hinblick auf die Erzählung Ein Landarzt gilt es abschließend ein zweites, ganz anderes Analyseverfahren an die Seite zu stellen, dessen Beziehung zum ersten nicht als konkurrierend, sondern als komplementär zu verstehen ist: Das ‚close reading‘ 8 Damit kann das Verfahren, akustische Fenster in die Texte zu montieren, auch als eine Ergänzung zu „Kafkas Bemühungen“ verstanden werden, „eine Publikationsform zu finden, die zwischen Schrift und Druck vermittelt“, wie sie grundlegend von Neumann (1982: 123) beschrieben worden sind. Das Verfahren lässt sich insofern mit dem Konflikt von „Textfluß und Textsegmentierung“ im Übergang vom Schreibstrom zum Druck (Neumann 1982: 123) vergleichen, als Kafkas Paradoxie der akustischen Fenster es erlaubt, den festen, unveränderlichen Raum des Drucks zumindest auf imaginativer Ebene im Druck selbst gleichzeitig wieder zu verlassen.

Klang und Klangentzug als Schriftverfahren

107

soll hier ergänzt werden durch ein datenbasiertes ‚distant reading‘ (Moretti 2013). Im Folgenden wird eine Statistik der Verben der Sinneswahrnehmungen in Kafkas literarischem Werk erstellt. Das geschieht anhand einer einfachen digitalen Datenerfassung, die sich auf ein abgegrenztes, weiter unten zu spezifizierendes Korpus von Texten Kafkas bezieht. Die digitale Datengewinnung (Data-Mining) ist ein elementarer Anwendungsbereich der Digital Humanities (Burdick et al. 2012: 42). Sie stellt ein Verfahren des distant reading dar, das hier jedoch, wie angedeutet, nicht in ein Konkurrenz‑, sondern in ein Komplementärverhältnis zum close reading zu bringen ist, wodurch zugleich die Möglichkeiten einer gegenseitigen Bereicherung der Methoden akzentuiert werden sollen.9 Die statistische Analyse basiert auf einem mittlerweile schon traditionell erscheinenden Instrument, nämlich auf dem erweiterten Textkorpus der Digitalen Bibliothek (Bertram 2000). Den darin enthaltenen Digitalisaten liegt eine andere Ausgabe der Werke Kafkas zugrunde als die in den obigen Untersuchungen verwendete, nämlich nicht die Kritische Ausgabe, sondern Max Brods Ausgabe der Gesammelten Werke Kafkas (Kafka 1950ff.). Das ist jedoch insofern unerheblich, als es bei der digitalen statistischen Analyse weniger auf Textgenesen, produktions- oder editionshistorische Zusammenhänge als vielmehr auf eine rein quantitative Untersuchung spezifischer Elemente in einer bestimmten Menge Texte ankommt. Digitale Bibliotheken wie die hier verwendete können im Kontext der digitalen Editionstechniken als „einfache Editionsformen“ verstanden werden (Sahle 2010: 232), die „eine verbesserte Sicht- und Verfügbarkeit“ aufweisen und daher „für Werkzeuge der Auswertung und Weiternutzung unmittelbar zugänglich“ sind (Sahle 2010: 233). Sie können damit auch „als modulare Bausteine der allgemeinen Erschließung von Quellen und Texten für die Geisteswissenschaften aufgefasst werden.“ (Sahle 2010: 246) Das hier untersuchte Korpus der Werke Kafkas umfasst insgesamt zwölf Textcluster, die neben den drei Romanen unter anderem auch die Erzählsammlungen Betrachtung, Ein Landarzt und Ein Hungerkünstler einschließen, die sich jeweils in mehrere Einzeltexte untergliedern. Das Korpus enthält nicht die gesamten Texte Kafkas. Jedoch ist die analysierte Textmenge groß genug, um belastbare Zahlenresultate daraus abzuleiten und eine repräsentative Statistik der Sinneswahrnehmungen in Kafkas Werk zu erstellen. Die digital 9 Zu den Verbindungen, Synergien und Dialogen zwischen close und distant reading auch Burdick et al. (2012: 18, 39f.).

108

Achim Küpper

untersuchten Textcluster und Texte werden in der unten folgenden Tabelle im Einzelnen aufgeführt. Ziel der digitalen Analyse ist es, erstmals die jeweilige Frequenz der Verben der fünf Sinneswahrnehmungen in Kafkas Texten quantitativ präzise zu bestimmen und so ihr Verhältnis zueinander zu erfassen. Dadurch ergänzt die statistische Untersuchung die Befunde der oben unternommenen Textinterpretationen, in deren Fokus ausschließlich zwei der fünf Sinneswahrnehmungen standen, nämlich das Sehen und das Hören. Die folgende, zugegebenermaßen sehr formalistisch wirkende Statistik soll die Frage beantworten, ob diese Dominanz des Sehens und des Hörens auch quantitativ mit Bezug auf ein umfassenderes Korpus von Kafkas Texten belegt wird.10

1 Amerika 2 Der Prozeß 3 Das Schloß 4 Zwei Gespräche 4.1 Gespräch mit dem Beter 4.2 Gespräch mit dem Betrunkenen 5 Betrachtung (Erzählsammlung) 5.1 Kinder auf der Landstraße 5.2 Entlarvung eines Bauernfängers 5.3 Der plötzliche Spaziergang 5.4 Entschlüsse 5.5 Der Ausflug ins Gebirge

Sehen (sehe*, sieh*, sah*)

Hören (hör*)

Riechen Schmecken Tasten (riech*, (schmeck*) (tast*) roch*)

284 (61,28,195) 262 (78,16,168) 271 (106,46,119)

103

3 (2,1) 1 (1,-) 1 (-,1)

4 (1,1,2) 3 (1,1,1)

61 88

2

5

-

4

2

4

3

-

-

-

1

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8 (2,1,5) 3 (-,-,3) -

2

-

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-

2

-

-

-

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-

-

-

-

-

-

10 Systematisch nicht mitgezählt wurden substantivierte Formen wie die „Sehenswürdigkeit*“ oder die „Taste*“ (Instrument), die zwar verwandt, aber semantisch natürlich nicht identisch mit den Verben der Sinneswahrnehmungen sind.

109

Klang und Klangentzug als Schriftverfahren

5.6 Das Unglück des Junggesellen 5.7 Der Kaufmann

Sehen (sehe*, sieh*, sah*)

Hören (hör*)

Riechen Schmecken Tasten (riech*, (schmeck*) (tast*) roch*)

-

-

-

-

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-

-

-

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2

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-

1

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27

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2

2

-

-

-

-

5

-

-

1

2

-

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-

-

-

-

2 (2,-,-) 5.8 Zerstreutes 2 Hinausschaun (-,2,-) 5.9 Der Nachhauseweg 1 (1,-,-) 5.10 Die Vorüberlaufenden 5.11 Der Fahrgast 1 (1,-,-) 5.12 Kleider 2 (2,-,-) 5.13 Die Abweisung 1 (1,-,-) 5.14 Zum Nachdenken für Herrenreiter 5.15 Das Gassenfenster 1 (1,-,-) 5.16 Wunsch, Indianer zu 1 werden (-,-,1) 5.17 Die Bäume 1 (-,1,-) 5.18 Unglücklichsein 2 (1,-,1) 6 Das Urteil 8 (-,1,7) 7 Die Verwandlung 65 (20,2,43) 8 Ein Landarzt (Erzählsammlung) 8.1 Der neue Advokat 1 (-,-,1) 8.2 Ein Landarzt 6 (5,1,-) 8.3 Auf der Galerie 8.4 Ein altes Blatt 1 (1,-,-) 8.5 Vor dem Gesetz -

110

8.6 Schakale und Araber 8.7 Ein Besuch im Bergwerk 8.8 Das nächste Dorf 8.9 Eine kaiserliche Botschaft 8.10 Die Sorge des Hausvaters 8.11 Elf Söhne 8.12 Ein Brudermord 8.13 Ein Traum 8.14 Ein Bericht für eine Akademie 9 In der Strafkolonie 10 Der Kübelreiter 11 Ein Hungerkünstler (Erzählsammlung) 11.1 Erstes Leid 11.2 Eine kleine Frau 11.3 Ein Hungerkünstler 11.4 Josefine, die Sängerin 12 Prosa aus dem Nachlaß 12.1 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 12.2 Beim Bau der chinesischen Mauer 12.3 Der Jäger Gracchus

Achim Küpper Sehen (sehe*, sieh*, sah*)

Hören (hör*)

Riechen Schmecken Tasten (riech*, (schmeck*) (tast*) roch*)

2 (-,1,1) 3 (1,2,-) -

2

-

-

-

-

-

-

-

1

-

-

-

-

-

-

-

2

-

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-

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-

-

-

1

-

-

-

3

-

-

-

12

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-

1

7

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

2

-

11

-

-

-

10

-

-

-

7

-

-

-

1

-

-

-

3 (2,1,-) 5 (1,4,-) 1 (-,-,1) 5 (-,-,5) 7 (4,-,3) 49 (13,1,35) 3 (1,2,-) 2 (-,-,2) 4 (3,1,-) 7 (2,1,4) 8 (4,4,-) 39 (2,1,36) 9 (4,2,3) 6 (2,1,3)

111

Klang und Klangentzug als Schriftverfahren Sehen (sehe*, sieh*, sah*) 12.4 Die Brücke

1 (1,-,-) 12.5 Der Schlag ans Hoftor 2 (-,-,2) 12.6 Eine Kreuzung 2 (1,-,1) 12.7 Der Nachbar 12.8 Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg 12.9 Brief an den Vater 15 (5,3,7) 12.10 Zur Frage der 2 Gesetze (-,2,-) 12.11 Das Stadtwappen 12.12 Poseidon 12.13 Kleine Fabel 1 (-,-,1) 12.14 Von den Gleichnissen Gesamt

1106 (330,126, 650)

Hören (hör*)

Riechen Schmecken Tasten (riech*, (schmeck*) (tast*) roch*)

1

-

-

-

1

-

1

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-

-

-

3 1

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-

-

5

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1

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-

-

-

-

1 1 -

-

-

-

-

-

-

-

367

5 (3,2)

10

17

Tab. 1: Statistik der Sinneswahrnehmungen in Kafkas Gesammelten Werken.

Die Statistik lässt bei allem Formalismus einige deutliche Resultate erkennen. Die Frequenz der Verben sehen und hören ist um ein Vielfaches höher als die der Verben der drei anderen Sinneswahrnehmungen im untersuchten Korpus der Texte Kafkas. Am höchsten ist die Frequenz des Verbs sehen (insges. 1106). Sie ist mehr als 200-mal höher als die des Verbs riechen, das die niedrigste Frequenz aufweist (insges. allein 5). Die mit Abstand zweithöchste Frequenz hat das Verben hören (insges. 367), die zwar nur rund ein Drittel der Frequenz von sehen beträgt, aber immer noch über 70-mal höher ist als die von riechen. Auch die Verben schmecken und tasten kommen in den untersuchten Texten im Verhältnis nur äußerst selten vor (insges. 10 und 17): Verglichen mit sehen wie hören ist ihre Frequenz ebenfalls verschwindend gering. Ein zusätzliches, wenn auch nicht ganz so deutliches Resultat betrifft die untersuchten Zeitformen der starken Verben sehen und riechen. Beim Verb

112

Achim Küpper

sehen ist eine tendenzielle Dominanz der Vergangenheitsformen (insges. 650) über die Gegenwartsformen (insges. 456) zu beobachten. Beim Verb riechen ist die Gesamtzahl der Wortvorkommen nicht groß genug, um belastbare und repräsentative Resultate abzuleiten, allerdings scheint sich hier eher die gegenläufige, umgekehrte Tendenz anzudeuten, nämlich eine relative Dominanz der Gegenwartsformen (insges. 3) über die Vergangenheitsformen (insges. 2). Eine verfeinerte Mikroanalyse könnte zudem auch die Frequenz der schwachen Verben hören, schmecken und tasten ermitteln, die hier ebenso wenig geleistet werden konnte wie eine Einbeziehung der jeweiligen Partizipialformen der Verben in die Untersuchung. Zur Visualisierung der Resultate wird ein Diagramm angefügt, das die Ergebnisse aus Frequenz- und Tempusanalyse verdeutlichen und auf einen Blick zusammenfassen soll. 1200 1000 800 Gesamt

600

Präsens Präteritum

400 200 0

Sehen

Hören

Riechen

Schmecken

Tasten

Abb. 1: Graphische Darstellung der Ergebnisse aus Frequenz- und Tempusanalyse.

Die Ergebnisse der statistischen Analyse lassen mehrere interpretative Schlüsse zu. Erstens unterstreicht die ausgeprägte Dominanz des Hörens sowie die noch ausgeprägtere Dominanz des Sehens gegenüber allen anderen Sinneswahrnehmungen in Kafkas Texten die Relevanz der Konstellation von Akustik und Optik bzw. von Klang und Klangentzug (als reiner, klangloser Optik) auch auf quantitativer Ebene. Zweitens kann insbesondere das Primat des Sehens bei Kafka mit einem Befund in Verbindung gebracht werden, der ein allgemeineres Interpretament des Werks darstellt, nämlich der Tendenz zur Kontemplation in Kafkas Tex-

Klang und Klangentzug als Schriftverfahren

113

ten. Schon der Titel von Kafkas erster Buchveröffentlichung, der Ende 1912 erschienenen Erzählsammlung Betrachtung, weist in diese Richtung: Betrachtung bedeutet sowohl (visuelle) Beobachtung als auch (mentale) Reflexion und verweist damit auf die beiden Grundmodalitäten der Kontemplation. Dieser kontemplative Modus könnte als ein entscheidender Impuls für die Dominanz des Sehens in Kafkas Werk gedeutet werden. Zugleich impliziert das Kontemplative eine (beobachtende oder reflexive) Distanznahme des Betrachters zu den betrachteten Gegenständen, eine gewisse Distanz des Subjekts zur Welt. Drittens könnte daher die Häufigkeit gerade des Sehens und des Hörens in Kafkas Texten interpretativ auch auf den Umstand bezogen werden, dass es sich bei den beiden um Distanzwahrnehmungen handelt, die im Gegensatz etwa zum Schmecken oder Tasten keinen körperlichen Kontakt mit den wahrgenommenen Gegenständen erfordern, sondern grundsätzlich einen Abstand zum Objekt bedeuten. Auch das Riechen funktioniert zwar auf Dis­ tanz, allerdings impliziert es häufig eine starke körperlich-affektive, quasi immersive Einbindung des wahrnehmenden Subjekts. Die Dominanz der Dis­ tanzwahrnehmungen, und zwar des Sehens mehr noch als des Hörens (das nämlich seinerseits schon immersive Züge haben kann), ließe sich demnach auch auf den Abstand zur wahrgenommenen Welt deuten, der vielen der Kafkaschen Textsubjekte eigen ist. Damit wäre ein weiterer Aspekt des von Kremer (1989) in so vielerlei Hinsicht aufgezeigten ‚Schreibens als Lebensentzug‘ bei Kafka angedeutet. Viertens ließen sich auch die tendenziellen Resultate der Tempusanalyse auf den Kontrast von Distanz und Nähe wenden. Die Tendenz des Verbs sehen zu Vergangenheitsformen erhöht den Abstand des Subjekts zum wahrgenommenen Objekt, indem sie die räumliche Distanz um eine zeitliche Distanz erweitert: An die Stelle der Gegenwart tritt in der Mehrzahl der Fälle die Vergangenheit des Gesehenen, das dadurch auch zeitlich weiter in die Ferne rückt. Dagegen deuten die Zeitformen des Verbs riechen eine stärkere Präsenz des Wahrgenommenen auch in temporaler Hinsicht an, allerdings dürfen die entsprechenden Fundstellen hier aufgrund ihrer sehr geringen Zahl nicht überbewertet werden. Fünftens untermauert die statistische Dominanz des Sehens und des Hörens in Kafkas Werk den textanalytischen Befund einer sprach- und damit zugleich selbstreflexiven Poetik der Sinneswahrnehmungen im literarischen Text. Indem das Sehen den Wahrnehmungsmodus des geschriebenen Worts, das Hören dagegen den des gesprochenen Worts bezeichnet, reflektiert das textimmanente Verhältnis von Optik und Akustik nicht zuletzt auch die me-

114

Achim Küpper

diale Grundsituation der literarischen Schrift und ihrer Rezeption im Vergleich zur verbalsprachlichen Rede. Im Konflikt von Klang und Klangentzug spiegelt sich daher ebenso die Spannung zwischen den beiden Basismodalitäten von Sprache überhaupt: der gesprochenen, akustisch vermittelten und der geschriebenen, optisch vermittelten. Darin kann zugleich eine Reflexion auf die konstitutive Paradoxie eines allein optisch, nämlich durch die Augen der Lesenden vermittelten literarischen Erzählens gesehen werden, das durch (selbst wiederum paradoxe, weil Sehen und Hören überblendende) textimmanente akustische Fenster immer wieder Blicke in ein Reich jenseits der Körperlichkeit, der Sesshaftigkeit und der Fixierung wirft, nämlich in das körperlose, distanzierte, flüchtige und dem fixierenden Blick entzogene Reich des Klangs.

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Klang und Klangentzug als Schriftverfahren

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Achim Küpper

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Martin Zenck

Das System als Abfall – Die schönen Figuren als weggeworfene Fetzen. Die philosophischen und musikalischen Kafka-Lektüren von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Eduard Steuermann 1. Adorno In einem Brief vom 28. August 1954 von Siegfried Kracauer aus New York an Theodor W. Adorno können wir Folgendes lesen: Dein Kafka Aufsatz gehört sicher zu Deinen besten Arbeiten. Ich habe mich über verschiedenes darin sehr gefreut: Deine Ablehnung des heute so überschätzten Symbolbegriffs in der Ästhetik (im Film kann das anti-symbolische des Gemeinten gar nicht stark genug betont werden); Deine Insistenz darauf, Kafka wörtlich zu nehmen; Dein Leitmotiv dass Kafka das ‚System aus einem Abfall‘ versteht, (wie einer der den Kehricht durchwühlt und aus weggeworfenen Fetzen und Splittern für sich alleine schöne Figuren zusammenstellt) – ein Thema, das ich, glaube ich, in meinen eigenen Aufsätzen über Kafka in der Frankfurter Zeitung immer wieder behandelt habe. (Adorno/Kracauer 2008: 469).

Adorno hatte seinem Freund Kracauer den Kafka-Aufsatz, der 1953 in der Neuen Rundschau erschien, im gleichen Jahr mit folgenden Worten mit handschriftlicher Widmung zugeignet: „Meinem lieben Friedel/von seinem unverbesserlichen Teddie/Weihnachten 1953“ (Adorno/Kracauer 2008: 471) Dem Brief können wir zweierlei entnehmen: einmal dass sich das von mir gewählte Thema des Systems als Abfall und die Schönen Figuren als weggeworfene Fetzen einer Kompilation verdankt, die Kracauer im zitierten Brief anhand der Adorno-Lektüre vornimmt, der wir später noch näher nachgehen wollen; zum anderen, dass Kracauer trotz der Lobeshymne auf den Kafka-Aufsatz von ‚Teddie‘ Adorno keinen Zweifel daran lässt, dass er selbst dergleichen schon früher einmal in der Frankfurter Zeitung vom 3. September 19311 verhandelt habe, womit auch direkter gesagt werden kann, sein bester Freund habe da doch einfach abgepinselt. Solchen Spuren der direkten oder indirek1 S. dazu die Rezensionen verschiedener Werke von Franz Kafka durch Siegfried Kracauer (1931: 1; s. a. Adorno/Kracauer 2008: 290).

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Martin Zenck

ten Referenz wollen wir hier aber nicht nachgehen, sondern eher den beiden wichtigen Sachverhalten, dass Kafkas Texte wörtlich zu nehmen seien und nicht symbolisch, und der merkwürdigen Doppelung, dass zum einen aus dem Abfall ein System entsteht oder dass das System aus nichts anderem sich zusammensetzt als aus Abfall, zum anderen dass aus diesem Abfall, aus den weggeworfenen Fetzen bei Kafka gerade schöne Figuren zusammengestellt würden. Aus dem Abfall kann also paradoxerweise zweierlei entstehen: zum einen das System, eines diverser politischer Mächte im Sinne eines Dispositivs von Foucault, zum anderen daraus, aus dem Kehricht und Müll, zusammengestellt: schöne Figuren. Auch hier könnte wieder Foucault aufgerufen werden, dessen Bestimmung des Dispositivs nach Gilles Deleuze gerade in den Institutionen der Macht Verwerfungen verzeichnet, die das Dispositiv unterlaufen. Die schönen Figuren, welche also auch als Abfall aus dem System entstehen, wären solche Verwerfungen: etwas sich der Macht des Systems Entringendes. Vertieft werden kann dieser Aspekt des Schutts und des Porösen anhand eines der früheren Denkbilder Benjamins (1972), die Neapel gewidmet sind. Auch dort ist es gerade das Abgelegene, Verschüttete, das Durchlässige, Durchfallende und der Dreck, der im Gegensatz zum Konsistenten des Systems und des Kristallinen jegliche Form des Stabilen noch unterläuft. Insofern stehen Benjamins Betrachtungen über das Randständige/Marginale und ‚Poröse‘ von Neapel durchaus in einem direkten Zusammenhang mit der späteren Kafka-Interpretation. Aus seinen Besuchen, seinen Wanderungen durch Neapel, auch seinen Gängen als Flaneur in den Banlieus dieser Stadt konnte er im Weggeworfenen einer Kultur innewerden, welche sich zu stabilisieren sucht, indem sie den ubiquitären Abfall zu einem System scheinbar zusammenzwingt. Während nun in Adornos Aufsatz die Forderung nach wörtlicher und nicht symbolischer Lektüre der Parabeln Kafkas leicht zu finden ist, treffen wir auf das ‚System als Abfall‘ erst spät beim diskursiven Durchgehen des Textes, wo es wörtlich heißt: Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachte Spielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als aus dem Kehricht der Realität, er [ ...] montiert [sie] aus Abfallprodukten, welche das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegenwart ausscheidet. (Adorno 1969: 312)

Überraschend indessen ist der Sachverhalt, dass eines der Hauptmotive, das Adorno in den Erzählungen Kafkas als entscheidend entdeckt, der Gestus, der noch vor der Sprache stehende Ausdruck mit seinen Bewegungen der Gebärde, wie sie bei Kafka beschrieben werden, von Siegfried Kracauer nicht eigens hervorgehoben wird und auch nicht im Hinblick auf seine eigenen, be-

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reits zitierten Rezensionen aus der Frankfurter Zeitung, sondern hinsichtlich von Walter Benjamins früher Schrift von 1934 Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. Diese Kafka-Studie Benjamins war 1934 in der Jüdischen Rundschau erschienen. Wir können in Benjamins Verfahren, Gesten, wie die des Lächelns, des Weinens, des Lachens, des Trommelns gegen die Tür, von scheuen und schamhaften Bewegungen der Tiere, wie sie etwa Hunden eigentümlich sind, geradezu als Mittelpunkt seines frühen Kafka-Aufsatzes erkennen, wie er dann zu einem viel späteren Zeitpunkt 1953 auch Adornos Kafka-Interpretation durchzieht. Gesten können zwar zumindest in der Literatur ‚nur‘ mit und durch Sprache beschrieben werden, auch grenzwertig mit den offenen drei Punkten bei Kleist an einer bestimmten Stelle der Marquise von O, aber eben um diese zu überschreiten oder, genauer, um den allgemeineren, vorsprachlichen Gestus menschlicher und tierischer Gebärde, der möglicherweise hinter allen Sprachen steht, zurückzugewinnen. Das betrifft eine wichtige These von James Joyce, wonach die Geste der allgemeinste gemeinsame Ausdruck hinter allen Sprachen sei – ‚gesture as the universal language beyond all languages‘ –, eine These nicht zufällig aus dem Ulysses, der wir nicht unbedingt zustimmen müssen, weil gerade auch die Gesten jeweils in den Kulturen unterschiedlich gehandhabt und ausgetauscht werden; etwa wenn wir hier – in Westeuropa – einem Bettler etwas geben und ihm dabei durchaus zugewandt in die Augen sehen und mit ihm sprechen können, wohingegen Antonin Artaud berichtet, dass es bei den Tarahumaras geradezu als abwegig gelte, die Gabe mit einem Blick zu verbinden, weil dieser den Beschenkten dann doch in doppelter Weise beschäme. Unabhängig von dieser Beobachtung verhandelt Adorno die Geste in seiner Kafka-Interpretation als eine Form intermedialer Kommunikation zwischen Körperausdruck, Gebärde und ihrem Niederschlag in der Sprache, auch im somatischen Austausch zwischen Mensch und Tier. Im „heilsamen Eingedenken des Tierähnlichen“ (Adorno 1969: 340) entdeckt Adorno sogar eine besondere Verwandtschaft zwischen Kafka und der Musik Gustav Mahlers und hat denn auch deswegen nicht zufällig diesen Faden später in seinem Mahler-Buch wieder aufgenommen. So untersucht Adorno gerade in sprachlichen Beschreibungen von situativ gebundenen Gebärden bei Kafka eine metasprachliche Kommunikation, um sie einerseits mit dem Ausdruck der Musik zu verbinden, andererseits sie gleichzeitig als Sperrzone zwischen Sprache und Musik zu markieren. Deswegen wird – etwa in Gedichten oder in der Prosa – zwischen „Musikalischem“ und „Musikähnlichem“ (Adorno 1969: 332) unterschieden. Während Adorno mit Kafka das eine als äußerlich abwehrt, wenn es nur auf die musikalische Wirkung bedacht ist, sucht

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er das andere in einem mit der Musik vergleichbaren Verfahren, vor allem der Unterbrechung auf. Wir kennen in der Musik rhetorische Figuren, wie die der Aposiopese, auch syntaktische der Exklamation, Interruptio und des Fragezeichens, wo diese Zeichen der deiktischen Sprache nicht der diskursiven folgen. Auch in der Sprache bezeichnen sie eine Auslassung, in die sich Gestisches hineinsenkt: ein Bild, eine Gebärde, ein Lachen, ein Weinen oder Friedas versteckte Geste, als sie Klamm, ihrem Geliebten, „ihren kleinen Fuß auf die Brust setzt“ (Adorno 1969: 330). Hier also, in der Suspension von Sprache, in der Unterbrechung des Flusses der Musik, wird die Geste sichtbar, fühlbar, spürbar und hörbar. Sie ist ein Einspruch gegen die Diskursivität wie auch noch gegen die Wörtlichkeit von Sprache, dem die Kafka-Lektüre nach Kracauer und Adorno doch folgen soll. Allerdings ist es gerade in dieser Wörtlichkeit als der kleinsten Einheit von Sprache, wo das einzelne Wort über die Phonetik, über das einzelne Phonem eben in eine Unterbrechung mündet, in der sich die Geste, die des beredten oder wirklichen Schweigens zu erheben vermag.

Abb. 1 u. 2: Franz Kafka, Trabe, kleines Pferdchen (fünftes Oktavheft) und Theodor W. Adorno, Trabe, kleines Pferchen, 6 Bagatellen für Singstimme und Klavier, Ms., Kranichsteiner Musikinstitut Darmstadt, Archiv 5863/54. Aufnahme vom Eröffnungskonzert zu den 11. Internationalen Ferienkursen für Neue Musik, 1956. Originaltonträger R 72: IMD, R 82: Band 38; Ro3: 1 Band. Illona Steingruber, Sopran und Eduard Steuermann, Klavier [= 2 Seiten Partitur in der handschriftlichen Fassung von Adorno].

Auf besondere Weise hat Adorno in einem frühen Kafka-Lied von 1942, als er mit der Ausarbeitung seines Kafka-Aufsatzes begann, dies Verhältnis von

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Geste, Sprache und Musik genauer untersucht und zwar an dem eingestreuten Gedicht Trabe, kleines Pferchen aus Kafkas fünftem Oktavheft. Bereits dort, bei Kafka, stellt dieses Gedicht eine Unterbrechung inmitten der Prosa dar, und dies in einem ausgezeichneten Sinn, weil das angerufene Pferdchen am Schluss der Erzählung wieder aufgerufen wird mit der Kehrtwende, dass es gar nicht das eigene Pferd ist, dem die Aufforderung galt, doch nun endlich loszutraben. Dies Gedicht Kafkas lautet: Trabe, kleines Pferdchen, du trägst mich in die Wüste, alle Städte versinken, die Dörfer und lieblichen Flüsse. Ehrwürdig die Schulen, leichtfertig die Kneipen, Mädchengesichter versinken, verschleppt vom Sturm des Ostens. (Kafka 1917)

Zu fragen ist also, wie Adorno dies Gedicht als Komponist und Pianist gelesen und innerlich gehört hat. Warum er es überhaupt ausgesucht hat mit der Fragestellung, was das Musikalische oder eher das musikähnliche Verfahren in diesem Gedicht überhaupt sein kann. Zunächst: Es ist ein durchkomponiertes Lied, dreistimmig, wobei die Gesangslinien ganz eigenständig sind und nicht colla parte mit der rechten Hand der Klavierstimme gehen. Auch finden sich keine Intonationsstützen im Klavier für die Singstimme, sodass diese ganz eigenständig, auch in ihrem rhapsodischen Duktus artikulieren muss. Dennoch ist die Komposition liedhaft in dem Sinne, dass Adorno die Reime bzw. Assonanzen wie Wüste/Flüsse durch Kadenzen und Wortwiederholungen, wie das zweimalige Versinken, im gestischen Umriss eines weitgespannten Bogens miteinander verbindet, wodurch das Ende der fünften Verszeile mit der Mitte des dritten Verses gleichsam chiastisch verknüpft wird. Wie das Lied überhaupt auch der metrisch-rhythmischen Skansion des Gedichts folgt, es trotz der Ausbrüche nicht in musikalische Prosa verwandelt. Auch findet sich Bildhaftes, Onomatopoetisches in den Tonwiederholungen auf ‚Trabe, kleines (Pferdchen)‘ in der Singstimme und mit nachschlagendem Hufschlag der rechten Hand im Klavier. Man hört die Hufe also auf den Pflastersteinen förmlich klappern. Gegen diese semantische und onomatopoetische Einheit wird dann aber frühzeitig die weitausgreifende Bewegung im Klavier gesetzt, ein Ton- und Klangraum aufgezogen, in welchem ‚die Städte, die Dörfer und lieblichen Flüsse‘ ‚in der Wüste versinken‘. Zur dramatischen Szene gesteigert wird der Vorgang dann, wenn nun nicht nur die ‚Städte, Dörfer und lieblichen Flüsse versinken‘, sondern mit der hoch angesetzten Sturzfigur sogar die ‚ehrwürdigen Schulen, die leichtfertigen Kneipen und Mädchengesichter‘. Klimaktisch wird diese Steigerung noch überhöht durch das ein Ton höher

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auf dem a im dreifachen Forte geschriene ver-schleppt, eine Apposition über einer gewaltigen Ausbruchsszene im Klavier, worauf nochmals der Duktus der Singstimme in die Tiefe stürzt. Adorno nimmt hier die extrem ins Weite gezogenen Bewegungen des späteren Anfangs wieder auf, spannt den Wüstenraum in den des Ostens auf, von dem alles frühere Leben wie in einem Sturm davongerissen wird. Wollte man das Gedicht so lesen, wie es Adorno tat, so wird es aus seiner auch konstatierend erzählenden Mitte förmlich herausgesprengt. Bei Kafka steht es noch ganz im Bann der das Gedicht umgebenden Erzählung, bei Adorno wird alles Bildhafte und Bewegungsmäßige in der Vorstellung des Komponisten ins expressionistisch Gestische gesteigert; ein lyrisches Prosagedicht in einem vollkommen anderen Erregungs- und Aggregatszustand. Im selben Jahr 1942 von Adornos Kafka-Lied komponierte der Freund Adornos, Eduard Steuermann, den gleichen Text von Kafka. Es ist dort, in seinem unten zitierten Liederzyklus, das vierte Lied, das nach denjenigen nach Georg Trakl (Im Frühling), nach Hugo von Hofmannsthal (Hörtest Du dem nicht ...), weiter nach Hofmannsthal (Die Liebste sprach ...), ebenfalls auf Kafkas Text Trabe, kleines Pferdchen musikalisch reagiert. Es ist mit dem 03.07.1942 datiert (mit dem zusätzlichen Copyright aller vier Lieder mit 1954 by E. Steuermann) und überschneidet sich damit mit dem Beginn der relativ langen Entstehungsgeschichte von Adornos Kafka-Essay, die von Adorno mit der Komposition des zitierten Klavierlieds auf Kafka begann.

Abb. 3: Eduard Steuermann, Trabe, kleines Pferdchen. Klavierlied vom 03.07.1942. Clara and Edward Steuermann Collection. Box-Folder 16/11.Washington D. C. [= 2 Seiten Partitur in der handschriftlichen Fassung von Steuermann].

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Im Unterschied zu Adorno unterlegt Steuermann bereits zu Beginn die Deklamation der Singstimme mit einer relativ raschen obligaten Begleitfigur, die der Bewegung des ‚trabenden Pferdchens‘ nachempfunden ist. Sie greift denn auch in der Sechzehntelbewegung auch in T. 3 auf die Deklamation der Singstimme über: ‚Du trägst mich in die Wüste‘, eben im Ritt-Rhythmus der obligaten Klavierbegleitung des Beginns. Auch die folgenden Partien zeigen eine enge Verschränkung von Klaviersatz und der Führung der Singstimme vor allem in der rhythmischen Verzahnung einer triolierten Bewegung, die mit den Takten 4-5 auch die Skansion der Singstimme markiert. Überhaupt kann die Beziehung zwischen dem Klavier und der Singstimme als ineinander verschachtelt bezeichnet werden, wohingegen Adorno beide Stimmen weit auseinandergreifen lässt, wodurch sie auch unabhängiger voneinander zu sein scheinen. Besondere Beachtung verdient die Komposition des Schlussverses ‚verschleppt vom Sturm des Ostens‘, den Steuermann wie Adorno auf den Spitzenton a’’’ der Singstimme emporschnellen lassen: Bei Adorno ist jedoch diese Climax bereits mit der Silbe ‚ver-schleppt‘ erreicht, wie bei ihm überhaupt diese Schlussszene in eine gewaltige Ausbruchsszene versetzt ist, die dann über gehaltenen Klavierklang und Tremolobewegung die Singstimme in die Tiefe stürzen lässt. Steuermann nimmt zwar auch als äußerste Steigerung diesen Spitzenton a’’’ in der Singstimme in Anspruch, aber erst mit der letzten Silbe ‚des Os-tens‘ und lässt dann mit einer Sturzfigur der rechten Hand das musikalische Geschehen in die Tiefe brechen, fest- und aufgehalten von dem Liegeton g der linken Hand und dagegengesetzt die deutlich gesteigerte obligate Rhythmusfigur des Beginns, schroff als Quintole mit Akzenten hervorgestochen. Es liegt auf der Hand oder pianistisch gesprochen in den Händen der beiden Komponisten, die zugleich exzellente Pianisten waren, dass sie sich, wie der Briefwechsel zeigt, in Sachen Komposition bestens verstanden und dass Steuermann es außerordentlich bedauerte, dass sein Freund spätestens mit der Rückkehr aus dem Exil das Komponieren ganz aufgab. Die Verbindungslinie beider über die Liedkomposition Franz Schuberts, den beide so verehrten, kann hier schließlich auch den gravierenden Unterschied deutlich machen. Hielt Franz Liszt bei den Liedern Schuberts fest, dass sie noch ganz Lied blieben, ohne die Szene ausdrücklich zu suchen, so kann bei Steuermann festgehalten werden, dass er noch eine inwendige Verwebung von Singstimme und Klavier aufsucht, ohne die beiden Stimmen grundlegend auseinandertreten zu lassen wie Adorno, der sowohl den Klavierpart als auch die Singstimme jeweils für sich bestehend, beide Stimmen in die Extreme führt, um sie einer dramatischen Szene zu überantworten.

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Eine deutliche Verbindungslinie in der Geschichte der Kompositionen auf Texte von Franz Kafka verläuft, wie wir noch sehen werden, von Ernst Kreneks auf der Überfahrt ins amerikanische Exil geschriebenen 5 Liedern nach Worten von Franz Kafka (Krenek 1985; [Zenck 2000: 136-140]); aus dem Jahre 1937/38) über Adornos 1941 komponiertes Klavierlied Trabe, kleines Pferchen bis hin zur Kafka-Kantate Auf der Galerie von Eduard Steuermann, seinem letzten Werk, das er noch 1964 kurz vor seinem Tod in New York abschließen konnte. Für die Komponisten Krenek, Adorno und Steuermann, ebenso wie für den Denkbildner Benjamin ist Franz Kafka ein Dichter im Exil, der sie dorthin ins Unbehauste, Fremde, Ungewisse und Unheimliche begleitet. Bei Ernst Krenek ging diese Identifizierung Kafkas mit der Fremde so weit, dass er auf der Flucht vor den Nazis in den Hotelzimmern von Warschau, Helsinki und auf dem schwedischen Dampfer von Göteborg nach London noch im Jahr seiner Kafka-Gesänge die Erzählung Die drei Mäntel des Anton K. niederschrieb (Krenek 1965).

2. Benjamin Bei Walter Benjamin findet sich der scheinbar unauffällige Hinweis in seinem 1934 in der Jüdischen Rundschau erschienenen Aufsatz mit dem Titel Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, wo es kurz nach Einführung des Potemkinschen Dorfes als einem Modell für Kafkas Parabeln heißt: Wie Lukács in Zeitaltern so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus sonderbarem Anlaß klatschen Kafkas Figuren in die Hände. Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, daß diese Hände eigentlich Dampfhämmer sind. (Benjamin 1977a)

Diese von Benjamin zitierten ‚Hände‘, die bei Kafka als ‚Dampfhämmer‘ das Zirkuszelt zusammen mit dem dort aufbrausenden Blasorchester, dem Applaus und der Lüftungsapparate zu einer einzigen Klangmaschinerie werden lassen, dieses kleine, unauffällige Zitat also bei Benjamin weist auf den legendären Text der Erzählung Auf der Galerie von Franz Kafka hin. Wie wir noch sehen werden, spielen diese ‚Hämmer und Hammerschläge‘ nach Benjamin dann weiter in der Figur des Sancho Pansa und der des Vaters eine entscheidende Rolle. In Kafkas Parabeln wandern Motive, also auch die der Hämmer und Hammerschläge von Ort zu Ort, um sich dort zu verwandeln. Vergleichs-

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weise hat auch Benjamin dies Verfahren nachgeahmt und in seine Denkbilder, zwischen dem von Neapel und dem Kafka, eingefügt. Es kommt im Folgenden nun nicht darauf an, den facettenreichen Aufsatz Benjamins in allen seinen Aspekten zu diskutieren (Neumann 2011b), wie sie nach langer und anhaltender Auseinandersetzung mit Gershom Scholem und Werner Kraft 1934 im Pariser und im dänischen Exil in unmittelbarer nachbarschaftlicher Nähe zu Bert Brecht entwickelt wurden, sondern hier sind einschlägige Motive aufzurufen, die Kafkas Verhältnis zur Musik und dasjenige Benjamins zu beiden betreffen, eingeschlossen das Kreatürlich-Animalische zusammen mit der Musik. Da gibt es zum einen das Motiv mit der Frage, warum bei Kafka die Sirenen schweigen und was es mit Kafkas Kinderbildern, in das die Musik mit dem Volkslied vom Bucklichten Männlein immer wieder verwoben wird, auf sich hat. Bei Benjamin, so eine Seite der Überlieferung in der Erzählung dieses Mythos von den Sirenen, schweigen die Sirenen aus dem Grund, weil sie Odysseus durch ihren Gesang nicht bezwingen konnten. Aus Ohnmacht darüber, dass ihre Verführungskraft durch den Gesang nicht mehr wirkt, schweigen sie lieber, weil die viel schlimmere Bestrafung, die viel grausamere ‚Waffe‘ nach Benjamin darin besteht, statt des betörenden Gesangs zu schweigen. Eine andere Version des Mythos besteht darin, wie es die Bildtradition, etwa de Paolo de’ Mateis im frühen 18. Jahrhundert, mit der Parthenope und ihren beiden Schwestern, den Sirenen Leucosia und Ligeia erzählt. Demnach stürzen sich die drei Sirenen aus Verzweiflung ins Meer. Kafkas Text Das Schweigen der Sirenen steht also insgesamt im kontroversen abendländischen Körperdiskurs, wie ihn Jean-Luc Nancy in Noli me tangere skizzierte: Entweder werden die Körper und ihre Gefühle überwältigt, auch durch den Gesang der Sirenen, oder es gibt ein Berührungsverbot mit dem „Schweigen der Sirenen“, das gleichwohl viel schwerer wiegt. Ich erwähne dies auch, weil die Spannung zwischen Odysseus und den Sirenen für den Gründungsmythos der Stadt Neapel verantwortlich ist, der Stadt, welche ich zuvor mit Benjamins „Denkbild“ (Benjamin 1972) bedacht hatte. Denn dort, an Neapel, wahrscheinlich auf der Insel Capri an der Marina Piccola2 oder der amalfitanischen Küste, fuhr der sagenumwobene Odysseus vorbei, wie an den Strand von Neapel der Leib der Sirene Parthenope gespült und diese dann auch in Neapel beerdigt wurde. Wollte man hier Benjamin ein wenig weiterdenken, so stünde diese Stadt eben auch im Sinne von Nancy in der unauflösbaren Dichotomie von Lust-Überwältigung und ihrer Abwehr, die Odysseus durch die List unterläuft, den Gesang der Sirenen zuzulassen, die 2 Dort gibt es heute noch den sogenannten Sirenenfelsen.

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wirkliche Verfügbarkeit aber dadurch zu verhindern, dass er sich am Schiffsmast festbinden und den Ruderern Wachs in die Ohren träufeln ließ, sodass sie dem überwältigenden Gesang nicht verfallen konnten. Kafka hat auf seine Weise diesen Mythos erzählt, weil die Überwältigung durch Musik, durch den Gesang der Sirenen, wenigstens nach Benjamin noch ein „Ausdruck oder wenigstens ein Pfand des Entrinnens wäre, ein Pfand der Hoffnung“ (Benjamin 1977a), während Odysseus’ Abwehr eines solchen Ausdrucks, das An-sichabgleiten-Lassen des Blicks und des Gesangs der Sirenen, zwar den Mythos der Verführung bannt, ihm aber gerade dadurch verfällt. Im Zentrum aber – wie auch an entlegenen Stellen des Kafka-Textes von Benjamin – steht der Gestus, der als vorsprachliche und metasprachliche Gebärde sich mit dem Ausdruck und der Gangart der Tiere und der Musik verschwistert. Hier ist Benjamins Nähe zur Musik am unmittelbarsten gegeben, denn sie folgt nach James Joyce, bezeichnenderweise im Ulysses, einem allgemeinen Gestus, der noch hinter allen Sprachen verschiedenster Art steht. In Benjamins Deutung von Kafkas Text Das Schweigen der Sirenen gibt es einen Satz, der einen deutlichen Vorgriff auf die Dialektik der Aufklärung, genauer dort auf die ‚Logik der Selbsterhaltung durch Täuschung‘ verzeichnet, mit der Odysseus seinen Namen zugleich sagt und nicht sagt, in dem er sich als ‚Oudéis‘, als Niemand und Odysseus zugleich, dem einäugigen Riesen Polyphem vorstellt. Aber bereits bei Benjamin heißt es gut elf Jahre vor Adorno und Horkheimer: Odysseus steht ja an der Schwelle, die Mythos vom Märchen trennt. Vernunft und List hat Finten in den Mythos eingelegt; seine Gewalten hören auf, unbezwinglich zu sein. (Benjamin 1977a: 415)

Es ist dies genau die List der Vernunft, mit der sich nach Horkheimer/Adorno der Logos dem Mythos einschreibt, um seine Macht zu bannen, um ihm gleichwohl im selben Augenblick zu verfallen. Ganz direkt hat Benjamin diese Figur des listenreichen Odysseus einmal im angeführten Zitat aufgerufen, wo er die Grenze und den Übergang vom Mythos zum Märchen markiert, zum anderen fast gleichzeitig wieder in seinem Text Was ist episches Theater? in der verwandelten Figur des Herrn Keuner, von dem es lapidar heißt: Einen solchen Fremden kennt man aus Brechts Versuchen: einem schwäbischen ‚Utis‘ [Oudéis], ein Gegenstück zu dem griechischen ‚Niemand‘ Odysseus, der den einäugigen Polyphem in der Höhle aufsucht. (Benjamin 1977b: 523)

Es ist unverkennbar, wie weit die Zeichen der Odysseus-Deutung bei Benjamin über Kafka und Brecht hin zur Dialektik der Aufklärung vorausweisen. Nicht minder bedeutsam ist der Sachverhalt, dass die bereits diskutierte Funk-

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tion des Gestischen, wie wir sie von Benjamin auch bei Adorno vorgeführt haben, wiederum auf Brecht, auf dessen Konzeption des epischen Theaters und auf Benjamins Text Was ist episches Theater? hinweist. So sehr beide Auffassungen des Gestischen auch zu unterscheiden sind, so sehr besteht Einmütigkeit in der Abweisung eines bloß ausgestellten Gestikulierens, worin sich eher die Überdeutlichkeit, die Überwörtlichkeit der Sprache zeigen würde als die Scham der Gebärde. Gleichwohl besteht das Verbindende in der Auffassung, dass das Theater das Modell kat’ exochen ist, in dem Gesten verhandelt werden, und zwar ohne jegliche symbolische Fixierung, sondern wie es mit Blick auf das epische Theater Brechts und dasjenige Kafkas im Naturtheater von Oklahama heißt: Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Haus aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen. (Benjamin 1977a: 418)

Die Gesten bedeuten also losgelöst von der jeweiligen Situation keineswegs immer das Gleiche, sondern verwandeln sich je nach der Konstellation auf der Szene, in der sie aufgerufen und verhandelt werden. Verkürzt dargestellt besteht der genaue Zusammenhang in der Auffassung des Gestischen zwischen Brecht und Kafka darin, dass Gesten zwar unausgesprochen im Vorhinein für eine Responsivität zwischen den Akteuren sorgen, dass sie aber zugleich etwas vollkommen Unabsehbares haben, wovon Benjamin schreibt: Die größte Rätselhaftigkeit mit größter Schlichtheit verbindet dieser Gestus als tierischer. Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann auf den Namen des Geschöpfs – des Affen, des Hundes oder des Maulwurfs – so blickt man erschrocken auf und sieht, daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat dann an ihr [der Gebärde] einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen. (Benjamin1977a: 419f.)

Es ist dies Unabsehbare des Gestus, das seine kommunikativen und zeichenhaften Voraussetzungen hat, welche dann doch konkret durch die Gebärde unterlaufen werden. Insofern ist ein Vergleich mit den Zeichen der Notation einer Partitur sinnvoll, um dies zu verdeutlichen. Zum einen sind diese Zeichen, die Notate, gefrorene Tathandlungen, die ihrerseits auf die Vorstellung des Dirigierens zurückgehen, zumindest im Sinne Wittgensteins auf eine Bewegungssuggestion. Doch wenn sie dann während der Aufführung durch gestische Bewegungen aktualisiert werden, entsteht wiederum etwas ganz anderes

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als das, was doch über die gestische Vorstellung der Partitur eingeschrieben wurde. Also auch inmitten der Musik als einem anderen Archiv der Zeichen als im Theater Kafkas und Brechts, das bei Benjamin das Modell für den Gestus abgibt, gilt also auch hier das Unabsehbare, das sich über den Gestus zwischen den Menschen und vielleicht auch zwischen den Tieren ereignet. Benjamin hat diesen Überlegungen im fünften Abschnitt Der zitierbare Gestus in seiner Studie über Was ist episches Theater? (Benjamin 1977b) noch eine zusätzliche, gleichwohl noch ganz andere Wendung gegeben. Danach ist der Gestus im Theater nicht eine Kommunikationsform für sich, sondern eingebunden in den dramatischen Diskurs, wo er allerdings bei Brecht vor allem eben von einem bestimmten Gestus unterbrochen wird, und zwar von dem des zitierten. Das Zitat ist danach wesentlich „Unterbrechung“ (Benjamin 1977b: 536), auch weil mit ihm und in ihm etwas ganz anderes, dem Text Vorausliegendes wie ihn Übersteigendes hervortritt. Obwohl das Zitat sich also einem Akt der Verfügung verdankt, ist es, um den Bogen wieder mit Benjamins Kafka-Exegese zu schließen, etwas Unabsehbares. Mit dem ‚zitierten Gestus‘ wird also im dramatischen Diskurs geradezu paradox eine Unterbrechung erzeugt, in welcher weniger die Semantik der zitierten Sprache als vielmehr die mit ihr verbundene Gebärde des Sprechens wirksam wird, bei welcher – noch vor der Niederschrift – Hand und Mund eine einzigartige Einheit bilden. Kafka, so ein erstes vorläufiges Fazit, hat in der Deutung von Benjamin und Adorno zwei ganz entscheidende Aspekte aus der Reflexion hervorgetrieben: einmal die Insistenz auf der Gebärde noch vor dem Wort und dem Wörtlichen gegenüber dem Symbolischen, zum anderen im Gestischen das Innewerden der animalischen in der menschlichen Natur, von der wir gewöhnlich behaupten, sie sei doch höherer Art als die der Tiere, was Kafka zutiefst in Zweifel zieht. In der doppelten Perspektivierung der Geste zeigt sich zugleich ihr zwingender Zusammenhang mit der Musik: einerseits im Formdiskurs beheimatet zu sein, der sich gleichwohl unterbricht, um der Gebärde eine eigene Stimme und einen eigenen Ausdruck zu geben; zum anderen im Unabsehbaren einen Augenblick aufzusuchen, in dem noch jede vorgängige Responsivität und Kommunikation unterlaufen wird.

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3. Auf der Galerie. Eduard Steuermanns Kafka-Lektüre Kafka: Auf der Galerie Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das – Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters. [Sopr. Alt] Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, [Publikum] welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich [monatelang] sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester [Orch. tacet] mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, [T. 45 „Fanfaren“][T.49] legt [Coda] der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen. (Kafka 1994: 262f.; Herv. und Ergänzungen Eduard Steuermann)3

In einem ersten Zugang zu Kafkas Parabel nur über das Sprechen und über das Sprechbare können wir leicht anhand der gängigen und käuflich erwerbbaren Rezitationen erkennen, wie schwer dieser Text zu lesen ist. Besteht er doch recht eigentlich nur aus zwei Sätzen, deren einer damit endet, dass das gerade Erzählte so gar nicht der Wahrheit entspricht: ‚Da es aber nicht so ist‘, während der zweite Satz mit der ganz anderen Version der Geschichte die Wahrheit beansprucht mit der etwas angehängten Erklärung: ‚da dies so ist‘. Obwohl nun diese beiden Sätze unterschiedliche Wirklichkeiten oder auch ganz einander entgegengesetzte Berichte wiedergeben, werden sie doch 3 S. zur Abschrift Eduard Steuermanns den zweiten Beitrag von Martin Zenck in diesem Band.

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wiederum aufeinander bezogen durch die Entsprechung, dass einmal der Galeriebesucher mit dem laut schallenden ‚Halt‘ der zirzensischen Vorstellung Einhalt zu gebieten versucht, zum anderen darin, dass diese erzwungene Unterbrechung, von der wir nicht erfahren, ob sie gelingt, ihr Pendant darin hat, dass der Zirkusdirektor im zweiten Satz ebenfalls das Orchester beschwört, ‚es möge schweigen‘.4 Die Parabel Auf der Galerie Kafkas wäre also in dieser Spannung eines Doppelgesichts der Erzählung zu lesen und, was noch viel wichtiger wäre, der Atemlosigkeit der erzählten Geschichte gerecht zu werden. Denn das Herabstürzen des Galeriebesuchers, das unsinnige und wirbelnde Treiben im Zirkusakt zweifacher Art versetzt doch zusammen mit dem Rauschen des Orchesters, dem Brausen der Klimaanlage und dem Beifallsgeklatsche die Erzählung in einen Zustand einer immer größer werdenden Unruhe, die alle erfasst, auch den Leser und gegebenenfalls den Rezitierenden, sodass einem schwindlig werden könnte. Und diese erzeugten Schwindelgefühle sind für diese Parabel ganz zentral.5 Ob nun der Lesende/die Rezitatorin diesen Vorgang gleichsam aus der Distanz nur objektiv darstellen oder sich doch der Atemlosigkeit überlassen soll, welche die Erzählung in einen wahrhaften Strudel hinreißt, mag eine offene Frage sein, bei der ich mich, könnte ich diese Geschichte überhaupt so angemessen lesen, eindeutig für die zunehmende Raserei entscheiden würde. Zumal die Sprache Kafkas die in zwei 4 Wir haben während der Konferenz über die Schwierigkeit, Kafka zu lesen, diskutiert und das galt überraschenderweise auch für Kafka selbst, dem ‚Die Mündlichkeit des Vortrags‘ eine große Schwierigkeit darstellte, an der er häufig zu scheitern drohte. Daraus ergab sich mit dem Diskussionsbeitrag von Gerhard Neumann der Vorschlag, von der ‚Materialität der Sprache‘ bei Kafka zu sprechen, einer Sprache, die nicht nur dem Phonozentrismus von Derridas Schrift Die Stimme geschuldet ist, sondern insgesamt das Sprachorgan des ‚Maulwerks‘ auch im Sinne von Dieter Schnebel einschließt (s. a. den Hinweis auf den verlängerten Kinderwunsch Kafkas, er wolle vor einem riesigen Publikum die ganze Éducation sentimentale von Flaubert lesen; Neumann 2011a: 50). Alice Stašková machte aber ergänzend in der Diskussion darauf aufmerksam, dass die Physis nicht nur den Sitz der Sprache in der Glossis meint, sondern eben auch und insbesondere bei Kafka den ‚körperlichen Vorgang des Schreibens‘ einschließt, wodurch eine ausgesprochene Komplementarität zwischen der ‚Materialität des Sprechens und des Schreibens‘ zugrunde gelegt werden sollte. 5 Nach der schwindelerregenden Schwindelforschung, einem ehemaligen Sonderforschungsbereich an der Freien Universität Berlin, ist für diesen Schwindel eine mögliche Sturzgefahr ausschlaggebend, und diese ist sowohl vom herabstürmenden Galeriebesucher als auch vonseiten der Tänzerin auf dem Pferd gegeben. Wenn man also, so eine zentrale These der Schwindelforschung, sicheren und festen Boden unter den Füßen hat oder wenn man festgebunden ist am Fels im Gebirge oder, noch besser, an einem Mitwanderer festgezurrt, dann kann einem nicht schwindlig werden.

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Sätze gedrängte Erzählung ohnehin mit immer größer werdender Unruhe, mit rudernden und rotativen Bewegungen erfüllt. Wir werden daher später zu fragen haben, wie der Komponist Eduard Steuermann diesen Text Kafkas gelesen und für sich und uns in Musik übersetzt hat. – Doch zunächst über einige Aspekte der Entstehungsbedingungen, innerhalb derer Kafka möglicherweise diese Parabel erfunden hat. Vielleicht hatte Kafka, als er den kurzen Prosatext Auf einer Galerie 1919 erfand, das bekannte Bild Le cirque von Georges Seurat vor Augen. Auch war das Thema des Zirkus um die Jahrhundertwende und dann danach auch vor allem in den Bildern von Picasso, Max Beckmann und in der damaligen zeitgenössischen Literatur und Musik insofern zentral, als es die menschliche Natur entweder auf die wilde und unbändige, allerdings auch domestizierte projizierte oder im Menschen überhaupt seinen jederzeit losgelassenen Instinkt des Animalischen hervorhob. Auch könnte hier schon der für Kafka direkt oder indirekt so wichtige andere Grundlagentext über das Zirzensische von Frank Wedekind mit dem Titel Zirkusgedanken aus dem Jahre 1878 und Im Zirkus von 1888 herangezogen werden. Vom Widmungsträger Soma Morgenstern, dem Steuermann seine Kafka-Kantate zueignete, wissen wir, dass er einerseits Alban Berg zur Komposition der Oper Lulu eben nach Wedekinds Der Erdgeist und Die Büchse der Pandora riet, zum anderen, und dies ist sehr wahrscheinlich, dass er es auch war, der Steuermann auf die Bedeutung der musikalischen Szenerie des Kafka-Textes Auf der Galerie hinwies. Damit haben wir für den frühen Text Kafkas von 1919 Auf der Galerie eine deutliche Verbindung über Soma Morgenstern von Wedekind zu Kafka. Die KafkaForschung von Isolde Schiffermüller (2011) und Norbert Christian Wolf (2014) hat diese Verbindung zwischen Wedekinds ebenfalls so atemlosen, nur aus wenigen Sätzen bestehendem Text im Zirkus direkt mit Kafkas Parabel Auf der Galerie verglichen, ohne sich dabei sicher sein zu können, ob Kafka diesen Text von Wedekind wirklich kennen konnte. Dennoch, und dies ist der Unterschied um das Ganze im Verhältnis von Kafka zu Wedekind: Bei Kafka werden zwei gegenläufige Geschichten erzählt, welche sich wechselseitig falsifizieren und dann auch wiederum aufheben im Traum des Galeriebesuchers, sodass Realität und Fiktion, das Imaginäre und das Wahre auf vergleichbare Weise jeweils und zusammen bestehen können. Auch, und das ist ebenso der entscheidende Unterschied, wird bei Wedekind zwar der Blick von oben auf die Szenerie in die Sandarena geworfen, aber keiner der Galeriebesucher stürzte herab wie bei Kafka und keiner versuchte, wie der Zirkusdirektor und der Galeriebesucher, dem Ganzen höchst energisch Einhalt zu gebieten, wodurch das vorige wie anschließende tumultuöse Treiben ja noch viel heftiger,

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eben wegen der zweifachen Unterbrechung, gerät. Zum Vergleich mit Kafkas Auf der Galerie sei hier Frank Wedekinds Text Zirkusgedanken wiedergegeben: Wenn der alte Glanz von tausend flimmernden Lichtern in die Arena fällt, wenn rings in den Logen des Amphitheaters sommerlich-tropisch-bunt farbige Toiletten sich neben ernsten, in Gold und Silber blickenden Uniformen erwartungsvoll hin- und herbewegen, während die breiten Fächer sich rasch und rascher in den schmuckreichen Händen schaukeln, wenn dann die ersten mächtigen Klänge eines herzbestrickenden Walzers die Luft erschüttern und plötzlich, gleichsam wie aus einem einzigen, unsichtbaren Mörser geschossen, sechs Trakehner, in unbändigem Galopp sich überholend, hereindrängen, je zu drei und drei die Bahn durchmessend, auf einen Wink, einen Blick ihres Herrn sich drehend, sich wendend, nach rechts und links, ein -, zwei -, dreimal hintereinander ohne Tempo und Richtung zu verlieren, wenn sie wieder vereinigt Flanke an Flanke, eine breite, festgeschlossene Front, den Führer umkreisen, der am äußersten Flügel den Boden stampfend, ohne vom Platz zu weichen, sich um die eigene Achse dreht, und wenn sich nun einmal die ganze Schar in imposanter Parade emporbäumt und unter schmetternden Fanfaren, die mähnigen Häupte stolz zurückgeworfen, die Vorderfüße hoch in der Luft, einer gewaltigen Meereswoge gleich, auf den Zuschauer einmarschiert – wer wäre da Philosoph, Schulmeister oder Teesider, kurz, wer wäre Bärenhäuter genug, dass das Blut in die Wangen jagte und Gefühle und Gedanken im allgemeinen Wechsel mitrisse. (Wedekind 1990: 355)

Jedenfalls, um auf Kafkas Parabel hier direkt einzugehen, reißt Kafka den Menschen – die Tänzerin, den jungen Mann auf der Galerie wie den Zirkusdirektor – in dies unbändige Geschehen einer zirzensischen Performance hinein, an der nicht ganz unwesentlich wilde Pferde sowie ein stilisierter „Apfelschimmel“ beteiligt sind. Geradezu wird die animalische Natur auch des Zirkusdirektors mimetisch nachgebildet, wenn er der ‚schönen Dame, weiß und rot‘ gekleidet, ‚in Tierhaltung ihr entgegenatmet‘. Unverkennbar haben wir hier einen animalischen Hauch in der Übertragung vom Tier auf den Menschen, ein Vorgang, der sich bei Kafka nach der Einsicht Benjamins so weit vom Menschen ablöst, dass wir zuweilen nicht wissen, ob wir uns unter Tieren aufhalten oder unter Menschen. Nicht unwesentlich partizipieren an dieser nicht synkratischen Mischung von Mensch und Tier auch die Musik das „nicht aussetzende Brausen des Orchesters“, das ständig in dasjenige der lärmenden Maschinen der Ventilatoren übergeht, wobei auch von Kafka wiederum ein besonderes Verfließen der Musik mit dem Menschen unterstrichen wird, wenn sich in die ‚brausende (Marsch-)Musik‘ das ‚anschwellende Beifallsklatschen der Hände mischt‘, von denen Kafka sagt, dass sie ‚eigentlich Dampfhämmer‘ seien. Damit gehen perkussive Marschrhythmen und heftig taktiles, maschinenähnliches Beklatschen nochmals eine besondere Verbindung ein, eine des Rhythmus als Urelement der Musik im Sinne von Henri Meschonnic und der korrespondierenden ekstatischen Körperbewegung, aus der heraus Musik generell wohl entstanden ist.

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Ohne hier Kafkas Erzählung Auf der Galerie, die selbst musikalisch, d. h. mitreißend und doch formal strikt, d. h. verändert reprisenhaft konzipiert ist, nun noch näher in den Blick und ins Ohr zu nehmen, liegt es auf der Hand, dass ein meisterlicher Komponist wie Eduard Steuermann, der zwar der Haupt- und Hauspianist im unmittelbaren Schönberg-Kreis war, vor allem sich auch als Interpret des semiszenischen Stücks des Pierrot Lunaire einen Namen machte und sich dann als Komponist insbesondere nach 1950 vom ‚Banne Schönbergs‘ eben befreite, dass also Steuermann dies Stück Prosamusik von Kafka im Jahre 1964 direkt in Musik setzte – und zwar in einem wahrhaft rauschhaften Vorgang innerhalb weniger als zwei Wochen –, und zwar in eine vokal chorisch wie solistisch besetzte Orchesterkantate. Wie es eine Verbindung zwischen Eduard Steuermann und Teddy Wiesengrund-Adorno bezüglich des frühen Kafka-Liedes Trabe, kleines Pferdchen bereits im Brief Steuermanns vom 28.07.1941 gab: „Stark finde ich das Kokoschka-Lied, ebenso das ‚Pferdchen‘ von Kafka“ (Adorno/Steuermann 1984: 43), so auch ein Austausch zwischen Steuermann und Adorno, als Steuermann kurz vor seinem Tod 1964 in New York noch seine Kafka-Kantate abschließen konnte. Dort heißt es im zitierten Briefwechsel, den Rolf Tiedemann vollkommen verstümmelt und willkürlich in der Auswahl ediert hat, in den beiden letzten Briefen aus dem Jahr 1963 und 1964: Anfangs des Sommers war ich noch voll Energie, nach Komponieren hungernd, habe auch in Hannover eine Art Kantate nach einer Skizze von Kafka (‚auf der Galerie‘) in 12 Tagen komponiert. Soma Morgenstern gab mir die Idee, wie er sie seinerzeit Berg gab. Wenn ich wieder zu mir komme und es auf transparentem Papier kopieren kann, schicke ich Ihnen ein Exemplar. (Adorno/Steuermann 1984:72; Brief von Steuermann an Adorno vom 24.9.1963)

Und im letzten Brief vom 10.07.1964 heißt es: Ich habe während des Jahres außer der Kafka-Kantate, (‚Auf der Galerie‘), für Chor und Orchester (noch nicht instrumentiert), wenig gearbeitet, weil mich Alles noch ziemlich anstrengt; jetzt schreibe ich eine Suite für Kammerorchester und hoffe bald damit fertig zu sein, - - mit der Komposition wenigstens, die Instrumentation wird noch Probleme ergeben, weil es so ‚kammermusikalisch‘ gemeint ist, aber immer wieder mehr orchestral wird. (Adorno/Steuermann 1984: 72; Brief von Steuermann an Adorno vom 10.07.[1964])

Mit einem Tusch wird die Zirkusszene eröffnet. Daraus löst sich ein Sprechgesang, der sich einerseits später fortsetzt und möglicherweise auf das Hüstelnde der „lungensüchtigen Reiterin“ hinweist, zum anderen bewegen sich die auch solistisch besetzten Chorstimmen in Gegenbewegung, singen den Text nicht einfach ab, sondern verschachteln ihn, führen ihn in Überlagerungen weiter, wobei kontrapunktische, weil gegenläufige Bewegungsprinzipien (S. 3

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„in der Manege“) und solche der rhythmischen Dehnung wie Verkürzung wirksam werden (S. 3 „Reiterin“). Dagegengesetzt werden im Orchester kurze, pointierte Gesten eher autonomer Figuration, welche den Fluss der Musik nicht gleichmäßig und in regelmäßigen Metren in Bewegung halten, sondern auf eigenständige Weise die gestische Artikulation der Chorstimmen akzentuieren oder auch kontrapunktieren. Man könnte – um es bereits im Hinblick auf die ersten Partiturseiten vereinfacht zu sagen – davon sprechen, dass hier alle Stimmen, die Chor- wie die Orchesterstimmen durcheinandergewirbelt werden und Erregungszustände der solistisch geführten Chorstimmen auf die Ensemblestimmen abfärben, wie umgekehrt die Orchesterstimmen ihrerseits die Singstimmen vor sich hertreiben. Wie wir von Steuermann im Brief gehört haben, betrifft die Instrumentierung der Komposition, die kammermusikalische wie orchestrale in der Suite für Kammerorchester, auch die Kafka-Kantate. So wechseln sich diese beiden Instrumentationstypen ab, verschränken sich miteinander, so wie die Chorstimmen nur selten colla parte mit den Instrumenten zusammengehen, sondern ihre eigene Ausdruckwelt erzeugen: einmal am Text entlang, ihn zusammen skandierend und phrasierend, zum anderen verschlungen, die Textabschnitte einander überlagernd verteilend, sodass eine musikalische Mise en Scène mit den wirbelnden, Schwindelgefühle erweckenden Figuren im Zirkus entsteht: von oben herab mit dem Galeriebesucher, der herabstürzt, um dem ewig treibenden Einerlei der Szene Einhalt zu gebieten; dann auf der Szene selbst die animalische Begegnung zwischen dem Zirkusdirektor und der Tänzerin auf dem Pferd und schließlich der wohl im Stillen wieder auf die Galerie zurückkehrende Besucher, der alles wie im Traum erlebt hat oder durch ihn erst hervorgebracht hat. Es entsteht so eine unwirklich-wirkliche, zutiefst imaginäre Szenerie, bei der alles so sein kann, wie geschehen, aber auch das Gegenteil. Verismo, Fiktion und das Imaginäre greifen hier also ineinander. Der Text Kafkas lässt sich in vier Teile gliedern, und es wird eine wichtige Frage sein, wie die Musik Steuermanns diese musiktheatrale Szenerie Kafkas auf ihre Weise musikalisch inszeniert. Zunächst verfolgt der Blick des Galeriebesuchers von den oberen Rängen das getriebene Treiben der Zirkusnummer mit der vom Zirkusdirektor durch die Manege gehetzten Kunstreiterin auf einem Pferd, wobei die aufgedonnerte und aufbrausende Marschmusik mit dem Maschinenlärm der Ventilatoren das Ihre tun, diese ohnehin schon aufgeladene Situation zu überheizen. Der Betrachter von der Galerie kann denn solches auch nicht ertragen, stürzt herab, möchte dem Ganzen Einhalt gebieten, indem er ein lautes ‚Halt‘ erschallen lässt. Auf diese Unterbrechung (wir erinnern uns an die zentrale Kategorie bei Brecht und Benjamin), die

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wohl im Imaginären bleibt, folgt in der Erzählung ein dritter Teil mit der vollkommenen Umkehrung der bisher beobachteten Verhältnisse im Sinne einer Parabel mit der das Bisherige grundsätzlichen Einschränkung: ‚Da es aber nicht so ist‘, mit der alles Forcierte und Gewalttätige der Szene entschwindet und zugunsten einer zugewandten, zärtlichen Szenerie verwandelt wird und die ‚schöne Dame, weiß und rot‘ gewandet, geradezu liebevoll vom Zirkusdirektor, dem Publikum und der Klangkulisse empfangen und aufgenommen wird. Es folgt der vierte Teil der Erzählung, die wiederum auch die Umkehrung der Verhältnisse infrage zu stellen droht. Zwar erfolgt die Bestätigung der veränderten Szenerie mit dem ‚da dies so ist‘, aber Kafka legt uns die Auffassung in der Lektüre nahe, dass auch alles in einem ‚schweren Traum‘ geschehen sein könnte und der Galeriebesucher nun wieder oben auf der Galerie als ‚weinend‘ dargestellt wird: ‚ohne es zu wissen‘. Damit entwirklicht Kafka in doppelter Weise die Szene: Die Brutalität eines niemals endenden Ritts durch die Manege weicht zwar einer von zartester Fragilität bestimmten; aber es könnte auch so sein, dass die vorgestellte Verwandlung doch keinen Bestand vor der Wirklichkeit hat und der Galeriebesucher deswegen sein ‚Gesicht auf die Brüstung‘ legt und, im ‚Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.‘ Damit sind die früher diskutierten Aspekte des Gestischen aufgerufen: das unterbrechende ‚Halt‘, das Versinken wie in einem ‚schweren Traum‘, das ‚Weinen‘ über das unglückliche Geschehen, dessen Gewaltsamkeit der Galeriebesucher nicht wirklich unterbinden konnte, sowie vor allem das tiernahe, animalische Anatmen der Zirkustänzerin durch den Zirkusdirektor, bei dem offenbleiben mag, ob er dies tierähnliche Anhauchen mehr zivilisiert wie von dem ‚Apfelschimmel‘ oder wie die ‚wilden Pferde‘ vollzieht. Auf jeden Fall ist es ein animalisches ‚Eingedenken‘ im Menschen, von dem Adorno in seinem Kafka-Essay sprach. Da wir es in Kafkas Erzählung mit einer Parabel zu tun haben, werden die genannten Sachverhalte/Bilder/Winke auf zwei Ebenen in der Gegenrichtung gespiegelt, wobei die für Kafka typische elliptische Konstruktion maßgeblich ist. So tauchen Motive des ersten Teils verkehrt in ihr Gegenteil im Mittelteil wieder auf; so der Aufruf des Innehaltens des Orchesters, das zuvor vom Galeriebesucher gefordert wurde, nun aber vom Direktor beschwörend befohlen wird; weiter die Umkehrung der begierigen Blicke des Galeriebesuchers und Publikums auf die Kunstreiterin, die sie zum Objekt ihrer Begierde und Angstlust machen – sie könnte ja immerhin stürzen –, dass sie nun, als sie sich im Mittelteil vom Publikum angenommen fühlt, das Glück der Anerkennung

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und des Erfolges mit eben diesem, dem Publikum teilen will und somit inmitten ihres Erfolges einer wirklichen Alterität fähig ist. Es gilt nun vor einer weiteren möglichen und sinnvollen Interpretation der Kafka‘schen Parabel ihre Gestalt zu untersuchen, die sie in der musikalischen Mise en Scène der Partitur und der Aufführung einnimmt. Zunächst: Die Musik springt ohne Umschweife und Einleitungen in die Szene hinein. In ihr ist Stimmgewirr in Form von notiertem Sprechgesang zu vernehmen, bei dem zwar der betreffende Ton angesungen wird, aber sofort auch wieder verlassen wird, um mehr zu einem Sprechton zu werden. Daraus entwickeln sich in den Chorstimmen, solistisch besetzt, allerlei schwirrende Stimmen, Serpentinata-Figuren umsingend, labyrinthisch, auch in Kreisbewegungen sich verschlingend. Auch die plötzlichen Suspensionen mit dem gesperrt geschriebenen ‚Halt‘ sind berücksichtigt, finden inmitten plötzlich sich verlangsamender Abschnitte eher improvisatorischen Charakters statt. Auch das diesem korrespondierende ‚Halt‘ des Galeriebesuchers entsprechende Aufforderung des Zirkusdirektors, der vor dem zu erwartenden Salto mortale der Zirkustänzerin mit ‚erhobenen Händen das Orchester beschwört, es möge schweigen‘, beide also: wirkliche Anhalts- und Haltepunkte zwingen die Musik zur Verlangsamung und zum Innehalten, um die Bedeutung des Augenblicks, die besondere Geste freizugeben. Sie ist in beiden Fällen ein sich dem musikalischen Geschehen Entringendes. Überraschend in ihrer Plötzlichkeit, herausgehoben aus dem Fluss der Erzählung wie die der vorbeischwirrenden Musik: eine wirkliche Unterbrechung, welche die Bedingung der Möglichkeit für jegliches Kontinuum der Zeit abgibt. Es ist also nichts bebildert, illustriert nur, sondern alles in Bewegung, in unterschiedliche Bewegungssuggestionen aufgelöst. Auch wie beim Gedicht Trabe, kleines Pferdchen wäre es einen Versuch wert, diesen Prosatext von Kafka einmal nach Maßgabe von Steuermanns musikalischer Mise en Scène zu rezitieren. Aber eines kann und vermag die Musik nicht, jedenfalls versucht es Steuermann nicht, die unerhörte Doppelbödigkeit der Szene zu thematisieren. Denn einmal wird die Möglichkeit einer solchen widerrufen, wenn der Galeriebesucher hinabstürzt in die Manege, um dem unmenschlichen Treiben ein Ende zu setzen mit dem herausgeschrienen ‚Halt‘, wonach Kafka lediglich konstatiert: ‚Da es aber nicht so ist‘, zum anderen wird auch die spätere Beschreibung wiederum Lügen gestraft mit dem ‚da dies so ist‘, weil es doch so ganz unwahrscheinlich ist, was Kafka da beschreibt. Dies führt zu Verwirrungen, zu Schwindelgefühlen, wie sie der Zirkuserfahrung Kafkas vertraut sind, und schließlich zu einer so intensiven Begegnung mit dem Imaginären, dass man nicht mehr weiß, wo oben und unten, rechts und links ist, nicht abschätzen kann, was nur wirklich passiert

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ist. Gut gelesen, müsste also die Lektüre zumindest den Zuhörer in einen Zustand versetzen, bei dem ihm der Boden ganz entzogen ist. War es ein Traum, ein „schwerer“, von dem Kafka spricht, wenn der Galeriebesucher im ‚Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.‘ Auch hier also abschließend eine Gebärde, die des fassungslosen Weinens bei nachlassendem Bewusstsein, auch der Diskursivität der Gedanken und der Sprache.

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Friederike Wißmann

„Einmal brach ich mir ein Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens“. Die Kafka-Fragmente von György Kurtág Die Kafka-Fragmente op. 24 schrieb der 1926 im damaligen Rumänien geborene ungarische Komponist György Kurtág in den Jahren 1983 bis 1987. Die Texte zu den Fragmenten für Violine und Sopran fand Kurtág in Briefen und Tagebüchern von Franz Kafka. Sie wurden aus ihrem Zusammenhang genommen, um durch die Musik nicht nur vertont, sondern in Tönen reflektiert, modelliert und kommentiert zu werden. Kurtágs Kafka-Fragmente knüpfen an dessen durch Ligeti vermittelte Lektüreerfahrung der Verwandlung von Franz Kafka an, sie beinhalten darüber hinaus ein Weiterdenken der von Kurtág lebenslang thematisierten Auswirkungen von Identitäts- und Schaffenskrisen. In den Koordinaten von Selbstkritik und Selbstökonomie ist auch in den Kafka-Fragmenten der Versuch spürbar, „in lauten Wohnungen“, so hat es Wolf Lepenies (2001: 16) einmal formuliert, „die Utopie des schönen, graden Lebens aufrechtzuerhalten.“ Kurtágs selbstkritische Reflexionen „am Rande des Verstummens“ (Spangemacher 1986: 7) rekurrieren auf ein fragiles ästhetisches Subjekt, das sich oft nur indirekt oder äußerst verhalten bemerkbar macht. Gewidmet sind die Fragmente der Psychoanalytikerin Marianne Stein, jener Frau, die den Komponisten in Paris aus einer existentiellen Lebens- und Schaffenskrise herausführte. Im Gespräch mit ihr entwickelte der Komponist das für ihn charakteristische Prinzip der kompositorischen Miniatur. Auch die überwiegende Zahl der 40 Kafka-Fragmente ist nur etwa eine Minute lang. Kurtág war nicht nur behutsam in seinen kompositorischen Prozessen, er suchte sich auch musikalische Formen, die seiner kreativen Bescheidenheit entgegenkamen. In den kleinsten musikalischen Gebilden konzentriert Kurtág komplexe Sujets, während andere Komponisten großformatige Partituren entwerfen. Bekannt ist der Komponist nicht nur für die Konzentration seiner Kompositionen, sondern auch dafür, dass er nur ungern ein Werk zur Aufführung freigegeben hat. Eine Zeile aus dem 27. der Kafka-Fragmente veranschaulicht Kurtágs radikale Auseinandersetzung mit dem Prozesshaften: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“

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Die Gliederung der 40 Kafka-Fragmente ist nur auf den ersten Blick asynchron – so wie die unterschiedlichen Fragmente nur an der Oberfläche disparate Gehalte und Formen aufrufen. In einem ersten Teil finden sich 19 Fragmente, während der zweite Teil nur ein einziges Fragment umfasst. Der dritte Teil beinhaltet 12 und der vierte 8 Fragmente, was eine Ausgewogenheit der Teile 1 und 2 zu den Teilen 3 und 4 bedeutet. Die Partitur der Kafka-Fragmente ist hochvirtuos, wobei der Begriff der Virtuosität hier nicht nur im Sinne von künstlerischer Brillanz zu verstehen ist; sie sind auch in der virtuosen Dramaturgie widergespiegelt: Wie ein roter Faden ziehen sich ausgesuchte Topoi, Figuren und Gesten durch die Partitur. So wie die Bewegung als inhaltliches Scharnier die Fragmente in Beziehung setzt, so findet sich musikalisch das Perpetuum mobile als wiederkehrende Figur. Kurtág wiederholt motivische Einheiten bald unverändert, bald in kleinsten Variationen (Stahl 1998: 139). So wie das Perpetuum mobile fungieren auch Orgeltöne als strukturgebende Elemente, zudem bereichern die Partitur extreme Intervallsprünge und virtuose Läufe, die sich wie Kontrastbilder wechselseitig hervorheben. Kurtág durchmisst in seinen Fragmenten einerseits das Total der Dodekaphonie, doch vollzieht sich dies stets mit der Rückversicherung an den Text. Das Resultat erinnert an ein Oszillieren unterschiedlichster Verfahren in mikroformalen Strukturen, die neben-, über- und ineinander aufscheinen. Beim Aufspüren von Verbindungslinien zwischen den einzelnen Fragmenten ist zunächst augenfällig, dass der Weg ein zentrales Thema ist. Das Weggehen, Fortschreiten und das Wiederkehren sind den musikalischen Miniaturen insofern eingeschrieben, als Kurtág ein Vexierspiel aus Nähe und Ferne auch über die Musik zum Ausdruck bringt. Inhaltlich wie im Umgang mit dem musikalischen Material scheint neben dem Wegethema noch die Auslassung als inhaltlicher Fokus auf. Bemerkenswert ist zudem, dass Kurtág neben dem Zögern, das sich auch durch den Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines jeden Sprechakts artikuliert, noch das Motiv des Tanzes in die Fragmente einarbeitet. Gleich im ersten Fragment sind es ‚die anderen‘, die die Tänze der Zeit tanzen, während in dem Fragment mit dem Titel Szene in der Elektrischen die Protagonistin selbst Tänzerin ist. Das 13. Fragment aus dem ersten Teil, das diesem Beitrag den Titel gegeben hat, ist als Chassidischer Tanz bezeichnet, eine traditionell zur Klezmermusik getanzte Reihenformation.1 1 In Kurtágs Fragmenten finden sich jüdische Motive neben christlichen Symbolen, wie etwa die Kirchenglocke oder die Excommunicatio in I.6. Diese stehen nicht für sich, sondern sind eingebettet in große Themenfelder, wie hier beispielsweise als chassidischer Tanz.

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Neben dem Tanz als Handlung verwendet Kurtág ihn in der Partitur noch als formalen Aspekt, wie beispielsweise im „tempo di valse“.2 Er kommt spielerisch und auch anmutig vor, aber auch verhalten und sogar verzerrt tritt das Tänzerische bei Kurtág in Erscheinung. Claudia Stahl formuliert in ihrer Analyse des Kafka-Fragmente-Zyklus: Der Tanz ist Symbol sorgloser, freier Bewegung und zugleich auch Abbild sinnloser, leerlaufender Motorik und Groteske. (Stahl 1998: 140)

Die Kafka-Fragmente beginnen mit einem Stück, das das Tänzerische dem Gleichschritt gegenüberstellt: Die Guten gehen im gleichen Schritt. Ohne von ihnen zu wissen, tanzen, tanzen, tanzen die andern um sie die Tänze der Zeit die Tänze der Zeit

Während die Violine im ersten Teil mit stampfenden Vierteln die Gesangslinie untermalt, so stehen sich im weiteren Verlauf im Violinpart und im Gesang zwei voneinander verschiedene Prinzipien gegenüber. Das Fragment beginnt nach sechs Vierteln in der Violine in einer fast parallelen Bewegung von Violine und Gesang, doch im Folgenden setzt sich die Geigenstimme tänzerisch von der monotonen, in Sekundschritten wechselnden Begleitung ab. Im Piano bis vierfachen Pianissimo ‚tanzt‘ dazu die Gesangsstimme „staccato, capriccioso e leggiero“, um am Ende „quasi niente, aero“ davonzuschweben. Nicht nur in Bezug auf Material und Verfahren kontrastiert der Komponist Instrumental- und Vokalstimme, sondern er gibt der monotonen Begleitung im Mezzopiano noch die Interpretationsanweisung „indifferente al fine“. Im Unterschied zum ersten Fragment geht das 13. Fragment des ersten Teils von einer erzählerischen Situation aus. 2 Siehe im 7. Fragment des ersten Teils und im mittleren Abschnitt (3. Teil) des 12. Fragments.

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Mit der Wendung „einmal“ beginnend, vermutet man womöglich die Erzählung einer märchenhaften Begebenheit. In Wahrheit folgt eine drastische Wendung durch den nachfolgenden Inhalt: „brach ich mir das Bein“. Das Überraschungsmoment gewinnt noch an Kontur, wenn dieser negativen Aussage eine besonders positive Bewertung folgt. In nur wenigen Worten vollzieht sich eine komplexe emotionale Bewegung, die sprechend ist für Kurtágs gesamten Fragment-Zyklus. Lakonisch und beiläufig wird eine alltägliche Situation benannt, die in Wahrheit auf nichts Geringeres zielt als auf den existentiellen Zweifel. Glück und Schmerz, Todessehnen und Lebenssucht, all dies findet einen Ort im Alltäglichen, scheinbar Banalen. Es wundert nicht, dass Kurtág sich wünschte, dass seine Fragmente nicht auf dem Konzertpodium, sondern im städtischen Raum zur Aufführung kamen.

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Obschon das Fragment im ¾ Takt nur 9 Takte lang ist, weist es eine dreiteilige Gliederung auf, allerdings nicht aus 3 mal 3 Takten, sondern in Einheiten, die 3, 4 und 2 Takte umspannen. In den letzten beiden Takten kehrt Kurtág reprisenartig zum Ausgang zurück. Über die A-B-A‘-Form scheint die Ausgangssituation (also der Beinbruch) am Ende noch einmal auf. Der Komponist weist die Interpreten an, das Beinbruchfragment „mit Humor“ vorzutragen. Die Sängerin vollzieht auf Achteln weite Intervallsprünge und vollzieht daran anschließend noch eine dynamische Wellenbewegung bis hin zum ff nach. Der Geigenstimme eignet ein tänzerisches Moment, zugleich bewegt sie sich – mit den Flageoletttönen, den weiten Sprüngen und den Pizzikato-Einwürfen – an der Grenze des technisch Spielbaren. Eigenwillig wirken Kurtágs Anweisungen dadurch, dass er auf engstem Raum spieltechnische Extreme auslotet. Fast unspielbar sind die Strichtechniken, und auch die bereits erwähnten Flageoletttöne, die der Komponist in unterschiedlichsten Varianten vorsieht, sind dem Instrument nur durch präzisesten Fingersatz abzuringen. Die Dynamik im Violinpart dieses Fragments etwa sieht eine Crescendierung auf dem zweiten Achtel vor, was umso schwieriger zu spielen ist, als der folgende Ton wieder im Flageolett erklingen soll. In Takt 3 flicht der Komponist ein Pizzikato ein und Tonrepetitionen auf Sechzehnteln, die zuerst als Flageolett, dann im Spikkato intoniert werden sollen. Und obschon das Hervorbringen dieser Töne hochanspruchsvoll ist, soll der Geiger im Piano bleiben. Der Komponist notiert dazu: „sempre p, assai ruvido“. Während die Sängerin im virtuosen Gesang die Welt des Kinderlieds aufscheinen lässt, weist der Komponist für den Violinpart eine Bogenführung an, die durchaus nicht jeder Geiger im Repertoire hat. Sie heißt „düvö“ und ist eine Strichtechnik, die in der ungarischen und rumänischen Volksmusik gebräuchlich ist. Vielleicht geht es zu weit, wenn die Achtelsequenz in der Violinstimme als Hinken gehört wird, und wahrscheinlich ist auch der Tonaufschwung auf dem Wort „Leben“ nicht illustrativ zu deuten, doch die vom Komponisten intendierte intensive Wahrnehmung des Strichs macht die Rezeption dieses Fragment zu einem Erlebnis, das dem Textgehalt einen plastischen Resonanzraum gibt. Kurtágs überaus präzise Interpretationsvorstellung erinnert in der Schreibweise an sein pädagogisches Werk Spielen für Klavier. Der Komponist unterstreicht darin, dass er keine „Unterweisung“ (Spangemacher 1986: 10) geben wolle, sondern vielmehr Möglichkeiten anbiete, spielerisch mit dem Instrument in Kontakt zu kommen. Kurtág geht es nicht nur um eine ausgefeilte Qualität der Tongebung, sondern im gleichen Maße auch um die Qua-

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lität der Stille. Deshalb wünscht er, dass seine Interpretationsanweisungen zwar spielerisch umgesetzt, aber doch „todernst“ genommen werden sollen (Spangemacher 1986: 10). Am Ende des dritten Teils der Kafka-Fragmente steht die bereits erwähnte Szene in der Elektrischen. Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen… Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik, fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet, das heißt, wenn nachher nicht eingesammelt wird. Es ist allerdings im Anfang ein wenig überraschend, und ein Weilchen lang findet jeder, es sei unpassend. Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.

Erstaunlich ist die Zäsur zwischen den ersten beiden Formteilen, wenn Kurtág in ein „Tempo di valse“ übergeht, und die Sängerin als Eusebias weitersingt, einem ‚gegenderten‘ Alias von Robert Schumann. Es scheint so, als würden hier ganze Sätze einer Sonate zu wenigen Takten zusammengeschmolzen; zudem entsteht der Eindruck, ganz verschiedene Werke würden extrem verdichtet zum Klingen gebracht werden. Wie beim Versagen der Stimme der Wortsinn in der Luft hängenzubleiben scheint, so steht der Notenklang im Raum – manchmal ausformuliert, dann wieder nur assoziiert. Der Gesangspart geht auf bemerkenswerte Weise auf die Eigenheiten der menschlichen Stimme ein, und auch im Violinpart findet sich eine ausgesuchte kompositorische Spezifik. Sängerin und Geiger/in werden im zwölften Fragment des dritten Teils zu akrobatischen Stimmtänzern. In der Sprunghaftigkeit erinnert dieses Fragment deshalb wieder an einen Tanz, und der Komponist lotet hier aus, was in der Kurtág-Forschung mit dem Terminus der sekundären Unmittelbarkeit zu fassen versucht wurde: „Erst in den Täuschungen und Enttäuschungen, erst in den Verstellungen und Entstellungen einer scheinbar ersten Natur zeigt sich womöglich Authentizität.“ (Zenck 2000: 133) Im Vortrag ergibt sich zwischen Text und Melodieführung ein Spannungsfeld, das sich über der abwechselnd simplen und hochvirtuosen kompositorischen Faktur aufspannt.

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Sowohl in der Intonation wie in der technischen Anforderung, in der Geschwindigkeit der Läufe wie in den überaus komplizierten interpretatorischen Vorgaben ist auch dieses Fragment an der Grenze des Machbaren. In der Geigenstimme finden sich zahlreiche Flageoletttöne, über denen die Sängerin mit akrobatischen Läufen einsetzt. Fast in jedem Takt gibt es eine neue Interpreta-

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tionsanweisung: zuerst „leicht, geschmeidig“, dann „voll und warm klingend“, dann mal „wie aus weiter Ferne“, dann wieder „leicht und geschmeidig“. Die Kurtág-Interpretin Adrienne Csengery erinnert sich daran, dass Kurtág nichts so verhasst gewesen sei wie „theatralische Äußerlichkeit“ (Spangemacher 1986: 59). Als sie sich beim Vortrag seiner Musik einmal schauspielerisch zum Inhalt verhalten habe, habe der Komponist sie scharf kritisiert. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Bühne und verschiedenste Spielarten des Theatralen in seinen Kompositionen präsent sind. Darüber hinaus setzt der Komponist in den Kafka-Fragmenten selbst szenische Gestaltungsmittel ein – etwa in der Pantomime in Fragment I.4. Auf jene Paradoxie angesprochen, soll Kurtág erwidert haben: „Nicht du sollst dich bewegen, deine Stimme soll sich bewegen.“ (Spangemacher 1986: 59) Kurtágs Musik klingt oft so, als würde der Komponist die Interpreten auf ihren Instrumenten zum Sprechen bringen. Damit geht einher, dass der Komponist in seinen Vokalvertonungen mit großer Sorgfalt auf die Textverständlichkeit achtet. Doch die von Kafka übernommenen Zeilen werden selten, wie bei der Sprachklanglichkeit fast naheliegend, phonetisiert. Die meisten Wörter vertont der Komponist syllabisch und übernimmt die Wortrhythmik in den Notentext. In Fragment I. 6. etwa wird dieses Prinzip insofern besonders anschaulich, als das charakteristische Wort „nimmermehr“ rhythmisch aufgegriffen wird. Den Schluss der 40 Fragmente bildet ein Fragment mit dem Titel Es blendete uns die Mondnacht, das im „Lento, flessibile, non strascinato“ ein inniges Duett von Stimme und Violine darstellt. So wie der Titel nicht durch ein Satzzeichen begrenzt wird, sondern mit drei Verweispunkten auf eine mögliche Fortsetzung deutet, so endet dies Fragment mit einer 32tel Pause. Sucht man bei Kurtág eine kompositorische Traditionslinie, dann liegt der Blick auf Anton Webern nahe. Auch Friedhelm Spangemacher setzt Kurtág mit Webern unter dem Aspekt der „Verdichtung musikalischer Fakturen“ (Spangemacher 1986: 6) ins Verhältnis. Doch bei Kurtág gibt es eine große Spannbreite des musikalischen Narrativs, und im Unterschied zu Webern sind Kurtágs Fragmente „spielerischer“, „assoziativer“ (Spangemacher 1986: 6) und im affektiven Radius weiter angelegt. Martin Zenck fasst diesen Aspekt zusammen: „Es ist nicht Weberns Prinzip der Komplementarität, […] sondern das der spannungsreichen Polytonalität.“ (Zenck 2000: 140) Kurtágs Musik ist fragil, zurückhaltend, vorsichtig, tastend, dann wieder schrill und aufbrausend. Oft hat man den Eindruck, dass die musikalische Faktur nicht für sich selbst spricht, sondern als Sprachrohr fungiert – für einen Text, einen Gehalt oder einen verborgenen Sinn. Die stilistische Klavia-

„Einmal brach ich mir ein Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens“

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tur reicht von der musikalischen Illustration bis hin zur formalen Abstraktion. In den Kafka-Fragmenten ist jene Farbpalette trotz der großen Konzentration voll ausgebreitet. Zu hören ist Geräuschhaftes neben Koloraturen (wie im letzten Fragment), Verfremdungen, Dur-Moll-tonale Motive und atonale Passagen. Kaleidoskopartig stehen verschiedenste klangliche Perspektiven nebeneinander, und keine von ihnen behauptet eine übermächtige Präsenz.

Notenbeispiel: György Kurtág, Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24. Edition Musica Budapest.

Literatur Lepenies, Wolf (2001): Ein Held unserer Zeit – Herr K. Über György Kurtág. – In: Musik Texte, 89, 12-16. Spangemacher, Friedrich (1986): Über György Kurtág. Vorwort. – In: György Kurtág. Musik der Zeit 5. Dokumentationen und Studien. Bonn: Boosey & Hawkes. Stahl, Claudia (1998): Botschaften in Fragmenten. Die großen Vokalzyklen von György Kurtág. Saarbrücken: Pfau. Zenck, Martin (2000): Authentizität als Inszenierung in den Kafka-Fragmenten von György Kurtág. – In: Fischer-Lichte, Erika/Pflug Isabel (Hgg), Inszenierung von Authentizität (= Theatralität, 1). Tübingen: Francke, 129-146.

Jörn Peter Hiekel

Gewachsene Freiheiten. Der Umgang mit Kafkas Landarzt-Erzählung in Musiktheaterwerken von Henze und Haas Kann und soll man Weltliteratur wie die von Franz Kafka, Friedrich Hölderlin oder Paul Celan überhaupt vertonen? In der Generation der heute etwa 25-40-jährigen Komponistinnen und Komponisten gibt es nicht wenige, die eine solche Frage recht eindeutig verneinen würden. Motiviert ist diese Haltung wohl erstens durch die Einschätzung, dass andere Bezugsmöglichkeiten ihrem eigenen musikalischen Schaffen stärkere Weltbezüge garantieren, als dies allem Anschein nach durch Texte der genannten Dichter möglich wäre, aber zweitens durch die Erfahrung, dass das Vertonen berühmter Werke der Weltliteratur in den Generationen ihrer Eltern und Großeltern überaus weit verbreitet war (und zum Teil sogar noch ist), sich dabei – über den deutschsprachigen Bereich hinaus – gerade Dichter wie diese einer gewissen Vorliebe erfreuen durften und die Zuwendung zu ihnen fast immer mit existentiellen Akzenten zu tun hatte. Gerade diese Tradition jedoch, durch die Kafka, Hölderlin und Celan (und erwähnt werden könnten auch noch ein paar andere Namen) einen fast kanonischen Rang innerhalb der Neuen Musik erhielten, gilt vielen Jüngeren heute als stark bildungsbürgerlich oder gar als elitär. Und zuweilen konvergiert die Distanz gegenüber dieser Tradition mit der Einschätzung, dass stark existentielle Tönungen generell als obsolet erscheinen. Mit Hans Werner Henze (1926-2012) und Georg Friedrich Haas (geb. 1953) stehen im Folgenden zwei Komponisten im Mittelpunkt, die zwar zu den erfolgreichen Musiktheaterkomponisten der letzten Jahrzehnte gehören, die aber zumindest in jenen Teilen ihres Schaffens, in denen sie sich der Weltliteratur früherer Zeiten zuwenden, einen in der jüngeren Generation weithin unüblich gewordenen Ansatz verfolgen.1 Die Vergleichbarkeit der beiden im 1 Im Schaffen beider Komponisten gibt es freilich jeweils auch gegenläufige Perspektiven – zu denken ist hier besonders an jene Werke, die in Kooperation mit Ingeborg Bachmann bzw. Händl Klaus entstanden, also Der junge Lord (1964) und Der Prinz von Homburg (1958/59; revidiert 1991) bzw. Bluthaus (2011), Thomas (2013) und Koma (2016). Zu Henzes Kooperation mit Bachmann s. Höller (2004).

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vorliegenden Beitrag erörterten Werke liegt zunächst vor allem in der Verwendung desselben Textes – nämlich Kafkas berühmter Landarzt-Erzählung. Die Erörterung der beiden auf diesen Text bezogenen Werke soll die fundamental unterschiedlichen Ansatzpunkte von Henze und Haas verdeutlichen, die sich auch auf einen Punkt beziehen, der für die Diskussionen des Musiktheaters im 20./21. Jahrhundert nicht unbedeutend ist – nämlich die Frage nach dem, was man gemeinhin als ‚Literaturoper‘ bezeichnet.

1. Deutliche Alpträume: Hans Werner Henzes Landarzt-Vertonung Als Hans Werner Henze im Jahre 1951 mit Der Landarzt die erste Kafka-Oper der Musikgeschichte vorlegte, war er selbst gerade erst 25 Jahre alt – und kaum minder als die heutigen Nachwuchskomponisten davon überzeugt, sich von manchen Vorlieben der vorangegangenen Generationen distanzieren zu sollen. Doch gerade Kafka konnte für einen Komponisten wie Henze damals mit guten Gründen keinesfalls eine Sache des Bildungsbürgertums oder gar etwas schon Durchgesetztes sein, sondern eine echte Entdeckung von erheblicher Tragweite.2 Diese war prägend und stimulierend für jenen intensiven Umgang mit Literatur, der fortan eine Konstante seines Schaffens blieb. Henze hatte die Idee zur Landarzt-Oper bezeichnenderweise schon, als er sich selbst in einer von ihm als existentiell bedrohlich empfundenen Situation, nämlich in Kriegsgefangenschaft befand. Er lernte in dieser Zeit der Gefangenschaft den Text auswendig und war sich bei der Lektüre von Kafkas Erzählungen dessen bewusst, dass es sich dabei um eine Form des künstlerischen Ausdrucks handelte, die in vieler Hinsicht unerhört war – und im Deutschland der NS-Zeit verboten. Zu den besonders geläufigen Gefahren des kompositorischen Umgangs mit Literatur von Rang gehört die, dass die verwendeten Werke durch die hinzugefügte Musik einen Teil ihrer spezifischen Intensität einbüßen und dabei unverständlich und/oder verharmlost werden. Bedenkt man dies, dann mag man beim Hören dieser Komposition zunächst erstaunt sein darüber, dass 2 Bei der Uraufführung des Stückes am 19.11.1951 wurde dies dadurch unterstrichen, dass Ernst Schnabel, Intendant des veranstaltenden Nordwestdeutschen Rundfunks, einen Vortrag zu Kafka hielt und man dessen Landarzt-Erzählung vorher verlas.

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hier fast jeder Satz erfahrbar ist. Klare Wortverständlichkeit ist ein Kennzeichen nicht weniger Werke von Henze. Sie bildet eines der wesentlichen Kriterien der sogenannten Literaturoper, die ja nicht zufällig gerade anhand des Musiktheaterschaffens dieses Komponisten entwickelt und erläutert wurden. Es geht in diesem Teilbereich der modernen Oper zunächst schlicht darum, dass das Libretto auf einem bereits vorliegenden literarischen Text (Drama [oder] Erzählung) basiert, [und dass] dessen sprachliche, semantische und ästhetische Struktur in einen musikalisch-dramatischen Text [...] eingeht und dort als Strukturschicht erkennbar bleibt. (Petersen 1999: 60; Oehl 2006: 91)

Diese Erkennbarkeit und leichte Durchhörbarkeit auf allen Ebenen der Komposition ist im Falle von Henzes Landarzt das Resultat einer bemerkenswerten Zurückhaltung. Doch dies alles hängt damit zusammen, dass das Werk in seiner Ursprungsgestalt als Funkoper entstand. Nicht auf die große Operntradition von Monteverdi bis Alban Berg mit ihren in ihrer jeweiligen Zeit oft geradezu waghalsig komplexen künstlerischen Lösungen wird man an diesem Punkte verwiesen, sondern eher auf jenen Bildungsauftrag, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit besaß – und der ja nicht nur eine gezielte Förderung der Neuen Musik, sondern zugleich auch eine der modernen Literatur zum Inhalt hatte. Beide Förderungsabsichten konvergierten damals außer im Genre des Hörspiels – das übrigens in beiden deutschen Staaten intensiv gepflegt wurde – gerade im Genre der Funkopern. Funkopern gab es punktuell auch bereits seit Ende der 1920er-Jahre. Und seit damals sind die Grenzen zwischen Hörspiel und Funkoper immer wieder fließend gewesen. Hans Werner Henze hat sich mit Ein Landarzt, auf den Spuren von Bertolt Brecht, Kurt Weill und Paul Hindemith wandelnd, erstmals diesem Genre gewidmet, kurz danach schrieb er für den Nordwestdeutschen Rundfunk auch die Funkoper Das Ende einer Welt nach Wolfgang Hildesheimer. Den Vorgaben des Genres entsprechend ist Henzes in 14 kurze Teile untergliederte Kafka-Vertonung nur knapp 26 Minuten lang. Nichts wird breit ausgemalt, auch auf ausführliche Zwischenmusiken wird verzichtet. Das beschert dem Ganzen ein gewisses Maß an Nüchternheit. Diese Tendenz wird durch den vorherrschenden Rezitationsstil und den weitgehenden Verzicht auf ‚klassischen‘ Gesang ebenso verstärkt wie durch die einfache Rhythmik und die weitgehende Vermeidung von pathetischen Gesten. Tiefe Emotionalität ist, diesem für Henzes Ästhetik durchaus typischen künstlerischen Konzept zufolge, einigen Stellen vorbehalten, die dadurch besonders hervortreten. Zu nennen sind hier in erster Linie jene ariosen Passagen, bei denen

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die zeitweise verdrängte Leidenschaft des Landarztes für Rosa sichtbar wird (Oehl 2006: 96). Gewiss nicht im Widerspruch zu dieser Tendenz zu Klarheit und Zurückhaltung steht die Tatsache, dass Henze das Werk zwölftönig anlegte – gehört doch zur Rezeption der Zwölftonmusik, vielleicht sogar zu ihrer Aura, bereits seit den 1920er-Jahren ihr Vermögen, im Sinne der in allen Künsten spürbaren Neuen Sachlichkeit zu wirken. In einzelnen musikanalytischen Studien zu dieser Komposition (Oehl 2006: 91) ist dargelegt worden, dass es erstens eine Landarzt-Reihe gibt und zweitens ein dem Pferdeknecht zugeordnetes Motiv, welches erkennbar aus jener Reihe abgeleitet ist. Insofern darf man davon ausgehen, dass die in der literaturwissenschaftlichen Diskussion vorherrschende Auffassung, der zufolge der Pferdeknecht eine Art Alter Ego des Landarztes ist, im Tongefüge von Henzes Oper bekräftigt wird (Oehl 2006: 95). Der Komponist hat Mitte der 1950er-Jahre mit Blick auf das Genre geäußert: „Eine Funkoper trägt nur dann ihren Namen zu Recht [...], wenn sie für die Bühne unmöglich ist.“ (Oehl 2006: 84) Dennoch war Henze selbst daran beteiligt, dass das Werk bereits im Jahr 1953 in Köln unter Verzicht auf alle wirklich spezifischen radiophonen Gestaltungsmittel in einer Bühnenfassung präsentiert wurde. Da diese jedoch auch von manchen wohlmeinenden Kritikern als zu harmlos und unattraktiv wahrgenommen wurde, gab es später noch weitere Neufassungen des Stückes – zuletzt 1994 eine Konzertversion, für die Henze mit deutlichem Bezug zur frühen Funkfassung gezielt auch elektronische Mittel nutzt, aber zugleich das ‚Opernhafte‘ etwas intensiviert. Zweifellos tritt nun, da das Ganze zwischen sachlichen und emotionalen Momenten deutlicher oszilliert, die oft als surrealistisch bezeichnete Dimension des Kafka-Textes markanter hervor. Zugleich wird der Eindruck verstärkt, dass der innere Monolog zum Alptraumhaften tendiert – und noch stärker als in der ursprünglichen Version wird zugleich eine gewisse Nähe zur spezifischen Expressivität des rezitativischen Stils im Schaffen Arnold Schönbergs erfahrbar.3 In Henzes eigenem Kommentar anlässlich der Ursendung dieses Werkes klingt die wichtige Perspektive der musikalischen Surrealismusrezeption deutlich an: 3 In der exzellenten Ersteinspielung der Neufassung des Stückes unter der Leitung von Markus Stenz (Wergo WER 6666 2) wird dieser Eindruck dadurch noch verstärkt, dass der mit Schönbergs Musik bestens vertraute Sänger Roland Herrmann die Rolle des Landarztes übernimmt. Vgl. zu dieser Neufassung sowie dieser Einspielung auch den sehr detaillierten Einführungstext von Thomas Schulz (2005).

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Der oft totgesagte Surrealismus, der sich ständig weiterentwickelt hat, spielt in unserem Tun ebenfalls eine Rolle, nachdem er bisher nur der Malerei und der Literatur nahegestanden hat. Das Traumhafte, Schlafwandlerische, in dessen Bereich die Abstraktionen Farbe annehmen und zu sprechen beginnen, ist das Feld unserer Musiken, Gedichte, Bilder und Ballettschöpfungen. In meiner Vertonung des Kafka’schen Landarztes finden sich einige hauptsächliche Elemente dieser neuen Moderne wieder. (zit. n. Oehl 2006: 92)

Von dieser neuen Moderne, auf die Henze hier kurz zu sprechen kommt, waren tatsächlich zur Zeit der Entstehung des Werkes auch etliche andere Komponisten angezogen. Dies führte in nicht wenigen Fällen zu Bild- und Textkonstellationen, die für einen erheblichen Teil der damaligen Avantgarde nahezu undenkbar waren. Freilich unterschied sich die Surrealismusrezeption etwa von Bernd Alois Zimmermann von der des wenige Jahre jüngeren Hans Werner Henze an einem nicht unwichtigen Punkt: Nämlich darin, dass Zimmermanns Vorliebe für alogische, traumhafte Konstellationen auch eine Entsprechung in ungewöhnlichen Gestaltungsweisen findet, namentlich in solchen der Montage oder Collage (Hiekel 1995). Dagegen begnügt sich Henze in seiner Landarzt-Vertonung damit, möglichst detailgenau jene Atmosphäre und jene sprachlichen Feinheiten zu reproduzieren, die in Kafkas Vorlage deutlich angelegt sind. Das führt dann etwa, wenn der Landarzt nach Hause reiten will und die Pferde ihn durch ihr gemächliches Tempo blockieren, zu einer deutlich auskomponierten Verlangsamung der Musik. Von einer Interpretation der Erzählung im ganz emphatischen Sinne wird man mit Blick auf diese Funkoper dennoch kaum sprechen können, eher von einer Veranschaulichung oder einer gewissen Hervorhebung der existentiellen Seite. Und an diesem Punkte – der nicht im Widerspruch zu Henzes eigenen Ambitionen steht – unterscheiden sich die verschiedenen Fassungen des Stückes auch nur graduell. Bei alledem zeigt Henzes Kafka-Vertonung an manchen Stellen eine Form von Raffinesse, wie sie auch aus nicht wenigen literarisch orientierten Hörspielarbeiten vor allem der 1950er- und 1960er-Jahre geläufig ist. So wird, wie Klaus Oehl in seiner Studie zu diesem Stück gezeigt hat (Oehl 2006: 100),4 punktuell mithilfe der Musik sogar auf jene Parallelisierbarkeit zwischen dem gekreuzigten Christus und der Wunde des Jungen hingewiesen, auf die auch Kafka selbst den Blick lenkte – Henze pointiert diesen Hinweis dadurch, dass er an der entsprechenden Stelle seines Stückes die Orgel als typisch christliches Klangelement ins Spiel bringt. Zu dieser Parallele gewiss nicht im Widerspruch steht die Tatsache, dass Henze sein Stück mit einer dramatischen 4 Für eine genauere Beschäftigung mit diesem Werk sei auf Oehls Studie verwiesen, zugleich aber auch auf den kurzen Text von Schulz (2005).

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Geste enden lässt. Von jenen Momenten der Sachlichkeit, die den rezitativischen Stil zuvor zeitweise prägte, ist in der dramatisch existentiellen Tönung, die der Komponist den finalen Worten „es ist niemals wieder gutzumachen“ gibt, nichts mehr zu spüren.

2. Auffächerung und Neuakzentuierung: Die schöne Wunde von Georg Friedrich Haas Einen deutlich wachsenden Zuspruch erfährt im Musiktheater der letzten zwei Jahrzehnte die Idee der Aufsplitterung und Verschränkung von Texten. Und gerade diese Idee kann sogar als ein Gegenmodell zur Idee der Literaturoper gelten. Auftrieb dürfte diese Tendenz durch den Erfolg namentlich der Musiktheaterwerke von Luigi Nono und Helmut Lachenmann erhalten haben, wo es jeweils ein Gefüge unterschiedlicher literarischer Texte gibt, die sich gleichsam gegenseitig kommentieren. Jedenfalls finden sich in letzter Zeit mehr und mehr musiktheatralische Konzepte auch von Komponistinnen und Komponisten der nachfolgenden Generationen, die auf die Dekonstruktion oder zumindest Erweiterung üblicher Erzählstrategien setzen und zudem zu einer Auffächerung von thematischen Perspektiven gelangen. Besonders nachdrücklich ist dies etwa – mit jeweils sehr unterschiedlichen stilistischen Mitteln – im Musiktheaterschaffen von Heiner Goebbels und Beat Furrer zu beobachten. Das Schaffen beider Komponisten, die ja zu den Generationsgenossen von Georg Friedrich Haas gehören, ist zu den wesentlichen Bezugspunkten jener Diskussionen zu zählen, die in jüngerer Zeit zur Idee eines von Momenten der semantischen Übergängigkeit geprägten ‚postdramatischen‘ Musiktheaters geführt werden (Lehmann 1999). In dieser Tradition steht auch das ebenfalls auf Kafkas Landarzt-Erzählung rekurrierende Musiktheaterwerk Die schöne Wunde von Georg Friedrich Haas, das 2003 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt wurde. Kafkas Landarzt-Erzählung wird darin mit einem Ausschnitt aus Edgar Allan Poes 1843 veröffentlichter Erzählung The Pit and the Pendulum sowie noch mit weiteren Texten verschränkt. In dem von Haas gewählten Abschnitt aus Poes beklemmender Erzählung geht es um einen gefesselten Menschen, auf den sich unentrinnbar ein Pendel mit einem Messer zubewegt, dem aber in letzter Sekunde doch noch die Rettung gelingt – dies mithilfe von Ratten, die das Seil durchfressen, an dem er hängt. Dieser zweite, von permanenter Bedrohung

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geprägte Handlungsstrang vergrößert gleichsam die Fallhöhe und die düster existentielle Seite von Kafkas Erzählung, in dem die titelgebende „schöne Wunde“ ja ein besonders wirkungsmächtiges, schillerndes Zentralmotiv ist. Haas setzt nun – und das ist für die Gesamtkonzeption entscheidend – keineswegs auf die völlige Verschmelzung beider Erzählstränge, sondern auf den Reiz des Montageartigen. Über weite Strecken ähnelt die zwischen beiden Gravitationszentren oszillierende Gesamtanlage jener Mehrgleisigkeit, wie man sie auch im Bereich der Literatur kennt – so etwa aus Hermann Brochs Roman Die Schlafwandler, wo das Springen von einer Handlung zur nächsten und das Wiederaufgreifen von Erzählsträngen konstitutiv sind und aus beidem eine Deutung abzuleiten ist, die gerade das Sprunghafte und Widersprüchliche als solches berücksichtigt (dies ist den Montagewerken des eben erwähnten Bernd Alois Zimmermann durchaus nicht unverwandt). Auf der Hand liegen mancherlei sinnfällige Motivüberschneidungen zwischen den in Haas’ Musiktheaterwerk verknüpften Texten von Kafka und Poe. Jeweils geht es um höchst bedrohliche oder sogar ausweglose Situationen, um das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber den dunklen Mächten der eigenen Psyche. Die düster existentielle Tönung, die auch schon in den beiden auf Friedrich Hölderlin bzw. Adolf Wölfli bezogenen zuvor entstandenen Musiktheaterwerken des Komponisten bestimmend war und die sogar als Kennzeichen fast aller wichtiger textbezogener Arbeiten von Haas gelten kann, wird von Haas freilich bewusst kontrapunktiert durch gegenläufige Textelemente. Und das sind nicht wenige: einzelne Passagen aus William Shakespeares Romeo und Julia, erotische Gedichte des Renaissancedichters Pietro Aretino, Passagen aus Ovids Darstellung von Philemon und Baucis in den Metamorphosen, Elemente aus dem Hohelied Salomos und schließlich Ausschnitte aus Briefen von Rosa Luxemburg. Bei der Integration gerade des zuletzt genannten Elements mag man sich daran erinnern, dass Rosa bei Kafka sowohl die Farbe der schönen Wunde als auch der Name des Dienstmädchens ist – diese eher lapidar spielerische als semantisch grundierte Art der Bezugnahme kann als durchaus typisch für die Haltung des Komponisten angesehen werden. Alle diese Elemente reichern das Textgefüge mit weiteren Perspektiven an. In der Partitur sind die Stellen, in denen sie ins Spiel gebracht werden, um den Fortgang der Handlung bewusst zu suspendieren, jeweils als ‚Tableau vivant‘ bezeichnet. Existentiell sind diese zusätzlichen Textebenen ebenfalls, aber sie handeln von leidenschaftlicher Liebe sowie von Hoffnungen und Utopien – auch politischen. Die Texte tragen dazu bei, dass die schon seit der Antike geläufige Verknüpfbarkeit von Liebe und Tod (Eros und Tanathos) in diesem

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Stück nahezu allgegenwärtig ist. Entscheidend für dessen Gesamtgefüge ist nun aber, dass der anfangs recht schematisch wirkende Wechsel zwischen den Textebenen an zwei entscheidenden Stellen durch ausgedehnte Engführungen von Ausschnitten aus allen Texten abgelöst wird. Gerade hier wird jeweils der Eindruck der unauflöslichen Verknüpfung aller Elemente erheblich unterstrichen und zugleich ein Moment der Irritation ins Werk gesetzt. Man erlebt Exaltationen der Verzweiflung und zugleich der unbändigen Liebe. Und es scheint, als gerate das Textgefüge dabei selber in jene albtraumartige Schieflage, von der Kafkas Landarzt und Poes Grube und Pendel gleichermaßen erfüllt sind. In Abb. 1 sehen wir einen Ausschnitt aus dem Libretto der neunten von insgesamt 12 Szenen des 2. Teils. Nachzuvollziehen ist anhand dieser Auflistung, wie die ‚Tableau vivant‘ überschriebenen Elemente des Ganzen hier auf jeweils wenige Sekunden verdichtet und komprimiert werden und dabei Elemente aus früheren Abschnitten als kurze Erinnerungen aufblitzen. Das Ganze erscheint wie ein hochemotionaler Strudel von Ereignissen. „Die Bilder zitieren in szenischer und musikalischer Hinsicht vergangene Episoden der Oper“, heißt es hierzu im Kommentar des Komponisten, der in die Partitur eingetragen ist.5 Sichtbar werden dabei auch die von Kafka und Poe stammenden textlichen Hauptstränge sowie deren Verklammerung.

5  G. F. Haas, [Kommentar zu den Szenen], Beilage zur Partitur Die schöne Wunde, Wien: Universal Edition, 2003, Nr. 30811, o. S.

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Abb. 1: Libretto (Ausschnitt) der 9. Szene des 2. Teils von Die schöne Wunde.

Von einem Strudel der Ereignisse oder der Emotionen zu sprechen bietet sich nicht zuletzt auch deshalb an, weil es in treffender Weise nicht allein die textliche, sondern vor allem auch die musikalische Seite beschreibt. Fast permanent in diesem Werk herrscht emotionaler Hochdruck, der von oft wellenartigen Aufwärts- und Abwärtsbewegungen geprägt ist. Haas erzielt dabei eine Leidenschaftlichkeit, wie man sie prinzipiell auch in Opern des 19. Jahrhunderts oder im Kontext der Schönberg-Schule antreffen konnte. Doch noch entscheidender für die intensive Klangsprache seines Stückes und zugleich ein wesentlicher Faktor einer über weite Strecken bemerkbaren Einheitlichkeit und Geschlossenheit ist eine ganz andere Tradition: Haas komponiert auf der Basis von Obertonstrukturen, die er in den letzten zwei Jahrzehnten in der Nachfolge von Komponisten wie etwa Ivan Wyschnegradsky (s. Haas

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1993), Giacinto Scelsi und Gérard Grisey entwickelt und verfeinert hat. Resultat ist eine schillernd changierende, fast durchgehend mikrotonal eingefärbte Klanglichkeit, die sowohl statisch ruhige als auch exaltiert auflodernde Passagen enthält und dem Ganzen ein nachdrücklich surrealistisches Gepräge gibt. Surrealismus heißt hier, musikalisch gesehen, freilich etwas ganz anderes als bei Henze, die Abweichung von vertrauten Idiomen ist ungleich größer. Man taucht als Hörer dieses Musiktheaterwerks in ein filigranes Netzwerk von spektralen Klangflächen, komplexen musikalischen Überlagerungen und verblüffend lapidaren Motivketten ein, gerät in den Bann einer höchst suggestiven, von stark wechselnden Schwebezuständen erfüllten harmonischen Struktur. Welches Pathos dabei mit im Spiel ist, mag der folgende Ausschnitt aus dem Libretto des 2. und 3. Teils der Komposition andeuten (vgl. Abb. 2). Dabei ist zu betonen, dass diesem markant bedrohlich wirkenden Abschnitt eine jener seltenen Passagen dieses Stückes vorangeht, in denen sich eine erhebliche Unbeschwertheit manifestiert. Im Rückgriff auf Texte von Shakespeare und Ovid ist hier sogar von ‚duftenden Äpfeln‘ und ‚Trauben von purpurnen Reben‘ die Rede, ehe der Landarzt seine Erzählung fortsetzt. Dieser erhebliche Stimmungswechsel ist typisch für dieses Musiktheaterwerk – und den plötzlichen Wandlungen, die Kafkas Erzählung prägen, nicht unverwandt.

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Abb. 2: G. F. Haas, Die schöne Wunde, Ausschnitt aus dem Libretto des 2. und 3. Abschnitts des 2. Teils.

Die Idee zu diesem Stück kam Georg Friedrich Haas – dessen Gesamtschaffen eher als Kontinuum denn als ein Gefüge mit vielen ästhetischen Richtungswechseln erscheint – beim Erleben einer Aufführung eines eigenen Werkes: August 1998, ich sehe die Aufführung meiner Oper Nacht, letztes Bild. Der alte Hölderlin (Georg Nigl) liegt am Boden, langsam senkt sich ein Lüster auf ihn. Der Sänger starrt ihn an, als käme unerbittlich eine unbekannte Bedrohung auf ihn zu. Es war ein Regieeinfall von Philippe Arlaud, der unmittelbar nichts mit meiner Oper zu tun hatte. Doch [...] plötzlich wusste ich, welche musiktheatralische Idee ich als Nächstes realisieren wollte: Edgar Allen Poes Grube und Pendel mit Georg Nigl als Gefangenem. (Haas 2003: 31)

Auch wenn im Laufe des Entstehungsprozesses die Erzählung Kafkas mehr und mehr ins konzeptionelle Zentrum rückte und in der Endfassung gegenüber allen anderen Texten deutlich dominiert, ist doch das lebensbedrohende

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Pendel über weite Strecken des Stückes allgegenwärtig. Das aber ist – und darauf kommt es mir hier besonders an – nicht etwa primär eine Sache der Inszenierung (dazu hat der Komponist keine Vorgaben gemacht), sondern verdankt sich der musikalischen Gestaltung. Dies gilt besonders für die geradezu üppige Entfaltung von spiralförmig auf- und abschwingenden Klangkomplexen, die dieses Stück immer wieder durchziehen und nach Maßgabe der Obertonharmonik gestaltet sind. Mit gutem Grund hat Georg Friedrich Haas selbst mit Blick auf solche Elemente von „musikalischen Pendelgestalten“ (Herzfeld 2003: 25) gesprochen. Wichtig ist indes auch die Einsicht, dass es in diesem Felde einen außerordentlichen Variantenreichtum gibt. Solchen und ähnlichen Gestaltungselementen verdankt diese Oper etwas, das auch einige andere groß besetzte Werke des Komponisten auszeichnet: eine starke, von Wechseln zwischen dissonanten und konsonanten Momenten geprägte Sogwirkung. Die Idee des Ganzen dürfte darin liegen, den Zuhörenden die Unerbittlichkeit der auch durch die Texte verkörperten Ereignisse zu vergegenwärtigen und sie in die mit den Texten zusammenhängenden atmosphärischen Momente hineinzuziehen. Die Sogwirkung des Ganzen ist gewiss wichtiger als eine Nähe zu bestimmten textlichen Wendungen. Man könnte sogar die Ansicht vertreten, dass Haas, ganz anders als Henze, Kafkas Erzählung als bekannt voraussetzt – und sein Konzept auf der Überzeugung gründet, dass Kafka längst ‚durchgesetzt‘ ist. In zwei längeren instrumentalen Passagen verlangt die Partitur, wie auch schon das zwei Jahre zuvor entstandene Ensemblewerk in vain, völlige Dunkelheit. Sie unterbindet damit alle szenischen Abläufe ebenso wie die Weltliteraturentfaltungen, um die Konzentration auf das Klangliche tief im Bewusstsein der Hörenden zu verankern. Der gleiche Eindruck entsteht am rein instrumentalen Beginn des Werkes. Erst nach mehr als sieben Minuten erklingt das erste Wort, ehe die Landarzt-Erzählung überhaupt erstmals ansetzt. Obschon die meisten Texte des Werkes so komponiert sind, dass man sie recht gut verstehen kann (Haas erscheint hier sogar als einer der Nachfahren von Leoš Janáček), ist zu konstatieren, dass die Klänge selbst über weite Strecken des Werkes selbstbewusst das Wort ergreifen. Sie demons­trieren damit, dass sie selbst, jenseits aller Sinnsetzungen, die Hauptsache bilden – Haas steht mit dieser Tendenz seines Musiktheaterwerks gewiss in bester musikhistorischer Gesellschaft. Ein nicht zu unterschätzender Faktor dafür ist auch die Länge des Ganzen: mit etwa 2 ½ Stunden nimmt sich Haas für seine Landarzt-Version etwa fünfmal so viel Zeit wie Hans Werner Henze bei seinem vergleichsweise zurückhaltenden kompositorischen Umgang mit diesem Text.

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Ein gewiss wichtiger, wenn nicht sogar zentraler Aspekt dieser mehr als ein halbes Jahrhundert später entstandenen Oper, der mit deren musikalischer Gestaltung unmittelbar zusammenhängt und von der Kafka-Lektüre des Komponisten inspiriert sein dürfte, liegt in der Frage der Orientierung. Dies wirkt sich zum einen auf die schon angesprochene vertikale Dimension aus, also auf die markante, fortwährend zwischen Verschmelzung und Reibung oszillierende Harmonik. Aber es gilt zum anderen auch für die horizontale Dimension. Vergebens würde man beim Hören der meisten Teile des Werkes – wiederum im Gegensatz zu dem von Henze – nach geläufigen Formprozessen suchen. Auch mit Blick auf die prozessuale Seite könnte man von Schwebungen sprechen. Und wie die Klänge, die keineswegs der herkömmlichen Dur-Moll-Tonalität entsprechen, sondern fast ständig übergängige Zustände bevorzugen, schweift auch die zeitliche Gestaltung fast permanent ins Unbekannte. Die Zuhörenden werden auf allen diesen Ebenen einer schier überbordenden Fülle ausgesetzt. Und es dürfte den zentralen Intentionen dieses Stückes nahekommen, wenn man feststellt, dass die existentielle Orientierungslosigkeit dieser musikalischen Reflexionen über Texte von Franz Kafka und Edgar Allan Poe dazu angetan ist, sich auf die Zuhörenden zu übertragen – wobei die Konvergenzen mit dem, wovon auch die Texte handeln, auf der Hand liegen. Um so mehr zeichnet sich allerdings ab, dass die Orientierungen an der Kraft der Liebe, die zuweilen – und ganz besonders am Schluss der Oper – von musikalisch deutlich einfacheren Gestaltungen getragen sind, ein klares Gegengewicht schaffen. Eine Rettung ist vom Komponisten ausdrücklich intendiert, die Tradition des ‚lieto fine‘ unüberhörbar. Und Kafkas charakteristischer Schlusswendung „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen“ (Kafka 1994: 261) ist dadurch deutlich in den Hintergrund gerückt – was all jenen, die von einem Opernwerk vor allem die strenge Einlösung der durch literarische Vorlagen vorgegebenen Perspektiven erwarten, suspekt sein dürfte. Henze, der fast alles aus Kafkas Landarzt übernahm,6 ist an diesem Punkt erheblich näher am Text als Haas. Die Idee der wirkungsmächtigen Auffächerung des Klanges erstreckt sich im Musiktheaterwerk von Haas auf fast alle Ebenen: Die Interpreten sind nach einem genau festgelegten Plan um das Publikum herum im Raum postiert, wechseln punktuell auch ihre Positionen. Und die insgesamt acht 6 Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Weglassung des Halbsatzes ‚rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange.‘ (Oehl 2006: 90)

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Vokalsolisten lässt der Komponist im Laufe des Stückes fortwährend in unterschiedliche Rollen schlüpfen. Dies alles akzentuiert das geheimnisvoll Suchende, aber wirft zugleich die Frage auf, was vom Text Kafkas gewissermaßen übrigbleibt, von seinem Duktus, seinen womöglich auf Enträtselung zielenden textlichen Konstellationen, von seinen vielfältigen Anspielungen, von seinen sprachlichen Feinheiten. Trotz der schon angesprochenen Tendenz des Stückes, Tod und Liebe zusammenzudenken und beides gemeinsam erfahrbar zu machen, lässt sich durchaus behaupten, dass es weithin eher die Gesamtatmosphäre ist, die von Kafkas Erzählung übrigbleibt. Als Grund dafür kann erstens die in der Verknüpfung mit anderen Texten liegende konzeptionelle Kernidee genannt werden, aber zweitens und vor allem die markant auftrumpfende, alles andere in den Hintergrund drängende, zeitweise geradezu überbordend üppige Klanglichkeit dieses Musiktheaterwerkes – das gerade an diesem Punkte den Gegenpol zu Hans Werner Henzes bescheiden zurücktretendem Konzept darstellt. Es ist die ‚schöne Wunde‘ des musikalischen Umgangs mit Literatur wie jener von Kafka, die Georg Friedrich Haas mit diesem Musiktheaterwerk gewissermaßen sichtbar macht – und auf nachdrückliche Weise auskostet. Und vielleicht sind die Freiheiten gegenüber Kafka, die sich Haas nimmt, als Indiz dafür zu verstehen, dass dieser Autor heute längst auch im Opernbereich in einer Weise rezipiert werden kann, die von allen bildungsbürgerlichen, auf die Bewahrung des Erbes gerichteten Tendenzen abweicht.

Literatur Haas, Georg Friedrich (1993): Die Verwirklichung einer Utopie. Ultrachromatik und nicht-oktavierende Tonräume in Ivan Wyschnegradskys mikrotonalen Kompositionen. – In: Ganter, Claus (Hg.), Harmonik im 20. Jahrhundert. Wien: WUV, 87100. Haas, Georg Friedrich (2003): ‚das Pendel und die pferde und die ratten und die lerche und die schöne Wunde.‘ Die Veränderungen des Titels als Spiegelungen des Kompositionsprozesses. – In: Programmheft der Uraufführung von G. F. Haas, ‚Die schöne Wunde‘. Bregenzer Festspiele (August), 31-33. Herzfeld, Isabel (2003): Zur musikalischen Sprache der Oper ‚Die schöne Wunde‘. – In: Programmheft der Uraufführung von G. F. Haas, ‚Die schöne Wunde‘. Bregenzer Festspiele (August), 25-29.

Gewachsene Freiheiten

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Hiekel, Jörn Peter (1995): B. A. Zimmermanns ‚Surrealismus‘. – In: Musica 49, 227232. Höller, Hans (Hg.) (2004): Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze. Briefe einer Freundschaft. München, Zürich: Piper. Kafka, Franz (1994): Ein Landarzt. – In: Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer, 252-261. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt/M.: Verl. der Autoren. Oehl, Klaus (20069: Oper auf der Couch. Hans Werner Henzes Funkoper ‚Ein Landarzt‘. – In: Hans Werner Henze. Hrsg. von Ulrich Tadday (Musik-Konzepte, Bd. 132). München: edition text+kritik, 81-104. Petersen, Peter (1999): Der Terminus ‚Literaturoper‘ – eine Begriffsbestimmung. – In: Archiv für Musikwissenschaft 56/1, 60. Schulz, Thomas (2005): Alptraum und Satire. Die beiden Rundfunkoper Hans Werner Henzes. – In: CD-Booklet zur Produktion Hans Werner Henze: Ein Landarzt/Das Ende der Welt, Wergo WER 66662, 3-9.

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Kafkaesk? Philip Glass: In the Penal Colony 1. ‚Musikwidrigkeit‘: Kafka und die Komponisten Es war ein ganz einfaches Motiv, das er sich vorführte, ein Nichts, das Bruchstück einer nicht vorhandenen Melodie, eine Figur von anderthalb Takten, und als er sie zum ersten Mal mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, in tiefer Lage als einzelne Stimme ertönen ließ, wie als sollte sie von Posaunen einstimmig und befehlshaberisch als Urstoff und Ausgang alles Kommenden verkündigt werden, war gar nicht abzusehen, was eigentlich gemeint sei. Als er sie aber im Diskant, in einer Klangfarbe von mattem Silber, harmonisiert wiederholte, erwies sich, daß sie im Wesentlichen aus einer einzigen Auflösung bestand, einem sehnsüchtigen und schmerzlichen Hinsinken von einer Tonart in die andere ... eine kurzatmige, armselige Erfindung, der aber durch die preziöse und feierliche Entschiedenheit, mit der sie hingestellt und vorgebracht wurde, ein seltsamer, geheimnis- und bedeutungsvoller Wert verschafft ward. Und nun begannen bewegte Gänge, ein rastloses Kommen und Gehen von Synkopen, suchend, irrend und von Aufschreien zerrissen, als sei eine Seele voll Unruhe über das, was sie vernommen und was doch nicht verstummen wollte, sondern in immer anderen Harmonieen, fragend, klagend, ersterbend, verlangend, verheißungsvoll sich wiederholte. (Mann 2002a: 824f.)

So lautet eine bekannte Passage aus Thomas Manns Buddenbrooks, in der es um die Klavierphantasien Hanno Buddenbrooks geht; hier wird somit von Musik erzählt. Und nicht nur das: Thomas Mann versucht, das Medium, von dem er erzählt, die Musik, mit den Mitteln seines Mediums, der Literatur, zu imitieren. Bei dieser intermedialen Imitation arbeitet er mit einer Reihe von Kunstgriffen: mit der Verbindung von musikalischer Terminologie und genuin poetischer Metaphorik zum Beispiel, mit der Verwendung einer Syntax, die die Bewegung der erzählten Musik nachbildet, außerdem mit Verweisen auf real existierende Kompositionen (hier vor allem auf das Tristan-Vorspiel). Thomas Mann versucht demnach mit allen ihm zur Verfügung stehenden literarischen Mitteln, (quasi-)musikalisch von Musik zu erzählen und dabei eine (quasi-) musikalische Euphonie zu erzeugen, eine – in Anlehnung an die berühmte Kapitelüberschrift aus dem Zauberberg – „Fülle des Wohllauts“ (Mann 2002b: 963). Was dabei entsteht, ist eine so virtuose wie eingängige ‚kulinarische Prosa‘, von der man sich nicht nur – wie von Thomas Mann intendiert – an die Musik Richard Wagners erinnert fühlen kann, sondern auch – ungeachtet der

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Tatsache, dass Thomas Mann dies empört zurückgewiesen hätte – an die von Richard Strauss.1 Im Kontrast dazu sei auch noch eine Passage aus Kafkas Das Schweigen der Sirenen zitiert: Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können (außer jenen welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten) aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß das unmöglich helfen konnte. Der Gesang der Sirenen durchdrang alles, gar Wachs, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran nun dachte aber Odysseus nicht obwohl er davon vielleicht gehört hatte, er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. (Kafka 1992: 40)

Im Vergleich mit der Passage aus Buddenbrooks zeigt sich sofort, dass hier etwas grundlegend anderes vorliegt: Dieser Text erzählt zwar ebenfalls von Musik (wenn auch von einer gewissermaßen mythologischen Musik, die entsprechend abstrakt bleibt), aber er versucht nicht, sie intermedial zu imitieren. Anders formuliert: Dieser Text hat nicht den Wunsch, Musik zu werden. Von einer mit literarischen Mitteln erzeugten (quasi-)musikalischen Euphonie kann hier entsprechend keine Rede sein. Das soll allerdings nicht heißen, der Text wäre unmusikalisch, denn rhythmisch prägnant ist er zum Beispiel sehr wohl. Doch er verweigert sich einem konventionellen Begriff von Wohlklang, wie er das Ideal Thomas Manns ist. Vollends abwegig wäre es darum auch, ihn als ‚kulinarisch‘ zu bezeichnen. ‚Anti-kulinarisch‘ wäre treffender; nichts erinnert hier an die Musik von Wagner oder Strauss, nichts ist hier eingängig oder gar süffig. Eher kommt einem der Begriff der „Musikwidrigkeit“ in den Sinn, der im Zusammenhang mit Hans Werner Henzes Landarzt-Oper einmal ins Spiel gebracht wurde, der in der Forschungsdiskussion bisher aber keine Rolle gespielt hat (Oppens 1968). Bei den beiden Passagen von Thomas Mann und Kafka hat man es also mit zwei durchaus unterschiedlichen Formen der intermedialen Referenz von Literatur auf Musik zu tun: einer emphatischen, ja geradezu euphorischen, und einer sperrigen, widerständigen oder eben widrigen. Blickt man aber nun auf die Wirkungsgeschichten Kafkas auf der einen und Thomas Manns auf der anderen Seite, wird eine auffällige Paradoxie erkennbar: Die Texte des Letzteren wurden – trotz ihrer geradezu ostentativen Musikalität – vergleichsweise selten vertont (Benjamin Brittens Oper The Death in Venice ist die bedeutende Ausnahme von der Regel), Kafkas Texte aber haben – trotz ihrer ‚Musikwidrigkeit‘ – eine erstaunlich große Zahl von 1 Zu Thomas Manns Verhältnis zur Musik im Allgemeinen sowie zu Richard Wagner und Richard Strauss im Besonderen s. Vaget (2006).

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Kompositionen in fast allen musikalischen Gattungen hervorgerufen, und dies international (Müller 1979; Sander 2003: 1353ff.). Wie ist diese wirkungsgeschichtliche Paradoxie zu erklären? Ein entscheidender Punkt ist sicherlich die Faszination, die Kafka insgesamt auf Leser weltweit ausgeübt hat und weiter ausübt. Doch international bekannt und beliebt (wenn auch nicht in demselben Ausmaß) ist Thomas Mann ebenfalls, und dennoch hat er die Komponisten weniger angesprochen als Kafka. Es müssen also noch andere Faktoren hinzukommen. Sicherlich ist die Vieldeutigkeit der Texte Kafkas ein weiterer Faktor und sicherlich auch das (seinerseits vieldeutige) Phänomen des Kafkaesken. Vor allem aber ist zu vermuten, dass die Vorliebe so vieler Komponisten für Kafka gerade mit der ‚Musikwidrigkeit‘ seiner Texte zusammenhängt. Zweifellos stellt sie eine besondere Herausforderung für die Komponisten dar: Kafkas Texte sind eben nicht so leicht zu haben, man kann sie nicht so leicht vertonen wie ein Heine-Gedicht oder – mit dem Bonmot von Richard Strauss – eine Speisekarte. Will man sich ihnen auf eine Weise nähern, die ihrer Spezifik angemessen wäre, ist man vielmehr gezwungen, sich zuerst einmal die grundsätzliche Frage nach der Vertonbarkeit dieser Texte zu stellen, bevor man dann – im Falle der Entscheidung, es wagen zu wollen – dazu übergehen kann, auch noch die dabei zu verwendenden kompositorischen Mittel einer strengen Prüfung zu unterziehen. Und in genau diesem Moment, in der spezifischen Widerborstigkeit der Texte Kafkas, in ihrer anti-kulinarischen, anti-opernhaften Grundhaltung, die zugleich eine kritische Selbstreflexion erforderlich macht, muss ein besonderes Faszinosum für Komponisten liegen. Anders ist die große Zahl von Kafka-Kompositionen nicht zu erklären. Diese These wird erhärtet durch die Tatsache, dass der wahrscheinlich musikwidrigste aller Kafka-Texte eine besonders große Zahl von Vertonungen und gerade auch ‚Veroperungen‘ hervorgerufen hat, und zwar wiederum weltweit: die Erzählung In der Strafkolonie. Die Komponisten, die sich mit diesem Text auseinandergesetzt haben, sind, in alphabetischer Reihenfolge: Patrik Bishay, Thomas Beimel, Joanna Bruzdowicz, Philip Glass, Erwin Hartung, David Hönigsberg und Johan Maria Rottmann (Müller 1979; Sander 2003: 1353ff.; Kafka 2015: 101f.). Wahrscheinlich ist diese Liste noch nicht einmal vollständig. Aber auch so ist ihr Umfang schon durchaus erstaunlich: Offensichtlich hat die gesteigerte ‚Musikwidrigkeit‘ dieses Textes also in der Tat die Produktivität der Komponisten besonders herausgefordert. Im vorliegenden Beitrag soll eines dieser Werke in den Blick genommen werden: die Oper In the Penal Colony von Philip Glass. Diese Oper nimmt unter den Vertonungen der Strafkolonie eine besondere Stellung ein, denn sie ist die

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einzige bisher, die sich international durchsetzen konnte. Nach ihrer Uraufführung im Jahr 2000 in Seattle wurde sie – noch im selben Jahr – in Chicago aufgeführt, später unter anderem auch noch in Berlin, Dresden, London, New York, Prag, Sydney, Turin und Zürich. Keine andere Kafka-Oper, ja nur wenige zeitgenössische Opern überhaupt können auf eine derartige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Natürlich hat dies auch mit der Popularität des Komponisten zu tun, der ja gewissermaßen der Popstar unter den Komponisten der Gegenwart ist.2 Doch mit dieser Erklärung kann man sich nicht begnügen: Offenbar wurde In the Penal Colony von einem großen internationalen Publikum als eine ästhetisch besonders überzeugende Kafka-Oper empfunden. Womit dies zu tun haben könnte, danach (unter anderem) wird im Folgenden zu fragen sein.

2. „Go dig up a book of short stories“: Die Entstehungsgeschichte Zuerst soll jedoch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Oper geworfen werden, denn sie ist signifikant. Nach Auskunft von JoAnne Akalaitis, der Regisseurin der Ur-Aufführung, stammte die erste Idee zu In the Penal Colony von Philip Glass selbst; zu einer Verwirklichung kam es jedoch erst, als sich das Contemporary Theatre in Seattle und das Court Theatre in Chicago beteiligten und ihm einen offiziellen Kompositionsauftrag erteilten (Akalaitis 2001). Offenbar hatte Glass aber bereits viel früher vorgehabt, die Strafkolonie zu vertonen; seiner eigenen Auskunft nach hatte er die Erzählung bereits als Student an der Universität von Chicago kennengelernt (also in den frühen 1950er-Jahren) und sofort an eine Vertonung gedacht. Doch damals war es bei dem Vorhaben geblieben. Erst ein halbes Jahrhundert später geland es Glass dann, den Plan einer Vertonung der Strafkolonie zu verwirklichen: „It took that long for me to write the piece“ – so die Aussage des Komponisten gegenüber einem Journalisten der New York Times (zit. n. Kinzer 2000); auf einen möglichen Grund für sein anfängliches Scheitern an diesem Werk wird noch zurückzukommen sein. Nebenbei bemerkt: In den frühen 1950erJahren wäre Glass einer der ersten Komponisten weltweit gewesen, die sich 2 Bereits 1997 hat Richard Kostelanetz Glass als „one of the most popular serious composers of our time“ bezeichnet (Kostelanetz 1997: vii; Straebel 2002).

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überhaupt an einer Kafka-Oper versucht hätten (Henzes Landarzt stammt aus dem Jahr 1951). Im Jahr 2000 sah dies dann natürlich ganz anders aus; allein Strafkolonie-Opern gab es damals schon in großer Zahl. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass Glass sich mit diesen anderen Opern auseinandergesetzt hätte. Bei seiner Vertonung der Strafkolonie ging er – wie auch sonst – einen völlig eigenen Weg. Mit großer Wahrscheinlichkeit kannte er aber eine Referenz auf die Strafkolonie in der US-amerikanischen Popmusik der 1960er-Jahre, die an dieser Stelle erwähnt sei, weil sie bisher in keinem der Handbuch- und Lexikonartikel zum Thema ‚Kafka und die Musik‘ auftaucht, obwohl es sich dabei um ein sehr interessantes Rezeptionsdokument handelt, nicht zuletzt weil es eines der frühesten Dokumente der Kafka-Rezeption in der Popkultur sein dürfte. Die Rede ist von dem im Jahr 1967 erschienenen Album We’re Only in It for the Money von Frank Zappa und den Mothers of Invention. Auf der CoverRückseite dieses Albums findet man (zu dem Instrumentalstück The Chrome Plated Megaphone of Destiny) folgenden Vermerk: instructions for the use of this material... READ CAREFULLY: 1. If you have already worked your way through ‘IN THE PENAL COLONY’ by Franz Kafka, skip instructions #2, #3, #4. 2. Everybody else: go dig up a book of short stories & read ‘IN THE PENAL COLONY’. 3. DO NOT LISTEN TO THIS PIECE UNTIL YOU HAVE READ THE STORY. 4. After you have read the story, put away the book and turn on the record player … it is now safe to listen (DO NOT READ & LISTEN AT THE SAME TIME). 5. As you listen think of the concentration camps constructed in California during World War II to house dangerous oriental citizens…the same camps which many say are now being readied for use as part of the FINAL SOLUTION to the NON-CONFORMIST (hippy) PROBLEM […] (Zappa 1968, Liner Notes)

Hier wird also eine merkwürdige Wechselbeziehung zwischen Kafkas Text und Zappas Musik hergestellt, die wie eine Parodie traditioneller Literaturvertonungen wirkt; wie es scheint, hat Zappa die ‚Musikwidrigkeit‘ der Erzählung also ernst genommen. In jedem Fall wird die Strafkolonie hier sowohl zum Holocaust in Beziehung gesetzt wie auch zur unmittelbaren Gegenwart. Dies geschieht auch im Text eines anderen auf dem Album enthaltenen Stücks (Concentration Moon), wo ein „camp in the valley“ erwähnt wird, in dem Hippies interniert werden;3 offenkundig ist auch dies eine Referenz auf Kafkas Erzählung. 3 Der Text dieses Songs wird (nach dem Vorbild des Beatles-Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, dessen Cover Art in Zappas Album umfassend parodiert wird) auf der Cover-Rückseite abgedruckt.

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Im Zusammenhang dieses Beitrags ist es nun von Bedeutung, dass es auffällige Parallelen zwischen Zappa (Wicke 2007; Meyer 2010) und Glass gibt: Beide stammen aus derselben Stadt (Baltimore, Maryland) und derselben Generation (Zappa wurde im Jahr 1940 geboren, Glass im Jahr 1937); beide agierten bzw. agieren sie im Grenzbereich zwischen Neuer Musik und Pop; beiden ist der Aufstieg von Außenseitern des Musikbetriebs zu weltweit anerkannten Komponisten gelungen. Insofern wäre es auch naheliegend anzunehmen, dass Glass’ Interesse für die Strafkolonie in einer Verbindung steht mit dem Zappas, zumal Glass in seiner 2015 erschienenen Autobiographie Words Without Music erzählt, mit Zappas Musik aufgewachsen zu sein und ihn sogar als eines seiner Vorbilder nennt (Glass 2015: 229, 260). Diesem Konnex wäre weiter nachzugehen.

3. Respekt und Verfremdung: Das Libretto Damit zu Glass’ In the Penal Colony beziehungsweise zunächst zu dem Libretto dieser Oper, das von Rudolph ‚Rudy‘ Wurlitzer geschrieben wurde, einem USamerikanischen Schriftsteller (und Nachfahren des gleichnamigen Erfinders der berühmten Jukebox). Wurlitzer ist Romancier, bekannter wurde er aber als Drehbuchautor: Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher von Sam Peckinpahs Pat Garrett and Billy the Kid und von Bernardo Bertoluccis Little Buddha, nicht zu vergessen das Drehbuch von Volker Schlöndorffs HomoFaber-Verfilmung; bereits hier hatte er sich also mit einem prominenten Text der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Wie Glass in seiner erwähnten Autobiographie erzählt, lernte er Wurlitzer 1954 in Paris kennen und ist seitdem mit ihm befreundet; nach In the Penal Colony schrieb Wurlitzer auch noch das Libretto für Glass’ 2013 uraufgeführte Oper The Perfect American (Glass 2015: 55 und passim). Was aber hat Wurlitzer aus Kafkas Erzählung gemacht? Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Strafkolonie in struktureller Hinsicht einer Dramatisierung entgegenkommt, denn sie ist, wenn man so will, ein durchaus aristotelischer Text. Die drei Einheiten jedenfalls werden eingehalten: die (geschlossene und chronologisch ablaufende) Handlung spielt sich in einem Zeitraum von wenigen Stunden an einem einzigen Ort ab (der tropischen Insel, auf der sich die Strafkolonie befindet). Darüber hinaus enthält die Erzählung ausgesprochen viel Figurenrede, sodass Wurlitzer nicht allzu viel in

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Dialoge umschreiben musste; und tatsächlich hat er sich meist eng an die Dialogpartien der Erzählung angelehnt. Das Personal des Librettos ist weitgehend identisch mit dem der Erzählung: Im Zentrum stehen der Visitor4 (er entspricht dem „Forschungsreisenden“ bei Kafka) (Kafka 1994: 201-248), der Officer („Offizier“), der Guard beziehungsweise Soldier („Soldat“) und der Prisoner beziehungsweise Condemned Man („Verurteilter“). Weggefallen sind im Libretto – wie die ganze im Teehaus spielende Szene kurz vor Schluss – nur die „starke[n] Männer mit kurzen, glänzend schwarzen Vollbärten“ (E 247);5 da sie aber keine tragende Rolle spielen, fällt dies kaum ins Gewicht. Offenbar war es also ein Anliegen des Librettisten, insgesamt eine möglichst große Nähe zu seiner Textvorlage zu wahren. Kein Zweifel: Wurlitzer behandelt Kafkas Erzählung mit großem Respekt. Dennoch ist In the Penal Colony keine Literaturoper im engeren Sinn, und sie ist dies schon allein deshalb nicht, weil die Transformation der Erzählung in ein Opernlibretto grundsätzliche Veränderungen erforderlich gemacht hat (Halliwell 2005: 1944), unter anderem in Form von nicht unwesentlichen Kürzungen und Vereinfachungen. Ein Beispiel ist die folgende Passage aus der Strafkolonie: ‚Dieser Apparat‘, sagte er und faßte eine Kurbelstange, auf die er sich stützte, ‚ist eine Erfindung unseres früheren Kommandanten. Ich habe gleich bei den allerersten Versuchen mitgearbeitet und war auch bei allen Arbeiten bis zur Vollendung beteiligt. Das Verdienst der Erfindung allerdings gebührt ihm ganz allein. Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört? Nicht? Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, daß die Einrichtung der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde, wußten schon bei seinem Tod, daß die Einrichtung der Kolonie so in sich geschlossen ist, daß sein Nachfolger, und habe er tausend neue Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts von dem Alten wird ändern können. Unsere Voraussage ist auch eingetroffen; der neue Kommandant hat es erkennen müssen. Schade, daß Sie den früheren Kommandanten nicht gekannt haben! –‘ (E 205f.)

Im Libretto wird daraus: Of course you are aware that the entire apparatus was invented by our former commander. (The Officer looks over at the photograph [auf der der „Old Commander“ abgebildet ist; FvA], bowing slightly.) I was honored to assist the old commander in the first tests to perfect the result. But the Old Commander deserves all the credit. Too bad you never met him. The entire colony is his achievement as everyone knows, even the new commander. (L 13)

4 Das Libretto ist im Beiheft der bisher einzigen CD-Einspielung der Oper enthalten (Glass [2001]). Zitate daraus werden im Folgenden unter der Sigle ‚L‘ im Text nachgewiesen. 5 Zitate aus der Strafkolonie werden im Folgenden unter der Sigle ‚E‘ im Text nachgewiesen.

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Dürften die Kürzungen hier (wie auch sonst) schon allein deshalb nötig gewesen sein, weil die Oper ansonsten zu lang geworden wäre, dürften die Vereinfachungen an dieser Stelle (wie an anderen) zum einen damit zu tun haben, dass der Text der Oper auch in gesungener Form noch verständlich sein sollte, was bei wörtlichen Übernahmen aus der Erzählung kaum zu gewährleisten gewesen wäre; zum anderen musste Wurlitzer aber natürlich auch Rücksicht auf die Sangbarkeit des Textes nehmen. Und dass der Text von Kafkas Strafkolonie sich nicht von vornherein zum Singen eignet, liegt auf der Hand; in dieser Hinsicht kommt vielmehr die spezifische ‚Musikwidrigkeit‘ dieser Erzählung besonders zum Tragen. Im Libretto wurde sie also gewissermaßen entschärft. Mit der Transformation von der Erzählung in ein Opernlibretto hängt auch die Tatsache zusammen, dass Wurlitzer einzelne Passagen dramaturgisch umgestaltet hat. So lässt er zum Beispiel den Visitor in einer Art Teichoskopie beschreiben, wie sich der Officer in die Maschine legt: His hand is approaching the harrow. The harrow rises until it is ready to receive him. He touches the edge oft he bed. The bed begins to quiver. The felt strap approaches his mouth and he takes it in. Now everything is ready except fort he straps. (L 31)

Bei einem Blick auf Kafkas Text zeigt sich, warum eine solche Veränderung nötig war: Der Offizier aber hatte sich der Maschine zugewendet. Wenn es schon früher deutlich gewesen war, daß er die Maschine gut verstand, so konnte es jetzt einen fast bestürzt machen, wie er mit ihr umging und wie sie gehorchte. Er hatte die Hand der Egge nur genähert, und sie hob und senkte sich mehrmals, bis sie die richtige Länge erreicht hatte, um ihn zu empfangen; er faßte das Bett nur am Rande, und es fing schon zu zittern an; der Filzstumpf kam seinem Mund entgegen […]. (E 241f.)

Hier ist also der Erzähler derjenige, der die Beschreibung übernimmt. Da der Erzähler im Libretto jedoch wegfällt, auf diese zentrale Szene aber keinesfalls verzichtet werden konnte, musste Wurlitzer eine dramaturgische Alternative finden. Er hätte die Beschreibung auch in den Nebentext verschieben können, offenbar wollte er sich an dieser entscheidenden Stelle aber nicht darauf verlassen müssen, dass die Regisseure auch den Nebentext des Librettos ernst nehmen würden. Weiterhin ist darauf zu verweisen, dass Wurlitzer die Makrostruktur der Erzählung verändert hat. Dass die Teehausszene am Ende der Erzählung im Libretto wegfällt, wurde bereits erwähnt. Aber auch der Anfang wurde umgestaltet: Während Kafka medias in res beginnt – „‚Es ist ein eigentümlicher

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Apparat‘, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden […]“ (E 203) –, hat Wurlitzer – wiederum wohl um der Verständlichkeit willen – dem Libretto in Form eines Prologs eine Art Exposition vorangestellt, in der sich der Visitor an das Publikum wendet: I accepted the invitation to this execution out of courtesy. After all, I am a guest at this Penal Colony, it was hardly correct to refuse the commander’s invitation. I have little interest in this entire apparatus. Nor in the charges made. Nor in this deep, sandy valley. Nor in the proceedings. It all could have been left to a mechanic. Efficient. Quiet. Anonymous. But that is just my opinion and I am newly arrived. (L 10)

Solche Publikumsansprachen hat Wurlitzer auch an anderen Stellen eingefügt. Immer ist es der Visitor, der ad spectatores spricht und dabei jeweils die dramatische Illusion zerstört: ein klassischer Verfremdungseffekt, wie er im europäischen und US-amerikanischen Drama des 20. Jahrhunderts, zumal in der Tradition des epischen Theaters, häufig vorkommt. Und wie bei Brecht scheint es, als soll auch hier das Publikum auf diese Weise dazu gebracht werden, eine kritische Distanz zu dem auf der Bühne dargestellten Geschehen einzunehmen und sich nicht etwa mit dem Visitor zu identifizieren. Schließlich ist ein interessanter, ebenfalls von Wurlitzer eingefügter Metaisierungseffekt (Hauthal et al. 2012) zu erwähnen: Nachdem er dem Visitor die Maschine erklärt hat, sagt der Officer: „And then the performance begins!“ (L 18) Dieser Satz kann aufgrund der Doppeldeutigkeit des Begriffs performance, der im Englischen sowohl ‚Ausführung‘ als auch ‚Aufführung‘ bedeutet, vom Publikum in einer Aufführungssituation auf die jeweilige Aufführung bezogen werden, wodurch wiederum die dramatische Illusion zerstört und eine verstörende Analogie zwischen der Performance der Maschine und der Performance der Oper hergestellt wird. Glass hat diese Stelle – durch ein Pausieren der musikalischen Begleitung, auf die ein dreimal wiederholter dissonanter Akkord folgt – musikalisch deutlich hervorgehoben (Glass 2011, track 8, 0:20-0:35), sodass dieser Effekt auch dann zur Geltung kommt, wenn er in der Inszenierung übergangen werden sollte; offenbar war dieser Effekt also auch ihm wichtig.

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4. Reduziertes Komponieren: Die Musik Und damit zur Musik. Glass hat seine Oper als „pocket opera“ bezeichnet, als ‚Taschenoper‘ also (zit. n. Kinzer 2000). Diese merkwürdige Gattungsbezeichnung ist vor allem wohl auf die extrem reduzierte Besetzung bezogen: Benötigt werden (für den Visitor und den Officer) nur zwei Sänger (ein Tenor und ein Bassbariton) sowie (für den Soldier und den Condemned Man) zwei stumme Rollen. Zudem besteht das ‚Orchester‘ lediglich aus einem Streich­ensemble, genauer: einem Streichquintett, das sich aus einem Streichquartett und einem zusätzlichen Kontrabass zusammensetzt: eine durchaus ungewöhnliche Besetzung, die in der Operngeschichte in der Tat einmalig sein dürfte. Warum dieses ‚Taschenformat‘? Danach befragt, antwortete Glass: It’s small enough so that this year alone it will have 120 performances […]. In a regular opera you’d have to wait 20 years for that, which would never happen because everyone would be dead. (zit. n. Kinzer 2000)

Eine derart pragmatische Sicht auf die Dinge ist aber sicher nur die halbe Wahrheit, denn natürlich hat eine so ungewöhnliche Besetzung auch bestimmte Konnotationen; darauf wird gleich noch einmal zurückzukommen sein. In jedem Fall entsteht durch die Besetzung ein spezifisches Klangbild. Einen guten Eindruck davon vermittelt die instrumentale Einleitung des Prologs (Glass 2011, track 2, 0:00-3:15). Glass operiert hier mit den inzwischen gewissermaßen klassischen Mitteln der Minimal Music: Mit einer elementaren Figur (einer repetierten kleinen Terz), gespielt von der Bratsche, setzt die Musik ein; wenn aus der kleinen Terz dann eine Quint wird und der Kontrabass den Grundton markiert, wird schließlich die Tonart erkennbar: Es ist D-Moll, aber – da zu Beginn nie der ganze Dreiklang erklingt – ein zunächst unvollständiges, gleichsam ausgehöhltes D-Moll. Entsprechend ist der Klangeindruck: Düster, kalt, kahl und fahl wirkt diese Musik, außerdem seltsam ungerichtet; die Bewegung ist zirkulär eher als linear. Melodik gibt es an dieser Stelle nicht, ja noch nicht einmal Ansätze dazu. Die Harmonik ist auch im weiteren Verlauf deutlich reduziert: Die Modulationen bewegen sich ganz im Rahmen eines der harmonisch weniger komplexen Bach’schen Präludien. Signifikant ist aber, dass Glass an einer Stelle eine charakteristische harmonische Wendung aus der Opernmusik der Vergangenheit (zumal der Barockoper) verwendet: den sogenannten Neapolitanischen Sextakkord, der seiner überraschenden Dissonanz wegen in der Regel für Affekte des Leids und des Schmerzes eingesetzt wurde. Der musikalisch gebildete Hörer dürfte diese Affekte auch hier assoziieren.

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Aufgrund des völlig veränderten Kontextes, in dem der ‚Neapolitaner‘ hier erscheint – ein Stilmittel der Barockoper in einer Oper aus dem Jahr 2000 –, löst er aber zugleich einen massiven musikalischen Verfremdungseffekt aus: Zwar fühlt der sich Hörer an Vertrautes erinnert, doch das Vertraute, da es eben in einer gänzlich unvertrauten Umgebung erscheint, wirkt so fremd wie befremdlich. Vor allem dadurch entsteht der Eindruck, dass man es hier mit ‚uneigentlicher Musik‘ zu tun hat: mit einer doppelbödigen, ambivalenten, auf unheimliche Weise unbestimmt bleibenden Musik. Die Technik, Vertrautes in einen unvertrauten Kontext zu stellen (und umgekehrt), lässt sich in der Musik von In the Penal Colony aber auch noch auf anderen Ebenen beobachten. Zum einen im Hinblick auf die Instrumentation: Wie gesagt ist ein Streichquintett eine völlig untypische Besetzung für ein Opernorchester. Zum anderen im Hinblick auf die Spielweise: Anders als in einem Streichquintett von Mozart oder Schubert spielen die Geiger hier keine gesanglichen Melodien, sondern sind, wie die tiefen Streicher auch, in erster Linie Bestandteil einer pulsierenden, durch ‚pattern‘ strukturierten Klangfläche. Nicht zuletzt gilt dies aber auch für den Stoff der Oper, der hier eben nicht in der vertrauten Form von Kafkas Erzählung, sondern in der unvertrauten Form von Glass’ Oper erscheint. Nimmt man all dies zusammen, liegt es nahe – mit aller bei diesem Begriff gebotenen Vorsicht – zu vermuten, dass Glass versucht hat, für seine Kafka-Oper eine Musik zu komponieren, die ‚kafkaesk‘ klingt; bekanntlich hat sich dieser Begriff längst ja auch im Englischen eingebürgert, wo kafkaesque gegenwärtig als „marked by surreal distortion and often a sense of impending danger“ definiert wird ( [31.03.2016]). In jedem Fall könnte man die instrumentale Einleitung als kafkaesk in diesem Sinn beschreiben. Die Entsprechungen zwischen Kafkas Text und der Musik von Glass gehen über eine solche atmosphärische Übereinstimmung aber hinaus. Um dies zu bemerken, muss man sich Kafkas ‚Poetik der Reduktion‘ vor Augen führen: Gemeint ist damit die Reduktion der erzählerischen Mittel auf mehreren Ebenen, etwa im Hinblick auf die Kargheit der Lexik oder die Beschränkung auf die Darstellung äußerer Vorgänge (Oschmann 2010: 439-441); auch in der Strafkolonie lassen sich diese Prinzipien beobachten (Auerochs 2010: 210f.). Wie sich bereits gezeigt hat, ist die Musik von In the Penal Colony aber nun ebenfalls durch eine Reduktion der kompositorischen Mittel gekennzeichnet, eine massive sogar: Beim Verzicht auf Melodik wird dies besonders deutlich erkennbar, nicht weniger deutlich aber bei der Kargheit der Instrumentation und – damit verbunden – der Klangfarben. Hier besteht also in der Tat ein

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Entsprechungsverhältnis zwischen Textvorlage und Musik: Glass’ reduziertes Komponieren entspricht Kafkas reduziertem Erzählen; über alle medialen und sonstigen Unterschiede hinweg verbindet den Erzähler und den Komponisten ihre Poetik der Reduktion. Möglicherweise ist damit ein Grund dafür gefunden, warum gerade diese Strafkolonie-Oper von einem großen internationalen Publikum als ästhetisch so überzeugend empfunden wurde. Einige der grundlegenden Erfahrungen beim Lesen von Kafka-Texten kann man beim Hören dieser Kafka-Oper eben auch machen, und dies dürfte von vielen Zuhörern als ästhetisch befriedigend empfunden werden. Kritisch könnte man hierzu anmerken, dass Glass sich mit anderen Aspekten von Kafkas Poetik nicht auf vergleichbare Weise auseinandergesetzt hat, wobei an erster Stelle der – bei einer Vertonung zentrale – Aspekt der ‚Musikwidrigkeit‘ zu nennen ist: Davon, dass Glass sich die Frage nach der Vertonbarkeit der Strafkolonie gestellt und sich außerdem einer so grundlegenden wie kritischen Selbstbefragung unterzogen hätte, ist jedoch nichts zu merken. Dies wird schon daran erkennbar, dass sich In the Penal Colony im Hinblick auf die verwendeten kompositorischen Mittel nur teilweise von anderen Glass-Opern unterscheidet. Anders gewendet: Glass hat Kafka nicht wesentlich anders vertont als Poe (in der Oper The Fall of the House of Usher) oder Coetzee (in der Oper Waiting for the Barbarians). Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es die genannten Entsprechungen bei In the Penal Colony gibt und dass sie zu einem für viele Rezipienten dieser Oper ästhetisch befriedigenden Gesamteindruck beitragen dürften. Eine zentrale Stelle der Oper, die zugleich das Spektrum der Glass’schen Kafka-Musik deutlich macht, sei hier noch herausgegriffen: der Beginn der achten Szene, wo die Maschine zum ersten Mal – aber noch ohne jemanden darin – zu arbeiten beginnt: „(Everything starts creaking and moving at once. The Visitor climbs up the ladder, peers cautiously over the side.)“ (L 20), (Glass 2011, track 10, 0:00-2:45) Glass hat hierzu eine suggestive Maschinenmusik in f-Moll komponiert, die den ersten Teil der Regiebemerkung gewissermaßen wörtlich nimmt: Über einem unerbittlich durchgehaltenen motorischen Grundrhythmus entfaltet sich eine musikalische Textur von großer Aggressivität, ja Destruktivität. Insofern erinnert diese Stelle an entsprechende Stücke der musikalischen Moderne: etwa das Scherzo von Bruckners 9. Symphonie oder Arthur Honeggers Pacific 231. Die Passage enthält aber auch eine Anspielung auf ein älteres Werk der Musikgeschichte: Schon allein die Besetzung lässt an Schuberts Streichquintett denken, in dessen langsamem Satz eine ähnlich zerrissen-bewegte Passage enthalten ist, die überdies auch in derselben Tonart steht. Hat man diesen Bezug wahrgenommen, kommt man nicht umhin, die

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Stelle bei Glass als eine Antwort auf die Stelle in Schuberts Streichquintett zu interpretieren: Schuberts Komposition aus dem frühen 19. Jahrhundert wird hier eine durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägte und entsprechend noch entsetzlichere, nämlich total entmenschlichte Maschinenmusik entgegengesetzt; Glass versucht, Schubert im Hinblick auf die Abgründigkeit seiner Musik gleichsam noch zu überbieten. Unterstützt wird diese These durch Glass selbst, der in seiner Autobiographie erzählt, wie er die klassische Kammermusik – darunter auch die Schuberts – schon als Kind so intensiv rezipiert habe, dass sie zu seinem „basic musical vocabulary“ geworden sei (Glass 2015: 18). Unterstützt wird die These weiterhin dadurch, dass in der Oper kurz darauf eine weitere Schubert-Anspielung folgt, und zwar in dem Moment, als der Officer den Ausdruck auf den Gesichtern der Bestraften beschreibt, der angeblich eintritt, wenn sie sechs Stunden lang von der Maschine gequält worden sind: Even the least of men is now enlightened. It starts around the eyes and from there it spreads. A look that might seduce you, Tempt you, into joining him. Yes, joining him under the harrow. Yes, joining him under the harrow. (L 20)

An dieser Stelle verändert sich die Musik plötzlich grundlegend (Glass 2011, track 10, 2:46-4:16): Auf die grausame Maschinenmusik in f-Moll folgt eine friedliche Passage in F-Dur, wobei die anfangs vom Cello gespielten Akkordbrechungen – sicherlich nicht zufällig – an die Begleitfiguren von Schuberts Ave Maria erinnern. Auf diese Weise erzeugt Glass hier eine religiöse, epiphanische Aura, die innerhalb all der sie umgebenden Düsternis nur umso stärker wirkt: Dass dies freilich eine Illusion des Officer ist, zeigt sich spätestens dann, wenn er von der Maschine getötet wird und dabei jede Epiphanie ausbleibt. Diese Stelle ist auch in anderer Hinsicht interessant: Die Musik, die zuvor die Schrecken der Maschine zum Ausdruck gebracht hat, verändert jetzt ja plötzlich die Perspektive; sie nimmt nun gewissermaßen den Standpunkt des Officer ein. Vielleicht könnte man in Analogie zu der narratologischen Kategorie der erlebten Rede hier von ‚musikalisch erlebter Rede‘ sprechen: Während bei der erlebten Rede die Erzählinstanz die Worte oder Gedanken einer Figur aus deren Sicht ohne distanzierende verba dicendi oder sentiendi wiedergibt, passt sich in der intermedialen Variante der musikalisch erlebten Rede die Musik den Worten oder Gedanken einer Figur an, ohne sich davon zu distanzieren, in diesem Fall eben den Worten des Officer, wodurch ein Effekt von großer Eindringlichkeit entsteht. Glass hat diese Technik nicht

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erfunden: Schon in Wagners Opern spielt sie etwa eine wichtige Rolle; ein einschlägiges Beispiel ist die erste Szene des zweiten Tristan-Akts, wo die Musik sich stellenweise der (durch den Liebestrank veränderten) Wahrnehmung Isoldes anpasst. Doch so oder so: Nicht zuletzt solche bewährten, von Glass mit einem sicheren Gespür für starke Effekte eingesetzten Techniken dürften zu dem Erfolg von In the Penal Colony beigetragen haben.

5. Soundtrack für die Hinrichtung: Die Inszenierung Abschließend sei noch ein Blick auf die Inszenierung von In the Penal Colony geworfen, in der die Oper am 31. August 2000 in Seattle uraufgeführt wurde. Regie geführt hatte damals, wie erwähnt, JoAnne Akalaitis. Wie die Regisseurin in einem Artikel für die New York Times, in dem sie detailliert über ihre Inszenierung Auskunft gibt, berichtet, war Glass aber intensiv daran beteiligt (Akalaitis 2001). Diese ‚Ur-Inszenierung‘ ist in verschiedener Hinsicht interessant: erstens, weil Akalaitis als eine weitere Figur Kafka selbst eingeführt und ihn Passagen aus seinen Tagebüchern hat sprechen lassen; auf diese Weise wurde dem Publikum eine biographische Lesart der Oper beziehungsweise der ihr zugrunde liegenden Erzählung nahegelegt. Zweitens, weil Soldier und Condemned Man in Anlehnung an Estragon und Wladimir in Samuel Becketts En attendant Godot als komödiantisch-clowneskes Paar inszeniert wurden; damit wurde die Oper (wie auch schon durch die Verwendung klassischer Verfremdungseffekte im Libretto) in die Tradition des modernen europäischen Dramas gestellt. Und drittens, weil das Streichquintett nicht, wie üblich, von der Bühne separiert, sondern im Gegenteil in das Bühnenbild und damit auch in die Handlung integriert wurde. In den Worten der Regisseurin: We decided that the members of the chamber music group would live in the penal colony. They would be a mix of military and civilian musicians, including a married couple – devoted amateurs who play chamber music at evening salons but also at executions. (Akalaitis 2001)

Man könnte auch sagen, dass das Streichquintett in dieser Inszenierung den Soundtrack für die Hinrichtung lieferte. So surreal diese Idee auf den ersten Blick erscheinen mag, so erschreckend konkret wirkt sie, wenn man sie mit einer keineswegs fernen historischen Realität in Verbindung bringt: dem Holocaust. Und eine solche Verbindung herzustellen ist in der Tat naheliegend, denn die Aufführung von Musik und gerade auch von Kammermusik

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hat in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus bekanntlich eine so große wie grauenhafte Rolle gespielt (John 1991; Fackler 2000). „Streicht dunkler die Geigen“ – so heißt es in Anspielung darauf in Celans Todesfuge (Celan 2003: 40). Und auch in einem zentralen – und international überaus erfolgreichen – Werk der Minimal Music wird dieser Bezug hergestellt: in Steve Reichs Komposition Different Trains von 1988. Die Erzählungen von Holocaust-Überlebenden werden hier von zwei Streichquartetten begleitet, wobei der Bezug auf die (Kammer-)Musik in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs ebenfalls eine wichtige Rolle spielt (Ammon 2004). Es ist also anzunehmen, dass das Herstellen einer Verbindung zwischen den Ereignissen in der fiktiven Strafkolonie und denen in den realen Konzentrationslagern des Nationalsozialismus von Akalaitis und Glass intendiert war. Zumindest müssen sie – zumal Glass dies durch seine auffällige Wahl eines Streichquintetts ja noch befördert hat – damit gerechnet haben, dass ein solcher Zusammenhang vom Publikum hergestellt werden würde. Wie Akalaitis berichtet, sei dies auch tatsächlich geschehen: Some members of the audience in Chicago said they were reminded of the performances by musician-prisoners in the camps during the Holocaust. (Akalaitis 2001)

Einmal mehr, wenn auch indirekt, wurde Kafkas Strafkolonie in dieser Inszenierung also mit den Konzentrationslagern des Dritten Reichs in Verbindung gebracht. Und wenn man Glass’ hier bereits mehrfach zitierte Autobiographie liest, beginnt man auch zu ahnen, warum. Der Komponist beschreibt dort, wie er als Kind im Kino völlig unvorbereitet Filmaufnahmen gesehen habe, die nach der Befreiung der Konzentrationslager durch US-amerikanische Soldaten entstanden waren: Going to the movies every Saturday was part of growing up in Baltimore in the 1940s. We would see a double feature and previews and newsreels. This was how we learned about the war. After the Germans were beaten, when I was eight years old, I remember clearly seeing newsreels of American soldiers entering the concentration camps. The images the cameramen had filmed were shown in movie houses all over the United States. No one thought anything about it – there were no warnings that you might be upset if you watched it. In those films you actually saw skulls and piles of human bones. You saw what the soldiers saw when they walked in, because right behind the soldiers were the cameras. (Glass 2015: 14)

Diese Bilder müssen sich dem Gedächtnis des Kindes tief eingeprägt haben. Und damit nicht genug: Wie Glass weiter erzählt, habe seine Mutter nach dem Krieg Holocaust-Überlebende bei sich aufgenommen: After the war, refugees were arriving in America and my mother immediately began to help. By 1946 our house had become a halfway house, a place for the survivors who had

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no place to go. We had any number of people who would come and stay for a few weeks and then they would be resettled. As a young child, I was frightened. They did not look like anyone I knew. These were men who were skinny with numbers tattooed on their wrists. They couldn’t speak English, and they looked like they had come back from hell, which is literally what had happend. I knew they had survived something terrible. We had seen what the camps looked like in the newsreels, and then we met survivors who came from those very places. (Glass 2015: 14)

Auch dies müssen traumatische Erfahrungen für den jungen Philip Glass gewesen sein, zumal er ja ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammt. Damit ist auch eine mögliche Erklärung dafür gefunden, warum es ihm in den 1950erJahren noch nicht gelungen war, die Strafkolonie zu vertonen. Die zeitliche Distanz zu den Ereignissen des Holocaust, die in der Erzählung teilweise vorweggenommen zu werden scheinen, war damals noch nicht groß genug.

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Marion Saxer

Ein Prozess experimentellen Erprobens. Salvatore Sciarrinos La porta della legge nach Kafkas Vor dem Gesetz „Wie findet man Zugang zu Kafkas Werk?“ fragen Gilles Deleuze und Félix Guattari zu Beginn ihres dünnen Bändchens Kafka. Für eine kleine Literatur und fahren fort: Es ist ein Rhizom, ein Bau. Das Schloß hat ‚vielerlei Eingänge‘, deren Benutzungs- und Distributionsgesetze man nicht genau kennt. [...] Das Prinzip der vielen Eingänge behindert ja nur das Eindringen des Feindes, des Signifikanten; es verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu ‚deuten‘ versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will. (Deleuze/ Guattari 1976: 7)

Die folgende Untersuchung zu Salvatore Sciarrinos 2009 entstandenem Musiktheaterwerk La porta della legge. Quasi un monologo circolare, mit einem vom Komponisten selbst verfassten Libretto nach Kafkas Text Vor dem Gesetz, geht davon aus, dass es sich bei Sciarrinos Transfer des Kafka’schen Textes auf die Musiktheaterbühne um ein solches von Deleuze und Guattari anvisiertes experimentelles Erproben handelt. Ja es soll sogar gezeigt werden, dass sich Sciarrinos mediale Übertragung in Musik und Bühnenaktion als besonders geeignet erweist, um einen Zugang zu Kafka zu eröffnen – jenseits der von Deleuze und Guattari zu Recht verworfenen Deutungsdimension. Denn bereits der Medienwechsel selbst gewinnt durch die ihm inhärente mediale Differenz experimentellen Charakter.1 Zu jener medialen Eigenwirksamkeit von Übertragungsprozeduren hat Bruno Latour in der Nachfolge McLuhans einmal bemerkt: „Warum nicht anerkennen, [...] dass Übertragung von Information nie stattfindet außer durch subtile und mannigfache Transformationen“. (Latour 2002: 366) Es sind gerade jene durch die Übertragung sich zwangsläufig ergebenden „subtile[n] und mannigfache[n] Transformationen“, von denen Latour spricht, die, als ästhetische Strategien eingesetzt, jenseits intendierter 1 Dagegen ist es im Medium der Sprache der Sekundärliteratur fast unmöglich, sich der ­Exegese zu enthalten. Das dokumentiert auch Deleuzes/Guattaris Schreiben über Kafka, bei allem Respekt für ihre heroischen und zum Teil auch gelingenden Bemühungen, der ‚Suche nach dem Signifikanten‘ zu entkommen.

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Deutung Neues und Unerwartetes am Originaltext freizusetzen und – durch die Aktualisierung des Geschehens auf der Opernbühne – zur sinnlichen Anschauung zu bringen vermögen. Die Sciarrino’sche Opernfassung des Kafka-Textes erweist sich dabei insofern als besonders geglückter Sonderfall, als Übertragungsstrategien ohnehin als die zentralen kompositorischen Verfahrensweisen des Komponisten bezeichnet werden können, die er bereits vor der Entstehung von La porta della legge in zahlreichen Werken sehr bewusst, brillant und zugleich subtil eingesetzt hat. Darüber hinaus ist Sciarrinos künstlerisches Denken durch einige erstaunliche Affinitäten zu Kafka geprägt. Den folgenden Ausführungen liegt deshalb die These zugrunde, dass Sciarrino dem Kafka’schen Denken so nahe steht, dass sich seine Musiktheaterfassung des berühmten Textes weniger als eine Neudeutung, sondern in gewisser Hinsicht sogar als eine Zuspitzung bzw. Verdichtung des Originals verstehen lässt. Einige Aspekte dieses kompositorischen Kafka-Experiments seien im Folgenden erläutert.

Form eins Alle Musiktheaterwerke Sciarrinos sind musikdramatische Formexperimente, in denen er die traditionellen Formen insbesondere im Sinn des postdramatischen Theaters bereichert. Sein bisher extremstes formales musikdramatisches Wagnis hat Sciarrino in Da gelo a gelo. 100 scene con 65 poesie (deutsch: Die Kälte) aus dem Jahr 2006 geschaffen, das jegliche hergebrachte musikdramatische Dynamik negiert und hundert, zum Teil sehr kurze Einzelszenen aneinanderreiht, um die Entwicklungslosigkeit der Beziehung zwischen der Hofdame Izumi und einem nicht näher bezeichneten ‚Prinzen‘ zum Ausdruck zu bringen. Mit Da gelo a gelo manifestiert Sciarrino bereits eine Kafka’sche Welt, denn obwohl er sich darin eines historischen Textes aus dem Japan der Zeit um 1000 n. Chr. bedient, verweist die Handlung auf einen zentralen Aspekt Kafka’schen Schreibens, indem sie an seine Fixierung auf das Briefeschreiben erinnert. Deleuze und Guattari bemerken zu Recht, dass sich die Briefe von Kafkas Gesamtwerk nicht trennen ließen, da dieses sich ja nicht durch eine Publikationsabsicht definiere. In Kafkas scheiternder Beziehung zu Fe-

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licitas Bauer ersetzt der „Strom der Briefe den Anblick und die Ankunft.“2 Auch in Da gelo a gelo sind die beiden Liebenden so sehr aufeinander fixiert, dass die Außenwelt nicht zu ihnen durchdringen kann. Sie kommunizieren ausschließlich brieflich miteinander und entbehren deshalb meist der realen Gegenwart. Ihre Liebe findet keine Erfüllung. Beim Lesen der Briefe ist der andere präsent und abwesend zugleich, was Sciarrino durch einen inszenatorischen Kunstgriff verdeutlicht, indem beim Lesevorgang zwar jeweils der oder die Lesende auf der Bühne zu sehen ist, der Text des Briefes aber von der Stimme des abwesenden Schreibenden intoniert wird. Izumis Verhalten ist von Ambivalenz geprägt. Und genau dann, wenn sie sich zum ersten Mal für den Prinzen entscheidet und auf sein Drängen hin zu ihm in seinen Palast zieht, wenn also eine ‚Handlung‘ im traditionellen Sinn einsetzt und traditionelle Erzählstrukturen zu greifen beginnen, bricht die Außenwelt destruktiv in die Beziehung ein, worauf das Geschehen unvermittelt abreißt und die Oper völlig unerwartet, plötzlich endet. Auch La porta della legge ist ein wagemutiges musiktheatrales Formexperiment: Die Türhüterepisode wird zweimal erzählt – wobei die Wiederholung eine subtile Transformation des ersten Durchlaufs darstellt – und bricht, nachdem sie zum dritten Mal ansetzt, ebenfalls abrupt ab. Damit negiert das Stück, wie bereits Da gelo a gelo, jeden traditionellen musikdramatischen Spannungsbogen. Die Geschichte, so legt die repetitive Form nahe, könnte prinzipiell in einem unendlichen Zirkel immer wieder aufs Neue beginnen. Mit der in La porta della legge angedeuteten, unendlichen Wiederholbarkeit greift Sciarrino eine Eigenheit der Kafka’schen Türhüterparabel sowie des gesamten Romans Der Prozeß auf. Bereits Max Brod hat im Nachwort zur ersten Ausgabe auf dessen prinzipielle Unabschließbarkeit hingewiesen: Da aber der Prozeß nach der vom Dichter mündlich geäußerten Ansicht niemals bis zur höchsten Instanz vordringen sollte, war in gewissem Sinne der Roman überhaupt unvollendbar, das heißt in infinitum fortsetzbar. (zit. n. Deleuze/Guattari 1976: 61)

Dass Unabschließbarkeit zum Formgesetz Kafka’schen Schreibens gehört, hat auch etwas mit seiner Aversion gegen die Metapher zu tun. „Die Metaphern sind eines von dem vielen, das mich am Schreiben verzweifeln lässt“ (zit. n. Deleuze/Guattari 1976: 32), notiert er in seinen Tagebüchern: Bewusst zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation. Die Metamorphose – das heißt die Verwandlung – ist das Gegenteil der Metapher. Es gibt keinerlei Sinn mehr, weder primären noch übertragenen, es gibt nur noch Vertei2 Zur Bedeutung des Briefschreibens bei Kafka s. Deleuze/Guattari (1976: 40-48, hier 44). Zum Motiv gescheiterter Kommunikation im Musiktheater Sciarrinos s. Saxer (2006).

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lung von Zuständen über das aufgefächerte Wort. Die ‚Sachen‘ und die ‚anderen Sachen‘ sind nur noch Intensitäten, durchzogen von deterritorialisierten Lauten und Worten, die ihren Fluchtlinien folgen. [...] Es geht um ein Werden, das, [...] die größtmögliche Differenz umfasst, die Intensitätsdifferenz, das Überschreiten einer Schwelle, Aufstieg oder Fall, Niedergang oder Erhebung, Wortbetonung. [...] Die Sequenzen vibrieren, die Sprache wird asignifikant, also intensiv genutzt. (Deleuze/Guattari 1976: 32; Herv. i. O.)

Sciarrinos Übersetzung des Türhüter-Textes in eine nicht enden wollende musikalische Bewegung entspricht dem von Deleuze/Guattari anvisierten prozessorientierten Gestus des Kafka’schen Denkens in besonderem Maß. Die Musikalisierung als ein der Tendenz nach unendlicher Fluss musikalischer Intensitäten vermag jenen Raum jenseits von Bedeutungen als einen Raum experimentellen Erprobens zu eröffnen, von dem Deleuze/Guattari sprechen.

Text Wie in allen seinen Musiktheaterwerken verfasst Sciarrino auch in La porta della legge das Libretto selbst, indem er sich auf eine bereits vorhandene Textvorlage stützt und diese in einem Prozess der Übertragung, Reduktion und Verdichtung bearbeitet (zum vollständigen Text siehe Textbeispiel 4). Die Eingriffe, die Sciarrino dabei an dem Kafka’schen Originaltext vorgenommen hat, sind durchaus erheblich. Zunächst transferiert er den Text in seine Muttersprache, das Italienische. Dieser Akt der Aneignung geschieht zugleich auch aus kompositorischem Kalkül, denn das Italienische – als Sprache der Gattung Oper schlechthin auch eine historische Referenz – entspricht zweifellos in hohem Maß Sciarrinos klanglichen Vorstellungen im Hinblick auf die Verwendung der Singstimme.3 Die Übertragung selbst ist keine wortgetreue Übersetzung. So wird der bei Kafka mit ‚Mann vom Lande‘ nur ungenau charakterisierte Protagonist des Geschehens, bei Sciarrino lediglich als ‚Mann 1‘ und bei der Wiederholung als ‚Mann 2‘ bezeichnet und damit noch weiter entindividualisiert und abstrahiert, die antipsychologische Haltung Kafkas wird bei Sciarrino dadurch noch zugespitzt. Zudem verwandelt Sciarrino die Kafka’sche Narration in einen Monolog; quasi un monologo circolare, lautet denn auch der Untertitel des Werks. Mit diesen subtilen Verschiebungen erzeugt 3 Ob die Textgrundlagen für Sciarrinos Libretti Englisch (Macbeth nach Shakespeare), Französisch (Perseo e Andromeda, Lohengrin nach Laforgue) oder Japanisch (Da gelo a gelo) sind, stets überträgt er sie ins Italienische.

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Sciarrino eine komplizierte, schwebende Situation: Obgleich der Türhüter in der Sciarrino’schen Textfassung lediglich als fiktionale Person im inneren Monolog des Mannes 1 figuriert, ist er auf der Opernbühne als ‚real‘ handelndes Subjekt zu sehen, das mit Mann 1 interagiert, wodurch sich dieser gleichzeitig auf zwei Realitätsebenen bewegt: Er erzählt und agiert die Erzählung zugleich aus. Und paradoxerweise geht der Monolog in einer Art Kafka’schen inneren Labyrinthik auch dann weiter, wenn das Subjekt dieses Monologs, der Mann 1 perdu ist. Beim zweiten Durchgang bleibt der Türhüter unverändert präsent und agiert wieder genauso als real antwortender Gegenpart im Monolog des Mannes 2. Für die Rezipienten erzeugt diese paradoxe Konstellation jenes kafkatypische Oszillieren zwischen zwei Realitätsebenen, das nie zu einem Ende finden kann: Begreift man den Türhüter als bloße Fiktion des Mannes 1, dann bleibt die Tatsache verstörend, dass der Monolog in den Tod des Mannes führt, der vom Türhüter überlebt wird. Fokussiert man eher die Handlung, die auf der Bühne zu sehen ist, dann ist die sprachliche Form des Monologs nicht adäquat. Stets bleibt eine kognitive Dissonanz bestehen, die nicht aufgelöst werden kann.4 Bereits hier wird deutlich, dass Sciarrinos durchaus gewagte Modifikationen des Kafka’schen Originals als in hohem Maße kafkaaffin zu bezeichnen sind. Die paradoxen Vervielfachungen und Verschachtelungen der Realitäts­ ebenen, die Sciarrino durch die Verwandlung in einen inneren Monolog erzielt, entsprechen durchaus Kafka’schen Irritationsstrategien, die bei den Lesern jenes typische, unauflösbare Oszillieren zwischen verschiedenen Erklärungsansätzen erzeugen, in das Versuche zu einer eindeutigen Deutungsgewissheit zu gelangen, unweigerlich geraten. Die Richtung des Sciarrino‘schen KafkaExperiments zeichnet sich ab: Es scheint Sciarrino mit seiner MusiktheaterAdaption darum zu gehen, die Türhüter-Parabel im Sinne Kafkas zu verdichten und zu intensivieren. In einem Punkt allerdings setzt Sciarrino durch die Transformation in den Monolog einen anderen inhaltlichen Akzent als Kafka. Die Bedeutungsmodifikation, die der Satz „La porta della legge é sempre aperta“ mittels der direkten Rede erfährt, ist beträchtlich: Während bei Kafka lediglich die Erzählstimme jenen für das Gesamtgeschehen so bedeutsamen Sachverhalt konstatiert und damit offenbleibt, ob der ‚Mann vom Lande‘ davon weiß, geben bei Sci4 Sciarrino selbst bemerkt zur Realitätsverschiebung in La porta della legge: „Beim Hören ist klar, dass das Drama beginnt, während der Protagonist kurz davor ist, zu sterben Sein Gedanke wendet sich zurück für einen Moment, der alles erinnert, alles zusammenfasst. Wir sind Zuschauer dieses verzweifelten Blicks.“ In: Programmheft der Uraufführung vom 25. April 2009 an der Oper Mannheim, hrsg. v. Nationaltheater Mannheim, 9.

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arrino Mann 1 und 2 deutlich zu erkennen, dass ihnen bekannt ist, dass das Tor zum Gesetz immer offen steht. Sie wissen demnach, dass sie die Schwelle jederzeit überschreiten könnten, wenn sie sich nicht von den Verboten des Türhüters zurückhalten ließen.5 Die Monologform trägt darüber hinaus zu einer weiteren typischen Übertragungsstrategie Sciarrinos bei: der extremen Reduktion des Ausgangstextes. Sciarrinos Libretto enthält alle narrativen Elemente des Kafka’schen Originals – von dem ersten zurückgewiesenen Begehren des Mannes über die Selbstbeschreibung des Türhüters, die Verhöre, die Bestechungsversuche bis zur Betrachtung der Flöhe im Pelz des Türhüters und zu dem bekannten Schluss. Dass der Librettotext dennoch wesentlich kürzer gerät, verdankt sich der durchgehenden direkten Rede des Monologs, die ein unmittelbares In-der-Situation-Sein evoziert und es erlaubt, berichtende Situationsbeschreibungen knapp zu integrieren oder sogar ganz wegzulassen. So erscheint die Sciarrino‘sche Fassung gleichsam als die Essenz des Kafka’schen Originals. Vor dem Gesetz ist ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“ sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen.

Mann 1: Türhüter: Mann 1:

Nichts. Er kann es mir nicht gestatten. Er sagt, dass er es mir nicht gestatten kann, sagt er. Vielleicht später sagt er. Das Tor zum Gesetz ist immer offen. Ich bestehe darauf: Ich möchte eintreten.

Textbsp. 1: Beginn Franz Kafkas Vor dem Gesetz und Beginn Salvatore Sciarrinos Das Tor zum Gesetz (Libretto, in deutscher Übersetzung).

Doch Sciarrino belässt es nicht bei der einen Übertragung. Im zweiten Durchlauf präsentiert er eine weitere Textvariante. Die Parameter der Veränderung dieser Übertragung der Übertragung sind wohlüberlegt. Im Textbeispiel 2 ist der Anfang der beiden Szenen – nun in italienischer Sprache – wiedergegeben. 5 Rainer Nonnenmanns (2009) Deutung der gesamten Oper als „Metapher für die zu mythischem Eingang in selbstverschuldete Unmündigkeit verkehrte Aufklärung“ gewinnt durch diese Textverschiebung an Plausibilität. Die vorliegenden Ausführungen versuchen jedoch im Gegensatz dazu die kafkaaffinen Züge an Sciarrinos Werk stark zu machen und daran den Gestus des experimentellen Erprobens jenseits der Metaphernbildung herauszuarbeiten.

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Ein Prozess experimentellen Erprobens Scena 1 L’Uomo 1

L’Usciere L’Uomo 1 L’Usciere L’Uomo1 L’Usciere L’Uomo 1 L’Usciere L’Uomo 1 L’Usciere

Niente. Non può concedermelo. Dice che non può concedermelo, dice. Forse più tardi dice. La porta della Legge è sempre aperta. Insisto: vorrei entrare Forse più tardi dice ora no. Sbircio nel vano, il guardiano ride. Se L’attira tanto dice provi a passare! [...]

Scena 2 L’Uomo 2 Non può farmi entrare. Dice che non può. Glielo chiedo ogni giorno. Anche oggi. Lo prego. Lo supplico. L’Usciere Forse più tardi L’Uomo 2 dice il guardiano L’Usciere ora no. L’Uomo 2 La porta della Legge è sempre aperta. Allungo il collo per guardare dentro e lui ride. L’Usciere Se ti attira tanto L’Uomo 2 dice L’Usciere provaci. [...]

Textbsp. 2: Beginn Scena 1 und Beginn Scena 2 in italienischer Sprache.

Wie schon in der ersten Übertragung bleiben die vom Original übernommenen narrativen Elemente vollständig erhalten: Was gesagt wird, bleibt gleich, lediglich wie gesagt wird, variiert. Der Blick auf die italienischen Fassungen zeigt, dass Sciarrino häufig mit kurzen, prägnanten sprachlichen Prägungen arbeitet, die wie Module verwendet werden. Einige dieser Prägungen werden im zweiten Durchlauf übernommen, teilweise sogar an gleicher Stelle, wie z. B. das erste „Dice che non può“ des L’Uomo 1 und 2 und die Antwort von L’Usciere: „Forse più tardi“. Andere Formulierungen werden ebenfalls wörtlich übernommen, wie z. B. die zentrale Aussage „La porta della legge è sempre aperta“; in der zweiten Szene werden jedoch einige Module mehr vorgelagert, sodass der Satz etwas später im Textverlauf erscheint. Für viele Formulierungen findet Sciarrino im zweiten Durchlauf rein grammatikalische Varianten, wie z. B. „Se L’attira tanto“ / „Se ti attira tanto“ oder „provi a passare!“ / „provaci“. Schließlich ändert Sciarrino in einer weiteren Variantenform die Wortwahl: „Non può concedermelo“ / „Non può farmi entrare“ („Er kann es mir nicht gestatten“ / „Er kann mich nicht hineinlassen“). Für die musikalische Umsetzung ist es zudem von großer Bedeutung, dass die Längen der einzelnen Textabschnitte ungefähr gleich sind.6 Indem Sciarrino zwei Textvarianten anbietet, macht er seine Übertragung flexibel, er bringt sie in Fluss, prozessualisiert sie gleichsam. Der unendliche 6 Siehe dazu weiter hinten in diesem Text.

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Zirkel der Wiederholung vollzieht sich stets gleich und immer etwas anders. Für die Rezipienten ergibt sich dadurch bereits auf der Textebene ein Spiel der Erinnerung, des ungefähren Wiedererkennens, „damit unsere Erinnerung und unsere Zweifel zusammenkommen und sich vermischen“,7 kommentiert der Komponist im Vorwort der Partitur. Dass Sciarrino aus der ehernen Textgestalt Kafkas zwei Versionen der Bearbeitung gewinnt, relativiert zudem den eigenen Anspruch, es geht ihm eben nicht darum, eine verbindliche Übertragung zu gestalten, die mit dem Original konkurrieren könnte, sondern darum, ein Libretto zu schaffen, das in seiner experimentellen, prozessualen Form den Ansprüchen der Musiktheaterbühne in besonderer Weise gerecht wird. In der Komposition selbst wird der Text allerdings nicht in der von Sciarrino am Beginn der Partitur angegebenen Form wiedergegeben. Ist diese bereits durch Wiederholungen geprägt, so werden in der komponierten Fassung ungleich mehr Repetitionen einzelner Sprachmodule eingefügt. Dadurch gewinnt Sciarrino eine größere Flexibilität hinsichtlich der Zeitgestaltung – je häufiger eine Wendung repetiert wird, desto stärker stagniert die Situation. Ein Vergleich der komponierten Textgestalten der ersten beiden Szenen macht dies deutlich. Scena 1 Niente niente non può concedermelo non può niente dice che niente niente niente dice che non dice che non può dice non può concedermelo dice niente niente niente dice dice che può non concedermelo non può non può niente niente Ora no dice Forse più tardi dice Forse Non può Piu tardi. No No Forse

Scena 2

Non può farmi entrare. Dice dice dice dice dice che non può Glielo chiedo ogni giorno Anche oggi. Lo prego

7 Sciarrino, Salvatore: La porta della legge. – In: Programmheft der Uraufführung vom 25. April 2009 an der Oper Mannheim, hrsg. v. Nationaltheater Mannheim, 10.

Ein Prozess experimentellen Erprobens Forse? No. Forse più tardi dice Più tardi forse, forse La port’ é apert’ é aperta No. Più tardi La port’ é aperta é sempre aperta La porta della Legge é sempre aperta la Porta la port’ é sempre aperta É aperta sempre sempre aperta

191 Lo prego Forse più tardi ora no. Dice il guardino No, ora no. Dice Ora no. No, no. La porta della Legge è sempre aperta é sempre aperta Allungo allungo il collo

Textbsp. 3: Komponierte Texte mit Wortwiederholungen Beginn Scena 1 und Beginn Scena 2.

In der Scena 1 wird zu Beginn durch die häufige Wiederholung des „niente“, „non può“ und „diche che“ eine starke Stagnation erzeugt. Es dauert deutlich länger, bis der Text weiterfließt und zu „La porta della Legge è sempre aperta“ kommt, als in der Scena 2. Zudem wird dieser zentrale Satz in der ersten Fassung mehrfach wiederholt, während er in der zweiten nur einmal gebracht wird und er erhält dadurch in beiden Fassungen eine jeweils unterschiedliche Präsenz. Es wird deutlich, dass sich Sciarrino mit seinen Sprachmodulen bereits auf der Ebene des Textes ein flexibles Instrument der Zeitgestaltung geschaffen hat, das er frei einsetzen kann. Diese Sprachstrategie wird jedoch erst im Zusammenhang mit der kompositorischen Faktur der Instrumentalund Vokalparts ganz verständlich.

Form zwei Musikalisch setzt Sciarrino sein Wiederholungsmodell ebenso einfach wie wirkungsvoll um: Zum einen schafft er für die beiden Teile zwei unterschiedliche klangliche Atmosphären, indem er den ersten Teil durchgehend mit einem düster klingenden Lastro, einem großen, sehr dünnen Donnerblech aus Stahl grundiert, während der zweite Teil mit Whistle-Tones – einem nicht vollständig kontrollierbaren, luftigen ‚Obertonflüstern‘ – und Flageolettklängen der Flöten unterlegt wird und deshalb einen deutlich helleren Grundklang hat. Dem korrespondieren mit Bariton (Mann 1) und Contratenor (Mann 2) die Stimmlagen der Sänger. Während in früheren Opern Sciarrinos jene instrumentalen Klangatmosphären als Umgebungsklänge fungierten, also das wiedergeben sollten, was die Protagonisten hörten – etwa in Luci Mei Traditrici

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Marion Saxer

–, scheinen die unterschiedlichen Klanggrundierungen der beiden Teile in La porta della legge eher für die unterschiedlichen Persönlichkeiten von Mann 1 und Mann 2 zu stehen, die jedoch im Übrigen musikalisch in keiner Weise weiter individualisiert werden. Vor dem Hintergrund des immer Gleichen, das sich hier abspielt, erscheinen die beiden ‚Persönlichkeiten‘ lediglich als neue Beleuchtung des Geschehens. Abgesehen von dieser klanglichen Umfärbung wird die Partitur von Takt 44 an in Scena 2 taktgenau wiederholt. Vergleichbar mit der sprachlichen Variantenbildung auf der Textebene finden sich lediglich kleinere Modifikationen innerhalb der beiden musikalischen Texturen, die sich ausschließlich auf der Ebene der Instrumentation abspielen, der zeitliche Verlauf bleibt unangetastet. Allerdings variiert die Textverteilung in beiden Teilen. Dabei wendet Sciarrino eine Strategie an, die zu Beginn der Oper den Eindruck der Stagnation noch weiter verstärkt und im Gegenzug den Beginn des zweiten Teils für die Rezipienten schneller ablaufen lässt. Wie bereits in Textbeispiel 2 gezeigt wurde, kann Sciarrino durch die Wiederholung einzelner Textmodule das Geschehen aufhalten oder vorantreiben. Am Beginn der Oper schaltet er nun zusätzlich zu den häufigen Textwiederholungen auch auf der musikalischen Ebene zwei Passagen vor – zunächst eine siebentaktige instrumentale Einleitung und dann mit dem Beginn der Scena prima von Takt 8 bis 43 eine Einstiegspassage, die neun Takte lang genauso beginnt wie der Durchlauf ab T. 44, sich dann aber von Takt 17 bis Takt 44 anders weiterentwickelt. Durch diese Hinzufügungen dauert es im ersten Teil ganze 69 Takte, bis die Textzeile „La porta della legge è sempre aperta“ einsetzt, während sie in Scena 2 bereits nach 25 Takten gebracht wird (Scena 2 setzt Takt 463 ein, „La porta...“ Takt 488). Auch die unmittelbar folgenden Textpassagen setzen in Scena 2 rascher ein als in Teil 1 (siehe dazu den Überblick in Textbeispiel 4 und 5). Mit diesem Verfahren der Textverteilung erreicht Sciarrino zweierlei: Obwohl die Partitur in beiden Teilen weitgehend gleich bleibt, ergibt sich daraus – quasi automatisch – eine musikalische Neubeleuchtung des Textes der Scena 2, da entsprechende Textstellen jeweils an andere Stellen der musikalischen Textur verschoben werden. Zudem wird die Wahrnehmung der Scena 2 zu Beginn erleichtert, die bekannten Passagen, die im ersten Teil mit geradezu bohrender Pertinenz wiederholt werden, ziehen nun viel rascher, gleichsam wie im Traum vorüber. Erst mit den Textzeilen „Vediamo cosa può fare. (Takt 302) / Vediamo quanto si può fare. (Takt 722)“ stimmen die Einsätze von musikalischer Textur und dem Beginn der Textblöcke in beiden Teilen überein.

Ein Prozess experimentellen Erprobens

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Sciarrino hat dazu bemerkt: Zwischen dem Leben des ersten Mannes und dem des zweiten [...] gibt es große und kleine Unterschiede. Aus den Regeln dieser Unterschiede entsteht die psychologische Farbigkeit. Das, was beim ersten Mal fließt, ist beim zweiten Mal blockiert und umgekehrt.8

Wie viel Gestaltungsspielraum sich Sciarrino mit dieser Technik des Verschiebens der Textverteilung geschaffen hat, wird an einem weiteren Vergleich deutlich: Den Satz „Fisso l’usciere“ dehnt er im ersten Teil auf 37 Takte aus (Takt 223-260). In Teil 2 bringt er in dem entsprechenden musikalischen Abschnitt (Takt 642-679) den gesamten Textblock von „Non so che fare“ bis „non può ancora lasciarmi entrare“ unter. Die Musikalisierung erweist sich demnach ebenfalls bereits hinsichtlich der Textverteilung als ein experimentelles Erproben. Sciarrino geht es hier vorwiegend um den Fluss des musikalischen Geschehens, um Phasen des Stockens oder Weiterfließens, um wechselnde Beleuchtung und unterschiedliche Intensitäten. Es geht nicht um die Deutung des Kafka’schen Textes, sondern um seine Verwandlung und Neubeleuchtung innerhalb eines musikalischen Prozesses.

8 Sciarrino, Salvatore: La porta della legge. – In: Programmheft der Uraufführung vom 25. April 2009 an der Oper Mannheim, hrsg. v. Nationaltheater Mannheim, 10.

194

Marion Saxer Takt Takt Dauer Partt. Analog Takte

L’Uomo 1.

Niente. Non può concedermelo. Dice che non può concedermelo, dice. Forse più tardi Dice. La porta della Legge è sempre aperta. Insisto: vorrei entrare. Forse più tardi dice ora no. Sbircio nel vano, il guardino ride. Se L’attira tanto dice

44

1

69

69

25

85

L’Usciere

provi a passare! Attento, io sono l’ultimo, soltanto l’ultimo! Ogni sala ha il suo usciere, uno più potente dell’altro. Già col terzo neppure io riesco a parlare.

154

110

55

L’Uomo 1.

È una difficoltà imprevista, sono venuto qui apposta. Fisso l’usciere. Meglio che arrivi un permesso. Lui m’ha offerto uno sgabello. Da anni mi ci siedo, sono stanco. Mi sottopone a piccoli interrogatori sulla mia vita precedente. Domande indifferenti, formali come sono i signori. Mi lasci entrare, supplico. Infastidito, ripete che ancora non può. Da casa ero partito con un gran bagaglio. Così gli regalo qualcosa, cerco di corromperlo. Lui dice:

209

165

93

L’Usciere

Vediamo cosa si può fare. Aspetti lì.

302

258

5

L’Uomo 1.

Prima maledicevo la sorte, a voce alta. Da vecchio mi contento di borbottare. Ridivento bambino. Conosco le pulci della sua pellicia, una per una. Vi prego, pulci, aiutatemi, fate cambiare idea all’ usciere! Ormai vedo tutto confuso. Al buio distinguo apena il chiarore della porta. Non mi restamolto da vivere. La memoria sie condensa in una domanda nuova. Faccio cenni con la testa perché il mio corpo è irrigidito. Non ho fiato, l’usciere deve piegarsi su di me.

307

263

83

L’Usciere

Che vuole sapere ancora? Lei è insaziabile.

390

346

5

L’Uomo 1.

Se tutti aspirano alla Legge, come mai – dico – in tutto questo tempo, nessun altro ha chiesto di entrare? Vacilla il mondo. Mi si chiudono le orecchie. Il guardino capisce che sono allo stremo, la sua voce, lontano, ruggisce:

395

351

39

L’Usciere

Qui nessuno poteva entrare, la porta era destinata solo a te. Ora vado a chiuderla.

434

390

L’Usciere L’Uomo 1. L’Usciere L’Uomo 1. L’Usciere L’Uomo 1. L’Usciere L’Uomo 1.

Textbsp. 4: Text Scena 1 und mit Angaben der parallelen Dauern (Takt Partt. zeigt die Taktangaben in der Partitur; Takt analog zeigt die Takte ab T. 44 und ab T. 463, dem 1. und 2. musikalischen Durchlauf, der die parallelen Einsätze erkennen lässt; Dauer Takte zeigt, wie viele Takte ein Textblock jeweils umfasst).

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Ein Prozess experimentellen Erprobens Takt Takt Partt. Analog

Dauer Takte

Non può farmi entrare. Dice che non può. Glielo chiedo ogni giorno. Anche oggi. Lo prego. Lo supplico. Forse più tardi dice il guardino ora no. La porta della Legge è sempre aperta. Allungo il collo per guardare dentro e lui ride. Se ti attira tanto dice

463

1

25

488

25

26

L’Usciere

provaci. Attento, io sono l’ultimo degli uscieri, soltanto l’ultimo. Già la vista del terzo, manco io riesco a reggerla.

514

51

64

L’Uomo 2.

Non so che fare. Osservo la sua faccia. Meglio attendere un permesso. M’ha dato uno sgabello. Sono stanco, da anni mi ci siedo. A volte mi interroga, su di me, sul mio paese. Parla con disgusto, come i gran signori. Azzardo la mia richiesta. Infastidito, ripete che non può, non può ancora lasciarmi entrare. Partendo m’ero portato tante chose. Ne offro in dono qualcuna. L’uscere dice:

578

115

143

L’Usciere

Vediamo quanto si può fare. Aspetta lì.

721

258

5

L’Uomo 2.

Anni che aspetto, non so quanti. Sono vecchio, mi conten- 726 to di brontolare fra me. Conosco le pulci della sua pellicia, una per una le conosco. Ridivento bambino. Vi prego pulci, aiutatemi, fategli cambiare idea! Dalla porta irradia appena un abore. Non vedo più, le cose svaniscono. O sono gli occhi a ingannarmi. Non mi resta molto da vivere. Nella mente si condensa una domanda che non ho rivolto fin’ora all’usciere. Gli faccio cenni, non sono più capace di alzarmi. Non ho più fiato, l’usciere deve piegarsi su di me.

263

83

L’Usciere

Che vuoi sapere ancora? Sei insaziabile.

809

346

5

L’Uomo 2.

Se ogni uomo aspira alla Legge, come mai – dico – in questo lungo tempo, nessuno oltre me si è presentanto? Tutto vacilla. Mi si chiudono le orechhie. Il guardino capisce che sono allo stremo, lontana gorgoglia la sua voce:

814

351

39

L’Usciere

E chi poteva entrare? La porta era per te, solo per te. Ora vado a chiuderla.

853

390

L’Uomo 2. L’Usciere L’Uomo 2. L’Usciere L’Uomo 2. L’Usciere L’Uomo 2.

Textbsp. 5: Scena 2 mit Angaben der parallelen Dauern (Takt Partt. zeigt die Taktangaben in der Partitur; Takt analog zeigt die Takte ab T. 44 und ab T. 463, dem 1. und 2. musikalischen Durchlauf, der die parallelen Einsätze erkennen lässt; Dauer Takte zeigt, wie viele Takte ein Textblock jeweils umfasst).

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Stimme/Instrumente Die Gesangspartien der beiden Männer und des Türhüters sind in Sciarrinos einzigartigem Vokalstil gehalten, den er in allen seinen Musiktheaterwerken verwendet. Die Grundlage dafür bildet die Arbeit mit Modulen, kurzen Bausteinen, die eine typische zweiteilige, in sich spannungsvolle Grundstruktur besitzen. Diese besteht aus einem langgezogenen, meist crescendierenden Halteton, der unvermittelt in eine schnelle, barock formelhaft rezitativisch anmutende Figuration übergeht. Die Figurationen überschreiten nur selten den engen Intervallraum der Quart und werden häufig glissandierend verschliffen. Mit seiner Vokaltechnik vollzieht Sciarrino nach eigener Aussage eine Annäherung an das natürliche Sprechen. Die von ihm geprägte Bezeichnung Sillabazione scivolata – übersetzbar etwa mit gleitendes Buchstabieren/ Silbentrennung – deutet dies an. Sciarrino hat dazu einmal bemerkt: Die abgestuften Glissandi der Sillabazione scivolata sind schneller als echtes Sprechen, auf einer Note stilisiert, die lang gestützt gesungen wird und dann plötzlich abbricht, aber diese Glissandi ermöglichen die Nuancierung nicht temperierter Intervalle, wie dies beim Sprechen üblich ist. [...] Die notierten Rhythmen müssen nicht genauestens ausgeführt werden, aber sie sind wichtig für das Verständnis des Zögerns, der Sprechgeschwindigkeit und daher der emotionalen Reaktion der sprechenden Person oder für das Gewicht der Antwort in einigen Dialogen. (Sciarrino 1998: 38)

Es wird deutlich, dass sich die bereits geschilderten Eigenheiten der Textübertragung der Anpassung an den musikalischen Vokalstil Sciarrinos verdanken. Dessen musikalische Gestaltung ist im höchsten Maße kompatibel mit der äußersten Reduktion der Sprache des Librettos. Die Knappheit der Textbausteine und der Gesangsmodule entsprechen einander. Auf diesen Sachverhalt mag Sciarrino mit seiner Bemerkung angespielt haben, dass „Text und Musik [...] gar nicht so unterschiedlich sind, wie man gemeinhin glaubt.“ (Vinay 2000: 17) Und in der Tat gleichen sich Sciarrinos Strategien der subtilen Modifikationen von Text und Musik in hohem Maß. Aus den Vokalmodulen generiert er seine Gesangspartien in einer gleichsam auf musikalisch mikroskopischer Ebene sich abspielenden variativen Arbeit. Die Reduktion auf die immer wiederkehrende Modulstruktur sowie der strukturelle Kontrast innerhalb der Module bewirken eine starke Stilisierung des musikalischen Geschehens. Die vokale Grundstruktur der Sillabazione scivolata ist darüber hinaus in einem bestimmten Sinn ebenfalls kafkaaffin – und zwar auf einer rein musikalischen Ebene. Gemeint ist ihr paradoxer Bezug zum traditionellen Belcanto-Gesang. Diese traditionelle Gesangstechnik der Oper wird von Sciarrino

Ein Prozess experimentellen Erprobens

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aufgerufen und negiert zugleich, denn mit der Sillabazione scivolata inszeniert er einen doppelten Erwartungsbruch: Was als crescendierende Vorbereitung einer ausgreifenden cantablen Melodielinie anhebt, wird nicht der Erwartung gemäß weitergeführt und melodisch entfaltet. Es bleibt bei diesem einen Ton, der übergangslos in die rezitativische, sprachähnliche Figuration mündet, der es jedoch an dem berichtenden Gestus traditioneller Rezitative mangelt, da sie extrem rasch zum Ende kommt. Es ist ein Noch-nicht und ein Nicht-mehr, aus dem sich die Gesangsphrasen zusammensetzen. Diese musikalische Paradoxie hat weitreichende Konsequenzen für die musikalische Zeichnung der handelnden Personen. Sie bedingt eine Grundsituation hinsichtlich ihres Subjektstatus. Weil sie an einer kontinuierlichen melodischen Entfaltung gehindert werden, können sie sich musikalisch nicht als Ausdruckssubjekte im traditionellen Sinn konstituieren. Welch ein Unterschied besteht etwa zur typischen Belcanto-Arie des 19. Jahrhunderts in ihrer Welt- und Gefühlshaltigkeit. Die Personen drücken sich darin in weitschwingenden Cantilenen aus und konstituieren sich so als musikalisch individuierte Bühnensubjekte. Sciarrino erzielt dagegen mit der stetigen Wiederkehr der immer gleichen Modulstruktur in unzähligen Varianten eine gewisse Entlastung seiner Sänger-Interpreten vom individuellen Ausdruck, eine Milderung und Abtönung der akuten Personalität der handelnden Akteure. Diese zeigen sich nicht primär in ihrer Ich-Haftigkeit, sondern haben gleichsam den Ballast der Individualität abgeworfen. Es haftet ihnen etwas Vorpersönliches, Neutrales und Instabiles an. Zugleich sind sie bar jeder Sentimentalität, ein Sicheingraben in weich-sentimentale Stimmungen steht auf der für sie vorgesehenen Gefühlsskala nicht zur Verfügung. Obgleich Sciarrino in allen seinen Musiktheaterwerken auf die Grundstruktur der Sillabazione scivolata zurückgreift, verwendet er sie in jedem Werk doch immer auch etwas anders. La porta della legge stellt insofern eine äußerste Zuspitzung dar, als Sciarrino darin die Module buchstäblich auseinanderreißt. Mann 1 und 2 singen vorwiegend kurze, engschrittige melodische Fetzen, zweitönige Motivrudimente oder hektisches Gemurmele, das häufig in Flüstern übergeht, nur selten ist der erwartungsvolle typische Schwellklang, der in früheren Werken stets Bestandteil der Modulstruktur war, zu hören. Dem Türhüter sind etwas ausgedehntere melodische Fügungen mit einer weiteren Intervallik zugewiesen, in deren Mitte sich häufig ein markanter Abwärtssprung befindet. Singulär in Sciarrinos Schaffen ist die in La porta della legge besonders enge, ja unauflösliche Verbindung der Vokalparts mit den In­ strumenten. So setzen jeweils synchron mit den Stimmeinsätzen des Wächters kompakte Klangaggregate in Holz- und Blechbläsern ein, z. B. Multiphonics

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(Mehrklänge) in den Fagotten oder ein charakteristischer Flatterzungenklang in Sekundreibung in den Posaunen. Damit löst Sciarrino unmittelbar ein, wie Kafka den Schrei des geprügelten Wächters im Prozeß beschreibt: „Er schien nicht von einem Menschen, sondern von einem gemarterten Instrument zu stammen.“ (Kafka 1960: 66) Dagegen werden die vokalen Aktionen von Mann 1 und Mann 2 mit zweitönigen, nur ein Zweiunddreißigstel-langen Klaviertupfern in weitester Lage, mit mehreren Oktaven Abstand parallel geschaltet. Bei so extrem kurzen Klangaktionen ist ein völlig präzise synchroner Einsatz jedoch schlechtweg unmöglich, auch wenn er in der Partitur notiert ist: Die Stimme/Klaviermischung bekommt unweigerlich etwas Verwischtes im buchstäblichen Sinn Ver-rücktes. Zudem befinden sich die Töne des Klaviers in den Grenzbereichen der Wahrnehmung, und zwar sowohl in der höchsten Höhe wie auch in der Subkontrabasslage. Der Klang bekommt dadurch etwas Disparates, die Konturen gehen verloren. Der Eindruck der Ortlosigkeit wird zudem dadurch unterstrichen, dass die gespaltenen Zweiklänge abwechselnd von zwei Klavieren ausgeführt werden – dadurch wird ihre Verortung, nicht nur was die Lage der Töne, sondern auch was ihre reale Position im Raum betrifft, für die Hörer ungemein erschwert. Die Klangchiffren, die Sciarrino für die Figur des Türhüters und Mann 1 und Mann 2 geschaffen hat, enthalten zweifellos Relikte musikalischer Textausdeutung im traditionellen Sinn: So stehen die kompakten Klangaggregate der Bläser für die Macht, Brutalität und Unüberwindbarkeit des Wächters und die disparate, zersplitterte, gleichsam fassungslose Klanglichkeit der Klaviertexturen für die in Auflösung begriffene Persönlichkeit der Protagonisten. Auch die Musik kann demnach doch nicht ganz der Deutung, dem ‚Eindringen des Feindes des Signifikanten‘ entgehen. Allerdings ist der kompositorische Gesamtkontext des Werkes so beschaffen, dass auch diese semantisch aufgeladenen Klänge einem Prozess des experimentellen Erprobens in dem bereits beschriebenen Sinn unterworfen werden. Anders als etwa Erinnerungsmotive in der romantischen Oper werden Sciarrinos Klangchiffren nicht in eine unabhängig davon existierende musikalische Schicht – quasi als semantische Winke mit dem Zaunpfahl – eingestreut. Anders als in der Leitmotivtechnik in Wagners Musikdramen fungieren sie auch nicht im Sinn eines orchestralen Unbewussten als semantisch bedeutsamer Kommentar des in den Vokalstimmen sich abspielenden Geschehens. Bei Sciarrino fallen vielmehr vokale und instrumentale Textur unauflösbar zusammen und werden jenem Prozess der subtilen Modifikation und Neubeleuchtung unterworfen, der alle Parameter des Werkes ergreift. So variieren Besetzung und Klanglichkeit der Bläseraggregate leicht – ebenso wie die Rahmentöne der Mann 1 und

Ein Prozess experimentellen Erprobens

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Mann 2 zugeordneten Klavierklänge. Dass der Vokalpart zur abstrakten in­ strumentalen Textur tendiert bzw. unauflösbar mit ihr verschmilzt, wird noch dadurch unterstrichen, dass melodische Prägungen, die der Grundstruktur der Sillabazione scivolata entsprechen, häufig in den Instrumenten erklingen – etwa im Violoncello oder der Viola. Neben dem bereits beschriebenen durchgehenden Grundklängen der beiden Szenen wird die instrumentale Schicht des Werkes darüber hinaus lediglich durch isolierte Einzelaktionen der Instrumente angereichert, die in der nicht durch einen metrischen Puls stabilisierten Zeitstruktur plötzlich und unvermittelt, ja brutal und überfallsartig in die Klangtextur einbrechen. Diese können knatternde Flatterzungen-Blechbläsereinwürfe, Streicher-Flageolettglissandi oder knisternd geräuschhaftes Reiben der Bogenhaare auf den Korpussen der Geigen sein. Schlagzeugklänge der großen Trommeln, Glocken, Tam-Tam und Marimbone (ein übergroßes Marimbaphon) setzen zusätzlich geräuschhafte Akzente, die sperrig, wie nichtintegrierte Partialobjekte in die Textur hineinragen. Damit aber kommt die Komposition Sciarrinos dem nahe, was Deleuze/Guattari als den klanglichen Eros Kafkas beschreiben: Ihn interessiert nicht die semiotisch durchgeformte Musik, sondern das reine und rohe Klangmaterial. [...] Was Kafka interessiert ist ein intensiver klanglicher Rohstoff, der sich tendenziell selber aufhebt, ein deterritorialisierter musikalischer Klang, ein Schrei, der sich ebenso der Bedeutung entzieht, wie der Komposition, der Melodie und dem Wort, eine Klanglichkeit im Bruch, im Bestreben, sich von einer noch viel zu signifikanten Fessel zu lösen. (Deleuze/Guattari 1976: 10f.)

Kompositorische Verfahren der Desintegration und des Geräuschhaften, wie sie von Sciarrino wie selbstverständlich verwendet werden, waren zur Zeit Kafkas unvorstellbar. Es scheint tatsächlich so, dass eine musikalische Klanglichkeit, die den Klangvorstellungen Kafkas in dieser Weise annähernd entsprechen könnte, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denkbar wurde.

Epilog: Orpheus/Anti-Orpheus Sciarrinos Medientransfer lässt einen Aspekt des Kafka’schen Textes in besonderer Weise hervortreten und zwar gerade deshalb, weil er im Darbietungsformat der Opernaufführung als musikalisiertes Bühnengeschehen intensiv zur Anschauung gebracht wird. Gemeint ist der Bezug der Türhüter-Erzählung

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und mithin auch von Sciarrinos La porta della legge zum Orpheus-Mythos – und zwar zu genau jener Neufassung, die Claudio Monteverdi gemeinsam mit seinem Textdichter Alessandro Striggio für seinen L’Orfeo. Favola in Musica im Jahr 1607 schuf – dem Werk, das als ‚erste Oper‘ in die Musikgeschichte eingehen sollte.9 Monteverdi/Striggio stellen in ihrer der eigenen Zeit verhafteten Narration wie in keiner der unzähligen Varianten zuvor den Abstieg Orfeos in das Reich der Toten, seinen Weg in die Unterwelt als Grenzüberschreitung in den Mittelpunkt. Der gesamte dritte, zentrale Akt der Oper ist ausschließlich diesem Geschehen gewidmet und zeigt ausführlich Orfeos mühevolles, vom Scheitern bedrohtes Überschreiten der Schwelle zum Hades als einen vielfach gestuften, sowohl szenisch wie auch musikalisch intensiv durchartikulierten Prozess (Saxer 2008: 43ff.). Und wird nicht mit dem Türhüter – sowohl bei Kafka wie auch bei Sciarrino – die Figur des Caronte aufgerufen, der als Wächter der Unterwelt und Hüter der Schwelle bei Monteverdi/Striggio eine bedeutendere Rolle spielt als in allen zuvor überlieferten Versionen des Mythos? (Saxer 2008: 42f.) Auch in L’Orfeo konfiguriert das Motiv der gescheiterten Verständigung bzw. der Abweisung als ein zentrales: Caronte verweigert jegliche Empathie und lässt sich nicht von den Bitten Orfeos erweichen, ihn die Schwelle überschreiten zu lassen. Allerdings schläft der tumbe Höllenwächter schließlich ein, nachdem Orfeo seinen innigsten Bittgesang, die Preghiera, vorgetragen hat. Orfeo kann dann auf nicht ganz legalem Weg – er nutzt die Gelegenheit und entwendet dem schlafenden Caronte den Unterweltskahn – den Styx überqueren, scheitert schließlich im Reich der Unterwelt schmählich und verliert Eurydike auf immer.10 Kafkas ‚Mann vom Lande‘ ist zu solchen Kunststücken wie Orfeo nicht in der Lage. Zwar versucht er, den Türhüter zu bestechen, er wagt es jedoch nicht, dessen Verbot subversiv zu unterlaufen. Wie Kafka die Situation des Vor-der-Schwelle-Verharrens bewertet, bleibt allerdings offen. In seinen Tagebüchern findet sich dazu eine zunächst irritierende Notiz. Dort heißt es:

9 Einige Vorgängerwerke etwa von Jakopo Peri und Giulio Caccini konnten sich nicht in der Weise wie Monteverdis großer Wurf durchsetzen. 10 In der ersten Textfassung Monteverdi/Striggios wird Orfeo, nachdem er sich zu Eurydike umgedreht hat und sie daraufhin auf immer verliert, von den Bacchantinnen zerrissen. Komponist und Dichter mussten dieses Ende jedoch in die bekannte Himmelserhebung Orfeos ändern. So grausam der erste Schluss auch sein mag, er hätte Orfeo endgültig zum autonomen, dem Gnadenakt göttlicher Macht enthobenen Menschen gemacht (Saxer 2008: 50, Fn 39).

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Die Furcht vor der Narrheit. Narrheit in jeden [sic!] geradeaus strebenden, alles andere vergessen machendem Gefühl sehn. Was ist dann die Nicht-Narrheit? Nicht-Narrheit ist vor der Schwelle, zur Seite des Einganges bettlerhaft stehn, verwesen und umstürzen. Aber P. und O. sind doch widerliche Narren. Es muss Narrheiten geben, die größer sind als ihre Träger. Dieses Sich-spannen der kleinen Narren in ihrer großen Narrheit ist vielleicht das Widerliche. Aber erschien den Pharisäern Christus nicht in gleichem Zustande? (Kafka 1994: 212; Eintragung vom 04.12.1913)

Geht man mit Deleuze/Guattari davon aus, dass für Kafkas Schreiben die Kategorie der Überschreitung, der Verwandlung zentral ist, dann verwundert zunächst die in dem Tagebucheintrag notierte Ablehnung der Überschreitung der Schwelle. Der zunächst so widersprüchlich erscheinende Text birgt jedoch letztlich eine Ausdifferenzierung der Situation des Vor-der Schwelle-Verharrens (und damit auch der Grenzüberschreitung), insofern er zwei unterschiedliche (einander widersprechende) Lesarten der Schwellensituation aufscheinen lässt, die sich auf den Text Vor dem Gesetz beziehen lassen. Der erste Teil der Bemerkung mit seiner Geißelung der Grenzüberschreitung als Narrheit ist gegen ihre weltliche Form gerichtet, gegen ein blindes Ausgerichtetsein auf materielle Ziele des Immer -höher, -weiter, -besser, einen kleinlichen Ehrgeiz, wie er ihn bei seiner Schwester und deren Mann beobachten zu können glaubt. Aus dieser Perspektive wäre der ‚Mann vom Lande‘ in Vor dem Gesetz, der tatsächlich ‚bettlerhaft‘ an der Schwelle stehenbleibt, bis er ‚umstürzt und verwest‘, ein ‚Nicht-Narr‘, eine heroische Figur der Verweigerung falschen weltlichen Strebens und täte das einzig Richtige. Mit dem Rekurs auf Christus – als einer Schwellenfigur schlechthin11 – räumt Kafka jedoch die Möglichkeit ein, dass die intentionale Gespanntheit hin auf Überschreitung und die Überschreitung selbst, also das, was ihm zunächst als Narrheit erschien, unter bestimmten Umständen angemessen, ja heilbringend sein kann. Geht man von dieser Sichtweise aus, dann wäre der ‚Mann vom Lande‘ ein zaghafter Versager, der das Eigentliche des Lebens, nämlich die Möglichkeit seiner Selbsttranszendenz zugunsten eines überindividuellen Ziels, verpasst. In Kafkas Text bleibt letztlich offen, welche der beiden Lesarten zutrifft, von welcher Motivation der ‚Mann vom Lande‘ denn eigentlich getrieben wird. Und dies gilt auch für Sciarrinos Mann 1 und 2, ungeachtet dessen, dass sie wissen, dass das Tor zum Gesetz immer offen steht. Bei Kafka wie auch bei Sciarrino kann nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob es sich bei den Männern, die vor der Schwelle verharren, um „Narren“ oder „Nicht-Narren“ handelt. Jeder Deutungsversuch muss zwangsläufig zwischen beiden Möglichkeiten hin- und 11 Nicht zufällig sind in diesem Zusammenhang die Deutungen L’Orfeos als Christusfigur, die seit dem Mittelalter vorliegen (Saxer 2008: 40).

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heroszillieren.12 Entscheidend bleibt jedoch, dass sowohl Kafka wie auch Sciarrino die Situation des Vor-der-Schwelle-Verharrens, die Verweigerung der Grenzüberschreitung – im Text und auf der Opernbühne – durchspielen. Auch dies geschieht im Sinn eines experimentellen Erprobens. Theodor W. Adornos wahrhaft weitsichtiges Diktum „Alle Oper ist Orpheus“ (Adorno 1978: 30) bestätigt sich mit besonderer Eindrücklichkeit auch im Hinblick auf Sciarrinos La porta della legge. Sciarrinos Übertragung legt zudem den Bezug zum Orpheus-Mythos an Kafkas Text frei,13 auch wenn Kafkas/Sciarrinos Protagonisten insofern eher die Position eines ‚Anti-Orpheus‘ verkörpern, als sie bis zum bitteren Ende ihrer Existenz vor der Schwelle verharren und sie nicht als autonomes Subjekt überschreiten wie der Orfeo der Monteverdi‘schen/Striggio’schen Fassung am Beginn der Neuzeit.14 Sciarrinos Opernversion lässt die Parallele des Kafka-Textes zu Monteverdis Oper erst wirklich evident werden, weil die Männer ihr Begehren singend – wie Orpheus – vortragen. Das Kafka‘sche Oszillieren an der Schwelle15 findet seine musikalische Einlösung im Vokalstil Sciarrinos, der selbst ein musikalisches Schwellenphänomen ist: Er lässt sich als permanentes Überschreiten der Grenze zwischen Singen und Sprechen beschreiben16 und changiert zudem, wie gezeigt, zwischen menschlichem Stimm- und Instrumentalklang. Sciarrinos kompositorisches experimentelles Erproben des Kafka-Textes erschließt 12 In der Türhüterparabel manifestiert sich Kafkas Ambivalenz gegenüber der Schwelle hauptsächlich in ihrer Einbindung in die Rahmenhandlung des Textstücks Im Dom und dem Dialog zwischen Josef K. und dem Priester über die Täuschungen der ‚Legende‘ mit ihren verstiegenen Deutungsversuchen, die den Leser völlig ratlos zurücklassen. 13 Es ist unwahrscheinlich, dass sich Kafka direkt auf Monteverdis L’Orfeo bezog. Die Schwellensituation – und damit die Reflexion der Grundbewegung der Moderne – ist jedoch so zentral für sein Denken, dass sich der Bezug gleichsam automatisch ergibt. 14 Bereits im L’Orfeo werden massive Fortschrittszweifel artikuliert, weil jenes ‚Nichts unternimmt der Mensch vergebens!‘, mit dem der Chor im ersten Teil der Oper selbstbewusst triumphierend menschliche Naturbezwingung besingt, im weiteren Verlauf durch das Scheitern Orfeos radikal infrage gestellt wird. 15 Als ein ‚Oszillieren auf der Schwelle‘ ist im Übrigen auch Becketts Gedicht Neither konzipiert, das als Essenz Beckett‘schen Denkens betrachtet werden darf. Es wurde als Libretto für die gleichnamige Oper des amerikanischen Komponisten Morton Feldman geschrieben und vom Komponisten ebenfalls mittels permanent sich modifizierender Klangmuster in einen musikalischen Prozess transformiert. 16 Dies gilt auch bereits für Monteverdis Gesangsstil des Stile recitativo, der sich ebenfalls der Unmittelbarkeit natürlichen Sprechens annähert. Das ‚parlar cantando‘ galt Monteverdi als höchstes ästhetisches Ziel und wurde um 1600 in verschiedenen Traktaten diskutiert (Utz 2009: 31-69). Der historische Rückgriff auf dieses Gesangsideal ist Sciarrino durchaus bewusst.

Ein Prozess experimentellen Erprobens

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daran demnach neue Dimensionen, gerade weil er sich einer eigenen Deutung weitgehend enthält.

Literatur Adorno, Theodor W. (1978): Bürgerliche Oper. – In: Ders., Gesammelte Schriften, Band 16, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976): Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kafka, Franz (1960): Der Prozeß. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1994): Tagebücher 1912-1914. Frankfurt/M.: Fischer. Latour, Bruno (2002): Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Nonnenmann, Rainer (2009): Mythischer Eingang in selbstverschuldete Unmündigkeit. Salvatore Sciarrinos existenzielle Oper ‚La porta della legge‘. – In: Neue Zeitschrift für Musik, 170/4, 28-31. Saxer, Marion (2006): Scheiternde Verständigung. Melancholie im Musiktheater Salvatore Sciarrinos. – In: Neue Zeitschrift für Musik (November), 26-30. Saxer, Marion (2008): Grenzüberschreitung in Monteverdis L’Orfeo, oder: Warum schläft Caronte ein? – In: Musik & Ästhetik 12/48 (Oktober), 37-54. Sciarrino, Salvatore (1998): Im Gespräch mit Paolo Petazzi. – In: Die tödliche Blume (Programmheft Schwetzinger Festspiele). Utz, Christian (2009): Die Wiederentdeckung der Präsenz: interkulturelle Passagen durch die vokalen Räume zwischen Sprechstimme und Gesang. – In: Ders., Passagen: Theorien des Übergangs in Musik und andere Kunstformen. Saarbrücken: Pfau, 31-69. Vinay, Gianfranco (2000): Die Konstruktion der unsichtbaren Arche. Salvatore Sciarrino über die Dramaturgie seines Musiktheaters. – In: Dissonanz 65 (August), 17.

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„... eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen ...“ Zu Eduard Steuermanns Kafka-Kantate Auf der Galerie 1. Vorrede In meinem ersten Beitrag zu den Kafka-Lektüren von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Eduard Steuermann (vgl. den Beitrag im vorliegenden Band) hatten wir über den Briefwechsel Adorno-Steuermann bereits etwas vom intensiven Austausch über die jeweilige Kafka-Lektüre gehört. Von Adorno, dessen kleines Klavierlied Trabe, kleines Pferdchen von 1942, das im unmittelbaren Zusammenhang seines umfassenden Kafka-Essays entstand, wie auch von Steuermann, der im gleichen Jahr seine Liedkomposition auf diesen Text Kafkas abschloss. So wie Steuermann dies Kafka-Liedchen von Adorno liebte, so empfand Adorno wiederum eine so zugewandte Empfindung für Steuermanns Wertschätzung, dass er ihm nach dem Erscheinen des KafkaAufsatzes ein Widmungsexemplar von Frankfurt nach New York schickte. Gerade in diesem so entscheidenden Jahr 1942 weisen zwei einschlägige Briefe auf den intensiven Austausch über Kafka zwischen Adorno und Steuermann hin.1

1 Brief vom 12. Mai 1942 von Theodor W. Adorno an Eduard Steuermann, Clara and Edward Steuermann-Collection, Library of Congress, Washington D. C. Transkription des Briefes von Dr. Christian George, Archiv der Johannes zu Gutenberg-Universität in Mainz, und von Martin Zenck).

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Abb. 1: Reproduktion des Originalbriefes vom 12. Mai 1942 von Theodor W. Adorno an Eduard Steuermann. Library of Congress, Clara and Edward Steuermann-Collection 12. Mai 1942 316 So. Kenter Ave./

Brentwood Heights/ Los Angeles, Cal.

Mein lieber Eduard, hier sende ich Ihnen meine neuen Lieder mit der Bitte, die Widmung anzunehmen. / Von neuen Liedern zu sprechen ist bereits ein leichter Euphemismus, denn die / sechs Bagatellen gehören weit aus einander liegenden Zeiten an. Sie umfassen / beinahe zwanzig Jahre. Nur das vierte und fünfte Lied sind ganz neu, hier / entstanden. Ich merke das an, vor allem um den stilistischen Unterschied zumal / des ersten Liedes von den anderen zu erklären. Es ist selbstverständlich, daß / ich so heute nicht mehr komponieren würde: Weder die Sequenzen noch den allzu/ zweistimmigen Klaviersatz würde ich mir heute mehr durchgehen lassen. Auf der / anderen Seite schienen mir diese Mängel zu sehr mit der „Sprache“ des Liedes, ja / beinahe mit der Konzeption zusammenzuhängen, als daß ich sie hätte verbessern / sollen. Sie werden sogleich sehen, was ich meine, und im übrigen, „gnäd’ger Herr / pardon, pardon“. – Trotz all der Divergenzen waren die Lieder von Anfang an / als Zyklus geplant, und ich glaube daß ihnen auch ein Element gemeinsam / ist, das ich zwar schwer bezeichnen kann, das aber vielleicht durch die Analogie / mit Paul Klee angedeutet wird. Es ist, wenn man so sagen darf, strenggläubiger / Kulturbolschewismus. Am meisten liegt mir an dem Kafkalied, das gleichsam / in sich selbst die Bahn beschreitet, die die Lieder als

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Zyklus, bis zu dem / Wahnsinnsgedicht Hölderlins, durchmessen. Nirgends wüßte ich sie besser / aufgehoben als bei Ihnen! / Ich war sehr froh, von Eisler von dem großen Erfolg Ihres Abends zu hören / – schade, daß ich nicht dabei sein konnte. Ihre liebe Schwester hatten wir / noch am Samstag vorher gesehen, wir waren mit Eisler bei ihr. Schreiben Sie / doch ein Wort von dem Konzert / Hier wartet alles auf Sie – Kommen Sie doch bald und komponieren Sie. / Es ist, nach New York, ein gesegneter Boden zum Arbeiten. Halten Sie / uns nur den Daumen, dass die immer noch drohende Evakuierung an / Uns vorübergehe. Wir arbeiten viel. Horkheimer und ich stecken nun tief / in unserem großen Text. Einiges Kleinere ist im Begriff zu erscheinen, / Sie werden es bald zu sehen bekommen. Durch den Curfew sind wir zu / zu einem äußerst ruhigen Leben gezwungen, dürfen einen Umkreis / von 5 Meilen nicht überschreiten, müssen jeden Abend um 8 zuhause sein. / Aber die Zwangsidylle hat nicht verhindern können, daß Gretel gerade/ jetzt einen besonders schweren Migräneanfall erlitt, der nun schon vier / Tage währt. / Haben Sie abends geschrieben? Das Liedermachen will ich nun bleiben/ lassen und trage mich mit Orchesterplänen, aber zunächst ist daran / nicht zu denken. So studiere ich denn Mahler. Unseren hohen Meister A.S. [Arnold Schönberg] / sehe ich am Sonntag. Er komponiert, ein großes Melodram mit Klavier- / quintett. Text: Byrons Ode an Napoleon. Gleichsam Vorschußlorbeeren / auf den Sturz Hitlers. Es ist, im übrigen, ein großes Geheimnis./ Meinen Eltern haben Sie mit Ihrem Besuch eine sehr große Freude / gemacht – sehen Sie sich doch, wenn Sie Zeit haben, bitte wieder einmal / nach ihnen um. Ihre Mutter ist immer wieder aufs Neue ein Wunder / Sie hätten ihren Angriff auf Schönbergs Bürgerlichkeit erleben / sollen! / Wie geht es Rudi – ich habe kaum den Mut ihm zu schreiben./ Ich würde ihm dringend raten, sobald wie möglich hierher zu fliehen. / Sehr schöne Grüße von Salka und Hilde / und Ihnen alles Liebe, auch von der Gretel / Ihr alter / Teddie [Anhang] Der Brief geht mit großer Verspätung weg – wir hatten keine / großen Couverts im Haus und durch Gretels Erkrankung / war ich „eingefroren“ – der nächste Laden ist Meilen von hier/ entfernt. Bitte entschuldigen Sie!

Adorno bittet Steuermann in diesem bisher unveröffentlichten Brief vom 12. Mai 1942 aus Los Angeles darum, er möge die ihm gewidmeten Bagatellen op. 6 doch annehmen, deren fünftes Lied eben Trabe, kleines Pferdchen darstellt und deren sechstes Lied mit Hölderlins Gedicht An Zimmern, dem „Wahnsinnsgedicht“, von dem Adorno im Brief spricht, den Zyklus abschließt, worauf der von Rolf Tiedemann (Adorno-Noten 1984: 43f.) publizierte Brief vom 9.6.1942 von Steuermann an Adorno antwortet, auch mit dem Hinweis, dass das Kafka-Lied seines Freundes wohl zu schwer zu singen sei: „Ich habe gewisse Bedenken was die ‚Singbarkeit‘ z. B. das Kafka-Lied“ (Adorno-Noten 1984: 43) angeht. Im früher zitierten Brief weist Adorno auf die lange Entstehungszeit seiner Lieder aus op. 6, eben die Bagatellen hin, mit dem Akzent der Aktualität der beiden letzten Lieder auf Kafka und Hölderlin, während er die früheren Lieder heute kaum mehr so komponiert hätte. Obwohl der

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Briefwechsel zwischen beiden weitergeführt wurde, taucht der Name Kafka mit der Ausnahme des Briefes aus dem Jahre 1961 von Adorno an Ingeborg Bachmann erst wieder in zwei Briefen aus den beiden letzten Lebensjahren 1963 und 1964 Steuermanns wieder auf in Verbindung mit der Komposition seiner Kafka-Kantate Auf der Galerie. In einem Empfehlungsschreiben an die Dichterin Ingeborg Bachmann, die zuvor erfolgreich Libretti für Hans Werner Henze erstellt hatte, hoffte Adorno darauf, diese Dichterin für die Texteinrichtung des Peau de Chagrin nach Balzac für ein von Steuermann geplantes Opernprojekt gewinnen zu können, was leider scheiterte. Der Brief an Bachmann ist deswegen von Interesse, weil Adorno ihr gegenüber den kompositorischen Stil seines Freundes zu charakterisieren sucht: Fürchtete ich nicht, daß es verschmockt klingt, so würde ich sagen, seine Musik [Steuermanns] in ihrer dunklen und oft rätselhaften Verschlungenheit, auch einem tiefliegenden und keineswegs etwa folkloristischen dingfest zu machenden jüdischen Element, habe etwas genuin Kafkasches. (Adorno-Noten 1984: 62)

Dieser auf Kafka verweisenden Spur ist später noch nachzugehen, sie hat aber hier schon Bestand mit Blick auf die in den folgenden Diskussionen des in Arbeit befindlichen zweiten Streichquartetts mit dem Titel Diary, von dem Steuermann am 22.12.1960 schreibt: Wenn Mahler Romane geschrieben hat, will ich si parva magnis - - - mehr an ein Tagebuch glauben. Wenn es keinen Zusammenhang hat, so hatte offenbar das Leben keinen. Was ja konstant bleiben muß ist doch die Person des Schreibenden. (Adorno-Noten 1984: 55)

Hatte Adorno die Extension der Mahler‘schen Symphonik mit Romanen verglichen, auch deren Bedeutung, den die Tiere dort annehmen, wie sie bei Kafka vorkommen, so wiegt der Hinweis auf die „rätselhafte Verschlungenheit“ der Steuermann‘schen Musik, die Adorno an Kafka erinnert, um so nachhaltiger, weil Steuermann sich nach dem 1942 komponierten Kafka-Lied Trabe, kleines Pferchen 1963/64 dazu entschloss, eine Kantate auf Kafkas Parabel Auf der Galerie zu verfassen. Galt mein erster Beitrag in diesem Zusammenhang eher der musikalischen Schwierigkeit, Kafka überhaupt zu lesen, laut zu lesen, so soll nun der Fokus auf die literaturwissenschaftliche Interpretation dieser Textvorlage gerichtet und der Frage nachgegangen werden, wie der Komponist Eduard Steuermann bei der Arbeit an diesem Werk vorging und was er, diesem unglaublich sich verdichtenden und beschleunigenden Text Kafkas versuchte abzugewinnen. Im besten Fall kann dadurch eine Reibungsfläche zwischen diesen beiden so grundverschiedenen Lektüren entstehen, wobei die literaturwissenschaftliche in keinem Fall als Maßstab für die Diskussion der künstlerischen genommen

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werden darf. Es handelt sich bei der einen Methode um einen Zugang zu einem Text im Vergleich mit anderen Texten Kafkas, zwar auch unter der Fragestellung der Lesbarkeit, aber die musikalische hebt vielmehr auf die Aufführung, auf die Einmaligkeit der Präsenz von Kafkas Text im Konzert ab, womit im Vergleich mit einer literaturwissenschaftlichen Interpretation eben eher die mündlichen und performativen Aspekte hervortreten.

2. Entstehungsgeschichte, Werkprozess und Uraufführung Fast in alter Manier einer Textaneignung durch Kopieren hat der Komponist Steuermann im Vorfeld seiner Komposition der Textvorlage von Kafka diesen rhapsodisch scheinenden Text mit der Hand abgeschrieben. Wir können aus dem Vergleich mit dem auch handschriftlichen Briefwechsel zwischen Steuermann und Adorno sehr gut die Handschrift Steuermanns erkennen. Die vollständige Kopie von Kafkas Parabel findet sich, wie der gesamte Nachlass des Exilkomponisten, in der Clara and Edward Steuermann-Collection in der Library of Congress in Washington D. C. Oben auf der Seite bezeugt der Stempel des Komponisten noch die Herkunft dieser Vorlage, als Steuermann noch in New York lebte und dort an der Juillard School of Music Klavier unterrichtete. Es heißt dort: „Edward Steuermann/670 West End-Avenue/New York 25, N.Y.“ Es folgt dann die Abschrift des ganzen Textes, den Steuermann – wie Kafka in seiner Einrichtung dieses Prosastücks auch – in zwei Abschnitte teilte, um die in sich widersprüchliche Erzählung entsprechend zu gliedern: Nach der Erzählung der unerhörten Begebenheit in einer Richtung, die ganz und gar seine Richtigkeit und Wahrheit beansprucht, setzt der zweite Teil mit der bekannten, aber auch immer wieder überraschenden Gegenwende an: „Da es aber nicht so ist“, womit alles zuvor Gesagte und Behauptete Lügen gestraft wird. Nicht wohl um Papier zu sparen, sondern um die ganze Erzählung Kafkas mit einem Blick vor sich für den Prozess des Komponierens zu haben, hat Steuermann sich den Text in dicht gedrängter Schrift auf einer Seite kopiert, sodass der Schlusssatz „weint er, ohne es zu wissen“ fast nicht mehr auf die Seite passt und über den Papierrand herunterzurutschen droht. Steuermann hat sich neben der abgebildeten Abschrift mit seinen Eintragungen zur musikalischen Komposition des Vorwurfs noch eine weitere gemacht mit den Zäsuren und Atemzeichen, dem Umlauten des Textes für die Behandlung der Singstimmen, für deren Vokalität und Klangfiguren:

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Abb. 2: Abschrift Edward Steuermanns von Kafkas Erzählung Auf der Galerie. Clara and Edward Steuermann-Collection, Library of Congress, Washington D. C. Box 2, „Writings“

Wie in vergleichbaren Kompositionsprozessen dieser Zeit – vor allem auch bei der Ausarbeitung des zweiten Streichquartetts Diary (1961/62) – hat Steuermann zu Beginn die 12-tönige Grundgestalt mit ihren Umkehrungen und Retrograden notiert, die das Basis-Material auch dieser Komposition darstellt,

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ohne sich in ihm zu erschöpfen, weil dann im Gegensatz zu Schönberg2 auch ganz andere kompositorische Maßnahmen einer gelockerten dodekaphonen Schreibweise geltend werden:

Abb. 3: Abschrift Edward Steuermanns von Kafkas Erzählung Auf der Galerie. Clara and Edward Steuermann-Collection, Library of Congress, Washington D. C. Box 2, „Writings“ 2 Vgl. dazu meine Studie, die anhand der Werke Steuermanns in den 1950er-Jahren deutlich macht, wie sehr sich Steuermann im kompositorischen Verfahren von seinem Lehrer Arnold Schönberg unterschied (Zenck 2011).

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Abb. 4: 12-Ton-Gestalt mit ihren Umkehrungen und Retrograden der Kafka-Kantate.

Steuermann hat sich die Reihenverläufe zweimal eingetragen: einmal unmittelbar über dem Particell in Form eines Klavierauszugs, wo sich die erste Grundgestalt von g ausgehend dann auch über den ersten Takt ausbreitet; zum anderen auf einer separaten Tabelle mit den Transpositionen, Umkehrungen und Retrograden. Dabei ist bei der ersten Grundgestalt über g die jeweils in Dreitongruppen abwärtsfallende Bewegung über Terzen g-es-c-a auffallend, welche die Bildfigur des nach unten stürzenden Galeriebesuchers nachzeich-

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nen. Das Material ist insofern nicht nur eine kompositorische Basis für den auszuschreibenden Verlauf der Stimmen im Orchester und der Singstimmen, sondern bereits semantisch-figurativ besetzt. In der weiteren Skizzierung des kompositorischen Prozesses zeigt sich dann ein Vorgang, der mit rhythmisch bestimmten thematischen oder zumindest subthematischen Gestalten arbeitet. Darin gibt sich ein Vorgang zu erkennen, der nicht einseitig und linear einfach vom Material zur Komposition fortschreitet, sondern dem rückwirkend ein artikulatorischer und thematischer Prozess in den Grundgestalten bereits eingeschrieben ist. Es folgt eine weitgehend abgeschlossene Skizzierung des kompositorischen Verlaufs in Form eines Klavierauszugs mit den Eintragungen der jeweiligen Textmarkierungen aus Kafkas Parabel. Mit dem nächsten Schritt erfolgt die weitere Ausarbeitung und Ausschreibung des relativ abstrakten Klaviersatzes für die Chor- und Solostimmen und den Orchestersatz, der in Form eines Klavierauszugs niedergeschrieben ist. Auch enthält dieser Teil des Manuskripts den Hinweis sowohl auf die erste Abschrift und den Vermerk auf weitere mögliche Umarbeitungen, bevor dann die Reinschrift die definitiv abgeschlossene Werkgestalt fixiert:

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Abb. 5: Reinschrift der ersten Partiturseite

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Abb. 6: Erstveröffentlichung der Kafka-Kantate.

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Während der Tagung hatte ich die Ehre und das Vergnügen, noch vor dem Abendkonzert mit den Kafka-Fragmenten von György Kurtág eine Einführung in Steuermanns Kafka-Kantate Auf der Galerie zu geben. Das konnte einmal vor dem Hintergrund der Erforschung des Exilkomponisten Eduard Steuermann geschehen, dessen Gesamtwerk bisher unveröffentlicht geblieben ist, auch ohne die so wichtige Realisierung von Konzerten seiner Werke und von Aufnahmen auf käuflichen Tonträgern, zum anderen auf der Grundlage einer Aufnahme der Uraufführung der Kafka-Kantate Auf der Galerie, die aber sowohl aufnahmetechnisch als auch rein musikalisch als höchst pro­ blematisch anzusehen ist, weil sie keinen wirklichen Eindruck von diesem so unvergleichlichen Werk Steuermanns vermittelt. Deswegen habe ich meine Konzerteinführung so gestaltet, dass ich mithilfe der Einspielung des ersten Abschnitts des Klavierauszugs (einmal in der Fokussierung auf die Orchesterstimmen, das andere Mal auf den Chorstimmen) von dieser Kantate durch den Pianisten Markus Bellheim einen näheren und deutlicheren Eindruck von diesem Werk Steuermanns vermitteln konnte, und dies auch aufgrund meiner Kenntnisse zu Steuermann, der bis heute nur einseitig als entscheidender Pianist im Schönberg-Kreis Geltung erlangt hat, nicht aber dank seiner so wichtigen Kompositionen, die eindeutig aus den kompositorischen Bedingungen der Schönberg-Schule heraustreten und eine wichtige Zwischenposition zwischen der Schönberg-Schule und ihren Folgen und dem Serialismus der frühen Darmstädter und Kölner Avantgarde von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Luciano Berio und Henri Pousseur einnehmen. Ich gehe im Folgenden nun so vor, dass ich einige wichtige Aspekte dieser KafkaKantate untersuche, und zwar zunächst im Kontext der Partitur und dann im Zusammenhang mit der Uraufführung. Dabei gehe ich der Frage nach, wie Steuermann diesen hyperbolischen Text von Kafka wohl gelesen und dann in Musik gesetzt hat, und vergleiche abschließend seine Kafka-Lektüre mit derjenigen in der Literaturwissenschaft, wobei literaturwissenschaftliche und -kritische Überlegungen von künstlerischen Auseinandersetzungen doch strikt voneinander zu unterscheiden sind. Gleichwohl herrscht die Meinung vor, dass die Komposition eines bestimmten Textes am Standard der literaturwissenschaftlichen Interpretation dieses Textes gemessen werden müsse, ohne zu sehen, dass die Musik ganz andere und neue Perspektiven im Text freilegt, sodass die Wissenschaft guten Grund hätte, sich mit diesen zu befassen wie vergleichsweise die Literaturwissenschaft, wie sie sich etwa mit der Lyrik von René Char befasst hat, beste Gründe dafür hätte, sich einmal näher anzusehen, welche neuen Wege der Annäherung an die Poetik von Char Pierre Boulez in seinen vier René-Char-Lektüren gesucht hat. Exemplarisch für diese Situation

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kann die grundlegende Arbeit von Katarina Münchberg (2000) herangezogen werden. Sie zeigt im Verhältnis zu der von mir thematisierten Interpretation in meiner Arbeit über Pierre Boulez mit Blick auf dessen komponierte RenéChar-Tetralogie (Zenck 2016),3 wie wenig die Literaturwissenschaft von einer dergestalt komplexen musikalisch-kompositorischen Auseinandersetzung mit der Poetik von René Char wahrgenommen hat.

3. Steuermanns Kafka-Lektüre im Vergleich mit der literaturwissenschaftlichen Diskussion dieser Parabel Methodisch wird bei der Frage des Verhältnisses von Text/literarischer Vorlage und Komposition in der Regel so vorgegangen, dass zunächst eine eigenständige literaturwissenschaftlich orientierte Interpretation des fraglichen Textes erstellt wird und dass dann vor diesem Verstehenshorizont die Frage gestellt wird, wie der Komponist im Verhältnis zur literaturwissenschaftlichen Auffassung den Text Kafkas gelesen, innerlich gehört und dann musikalischkompositorisch reflektiert hat. Im Gegensatz zu dieser Methode, die vom eindeutigen Vorrang der wissenschaftlichen Konzeption gegenüber der künstlerischen Aneignung ausgeht, werde ich im Folgenden versuchen, zunächst den Spuren nachzugehen, die der Komponist Steuermann mit Blick auf seine Kafka-Lektüre Auf der Galerie gelegt hat, um diese Spuren dann mit denjenigen Prämissen zu vergleichen, die zum Standard der literaturwissenschaftlichen Interpretation etwa durch Gerhard Neumann (s. u.), Oliver Jahraus (2006),4 Gerhard Kurz (1980) und Galili Shahar (2003) gehören. Das zuvor ausgebreitete und dargelegte Skizzenmaterial dokumentiert den Entstehungsprozess von Steuermanns Kafka-Kantate, und die Skizzenforschung hat hierin, auch allzu einseitig, versucht einen Vorgang festzuhalten, bei dem man dem Komponisten direkt über die Schulter sehen könne, wie er das entsprechende Stück konzipiert hat. Diese Methode ist besonders verführerisch, wenn die Arbeit am entsprechenden Werke in relativ kurzer Zeit 3 Vgl. dort das Kapitel I, 3: „Die Theatrologie des René-Char-Zyklus. Le Visage nuptial – Le Soleil des eaux – A la Santé du serpent – Le marteau sans maître“. 4 Vgl. dort vor allem die Hinweise auf die sexuellen Konnotationen der Tiere, vor allem des Pferdes, auch des ‚Apfelschimmels‘ in der Erzählung Auf der Galerie (Jahraus 2006: 340348, 352-356).

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zum Abschluss gebracht wurde, im Gegensatz auch zur langen Entstehungsgeschichte vieler früherer Werke von Steuermann, die sich – unterbrochen von der intensiven Unterrichtstätigkeit an der Juillard School of Music in New York und von Konzertreisen und dem Abhalten von Meisterkursen, etwa in Salzburg und Hannover – erst nach einem lange währenden Arbeitsprozess fertigstellen ließen, vor allem wenn nicht ein Werk auf das nächste folgte, sondern sich mehrere und auch sehr unterschiedliche Werke in seinem sich überlagernden Kompositionsprozess befanden. Insofern ist doppelte Vorsicht bei der allzu engen linearen Vorstellung schöpferischer Vorgänge geboten, mit denen sich eher so etwas wie eine kompositorische Superstruktur herausbildet, die auf verschiedene Werke in der konkreten Ausarbeitung dann übertragen wird, sodass hier kein einfacher Prozess von der Erfindung der ersten Skizze, Tagebuch- oder Briefnotiz bis hin zur Ausarbeitung des Particells und der dann abgeschlossenen Partitur führt. Eine Ausnahme scheint aber mit der Kafka-Kantate gegeben zu sein, die zwischen dem 13.06.1963 (Abschrift von Kafkas Erzählung, erste Skizze mit den Reihen und dem Klavierauszug noch ohne die Singstimmen) und dem 24.08.1964 in New York fertiggestellt wurde, wobei, wie sich dies in den Briefen an Adorno zeigt, die zunehmende Erschöpfung durch das Unterrichten während der dramatischen Verschlimmerung der Leukämie verhinderte, den kompositorischen Prozess in einem durchzuführen. Noch deutlicher lassen sich die sich auch verdichtenden zeitlichen Zusammenhänge des Entstehungsprozesses dokumentieren, wenn die eingetragenen Notate auf den jeweiligen Skizzen- und Partiturblättern (vgl. dazu auch die Angaben in der Steuermann-Collection in den Box-Foldern 10/2-3 bis 10/4-5) in Verbindung mit den beiden einschlägigen Briefen Steuermanns an Adorno in den Jahren 1963-1964 herangezogen werden. Danach hat Steuermann zwar voll der Inspiration in der kurzen Zeit von 12 Tagen im Anfang des Sommers 1963 alles Wichtige bis auf die Orchestrierung aufs Papier gebracht, aber wie der doch späte Brief vom 10.07.1964 an Adorno belegt, sei das Ganze „noch nicht instrumentiert“. Die gedrängte und glückerfüllte Arbeitsphase fand also zwischen dem 30.06.1963 in Hannover und dem 10.07.1963 mit dem Hinweis „beendet am 10.07.1963 in Hannover“ und „ausgeführt am 16.07.1963 in Salzburg“ statt. In seiner erhellenden Studie über Eduard Steuermann, den Komponisten, hat Volker Rülke (2000)5 der Kafka-Kantate ein abschließendes Kapitel ge5 Vgl. insbesondere zur Chronologie der Entstehungsgeschichte von Steuermanns KafkaKantate die Seiten 263-268.

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widmet, in dem er eindringlich auch auf den widersprüchlichen Sachverhalt hingewiesen hat, dass es bei Steuermanns ansonsten zu beobachtender langsamen Produktion seiner Werke im Falle der Kafka-Kantate ziemlich rasch zur Sache ging (also in 14 Tagen), wobei aber dann die Revisionen und Veränderungen zusammen mit der Orchestrierung bis in den Herbst 1964 hinein doch wiederum einen relativ langen Zeitraum für sich in Anspruch nahmen. Zunächst, und dies dürfte methodisch von besonderer Bedeutung sein, hat Steuermann zwar den Text Kafkas abgeschrieben und sich dadurch angeeignet, hat aber kaum, wie dies bei anderen Komponisten der Fall ist (Boulez, extensive Eintragungen zu seiner Bühnenmusik in den dramatischen Text der Orestie), Bemerkungen in den Text eingetragen. Dennoch kann bei eingehender Lektüre der nur schwer entzifferbaren Skizzen und Entwürfe erkannt werden, dass er bereits in einem sehr frühen Stadium Aspekte der Gliederung, die Hervorhebung von sich bewegenden Figuren auf der Szene wie der Tänzerin auf dem Pferd und des herabstürzenden Galeriebesuchers in das Particell eintrug. Erstaunlich ist somit, dass der Text für den Komponisten Steuermann so deutlich in seiner Vorstellung zugegen war, dass er ihn sozusagen liegenlassen konnte in der Absicht, zunächst eher rein kompositorische Vorgänge als literarisierende auf den Weg zu bringen. Bei genauerer Durchsicht der Dokumente zeigt sich auch hier ein anderer Weg, weil sich Steuermann denn doch nach der zweifachen Fixierung der Reihenverläufe, einmal auf einem Extrablatt, zum anderen zu Beginn oben auf der Seite, in den reinen Klavierauszug, der zunächst noch ohne die Singstimmen notiert wurde, bereits entsprechende Text-Incipits in den Notentext eingetragen hat. Dabei ist er vermutlich so vorgegangen, dass er den reinen Particell-Text durchschrieb, aber dann doch zuweilen an entscheidenden Stellen auch der Richtungsänderung der Komposition, über oder unter der jeweiligen Akkolade, sich die jeweilige Singstimme vermerkte mit dem entsprechenden Wort aus Kafkas Text. So kann in der stark verblassten und ohnehin äußerst kleingehaltenen Schrift in der dritten und vierten Akkolade der Zeilenbeginn „Wenn irgend eine lungensüchtige ...“ verifiziert werden, dann in der vierten das Wort „Publikum“ und wohl nachträglich an den rechten Seitenrand der ersten Akkolade notiert: „Die lange Treppe durch die Ränge hinab ...“. Damit zeigt sich, dass Steuermann in keiner Weise einfach am Text entlangkomponiert hat, sondern dass er, den Text innerlich vor Augen, zunächst die rein musikalischen Entwicklungszüge niederschrieb, um sich, vor allem wenn er zusätzlich die Singstimme aufschrieb, die entsprechenden Textwörter einzutragen. So sind in dieser Phase zwei Texttypen festzuhalten: der eine, noch relativ abstrakte und 12-Ton-orientierte Notentext, verbunden allerdings mit

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einer klaren innerlichen Klangvorstellung der jeweiligen Passage; der andere, eine Art Überschreibung, bei der über dem Notentext ein Schrifttext hinzutritt, der in gleicher Weise Vortragsbezeichnungen wie ‚breit‘, ‚a tempo‘ und Worte Kafkas berücksichtigt. In besonderem Maße verdient also das Ineinander von Interpretations- und Spielanweisung und der jeweiligen Kafka’schen Textmarke eine besondere Rolle, will sagen, dass sich für den Dirigenten, die Mitglieder des Orchesters und vor allem die Chor- und Solostimmen die jeweilige Kafka’sche Textmarke zumindest auch als eine atmosphärisch aufgeladene Artikulationsanweisung versteht. Über die bei Kafka ausdrücklich gegebene Bewegungsvorstellung, der des Kreises in der Arena, wenn das Pferd mit der Kunstreiterin um den Zirkusdirektor herumgaloppiert und sie dabei ihre Kunststückchen auf dem Pferd vollzieht, weiter der des Sturzes des Galeriebesuchers hinab in die Arena, um dem sinnlos zirzensischen Spiel endlich Einhalt zu gebieten und vielleicht – im Bereich des Imaginären – wenn dieser ungebetene Galeriebesucher dann doch wieder hinaufstürmt zu seinem angestammten Platz und dort weinend in sich selbst versinkt. Wittgenstein hat uns in seinen späten Untersuchungen darüber belehrt, dass es ihm gar nichts nütze, Musik analytisch von einem Musikwissenschaftler erklärt zu bekommen, sondern nur eine Erklärung, die ihn auf die Bewegungssuggestion der Musik hinweise. In diesem Sinne hat Steuermann genau die Szene von ihren Bewegungsverläufen her komponiert als Verhältnis von Bewegung, Sturz, Stillstand, Galopp und einem Hinaufstürmen, wobei die mit der äußeren Bewegung verbundenen seelischen Zustände auch Gegenstand der differenziert sich vollziehenden Gemütsbewegung sind. Bei genauerer Betrachtung der Partitur und des innerlichen Durchhörens kann das Stück insgesamt, wie der Kafka’sche Text auch, als zweiteilig aufgefasst werden. Bei insgesamt 116 Takten fällt die Mitte in Takt 50, mit dem sich die Szene vollkommen in ihr Gegenteil „Da es aber nicht so ist“ wendet. Wenn in Betracht gezogen wird, dass die Coda mit den Takten 103-116 mit der Rückkehr des Galeriebesuchers an seinen Platz oben auf der Tribüne erfolgt, sodass die Zählung von da an gewissermaßen exterritorial verläuft, dann kann in der Tat nach der zeitlichen Dehnung des „poco allargando“ (T. 48-50) von Takt 50 an von einer Spiegelachse gesprochen werden, bei der sich zumindest bei Kafka die Verneinung der soeben erzählten Geschichte vollzieht. Da Steuermann mit Umkehrungen und Retrograden in der Behandlung der 12-Ton-Reihen arbeitet, ist zu prüfen, ob sich über diese Umkehrungsverhältnisse hinaus auch eine formale Spiegelachse vollzieht, wie etwa in Weberns Symphonie op. 21, wo nach einem Einschnitt nicht nur die Grundgestalt rückläufig geht, sondern auch das gestisch-formale Geschehen in seinen

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Anfang zurückkehrt. Diesem Sachverhalt nachzugehen legt die zitierte Studie von Volker Rülke nahe. Ansonsten lässt sich die ganze Kafka-Kantate in folgende Abschnitte gliedern: 1. ‚Vivo‘ T. 1-10/allargando: Ein Sichstürzen in die Szene wie zu Beginn der Oper Lulu ‚Hereinspaziert‘; gewissermaßen in zielgerichteter Bewegung, erbarmungslos die Reiterin jagend; 2. a tempo (ma piu moderato) Sempre diminuendo, poco rit.: T. 11-28, auch in Kreisbewegung oder in serpentinata-Figuren entsprechend der Bildfiguren der Manege und der Reiterin, auf dem Pferde schwirrend, die Küsse ins Publikum wirft, in der Taille sich wiegend; 3. poco rit. Calando/Breiter: T. 28-39: a) Brausen des Orchesters; b) und der Ventilatoren; c) die Dampfhämmer des händeklatschenden Publikums: Stauung, monorhythmischer Sprechgesang (vgl. Benjamins Hervorhebung dieser Stelle und Kafkas Thema des Lärms, der Maschinen und ihrer Verkörperung im Menschen; vgl. Benjamins Kafka-Aufsatz, 435); 4. Tempo (Presto): Der Zuschauer in rasender Abwärtsbewegung hin: T. 39-46; wobei die Beschreibung des Herabeilens des Galeriebesuchers von Sturzfiguren im Orchester unterlegt wird; dann der gewaltsame Schrei ‚Halt!‘ in T. 46, um dem rasenden Treiben ein Ende zu setzen: Allargando – calando: Aussparung, sf.+ Tremolo-Fläche im Xylophon; also gewaltsam angehaltene Unterbrechung. Nach dem Einhalt gebietenden Aufruf ‚Halt!‘ mit T. 48-50 die sich langsam an diese Unterbrechung anpassende Bewegung des Orchesters, das aber untergründig weiterläuft; 5. Mitte des Stücks: Sempre allargando: T. 50-51: Da es aber nicht so ist. Gestauter Klang inmitten der rasenden Figurationen. Verkehrung der Verhältnisse in ihr Gegenteil und mit dem gracioso subito „eine schöne Dame, weiss und rot zwischen den Vorhängen“, die in Erscheinung tritt; also nach dem ersten hier ein zweiter gezogener Vorhang, der ganz andere Einblicke in die Szene freigibt als zu Beginn des Stückes; 6. T. 51-72: sempre sostenuto: immer wieder ritardandi, Stauung der Bewegung, auch um die animalische Zuneigung des Zirkusdirektors zu seiner „Enkelin“ zu signalisieren, deren Zugewandheit er zu erliegen droht, und keinen Befehl zu geben wagt (vgl. den homorhythmisch skandierten Sprechgesang analog zu den „Dampfhämmern“ in T. 38), dann doch mit T. 71/72 es über sich bringt, das Zeichen mit dem Peitschenhieb „knallend“ zu geben. Hier der äußerste von Steuermann bemerkte Gegensatz zwischen dem leiblich Animalischen der männlichen Projektion und einer Beziehung zwischen Mensch und Maschine, bei der bei Kafka die maschinenhafte Verdingli-

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chung des Körpers Besitz vom Menschen, vom Zirkusdirektor ergreift, während die Tänzerin außerhalb dieses Machtgefüges zu stehen scheint; 7. T. 73-92: rit. Molto, pesante, Tempo, ma non troppo und Zeit lassen. Des Zirkusdirektors Beobachtung der Tänzerin mit ihren Kunststücken voller Bewunderung, gepaart von seinem Staunen und wiederum fast animalischer Nähe, gefolgt von der Beherrschung der Szenerie, die er trotz der Verfallenheit an seine „Enkelin“ nicht verlieren darf. Dies artikuliert sich musikalisch im distinkten Zugriff der Befehle wie dem Staunen bei „offenem Mund“, worin sich seine „hingebungsvolle“ Hinwendung mit den sie mit seinen Augen suchendem Blick und der ihr „in Tierhaltung entgegenatmenden“ Zuwendung bis ins Äußerste steigert. Dieser Prozess verläuft über das gelungene „Salto mortale“, zunächst begleitet und gesteigert mit dem vollen Tusch des Orchesters und wird dann plötzlich unterbrochen mit dem beschwörend gemurmelten „Es möge schweigen“, womit eine deutliche Parallele zum einhaltgebietenden „Halt“ des Galeriebesuchers in Takt 48 gezogen wird. Im einen Fall kommt der Einspruch sozusagen von außen, von jemandem, der zunächst außerhalb der Szene nur als deren Betrachter in Erwägung gezogen wird, dann aber selbst zum integralen Bestandteil der Szene wird, im anderen Fall vollzieht sich eine gegenläufige Bewegung, welche aber im gleichen Ziel, des Anhaltens des dramatischen Geschehens mündet. Im Gegensatz zum Galeriebesucher, der erst nach und nach eine Nähe zur Aktion in der Manege sucht und findet, um in diese dann auch einzugreifen, befindet sich der Zirkusdirektor in einer animalischen Übernähe zur Situation und vor allem zu seiner „Enkelin“, um dann aus dieser Nähe herauszuspringen und der Situation auf andere Weise, aber vergleichbare Weise Einhalt zu gebieten als der Galeriebesucher. Die Kafka-Forschung (vor allem Elizabeth Boa; vgl. auch die kritische Diskussion unten unter Fußnote 6) hat aus diesem Sachverhalt der Perspektiven verschiedener Personen auf und in der Szene ihre eigenen Schlüsse gezogen. Vom auktorialen Erzähler, der die Szene beschreibt und möglicherweise für die Hauptfiguren Sympathie empfindet oder außerhalb des Geschehens verbleibt, vom Galeriebesucher, der die Kunstreiterin zu retten versucht, und vom Zirkusdirektor, der einerseits über die Reiterin herrschsüchtig verfügt, andererseits ihren kindlichen Reizen zu erliegen droht. 8. T. 93-103: molto pesante etc. bezeichnet eine für Kafka typische Kippsituation, in welcher der Zirkusdirektor wieder vollständig in seine libidinös besetzte Nähe zur Tänzerin zurückfällt, indem er „die Kleine zitternd vom Pferd hebt“, wobei Steuermann das Zittern noch nachbeben lässt im ho-

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morhythmisch gestammelten „zitternd“ der beiden Sopranstimmen. Wie das Folgende zeigt, möchte der Zirkusdirektor, der die „Kleine“ „auf beide Backen küsst“, diese und ihren Erfolg ganz für sich haben und hält das Publikum für unwürdig der Huldigung, wogegen die Tänzerin einer wahren Alterität6 fähig ist und es an ihrem Erfolg mehr als teilnehmen lässt, so als ob dem Publikum nur der Erfolg gelte und die Kunststücke der Reiterin dagegen eine vernachlässigenswerte Kleinigkeit (une quantité négligeable) sei, weswegen sie „ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will“. 9. T. 103-116 animando – Allegro – Langsam...: Dies ist eine ausgesprochene Coda im doppelten Sinn: einerseits außerhalb des inneren Geschehens stehend insofern, als festgehalten wird: „da dies so ist“, was schon einmal dementiert wurde, zum anderen noch zum Geschehen selbst deswegen gehörend, weil der Galeriebesucher, den man längstens vergessen hatte, nun wieder auftaucht, um auf seinen angestammten Platz hoch oben auf der Galerie zurückzukehren, wo er traumversunken zu weinen beginnt, weil das Geschehen vermutlich doch im Traum, dem Bereich des Imaginären, aber deswegen nicht weniger Wirklichen, verblieben war. Darin ist eine doppelte Bewegung erkennbar von der Galerie herab zur Manege, um dem dortigen Treiben ein Ende zu setzen und am Schluss wieder hinauf auf den angestammten Platz. Diese direktionale, auch stürmische Bewegung nach unten und wieder zurück ins Wirklich-Unwirkliche, auch in den Traum, so als ob das alles gar nicht wirklich geschehen wäre, wird durch die Rotationsbewegungen in der kreisförmigen Manege selbst durchkreuzt. Entsprechende rotierende Drehbewegungen finden sich im Text Kafkas nicht weniger als in der Musik Steuermanns, bei dem Textteile ineinander kreisend verschachtelt werden durch eine besondere Verteilung des Textes auf die Soli- und Chorstimmen, auch auf die des Orchesters. In der hier abgebildeten Formsynopsis ist eher die Gliederung nach Aspekten der äußerst differenziert gehandhabten Tempi, also solche der Zeitwahrnehmung zusammen mit ihrem jeweiligen Charakter bestimmend, also eher der progressiv-dynamische Zug der Musik, selbst wenn die Halbierung des mu6 Die genderorientierte Interpretation gerade dieses Gleichnisses Auf der Galerie übersieht diese dritte Position, welche die Kunstreiterin einnimmt, vollkommen. Zwar wird sie im ersten Teil vom Zirkusdirektor beherrscht und will vielleicht vom Galeriebesucher gerettet werden, wie er es vorhat, zwar wird sie im zweiten Teil zur graziösen Enkelin stilisiert, welche bewundert werden will, im Aspekt aber des Sichöffnens gegenüber dem Publikum zeigt sich keine prostitutive Selbstpreisgabe, sondern eben ein Zug zum Publikum, mit diesem ihren Erfolg uneingeschränkt zu teilen (vgl. zur Genderinterpretation und der Diskussion Boa 1991).

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sikalischen Geschehens in zwei Hälften wie der Text und die doch deutlich abgetrennte Coda am Schluss eine relativ einfache Formstruktur aufweisen. Diese kann aber auch ganz anders nach Maßgabe der zitierten Studie von Volker Rülke (2000, Kap. 5 ‚Formanalyse‘, 303f.) ausgewiesen werden durch zwei Hauptteile, die jeweils in drei Expositionsteile a), b) und c) untergliedert werden, welche dann im zweiten Hauptteil auch wiederum in dieser Reihenfolge gespiegelt werden. Gemäß dieser Gliederung der Form folgt Steuermann also ganz entschieden den zwei Hauptsätzen mit ihren vielen Konditionalsätzen Kafkas, die durch eine deutliche Mitte ausgezeichnet in einem spiegelbildlichen Verhältnis stehen, weil sich die expositionell verfassten Verhältnisse des ersten Teils dann im zweiten in ihr Gegenteil verkehren. Musikalisch läge damit ein Verfahren der Umkehrung und Spiegelung nahe, das aber eher von der Reihentechnik berücksichtigt wird, als dass es wie bei Anton Webern in der bereits zitierten Symphonie op. 21 auch im Bereich des Gestalthaften rückläufige Bewegungen und damit Vorgänge der Widerrufung gäbe. Denn Kafka will mit dem Verfahren von behaupteter und immer wieder infrage gestellter Setzung – Negation – Revokation so viel sagen, dass alles auch ganz anders sein könnte. Das stellt denn auch die Behauptung Rülkes (2000: 356-360) von der ‚Einheit des Werkes‘7 zumindest infrage, weil die exzentrischen Drehbewegungen der Sätze wie ihrer Komposition auf ein zentrifugales Prinzip hin orientiert sind, die das Verhältnis von Setzung, Infragestellung und abschließender Behauptung außer Kraft setzen wie die Atemlosigkeit des lauten Sprechens dieses Textes von Kafka ungeachtet allen Innehaltens, Verweilens, alles Sprechen doch auch wieder in ganz verschiedene Richtungen verweist, mit vorgehaltener Hand oder demonstrativer Frechheit und Anzüglichkeit. Was also bei der Rezitation einigermaßen schwer nur herstellbar ist, einerseits in einem Atemzug zumindest die beiden voneinander getrennten Teile zu lesen, andererseits diese Teile wiederum selbst aufs Differenzierteste im Sinne von ironisch zurücknehmender Brechung und thetischem Sprechen hin und her zu lavieren, ist der Musik leichter möglich durch die verschiedenen Deklamationsformen des Flüsterns, Sprechens, des Schreiens, des Sprechgesangs und des Singens und vor allem dadurch, dass solche Artikulationsformen nicht nur dem Text entlang mit der ablaufenden Musik sich linear entwickeln, sondern auch in ständigen Überlappungen und auch ineinander geschraub7 Es wäre hier eine Diskussion wichtig über die Funktion der Reihentechnik und ihrer die musikalische Form stabilisierenden Funktion und der gegenläufigen Bewegung des Auseinanderlaufens der musikalischen Bewegungen, vor allem der divergenten Tempi mit ihren jeweiligen Charakteren. Je nach Perspektive überwiegen die ordnenden Faktoren oder die der exzentrischen Bahn.

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ten Bewegungen gehalten werden. Auch wenn im Sprechakt und in dessen Aufnahme also a parte gesprochen werden kann oder direkt ins Mikrophon und von der Sprechbühne unmittelbar zum Publikum, auch mit ganz verschiedenen Arten der Artikulation mit weit geöffnetem, halb geschlossenem, geschürztem oder auch schnutigem Mund, auch in verschiedenen Tempi, vor allem der eingerückten Parenthesen und endlosen Konditionalsätze (keine der offiziell zugänglichen Lektüren auf CD oder Video leisten dergleichen), so ist dies doch nicht zu vergleichen mit der Vielstimmigkeit, mit der Steuermann die Parabel Kafkas artikulieren lässt: der veritabel polyhonen, aber auch der ineinander verschachtelten und ineinander gedrehten Sätze, die um sich selbst kreisen, wie das Pferd mit der Kunstreiterin in der Manege um den Zirkusdirektor und vor allem mit sich einander überlagernden Deklamationsformen, die keineswegs in der Simultaneität auch parallel zwischen den Chor- und Solostimmen verlaufen, sondern durchaus auch diskret. Während zwei Stimmen normal singen, können gleichzeitig die anderen flüstern oder es können alle gleichzeitig in gestauter Sprechweise singen und sprechen, soweit hier Schönbergs Anweisungen zum Pierrot Lunaire zum Sprechgesang befolgt werden sollen, von einem Werk, das Steuermann als Uraufführungsinterpret8 vom Klavier aus bestens kannte. Diese Vielstimmigkeit, die polyphone wie die sich in sich drehende, reicht also vom vollständigen Vokalsatz über seine dialinearen Auffächerungen bis hin zum einzelnen gerufenen Wort „Halt“ oder „es [das Orchester] möge doch schweigen“. Hinzu kommt das keineswegs nur begleitende Orchester zur imaginären Szene, sondern es müsste selbst auch Teil dieser Szenerie werden mit seinen Verbindungsteilen, Stillständen, Bildfiguren und Einsprüchen und Kommentaren zum Text Kafkas. Man könnte und sollte dies Werk semiszenisch in der Weise aufführen, wie es Pierre Boulez in einer Doppelperformance von Schönbergs Pierrot Lunaire und seinem Marteau sans maître 1961 in Basel realisierte (Zenck 2016: 225-241); vielleicht auch in einer Zirkusmanege, in der Ruth Berghaus die Oper Lulu von Alban Berg in der Komischen Oper von Berlin inszenierte. Auf selbstreflexive Weise, wie Bergs Lulu in der Inszenierung von Ruth Berghaus, lässt sich auch Kafkas zirzenische Parabel lesen, in der die Manege, die Kunstreiterin und damit „Die Kunst als ein Martyrium, als eine Tortur“ ausgewiesen wird, worauf die erhellende Studie Traum-Schrecken von Gerhard Kurz (1980: 59) aufmerksam gemacht hat. Nach ihm will „das Publikum aller8 S. die Uraufführung des Pierrot Lunaire am 16.10.1912 im Choralion-Saal, Berlin mit Albertine Zehme, Rezitation, Eduard Steuermann, Klavier u. a.; vgl. weiter die Einspielungen mit Eduard Steuermann am Klavier auf Columbia Masterworks M 461 und auf Winograd MGME 3202.

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dings diese Tortur nicht sehen und lässt sich auch von den Arrangements des Zirkusdirektors täuschen. Dass die Kunstreiterin ein Opfertier ist, hat Kafka durch einen raffinierten Aufbau der Geschichte zu verstehen gegeben“ (Kurz 1980: 59) in der Doppelung einer irrealen und indikativen Erzählweise. Nach Gerhard Kurz verrät sich der Zirkusdirektor, weil er, wie „seine scharfen“, d. h. das Geschehen streng kontrollierenden Blicke zeigen, in der Kunstreiterin keineswegs dann im zweiten Teil nur die so verehrenswerte Seite der Tänzerin hervorkehrt. Er hebe sie dann zwar vorsorglich auf den Apfelschimmel, „als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin“, aber seine „scharfen“ Blicke demonstrieren, dass er die Szenerie auch im zweiten Teil streng unter Beobachtung und eventuell auch unter Strafverfolgung stellt, sollte der abschließende Salto mortale der Kunstreiterin misslingen. Die Zurichtung der Szene, die Abrichtung der Kunstreiterin setzt sich also im zweiten Teil ungeschminkt fort. Nur einer scheint nach Kurz außerhalb der abrichtenden Verfügungsgewalt zu stehen: Es ist der Galeriebesucher, der „ohnmächtig“ den Betrug ahnt, und dann schließlich „im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.“ (zit. n. Kurz 1980: 59) Gegenüber dieser hier zitierten und weitreichenden Interpretation der Kafka-Forschung von Gerhard Kurz sei, auch im Verhältnis zur später angeführten von Gerhard Neumann, eine besondere Studie über das Theater und die Erzählung Auf der Galerie von Galili Shahar (2003) herangezogen. Sie kann auf der einen Seite sehr schön zeigen, wie bei Kafka aus früheren Traumaufzeichnungen (Shahar 2003: 517; Zitat aus Kafkas Traum vom 7.11.1911)9 ganze Legenden hervorgegangen sind, auf der anderen Seite, wie die Träume als auch die Erzählungen zu einem „Theater des Schreibens“ (Shahar 2003: 528) werden, in dem theatrale Figuren aufgerufen werden, aus denen sich eine ganze Szene entweder im großen Theater der Arena im Zirkus: Auf der Galerie oder im kleinen dilettantischen Kammertheater in Prag ergibt, deren Galerien Kafka mit seinen Freunden frequentierte. Nach Galili Shahar führt dieser Prozess vom Traum über die Erzählung bis hin in die theatrale Szene so weit, dass der Arbeitstisch (Shahar 2003: 530) von Kafka selbst noch zu einem riesigen architekturalen Theaterraum wird.

9 Kafka träumt, „er wäre im Theater“. Zwei Tage später schrieb er darüber: „Lauter Theater, ich einmal oben auf der Galerie, einmal auf der Bühne, ein Mädchen, das ich vor paar Monaten gerne gehabt hatte, spielte mit, spannte ihren biegsamen Körper, als sie sich im Schrecken an einer Fessellehne festhielt; ich zeigte von der Galerie auf das Mädchen, das eine Hosenrolle spielte, meinem Begleiter gefiel sie nicht.“ (zit. n. Shahar, S. 517)

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4. Wie Kafka zu lesen sei? Wenn nun das Ganze abschließend zusammengefasst werden soll, so ergibt sich für Steuermanns Verfahren eine Verlaufsform, welche die Richtungen des Textes zum einen befolgt, zum anderen aber in der Verschlingung der Textteile und ihrer Verteilung auf mehrere Vokal- und Instrumentalstimmen diesen ständig erweitert, ihm neue Perspektiven gibt, wodurch er nach vielen Seiten aufgesprengt wird: eben die lineare Abfolge verlassend, die Unterbrechungen und vor allem die Verzweigungen markierend, weil die Artikulation des Textes in verschiedenen, sich einander überlappenden Stimmen erfolgt. Obwohl von einigem Umfang mit den 116 Takten und der Aufführungsdauer von ca. 13 Minuten verläuft die Musik kurz und gedrängt, springt in die Szene zweimal hinein und wird auch darin immer wieder durch retardierende Momente unterbrochen oder auch von der Dramaturgie in Spannung gehalten. Versuchte man den Text Kafkas nach Maßgabe von Steuermanns Komposition zu lesen, so müssten im Verhältnis zur möglichen und durchgreifenden Atemlosigkeit auch größere Momente des Innehaltens, des Staunens über das gerade Gesagte, auch ein den Gedanken nachhängendes Sprechen jeweils seine Wirkung tun. Der Text wäre zu sprechen wie im Traum mit seinen ganz verschiedenen Dehnungen, Verschiebungen raumzeitlicher Verhältnisse, auch ganz unterschiedlich in der Deutlichkeit des Gesagten, das nur zuweilen klar und deutlich an die Oberfläche dringt, sonst aber eher subkutan wirksam werden müsste. Man müsste eben verschiedene Grade der Deutlichkeit des nach außen tretenden Bewusstseins erreichen und parallel dazu auch in irritierender Doppelbödigkeit und Abgründigkeit das Verwirrende der Vorgänge markieren, wie es eben nur die vielstimmige, horizontal wie vertikal vielfältig aufgefaltete Musik vermag, wie Eduard Steuermann sie komponierte. Dabei würden sich die zwei deutlich voneinander getrennten Hälften der Erzählung, die in ihrer Gegensätzlichkeit und Spiegelung sich zwar deutlich voneinander absetzen, aber aufgrund ihrer korrespondierenden Plastizität auch nahezu ineinanderfallen. Man müsste es eben ausprobieren können und es einerseits wie ein Gedicht Hölderlins in der strengen Fügung der Satzperioden/der Verszeilen lesen und zuweilen gegen den Strich, wenn sich wiederholende und dabei gleichzeitig stark variierte Sätze wie „Halt“ und „es möge schweigen“, „da dem nicht so ist“ und „da dem so ist“ gleichsam irritierend und fragend heraussprengen aus dem strengen Gefüge. Eine andere Möglichkeit – für die geordneten wie auch offenen und wilden Fluchtlinien der Komposition von Steuermann –, einen Wink des Verstehens zu suchen, könnte bei Kafka im

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fruchtbaren Widerspruch von strikter Organisation der Zeilenfügung, der auch zahlhaft bestimmten Ordnung der Satzperioden und Konditionalsätze auf der einen Seite, dem frappanten Stil10 auf der anderen Seite bestehen, der inmitten eines sehr festen Gefüges für Überraschungen in alle möglichen Richtungen sorgt, die sowohl über jede Realitätsprüfung hinausgehen als auch noch eine mögliche eigene Logik des Traums, mit dem die Erzählung endet, unterwandern. Dies würde auch vergleichsweise für Steuermanns Komposition gelten, die noch über Kafka hinaus, seine so genau angeordneten Satzperioden in ungeheuer irritierenden Dreh-, Kreis- und Schleuderbewegungen der sich einander überlagernden Vokalstimmen überantwortet, sodass die relativ streng gehandhabte 12-Ton-Technik mit ihren Umkehrungen und Retrograden lediglich die Basis für die ganz frei assoziative, mäandrierende Bewegung der musikalischen Form darstellt. Darin besteht zwischen Steuermann und Kafka zwar keine unmittelbare Übereinstimmung, aber eine Parallele der Generierung von Form: auf der Folie von strikt syntaktischer oder 12-töniger Organisation eine nach allen Seiten hin versprengte Ausdrucksweise zu finden, die noch jede Realitätslogik und A-Logik des Traums unterläuft. In der genannten Spannung von strikter Organisation und einer offenen Bewegung der assoziativen und herausgeschleuderten Gedankenketten wäre denn auch Kafkas Parabel zu lesen. Die Diskussion in Berlin während der Kafkakonferenz machte dies mehr als deutlich, dass es gegenüber den anderen zentralen Themen des Schreibens, Erzählens, Inszenierens, der Macht, der Machtapparate, dem Verhältnis von Daseinslogik und der A-Logik des Traums vor allem auch einmal die Sprechbarkeit von Kafkas Texten zu thematisieren gelte. Dies hängt einerseits mit der möglichen Spannung des physischen Sitzes des Sprechens und desjenigen des Schreibens (Kafkas Konfliktsituation zwischen dem alltäglichen Sprechen in tschechischer Sprache in Prag und dem Schreiben und Rezitieren in deutscher) zusammen, andererseits mit dem von Kafka selbst festgehaltenen ‚Scheitern‘ in seinen Rezitationen und dem verlängerten Kinderwunsch, den er im Brief an Felice Bauer vom 4./5. Dezember 1912 einmal äußerte, wonach er vor einem riesigen Publikum die ganze Éducation sentimenale von Flaubert vorlesen wollte, worauf Gerhard Neumann (2011: 50) so eindringlich hinwies. Er thematisiert denn auch an anderer Stelle in seiner Studie Schrift und Druck (Neumann 2013) zum Textkorpus Ein Landarzt, dem die Parabel Auf der Galerie angehört, auf der einen Seite den Prozess, der vom „Sich-Treiben10 Vgl. dazu auch die Studie von Karlheinz Bohrer zu Kleist (2000) und seine Diskussion wie auch die Anwendung des „frappanten Stils“ bei Martin Zenck (2007).

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Lassenden Schreibstrom“ zur „Konstruktion des literarischen Werkes“ führt, auf der anderen Seite ist aber gerade der „Schreibstrom“, seine freie Assoziativität, von einem Vorgang des „Redenlernens“ gekennzeichnet, der dann in die literarische Rede des Werks mündet. Neumann hebt gerade im auch nächtlich kritzelnden Schreibstrom das iterativ reihende Prinzip des Redestroms hervor, mit dem sich der Mund noch deutlich gegenüber der schreibenden Hand behauptet. An einer eher marginalen Stelle, die einzigartig auf das Gleichnis Auf der Galerie Bezug nimmt, formuliert Gerhard Neumann den folgenden, für uns und die Diskussion des Sprechens Kafka’scher Texte so entscheidenden Satz: Es herrscht in Kafkas Auf der Galerie der Vorstellungsbereich einer sich selbst erzeugenden Rede [...], mit der sich ein aus der Automatik grammatischer Abläufe selbst produzierender Diskurs (ein Durchlauf desselben Erzählzusammenhangs in zwei verschiedenen Modi der Rede) vergegenwärtigt. (Neumann 2013: 119)

Familiäre Rede, die durch die Macht des Vaters gebrochen und zum Schweigen gebracht wurde, weiter die freie Rede, die sich zur literarischen im Werk artikuliert, befinden sich nicht nur im Übergang, sondern in einer äußerst gespannten Bewegung, sodass viele der immer wieder ansetzenden Konditionalsätze ‚wenn – dann‘, die eine zwingende Abfolge mit einer sicheren Bewahrheitung der beschriebenen Verhältnisse unterstellen, aus einem Versuch der Allgemeinen Verfertigung der Gedanken beim Reden (Kleist) hergeleitet werden können. Es ist gerade dieses iterative Prinzip des Immer-wieder-neu-Ansetzens des Redens, die dadurch die Erzählung Auf der Galerie in Atem hält. Insofern treffen Überlegungen, wie Kafkas Texte zu sprechen und in und durch die Musik zu singen und zu deklamieren seien, zumindest in dieser „konfigurativ-seriellen“ (Neumann 2013) Phase seines Werks im Textkorpus Ein Landarzt ins Zentrum seiner rhetorischen Produktionsweise. Auf eine besondere Weise kommunizieren die im ersten Beitrag mit Blick auf Kafkas Das Schweigen der Sirenen entwickelten Überlegungen, die von Benjamin auch zu einem ganz anderen Diskurs der Ambivalenz von überwältigendem Gesang und dem Entzug solcher Überwältigung durch das Schweigen führen, dann insbesondere mit dem Thema von Musik/Unmusikalität und Tier/Animalität, wie es Gerhard Neumann im vorliegenden Band entfaltet hat mit Bezug auf die einschlägigen Texte von Kafka zu diesem Thema. Gerade auch trifft diese Thematik in ihrer Schlüsselrolle auf das Verständnis der Legende Auf der Galerie zu, denn einerseits hebt der Zirkusdirektor seine über alles geliebte Enkelin auf einen Apfelschimmel (als ob es seine Enkelin wäre...) – in seiner unverhohlen sexuellen Konnotation von weißem weiblichen Busen und der Farbe des Apfelschimmels –, auf der anderen Seite

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assoziiert der Ritt auf dem Pferd in einer doppelten Weise die rauschhafte und überwältigende Musik, die sich mit dem lärmenden Brausen der maschinenhaften Ventilatoren mischt, welche im gleichen Atemzug durch das „Halt“ des Galeriebesuchers wie des Zirkusdirektors, „es [das Orchester] möge doch schweigen“, gewaltsam unterbrochen wird, um statt der alle Sinne raubenden Musik die noch viel schlimmere Gewalt der Musik aufzurufen, wenn sie so schweigt wie die Sirenen bei Kafka. Bei Eduard Steuermann werden an diesen Stellen ganz direkt bekannte rhetorische musikalische Figuren aufgerufen: die plötzliche Tmesis, die länger anhaltenden Suspensio und generell die Aposiopese, welche der durchlaufenden und klingenden Musik Einhalt durch die Stille oder das Schweigen gebieten. Waren in der Musik des klassischen und romantischen Repertoires solche Unterbrechungen akzidenteller Natur, so nehmen sie in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts inwendigen Besitz von ihr, bis sie im Sinne Kafkas den ursprünglichen Gesang der Sirenen in ein Schweigen verwandeln. Und Steuermanns Musik steht an dieser Nahtstelle.

Literatur Adorno-Noten (1984): Die Komponisten Eduard Steuermann und Theodor W. Adorno. Aus ihrem Briefwechsel. – In: Adorno-Noten. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Berlin: Galerie Wewerka, 43-62. Boa, Elizabeth (1991): Kafka’s ‚Auf der Galerie‘: A Resistant Reading. – In: DVjs 65, 486-501. Bohrer, Karl-Heinz (2000): Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren. – In: Grimminger, Rolf (Hg.), Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. München: De Gruyter, 25-42. Jahraus, Oliver (2006): Kafka. Leben. Schreiben. Machtapparate. Stuttgart: Reclam. Kurz, Gerhard (1980): Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse. Stuttgart: Metzler. Münchberg, Katarina (2000): René Char. Ästhetik der Differenz. Heidelberg: Winter. Neumann, Gerhard (2011): Aphorismus – Anekdote – Parabel. Zur Gattungsbestimmung von Kafkas Prosaminiaturen. – In: Engel, Manfred/

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Robertson, Ritchie (Hgg.), Kafka und die kleine Prosa and Short Modernist Prose (Oxford Kafka Studies, I). Würzburg: Könighausen & Neumann, 49-67. Neumann, Gerhard (2013): Schrift und Druck. Erwägungen zur Edition von Kafkas Landarzt-Band. – In: Ders., Kafka-Lektüren. Berlin, Boston: de Gruyter, 99-123. Rülke, Volker (2000): Der Komponist Eduard Steuermann. Vier Werkstudien (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, 20), Hildesheim u. a.: Olms. Shahar, Galili (2003): Der Erzähler auf der Galerie. Franz Kafka und die dramatische Figur. – In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften. Passagen 49, 517-533. Zenck, Martin (2007) Darstellung von Gewalt und Darstellungsgewalt. Heinrich von Kleist’s ‚Legende‘: ‚Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‘. – In: Ders./Becker, Tim/Woebs (Hgg.), Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien (= Historische Anthropologie, Bd. 34). Berlin: Reimer, 4-15. Zenck, Martin (2011): ‚...die Freiheit vom Banne Schönbergs ...‘. Neue Bewertungen des Komponisten und Pianisten Eduard Steuermann. – In: AfMw 68/4, 263-293. Zenck, Martin (2016): Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde.  Paderborn: Fink.

Kai Marius Schabram

Tod und Paradies – Verzweiflung und Erlösung. Zur dialektischen Konzeption der Kafka-Lieder op. 35 von Max Brod Befasst man sich mit dem bewegten Leben und umfangreichen Gesamtwerk von Max Brod, so fällt es schwer, die zahlreichen Tätigkeitsfelder zu benennen, in denen sich dieser „Universalist“ (Wessling 1984: 9) zeitlebens involviert zeigte. Man begegnet Brod als Literat, Biograph und Historiker ebenso wie in der Funktion als Herausgeber, Übersetzer, Kritiker, Essayist, Journalist und Dramaturg – um hier nur die wichtigsten Aktionsbereiche anzuführen. So umtriebig sich Brod in verschiedenen Professionen zeigte, so irritierend einseitig hat ihn doch die Nachwelt wahrgenommen: Im Verlaufe der Rezeption hat eine Konzentration des Tätigkeitsprofils stattgefunden, das sich, je weiter man vom Todesjahr 1968 wegrückte, auf die Verdienste um die Rettung und Herausgabe der Werke Franz Kafkas beschränkte. Der Einsatz für Kafka hielt bei allem Ruhm auch nachteilige Konsequenzen speziell für die Wahrnehmung des Schriftstellers Brod bereit, gerieten seine Schriften doch bereits im Zuge der ersten breiteren Kafka-Rezeption in den 1920er- und frühen 1930erJahren zunehmend in den Hintergrund (Koch 2006: 169ff.). Bis heute haben sich nur wenige Bücher Brods wie etwa Tycho Brahes Weg zu Gott (1915) oder Galilei in Gefangenschaft (1948)1 im Gedächtnis eines (fast ausschließlich) fachkundigen Leserkreises bewahrt. Die Bedeutung seiner Person ist im Grunde untrennbar mit dem Schicksal Kafkas verbunden – bisweilen scheint es, als ob Brod allein in der Rolle des „Dichter-Dieners“ (Wessling 1984: 9) existiert habe. Dieser Befund trifft vor allem auf die Rezeption in Westeuropa und Amerika zu; die tschechische und israelische Wahrnehmung weiß hier aufgrund Brods langjähriger beruflicher Aktivitäten in beiden Ländern mitunter noch andere Akzente zu setzen.2 Dass Brod auch als Komponist eines 38 Opuszahlen umfassenden Werks hervorgegangen ist, gehört zu einem (selbst in der Musikwissenschaft) häufig unbekannten Faktum seiner Biographie, das dem Tätigkeitsspektrum noch 1 Beide Schriften bilden Teile der Romantrilogie Ein Kampf um Wahrheit. 2 Zur Brod-Rezeption in Israel vgl. Benyoëtz (1974: 263-271).

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eine weitere Facette hinzufügt. Blickt man auf das kompositorische Selbstverständnis Brods, so können für die Prager Zeit der 1910er- und 1920er-Jahre Äußerungen gefunden werden, die darauf hindeuten, dass er als Komponist öffentlich wahrgenommen werden wollte und sein musikalisches Schaffen gegenüber dem schriftstellerischen zumindest gleichwertig ansah. Im Zuge des Briefwechsels, den Brod 1926/27 mit dem Prager Verlag Universal Edition führte, um die Veröffentlichung eigener Lieder voranzutreiben, tritt dieses Selbstbewusstsein deutlich hervor. Nach schwierigen Verhandlungen mit dem Verlagsinhaber Emil Hertzka erschienen im Frühjahr 1927 schließlich vier Lieder. Anlässlich des Drucks sah sich Brod zur Beigabe eines Werbeprospekts veranlasst, der ein eindrückliches Dokument seiner kompositorischen Selbstwahrnehmung bietet. Zugleich enthält er Reflexionen über das angedeutete Rezeptionsproblem eines Mehrfachbegabten, der sich nicht nur in einem, sondern mehreren Kunstbereichen heimisch fühlte: Mit meinen Kompositionen habe ich eine seltsame Erfahrung gemacht. Zunächst muß ich sagen, daß ich sie für durchaus ebenbürtig meinen Dichtungen […], ja sogar nur mit meinen besten Gedichten und besten Romanszenen vergleichbar halte. Gerade weil ich zu meinen Kompositionen […] eine innige Beziehung der Liebe und des Dankes für sehr glückliche Stunden meines Lebens habe, gerade deshalb habe ich sie ängstlich von allem, was ,Betrieb‘ ist, ferngehalten. […] [Ich habe] mein ganzes Leben komponierend zugebracht, habe seit zwanzig und mehr Jahren in meinen Liedern die notwendige Ergänzung zu meinen Dichtungen gesehen, und es gab Zeiten, viele Monate, in denen ich mich ausschließlich als Musiker gefühlt habe. Nun habe ich ja immer viel unter Musikern verkehrt, und die Tatsache, daß ich komponiere, konnte nicht verborgen bleiben. Ich habe kein Hehl daraus gemacht. Wenn ich auch meine Arbeiten niemandem zeigte. Hieran schließt sich meine seltsame Erfahrung: keiner dieser vielen Fachleute hat sie zu sehen verlangt, keiner jemals mich aufgefordert. So sehr wendet sich das Vorurteil der Welt gegen Doppelbegabungen, daß man von vornherein einem Mann, der auf einem Gebiet der Kunst tätig ist, auf einem anderen Gebiet nur Dilettierendes zutraut, mag er noch so sehr seine ernsthafte Vorbildung für dieses andere Gebiet erweisen. […] Daß man nicht ,entdeckt‘ wird, wenn man es bei reiner, nichts als schöpferischer […] Künstlerschaft bewenden läßt, das habe ich sozusagen experimentell zu meiner Musik bestätigt gefunden. (zit. n. Hilmar 1982: 261)

Brod stand die Gefahr der Nichtbeachtung als Komponist somit bereits 1927 deutlich vor Augen – die Rezeptionsgeschichte hat seine Befürchtungen dann letztlich wahr werden lassen.3 3 Hierzu Yehuda Cohen (1969: 277) in einem der ersten Beiträge, die den Komponisten Brod in den Fokus rücken: „Mit Unrecht wurde […] allzu häufig seine unermesslich reiche musikalische Tätigkeit übersehen, oder zumindest nicht genug hoch eingeschätzt. Einer der Gründe dafür mag im Umstand zu suchen sein, dass sich keine klare Trennungslinie zwischen Brods musikalischem und seinem übrigen Schaffen erkennen lässt. Seine charakteristische zur Einheit strebende ,Zweigleisigkeit‘, die seine Werke, seine Gestalten und,

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Ein Blick auf wichtige Stationen des musikalischen Werdegangs macht deutlich, dass Brod gerade in den frühen Prager Jahren neben seiner literarischen Tätigkeit auf eine zweite Laufbahn als Komponist gehofft hatte. Dies kann an der Dichte der zwischen 1900 und 1916 erschienenen Werke festgemacht werden, die zum größten Teil Liedersammlungen bilden. Das Lied stellt neben der Kammermusik das zentrale Genre im musikalischen Schaffen von Brod dar – die Gattung rangierte in dieser Zeit sogar als „notwendige Ergänzung zu [s]einen Dichtungen“ (zit. n. Hilmar 1982: 260). Die besondere Stellung des Lieds verdankt sich unter anderem dem frühen Einfluss Adolf Schreibers, der Brods Kompositionslehrer in Prag war. Brod lernte den Kapellmeister und Dvořák-Schüler im Jahre 1904 kennen. Mit Schreiber verband ihn eine tiefe künstlerische Freundschaft, die sich in einer dem Lehrer gewidmeten Monographie von 1921 mit dem sprechenden Titel Adolf Schreiber, ein Musikerschicksal widerspiegelt. Die Biographie muss als ein umfassender Nachruf verstanden werden, genauer gesagt als ein „Verzweiflungsschrei“, wie Brod (1921: 7) im Vorwort vermerkt, denn Schreiber nahm sich nicht zuletzt aufgrund der ausbleibenden Beachtung als Komponist am 1. September 1920 im Berliner Wannsee das Leben. Bis zur Übersiedlung von Prag nach Palästina im Jahre 1939, die aufgrund des nahenden Einmarsches deutscher Truppen notwendig wurde, komponierte Brod nur sehr wenig, geschweige denn veröffentlicht. Für die Zeit nach 1916 ist diese Produktionspause zum einen mit der wachsenden Popularität als Literat, zum anderen mit der einschneidenden Bekanntschaft Leoš Janáčeks zu erklären. Im Jahr 1916 erlebte Brod die Prager Erstaufführung der Oper Jenufa – ein Ereignis, das ihn zu euphorischen Reaktionen als Kritiker veranlasste (Saremba 2001: 240-243). Nach zunächst vergeblichen Anfragen des damals 62-jährigen Janáček stellte sich Brod schließlich der aus seiner Sicht „ungeheuer schwere[n], fast unmögliche[n] Aufgabe“ (zit. n. Kobán 1997: 53), die deutsche Übersetzung der Textbücher zu fünf Opern (darunter Jenufa und Das schlaue Füchslein) sowie zu den Liedern aus dem Tagebuch eines Verschollenen anzufertigen. Brod hat mit dieser bisweilen heftig kritisierten Leistung (Honolka 1978: 55; Vogel 1981: 280ff.) maßgeblich dazu beigetragen, das Werk Janáčeks nicht nur dem deutschsprachigen, sondern auch einem internationalen Publikum bekannt zu machen. Er war daher sowohl für die Kafka- als auch für die Janáček-Rezeption ein zentraler Multiplikator, ohne den die Erfolgsgeschichte beider nicht erzählt werden kann. auf verschiedenen Ebenen, sein eigenes Ich kennzeichnen, besteht bei ihm auch in der engen Beziehung von Dichtung und Musik, von Wort und Ton, von Laut und Klang.“

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Unter dem (schaffenspsychologisch hemmenden) Einfluss Janáčeks sollte Brod mehrere Jahre nur sehr wenig aufs Notenpapier bringen. Dies änderte sich in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre, also kurz nach der Emigration, die bei allen negativen Folgen wie dem „Verlust des angestammten Kultur- und Sprachraums“ (Henke 2000: 964) auch der Ausgangspunkt für eine kompositorische Neuorientierung war. Man kann hier – im Anschluss an Albrecht Dümling – durchaus von einer „zweite[n] Kompositionsphase“ (Dümling 2009: 12) im Leben Brods sprechen. In dieser Zeit entwickelte Brod das Konzept des sogenannten ‚mediterranen‘ oder ‚Mittelmeerstils‘,4 in dem er eine Synthese europäischer und orientalischer Musiktraditionen verwirklicht sah. Für Brod repräsentierte diese neuartige Klangsprache keinen Personalstil,5 sondern galt ihm vielmehr als verbindungsstiftender musikalischer Ausdruck einer ganzen Generation jüdischer Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Brod setzte damit seine zionistischen Absichten der Gründung einer neuen jüdischen Musikkultur fort, die er bereits seit Mitte der 1920er-Jahre öffentlich vertrat (Brod 1925: 96-107; Zimmermann 2004: 22f.). In seinem Buch Die Musik Israels von 1951, das den Versuch darstellt, eine Entwicklungsgeschichte dessen zu rekonstruieren, was die „spezifische Wesensart der jüdischen Musik“ (Brod 1976: 13) ausmacht, bietet Brod eine Definition des „Mittelmeerstils“: Was ist das Gemeinsame der in diesem Stil geschriebenen Werke? Ihre Musik ist südlich, von hellem Licht durchdrungen wie die Luft der Mittelmeerländer, durchsichtig, nach Klarheit strebend, – der Rhythmus liebt die Härte, die unregulären Takte, die obstinate Wiederholung, aber auch die vielfältige, nie stillstehende Variation, die in ihrer scheinbaren Regellosigkeit und freien Impulsivität mitreißt. Der Satzbau ist oft linear, stellenweise unisono, ohne polyphone Überladenheit. Deutlich wird der Einfluß, den das Melos der jemenitischen Juden ausübt, die Aufhebung von Dur und Moll, das Zurückgreifen auf alte Tonarten, die Vernachlässigung der für die Diaspora charakteristischen übermäßigen Sekunde – von hier ergeben sich Verbindungslinien auch zur arabischen Musik, ja zu dem besonders konsonantischen Bau der semitischen Sprachen. (Brod 1976: 58)

Ungeachtet aller Kritik an der Stereotypie stilistischer Attribute, die Brods kulturzionistisch geleitete Definition eines jüdischen Musikstils auf sich zog,6 4 Die Begriffe sind keine Wortschöpfungen Brods, sondern gehen auf den israelischen Komponisten Alexander Uriah Boskovitch (1907-1964) zurück (Brod 1976: 58). 5 Brod (1960: 404) äußerte sich leider selbst nicht zu seinen Kompositionen. Die Notwendigkeit stand Brod zwar zeitlebens vor Augen,widerstrebte ihm aber, wie er in seiner Autobiographie schreibt, „aus mancherlei Gründen“. 6 Die Kritik an Brod (1920: 378f.) formierte sich vor allem aufgrund seiner Versuche, Komponisten wie Mendelssohn oder Mahler eine Vermittlung deutscher und jüdischer Musikstile zu unterstellen (Scheit/Svoboda 2002: 32ff.).

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kann festgehalten werden, dass die lebensweltliche Neuorientierung in Palästina nach den einschneidenden Verlusten der Emigration auch positive Effekte bereithielt – etwa im Hinblick auf die Quantität des kompositorischen Outputs, der ab den 1940er-Jahren wieder deutlich zunahm. Auf beruflicher Ebene erfolgte die Neuausrichtung durch die Annahme einer Dramaturgenstelle am Staatstheater Habimah in Tel Aviv nur wenige Wochen nach der Übersiedlung. Brod sollte die Position bis zu seinem Tod im Dezember 1968 innehaben. In dieser Zeit avancierte er als Autor und Journalist zu einem diskursstarken Intellektuellen des jungen Israel, der auch in Europa und den USA Reputation und Einfluss fand. Letzteres nicht zuletzt im Kontext der beispiellosen Rezeptionsdynamik der Kafka‘schen Werke, innerhalb der sich Brod als zentrale Gestalt mit strenger Interpretationshoheit positionierte. Diese „autoritäre Deutungspraxis“ (Schmidt 2007: 23) schlägt sich auch im kompositorischen Umgang Brods mit den Texten von Kafka nieder, wie anhand der Lieder op. 35 demonstriert werden kann. Brod hat lediglich drei Kafka-Texte vertont. Diese verhältnismäßig geringe Anzahl mag angesichts der persönlichen Nähe zu Kafka irritieren, hatte Brod doch immerhin fünfzehn Liederzyklen mit eigenen Opuszahlen vorgelegt.7 Die wenigen Kompositionen scheinen der häufig zu lesenden Annahme von der Unmusikalität Kafkas und seiner Dichtungen zu entsprechen. Kafka hat mehrmals von eigenen musikalischen Defiziten gesprochen,8 was aber nicht den kausalen Kurzschluss erzeugen sollte, er habe sich grundsätzlich nicht für das Phänomen Musik interessiert. Diederich Lüken konnte in einem Aufsatz von 1984 mehrere Stellen in den Schriften Kafkas anführen, in denen Musik eine Rolle spielt (Lüken 1984: 10-13) – so zum Beispiel in der Erzählung Die Verwandlung (1912), im letzten Kapitel des Amerika-Romans (1914) und dem Fragment Forschungen eines Hundes (1922). Brod selbst attestierte Kafka zwar ein insgesamt „natürliches Gefühl für Rhythmus und Melos“ (Brod 1966: 103), sprach aber auch davon, dass Kafka „zum Ausgleich für die besondere Gabe seiner musikalischen Sprachkunst [...] der eigentlichen Musikbegabung ermangelte“ (Brod 1966: 103). Was die Textauswahl in den Liedern Tod und Paradies op. 35 von 1951 betrifft, so ging Brod äußerst selektiv vor: Folgt man dem Vorwurf der Unmusikalität, so scheint es, als ob er gerade jene Stellen aus Kafkas Schriften herausgesucht hat, die sich vor dem Hintergrund des Text-Ton-Verhältnisses 7 Die bevorzugten Dichter, die Brod für Vertonungen wählte, waren Goethe und Heine. 8 S. etwa in den Briefen an Milena Jesenská vom 14. und 25. Juni bzw. 17. und 27. Juli 1920.

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durch eine besonders reiche Metaphorik auszeichnen. Die Vorlagen stammen zum einen aus Kafkas Tagebüchern 1910–1923, zum anderen aus der Sammlung Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß.9 Der Titel Tod und Paradies geht auf Brod zurück – ein wichtiges Faktum, denn durch die Betitelung werden die beiden Lieder inhaltlich in Beziehung zueinander gesetzt und erhalten einen gleichsam narrativen Zusammenhang. Ursprünglich hatten die Texte, wie ihre verschiedenen Herkunftsquellen zeigen, nichts miteinander zu tun. Erst durch Brods Textarrangement treten sie in ein ergänzendes Verhältnis: Tod Im trüben Sinn schlägt eine Uhr. Höre auf sie, wenn du eintrittst ins Haus. Träume und weine, armes Geschlecht, findest den Weg nicht, hast ihn verloren. Ich will nichts, nur mich entreißen Händen der Tiefe, die sich strecken, mich Ohnmächtigen hinabzunehmen. Schwer fall’ ich in die bereiteten Hände. Ach, sie tragen, Larven der Hölle, verhüllte Grimassen, eng an sich gedrückt den Leib. Langer Zug, langer, langer Zug, langer Zug trägt den Unfertigen. Tönend erklang in der Ferne der Berge langsame Rede. Wir horchten. Paradies Kleine Seele, springst im Tanz, legst in warme Luft den Kopf, hebst die Füße aus glänzendem Gras, das der Wind in zarte Bewegung treibt. Frische Fülle. Quellendes Wasser. Stürmisches, friedliches, hohes, sich ausbreitendes Wachsen.

9 Die Zeilen des Tod-Gedichts datieren vom 14. und 19. Juli 1916. Das Gedicht Kleine Seele springst im Tanze entstand bereits im September 1909 und findet sich später sowohl als Tagebuchnotiz (Eintrag vom 26. November 1911) als auch in einem der Oktavhefte wieder, die Kafka in den Jahren 1917/18 benutzte. Zum Entstehungshintergrund der Lieder vgl. ausführlich Jost (1987: 284-287).

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Glückselige Oase. Morgen nach durchtobter Nacht. Mit dem Himmel Brust an Brust. Friede, Versöhnung, Versinkung.10

Die Anordnung der Vorlagen suggeriert den Handlungsverlauf eines Lyrischen Ich („kleine Seele“), das nach verzweiflungsvollen Zuständen innere Katharsis in einer Transzendenz des Friedens findet. Um nachvollziehen zu können, welche Intentionen Brod bei der Textauswahl geleitet haben, bedarf es einer Kontextualisierung der Lieder in Grundzüge der Brod‘schen KafkaRezeption. Den Schlüssel zur ästhetischen und formalen Konzeption von op. 35 enthält Brods Schrift Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas aus dem Jahre 1959, die in allen bisher vorliegenden Untersuchungen des Liederzyklus keine Berücksichtigung fand. Ein zentrales Anliegen des Textes bildet die Reflexion der ‚Gläubigkeit‘ Kafkas. Brod konstatiert, dass sich in Kafkas Schaffen fraglos „viel Skeptisches“ finden lasse, „das an den Grundlagen des Glaubens rüttelt.“ Gleichwohl sei er „kein Dichter des Unglaubens und der Verzweiflung“ – vielmehr sei Kafka ein „Dichter der Prüfung des Glaubens, der Prüfung im Glauben“ (zit. n. Brod 1959: 5). An anderer Stelle heißt es, dass die „Welt der Schrecken, der Alpträume, des Überwältigtseins durch dämonische Kräfte“ (Brod 1966: 308), die Brod auch unter dem Begriff des „Zerbröckelnde[n]“ subsumiert, zwar stets präsent sei, aber durch die Verzweiflung schimmert Positives durch, und dieses Positive bildet den Kern, sei es da und dort noch so zart, noch so vorsichtig und verschlüsselt, ja zuweilen geradezu ängstlich, verschreckt wiedergegeben. (Brod 1966: 306)

Brod liegt alles daran nachzuweisen, dass Kafkas Schriften nicht allein von Pessimismus und Resignation getragen seien, sondern auch „Wege der Hoffnung, Wege der Erlösung“ enthielten, „die um so subtiler, aufrichtiger, überzeugender locken, je seltener sie sich zeigen.“ (Brod 1966: 307) Kafka ist für Brod in erster Linie ein „tiefreligiöser Mensch“ und „Denker“ (Brod 1966: 306) – ein „Phänomen der religiösen Welt“ (Brod 1948: 45).11 Damit wendet sich Brod gegen die „,schrecklichen Vereinfacher‘, die in Kafka den ewigen Nur-Verlierer sehen wollen.“ (Brod 1966: 308) Brod führt in seiner Schrift 10 Zu den (geringfügigen) Textunterschieden zwischen den Fassungen Kafkas und Brods siehe die Synopse bei Jost (1987: 286). 11 Der religiöse Interpretationsansatz Kafkas bildet, nach Auffassung Manfred Engels, den ältesten Deutungsstrang der Kafka-Rezeption, der „bis ans Ende der 1950er Jahre dominant war“, heute aber „gründlich aus der Mode gekommen“ ist. Die „vereindeutigenden, alle Verständnisprobleme der Texte gnadenlos nivellierenden (zudem an den Texten oft kaum nachvollziehbaren) Allegoresen haben die religiöse Kafka-Deutung in gründlichen Misskredit gebracht. Zudem entsprach sie seit den späten 60er Jahren einfach nicht mehr dem Zeitgeist“ (Engel/Auerochs 2010: 422).

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eine Reihe von Textstellen an, in denen er den Nachweis über die „Kompromißlosigkeit des Guten“ (Brod 1966: 311) in Kafkas Werken zu erbringen sucht, und verweist dabei auch auf die Zeilen aus den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, welche die Schlusszeilen des Liedes Paradies bilden: Mit dem Himmel Brust an Brust. Friede, Versöhnung, Versinkung. (Brod 1966: 310)

Weitere Belege dieser positiven Gläubigkeit oder, wie es in der Kafka-Biographie heißt, der „Kategorie der Heiligkeit“ findet Brod (1966: 50) in dem Amerika-Roman. Hier trifft der Leser unter Rückgriff auf musikalische Metaphern auch auf eine inhaltliche Konkretisierung des Begriffs ‚Paradies‘: Liest man […] das, was mir Kafka über den geplanten Schluß des Romans ,Amerika‘ gesagt hat, so gewinnen die Worte ,Paradies‘ (das ja wahrhaftig keine Lokalität des Erdenglobus ist) und der von mir instinktiv gebrauchte Ausdruck ,rätselhaft’ eine Bedeutung, in der die ganze Doppelbodigkeit, die schwebende Qualität der Kafkaschen Aussage auch einer privaten, manchmal ans Mystifikatorische streifenden Mitteilungen sich manifestieren. […] Man könnte in vielem, was dieses Schlußkapitel in seiner Phantastik, in seiner kindlich verspielten, trompetenblasenden, heiter verkitschten Engelsglorie gegenüber dem zweckbindenden Leben Amerikas auszeichnet, in vielem, was hier von bizarren, ins Scherzhafte und ironisch Biedermännische entrückten Gestalten gesprochen wird, Hinweise auf ein dem Irdischen fernes Sein, auf eine Existenzform der Freiheit und himmlischen Heimat finden. (Brod 1966: 327)

Zusammenfassend kann auf Basis dieser Zitate festgehalten werden, dass erst die Berücksichtigung der Schrift Verzweiflung und Erlösung Gründe für die selektive Textauswahl und -verknüpfung der beiden Lieder Tod und Paradies liefert. Das ästhetische und formale Konzept von op. 35 gründet auf Brods dialektischer Interpretation der Kafka‘schen Gläubigkeit,12 die bei aller „Verengung und Unfreiheit“ einer „Welt höllischer Minuszeichen“ immer auch ein „Klima“ der „Selbstbehauptung“, „Liebe“ und „Ordnung“ kennt (Brod 1966: 308). Gemäß dieser Auffassung bildet das Lied Paradies jenen Teil des Liederzyklus, der sich auf die „Hoffnungs- und Aktivitäts-Komponente“ (Brod 1966: 307) bezieht, welche Brod als so wesentlich, aber weitgehend unberücksichtigt in Kafkas Werk wahrnahm. Im Gegensatz zum freitonalen, formal rhapsodisch gehaltenen Lied Tod zeichnet sich das zweite Stück durch einen klar strukturierten Formplan und eine tonal zyklische Anlage mit den Schwer-

12 Zu Brods theologischer Kafka-Deutung, die bereits früh Kritik – etwa von Walter Benjamin – auf sich zog, siehe vor allem den Briefwechsel zwischen Brod und Hans-Joachim Schoeps (1985).

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punkten D-Dur, E-Dur und C-Dur aus (Jost 1987: 290f.).13 Die Transparenz der formalen Organisation resultiert aus der Gliederung des Stücks in ein Thema mit drei Variationen. Der Klavierpart des Paradies-Lieds bildete ursprünglich das Material einer Variationenreihe, die Brod bereits im Jahre 1911 für Klavier und eine „einfache Melodie“ zu den Worten Kleine Seele – springst im Tanze komponiert hatte (Brod 1966: 103). Für die Liedfassung wurden die Variationen später umgearbeitet. Das Paradies-Stück ist somit wesentlich früher als das Tod-Lied entstanden, was die stilistische Unterschiedlichkeit der Werke erklärt. Der Entstehungskontext könnte die Vermutung einer arbeitsökonomischen Strategie nahelegen, indem Brod auf ein bereits vorhandenes Variationswerk zurückgriff und es für op. 35 überarbeitete. Es treffen damit zwei prädisponierte Werke zusammen: das Gedicht Kafkas und die Variationen Brods, die nun im Gesamtkontext der Dialektik von Verzweiflung und Erlösung respektive Tod und Paradies zusammengeführt werden. Im Gegensatz zu frühen Kafka-Vertonungen etwa eines Theodor W. ­Adorno oder Ernst Krenek (Stöckler 2004: 115ff.) verfährt Brod bei der Textauswahl und -disposition der Lieder durchweg autoritär, indem er Gedichte verknüpft, die entstehungsgeschichtlich nicht zusammengehören. Die Absicht dieser Eingriffe bildet die Konstruktion einer narrativen Entwicklungslogik der Texte, die auf Basis der religiös geleiteten Kafka-Interpretation Brods einer dialektischen Erlösungsdramaturgie entspricht. Am deutlichsten wird diese Konzeptionsabsicht durch die Wahl der Liedtitel, die ihre Entsprechung in Brods Schrift Verzweiflung und Erlösung finden. Damit rückt Brod in die Rolle eines Autors zweiter Ordnung, da er über die textlichen Ergänzungen und Neukonstellationen der Kafka-Gedichte zu einer Transformation poetischer Inhalte gelangt. Als ehemaliger Weggefährte, Herausgeber und Nachlassverwalter sah sich Brod hierzu ermächtigt. Im Falle der Herausgabe der Schriften Kafkas hat diese Eigenmächtigkeit bekanntlich auch zu kritischen Reaktionen geführt (Engel/Auerochs 2010: 518ff.).

13 Auf kompositionstechnischer Ebene werden Konstanz und Wandel des für Brod zentralen Erlösungsthemas durch die Modifizierung einer substanzgemeinschaftlichen Motivgestalt realisiert, die jeweils zu Beginn eines neuen Formteils auftritt: Kennzeichnend sind hier einerseits der Terzabstieg mit anschließendem Sext- bzw. Oktavsprung und die fallende Sekunde, andererseits die konstante Auftaktgeste: Thema (T. 1 m. A.–2) / Variation 1 (T. 4) / Variation 2 (T. 26 m. A.) / Variation 3 (T. 40 m. A.). Die Zwischen- und Nachspiele des Klaviers, denen Brod im Verhältnis zur Singstimme großen Entfaltungsraum zumisst (18 von 46 Takten), erfüllen nicht nur durch die materiellen Korrespondenzen, sondern auch durch die jeweiligen Dynamik- und Tonartenwechsel strukturierende Aufgaben.

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Überblickt man das Spektrum an Kafka-Vertonungen von Adorno bis Philipp Glass, von Krenek bis Hans Werner Henze,14 so spiegeln Brods Arbeiten nur eine kompositorische Rezeptionsform neben vielen anderen wider. Seine Werke machen angesichts der Radikalität des interpretatorischen Umgangs mit den Vorlagen bewusst, dass sich die Schriften Kafkas nicht in einer eindimensionalen, „objektiven Werkerkenntnis“ (Stöckler 2004: 117) erschöpfen.15 Im Gegenteil: Brods Vertonungen lassen gerade aufgrund ihrer religiösen Aufladung anschaulich hervortreten, wie und warum es gerade Kafka war, der für viele Komponisten der Moderne zu einer zentralen „Identifikationsfigur“ (Stöckler 2004: 117) avancieren konnte.

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David Vondráček

Die Kafka Band & Co.: Zur popkulturellen Aneignung Kafkas 1. Der Gegenstand Die Kafka Band und ihre Adaption des Schlosses ist nur die gegenwärtige Spitze des Eisbergs der popkulturellen Kafka-Rezeption. Von Kafka im Hollywood-Movie1 über Kafka in Comics2 bis zum Kafka-Computerspiel3 – es gibt nichts, was es nicht gibt. Selten geht es dabei nur um die Auseinandersetzung mit einem konkreten Werk, vielmehr entzündet sich das Interesse am Menschen Kafka und dem Mythos, der ihn umgibt. Dass Franz Kafka in die Popularkultur eingegangen ist, dürfte auf seine Affinität zum Trivialen, Populären, Niederen zurückgehen, wie es auch im Schloss zu finden ist, wenn auch von Kafka in eigentümlicher Weise transformiert. Die schauerromantischen Elemente des Schlosses in die Schauerromansphäre zurückzutransformieren ist naheliegend, kann aber als Verkittung oder Verharmlosung der bei Kafka doch ungeheuren Brüche erscheinen. Die Kafka Band zielt nicht auf Reflexion, sondern auf das Intensive und auf das Sinnliche ab. Die Unterhaltungskultur ist auf Entlastung aus, doch ‚Pop‘ ist mehr als das, wie Diedrich Diederichsen methodisch überzeugend gezeigt hat und worauf wir in diesem Beitrag noch zurückkommen. Was die Kafka Band außerdem für die Forschung – genauso wie für die Literaturhäuser – interessant macht, sind ihre zweisprachigen Texte. Ohne dass deutsch-tschechische Beziehungen explizit thematisiert würden, werden sie dadurch doch vor Augen geführt und ein Nachdenken über sie wird angeregt. Die Kafka Band entstand auf Initiative des Literaturhauses Stuttgart als deutsch-tschechisches Projekt. Vorausgegangen war die Adaption von Kafkas Schloss als Graphic Novel durch David Zane Mairowitz als Texter und Ja1 Kafka, Regie: Steven Soderbergh, Produktionsjahr 1991. 2 Die Liste der Kafka-Comics in Christopher Hohlbaums Dissertation (2015) liest sich beeindruckend, wenn auch die Schloss-Adaption von Švejdík/Mairowitz leider fehlt. 3 The Franz Kafka Videogame wird seit 2013 von Denis Galanin entwickelt. Bei Redaktionsschluss war als Release-Datum der Dezember 2016 angekündigt.

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romír Švejdík (Künstlername: Jaromír 99) als Zeichner im Jahr 2013. Jaromír Švejdík ist durch den Comic Alois Nebel bekannt geworden, der in Zusammenarbeit mit Jaroslav Rudiš entstand und 2011 verfilmt wurde. Da Švejdík auch als Musiker aktiv ist, wurde ihm auch die musikalische Untermalung einer Ausstellung, Kafka in Komiks, an ebenjenem Literaturhaus übertragen. In der ins Leben gerufenen Projektband kam es zur erneuten Zusammenarbeit mit Jaroslav Rudiš, der Kafkas Texte im deutschen Original zur Musik liest. Es folgte die Studioproduktion einer CD mit zehn Musiknummern, die im Februar 2014, nun am Literaturhaus München, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Literaturhaus kündigte die Veranstaltung als „Comic-Performance und Konzert“ an, welche zusammen mit Videoeinspielungen aus Kafkas „Literatur-Abenteuer ein spannendes Gesamtkunstwerk“ machten (N. N. 2014). Ein weiterer Verbreitungsweg, der dem gemischten Format entgegenkommt, ist die Plattform Youtube. Auch ein animiertes Musikvideo wurde dafür produziert. Ein solches Gegenstandsfeld bringt die Frage nach der geeigneten Methodik mit sich.

2. Aktive Bedeutungsherstellung statt Reproduktion Während ‚Pop‘ seinem Wesen nach (auch) sichtbar sein muss, gibt es neben der sichtbaren auch eine latente Rezeption, worauf zuletzt Anne Hultsch hingewiesen hat (Hultsch 2014: 15). Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, muss man sich fragen, ob nicht jegliche Rezeption in einer Art Blackbox zu denken ist. Das, was zwischen dem originalen Kunstwerk und seinem Rezipienten geschieht, ist dem Zugang der Wissenschaft notwendig verborgen, ist immer latent. Es sind meistens Zeugnisse von oder Reaktionen auf den eigenen Rezeptionsprozess in sekundären (Kunst-)Objekten, die Kunstwissenschaft untersucht. Das zu bedenken ist besonders wichtig, wenn in diesem Fall auch noch kulturelle Differenz und kultureller Transfer als Faktoren mit einfließen. Kultur als komplexitätsreduzierendes Konzept ist das Ergebnis einer Stilisierung, die in der Abgrenzung zu anderen Kulturen geschieht, und genauso müsste die Rezeptionsforschung berücksichtigen, dass sie gleichsam nur mit Stilisierung von Rezeption zu tun hat. Bilder des Eigenen wie des

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Fremden werden dabei aktiv produziert, Relationen zwischen Rezipierendem und Rezipiertem mehr oder weniger nach Belieben hergestellt.4 Diesen Vorgang in Analogie zum Übersetzungsvorgang zu verstehen, wie es diverse Einführungen in die Thematik tun (Bohnenkamp 2012: 35), erweist sich als unterkomplex. Zwar finden offensichtlich Transferprozesse statt: aus einem Medium in ein anderes, aus einer Sprache in eine andere, und – wenn man so will – aus der ‚hohen‘ Kunst in die populäre. Das lässt aber bereits ein komplexes Feld vermuten, dessen Beschreibung in binären Relationen an Grenzen stößt.5 Ein wichtiger Unterschied ist, dass die sprachliche Übersetzung bestrebt ist, das ausgangssprachliche Produkt möglichst vollständig zu reproduzieren und damit zu ersetzten (nur Literaturkritik oder Übersetzungswissenschaft hält beide nebeneinander). Die Kafka Band wäre missverstanden, unterstellte man ihr das Bestreben, ‚Kafka‘ (‚das Original‘) lediglich unter veränderten Bedingungen reproduzieren zu wollen. Unter den vielfältigen Erscheinungen von Intermedialität bzw. Intertextualität sind diejenigen besonders interessant, die eine selbstreflexive Ebene enthalten, d. h. das In-Beziehung-Setzen von Altem und Neuem selbst vorführen. Ich möchte vorschlagen, dies terminologisch als Inszenierung aufzufassen.6 Es ist eine Art von In-Beziehung-Setzen von Textebenen (bei einem weiten Textbegriff), wie sie im Regietheater tagtäglich und reflektiert vollzogen wird. Es ist bei Jaroslav Rudiš und der Kafka Band also eine inszenierte Auseinandersetzung mit Kafka, die nicht dramatisch, höchstens prädramatisch ist, da Rudiš Prosa zur Musik liest.

4 Und bis dahin ist noch nicht der Rezipient des finalen Produkts berücksichtigt. 5 Eine Denkweise in ‚On/Off‘-Kriterien führt zu Problemen solcher Art, dass ein Kriterium, das auf der einen Seite vorhanden ist, auf der anderen Seite notwendig als fehlend angenommen wird, ohne dass es dem Analysierenden bewusst sein muss. Die differenzierte Betrachtung wird erschwert oder sogar verhindert, wenn ihr die Modellbildung in dieser Weise vorangeht. 6 Es ist dies eine Kulturtechnik, die mit der Postmodernediskussion wieder verstärkt in den Blick geraten ist, aber in einer parallelen Schicht im Schatten der Ästhetik des Originalen, des Neuen, des Genies seit Jahrhunderten mitläuft, ohne in Opposition zu ihr zu treten. Die Parodie, die besonders lange bekannt ist, kann ebenso wie die Improvisation über Jazzstandards oder das Sampling unter demselben Aspekt betrachtet werden, ohne dass freilich die Unterschiede verwischt werden sollen. Würde man mit dem Begriff Interpretation arbeiten, wäre damit noch zu wenig gesagt, weil Interpretation stets im dienenden Verhältnis zum bestehenden Kunstwerk verharren muss, um gelungen zu sein. Auch eine Inszenierung kann interpretierend sein, sie kann aber auch bewusst die konkrete Deutung vermeiden und damit gleichsam unterhalb der Ebene von Interpretation bleiben.

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3. Eine Theorie des ‚Pop‘? Obwohl in der Form essayistisch oder gar journalistisch, präsentiert Diedrich Diederichsen in Über Pop-Musik ein Theoriegebäude der Popmusik (Diederichsen 2014). Er betont ausdrücklich die Gültigkeit nur für Popmusik und möchte sie einerseits vom Populären, andererseits von der Populärkultur unterschieden wissen, die nicht in simpler Analogie betrachtet werden könnten. Trotzdem beschränkt er seine Betrachtung nicht auf musikalische Kriterien, was entsprechende Offenheit bei der Anwendung ermöglicht. Für die Analyse musikalischer Strukturen schienen Popsongs schon immer zu wenig herzugeben. Tatsächlich ist es nicht so, dass sie der strengen musikwissenschaftlichen Analyse nicht genügen würden, sondern vielmehr umgekehrt: Angesichts neuer Bedeutungszusammenhänge erscheint es prüfenswert, ob das musikanalytische Instrumentarium ausreichend ist. Das, wofür Popsongs gemacht sind, scheint ihnen stärker eingeschrieben als der vermeintlich autonomen absoluten Musik. Das heißt aber nicht, dass man sich, im Umkehrschluss, auf einen rein musiksoziologischen Zugang beschränken könnte. Diederichsens Zugang kommt von der Semiotik her, es genügt ihm aber nicht, Zeichen entweder anhand ihrer objektiven Beschaffenheit oder anhand des individuellen Umgangs mit ihnen zu beschreiben, sondern nur in der Zusammenschau von beidem. Laut Diederichsen bieten Zeichen sowohl ein „objektives als auch subjektives Signifikationspanorama […] und nur ein Teil davon ist sein alter Kontext, das Werk“ (Diederichsen 2014: 87). Zeichen werden mit eigenen „Erfahrungen, Lebensgefühl, Alltagsbewältigung oder Nachtlebensgewohnheiten“ verknüpft und auf diese Weise neu besetzt (Diederichsen 2014: 87). „Pop“ ist laut Diederichsen „auf stabile Symbolsysteme“ angewiesen, arbeitet aber zugleich mit „Genuss am Bruch mit allem, am Widerstand gegen alles, was kodifiziert werden kann“ (Diederichsen 2014: 88). Die Zeichen werden vom Hörer neu besetzt, neu zusammengesetzt. Entscheidend für Pop ist letztlich „das, was nur mich angeht, was es nur einmal gab, in meinem Leben oder in einem einzigen Moment.“ (Diederichsen 2014: 88) Diederichsen unterliegt nicht der Versuchung, Popmusik in Abgrenzung zur klassischen Musik oder zu einer wie auch immer gearteten als herrschend angenommenen Ästhetik negativ zu definieren. Anti-Musiken gab und gibt

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es viele (seinerzeit Jazz, Punk, Techno etc.) und eine simple Negativdefinition vermag nicht ihre Spezifik gegenüber anderen Anti-Musiken zu erfassen.7 Das paradoxe Verhältnis zwischen allgemeinverständlichen Zeichen und ihrem individuellen Gebrauch zur Identifikation, ja Distinktion wird bei Diederichsen in eine dialektische Denkfigur überführt. Es entspricht dem Prinzip des ‚Minoritären‘ von Kafkas Sprache, das Deleuze und Guattari interessierte (s. Tillmann 2013: 12 und die Diskussion bei Thirouin 2014). Welche Notwendigkeit gibt es aber, die Musik der Kafka Band überhaupt als Popmusik ausweisen zu wollen? Bei einem musikliterarischen Projekt, das von etablierten Institutionen wie Literaturhäusern finanziert wird, ist diese Rubrizierung zunächst durchaus fraglich. Der krasse Gegensatz zwischen den Polen „Rebellion“ und „Markt“ (Hecken et al. 2015: 31) ist aber – wie gezeigt wurde – für Popmusik wesentlich und bildet erst ihre spezifische Spannung aus. ‚Pop‘ stellt nach Diederichsen keine Kategorie auf der Ebene der Wesenheit von Musik dar, d. h. etwas, das objektiven musikalischen Eigenschaften inhärent wäre. Wir sind der Überzeugung, dass die dargestellten Relationen auch für die Musik der Kafka Band spezifisch sind, in der Weise, wie sie die Hörer ansprechen und Kafka popularisieren will.

4. Exkurs: Zum Comic von Mairowitz und Jaromír 99 Der Vergleich mit dem Comic soll dazu dienen, das Spezifische der musikalischen Umsetzung der Kafka Band herauszuarbeiten. Als Tertium Comparationis kann der tatsächlich aus der Vorlage übernommene Text dienen, der in beiden Fällen stark gekürzt ist, was durch unterschiedliche medienspezifische Mittel der Narration zu kompensieren versucht wird. Im Gegensatz zu amerikanischen Comics schreibt Georg Seeßlen dem europäischen Comic rein bürgerliche Ursprünge zu: als Beilage bürgerlicher oder sogar konservativer Zeitungen (Seeßlen 1994: 100). Seinen Niederschlag finde dies in der Darstellung stabiler Architekturen (Seeßlen 1994: 100). Interessant wäre eine dahingehende Untersuchung des tschechischen Comics. Man weiß zwar, dass der Totalitarismus zwischen 1968 und 1989 auf die Möglichkeiten des Comics einschränkend wirkte, doch überzeugende Versu-

7 Zum Problem der Dichotomien siehe Fußnote 5.

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che, positiv und strukturell-analytisch zu fassen, wofür heutige tschechische Comics stehen, sind mir jedenfalls bislang unbekannt. Dass Jaromír 99 für einen Comic auf einen Roman zurückgreift, ist unzweifelhaft ein Rückgriff auf den bürgerlichen Bildungskanon, was als Graphic Novel auch eine terminologische Entsprechung gefunden hat. Jaromír Švejdíks Architekturen sind durchaus stabil, bisweilen erdrückend stabil. Statt fragmentierter Bilder, welche den Blick dynamisieren – indem unwillkürlich nach einer Ergänzung des Fragmentierten gesucht wird, gerät der Blick in Bewegung –, dominiert ein geschlossener Bildaufbau. Daran ändern auch die Zickzacklinien nichts, die ohne Korrespondenzen beliebig in den Einzelpanels verteilt zu sein scheinen und damit die Abgeschlossenheit des Panels noch unterstützen.8 Sie dienen dazu, den Eindruck der Scherenschnitttechnik zu erwecken, die hier digital nachgebildet wurde, und haben keine darstellend-mimetische Funktion. Švejdík erzählt gewissermaßen metaphernfrei, aber deswegen nicht gleich realistisch, denn die Darstellung ist stark stilisiert. Die Herausforderung für den Comicleser besteht darin, dass die Erwartungen an die Darstellung oftmals gezielt unterminiert werden. Überall, wo es nach Sinn und Halt sucht, gleitet das Auge an den glatten Oberflächen ab. Damit hat Švejdík eine Entsprechung zu Kafkas literarischer Methode gefunden, die ähnlich beunruhigend ist. Optisch ist das Schloss bei Švejdík dem Schloss Jánský Vrch in Javorník nachempfunden (s. Abb. 1).

8 „Die über Kopula ‚ist wie‘ hergestellte Relation wird in Comics oft durch Formatierung benachbarter Panelinhalte in ein jeweils gleichförmiges Schema […] augenscheinlich gemacht. Strukturelle Ähnlichkeiten der Panels sollen auf Ähnlichkeiten ihrer Inhalte hinweisen“ (Pamminger 2012: 107f.).

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Abb. 1: Die Kafka Band, von links nach rechts: Dušan Neuwerth, Zdeněk Jurčík, Jaromír 99, Tomáš Neuwerth, Jaroslav Rudiš, a. m. almela; nicht im Bild: Jiří Hradil.

Abb. 2: Ganzseitiges Panel in Jaromír 99/Mairowitz 2013 [ohne Seitenzahlen].

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Die (Zurück-)Verortung Kafkas in seine tschechische Umgebung, wie sie schon Max Brod unternahm, krankt – so verlockend sie sein mag – doch an einem zentralen Problem: Wenn wir nach der Formel ‚Kafka ist gleich Widerspiegelung von Prag zu Beginn des Jahrhunderts‘ rechnen wollen, dann müßte uns schließlich die Kenntnis der Soziologie Prags genügen, um in Kafkas Werk einzudringen, und alles andere wäre dann überflüssig (Kusák 1965: 172f., zit. n. Weinberg 2014: 227).

Die Lokalisierung des Schlosses durch Švejdík erkennt man nur als Eingeweihter (bei welchem Zeichen ist es anders?), aber wichtiger noch: Das individuelle und sehr konkrete Schloss wird von nahezu völlig entindividualisierten Häuserwürfeln umgeben, welche sich optisch in den Vordergrund drängen und den Weg zum Schloss verstellen (s. Abb. 2). Insgesamt lässt sich eine Dominanz des Nichtindividuellen in der Darstellung bei Švejdík feststellen. Die verkürzte Darstellung leitet zugleich eine Lesart an, die auf das Allgemeine abzielt, und öffnet den Freiraum für eigene Zuschreibungen und Assoziationen.

5. Musikalische Umsetzung Dass Texter David Zane Mairowitz Kafkas literarische Vorlage für den Comic maximal gekürzt hat, ist kein Defizit, es wird geradezu vom Medium Comic erfordert, um Raum für die Narration des Bildes zu geben.9 Die narrativen Möglichkeiten der Musik sind dagegen umstritten. Musikalische Zeichen sind nur im Ausnahmefall anschaulich, zumeist handelt es sich um konventionalisierte musikalische Symbole. Auf affektiver, emotionaler Ebene sind musikalische Inhalte aber prinzipiell jedem zugänglich. Dies macht sich die Kafka Band zunutze. Ihre Musik verhält sich affirmativ zum Text, illustriert ihn durch Stimmung. Womit haben wir es musikalisch zu tun? In seiner Rezension für das tschechische Fernsehen schließt Josef Rauvolf einen bloßen „Soundtrack“ zum Schloss ebenso aus wie das „dramatische Chanson“ und kommt, ganz zu Recht, auf das Melodram (Rauvolf 2014). Als Begründer einer durch9 Mairowitz selbst macht keinen Hehl daraus, dass er seine Arbeit auch didaktisch versteht (Hummitzsch 2013).

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gängigen tschechischen Melodramentradition kann Zdenko Fibich mit seinen großdimensionierten szenischen Melodramen gelten. Ihnen wurde fälschlicherweise aufgrund des natürlichen Vortrags die Tendenz zu Naturalismus und Zivilismus zugeschrieben. Das Gegenteil ist der Fall, das Wort erklingt in höchster Stilisierung, deren nochmalige Steigerung im Gesang wohl nicht mehr ästhetisch sinnvoll erschien. Komponisten griffen immer dann zum Melodram, wenn sie Hochachtung vor einem Text hatten. Der Text bleibt dabei unangetastet, von der Körperlichkeit der musikalischen Klänge quasi unberührt. Was die Merkmale der Musik der Kafka Band angeht, so wirkt sich die Besetzung vereinheitlichend aus. Akustische Instrumente dominieren über elektronische Effekte und dunkle, voluminöse Klänge schaffen einen beunruhigenden Unterton. Ein bezeichnendes Beispiel ist die Verwendung von Pauken. Das zielt insgesamt auf Authentizität ab, doch funktioniert diese nur als Illusion. Denn Rudiš’ Raunen bedarf der elektronischen Verstärkung, um bei der Instrumentalbegleitung vernehmbar und verständlich zu bleiben. Mit der zentralen Stellung Friedas in drei von zehn Musiknummern, nämlich in 4, 6 und 7, reiht sich die Kafka Band zu denjenigen, die das Werk als „Liebesroman“ auffassen (Fromm 2010: 314). Die Nr. 4 Frieda/Frída wird von einem Duett von Gitarre und Mandoline eröffnet. Die Gegenüberstellung der Instrumente, von denen die Gitarre den Bassbereich, die Mandoline den Sopran abdeckt, legt Assoziationen mit dem Männlichen/Weiblichen nahe, insgesamt scheint auch die Tradition des Liebesduetts durch. Die Setzweise ist sparsam und filigran. Dass die Töne, durch kurze Pausen getrennt, einzeln gesetzt werden, lässt die sie trennende Stille bedeutungsvoll erscheinen. Sie steht für die Einsamkeit, in der das Sehnen nach Zweisamkeit, danach, dass die beiden Stimmen zusammenfinden, dialektisch enthalten ist. Das Weibliche als ‚das Andere‘ wird durch das erstmalige Auftauchen von C-Dur als Grundtonart markiert, nachdem die Nummern 1 bis 3 in G-Dur standen.10 Kafka selbst sind Oppositionen dieser Art fremd; wo sie aufgestellt werden, werden sie sogleich wieder unterlaufen.11 Laut Dagmar C. Lorenz sei bei Kafkas Figuren die Zuschreibung Männlichkeit/Weiblichkeit generell ambivalent bzw. fließend (Lorenz 2008: 371f.). Selbst das Namenskürzel K. sei, da wir nicht wissen, wofür es steht, nicht eindeutig als männlich oder weiblich ausgewiesen (Lange-Kirchheim 2010: 196). 10 Als dritter wichtiger Tonartbereich des Albums tritt im Weiteren noch e-Moll hinzu. 11 Gerhard Neumann identifizierte die Prinzipien Umkehrung und Ablenkung – und nicht einfach Widersinn oder Unsinn – als Kafkas poetische Methode (Neumann 2013: 355ff.).

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In einem Vergleich seien nun Kafkas Text und seine gekürzte und bearbeitete Gestalt, wie sie in der Nr. 5 Grab/Hrob verwendet wird, einander gegenübergestellt. Transkription des Textes der Kafka Band: Ich träum davon, bei dir zu sein, ohne Unterbrechung, auf der Erde ist kein Platz für unsere Liebe, nicht im Dorf, nicht anderswo. Tief unter der Erde, um uns herum nur Tote, Lebende finden uns nicht. Hluboko pod zemí, kolem jen mrtví jsou, živí nás nenajdou. [Vokalisen] Ich stelle mir ein Grab vor, tief und eng, wir halten uns umarmt, mein Gesicht an deinem, deins an meinem, niemand will uns mehr sehen, auf der Erde ist kein Platz für unsere Liebe. Tief unter der Erde… [Wiederholung Refrain]

Tabelle 1: Textvergleich (Nr. 5 Grab/Hrob)

Die Passage bei Kafka: ‚Das ist es ja‘, sagte Frieda, ‚davon spreche ich doch, das ist es ja, was mich unglücklich macht, was mich von Dir abhält, während ich doch kein größeres Glück für mich weiß, als bei Dir zu sein, immerfort, ohne Unterbrechung, ohne Ende, während ich doch davon träume, daß hier auf der Erde kein ruhiger Platz für unsere Liebe ist, nicht im Dorf und nicht anderswo und ich mir deshalb ein Grab vorstelle, tief und eng, dort halten wir uns umarmt wie mit Zangen, ich verberge mein Gesicht an Dir, Du Deines an mir, und niemand wird uns jemals mehr sehen […].‘ (Kafka 1982: 217f.)

Die spannungsreiche Verbindung von Eros und Thanatos ist ein bekannter Topos. Das Zusammensein des Liebespaars wird als Abkehr von der Gesellschaft in seiner Absolutheit mit dem Tod parallelisiert, was zwar makaber ist, aber doch nur eine Metapher. Bei Kafka ist die Äußerung Friedas in einen mehrgliedrigen Argumentationszusammenhang eingebunden, doch in der Adaption der Kafka Band fehlt bezeichnenderweise das adversative ‚während‘. Auch das Bild ‚umarmt wie mit Zangen‘ wurde weggelassen, da das freiwillig gewählte Zusammensein hier in ein zweifelhaftes erzwungenes umschlagen würde. Was übrigbleibt, ist ein allgemeinverständliches Bild für Liebe und Sehnsucht,12 für das der Kontext bei Kafka – dass es um die Gehilfen als K.s Nebenbuhler, um Rivalität und Eifersucht geht – unerheblich ist.

12 Populärkultur geht es um das Gemeinsame in den individuellen Erfahrungen, da es Identifikation ermöglicht: „Wenn […] gemeinsame Erfahrungen von – sagen wir – afrikanischstämmigen Frauen in Deutschland oder uigurischen Wanderarbeitern unter der Hegemonie von Han-Chinesen gemeinsam gemacht werden, könnte man diejenige Kultur ‚popluär‘ nennen, die von den gemeinsamen Erfahrungen handelt.“ (Diederichsen 2014: XV)

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6. Exkurs II: Die Prosa von Jaroslav Rudiš (oder: ‚Pop‘ medial gedacht) Jaroslav Rudiš, der zur Musik der Kafka Band die Texte performt, ist als Autor einer Reihe von Romanen in Erscheinung getreten,13 die bislang aber nur wenig von der Literaturwissenschaft thematisiert wurden. Wenn Parallelen zwischen Rudiš’ Prosa und der Kafka Band gezogen werden, so sind diese auf der Ebene der medialen Verfahren anzusiedeln. Andrea Králíková bescheinigt Jaroslav Rudiš in seinem Schreiben eine Affinität zu slogan-artigen Aussagen (Králíková 2015: 146). Weiß man um diesen Umstand, erscheint einem die Textfassung der Vertonung tatsächlich mehr wie Rudiš denn wie Kafka. Des Weiteren beobachtet Králíková, dass Rudiš in Interviews seine literarischen Texte auslege und fortspinne und dass beispielsweise. in Rezensionen diesen ‚Paratexten‘ mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als den Romanen selbst. Text v Rudišově případě není jádrem, ke kterému je třeba skrze paratextové nánosy dospět, ale stává se právě prostředkem k vlastní autorské sebeprezentaci. Paratext zde promlouvá více než samotný text, jeden prvek je doplňkem druhého, zdá se, že text by bez paratextu nebyl úplný. (Králíková 2015: 172) [Der Text ist in Rudiš’ Fall nicht der Kern, zu dem es durch die paratextuellen Sedimente hindurch zu gelangen gilt, er wird vielmehr zum Mittel der Selbstdarstellung des Autors. Der Paratext ist hier aussagekräftiger als der eigentliche Text, ein Element ergänzt das andere, sodass es scheint, dass der Text ohne den Paratext nicht vollständig wäre.]

Implizit davon ausgehend, dass man diese Sphären trennen müsste, vollführt Králíková nun die überraschende Entscheidung, nur das mediale Bild anhand der Paratexte zu verfolgen. Eine Charakterisierung des Autors wird anhand von Strategien vorgenommen, mit denen er sich in der Öffentlichkeit bzw. auf dem Markt positioniert, die Bewertung ihrer Adäquatheit wird als Bewertung des Autors präsentiert. Das ist methodisch unsauber und auch etwas unfair, dennoch können solche Irritationen aufschlussreich sein. Rudiš selbst steht seiner Rubrizierung als Autor der Popliteratur zwar eher ablehnend gegen­über, Übereinstimmungen zur Popliteratur in Verfahren und im Textbegriff können aber, von inhaltlichen Parallelen abgesehen, trotzdem festgestellt werden. Die 13 2002 Nebe pod Berlínem, 2006 Grandhotel, 2007 Potichu, 2010 Konec punku v Helsinkách, 2013 Národní třída [Novelle]; diese sind auch in deutscher Übersetzung erschienen: 2004 Der Himmel unter Berlin, 2008 Grandhotel, 2012 Die Stille in Prag, 2014 Vom Ende des Punks in Helsinki, 2016 Nationalstraße.

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Popliteratur lässt sich genetisch bis zum Popjournalismus Tom Wolfes – von diesem New Journalism genannt – zurückverfolgen (Hecken et al. 2015: 26f.). Er stellt bereits einen Angriff auf die Grenze zwischen der ‚hohen‘ Sphäre belletristischer Literatur und der Alltagssphäre des Journalismus dar, wie sie auch Králíková im Fall von Roman und journalistischem ‚Kommentar‘ annimmt. Rudiš schreibt zwar nicht dokumentarisch oder fiktiv-journalistisch, doch geht es ihm genauso wie den dokumentarischen Genres um Aussagen über die aktuelle Welt. Dafür werden die Medien im wahrsten Sinne des Wortes als Mittel eingesetzt. Ihre Beschaffenheit wird zweitranging, Grenzen werden verwässert und durchlässig, solange der Zweck erfüllt ist. Im Bestreben, der Literatur neue Möglichkeiten und neue Funktionen zu erschließen, möchte man sich nicht mit den Grenzen eines Mediums zufriedengeben. So hat die Popliteratur im Bestreben nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten Verfahren der Popmusik aufgenommen, was ihre multimedialen Bezüge im Inneren ausmacht und ihre Offenheit nach außen, selbst in neue Medienbezüge einzutreten (Tillmann 2013: 15f.). Darin wird aber auch ein Gegensatz zu einem Schriftsteller wie Kafka deutlich, dessen zentrales Interesse dem Schreiben als Schreiben in seinen medienspezifischen Dimensionen galt. Die Kafka Band generiert nicht nur Aussagen über Kafka, sondern Kafkas Texte treten auch in einen neuen Medienverbund ein und werden in den Dienst einer neuen Aussage gestellt. Bei Amodeo/Hörner (2010: 25) wird Jaroslav Rudiš als „Kulturbotschafter“ zwischen Tschechien und Deutschland thematisiert. Die vertriebenen Deutschen haben in Rudiš’ Schaffen eine ähnliche Bedeutung wie die amerikanischen Ureinwohner für die US-amerikanische Befindlichkeit: eine verdrängte, kollektive Schuld. Die deutsche und die tschechische Sprache werden von der Kafka Band kontrastierend eingesetzt, aber doch so, dass der Wechsel einmal bedeutungsvoll, ein andermal zufällig erscheint, um allzu plakativen Eins-zu-eins-Zuschreibungen entgegenzuwirken. Auch in Kafkas Schloss-Fragment wird ja beständig Fremdheit verhandelt, aber interessanterweise ohne dass sie von Kafka irgendwo mit nationalen oder nationalsprachlichen Barrieren in Verbindung gebracht würde. Das Jüdische wird von der Kafka Band generell nicht thematisiert. Das ist insofern sinnvoll, als auch im Schloss das Jüdische nirgends explizit auftaucht (höchstens verschlüsselt und durch Interpretation freigelegt werden muss). Wird hier also Franz Kafka als Autor der deutschsprachigen Literatur ohne irgendwelche Einschränkungen (als regional, Prager, jüdisch) aufgefasst, als der er sich selbst verstand und verstanden werden wollte (Thirouin 2014: 346349)? Es sei darauf hingewiesen, dass das dichotomische Modell von Deut-

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schen und Tschechen, das der Beschreibung der Prager bzw. der tschechischen Gesellschaft bis 1945 diente, in dieser plakativen Art auch immer wieder von Jaroslav Rudiš aufgerufen wird. Das Jüdische als ein Drittes passt in diese Dichotomie nicht hinein.14 Amodeo und Hörner sprechen Rudiš eine „humorvolle […] Bekräftigung geläufiger Bilder, die meist leicht ironisiert wird“ zu, welche aber auch „die Gefahr [birgt], Stereotype und Vorurteile zu bestätigen“ (Amodeo/Hörner 2010: 25). In diesem Sinne würde ich die überspitzte Dichotomie bei Rudiš nicht ohne ein Element einer bewussten Irritation oder Provokation auffassen. Eine Antwort auf diese Provokation könnte mit den Worten gegeben werden, wie sie Michael Wolpe in Bezug auf den Komponisten Viktor Ullmann formuliert hat: Letzterer „war gleichzeitig Jude, Deutscher und Tscheche“ (Kinet/Stolarz 2016).

7. Fazit Mit ihrer Musik und Performance einerseits und dem Rückgriff auf Kafkas Schloss andererseits steht die Kafka Band zwischen Populärkultur und Bildungskanon. Auf die Theorie Diedrich Diederichsens rekurrierend, sollte gezeigt werden, was am Endprodukt populär ist, ohne dass dies als defizitär (‚Kafka minus x‘) begriffen wird. Nach Diederichsen könnte man folgende Popmusikdefinition anbieten: eine Konstellation aus standardisierter, traditioneller oder kultur-industriell geprägter konventioneller Musik mit durch neue Technologien in hoher Auflösung übertragenen Indizes von fremder und individueller, nicht-standardisierter Körperlichkeit. (Diederichsen 2014: XXIV)

Neben den Einflüssen einer Reihe von Theoretikern setzt sich Diederichsen insbesondere mit Roland Barthes auseinander. Mit der Fotografie habe die Popmusik das Barthes’sche „Punctum“ gemeinsam, „ein Detail, das die Kontingenz und Unwiederbringlichkeit des fotografischen Moments freilegt“ (Diederichsen 2014: XX). Das Punctum ist nicht planbar, es gibt kein objektives Punctum, nur mögliche Puncta, dort wo „Rührendes, Vergängliches, Lebendiges“ im Kulturindustrieprodukt für jemanden aufblitzt (Diederichsen 14 Auch weitere Identitäten, wie sie durch ein regionales Zugehörigkeitsgefühl oder die Staatsbürgerschaft Österreich-Ungarns ausgeprägt werden, sind denkbar, werden in der Diskussion aber häufig vernachlässigt.

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2014: XX). Vor allem mit Jaroslav Rudiš’ Textvortrag werden solche Momente angeboten, die das Produkt nicht defizitär, sondern positiv als Pop ausweisen. Dies eröffnet einen Freiraum für sowohl öffentliche, sanktionierte wie auch private Assoziationen.

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Rüdiger Ritter

Der ‚Einbruch des Primitiven in die Musik des Abendlands‘ – Jazz, die tschechische Avantgarde der Zwischenkriegszeit und das Werk Franz Kafkas 1. Eine strukturelle Parallele: Kafkas Denken über Musik und die Musikästhetik des Jazz Die Auseinandersetzung mit dem Thema Kafka und Jazz erfolgt in diesem Aufsatz nicht in Form einer Untersuchung der Rezeption der Musik durch Kafka oder in Form einer Wirkanalyse seines literarischen Werks auf Musiker oder Künstler. Vielmehr steht im Zentrum der Überlegungen der Gedanke, dass Kafkas Denken über Musik und die musikästhetischen Grundlagen des Jazz eine gewisse strukturelle Nähe zueinander aufweisen, die sich zwar gerade nicht in einer Rezeption dieser Musik durch ihn oder einer wie auch immer gestalteten musikalischen Anlage seines Werks niederschlägt, aber dennoch vorhanden ist. Vielleicht wusste Kafka nicht allzu viel über Jazz – aber sein Denken über Musik passt in einigen Punkten erstaunlich gut zu gerade dieser Musikrichtung. Die Kenntnis dieser strukturellen Nähe hilft, nicht nur Kafkas Denken über Musik besser zu verstehen, sondern auch eine weitere Facette zum Verständnis seines Werks insgesamt greifen zu können. Die strukturelle Nähe lässt sich mit einem Ausgang vom Verhältnis des Jazz zur europäischen Kunstmusik am besten deutlich machen, denn so nah Kafkas Musikverständnis zum Jazz seiner Zeit in einigen Punkten war, so fern war es umgekehrt zu den gängigen Musikauffassungen des europäischen Kunstmusikdiskurses seiner Zeit.

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2. Ein über Jahrhunderte entstandenes Bauwerk: Die ‚Musik des Abendlandes‘ Einfluß und Einbruch des Primitiven in die Musik des Abendlandes – so lautete ein Titel eines Aufsatzes, in dem Siegfried Borris im Jahre 1952 die Umwälzungen in der Musik in der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert und die nachfolgenden Jahrzehnte beschrieb (Borris 1952). Der Titel spiegelt deutlich ein kulturelles Ressentiment wider, das zur Zeit der Niederschrift dieses Artikels von einem nicht geringen Teil der europäischen Elite geteilt wurde. Als ‚Musik des Abendlandes‘ galt dem Autor die über Jahrhunderte gereifte, aus den Formen der mittelalterlichen Organa entstandene europäische mehrstimmige Kunstmusik, die er als Krönung der musikalischen Entwicklung des Kontinents auffasste. Vor allem seit dem 18. Jahrhundert hatte sich die Idee eines linearen Fortschrittsdenkens in der Musik aufgebaut (Lotter 2012). Es herrschte das Bild von der abendländischen Musik als eines Gebäudes, zu dessen immer weiterer Vervollkommnung jeder Komponist sein Scherflein beitragen sollte. Ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert war der Gedanke eines musikalischen Kanons entstanden, d. h. einer zwar niemals eindeutig definierten, aber dennoch handlungsleitenden Anzahl von Kunstwerken, die als tragende Bausteine für dieses Gebäude angesehen wurden (Pietschmann/Wald-Fuhrmann 2013). In Verbindung mit einer weiteren Denkfigur des 19. Jahrhunderts, nämlich dem Begriffsfeld Kultur und Zivilisation, ging mit diesem Bild der Entwicklung der Kunstform Musik auch die Vorstellung einer Wertehierarchie einher. Formen von Musik, die nicht diesem Entwicklungsschema unterzuordnen waren, wurden als kulturell minderwertig angesehen. Dabei handelte es sich keineswegs einfach um den Gegensatz zwischen europäischer und außereuropäischer Musik – dieser Gegensatz spielte in der Frühzeit der europäischen Musikgeschichte noch kaum eine Rolle. Angelegt war dieser Gegensatz vielmehr in der mittelalterlichen Opposition von Musica Mundana, der ‚Sphärenmusik‘, die als Abbild der Weltordnung nach heutigem Verständnis eher eine Form der Philosophie oder der Theologie darstellte, und von der tatsächlich erklingenden, von Menschen auf Instrumenten gemachten Musik, der gegenüber der Ersteren eine wesentlich geringere Wertigkeit zugeschrieben wurde (Zipp 1998). Es war also gerade das sinnliche Element, d. h. konkret die klanglichen Eigenschaften der Musik und damit zusammenhängend ihre Gebundenheit an körperliche und emotionale Strukturen, die von Musiktheoretikern des Mittelalters niedriger bewertet wurden als theoretische, philosophische Zusammenhänge.

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Eine qualitative Steigerung und Veränderung erfuhr diese Hierarchisierung von Musikformen, als die politische Ideologie des modernen Nationalismus auch auf die Musik übergriff und die Idee der Nationalmusik hervorbrachte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in der deutschen Musikkultur eine Richtung, die dieses Musikdenken mit einem nationalen Chauvinismus koppelte und nicht nur die vielfältigen Formen der europäischen Volksmusik als primitiv verurteilte (auch wenn anerkannt wurde, dass die Musikentwicklung gerade von diesen Musikformen ihren Ausgang genommen hatte), sondern auch die seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrt entstandenen nationalen Kunstmusikbewegungen als minderwertig aburteilte. In nationalem Überschwang wurde die Musik der deutschen Komponisten als ‚Weltmusik‘ bezeichnet und die musikalischen Bestrebungen der anderen Nationen, die in analoger Weise nationale Musikströmungen schufen, als Seitenzweige abgelehnt. Deutsche Musikkritiker wie Hugo Riemann bauten Beethoven als musikalischen Giganten auf, dessen musikalische Qualitäten nicht nur Markstein für alles Folgende, sondern der auch für nachfolgende Musikentwicklungen unerreichbar sei (Riemann 1901). Eines der interessantesten Phänomene der Entwicklung dieser Nationalmusikbestrebungen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Tatsache, dass die Vertreter der Nationalmusikbewegungen außerhalb des deutschen Raumes diese von deutschen Musikdenkern postulierte Vorrangstellung in der deutschen Musik weitgehend anerkannten, auch wenn sie, wie gerade im Fall der tschechischen Nationalmusikbewegung, in einem unversöhnlichen politischen Gegensatz zum deutschen nationalen Denken standen (Bužga 1996). Dieselben Musiker und Intellektuellen, die sich gegen die Prozesse politischer und kultureller Germanisierung wehrten, waren davon überzeugt, dass eine eigenständige, vollwertige Nationalmusik nur nach dem Muster der deutschen Nationalmusik aufgebaut werden könne.1 Es ist daher nicht falsch zu sagen, dass dieses Konzept der Nationalmusik gegen Ende des 19. Jahrhunderts und bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus die beherrschende Denkfigur der Musikintellektuellen in Europa war (Karbusicky 1995). Die musikgeschichtliche Situation gegen Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts war von einer Lage geprägt, in der sich diese Denkfiguren weitestgehend ausgebildet hatten und ganz überwiegend das Denken von Komponisten und Musikpublizisten bestimmten. Zugleich begannen sich

1 Für den polnischen Fall vgl. Ritter (2012a), für den ungarischen Fall Ritter (2012b).

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aber auch in vielen Ländern bereits Strömungen zu entwickeln, die nach Alternativen zu diesen festgefahrenen Denkfiguren suchten.2

3. Die Antithese: Der Jazz Diejenige Musikform, die da nach Ansicht des Autors in die Musik des Abendlands einbrach, war der Jazz – und seine ‚Primitivität‘ rührte, ganz im Sinne dieser Denkfiguren, zunächst einmal daher, dass Jazz einen Entwicklungsweg genommen hatte, der sich außerhalb des prachtvollen und zur stetigen Vervollkommnung bestimmten Gebäudes der abendländischen Musik befand. Jazz war in den USA entstanden und schien ganz offensichtlich von außen zu kommen – dass auch Jazz durchaus Verbindungen zur europäischen Musikgeschichte hat, wurde damals nicht wahrgenommen, jedenfalls spielte dieser Umstand keine Rolle in der Diskussion (Hendler 2008). ‚Primitiv‘ war diese Musik für die Ohren des Autors aber noch aufgrund einer weiteren Eigenschaft, nämlich da sie die musikalischen Grundparameter wie Rhythmus und Harmonie in ganz neue Beziehungen zueinander setzte. Auch wenn europäische Musikkritiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Musik des Kontinents als eine immer differenzierter werdende Kunstform beschreiben, zeigt eine Analyse der Musikgeschichte doch, dass mit der zunehmenden Differenzierung der europäischen Musik auf dem Gebiet beispielsweise der Harmonik eine zunehmende Verarmung auf dem Gebiet der Rhythmik einherging. Einerseits war der Weg vom mittelalterlichen Quint­ organon bis hin zur großen Sinfonie des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein Weg einer unerhörten harmonischen Differenzierung gewesen, die sich über verschiedenste Zwischenstufen gegen Ende der Entwicklung immer mehr beschleunigt hatte. Der Sieg des Dur-Moll-tonalen Systems und die Herrschaft der Funktionsharmonik mit dem Paradigma von Tonika, Dominante und Subdominante führten zu einer immer weiteren Verfeinerung und Ausdifferenzierung von Akkordbeschreibungen. In Musikzeitschriften des 19. Jahrhunderts wurden, nicht unähnlich den heutigen Kreuzworträtseln, komplexe Akkorde präsentiert, die mit dem Vokabular der Funktionsharmonik zu 2 Zu nennen ist beispielsweise das Ressentiment französischer Intellektueller gegenüber diesem deutschen musikalischen Großmachtdenken, das zur Suche nach Alternativen und insbesondere zu einer intensiven Rezeption russischer Musikentwicklungen führte.

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entschlüsseln und zu bezeichnen waren. In diese Denktradition gehört auch Wagners berühmter ‚Tristan-Akkord‘ hinein. Andererseits war der Reichtum der rhythmischen Muster und der Notenwertteilungen des Mittelalters immer mehr zurückgegangen. Dinge, die im 19. Jahrhundert als exotisch, ungewöhnlich und extrem schwierig galten und nach Möglichkeit von den Komponisten gemieden wurden, wie etwa Quintolen, Septolen oder gleichzeitige Anwesenheiten von Duolen und Triolen, gehörten noch in der Musik der Frührenaissance zum Standardrepertoire eines jeden Komponisten. In der Musik des Mittelalters galt die Existenz von Triolen nicht etwa als ungewöhnliche Besonderheit, sondern die Dreiteilung des Notenwerts war als Divisio perfecta ebenso gewöhnlich wie die Zweiteilung, die Divisio imperfecta (Lütteken 1994). Eine weitere Ausführung dieser Entwicklungszusammenhänge muss an diesem Punkt unterbleiben. Bereits die soeben gegebenen Hinweise machen jedoch deutlich, dass das gern bemühte Bild der immer weiter voranschreitenden Vervollkommnung der abendländischen Musik zwar eine Fiktion der europäischen Eliten war, durch eine musikalische Analyse aber widerlegt wird. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war die harmonische Ausdifferenzierung so weit vorangeschritten, dass sich bei den Komponisten das Gefühl einstellte, im Dur-Moll-tonalen System alles gesagt zu haben, was prinzipiell möglich war. Mehr und mehr empfanden Komponisten das DurMoll-tonale System als Gefängnis, aus dem es auszubrechen galt – der bereits erwähnte Tristan-Akkord Wagners hatte dieses Bedürfnis bereits angekündigt (Kurth 1920; Stegemann 2013). Kulturgeschichtlich hängt diese Lage in der Musikästhetik mit Strömungen wie dem Fin de Siècle zusammen; vor diesem Hintergrund bildet der Erste Weltkrieg auch in musikästhetischer Hinsicht eine wichtige Epochengrenze (Brüstle/Heldt/Weber 2003). Der Wandel zur Atonalität ist vor dem Hintergrund auch dadurch zu erklären, dass die Suche nach neuen Ausdrucksformen das Dur-Moll-tonale Gefängnis nun endgültig überschritt. Nach wie vor war aber keine Rede davon, die Idee der abendländischen Musik als ständig zu erweiterndes Gebäude aufzugeben. Aus heutiger Sicht ist die Tragik leicht zu ermessen, dass es der deutsche Jude Arnold Schönberg war, der mit der Erfindung des Zwölftonsystems gerade der deutschen Musik eine Vorherrschaft sichern sollte, die nach seinem Bestreben wenigstens die nächsten einhundert Jahre andauern sollte. In seinem Bestreben, jenseits der Tonalität nach Ordnungsvorstellungen zu suchen, die das bisherige System der Musik aufrechterhielt, war Schönberg nicht allein. Für die Betrachtung des Musikverständnisses von Franz Kafka ist es wichtig zu wissen, dass es gerade in der tschechischen Musikkultur ganz ähnliche Be-

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strebungen gab, wie beispielsweise in der Vierteltonmusik eines Alois Hába (Vysloužil 1993). Jazz präsentierte sich nun als Musik, die in dieser Situation, in der die Vertreter der traditionellen europäischen Musik auf der Suche nach einer Neugründung ihrer Musik waren, ein radikal anderes (wenigstens in einigen Punkten radikal anders erscheinendes) Verständnis von Musik präsentierte. Die Reaktionen der Komponisten auf diese Musik waren geteilt: Die einen verurteilten, wie der Autor des erwähnten Artikels, Jazzmusik in Bausch und Bogen als primitiv, die anderen waren bereit, Jazz als Angebot zur Lösung der Probleme der abendländischen Kunstmusik zu sehen. Jazz präsentierte den rhythmischen Reichtum, den die abendländische Musik verloren hatte, und brachte ein Element der Performanz in die Musik hinein, das an die improvisierte Musik des Frühbarock gemahnte und sich allerhöchstens noch in den Kadenzen der großen Virtuosen des 19. Jahrhunderts in Resten erhalten hatte. Jazz stellte jedoch nicht nur in dieser abstrakten, musikästhetisch-theoretischen Hinsicht eine Herausforderung dar, sondern auch hinsichtlich der Konnotationen, die er von Anfang an mit Musik verknüpfte (Niederauer 2014). Jazz war seit seiner Entstehung durch ein rebellisches Element gekennzeichnet, ihm war ebenfalls von Anfang an ein sexuell provozierendes Moment eigen; beides bedeutete notwendigerweise einen Aufruhr gegen das bürgerliche Establishment. Jazz bedeutete darüber hinaus auch einen Affront gegenüber dem europäischen Verständnis von Musik als vergeistigter, entkörperlichter Kunst. Für große Teile der europäischen Kulturelite stellten gerade diese Eigenschaften der neuen Musikform die größte Provokation dar, die für sie weit wichtiger war als die musikästhetischen Feinheiten wie Tonalität und Rhythmik (Rasula 2004). Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich bei der postulierten Primitivität des Jazz um ein Konstrukt europäischer Kunstmusikintellektueller handelte. Bei Jazz handelt es sich ebenfalls um höchst artifizielle Musik, die allerdings auf ganz anderen ästhetischen Grundlagen beruhtee als die abendländische Musik (Hendler 2008; Pfleiderer 2003). Der Gegensatz zwischen rhythmischen und harmonischen Elementen in beiden Musikrichtungen zeigt das deutlich.

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4. Kafkas Suche nach Bedeutung und Wesen der Musik In den wenigen Bruchstücken, in denen Kafka Musik in sein literarisches Werk einbaute oder sie thematisierte, zeigt sich, dass er diese kunstästhetischen Prozesse reflektierte – zwar weder als Musiker noch als Musikkritiker in Form der Diskussion mit dem musiktheoretischen Rüstzeug, wohl aber als Literat in Form einer Darstellung seiner Auffassung von Musik. Für Kafka war Musik vor allem ein klangliches Ereignis von elementarer Wucht, das Einwirken der unverstellten und vom Menschen unverformten Natur auf das Gemüt des Menschen. Damit stellte Kafka sich in einen entschiedenen Gegensatz zur Musikauffassung des 19. Jahrhunderts, die Musik als ein verfeinertes Produkt des menschlichen Geistes und als eine Veredelung der bloßen Naturklänge auffasste. Wenn Kafka in einer immer wieder zitierten Stelle fragt: „War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff ? Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung“ (Kafka 1994: 185), so wird damit vor dem Hintergrund der hier dargelegten Überlegungen Folgendes ausgesagt: Zum einen erscheint Musik als eine animalische Naturgewalt, die den menschlichen Verstand mühelos besiegt und viel ursprünglicher ist als dieser. Zum anderen wird mit der „unbekannten Nahrung“ auf das tiefliegende Grundbedürfnis des Menschen nach Musik als einem elementaren akustischen Ereignis verwiesen. Wie tief dieses Bedürfnis ging und wie animalisch es war, zeigt die sexuelle Metaphorik, die Kafka der Musik und der Musikalität in seinen Liebesbriefen an Milena Jesenská zuschrieb. Diese elementare Unmittelbarkeit war nun genau jenes Element, das viele Angehörigen der Kulturelite perhorreszierten, wenn sie von der unanständigen, provozierenden Natur des Jazz sprachen. Die Körperlichkeit im Tanz und ihr Ausdruck in der Rhythmik, das sexuelle Moment – all das waren Dinge, die der Jazz wieder präsentierte, nachdem sie in der abendländischen Kunstmusik sublimiert, auf niedere Ebenen abgedrängt worden waren oder sich im Lauf der Musikgeschichte zurückgebildet hatten. Auf die elementare Wucht, mit der Jazz diese Kategorien wieder in die Klangwelt einführte, reagierten abendländische Kulturkritiker mit der abwehrenden Bezeichnung dieser Musik als primitiv. Die ihnen primitiv erscheinende direkte Ansprache gerade des Jazz war es, die für Kafka ganz wesentlich das Charakteristikum von Musik ausmachte. Das Animalische des Jazz sprach Kafka anscheinend in besonderem Maße an. Und so sind es bei Kafka denn auch Tiere, nämlich Hunde, die in seinem Werk Forschungen eines Hundes eine so machtvolle Musik hervorbrachten, dass man sich „gegen das Gesetz“ vergeht (Kafka 1946;

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Neumann 1990: 393). Der Forscherhund versucht schließlich, mit seiner Musikalität zur „Lehre von dem die Nahrung herabrufenden Gesang“ (Kafka 1946; Neumann 1990: 393) vorzudringen. Das für die hochgebildeten Kulturkritiker schwer verständliche und geradezu manische Tanzen nach Jazzrhythmen könnte diese „ersehnte unbekannte Nahrung“ darstellen, nach der es Kafka verlangte. Diese Nahrung war geeignet, das bisherige Unbehagen zu beseitigen, das darin bestand, dass Musik zuvor leer, hohl und abgeschmackt erschien – eben weil diese Elemente des Jazz fehlten. Mit aller Vorsicht kann man die These wagen, dass gerade diese Eigenschaften des Jazz, die die elitären Kulturkritiker so perhorreszierten, Kafka sehr angesprochen hätten. Damit kündigte Kafka, ohne das zu thematisieren, die Wertehierarchie des europäischen Musikdenkens auf. Wenn das Ursprüngliche nicht mehr das Primitive, sondern das eigentlich Wirkmächtige war, verfocht er bereits damit eine fundamental andere Musikästhetik als alle Komponisten, deren Werke er in Prag kennenlernte. Zugleich stellte Kafka das Konzept einer musikalischen Hochkultur (Bollenbeck 1996) damit implizit infrage. In der abendländischen Kultur – nicht nur auf die Musik bezogen – spielt der Gedanke der Veredelung des vorgefundenen Materials durch kunsthandwerkliche Prozesse eine zentrale Rolle. In der Musik ist es das Volkslied, das vor allem die Musiktheoretiker und Komponisten des 19. Jahrhunderts als Basis betrachteten und forderten, dass eine Kunstmusik auf dieser Basis aufzubauen und zu schaffen sei. Die unbearbeitete Präsentation der ursprünglichen Form jedoch galt als primitiv; jedenfalls als kunstlos. Eine möglichst raffinierte, ‚kunstvolle‘ Bearbeitung des vorgefundenen Rohmaterials galt als kennzeichnend für den hohen Stand einer Kultur. Auch ein weiteres zentrales Diktum von Kafka, nämlich die Behauptung seiner ‚Unmusikalität‘, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Neben den bekannten sind mehrere weitere Deutungen möglich: Zunächst hatte Kafka zwar eine wenn auch rudimentäre Ausbildung am Instrument erhalten, aber sicherlich keine tiefergehenden musiktheoretischen Kenntnisse erworben, sodass ihm die Feinheiten des kompositorischen Handwerks nicht unbedingt geläufig waren. Als literarisch interessierter Schriftsteller jedoch hatte er sich intensiv mit Musikphilosophie auseinandergesetzt, wovon seine Beschäftigung mit Grillparzer zeugt, sodass er zu einem Verständnis von der Kunstform Musik gelangt war, das ihm half, sein Verständnis von Musik als animalischer, elementar wirkender Kunstform in den Zusammenhang des ästhetischen Diskurses der europäischen Intellektuellen zu stellen. Wenn Kafka sich als unmusikalisch bezeichnete, so ist darunter mit Sicherheit weder ein Desinteresse an der Musik allgemein gemeint noch seine

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fehlende emotionale Reaktion. Diese war im Gegenteil ganz offensichtlich sehr intensiv, und zwar vorzugsweise dann, wenn Musik als Transportmedium elementarer Gefühle funktionierte. Die konventionelle Gesellschaftsmusik seiner Zeit, die mit stereotypen kompositorischen Mustern arbeitete, war zwar handwerklich ausgereizt, vermochte aber die für Kafka so wichtige emotionale Umittelbarkeit nicht zu liefern. Ein wesentliches provokatives Element des Jazz beruht gerade darauf: Nämlich die emotionale Unmittelbarkeit in den Vordergrund zu stellen und zu diesem Ziel die anerkannten Kompositionstechniken abendländischer Kunstmusik zu hinterfragen. Mit dem Spiel eines Konzertvirtuosen seiner Zeit konnte Kafka deswegen also mitunter nicht allzu viel anfangen – in diesem Sinne bezeichnete er sich als ‚unmusikalisch‘. Das Paradox besteht jedoch darin, dass er dessen ungeachtet von der Unmittelbarkeit der Musik erheblich mehr berührt wurde als konventionelle Kritiker, die gerade diese elementar so eindrückliche Musik als ‚primitiv‘ und ‚unmusikalisch‘ ablehnten. Unmusikalität kann – so ein weiterer Interpretationsansatz – auch gerade die Fähigkeit bedeuten, Musik jenseits des Korsetts festgefügter Konzepte unmittelbar auf sich wirken zu lassen. Die zahlreichen Stellen, in denen Kafka die Einwirkung von Klängen auf Menschen beschreibt, legen nahe, dass diese akustische Orientierung Kafkas in seinem Denken eine bedeutende Rolle spielte. Auch sein vertieftes Interesse für akustische Kommunikationsmedien wie Telefon, Telegraph oder Grammophon, die zu seiner Zeit neuartig waren, gehört in diesen Zusammenhang (Bauer-Wabnegg 1990).3 Kafka stellte hier die Musik als ein naturhaftes Klingen den in irgendeiner Form bereits kulturell kodierten Klängen aus der menschlich-technischen Sphäre gegenüber. Es war gerade die Unverbildetheit Kafkas aufgrund der Abwesenheit einer soliden musikalischen Schulung im Geist seiner Zeit, die ihn zur Formulierung dieser Gedanken befähigte (Neumann 1990: 392). Damit erkaufte er sich allerdings auch das Gefühl der Fremdheit im Musikdiskurs seiner Zeit. Mit dem Verständnis der europäischen Kunstmusik als beständig zu vervollkommnendem Gebäude konnte Kafka wenig anfangen, dieses Verständnis war seinem Denken wesensfremd.

3 Zu untersuchen wäre, inwieweit Kafkas Interesse hier bereits heutige Konzepte der Klanglandschaft bzw. der Soundscapes vorwegnehmen (Werner/Lankau 2006; Ritter 2011).

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5. Kafka und der Jazz In diesem Zusammenhang ist die Tatsache von Bedeutung, dass gerade in der tschechischen Musikkultur der Zwischenkriegszeit Versuche eine besonders wichtige Rolle spielten, nicht nur das gedankliche Modell der abendländischen Kunstmusik zu retten, sondern auch den Jazz in dieses Denken miteinzubeziehen (Březina/Velická 2009). Tschechische Musikkritiker fassten Jazz als intellektuelle Herausforderung an die europäische Kulturelite auf, der sie bereit waren sich zu stellen, sodass bereits in den 1920er-Jahren Emil Burians Jazzgeschichte in tschechischer Sprache erscheinen konnte.4 Jazz wurde also im tschechischen Musikverständnis der Zwischenkriegszeit integriert – allerdings auf eine Weise, die zu Kafkas Musikbegriff dennoch in Widerspruch stand, begriff Kafka Musik ja gerade nicht als verkopfte, intellektuelle Angelegenheit, sondern als Ausdruck des elementaren Wirkens der Natur. Kafkas Prag war nicht der Ort, an dem der Schriftsteller die neuesten musikalischen Entwicklungen kennenlernen, geschweige denn hören konnte. Die Intellektuellen in dieser Stadt waren nach Kräften bemüht, auch und gerade den Jazz in die Kategorien europäischer Kunst einzupassen, nicht, indem sie seine Primitivität beklagten, sondern seine Kunstfertigkeit priesen – und ihn damit in das Korsett der Kategorien abendländischer Musik hineinpressten. Der tschechische Jazzdiskurs zu Kafkas Zeit war gekennzeichnet vom Versuch, den Jazz in das kulturelle Koordinatensystem der abendländischen Musik einzubinden – daran beteiligten sich deutschböhmische Komponisten (Weiss 2011) ebenso wie tschechische (Rentsch 2007, bes. Abschnitt ‚Jazzmusik‘, 90-104). Für die tschechoslowakischen Intellektuellen hatte das den Sinn, sich als wichtige Mitglieder im Konzert der europäischen Musiknationen darstellen zu können. Es ging ihnen wesentlich um die Demonstration eigener Professionalität und hoher kultureller Kompetenz. Zu diesem Zweck wurde die eigene Musikkultur höchst selektiv betrachtet (Ritter 2006/2007) und man baute nun auch den Jazz in dieses Denkmodell mit ein. In den wenigen, unsystematischen Äußerungen zu Musik reflektierte Kafka genau jene Brüche, die seinerzeit das aktuelle Musikdenken von Komponisten und Musikkritikern bestimmten. Hier zeigt sich seine strukturelle Nähe zum aktuellen Musikdiskurs seiner Zeit, ohne dass er sich mit konkreter Musik, geschweige denn mit dem Musikbetrieb seiner Zeit auseinandersetzte. 4 Es handelte sich dabei um eine der ersten größeren Darstellungen zum Jazz in Europa überhaupt (Burian 1928).

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Möglicherweise liegt in dieser strukturellen Nähe die Attraktivität, die Kafkas Werk immer wieder auf Musiker und Komponisten ausgeübt hat, auch wenn Kafkas Werk gerade nicht durch musikalische Strukturen irgendwelcher Art grundiert ist.

6. Ausblick: Jazz – Nur eine Teillösung für Kafkas Musikproblem Die Lektüre von Kafkas Werk vermittelt den Eindruck, dass ihm das akustische Element wichtig war, allerdings in einer Art und Weise, die sich sehr davon unterschied, wie seine Zeitgenossen mit diesem Element umgingen. Ebenfalls sehr deutlich ist der Eindruck, dass Kafka auf einer auch bei seinem Tod nicht abgeschlossenen Suche danach war, worin diese Wichtigkeit des akustischen Elements bei ihm genau bestand und ob möglicherweise die Musik ein Teil des akustischen Bereichs sein könnte, die eine Einlösung seiner Suche leisten könnte. Bei seiner Suche entfernte Kafka sich immer weiter von den musik­ ästhetischen Vorstellungen seiner Zeitgenossen und des europäischen Kunstmusikdiskurses, wie er auch im Prager Kulturleben bestimmend war. Kafka gelangte in die Nähe eines Musikbegriffs, der in der Jazzästhetik zu finden ist. Dass das so war, konnte er jedoch nicht wahrnehmen. Allerdings – das zeigen Kafkas literarische Reflexionen über Musik auch – hätte auch Jazz, hätte Kafka ihn denn richtiggehend kennengelernt, nicht die Lösung seiner Probleme sein können: Letztlich mündete bei ihm die Suche nach der Vermittlertätigkeit der Musik im Schweigen, in der Stille. Musik, verstanden als klangliches Phänomen, konnte für Kafka also wohl den Weg zur Lösung weisen, die Lösung selbst aber nicht liefern.

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Personenregister Adorno, Theodor W. 37f., 71, 86-89, 117-124, 126ff., 133, 135, 202, 205, 207-210, 219, 241f. Agamben, Giorgio 24f. Akalaitis, JoAnne 168, 178f. Alt, Peter-André 70-74 Ammon, Frieder von 179 Amodeo, Immacolata 256f. Arentino, Pietro 155 Arlaud, Philippe 159 Auerochs, Bernd 30, 74, 78, 175, 239, 241 Bachmann, Ingeborg 149, 209 Balzac, Honoré de 209 Barthes, Roland 17f., 257 Barth, Karl 68 Bartók, Béla 37f. Bauer, Felice 11, 46f., 49f., 65, 69, 71, 94, 229 Bauer-Wabnegg, Walter 269 Baum, Oskar 65, 74 Beavin, Janet H. 31 Beckett, Samuel 178, 202 Backmann, Max 131 Beethoven, Ludwig van 65, 68, 263 Beimel, Thomas 167 Bellheim, Markus 217 Bělsky, Wenzel Ritter von 63 Benjamin, Walter 71, 118f., 124-128, 134, 205, 222, 230, 240 Benyoëtz, Elazar 233 Berg, Alban 131, 133, 151, 226 Berghaus, Ruth 226 Berio, Luciano 217 Berlioz, Hector 65 Bertolucci, Bernardo 170

Bertram, Mathias 107 Bhabha, Homi 56 Billroth, Theodor 69f. Binder, Hartmut 41, 67 Bishay, Patrik 167 Bizet, Georges 66 Blank, Juliane 14 Bloch, Grete 71 Boa, Elizabeth 223f. Boehme, Hartmut 31 Bohnenkamp, Anne 247 Bohrer, Karlheinz 229 Bollenbeck, Georg 268 Bordmann, Gerald 44 Borris, Siegfried 262 Boskovitch, Alexander Uriah 236 Bouchaud, Émilie Marie 47 Boulez, Pierre 217f., 220, 226 Brahms, Johannes 36, 65f. Brecht, Bertolt 16, 125-128, 134, 151, 173 Březina, Aleš 270 Britten, Benjamin 166 Broch, Hermann 37,155 Brod, Elsa 49, 65f. Brod, Max 22, 35f., 38, 40, 46f., 49f., 63, 65f., 68, 72, 78, 107, 185, 233241, 252 Bronfen, Elisabeth 74 Bruckner, Anton 176 Brunswick, Franz 65 Brüstle, Christa 265 Bruzdowicz, Joanna 167 Buchbinder, Bernhard 48 Burian, Emil 270 Burdick, Anne 107 Bužga, Jaroslav 263 Caccini, Giulio 200

Celan, Paul 149, 179 Certeau, Michel de 42, 91 Char, René 217f. Coetzee, John Maxwell 176 Cohen, Yehuda 234 Csáky, Moritz 37, 44, 55 Csengery, Adrienne 146 Daiber, Jürgen 67, 94 Dalinger, Brigitta 51ff. Deleuze, Gilles 31, 54, 92, 118, 183-186, 199 Delvard, Marya 48 Diederichsen, Diedrich 245, 248, 254, 257 Duchamp, Marcel 73 Dümling, Albrecht 236 Dvořák, Antonín 235 Eduardowa, Jewgenja 35 Eisler, Hanns 208 Eisner, Minze 71 Eisner, Pavel/Paul 68 Engel, Manfred 67, 73f., 99, 239, 241 Engelbrunner, Nina d’Aubigny von 70 Fackler, Guido 179 Fall, Leo 39f., 42 Feldmann, Morton 202 Fibich, Zdeněk 253 Fingerhut, Karl-Heinz 18 Flaubert, Gustave 37, 229 Forman, Miloš 30 Foucault, Michel 13f., 19, 21f., 118 Freeze, Timothy David 37 Freud, Sigmund 15, 31 Frey, Norbert 42f. Frey, Stefan 39f. Friml, Rudolf 44 Frith, Simon 50 Fromm, Waldemar 253

290 Furrer, Beat 154 Galanin, Denis 245 Gammond, Peter 44 Gembris, Heiner 68ff. Genée, Richard 36 George, Christian 205 George, Stefan 66 Gerigk, Anja 14 Glass, Philip 167-171, 173180, 242 Goebbels, Heiner 154 Goethe, Johann Wolfgang von 237 Goldfaden, Abraham 51ff., 55 Gordin, Jakob 52 Gottsched, Johann Christoph 74 Greenblatt, Stephen 55 Grillparzer, Franz 71, 268 Grisey, Gérard 158 Gruen, Bernhard 46 Grünbaum, Fritz 40f. Guarda, Sylvain 74 Guattari, Félix 31, 54, 92, 183-186, 199 Guldin, Rainer 91 Haas, Georg Friedrich 149, 154-157, 159-162 Hába, Alois 266 Halliwell, Michael 171 Händl, Klaus 149 Hanslick, Eduard 69 Hartung, Erwin 167 Hašek, Jaroslav 51 Hašler, Karel 39 Hauthal, Nadine 173 Haydn, Joseph 65 Hecht, Hugo 40 Hecken, Thomas 249, 256 Heine, Heinrich 167, 237 Heldt, Guido 265 Hendler, Maximilian 264, 266 Henke, Matthias 236

Register Henze, Hans Werner 149153, 160, 162, 166, 209, 242 Hermes, Roger 47, 49 Herrmann, Roland 152 Hertzka, Emil 234 Herz, Peter 46 Herzfeld, Isabel 160 Hiebel, Hans Helmut 96 Hiekel, Jörn Peter 153 Hildesheimer, Wolfgang 151 Hilmar, Ernst 234f. Hindemith, Paul 151 Hitler, Adolf 88, 208 Hofmannsthal, Hugo von 57, 122 Hohlbaum, Christopher 245 Höhne, Steffen 46, 75 Hölderlin, Friedrich 149, 155, 208, 228 Honegger, Arthur 176 Hönigsberg, David 167 Honolka, Kurt 235 Horkheimer, Max 126 Hörner, Heidrun 256f. Hoschna, Karl L. 44 Hradil, Jiří 251 Hultsch, Anne 246 Hummitzsch, Thomas 252 Huszka, Jenő 44 Ingarden, Roman 92 Jackson, Don D. 31 Jacobi, Viktor 44 Jahraus, Oliver 218 Jakob, Hans-Joachim 75 Jánaček, Leoš 65f., 160, 235f. Jesenská, Milena 11, 14, 22, 64, 68f., 71, 237, 267 John, Eckhard 179 Jost, Peter 238f., 241 Joyce, James 119, 126 Jurčík, Zdeněk 251 Kálmán, Emmerich 41 Kant, Immanuel 86 Karbusicky, Vladimir 263

Keußler, Gerhard von 63 Kinet, Ruth 257 Kinzer, Stephen 168, 174 Kittler, Wolf 95 Klee, Paul 207 Kleinen, Günter 70 Kleinwort, Malte 69, 72 Kleist, Heinrich von 101105, 229 Klug, Flora 53 Koch, Hans Gerd 40 Kobán, Ilse 235 Korte, Hermann 75 Kostelanetz, Richard 168 Kracauer, Siegfried 117f., 120 Kraft, Werner 125 Králíková, Andrea 255f. Kraus, Karl 37 Kremer, Detlef 113 Krenek, Ernst 68, 124, 241f. Kries, Johannes von 69 Kroó, György 30 Kudszus, Winfried 65 Kurtág, György 139-144, 146, 217 Kurth, Ernst 265 Kurz, Gerhard 99, 218, 226f. Kusák, Andrej 252 Lachenmann, Helmut 154 Lange-Kirchheim, Astrid 253 Lankau, Ralf 269 Laszky, Béla 47f. Lateiner, Josef 51f. Latour, Bruno 183 Lecocq, Charles 52 Lehár, Franz 37 Lehmann, Hans-Thies 154 Lepenies, Wolf 139 Leroy, Robert 103 Lessing, Gotthold Ephraim 74 Liebstoeckl, Hans 66 Liszt, Franz 38, 123 Lorenz, Dagmar C. 253 Lotman, Jurij M. 55f.

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Register Lotter, Konrad 262 Löwy, Jizchak 50, 53, 100 Lubkoll, Christine 74, 77 Lukács, Georg 124 Lüken, Diederich 63, 237 Lütteken, Laurenz 265 Luxemburg, Rosa 155, 157 Mahler, Gustav 37, 68, 83f., 86-89, 119, 208f., 236 Mairowitz, David Zane 245, 251f. Malinowski, Bronisław 55 Mann, Thomas 165ff. Mareš, Michal 40 Märzinger, Melanie 48 McLuhan, Marshall 106, 183 Mendelssohn, Felix 236 Meschonnic, Henri 132 Meyer, Ingo 170 Meyerbeer, Giacomo 52 Michaelis, Christian Friedrich 70 Millöcker, Karl 36 Moellendorf, Friederike von 50 Monteverdi, Claudio 151, 200, 202 Moretti, Franco 107 Morgenstern, Soma 131, 133 Mozart, Wolfgang Amadeus 65, 68, 175 Muller, Charles 47 Müller, Sven Oliver 75 Müller, Ulrich 167 Münchberg, Katarina 217 Murašov, Jurij 92 Nägeli, Hans Georg 45 Nancy, Jean-Luc 125 Nekula, Marek 40 Nelson, Rudolf 40 Neumann, Gerhard 14, 16, 18, 21, 32, 64, 67, 70f., 92, 100, 106, 125, 130, 218, 227, 229f., 253, 268f. Neuwerth, Dušan 251

Neuwerth, Thomáš 251 Niederauer, Martin 266 Nietzsche, Friedrich 67 Nigl, Georg 159 Nonnenmann, Rainer 188 Nono, Luigi 154, 217 Nozière, Fernand 47 Odys, Gusti 41 Oehl, Klaus 151ff. Offenbach, Jacques 37, 47, 52 Oppens, K. 66, 166 Oschmann, Dirk 175 Ovid 21, 155, 158 Pallenberg, Max 47 Pamminger, Walter 250 Pastor, Eckhart 103 Peckinpah, Sam 170 Peri, Jakopo 200 Petersen, Peter 151 Petr, Pavel 46 Pfleiderer, Martin 266 Picasso, Pablo 131 Pietschmann, Klaus 262 Poe, Edgar-Allan 154ff., 159, 161, 176 Politzer, Heinz 99 Poussur, Henri 217 Quint, Alyssa 51 Quissek, Heike, 41 Racek, Jan 66 Raimann, Rudolf 48 Rasula, Jed 266 Rauvolf, Josef 252 Reich, Steve 179 Reichert, Heinz 40 Rektorys, Artuš 66 Rentsch, Ivana 270 Riemann, Hugo 263 Ritter, Rüdiger 263, 269f. Ronger, Florimond 47 Roßmann, Karl 41, 67 Rothe, Wolfgang 63 Rottmann, Johan Maria 167 Rudiš, Jaroslav 246f., 251, 253, 255-258

Rülke, Volker 219, 225 Saathen, F. 66 Sahle, Patrick 107 Sander, Gabriele 66, 167 Saremba, Meinhard 235 Saxer, Marion 185, 200f. Scelsi, Giacinto 158 Sciarrino, Salvatore 183-193, 196-202 Schaffer, Peter 30 Scharkansky, Abraham M. 51 Scheit, Gerhard 236 Schiffermüller, Isolde 131 Schleiermacher, Friedrich 13 Schlöndorff, Volker 170 Schmidt, Friedrich 237 Schnabel, Ernst 150 Schnitzler, Arthur 76f. Schoeps, Hans-Joachim 240 Scholem, Gershom 125 Schönberg, Arnold 133, 152, 157, 208, 212, 217, 226, 265 Schopenhauer, Arthur 67, 71 Schreiber, Adolf 72 Schubert, Franz 123, 175ff. Schumann, Robert 144 Seeßlen, Georg 249 Serres, Michel 91, 98 Seurat, Georges 131 Shakespeare, William 12, 155, 158 Schmitz-Emans, Monika 74 Schnebel, Dieter 130 Schostakowitsch, Dmitri 37 Schreiber, Adolf 235 Schulz, Thomas 152f. Shahar, Galili 218, 227 Soderbergh, Steven 245 Spangemacher, Friedrich 139, 143f., 146 Stahl, Claudia 140f. Stašková, Alice 130 Stegemann, Benedikt 265 Stein, Marianne 139

292 Steingruber, Ilona 120 Stenz, Markus 152 Steuermann, Eduard 120124, 129, 131, 133f., 136, 205, 207, 209-213, 217-226, 228ff. Stockhausen, Karlheinz 217 Stöckler, Eva Maria 241f. Stolarz, Ohad 257 Stoller, Robert J. 15 Strauß, Johann 45f., 166f. Striggio, Alessandro 200 Stromšik, Jiří 78 Šulc, Miroslav 39 Švedjík, Jaromír 245f., 250, 252 Svoboda, Wilhelm 236 Tallián, Tibor 38 Thieberger, Gertrud 66 Thirouin, Marie-Odile 54, 249 Tiedemann, Rolf 133, 208 Tillmann, Markus 249, 256 Trakl, Georg 122 Traubner, Richard 41, 43 Tschisik, Amalie 52 Turner, Alison 64 Ullmann, Viktor 257 Umlauft, Friedrich 56f. Usteri, Johann Martin 45 Valk, Thorsten 67, 74, 78 Vaget, Hans Rudolf 166 Velická, Eva 270 Verdi, Giuseppe 52 Vinay, Gianfranco 196 Vincze, Zsigmond 38 Vogel, Jaroslav 235 Vysloužil, Jiří 266 Wagner, Richard 52, 165f., 178, 198 Wald-Fuhrmann, Melanie 262 Walzel, Camillo 36 Watzlawick, Paul 31 Weber, Eckhard 265 Webern, Anton 225

Register Wedekind, Frank 131f. Weill, Kurt 151 Weinberg, Manfred 252 Weiss, Peter 88, 270 Weltsch, Felix 30, 49, 74 Werfel, Franz 64, 78 Werner, Hans-Ulrich 269 Wessling, Berndt Wilhelm 233 Wicke, Peter 170 Wiegler, Paul 65 Wilhelm, Julius 46 Willner, Alfred Maria 40 Winograd, Terry 226 Winterfeld, Max 47 Wittgenstein, Ludwig 127, 221 Wolf, Norbert Christian 131 Wolfes, Tom 256 Wölfli, Adolf 155 Wolpe, Michael 257 Wurlitzer, Rudolf 170-173 Wyschnegradsky, Ivan 157 Zappa, Frank 169 Zehme, Albertine 226 Zenck, Martin 124, 129, 144, 146, 205, 218, 226, 229 Zimmermann, Bernd Alois 153, 155, 236 Zipp, Friedrich 262 Zola, Émile 91

Ortsregister Baltimore 170, 179 Basel 226 Berlin 39, 46f., 168, 229 Brünn (Brno) 40 Capri 125 Chicago 168, 179 Czernowitz 51 Dachau 40 Dresden 168 Frankfurt 205 Göteborg 124 Hamburg 39 Hannover 133, 219 Helsinki 124 Jassy (Iaşi) 51, 53 Javorník 250 Locarno 103 London 39, 124, 168 Los Angeles 207f. Mauthausen 39 Meran 11 Moskau 51 München 65 Myhorod/Ukraine 52 Neapel 125 New York 19, 40, 43, 51ff., 124, 133, 168, 205, 208, 210, 219 Neutra (Nitra) 47 Odessa 51 Oklahoma 127 Paris 47f., 67 Prag 35, 39f., 43, 168, 227, 268, 270 Reichenberg (Liberec) 40 Salzburg 219 Schitomir 51 Seattle 168, 178

Simferopol 51 Stařeč/Mähren 46 Starokostjantyniw 51 St. Gotthard 103 St. Petersburg 51 Sydney 168 Tel Aviv 237 Treblinka 50 Turin 168 Veszprém 48 Warschau 50f., 124 Washington D.C. 210 Wien 39, 43, 47f., 88

Adressen Reihenherausgeber Prof. Dr. Steffen Höhne

Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected]

PhD. Ústav pro českou literaturu PhDr. Václav Petrbok AV ČR v.v.i. Na Florenci 3 CZ-110 00 Praha 1 [email protected] Institut für Germanistische PD Dr. Alice Stašková Literaturwissenschaft Friedrich-Schiller-Universität Jena Fürstengraben 18 D-07443 Jena [email protected]

Adressen Autoren Prof. Dr. Frieder von Ammon Universität Leipzig Beethovenstraße 15 04107 Leipzig [email protected] Österreichische Akademie der Wissen- Prof. Dr. Moritz Csáky schaften Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte Postgasse 7-9/III A-1010 Wien [email protected]

Prof. Dr. Jörn Peter Hiekel Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden Postfach 120039 01001 Dresden [email protected] Université du Luxembourg Dr. phil. Achim Küpper Maison des Sciences Humaines, LuCS Porte des Sciences 11 L-4366 Esch-sur-Alzette [email protected] Frommannsches Anwesen Sven Lüder Fürstengraben 16 07743 Jena [email protected] Prof. Dr. Albrecht von Massow Institut für Musikwissenschaft Weimar- Jena Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Postfach 2552 99406 Weimar [email protected] Ludwig-Maximilians-Universität Prof. em. Dr. Gerhard Neumann München Department I – Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache Deutsche Philologie Schellingstr. 3 RG 80799 München Rasenweg 18 Dr. Rüdiger Ritter 27580 Bremerhaven [email protected]

Prof. Dr. Marion Saxer Institut für Musikwissenschaft Senckenberganlage 31-33 60054 Frankfurt [email protected] Dr. Kai Marius Schabram Institut für Musikwissenschaft Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar/Friedrich-Schiller-Universität Jena Carl-Alexander-Platz 1 99425 Weimar [email protected] Ludwig-Maximilians-Universität München David Vondráček, M.A. Institut für Musikwissenschaft Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München [email protected] Essener Str. 13 PD Dr. Friederike Wißmann 10555 Berlin [email protected] Gottfried-Kinkelstr. 2 Prof. Dr. Martin Zenck D-65187 Wiesbaden [email protected]

INTELLEKTUELLES PR AG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT HERAUSGEGEBEN VON STEFFEN HÖHNE, ALICE STAŠKOVÁ, VÁCLAV PETRBOK

EINE AUSWAHL

BD. 7 | BORIS BLAHAK FRANZ KAFKAS LITERATURSPRACHE

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