Franz Kafka: Wirkung und Wirkungsverhinderung
 9783412217402, 9783412223366

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FRANZ KAFKA Wirkung und Wirkungsverhinderung

HERAUSGEGEBEN VON STEFFEN HÖHNE, LUDGER UDOLPH

:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar), Alice Stašková (Prag/Berlin) und Václav Petrbok (Prag)

Band 6

FRANZ KAFKA Wirkung und Wirkungsverhinderung

Herausgegeben von Steffen Höhne und Ludger Udolph

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Steffen Höhne ist Professor für Kulturwissenschaft und -management am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Ludger Udolph ist Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der TU Dresden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Kafka mit Albert Ehrenstein, Otto Pick und Lise Weltsch am 7. September 1913 in einer Flugzeugattrappe auf dem Wiener Prater; aus: Hartmut Binder, Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 396.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com This work is licensed under the Creative Commons NamensnennungNicht kommerziell 4.0 International License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ Redaktion: Carsten Wernicke, Anastasia Doskal, Wolf-Georg Zaddach Korrektorat: Dr. Malte Heidemann, Berlin Druckvorlage: Stepan Boldt und Carsten Wernicke ISBN (Print) 978-3-412-22336-6 ISBN (OA) 978-3-412-21740-2 https://doi.org/10.7788/boehlau.9783412217402

Inhaltsverzeichnis Vorwort: Franz Kafka – Wirkungen und Wirkungsverhinderungen............................................................................... 9

Frühe Rezeption und Wirkung Kafka-Rezeption in der ČSR bis 1957 Anne Hultsch............................................................................................................ 13 Einblendung und Ausblendung: Tschechoslowakische Kafka-Rezeption und Erstveröffentlichungen von Kafkas tschechischen Texten Marek Nekula.......................................................................................................... 61 Entdeckung Kafkas als jüdischer Autor Manfred Voigts......................................................................................................... 93 Die Verzeitlichung der Erfahrung in der Moderne. Perspektiven der philosophischen Kafka-Rezeption Volker Rühle.......................................................................................................... 101 Kafka-Umschriften. Zur Inter- und Hypertextualität einer Rezeptionsweise Klaus Schenk.......................................................................................................... 137

Kafka im Kalten Krieg und im Sozialismus Ein Ufo: Die literaturwissenschaftliche Rezeption Franz Kafkas in der Sowjetunion Ludger Udolph........................................................................................................ 165 Zur Kafka-Rezeption in Polen Christian Prunitsch................................................................................................. 187

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Inhaltsverzeichnis

Roman Karst, Teilnehmer der Kafka-Konferenz in Liblice Karol Sauerland...................................................................................................... 199 Die versäumte Suche nach einer verlorenen Zeit. Anmerkungen zur ersten Liblice-Konferenz Franz Kafka aus Prager Sicht 1963 Manfred Weinberg................................................................................................... 209 Produktive Missverständnisse. Zur Kafka-Rezeption in der DDR zwischen 1968 und 1989 Ekkehard W. Haring............................................................................................. 237 Kafka und Prag. Kulturelle und mentale Prägungen als Wirkungsbedingungen Steffen Höhne.......................................................................................................... 259 „Die Sache mit Kafka“. Ernst Fischer und Franz Kafka Michael Rohrwasser................................................................................................. 281 Phantasmagorie und Welttheater: Welles’scher Trial und Kafkascher Proceß Paul Peters.............................................................................................................. 303 Zwischen Existentialität und Ironie. Zu einigen Kafka-Reflexionen in der Musik der Gegenwart Alice Stašková, Jörn Peter Hiekel........................................................................... 321

Kulturelle Bedingungen von Rezeption und Wirkung Franz Kafka als Schutzpatron der minoritären Literaturen – eine französische Erfindung aus den 1970er-Jahren Marie-Odile Thirouin.............................................................................................. 333 Traduttore, tradittore. Die französischen Kafka-Übersetzungen von Alexandre Vialatte bis heute Philippe Wellnitz..................................................................................................... 355

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Inhaltsverzeichnis

‚Un-Verschollen‘ in Amerika: Der Einfluss deutsch-jüdischer Emigranten auf die (amerikanische) Kafka-Rezeption Richard T. Gray..................................................................................................... 367 Die frühe Kafka-Wirkung in Japan: Die Zeit um den Zweiten Weltkrieg Takahiro Arimura.................................................................................................. 383 Die Kafka-Rezeption in Japan um 1960. Partei von Kurahashi Yumiko und Die Frau in den Dünen von Abe Kobo Yoshihiro Hirano..................................................................................................... 397

Ausblick Wem gehört Kafka? Hans-Gerd Koch.................................................................................................... 415

Personen- und Ortsregister.................................................................................423 Adressen der Autoren..........................................................................................433

Vorwort Franz Kafka – Wirkungen und Wirkungsverhinderungen Mit dem Interesse für Wirkungsphänomene, die über die literarisch-künstlerische Rezeption hinausgehen und auch politische und ökonomische Effekte und Reaktionen auf ein Kunstwerk einbeziehen, eröffnet sich ein in jeder Hinsicht weites Feld. Fragt man nach der Wirkung Kafkas, so sind damit immer auch Prozesse kulturpolitischer Beeinflussung angesprochen, welche die einzelnen Kulturen wie Ideologien, die geographischen Räume wie nationalen Erinnerungskulturen übergreifen und die möglicherweise bei keinem weiteren Künstler des 20. Jahrhunderts, zumindest keinem deutschsprachigen Autor sich eingestellt haben. Die in Kafkas Werk angelegten Sinnpotentiale und deren sukzessive Entfaltung (Jauß 1970: 186) weisen offenbar auf Aktualisierungen, die bestehende kulturpolitische Akzeptanzgrenzen immer wieder in Frage stellen konnten und können. Mit Kafkas Werk liegt dabei ein Textkorpus vor, das grenzüberschreitende Anschlussmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Künsten, von Literatur über Bildende Kunst, Film und Musik bis hin zu populären Formen wie dem Comic und für fast alle Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und die in ihnen kanonisierten Methoden und Theorien besitzt, so dass Franz Kafka als bis heute wirkungsmächtigster auch einer der meist interpretierten Autoren des 20. Jahrhunderts sein dürfte. Das kurze 20. Jahrhundert, so hat es der Prager Philosoph und Dissident Karel Kosík (1994: 187) formuliert, sei eben das Jahrhundert Franz Kafkas. Franz Kafka, so konstatieren auch die Herausgeber des aktuellen Kafka-Handbuches (Engel/Auerochs 2010), sei längst ein Markenartikel der deutschsprachigen Kultur und Literatur geworden, der es zudem als Namensgeber des in vielen Sprachen gebräuchlichen Adjektivs „kafkaesk“ zu eponymischen Ehren gebracht habe. Tatsächlich belegt die umfangreiche und intensive, gleichwohl ambivalente und nicht nur akademische Beschäftigung mit Kafka, der u. a. als scharfsinniger Zeitkritiker oder völlig weltferner Dichter, als asketischer Gottsucher oder als Repräsentant der Moderne gedeutet wurde, nicht nur eine höchst polyphone Rezeptionskultur, sondern symbolisiert gewissermaßen eine immer wieder erneut sich konstituierende Aktualität des Kafkaschen Werkes, das als „exemplarisches Beispiel für eine Deutungspraxis“ fungiert, „die an der Entfaltung der Sinnpotentiale in einem Text ausgerichtet ist.“ (Fromm

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Vorwort

2008: 250) Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese umfassende und intensive Wirkung einem Autor zukommt, der zwischen dem Wunsch nach weltabgewandtem Rückzug auf die Position des schreibenden Subjekts und der zumindest verhalten artikulierten Ambition, mit dem Werk Öffentlichkeit und damit Wirkungen zu erzielen, schwankte (Kittler/Neumann 1990: 30f.). In dem Sammelband, der auf eine Tagung im Prager Goethe-Institut im Herbst 2011 zurückgeht, werden Prozesse der Wirkung bzw. Wirkungsverhinderung Kafkas in der kommunistischen und nichtkommunistischen Welt untersucht, womit vor allem eine Rekonstruktion der kulturpolitischen Kontextualisierungen intendiert ist. Es geht somit weniger um Prozesse aktiver Aneignung eines Werkes, auch wenn diese gleichwohl in einzelnen Beiträgen zur Sprache kommen, als vielmehr um die ideologie- und kulturdeterminierten Erwartungshorizonte, durch die ein Werk im engeren Horizont der literarischen Erwartung und im weiteren der Lebenswelt wahrgenommen wird. Es geht somit um eine ästhetische Wahrnehmung des literarischen Werkes, das immer in Abhängigkeit der jeweiligen Wertung stehe. Schließlich bilden „literarische Normen und Postulate […] den Ausgangspunkt für die Wertung“ (Vodička 1988: 71), was zu der Aufgabe führen müsse, neben einer Rekonstruktion der literarischen Norm selbst, eine Analyse der literarischen Epoche, ihrer sozialen Kontexte und der jeweiligen Konkretisationen im Sinne ästhetischer Wirksamkeit sowie auch das „Studium der Wirkungsbereiche eines Werkes im literarischen und außerliterarischen Bereich“ vorzunehmen (Vodička 1988: 74). Und Letztere erfordere, so Milan Kundera, gerade die Auseinandersetzung mit Kafka, denn: Kafka hat nicht prophezeit. Er hat einfach gesehen, was ‚dahinter‘ war. Ohne zu wissen, daß sein Sehen auch Voraus-Sehen war. Es ging ihm nicht darum, ein Gesellschaftssystem zu entlarven. Er hat Mechanismen sichtbar gemacht, die er aus der privaten und mikrosozialen Praxis des Menschen kannte, ohne zu ahnen, daß die spätere Entwicklung der Geschichte diese auf ihrer großen Bühne in Szene setzen sollte. (Kundera 1992: 125f.)

Damit sind auch die jeweiligen raum-, zeit- und ideologiebedingten Aktualisierungen, Konkretisierungen und Konkretisationen eines Werkes angesprochen, das wie im Falle Kafka offenkundig an den „Grenzen der Sinnsysteme“ operiert (Iser 1976: 279) bzw. das in die Sinnsysteme seiner Umwelt eingreift und damit – auf einer systemischen Ebene – destabilisierende Effekte provoziert. Gerade die Vieldeutigkeit von Kafkas Texten bietet den Anlass zu mehr oder weniger vergeblichen Versuchen einer Wirkungsverhinderung, mit der Komplexität und Kontingenz reduziert, die Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk minimiert werden soll.

Vorwort

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Betrachtet man Wirkung als ein vom Text, Rezeption als ein vom Adressaten bedingtes Element der Konkretisation, in der die Implikationen des Textes und die Explikationen der Adressaten, also der implizite und der explizite Leser aufeinander bezogen bleiben (Schnackertz 2001: 670), so wäre angesichts der zentralen Fragestellung nach Wirkung und Wirkungsverhinderung zu fragen, welche Texte bzw. welche Äußerungen von Kafka eine produktive Aneignung erfuhren bzw. welche Prozesse „fortgesetzter Horizontstiftung und Horizonterweiterung“ (Jauß 1970: 175) identifiziert werden können, die dann wiederum Rückschlüsse auf die (kulturpolitische) Wirkung von Kunstwerken besitzen. Obwohl Rezeption und Wirkung eng aufeinander bezogen bleiben, befasst sich vorliegender Band vorwiegend mit den in der Regel vergeblichen Versuchen einer Wirkungsverhinderung bzw. den Versuchen einer Steuerung von Wirkung, fragt also danach, ob und auf welche Weise bestimmte Texte bzw. Äußerungen Kafkas zugänglich waren und welche damit verbundenen Sinn- und Bedeutungskomplexe in übergreifende literatur- und kulturpolitische Diskurse integriert worden sind. Der scheinbar weltferne, weltabgewandte Kafka, so ein bis heute gängiges Stereotyp, welches gleichwohl als widerlegt angesehen werden darf (Engel 2012; Höhne 2007), wurde und wird offenkundig auch politisch gelesen, aus Aufnahme und Verbreitung seiner Texte ergaben sich immer auch gesellschaftliche, moralische, ethische etc. Folgen. Die Herausgeber

Literatur Engel, Manfred/Auerochs, Bernd (Hgg.) (2010): Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler. Engel, Manfred/Robertson, Ritchie (Hgg.) (2012): Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg. Kafka, Prague and the First World War (Oxford Kafka Studies 2). Würzburg: Königshausen & Neumann. Fromm, Waldemar (2008): Kafka-Rezeption. – In: Jagow, Bettina von/Jahraus, Oliver (Hgg.), Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Göttingen: V&R, 250-272. Höhne, Steffen (Hg.) (2007): Kafka und die Dissidenz. Ein Mitteleuropa-Diskurs. – In: brücken NF 15, 21-40. Iser, Wolfgang (1976): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: FinkUTB.

Vorwort

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Betrachtet man Wirkung als ein vom Text, Rezeption als ein vom Adressaten bedingtes Element der Konkretisation, in der die Implikationen des Textes und die Explikationen der Adressaten, also der implizite und der explizite Leser aufeinander bezogen bleiben (Schnackertz 2001: 670), so wäre angesichts der zentralen Fragestellung nach Wirkung und Wirkungsverhinderung zu fragen, welche Texte bzw. welche Äußerungen von Kafka eine produktive Aneignung erfuhren bzw. welche Prozesse „fortgesetzter Horizontstiftung und Horizonterweiterung“ (Jauß 1970: 175) identifiziert werden können, die dann wiederum Rückschlüsse auf die (kulturpolitische) Wirkung von Kunstwerken besitzen. Obwohl Rezeption und Wirkung eng aufeinander bezogen bleiben, befasst sich vorliegender Band vorwiegend mit den in der Regel vergeblichen Versuchen einer Wirkungsverhinderung bzw. den Versuchen einer Steuerung von Wirkung, fragt also danach, ob und auf welche Weise bestimmte Texte bzw. Äußerungen Kafkas zugänglich waren und welche damit verbundenen Sinn- und Bedeutungskomplexe in übergreifende literatur- und kulturpolitische Diskurse integriert worden sind. Der scheinbar weltferne, weltabgewandte Kafka, so ein bis heute gängiges Stereotyp, welches gleichwohl als widerlegt angesehen werden darf (Engel 2012; Höhne 2007), wurde und wird offenkundig auch politisch gelesen, aus Aufnahme und Verbreitung seiner Texte ergaben sich immer auch gesellschaftliche, moralische, ethische etc. Folgen. Die Herausgeber

Literatur Engel, Manfred/Auerochs, Bernd (Hgg.) (2010): Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler. Engel, Manfred/Robertson, Ritchie (Hgg.) (2012): Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg. Kafka, Prague and the First World War (Oxford Kafka Studies 2). Würzburg: Königshausen & Neumann. Fromm, Waldemar (2008): Kafka-Rezeption. – In: Jagow, Bettina von/Jahraus, Oliver (Hgg.), Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Göttingen: V&R, 250-272. Höhne, Steffen (Hg.) (2007): Kafka und die Dissidenz. Ein Mitteleuropa-Diskurs. – In: brücken NF 15, 21-40. Iser, Wolfgang (1976): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: FinkUTB.

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Vorwort

Jauß, Hans Robert (1970): Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissen­ schaft. – In: Ders., Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 144207. Kittler, Wolf/Neumann, Gerhard (1990): Kafkas ‚Drucke zu Lebzeiten‘. Editorische Technik und hermeneutische Entscheidung. – In: Dies. (Hgg.), Franz Kafka: Schrift­ verkehr. Freiburg: Rombach, 30-74. Kosík, Karel (1994): Das Jahrhundert der Grete Samsa. Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit. – In: Krolop, Kurt/Zimmermann, Hans-Dieter (Hgg.), Kafka und Prag. Berlin, New York: de Gruyter, 187-198. Kundera, Milan (1992): Die Kunst des Romans. Essay. Frankfurt/M.: Fischer. Schnackertz, Hermann Josef (2001): Wirkung/Rezeption. – In: Ästhetische Grundbegriffe, 670-693. Vodička, Felix (31988 [1975]): Die Rezeptionsgeschichte literarischer Werke. – In: Warning, Rainer (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink-UTB, 71-83.

Anne Hultsch

Kafka-Rezeption in der ČSR bis 1957 Die tschechischsprachige Rezeption – und nur um diese geht es in vorliegendem Beitrag – des Werkes Franz Kafkas in der Tschechoslowakei setzte im Jahre 1920 ein, als die ersten tschechischen Übersetzungen in Zeitschriften erschienen. Kurze Erwähnung in tschechischen Zeitschriftenbeiträgen fand Kafka jedoch bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Das Jahr 1957 als Grenze zu setzen, ist dadurch begründet, dass im Folgejahr die von Pavel Eisner angefertigte Übersetzung des Romanes Der Proceß erschien. Sie läutete bereits die Kafka-Renaissance in der Tschechoslowakei ein, die in ihrem weiteren Verlauf dann unter anderem zu der Liblice-Konferenz von 1963 führte. Der Beitragstitel ist selbstverständlich nicht originell. Es gibt eine Reihe von Aufsätzen, die fast gleich lauten, sei es nun Frühe tschechische Kafka-Publikationen bei Otto F. Babler (1956 und 1965), Die Kafka-Rezeption in Böhmen 19201948 bzw. […] 1913-1949, später erweitert bis 1963 bei Josef Čermák (1968, 1969, 1994 und 2000), Franz Kafka a Čechy [Franz Kafka und die Tschechen] bei František Kautman (1966), Zur tschechischen Rezeption Franz Kafkas bei Alice Stašková (2008) oder Zur Vielschichtigkeit der Kafka-Rezeption in der ČSR 19451989 bei Ludvík E. Václavek (1993). Um nicht das bereits andernorts Gesagte oder Geschriebene wiederholen zu müssen, sei auf diese Arbeiten verwiesen, denen zum Teil gründliche Recherchen zugrunde liegen. Wichtige Ergänzungen im Hinblick auf die Kafka-Bibliographie können dem Anhang entnommen werden. Die Vielzahl an Todesnachrichten und Nachrufen sowie an Rezensionen der tschechischen Ausgabe des Schlosses (1935), um die die Bibliographie ergänzt werden konnte, lassen meiner Meinung nach eine Aussage, dass Kafka in der tschechischen Presse nicht oder nur äußerst zurückhaltend rezipiert worden sei, nicht mehr zu.1

1 Eine Edition der tschechischen Texte (und ihre Übersetzung ins Deutsche) ist geplant.

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Anne Hultsch

1. Janouchs Primat Explizit hinweisen möchte ich auf den langen Zeitungsartikel von Gustav Janouch aus dem Jahre 1925. Er widerlegt mehrere bisher in der Forschung vertretene Ansichten: Janouch habe keine Arbeit aus dem literarischen Bereich in tschechischer Sprache publiziert, sondern nur in deutscher und dies ausschließlich im Ausland (Čermák 2005a: 65f.). Eine redaktionelle Anmerkung kündigt an, dass dem Artikel in der nächsten Literaturbeilage Auszüge aus Kafkas Werk folgen werden (Janouch 1925: 1). Dies war zwar nicht der Fall, die Anmerkung kann allerdings als Hinweis darauf aufgefasst werden, dass Janouch tatsächlich kurz nach Kafkas Tod Erzählungen aus dem Landarzt übersetzt hat, deren Existenz nirgends nachgewiesen sei (Čermák 2005a: 63). Dass sich Janouch 1925 publizistisch mit Kafka auseinandersetzt, macht seine Aussage wahrscheinlicher, dass er gegen 1926 ein Manuskript für Josef Florian zusammengestellt habe (Janouch 1951: 9, 1968: 12 vs. Goldstücker 1989: 239). Er erinnert sich nicht erst im Zuge des ‚Booms‘ über 20 Jahre nach Kafkas Tod, mit diesem bekannt gewesen zu sein. Janouch (geb. am 01.03.1903) korrespondiert mit Kafka bereits, als er 16 Jahre alt ist (Janouch 1925: 2), die Angabe, dass er ihn „Ende März 1920“ (Janouch 1951: 11, 1968: 29) kennengelernt habe, basiert demzufolge auf einem späteren Irrtum. Für eine frühere Bekanntschaft zwischen Janouch und Kafka sprechen ebenfalls die zeitlichen Ungenauigkeiten, die Eduard Goldstücker nachweist. Diesen zufolge datiert Janouch etwas auf 1921, was 1919 bzw. 1917/18 geschehen sein müsste (Goldstücker 1989: 243), sodass man nicht ausschließen kann, dass er die beschriebenen Erlebnisse mit Kafka tatsächlich hatte, sie jedoch falsch datiert. Von seinem Sanatoriumsaufenthalt in der Tatra schreibt Kafka an Janouch (Janouch 1925: 2), sodass das ‚Gespräch‘ zwischen beiden in schriftlicher Form fortgesetzt wird und nicht eine neunmonatige Pause eintritt (Goldstücker 1989: 239). Besonders interessant erscheint, dass die Frage nach dem Musikstudium (Janouch 1951: 115, 1968: 250) auch in dem Zeitungsartikel eine Rolle spielt, der außer zwei kürzeren Briefzitaten ansonsten nicht sehr persönlich gehalten ist. Kafka antwortet zugunsten eines Handwerks, welches er als das „nejodvážnější, nejpokornější a nejpravdivější“ [Mutigste, Demütigste und Wahrhaftigste] bezeichnet, was ein künstlerisch fühlender Mensch tun könne (Janouch 1925: 2). Diese Antwort korrespondiert mit seinem Lob des Handwerks zu Beginn der Gespräche (Janouch 1951: 16f., 1968: 34f.).

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Janouchs Gespräche mit Kafka weisen zweifelsohne einen hohen fiktiven Anteil auf, es fragt sich jedoch, ob gerade die bisher für fiktiv gehaltenen Elemente die fiktiven sind. So kritisch man die Gespräche auch lesen muss, so kommt Janouch mit seinem Artikel František Kafka doch das Verdienst zu, der Erste zu sein, der Kafka, sieht man von den zweckgebundenen Nachrufen ab, einen ausführlicheren Beitrag in der tschechischen Presse gewidmet hat.

2. Latente Kafka-Rezeption „Wirkungsgeschichtliche Untersuchungen sind per se eine Crux, weil es neben der evidenten immer auch um die latente Rezeption geht“ (Thiergen 2004: 131; Herv. i. Orig.). Und so sind es in dem Zeitraum der frühen Rezeption auch eher ‚atmosphärische Gemeinsamkeiten‘, die zwischen Kafka und dem einen oder anderen Autor festgestellt werden können. In diesem Zusammenhang lassen sich Egon Hostovský, Richard Weiner oder Jiří Orten nennen. Hostovský war zwar mit Texten Kafkas vertraut, wie man einem 1941 in New York gehaltenen Vortrag entnehmen kann, in dem er auf Kafka hinwies (o. A. 1941:  3). Die Frage, ob es sich bei den Parallelen zwischen Hostov­ ský und Kafka aber tatsächlich um eine genetische Beziehung handele,2 wie František Kautman (1966: 186) meint, kann damit natürlich nicht beantwortet werden, zumal Hostovský Kafka in seinen Erinnerungen Literární dobrodružství českého spisovatele v cizině [Literarische Abenteuer eines tschechischen Autors in der Fremde] (1966) keine Beachtung schenkt. Jiří Voskovec zitiert Hostovskýs Verwunderung darüber, dass er mit Kafka verglichen und demselben Gravitationspol zugeordnet werde: „Já jakživ ke Kafkovi neměl zvlášť blízko“ [Zeitlebens stand mir Kafka nicht besonders nahe] (Voskovec 1974: 65). Gleiches erinnert Josef Hiršal: Hostovský habe Hermann Ungar mehr geschätzt als den berühmten Franz Kafka (Hiršal 1991: 267). Jan Grossman macht lediglich „některé společné rysy v methodě“ [einige Gemeinsamkeiten in der Methode] aus, ansonsten könne er längst keine so große Verwandtschaft zwischen beiden Autoren sehen, wie allgemein behauptet werde (Grossman 1948: 45). Jiří Pistorius schreibt über „souvislosti“ und „analogie“ [Zusammenhänge und Analogien], wobei er das erste Wort kursiv und das zweite in Anführungszeichen 2 Zur Unterscheidung von genetischen Beziehungen und typologischen Zusammenhängen s. Ďurišin (1972: 165).

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setzt (Pistorius 1958: 20f.), was gut die Unsicherheit bei der Beschreibung der Beziehung zwischen beiden Autoren ausdrückt. Voskovec schließlich spricht von „přirozené sousedství“ [natürlicher Nachbarschaft] (Voskovec 1974: 65). An die Stelle von konkreten Beziehungen treten zu beobachtende Gemeinsamkeiten, die sich Entstehungszeit, -ort und -situation verdanken. Ähnlich verhält es sich mit den Werken Richard Weiners, die, wie verschiedene Autoren dargestellt haben, Parallelen zu Kafkas Werken aufweisen, ohne dass man doch einen direkten Bezug nachweisen könnte (Chalupecký 1947:  45, 90; Kautman 1965:  66f.; Doležel 1981; Charvát 2006:  214-242), wenn Weiner auch wie Hostovský zumindest mit dem Namen Kafkas vertraut war (Widera 2001: 213). Jiří Orten gibt in seinen Lektürelisten zwar an, 1938 Zámek [Das Schloß] und 1939 Proměna [Die Verwandlung] gelesen zu haben (Orten 1992:  282, 287), jüngst von Josef Štochl nachgewiesene Bezüge zwischen Kafka und Orten beziehen sich allerdings vor allem auf einen Prosatext Ortens aus dem Jahre 1937 (Štochl 2011: 71). Um also nicht den festen Boden unter den Füßen zu verlieren, werden sich die folgenden Ausführungen weitgehend auf die Übersetzungen und die Literaturkritik bzw. Publizistik beschränken, denn die nachweisbare produktive Aneignung des Werkes Kafkas beginnt, von ganz wenigen – ihrerzeit nicht publizierten – Ausnahmen abgesehen, erst in der zweiten Hälfte der 1950erJahre.

3. Tschechische Kafka-Übersetzungen aus Sicht der Statistik Zunächst möchte ich mit einigen statistischen Angaben bekannt machen, die mir interessant erscheinen. Zu Kafkas Lebzeiten haben sich seiner Werke mit Milena Jesenská, Milena Illová und Jaroslav Dohnal drei Übersetzer angenommen.3 Bis 1957 stieg diese Zahl auf 24 Übersetzer, von denen tatsächlich über3 Čermák schreibt, die Übersetzung, „die Jaroslav Dohnal als Übersetzer zeichnet, ist aller Wahrscheinlichkeit nach Milena Jesenská zuzuschreiben“ (Čermák 1994: 129). Wenn das so wäre, reduzierte sich die Zahl der Übersetzer, was aber keinen Einfluss auf die Gesamttendenz ausübt. In einem späteren Beitrag nimmt Čermák diese Zuschreibung nicht mehr vor (Čermák 2000: 21). Čermák (1994: 129f.; 2000: 21) zufolge ist Otto F. Bablers Übersetzung noch zu Kafkas Lebzeiten erschienen. Sie ist jedoch 1924 erst in der August/ September-Ausgabe der Eva publiziert worden, also nach Kafkas Tod.

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setzte Texte erschienen sind.4 Wenn es sich zum Teil auch nur um sehr kurze Texte oder Textausschnitte handelt, scheint diese Zahl doch sehr beachtlich. Hinzu kommen noch weitere sieben Namen, die Kafka für sich selbst, für die Schublade oder ihre Freunde übersetzt haben.5 Wir kommen damit auf insgesamt 31 Übersetzer, wobei die Anzahl zweifellos noch höher ist, denn es ist mir bisher nur eine in dem untersuchten Zeitraum im Exil erschienene Übersetzung bekannt,6 außerdem sind sicherlich noch nicht alle Schubladen geleert: V padesátých letech bylo pro nekonformní mladé pražské intelektuály, kteří se nějak ochomýtali kolem literatury nebo sami psali, typické, že skoro každý měl doma pár kratších povídek Franze Kafky, které si vlastnoručně přeložil a půjčoval nebo předčítal je na schůzkách svým přátelům a známým. […] Patřilo to jaksi k dobrému tónu. Některé Kafkovy povídky jsem slyšel a viděl snad ve dvaceti kolujících rukopisných překladech. Kam se všechny ty usmolené překlady poděly? (Zábrana 2001: 833) [In den Fünfzigerjahren war es für nonkonforme junge Prager Intellektuelle, die sich irgendwie um die Literatur herum bewegten oder selbst schrieben, typisch, dass fast jeder ein paar kürzere Erzählungen Franz Kafkas zu Hause hatte, die er eigenhändig übersetzt hatte und verborgte oder sie bei Treffen seinen Freunden und Bekannten vorlas. […] Das gehörte irgendwie zum guten Ton. Einige Erzählungen Kafkas hörte oder sah ich vielleicht in zwanzig handschriftlichen Übersetzungen, die die Runde machten. Wohin haben sich all diese speckigen Übersetzungen verteilt?]

Betrachtet man, welche Texte übersetzt worden sind, fällt auf, dass sich einige besonderer Beliebtheit erfreuten. Čermák wies bereits darauf hin, dass sowohl Milena Jesenská als auch der katholische Kreis um Florian und Portman fast die gleichen Kafka-Texte veröffentlichten, daß sie weder Die Strafkolonie noch (der Floriankreis) den Zyklus des Hungerkünstlers geschweige denn einen der drei Romane ‚entdeckten‘ (Čermák 1994: 132).

Die meiste Beachtung fand Das Urteil (als Soud bzw. Ortel) mit sechs Übersetzern,7 dessen sich besonders gern die ‚Schubladenübersetzer‘ zur Zeit der Machtergreifung durch die Kommunisten annahmen. Die Frage der nicht näher definierten Schuld und der dennoch bereitwilligen Annahme des Urteils durch den Sohn, also die Frage der Ergebenheit gegenüber der Allmacht des 4 Otto F. Babler, Hanuš Bonn, Pavel Eisner, Viktor Fischl, Jan Franz, Jan Grmela, Miloš Hlávka, Gustav Janouch, Josef Král, Ludvík Kundera, Jan Marek, František Mastík, Jaromír Měšťan, František Pastor, Rio Preisner, Karel Projsa, Jan Řezáč, Zbyněk Sekal, Jitka Skaláková, Timotheus Vodička, P. Ludvík Vrána. 5 Bohumila Grögerová, Jan Hanč, Zdeněk Kalista, Jan Rychlík, Josef Schwarz, Rudolf Vápeník, Miroslav Zůna. 6 Měšťan. 7 Hanč, Jesenská, Kundera, Preisner, Schwarz, Vápeník.

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Vaters, verbunden mit der Umkehr der Machtverhältnisse, scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Auf Ludvík Kunderas Übersetzung Des Urteils in Kvart [Quart] (1947) konnte Pavel Trost noch vor dem Februar 1948 mit Überlegungen über diesen Text reagieren, den er letztlich mythologisch deutet (Trost 1947/48b). Die Übersetzungen des Urteils werden zahlenmäßig gefolgt von einigen Texten aus Ein Landarzt, die ebenfalls sechs (Vor dem Gesetz), vier (Ein Bericht für eine Akademie; Ein Brudermord; Ein Landarzt; Schakale und Araber) oder zumindest drei bis zwei Übersetzer fanden. Drei bis zwei Übersetzungen liegen aus dem von uns betrachteten Zeitraum ebenfalls für Texte aus der Betrachtung vor. Selbst aus den Nachgelassenen Schriften (unter der Überschrift Z deníku [Aus dem Tagebuch]) wird von Bonn und zweimal von Kundera der gleiche Auszug gewählt (Kafka 1992: 234f.). So erstaunlich hoch meiner Meinung nach diese Zahlen sind, so falsch ist das Bild, das durch sie vermittelt wird, wenn sie als bloße Zahlen stehen bleiben. Denn fragt man sich, welcher Rezipientengruppe diese Texte überhaupt zugänglich waren, verengt sich das Bild erheblich. Bibliophile Ausgaben erreichen naturgemäß kein großes Publikum,8 hinzu kommt die ideologische Wahrnehmung konkreter Verlage oder Zeitschriften, die ebenfalls zur Wirkungsverhinderung bzw. Verschiebung der Wahrnehmung beitragen kann.

4. Vom expressionistischen zum existentialistischen Kafka In diesem Zusammenhang sei als Beispiel die von Stanislav Kostka Neumann herausgegebene Zeitschrift Kmen [Der Stamm] erwähnt, in der Milena Jesen­ skás erste Übersetzungen erschienen. Aus Sicht der Nachgeborenen wird dies als ein Hinweis darauf gewertet, dass die erste bedeutendere Phase der Rezeption Kafkas in das linke anarcho-kommunistische Umfeld einzuordnen sei (Čermák 2005b: 42). Wenn man die weitere Entwicklung Neumanns und auch seinen Nachruf auf Kafka kennt, trifft dies sicher zu. Mir stellt es sich 8 Bibliophile Ausgaben sind: Starý list [Ein altes Blatt] (1928) – 16 Exemplare, Proměna [Die Verwandlung] (1929) – 600 Exemplare, Sen [Ein Traum] (1929) – 120 Exemplare, Zpráva pro Akademii [Ein Bericht für eine Akademie] (1929)  –  26 Exemplare, Venkovní lekář [Ein Landarzt] (1931) – 25 Exemplare (alle Angaben nach Babler 1956: 182/14; Čermák 2000:  33 nennt für die Proměna ebenfalls nur 120 Exemplare); Pozorování [Betrachtung] (1946) – 50 Exemplare (Goldstücker 1966: 321).

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jedoch eher so dar, dass die erste Phase der Rezeption unter dem Vorzeichen des Expressionismus gestanden habe, denn man sollte nicht vergessen, dass Neumann fast chamäleonartig sämtliche literarischen Strömungen seiner Zeit durchlief und gerade die von ihm herausgegebenen Zeitschriften Červen [Juni] und Kmen die beiden Organe waren, in denen in den ersten drei Jahren nach dem Krieg zahlreiche Texte deutscher Expressionisten veröffentlicht wurden. Wie Zeitgenossen berichten, fühlte sich Neumann noch bis ca. 1920 zum Expressionismus hingezogen (Kalista 1967:  116). Er gab Kafka also wahrscheinlich relativ großen Raum, weil er ihn als Expressionisten wahrnahm und schätzte. Als solchen hat ihn auch Staša Jílovská, die Freundin Jesenskás, 1919 Josef Florian gegenüber angepriesen (Cěrmák 2007:  75), sodass man annehmen kann, dass sie ihn mit ähnlichen Worten auch Neumann vorgestellt habe. Erst kurze Zeit später betrachtet Neumann Kafka dann vor allem als Gesellschaftskritiker (Čermák 1968: 465). Er bleibt Kafka treu. Weil sich jedoch seine eigenen Anschauungen ändern, deutet er ‚seinen‘ Kafka um. Anderen erscheint Kafka weiterhin als „typický expresionista“ [typischer Expressionist], wie man z. B. in dem anonymen Nekrolog in den Lidové noviny [Volkszeitung] lesen kann (o. A. 1924a). Wie Neumanns ursprüngliches Interesse an Kafka im Zusammenhang mit dem deutschen Expressionismus zu sehen ist, so wird ebenfalls Florian auf Kafka im Kontext des – ihm durch Bohuslav Reynek (Čermák 2007: 74f.) vermittelten – Expressionismus aufmerksam.9 Ähnlich wie bei Neumann kommt es in dem katholischen Lager erst zeitlich versetzt zu einer rein religiösen Deutung Kafkas. Vojtěch Jirát bringt Kafka 1934 in seinem Lexikoneintrag zwar noch mit dem Expressionismus in Verbindung, betont abschließend jedoch, dass Kafka sich deutlich von den anderen expressionistischen Romanautoren unterscheide (Jirát 1934). Einen indirekten Hinweis darauf, dass Kafka – mit Ausnahme des späteren Neumann – nicht als Vertreter oder Sympathisant des Anarcho-Kommunismus wahrgenommen worden ist, stellt dar, dass er von der tschechischen – linken – Avantgarde nicht rezipiert worden ist. Er sprach sie ebensowenig an wie weitere expressionistische Autoren. František Götz, der Programmgestalter der Literární skupina [Literarische Gruppe] in Brünn und „einzige bedeutende tschechische Theoretiker des Expressionismus“ (Vízdalová 1994: 216), zählt Kafka zu den Expressionisten (Götz 1922: 139). Man muss es wohl in gewis9 Einen Widerspruch zwischen theologischer Sichtweise und „linksgerichtetem“ Expressionismus (Čermák 2007: 74) kann ich nicht sehen, sind doch viele expressionistische Texte regelrecht gesättigt mit Motiven, die theologisch oder zumindest religiös zu verstehen sind (Hultsch 2006).

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ser Weise als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass sich Götz bewusst von den französischen Vorbildern, auf die sich die tschechische Avantgarde bezog und mit denen er bestens vertraut war, ab- und den deutschen Expressionisten zuwandte (Kalista 1997: 661), wobei er eben auch auf Kafka stieß, wenn man bedenkt, dass Kafka ausgerechnet über den Umweg des französischen Surrealismus (vor allem André Breton) Mitte der 1930er-Jahre wieder nach Böhmen zurückkehrte. Dies ging mit seiner langsamen ‚Umcodierung‘ einher. Aus dem Expressionisten wurde einer der wichtigsten Vorläufer des Surrealismus (Bonn 1937; [Eisner] Ort 1937; Jehl 1937). Aus diesem surrealistischen Kafka wurde dann wenige Jahre später – ebenfalls als Import aus Frankreich – ein Existentialist. Dazu leistete sicherlich der 1947 in tschechischer Übersetzung erschienene Text Naděje a absurdnost v díle Franze Kafky [Hoffnung und Absurdität im Werke Franz Kafkas] von Albert Camus einen Beitrag, der zu den ersten tschechischsprachigen Kafka-Publikationen nach dem Krieg gehörte. Die redaktionelle Anmerkung, dass sich Camus selbst nicht für einen Existentialisten halte, änderte daran nichts (Camus 1947: 459). Die tschechischen Nachkriegssurrealisten, die zuverlässig mit KafkaÜbersetzungen aus der Schublade von Zbyněk Sekal versorgt wurden (Medek 1995: 158, 181, 187, 390), veranstalteten 1951 und 1953 in ihrem Kreis Umfragen zu kulturellen bzw. literarischen Themen. 1953 lautete eine Frage: „Považujete Franze Kafku za bližšího surrealismu nebo existencialismu?“ [Meinen Sie, dass Franz Kafka dem Surrealismus oder dem Existentialismus näher stehe?] (Medek 1995: 104). Kafka wird von den Surrealisten gekannt und geschätzt, aber nicht automatisch als einer der Ihren betrachtet, sonst stellte sich diese Frage nicht. All die Deutungen und Kritiken gehen in irgendeiner Weise von dem Ideen­gehalt der Texte aus. Folgerichtig scheint es mit einer Ausnahme zunächst auch niemanden interessiert zu haben, wie diese Ideen in den Texten erzählerisch umgesetzt sind. Diese Ausnahme ist Arne Novák, der 1932 in Bezug auf Rilke und Kafka schrieb: nejsem si zcela jist, zda budoucnost dá zcela za pravdu jejich přítomným vyznavačům, jimž patrně uchází nepoměr mezi dušezpytnou jasnovidnosti, doprovázenou ušlechtilým zanícením citovým, a nedostatkem sily povaho- i dějetvárné (Novák 1932). [Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Zukunft ihren gegenwärtigen Anhängern vollkommen recht geben wird, denen offensichtlich das Missverhältnis zwischen seelenforschender Hellsichtigkeit, die von vornehmer Ekstase des Gefühls begleitet wird, und unzulänglicher Kraft bei der Gestaltung der Charaktere und der Handlung entgeht.]

Ähnlich ist wohl die leichte Verwunderung František Xaver Šaldas zu verstehen, dass man sich in den 1930er-Jahren in Frankreich intensiv mit Kafka zu

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beschäftigen begann (Šalda 1993: 159). Der eine sich auf Kafka beziehende Satz aus Šaldas Feder ist für Eisner dennoch bedeutend genug, um als Beweis zu dienen, dass Kafka übersetzt werden müsse (Eisner 1934).

5. Nicht erschienene Kafka-Ausgaben Immer wieder finden sich Ankündigungen tschechischer Kafka-Ausgaben, die dann nicht realisiert worden sind. Wie man dem Untertitel zu Jesenskás 1920 erschienener Übersetzung von Unglücklichsein in der Tribuna [Tribüne] entnehmen kann, sollte zunächst in der Edition Červen im Winter 1920/21 ein Buch von Prosatexten in ihrer Übersetzung erscheinen. In den Rozpravy Aventina [Abhandlungen des Aventinums] wird 1929 angezeigt, dass unter der Federführung des Redakteurs Emil Vachek in der Edition Pyramida [Pyramide] des Verlages Sfinx „budou vycházet knihy Franze Kafky“ [die Bücher Franz Kafkas herauskommen werden] (o. A. 1929a). Andernorts wird konkret die Übersetzung des Proceß-Romans durch Pavel Eisner genannt, die dort (1929!) erscheinen soll (o. A. 1929b; Grmela 1929a),10 zu der es, wie bereits erwähnt, erst 1958 kam. Wenn es sich tatsächlich um „die Bücher“ Kafkas gehandelt haben soll, dann wäre dies ein erster Hinweis auf eine geplante Werkausgabe in tschechischer Übersetzung. Gleichzeitig handelt es sich um einen ersten Hinweis auf Eisner als Kafka-Übersetzer, der mit einer tatsächlich publizierten Übersetzung meines Wissens erst zwei Jahre später (also 1931) in Erscheinung trat, wobei es sich eben um einen Auszug aus dem Proceß handelte (entspricht Kafka 1990a: 279-304),11 den er allerdings insgesamt, wie er im April 1947 in einem Brief an Max Brod schrieb, erst während der Protektoratszeit übersetzt habe (zitiert bei Čermák 1991: Nr. 48), auch wenn er bereits 1931 in der Prager Presse schrieb: „vorbereitet wird nur der ‚Prozeß‘“, um „von Franz Kafkas Gesamtwerk in die tschechische Literatur“ ungesäumt aufgenommen zu werden (Eisner 1931). 10 Einen Monat später schreibt Grmela mit fast den gleichen Worten über die Herausgabe des Schlosses in der Übersetzung Pavel Eisners. Die Romane werden als „klíč k poznání Kafkovy tvorby“ [Schlüssel zum Kennenlernen von Kafkas Schaffen] bzw. als „klíč ke Kafkově tvorbě“ [Schlüssel zu Kafkas Schaffen] angepriesen (Grmela 1929a, b). 11 Einen kürzeren Teil dieses Ausschnitts aus dem Proceß hatte er im Jahr zuvor bereits für ein Lehrbuch deutscher Lektüre an tschechischen Schulen ausgewählt (Eisner 1930: 113-121; entspricht Kafka 1990a: 284-291).

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Eng verknüpft mit dem Namen Eisners ist ein weiteres nicht realisiertes Kafka-Großprojekt, eine achtbändige Werkausgabe im Verlag Václav Petr in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre. Die – nicht nur politischen, sondern zunächst vor allem persönlichen (siehe z. B. Eisner 1948) – Komplikationen, die dieses Vorhaben scheitern ließen, hat Čermák detailliert und archivgestützt 1991 in den Literární noviny [Literaturzeitung] dargestellt (Čermák 1991).

6. Eisners Kafka Eisner gehört ohne Zweifel zu den äußerst verdienstvollen Mittlern zwischen der deutschen und tschechischen Literatur, dennoch scheint es mir, dass es ihm oft mehr um sich denn den zu vermittelnden Autor gegangen sei. 1916 schrieb er beispielsweise an Otokar Březina, den er selbst gern übersetzt hätte: Bylo pro mne […] bolestným zklamáním, když jsem se dověděl, že autorizace celého Vašeho díla je již zadána. Chtěl jsem aspoň zčásti býti účasten úkolu seznámiti cizinu s Vaším dílem (Březina 2004: 1123). [Es war für mich […] eine schmerzliche Enttäuschung, als ich erfuhr, dass die Autorisierung Ihres gesamten Werkes bereits vergeben ist. Ich wollte zumindest teilweise an der Aufgabe beteiligt sein, das Ausland mit Ihrem Werk vertraut zu machen.]

Es geht nicht darum, dass Březina dem Ausland unbekannt bleibt, weil er keinen Übersetzer hat, sondern es geht darum, dass Eisner möchte, dass sein eigener Name mit dem des Autors im Ausland in Verbindung gebracht werde.12 Ähnlich verhält es sich im Falle der Kafka-Übersetzung, als Eisner den Mitübersetzer oder, besser gesagt, Konkurrenten Karel Projsa durch beckmesserische Kritik suspendiert13 und gleichzeitig gegenüber Brod in dem bereits erwähnten Brief seinen „morální nárok“ [moralischen Anspruch]

12 Jan Franz äußert angesichts Eisners Zugangs zu Kafka gar Bedenken, dass er „přes všechnu dobrou vůli mohl by Kafku maličko diskreditovati“ [trotz allen guten Willens Kafka etwas diskreditieren könnte], denn andere verstünden ihn besser (Franz 1931). 13 Allerdings wurden auch andernorts Projsas Übersetzungen, die in Listy [Blätter] (1947) publiziert wurden, als „velmi špatný překlad“ [sehr schlechte Übersetzung] bezeichnet (lk 1947).

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auf die Übersetzung des Gesamtwerkes geltend macht (zitiert bei Čermák 1991: Nr. 48).14 Der selbst zugeteilte Anspruch auf die Kafka-Übersetzung korrespondiert mit Eisners Kafka-Interpretation. Sein Eintreten für und Erinnern an Kafka reicht über das Jahr 1948 hinaus. Bis 1950 erwähnt er Kafka immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen in seinen Beiträgen in dem Věstník židovské obce náboženské v Praze [Mitteilungen der jüdischen Religionsgemeinschaft in Prag] (Eisner 1949a, b; 1950) und 1950 spricht er bei einem ‚kulturellen Abend‘ in der jüdischen Gemeinde in Prag über „Prag im Schaffen jüdischer Dichter“, wobei er selbstverständlich auch auf Kafka zu sprechen kommt (Ganan 1950). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Eisner im Grunde genommen der einzige Übersetzer ist, der seine Übersetzungen systematisch durch publizistische Beiträge über den Autor begleitet (sieht man von jeweils einem Text sechs weiterer Übersetzer ab, wobei es sich bei Jesen­ ská um einen Nekrolog handelt). Außer Eisner weist noch Grmela in seinen Beiträgen über das deutsche literarische Prag jeweils kurz auf Kafka und geplante Ausgaben seiner Werke hin, was aber keinem Vergleich mit Eisners Kafka-Artikeln standhält, die vor allem in zeitlicher Nähe zu der geplanten Werkausgabe zunehmend monothematisch Kafka gewidmet sind. Diese Zurückhaltung der Übersetzer ist ein erstaunliches Phänomen, weil es sich so gar nicht deckt mit der sonst üblichen Praxis. So haben beispielsweise fast alle Březina-Übersetzer auch über Březina geschrieben, wodurch sie der Nachwelt (zumindest indirekt) mitteilen, weshalb sie es für wichtig hielten, diesen Autor einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Diese Hinweise fehlen uns von den meisten Kafka-Übersetzern, und es fragt sich, was sie zu ihren Übersetzungen motiviert hat. Aus den tschechischsprachigen Beiträgen Prager deutscher Autoren wird deutlich, dass sie Kafka als so bekannt voraussetzen, dass er nicht gesondert propagiert werden muss, denn in ihnen findet er häufig beiläufig Erwähnung, ohne dass ihm der gesamte Beitrag gewidmet wäre (z. B. bei Paul Leppin, Otto Pick, Johannes Urzidil, Paul Winter). Aus ihrer Sicht gehört er nicht nur selbstverständlich zum Korpus, sondern zum Kanon. Eisner betont vielfach und wortwörtlich: „Franze Kafku lze vyložit jen z Prahy“ [Franz Kafka kann man nur von Prag her interpretieren] (Eisner 2001: 455). Wenn man dieses Faktum vernachlässige, „neporozumí Kafkovi 14 Dazu sei zumindest kurz angemerkt, dass Projsa Amerika dennoch nicht umsonst übersetzt hat, denn in den 1950er-Jahren kursierten Abschriften der Korrekturfassung seiner Übersetzung (Grögerová/Hiršal 2007: 81).

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dnešní Francie, Anglie, Amerika, a kdyby o něm popsala ještě větší stohy papíru“ [verstehen das heutige Frankreich, England, Amerika Kafka nicht, selbst wenn sie über ihn noch größere Papierstapel beschrieben] ([Eisner] Faber 1947:  206). Mit „reálie pražské“ [Prager Realien] meint er „reálie ve smyslu nejobsáhlejším – fakta věcná, atmosferická, psychobiologická, psychosociologická“ [Realien im umfänglichsten Sinne – sachliche Fakten, atmosphärische, psychobiologische, psychosoziologische] (Eisner 2001: 455), denn alles in seinen Mysterien „je Praha a jen Praha“ [ist Prag und nur Prag] (Eisner 1938/39: 121). Eisners Hauptargument stellt jedoch die Sprache Kafkas dar, der aufgrund der isolierten Situation die unteren Sprachschichten des einfachen Volkes und der ungezwungenen Situationen fehlen und die für ihn nur in ihrer sterilen schriftsprachlichen Form existiere ([Eisner] Faber 1947: 206; Eisner 2001: 472). Dieses Argument führte 1929 auch Paul Winter an, als er schrieb, dass es in Böhmen zwei Gruppen von deutschen Autoren gebe, die Prager Dichter und die Vertreter der Heimatkunst, die sich nicht nur durch das Lebens- und Arbeitsumfeld – die Prager „uvnitř českého prostředí“ [mitten im tschechischen Kontext] – unterscheiden, sondern die, daraus resultierend, grundlegend verschiedene Ansichten über Kunst und künstlerische Mittel vertreten. Die Texte der Prager Dichter seien viel komplizierter, heterogener, unruhiger, intellektueller, weil sie die Distanz zwischen der Welt, die sie um sich wahrnehmen, und der Welt, die sie in sich tragen, ausgleichen müssen (Winter 1929). Auch Eisner schreibt, dass německá literatura pražského původu je něco zcela jiného než literatura ‚sudetská‘. A jako máloco ve světové literatuře lze si ji vyložit jen z jedinečného genia loci ([Eisner] Faber 1948: 255). [die deutsche Literatur Prager Herkunft etwas vollkommen anderes ist als die ‚sudetische‘ Literatur. Und wie weniges in der Weltliteratur kann man sie einzig aus dem einmaligen Genius loci auslegen.]

Zudem sind viele der Prager Deutschen Juden: „Proto také nikdo v Liberci nebo v Chebu neznal jméno Franze Kafky […]“ [Deshalb kannte auch niemand in Reichenberg oder in Eger den Namen Franz Kafkas] (Urzidil 1945).15 Dies ruft Peter Demetz unmissverständlich in Erinnerung, wenn er verwundert bis verärgert von dem „nový literární monopol“ [neuen literarischen Monopol] schreibt, das die vertriebenen Deutschen begründeten, indem sie in ihrer Presse Kafka, Werfel, Rilke zur sogenannten ‚sudetischen‘ Literatur zählen und sich mit deren Namen schmückten ([Demetz] 1950: 123): 15 Er irrt. In der Reichenberger Zeitung erschien am 06.06.1924 eine Nachricht über Kafkas Tod (o. A. 1924b).

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Byla to prostě literatura velkoměstská, civilisační, evropská, v protikladu k sudetské rustikálnosti, úzkému regionalismu, šovinismu. Znalec poměrů první republiky ví dobře, jaký rozdíl byl mezi Werfelem a Watzlikem, Kafkou a Stroblem, Brodem a Hohlbaumem. Ovšem, časy se mění, sudetský tisk dnes objevil, že Werfel a Kafka jsou autory světovými a že by sloužilo sudetské věci v zahraničí, anektovat tato slavná jména pro vlastní záměry. A tak se dnes leckdo dovolává Kafky co by sudetského velikána a chytře si myslí, že velkou ryzost jeho díla zneužije pro očištění pošramocené sudetské firmy (Demetz 1950: 124). [Das war einfach eine großstädtische, zivilisatorische, europäische Literatur im Gegensatz zur sudetischen Rustikalität, zu engem Regionalismus, Chauvinismus. Ein Kenner der Verhältnisse der ersten Republik weiß gut, welcher Unterschied zwischen Werfel und Watzlik, Kafka und Strobl, Brod und Hohlbaum bestand. Allerdings, die Zeiten ändern sich, die sudetische Presse hat heute entdeckt, dass Werfel und Kafka Weltautoren sind und dass es der sudetischen Sache im Ausland förderlich sei, diese berühmten Namen für die eigenen Absichten zu annektieren. Deshalb beruft sich heute sonstwer auf Kafka als sudetische Größe und denkt schlau, dass er die große Lauterkeit seines Werkes für die Reinigung der angekratzten sudetischen Firma missbrauchen kann.]

Demetz, der sich zum Zeitpunkt seiner Kritik bereits im Exil befindet, öffnet den Kontext von Kafkas Schaffen, Eisner hingegen schränkt ihn auf Prag ein.16 Nähme man Eisner ernst, hätte er sich die Interpretationshoheit gesichert, die er für sich ebenfalls beansprucht, wenn er ‚Kafka aus Kafka‘ und nicht aus seinen Interpreten auslegen will (Eisner 1957: 109)17 – umgekehrt ist seine Interpretation die, die über viele Jahre im tschechischen Kontext nachgewirkt hat, das heißt, sie wurde allgemein akzeptiert. Es fällt Eisner ganz offensichtlich schwer, andere Sichtweisen gelten zu lassen, ja, er möchte sie ausdrücklich

16 Ausführlicher äußert sich zu Eisners Kafka-Lektüre Escher (2011). Trost schickt seiner Rezension des Bandes Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag] ein „P. S.“ hinterher, das sich Demetz’ Kritik sicher sein dürfte. Er schreibt: „Ale nelze se spokojit thematem Kafka a Praha, je tu i další thema Kafka a sudetský venkov (Siřem, Frýdlantsko, Zámek).“ [Aber man darf sich nicht mit dem Thema ‚Kafka und Prag‘ zufrieden geben, es ist hier noch ein weiteres Thema ‚Kafka und das sudetische Dorf‘ (Zürau, Gebiet Friedland, Schloss).] (Trost 1947/48a: 157). 17 Sein damit einhergehender Anspruch auf die intime Kenntnis der Verhältnisse, aus denen Kafka stammte, mit denen er seine Interpretation abzusichern versucht, muss jedoch etwas infrage gestellt werden, weil sich seine Familie mehr als die Kafkas dem tschechischen Umfeld zuwandte und Eisner tschechische Schulen besuchte (Tuckerová/Marxova 2011:  7; ausführlicher zu Eisners Schul- und Studienjahren Petrbok 2011). Um seinen Anspruch auf ‚Franz Kafka und Prag‘ geltend zu machen, scheut er sich auch nicht, den bereits durch die 1947 erschienene Monographie – an der er nicht beteiligt war – ‚vergebenen‘ Titel für eigene Arbeiten zu benutzen.

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nicht zur Kenntnis nehmen müssen.18 Aber ist es sinnvoll, Kafka auf diese Weise lokal festzulegen und zu begrenzen, wie es Eisner tut – das „jen“ [nur, einzig, allein] bildet eine Konstante der oben angeführten Zitate –, wo er ihm doch selbst als einer der Ersten zunächst gesamtdeutsche, dann Weltbedeutung vorausgesagt hat (u. a. Eisner 1930: 4; 1935)?19

7. František Kafka Einen guten Gegenentwurf zu Eisner lieferte bereits 1929 mit seinem Erinnerungsgedicht an Kafka dessen Freund Jiří Langer, der – ich zitiere und verweise auf Walter Koschmal – „Kafka aus der beengenden Verankerung zwischen deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur und Sprache, aus dem Kontext der Kleinen Literatur“ befreit, indem er „Kafka in globale kulturelle Kontexte“ einbringt (Koschmal 2010: 116; s. auch Tvrdík 2000). Allerdings ist in diesem Zusammenhang merkwürdig, dass er Kafkas Namen in seiner tschechischen Übersetzung des ursprünglich in hebräischer Sprache geschriebenen Gedichtes tschechisiert: „Za Frant. Kafkou“ [Auf František Kafka] (Tvrdík 2000: 198; Koschmal 2010: 109). Vielleicht will er dadurch seine Nähe zu Kafka ausdrücken, denn er selbst nennt sich dort Mordechaj Jiří Langer und nicht Georg. Die Tatsache, dass auch Kafkas zweiter, dem Zionismus nahestehender Freund Felix Weltsch seinen Nachruf in den Židovské zprávy [Jüdischen Nachrichten] mit „František Kafka“ überschreibt (Weltsch 1924),20 führt zu der Frage, die hier nicht beantwortet werden kann, ob der Zionismus in Prag dem Tschechischen näher gestanden habe als dem Deutschen. Zumindest Weltsch dürfte mit Kafkas Auffassung zur Namenfrage vetraut gewesen sein, die dieser Mitte Oktober 1918 in einem Brief an Max Brod darlegt (Brod/Kafka 1989: 252, 495 Anm.).21 18 In dem Kontext der 1950er-Jahre betrachtet, macht er aus der Not eine Tugend, denn ihm dürften zahlreiche westliche Kafka-Publikationen nicht zugänglich gewesen sein. 19 Rio Preisner warnt in den 1960er-Jahren mit Hinweis auf Eisner vor dem „nebezpečí lokálního zkreslení“ [der Gefahr der lokalen Entstellung] (Preisner 2003: 95). 20 Dieser Nachruf entspricht bis auf den Absatz über die Selbstwehr, der weggelassen ist, Weltschs deutschsprachigem Nachruf auf Franz Kafka in ebendieser (Weltsch 1995). 21 Brod und Kafka waren zu dieser Zeit in engem Kontakt mit Weltsch und Oskar Baum, wie die gegenseitigen Grüße in den Briefen zeigen. Zu Kafkas eigener Verwendung von ‚František‘ äußert sich Nekula (2006: 136f.).

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8. Das tschechische Schloß Eisners Übersetzung des Schlosses 1935, die, so Píša, die erste Übersetzung ins Tschechische überhaupt sei (Píša 1935), wurde als wahre Entdeckung und große literarische Sensation (o. A. 1936: 35), als Ereignis der Saison, wie es als Bildunterschrift zu einem Foto Kafkas heißt (o. A. 1935a), angekündigt. Eine Verlagsanzeige wirbt mit positiven Reaktionen auf den Roman im Ausland: Je to román, který svojí výjimečností dovedl nadchnout samé R. Rollanda, A. Gide-a i A. Bretona ke slovům nejvyšší chvály (o. A. 1935b). [Das ist ein Roman, der durch seine Einzigartigkeit selbst R. Rolland, A. Gide und A. Breton zu Worten höchsten Lobes begeistern konnte.]

Dabei wird Kafka als „pražan“ und „autor u nás neznámý“ [Prager und bei uns unbekannter Autor] eingeführt (o. A. 1936: 172), der jedoch durch viele slavische und tschechische Einflüsse in seinem Unterbewusstsein geprägt gewesen sei (Eisner 1935).22 – Die Zielgruppenorientierung, wie man heute sagen würde, beherrschte Eisner gut, was in späteren Texten noch deutlicher werden sollte.23 – Ganz so unbekannt, wie Píša und Eisner behaupten, war Kafka zu dieser Zeit nicht mehr, aber Eisner marginalisierte schon 1931 die bis dahin erschienenen Übersetzungen aus anderer Feder als „unbedeutende Kleinigkeiten“ „in einer verschollenen Edition, welcher kein Hund mehr nachbellt“ (Eisner 1936: 47; in dt. Übers. zit. n. Babler 1956: 182/14), was einige Zeitgenossen doch anders sahen, wie die polemische Reaktion von Jan Franz deutlich zeigt (Franz 1931).24 22 Diesen Gedanken entfaltet Eisner später dahingehend, dass nur die deutschsprachigen Künstler aus Böhmen Weltgeltung erlangt hätten, die „jeví důkladné infiltráty slovanské“ [gründliche slavische Infiltrate aufweisen]. Als Beispiele führt er neben Kafka Werfel, Rilke, Stifter, Ebner-Eschenbach, Mahler an (Eisner 1946). 23 In seinen Beiträgen im Věstník židovské obce náboženské v Praze wird die Problematik von Kafkas Werken eindeutig als jüdische identifiziert (z. B. Eisner 1946); um die Nachkriegsausgabe von Amerika zu retten, greift er hingegen zum ideologisch-kommunistischen Repertoire (zitiert bei Čermák 1991: Nr. 48; in deutscher Übersetzung bei Čermák 1994: 144). 24 Eisner scheint zu dieser Zeit tatsächlich nur die tschechische Ausgabe der Verwandlung, die „vor Jahren“ – es sind seitdem jedoch tatsächlich nicht mehr als zwei Jahre vergangen – erschienen sei, gekannt zu haben (Eisner 1931). Vier Jahre später nennt er neben der Ausgabe der Proměna [Verwandlung] zusätzlich kleine Kostproben in der Revue Řád [Der Orden] (Eisner 1935). – Eisner verfolgt offensichtlich nicht sehr gründlich, was seine Kollegen übertragen. Unter seinem Pseudonym Jan Ort äußert er sich 1937 dazu, dass nur eine Rezension des Zámek – eine Horas – erschienen sei ([Eisner] Ort 1937). Josef Hora ist

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Das tschechische Schloß (Zámek, 1935) konnte den Eindruck, dass die Tschechen im Gegensatz zum Rest der Welt verstummt seien, nicht falsifizieren, denn kurze Zeit später stöhnt Brod, der selbst zum Zámek das Nachwort geschrieben hatte, regelrecht auf: „A Praha? Praha mlčí.“ [Und Prag? Prag schweigt.] (Brod 1937/38) Prag schwieg nicht nur, sondern Prag las auch nicht, zumindest nicht Eisners Übersetzung des Schlosses. Es erschienen zwar zahlreiche Rezensionen (s. Anhang), der Prager Germanist Jan Krejčí hielt es für das beste Buch des Jahres (Krejčí 1936) und es fand zusammen mit der Proměna Aufnahme in den Klíč k dobré literatuře [Schlüssel zur guten Literatur] (Miklík 1938), doch verkaufte sich das Buch schlecht (Eisner 1957: 128). Und auch die es kauften und lasen, sprach es zu dieser Zeit nicht unbedingt an (Grögerová/ Hiršal 2007: 73; dt. 1994: 46;25 Hiršal 1991: 117). Der Hinweis, dass es sich um ein Buch „pro zralé čtenáře“ [für reife Leser] (Miklík 1938: 115) bzw. „jen pro vyspělé čtenáře“ [nur für fortgeschrittene Leser] handle, weil die „četba knihy není snadná“ [Lektüre des Buches nicht einfach] sei (K. 1936), hat wohl nicht gerade neugierig gemacht. Nach dem Krieg wurde Zámek hingegen ausschließlich mit großem Interesse rezipiert. Ludvík Kundera (sen.) bezeichnete es als sein interessantestes Lektüreerlebnis des Jahres 1946 (Kundera 1946). Als Jan Zábrana es in der Stalinzeit (1952) las, faszinierte ihn Kafka sofort „navždy, navždy“ [für immer, für immer] (Zábrana 2001: 622). Josef Škvorecký sah das Buch im Sommer 1944 (!), also während der Protektoratszeit, zufällig beim Vorübergehen im Schaukasten von Mánes und kaufte es sofort, weil er bereits anderes von Kafka gelesen hatte (Škvorecký 2004: 153). Alexej Kusák entdeckte das Buch bei Mánes sogar noch nach dem Krieg (Kusák 2003: 8). Erst 1947 – zwölf Jahre nach Erscheinen – schrieb Zdeněk Lederer dann schließlich, dass die Auflage von 3.000 Stück seit kurzer Zeit vergriffen sei (Lederer 1947). Die 10.000er-Auflage von Proces wurde 1958 innerhalb weniger Stunden komplett verkauft (Rozner 1959: 125). Andererseits fällt auf, dass bereits in der Mitte der 1930er-Jahre in Kunstkritiken wiederholt bildende Kunst mit Kafka verglichen oder erklärt wird, was voraussetzt, dass die Autoren davon ausgehen, dass Kafkas Texte bekannt

hingegen zur gleichen Zeit sehr wohl darüber informiert, dass sich zunächst Josef Florian und S. K. Neumann um Kafka verdient gemacht haben (Hora 1935/36: 134). 25 „Die deutsche Ausgabe ist eine von den Autoren und der Übersetzerin gekürzte Ausgabe des tschechischen Gesamttextes“, wie es im Impressum heißt (Grögerová/Hiršal 1994: 541). Deshalb finden sich in der deutschen Ausgabe nicht alle im Weiteren zitierten Stellen, die ich alle in meiner eigenen Übersetzung wiedergebe. Die Seiten der deutschsprachigen Ausgabe werden dennoch zur Orientierung angegeben.

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und vertrauter sind als die Arbeiten von Rudolf Krajc (Štyrský 1996: 104) oder die Kunst Marc Chagalls (Urzidil 1937: 234).

9. Aneignende Privatlektüren Allerdings sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die meisten tschechischen (v. a. Prager) Intellektuellen problemlos Kafka im Original lesen konnten und dies auch taten (Kautman 1966: 186-189). Es seien nur drei Zeugnisse angeführt, die dies verdeutlichen. René Wellek erinnert sich daran, Kafka noch vor dessen Tod in den 1920er-Jahren gelesen zu haben (Demetz 1990: 140). Škvorecký borgte sich 1944 bei dem Vater des Trompeters Pavel Bayerle Beim Bau der Chinesischen Mauer – weil es eine bei den Deutschen verbotene Frucht war. Schnell stellte sich für ihn heraus, dass die Erzählung Der Bau ihn existentiell betraf (Škvorecký 2004: 164-167). Hiršal erwarb 1946 antiquarisch die Erstausgaben von Kafkas Werken (Grögerová/ Hiršal 2007: 72; dt. 1994: 45). Wäre Kafka nicht im Original zugänglich gewesen, hätte es nicht zu den erwähnten ‚Schubladenübersetzungen‘ kommen können, von denen die erste – von Zdeněk Kalista – bereits zu Kafkas Lebzeiten entstand. Wie oben gezeigt wurde, sind es vor allem die kürzeren Prosastücke, die, dann gleich mehrfach, übersetzt wurden. Dies macht deutlich, dass es weniger um die Vermittlung eines fremdsprachigen Autors geht, als vielmehr um die eigene aneignende Lektüre. Zábrana erklärte es als vyjádření touhy, projev touhy po poznání toho zakazovaného, upíraného světa pravdivého psaní, který tehdy pro ně Kafka představoval. To, že vždycky šlo jen o pár povídek, jednu, dvě, tři – nikdy o celou knížku –, jenom svědčilo o krásné amatérské lásce, ne o povrchnosti – oni nebyli profíci, na víc nestačili, na nic neměli sitzfleisch, byli to vesměs ostýchaví milenci přeludu, kterým tehdy Franz Kafka byl (Zábrana 2001: 833). [Ausdruck einer Sehnsucht, Äußerung der Sehnsucht nach dem Kennenlernen dieser verbotenen, verleugneten Welt des wahrhaftigen Schreibens, die Kafka für sie damals darstellte. Dass es sich immer nur um ein paar Erzählungen handelte, eine, zwei, drei – nie um ein ganzes Buch –, zeugte nur von einer schönen dilettantischen Liebe, nicht von Oberflächlichkeit – sie waren keine Profis, zu mehr waren sie nicht fähig, für nichts hatten sie Sitzfleisch. Sie waren sämtlich verschämte Liebhaber des Phantoms, das damals Franz Kafka war.]

Die als so schwer verständlich geltenden Texte Kafkas scheinen aufgrund ihrer zunächst unkompliziert erscheinenden Sprache und kristallklaren Dik-

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tion regelrecht zur spontanen Übersetzung herauszufordern und die Hemmschwelle vor dem Text abzubauen. Vielleicht laden sie auch mehr als andere Texte zu einem Zwiegespräch mit dem Autor ein, in das die Übersetzer wie in einen Sog hineingeraten und dann nicht mehr hinauskommen, wenn deutlich wird, wie vieldeutig die Texte tatsächlich sind. Gut beschrieben findet man dies von Bohumila Grögerová. Im April 1954 gab ihr Hiršal seine Ausgabe von Ein Landarzt (Grögerová/Hiršal 2007:  73; dt. 1994:  45), schon im Juli händigte sie ihm stolz sieben übersetzte Kafka-Erzählungen aus (Grögerová/ Hiršal 2007: 80). Es handelte sich dabei um ihre ersten Übersetzungen überhaupt (Grögerová/Hiršal 2007: 74; dt. 1994: 46). Das Buch sprach sie fast schmerzhaft an: A tak začínám pilně a klopotně – ale bez zábran a bez rozpaků – překládat jednotlivé povídky – (Grögerová/Hiršal 2007: 73) – na první pokus Kafku! zakousla jsem si obří sousto; jenom slovo za slovem jak po žebříčku se dostávám dál, přes doslovný překlad až k řadám vět; a pak stojím před hádankou významu, smyslu; kolikerého vlastně? znovu a znovu přepisuju přeložené, vracím se, škrtám a nanovo; víc škrtám, než překládám; všecko je to mlžné, husté, „zäh“; a co teprve styl! labyrint problémů, otázek; snad je to divné, ale já se vůbec ničeho nebojím, ani na mysl mi nepřijde nedůvěřovat si; zmůžu to (Grögerová/Hiršal 2007: 74). [Und so beginne ich fleißig und mühselig – aber ohne Hemmungen und ohne Befangenheit – einzelne Erzählungen zu übersetzen – – als ersten Versuch Kafka! ich hab mich in einen gewaltigen Brocken verbissen; ich komme nur Wort für Wort wie auf einer Leiter vorwärts, über wortwörtliche Übersetzung bis hin zu Satzreihen; und dann stehe ich vor dem Rätsel der Bedeutung, des Sinnes; des wievielten eigentlich? wieder und wieder schreibe ich das Übersetzte um, kehre zurück, streiche und aufs Neue; ich streiche mehr, als ich übersetze; alles ist nebelhaft, undurchdringlich, zäh; und erst der Stil! ein Labyrinth von Problemen, Fragen; vielleicht ist es merkwürdig, aber ich habe vor überhaupt nichts Angst, mir kommt nicht einmal in den Sinn, mir nicht zu vertrauen; ich meistere das.]

Hiršal seinerseits ließ sich durch Grögerovás Übersetzung der Titelerzählung, die er als die charakterisiert, „v níž nahlížejí koňské hlavy do oken a červi rejdí v otevřené ráně“ [in der die Pferdeköpfe zu den Fenstern hereinschauen und Würmer in der offenen Wunde wimmeln], zum Schreiben eines Textes inspirieren „o otci, který vstává z mrtvých a mění se v němého chlapce s výhružnýma očima“ [über einen Vater, der von den Toten aufersteht und sich in einen stummen Jungen mit drohenden Augen verwandelt] (Grögerová/ Hiršal 2007: 81; dt. 1994: 49). Trotz der zitierten Kurzcharakterisierung sind es gerade andere Elemente der Erzählung, die man bei Hiršal wieder​finden

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kann,26 seien es Details, wie Tiergeräusche jenseits der Wand, die stickige Atmosphäre des Zimmers und der hinterherhängende Pelz oder die großen Fragen wie die nach der Erlösung durch den Tod. Bildete für Hiršal die LandarztErzählung zwar den Ausgangspunkt, so kann man doch erkennen, dass die Kenntnis von Kafkas Werk allgemein in seinen eigenen Text hineinspielt. Die Wiederkehr des Vaters nicht in seiner Vatergestalt, sondern in anderer Gestalt, die wahrnimmt, doch stumm ist, kommt uns nicht unbekannt vor. Außerdem kommt zur Sprache, dass der Protagonist als kleiner Junge bei einem Wutanfall den Vater verfluchte. Nun widerruft er seinen Fluch, um dem Vater die ewige Ruhe zu gewähren und ihn von der Wiedergängerei zu befreien. Das doppelte „Betrogen! Betrogen!“, mit dem Kafka seinen Text beendet (Kafka 1994b: 261), korrespondiert mit dem „Odvolávám! Odvolávám!“ [Ich widerrufe! Ich widerrufe!] bei Hiršal (Grögerová/Hiršal 2007: 82f.).27 Im Gegensatz zu Hiršals Text(-en) und auch zu Jiří Kolářs bedeutungsvoller Wahl eines Kafka-Zitats als Motto für den letzten Text in seinen Ódy a variace (1941-1944) [Oden und Variationen], die 1946 erschienen sind (Kolář 1992: 121), scheint Ivo Fleischmanns direkte Nennung Kafkas in seiner Píseň o růži [Lied von der Rose] eher oberflächlich: „Půda je obraz pražského ghetta / z Kafkových básní.“ [Der Boden ist ein Bild des Prager Ghettos / aus den Gedichten Kafkas] (Fleischmann 1948: 17).

10. Offizielle Kafka-Rezeption in den späten 1950er-Jahren Beeindruckend ist, wie langfristig und strategisch sorgfältig die Vorbereitungen für die Veröffentlichung von Eisners Aufsatz in der Zeitschrift Světová literatura [Weltliteratur] waren, die 1957 der Ausgabe des Proces (1958) vorausging. Jan Řezáč, der Chefredakteur der Zeitschrift, gab selbst 1946 eine bibliophile Ausgabe mit Texten aus der Betrachtung heraus, war also ein aktiver KafkaLeser. Um den Namen Kafkas wieder ‚salonfähig‘ zu machen, wurde in einem ersten Schritt 1956 ein kurzer Artikel des ‚fortschrittlichen‘ deutschen Autors 26 Die Erzählung selbst fehlt in der deutschen Ausgabe. 27 Auch weitere Texte von Hiršal aus dieser Zeit wie Králík k smrti odsouzený [Králík (d. i. Kaninchen) zum Tode verurteilt] oder Krajiny viděné za jízdy [Während der Fahrt gesehene Landschaften], in denen es um eine nicht näher definierte Schuld geht, die dennoch drakonische Strafen nach sich zieht, scheinen stark von Kafka beeinflusst zu sein (Hiršal 1992: 98-102, 154f.).

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F.  C.  Weisskopf aus dem Jahre 1945 publiziert, in dem dieser die existentialistische Interpretation Kafkas ablehnte und Kafkas Beziehung zur tschechischen Welt betonte (Weisskopf 1956). Damit waren die Zensoren positiv auf Kafka eingestimmt, sodass im Folgejahr eine Übersetzung des Baus und Eisners Studie erscheinen konnten. Obwohl Eisner das soziale Fühlen Kafkas, seine Kenntnis des Tschechischen, seine Liebenswürdigkeit und den Antifaschismus Milenas herausstrich und ausdrücklich die Psychoanalyse ablehnte (Škvorecký 2004: 168f.), reagierte das Zentralkomitee der kommunistischen Partei negativ, während z. B. die italienischen Kommunisten diese Studie als Kleinod der marxistischen Literaturgeschichte feierten (Škvorecký/Salivarová 1991: 18). Jedenfalls war damit dem Comeback Kafkas der Boden bereitet. Weisskopf als Legitimierung für ihre Kafka-Lektüre nutzten ebenfalls Vladimír Dubský und Mojmír Hrbek gleich zu Beginn ihres 1957 erschienenen Aufsatzes O Franz Kafkovi [Über Franz Kafka] (Dubský/Hrbek 1957: 415). Diese neuen Bemühungen um Kafka stießen dennoch auf polemische Angriffe z. B. im Rudé právo [Roten Recht], in dem Klage erhoben wurde, dass der 15. Todestag des Nationalkünstlers Vladislav Vančura nicht beachtet worden sei, aber die Kulturredakteure und Vertreter des Schriftstellerverbandes [p]atrně mají tolik jiných starostí, na příklad popularisovat dílo tak vyhraněného subjektivisty, jako byl Franz Kafka, že na tuhletu tak samozřejmou kulturní povinnost jim prostě nezbyl čas (r. 1957). [haben wahrscheinlich so viele andere Sorgen, zum Beispiel das Werk eines so ausgeprägten Subjektivisten, wie es Franz Kafka war, zu popularisieren, dass ihnen für diese selbstverständliche kulturelle Pflicht einfach keine Zeit geblieben ist.]

11. Schluss Das für die frühe Rezeption zu beobachtende Auseinanderklaffen zwischen der eher zurückhaltenden tschechischen und der eher euphorischen fremden Sicht auf Kafka zeigt sich darin, was Prag-Touristen in Prag suchen. Nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg löste es unter den Pragern Verwunderung aus, wenn Besucher sich nach Kafka-Stätten erkundigten und Prag allein aus ihrer Kafka-Lektüre kannten (z. B. Dr. I. 1947; Hoffmeister 1957; Kubka 1954; Štg 1947). Bereits 1927, also drei Jahre nach Kafkas Tod, wurde dies als Kuriosum wahrgenommen. Die Zeitung Národní politika [Nationale Politik] übernahm

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aus der Frankfurter Zeitung eine 19 Punkte umfassende ‚Anleitung‘ für PragBesucher. Unter Punkt 14 ist dort zu lesen: Neopomeňte navštívit malebné trhy, ovocný, květinářský a zelinářský, Hradčany, a jste-li literární gourmand – tím byste v Praze vlastně měl býti – dejte si ukázat od znalce pokoj, kde Franz Kafka psal svou velkolepou, tvrdou, neúprosnou němčinou (o. A. 1927). [Versäumen Sie es nicht, die malerischen Märkte, den Obst-, Blumen- und Gemüsemarkt zu besuchen, den Hradschin, und wenn Sie ein literarischer Gourmets sind – der sollten Sie in Prag eigentlich sein –, lassen Sie sich von einem Kenner das Zimmer zeigen, wo Kafka in seinem großartigen, harten, unerbittlichen Deutsch geschrieben hat.]

Das Interesse an authentischen Kafka-Stätten und an Kafkas persönlicher Geschichte bedient erstmalig der Band Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag] (1947), dem bis heute eine Vielzahl ähnlicher Publikationen tschechischer und fremder Provenienz folgen sollten, mit denen Eisners Gleichung ‚Kafka = Prag‘ (welches?) festgeschrieben worden ist. Mit dem Erscheinen von Proces (1958) und verschiedenen weiteren KafkaÜbersetzungen in den 1960er-Jahren beginnt eine neue Epoche der KafkaRezeption: Vzpomínám na ty večery, kdy někde někdo předčítal Kafkovy povídky, s velkou tesknotou. Všechny potom vyšly knižně, takže tohle se už nevrátí (Zábrana 2001: 833). [Ich erinnere die Abende mit großer Wehmut, wenn irgendwo irgendwer Erzählungen Kafkas vorlas. Alle erschienen dann in Buchform, dies kehrt also schon nicht mehr zurück.]

Die Intensität, mit der Kafka in den 1950er-Jahren, als offiziell keine Werke von und über ihn erscheinen konnten,28 rezipiert worden ist, hat wesentlich Anteil daran, dass er Ende der 1950er-Jahre nicht ‚neu entdeckt‘ werden, sondern ‚nur‘ von der Unter- an die Oberfläche gelangen musste.

28 In Übersetzungen fremdländischer Autoren (Fast, Kałużyński, Warner) durfte er dennoch (teils negative) Erwähnung finden, „bez bližších stop vedoucích k přesnějšímu odhalení“ [ohne nähere Spuren, die zu einer konkreteren Enthüllung] (Švanda 2006:  126) geführt hätten. Aber die Neugier, wer sich hinter diesem Namen verberge, war dadurch geweckt.

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Übersicht der Kafka-Publikationen bis 195729 Übersetzungen Selbständige Buchausgaben 1928 Starý list [Ein altes Blatt], P. Ludvík Vrána. Litomyšl: Josef Portman. 1929 Zpráva pro akademii [Ein Bericht für eine Akademie], P. Ludvík Vrána. Litomyšl: Josef Portman. Sen [Ein Traum], Axel [= Gustav] Janouch, als Einleitung zu Coester, Otto: Proměna. Šestero konfigurací k stejnojmenné povídce Fr. Kafky [Die Verwandlung. Sechs Konfigurationen zu der gleichnamigen Erzählung Fr. K.s]. Stará Říše: Marta Florianová. Proměna [Die Verwandlung], P. Ludvík Vrána/František Pastor. Stará Říše: Marta Florianová. 1931 Venkovský lekář [Ein Landarzt], P. Ludvík Vrána. Litomyšl: Josef Portman. 1935 Zámek [Das Schloß], Pavel Eisner. Praha: Spolek výtvarných umělců Mánes. 1946 Pozorování (= Serie Obluda, sv. 2, bibliofilie) [=  acht Texte o. T. aus Betrachtung: Der Kaufmann; Zerstreutes Hinausschaun; Der Nachhauseweg; Die Vorüberlaufenden; Kleider; Der Fahrgast; Die Abweisung; Die Bäume], Jan Řezáč. Praha: Al. Chvála. 1958 Proces [Der Proceß], Pavel Eisner. Praha: Československý spisovatel.

29 Diese Übersicht basiert auf der in dem Literaturverzeichnis angeführten Sekundärliteratur, auf den Bibliographien von Jelínková (2010: 107-400) und Drews (2011), der retrospektiven Bibliographie der tschechischen Literatur 1775-1945 des Instituts für tschechische Literatur an der Akademie der Wissenschaften der ČR (ÚČL AV ČR) sowie eigenen Recherchen. Sie erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Soweit es möglich war, wurden die Angaben aus fremden Quellen überprüft und gegebenenfalls korrigiert.

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Übersetzungen in Periodika und Büchern 1920 Topič [Der Heizer], Milena Jesenská. – In: Kmen [Der Stamm] (22.04.), 61-72. Nešťastný. Z připravené knihy překladů Kafkovy prózy [Unglücklichsein. Aus dem geplanten Buch mit Übersetzungen von Kafkas Prosa], Milena Jesenská. – In: Tribuna [Die Tribüne] (16.07.), 1-2. Náhlá procházka; Výlet do hor; Neštěstí mládence; Kupec; Cesta domů; Ti, kteří běží mimo [Der plötzliche Spaziergang; Der Ausflug ins Gebirge; Das Unglück des Junggesellen; Der Kaufmann; Der Nachhauseweg; Die Vorüberlaufenden], Milena Jesenská. – In: Kmen [Der Stamm] (09.09.), 308-310. Zpráva pro akademii [Ein Bericht für eine Akademie], Milena Jesenská. – In: Tribuna [Die Tribüne] (26.09.), 1-4. Před zákonem [Vor dem Gesetz], Milena Illová. – In: Právo lidu, Dělnická besídka [Recht des Volkes, Arbeiterfeuilleton] (24.10.), 170. 1922 Soud [Das Urteil], Milena Jesenská. – In: Cesta [Der Weg] 1992/26-27 (22.12.), 369-372. Závodníkům na uváženou [Zum Nachdenken für Herrenreiter], Jar[oslav] Dohnal [= Milena Jesenská?]. – In: Tribuna [Die Tribüne] (24.12.), Vánoční besídka [Weihnachtsfeuilleton] , 8. 1924 Starý list [Ein altes Blatt]; Císařské poselství [Eine kaiserliche Botschaft], Jan Grmela. – In: Apollon [Apollo] (20.07.), 300f.; 313. Bratrovražda; Na galerii [Ein Brudermord; Auf der Galerie], Jan Grmela. – In: Cesta [Der Weg] (25.07.), 733f. Zpráva pro akademii [Ein Bericht für eine Akademie], Jan Grinela [= Grmela]. – In: Rudé právo, Dělnická besídka [Rotes Recht, Arbeiterfeuilleton] (17.08., 24.08.), 1f. bzw. 1. Nejbližší vesnice [Das nächste Dorf], Otto F. Babler. – In: Eva (Olomouc/Olmütz) 1924/89, 237f. Šakalové a Arabi [Schakale und Araber], Jan Grmela. – In: Pramen [Die Quelle] (Plzeň/ Pilsen) 15.10., 58-60. 1925 Starý list [Ein altes Blatt], Jan Grmela. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] (25.12.), Obrazová příloha [Bildbeilage], 4. 1926 Před zákonem [Vor dem Gesetz], Jan Grmela. – In: Kritika [Kritik] (28.05.), 221. Bratrovražda [Ein Brudermord], Miloš Hlávka. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] (19.12.), Obrazová příloha [Bildbeilage], 1f. 1927 Venkovský lekář [Ein Landarzt], Jitka Skaláková. – In: Tvar. Literární a umělecký měsíčník [Die Form. Literarisches und künstlerisches Monatsheft] (28.12.), 195-199.

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1929 Arabové a šakali [Schakale und Araber], Jitka Skaláková. – In: Národní osvobození [Nationale Befreiung] (20.01.), Beilage Hodina [Stunde], 1. Nový advokát; Venkovský lékař; Před zákonem; Nejbližší ves [Der neue Advokat; Ein Landarzt; Vor dem Gesetz; Das nächste Dorf], P. Ludvík Vrána. – In: Archy [Bögen] (Stará Říše) 1929/13, o. P. Na galerii; Šakalové a Arabi; Bratrovražda; Starý list [Auf der Galerie; Schakale und Araber; Ein Brudermord; Ein altes Blatt], P. Ludvík Vrána. – In: Archy [Bögen] (Stará Říše) 1929/14, o. P. Zpráva pro akademii; Výlet do hor; Stromy; Návštěva na důle; Císařské poselství; Mimoběžící; Starost hospodářova; Náhlá procházka; Šaty; Přání státí se Indiánem [Ein Bericht für eine Akademie; Der Ausflug ins Gebirge; Die Bäume; Ein Besuch im Bergwerk; Eine kaiserliche Botschaft; Die Vorüberlaufenden; Die Sorge des Hausvaters; Der plötzliche Spaziergang; Kleider; Wunsch, Indianer zu werden], Ludvík Vrána. – In: Archy [Bögen] (Stará Říše) 1929/15, o. P. Císařské poselství [Eine kaiserliche Botschaft], J. Grmela. – In: Národní osvobození [Nationale Befreiung] (20.10.), Beilage Hodina [Stunde], 1. 193130 Ve chrámě [sic] svatovítském (Z románu „Proces“) [Im Veitsdom (Aus dem Roman Proceß)] [entspricht Kafka 1990a:  279-304], Pavel Eisner. – In: Ders. (Hg.), Výbor z krásné prózy československé. Němci v českých zemích [Auswahl aus der tschechoslowakischen Belletristik. Deutsche in den böhmischen Ländern]. Praha: Sfinx (Boh. Janda), 211-230. První žal [Erstes Leid], František Mastík. – In: Světozor [Weltblick] (31.12.), 110f. 1932 Umělec v hladovění [Ein Hungerkünstler], Jetřich Lipanský [=  František Mastík]. – In: Světozor [Weltblick] (17.03.), 193-196 u. 200-202. Při stavbě čínské zdi [Beim Bau der chinesischen Mauer], Timotheus Vodička. – In: Řád. Revue pro kulturu a život [Der Orden. Revue für Kultur und das Leben] 1932/2, 52-60. 1933 Manželé [Das Ehepaar], Timotheus Vodička. – In: Listy pro umění a kritiku [Blätter für Kunst und Kritik] 1933/4, 108-111. 1934 Před zákonem [Vor dem Gesetz], Jan Franz. – In: Řád. Revue pro kulturu a život [Der Orden. Revue für Kultur und das Leben] 1933/1, 18f. 1937 Přímluvčí [Fürsprecher], Hanuš Bonn. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (09.01.), 2. 30 Pick 1930 zufolge sollen auch Übersetzungen/eine Übersetzung Kafkas in Sever a východ [Nord und Ost] (Verlag Müller a spol. in Turnov) erschienen sein. Diese Aussage kann nicht bestätigt werden. Weder in der Zeitschrift selbst (1[1925]-6[1930]) noch in einem Band der Edition findet sich ein Text Kafkas.

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Před zákonem [Vor dem Gesetz], Jan Marek. – In: Akord, arch Poesie [Akkord, Bogen Poesie] 1937/2, 36f. Nejbližší ves [Das nächste Dorf], Jan Marek. – In: Akord, arch Poesie [Akkord, Bogen Poesie] 1937/2, 41. O podobenstvích [Von den Gleichnissen], Hanuš Bonn. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (23.04.), 1. Městský znak [Das Stadtwappen], Pavel Eisner. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (23.04.), 1f. Z deníku [Aus dem Tagebuch] [entspricht Kafka 1990b: 134, 53f., 41f., 460f.; 1992: 234f., 46, 330, 254, 354], Hanuš Bonn. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (27.06.), 1f. Praha [Prag] [d. i. „Menschen, die über dunkle Brücken gehn“ im Brief an Oskar Pollak vom 09.11.1903; entspricht Kafka 1994a: 21f.], Viktor Fischl. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (12.08.), 1. Odmítnutí [Die Abweisung], Hanuš Bonn. – In: Listy pro umění a kritiku [Blätter für Kunst und Kritik] 1937/11, 250-252. 1938 Návštěvou u mrtvých [Besuch bei den Toten] [entspricht Kafka 1992: 227-230], Hanuš Bonn. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (24.02.), 2. 1947 Zpráva pro Akademii; Nový advokát; Na galerii; Starý list; Šakali a Arabové; Šaty; Na rozmyšlenou pánskému jezdci; Císařské poselství [Ein Bericht für eine Akademie; Der neue Advokat; Auf der Galerie; Ein altes Blatt; Schakale und Araber; Kleider; Zum Nachdenken für Herrenreiter; Eine kaiserliche Botschaft], Karel Projsa. – In: Listy [Blätter] (15.02.), 402-412. Prvý žal [Erstes Leid], Ludvík Kundera. – In: Mladé archy [Junge Bögen] (Mladá Boleslav) 1947/5, 359-361. Ortel [Das Urteil], Ludvík Kundera. – In: Kvart [Quart] (01.09.), 172-180. 1947/48 Z deníku Franze Kafky [Aus dem Tagebuch Franz Kafkas] [entspricht Kafka 1992: 288, 234f.; 1993: 401f.], Ludvík Kundera. – In: List. Sdružení moravských spisovatelů [Das Blatt. Vereinigung mährischer Schriftsteller] 1947-48/5, 193f. 1948 Z deníku Franze Kafky [Aus dem Tagebuch Franz Kafkas] [entspricht Kafka 1992: 234f.], Ludvík Kundera. – In: Mladé archy [Junge Bögen] 1948/1, 28. 1953 Dopisy Mileně [Briefe an Milena], Jaromír Měšťan. – In: Sklizeň [Die Lese] (Hamburg) 1953/10, 6-8. 1957 V trestanecké osadě [In der Strafkolonie], Zbyněk Sekal. – In: Deset novel [Zehn Novellen]. Praha: Československý spisovatel, 285-323.

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Anne Hultsch Rána na vrata dvorce; Jezdec na uhláku; V noci; Odjezd; Kormidelník [Der Schlag ans Hoftor; Der Kübelreiter; Nachts; Der Aufbruch; Der Steuermann], Zbyněk Sehal [= Sekal]. – In: Nový život [Neues Leben] 1957/4, 436-439. Úvahy o hříchu, lítosti, naději a pravé cestě [Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg], Rio Preisner. – In: Světová literatura [Weltliteratur] 1957/3, 130f. Doupě [Der Bau], Pavel Eisner. – In: Světová literatura [Weltliteratur] 1957/3, 132-153. Kříženec [Eine Kreuzung], Josef Král. – In: Host do domu [Gast ins Haus] 1957/8, 358.

Von ihrer Entstehungszeit bis 1957 unveröffentlichte Übersetzungen (mit Quellenangabe) noch zu Kafkas Lebzeiten Auszug aus Die Wandlung [gemeint ist: Die Verwandlung], Zdeněk Kalista (Kalista 1965: 94). 1940er V kárném táboře; Ortel; Venkovský lekář; Bádání jednoho psa [In der Strafkolonie; Das Urteil; Ein Landarzt; Forschungen eines Hundes], Jan Hanč (Čermák 1968: 470; Grögerová/Hiršal 2007: 81). 1948 Ortel [Das Urteil], Rio Preisner (Čermák 1968: 473). Amerika [Amerika], Karel Projsa (Grögerová/Hiršal 2007: 81). [Das Urteil], Rudolf Vápeník (Čermák 1994: 143). 1948-1950 Zamítnutí [Die Abweisung], Jan Rychlík (Grögerová/Hiršal 2007: 81). 1951 Ortel [Das Urteil], Josef Schwarz (Fuková 2005: 23). 1951-52 Při stavbě čínské zdi [Beim Bau der chinesischen Mauer], Miroslav Zůna (Zůna 2007). 1953-55 Sen; Psovy výzkumy; V naší synagoze; První žal; Malá žena; Lovec Gracchus; Malá bajka; Poseidon; Společenství; Odjezd; Návrat domů; Kormidelník; Městský znak; Za noci; Sup; Paralipomena; Káča; O podobenstvích; Nech toho!; Deníkové poznámky z jiných sešitů [Ein Traum; Forschungen eines Hundes; In unserer Synagoge; Erstes Leid; Eine kleine Frau; Der Jäger Gracchus; Kleine Fabel; Poseidon; Gemeinschaft; Der Aufbruch; Heimkehr; Der Steuermann; Das Stadtwappen; Nachts; Der Geier; Paralipomena; Der Kreisel; Von den Gleichnissen; Gibs auf!; Tagebuchaufzeichnungen aus anderen Heften], Zbyněk Sekal (Medek 1995: 158, 187, 390). 1954 Venkovský lekář; Sen; Bratrovražda; Jedenáct synů; Starost hospodáře; Návštěva v dole; Před zákonem [Ein Landarzt; Ein Traum; Ein Brudermord; Elf Söhne; Die Sorge des

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Hausvaters; Ein Besuch im Bergwerk; Vor dem Gesetz]), Bohumila Grögerová (Grögerová/ Hiršal 2007: 81).

Kafka-Literatur Bücher 1947 Siebenschein, Hugo/Muir, Edwin/Utitz, Emil/Demetz, Peter: Franz Kafka a Praha. Vzpomínky, úvahy, dokumenty [F. K. und Prag. Erinnerungen, Abhandlungen, Dokumente]. Praha: Vladimír Žikeš.

Beiträge in Periodika und Büchern – Nekrologe/Todesnachrichten 1924 o. A. – In: Rudé právo. Večerník [Rotes Recht. Abendzeitung] 1924/129 (04.06.), [3]. 04.06.31 o. A. – In: České slovo [Tschechisches Wort] 05.06., 4. (o. A. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] [05.06.]).32 o. A.: Pražský německý básník Franz Kafka zemřel [Der Prager deutsche Dichter F. K. ist gestorben]. – In: Národní osvobození [Nationale Befreiung] 1924/124 (05.06.), 5. o. A.: Básník a spisovatel F. Kafka zemřel [Der Dichter und Schriftsteller F. K. ist gestorben]. – In: Tribuna [Die Tribüne] 1924/132 (05.06.), 3. o. A.: Úmrtí německého básníka [Der Tod eines deutschen Dichters]. – In: Večerník Právo lidu [Abendausgabe des Rechts des Volkes] 1924/129 (05.06.), 4. o. A. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] 1924/133 (06.06.), 2. o. A.: Franz Kafka. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 1924/284 (06.06.), 8. Jesenská, Milena: Franz Kafka. – In: Národní listy [Volksblätter] 1924/156 (06.06.), 5. 31 Janouch (1925: 1) stellt seinem Artikel ein Zitat aus einem Nachruf voran, das mit den Worten „Včera 3. června 1924 zemřel […]“ [Gestern, am 3. Juni 1924, starb ...] beginnt. Dieser Text konnte noch nicht ausfindig gemacht werden. 32 Dass bereits am Tag zuvor eine Notiz über den Tod Kafkas veröffentlicht worden sei, bringt die Ausgabe vom 06.06. In den mir zugänglichen Teilen der Ausgaben 282 und 283 vom 05.06. konnte ich diese Notiz nicht finden, allerdings fehlten von dem Exemplar der Morgenausgabe in der Tschechischen Nationalbibliothek die ersten beiden Seiten.

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Anne Hultsch Weltsch, Felix: František Kafka. – In: Židovské zprávy [Jüdische Nachrichten] 1924/23 (06.06.), 7. Todesanzeige der Familie für František Kafka. – In: Národní listy [Volksblätter] 1924/160 (11.06.), 8].33 Pujmanová-Hennerová, Marie. – In: Tribuna [Die Tribüne] 1924/140 (15.06.), 6. G.: Franz Kafka zemřel [F. K. ist gestorben]. – In: Apollon [Apollon] 1924/19-20 (20.07.), 320. Zh[áněl], Ig[nát]: Osud básníka [Das Schicksal eines Dichters]. – In: Vlast. Měsíčník pro poučení a zábavu [Vaterland. Monatsheft für Unterhaltung und Vergnügen] 40/10-11 (Juli/ August), 496. [Grmela, Jan]. – In: Rudé právo, Dělnická besídka [Rotes Recht, Arbeiterfeuilleton] (17.08.), 1.34 Grmela, J.: Franz Kafka †. – In: Pramen [Die Quelle] 5/1 (15.09.), 47. N[eumann, S. K.]. Kulturní kronika [Kulturchronik]. – In: Komunistická revue [Kommunistische Revue] 1924/3 (15.09.), 478f., hier: 479.

1924/25 r. i. [Illový, Rudolf]: Franz Kafka. – In: Akademie (příloha Rudé květy) [Akademie (Beilage Rote Blüten)] 28/20, 16. 1932/33 Langer, Jiří: Z hebrejských básní. K úmrtí básníkovu (Za Frant. Kafkou) [Aus den hebräischen Gedichten. Zum Tod des Dichters (Auf F. K.)]. – In: Středisko [Das Zentrum] (Moravský Krumlov/Mährisch Krumau) 1932-33/3, 94f.

Beiträge in Periodika und Büchern – Proměna-Rezension 1929/30 F[učík, Bedřich]: Dr.: Franz Kafka/Proměna [F. K./Die Verwandlung]. – In: Eva 2/15, 25 [1998 in: Ders., Kritické příležitosti I [Kritische Anlässe I]. Praha, 301f.].

33 Auch die deutsche Todesanzeige – für Franz Kafka – im Prager Tagblatt (1924/136:  13) erscheint erst am 11. Juni, dem Tag der Beisetzung, und nicht, wie Čermák angibt, bereits am 4. Juni (Čermák 2009: 137). 34 In der Ausgabe vom 24.08. befindet sich kein Sekundärtext, sondern nur der zweite Teil der Zpráva pro akademii (vs. Čermák 2000: 33, Anm. 19).

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Beiträge in Periodika und Büchern – Zámek-Rezensionen 1935 Vodička, T[imotheus]: Ke Kafkově „Zámku“ [Zu K.s „Das Schloß“]. – In: Rozhledy. Literatura/Věda/Umění [Rundschau. Literatur/Wissenschaft/Kunst] 6/35-36 (28.11.), 273f. 1935/36 Hora, Josef: Zámek Franze Kafky [Das Schloß F. K.s]. – In: Almanach Kmene [Almanach des Stammes], 134-137. 1936 o. A.: Dílo duchovní výše [Ein Werk von geistiger Höhe]. – In: Ranní noviny [Morgenzeitung] 1936/13, 4. Dančová, Zlata: Franz Kafka: Zámek. – In: Slovenské smery [Slowakische Richtungen] 4/2 [= November], 75-78. ev.: Franz Kafka: Zámek. – In: Literární kruh [Literaturkreis] 4/1, 14. jh [Hora, Josef]: Kafkův labyrint světa. Franz Kafka: Zámek […] [K.s Labyrinth der Welt]. – In: České slovo [Tschechisches Wort] 1936/3, 8. K.: Franz Kafka: Zámek. – In: Česká osvěta [Tschechische Kultur] 1936/6 [= Februar], 228. Kropáč, F.: Román Fr. Kafky „Zámek“ [Der Roman F. K.s „Das Schloß“]. – In: Lumír 62/5, 303. P[íša], A. M.: Román lidské samoty a bludnosti [Ein Roman menschlicher Einsamkeit und Ausweglosigkeit]. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] (24.01.), 6. Renč, Václav: Ke Kafkově románu Zámek [Zu K.s Roman Das Schloß]. – In: Listy pro umění a kritiku [Blätter für Kunst und Kritik], 126f.

Beiträge, die hauptsächlich Kafka bzw. Publikationen über ihn gewidmet sind 1920 [Neumann, S. K.] [würdigende redaktionelle Anmerkung]. – In: Kmen [Der Stamm] (22.04.), 72. 1925 Janouch, Gustav: František Kafka. – In: Hlas pravdy. Neodvislý deník komunistický 1/58, příloha Zábavné čtení. – Literatura [Die Stimme der Wahrheit. Unabhängige kommunistische Tageszeitung, Beilage Unterhaltsame Lektüre. – Literatur], 1f. 1926 [Václavek, Bedřich] drv.: Fr. Kafkovi [...] [= Nachricht über Studie W. Petrys über K. in Die neue Bücherschau]. – In: Národní osvobození [Nationale Befreiung] 1926/134, 4.

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1927 o. A.: 3. Kafka, Franz. – In: Masarykův slovník naučný. 3 [Masaryks Konversationslexikon]. Praha: Československý kompas, 852. 1928 o. A.: Anekdota. O spisovatelích [Anekdote. Über Schriftsteller]. – In: Tribuna [Die Tribüne] 1928/108, 6. 1931 Eisner, Pavel: Francis Jackdaw. – In: Blok 1931/2 [1936 in: Janouch, Jaroslav/Heyduk, Josef (Hgg.), Blok. Sborník pro literaturu a kritiku [Block. Sammelband für Literatur und Kritik]. Praha: Emil Hauf, 45-47]. F[ran]z, J[an]: Pan Pavel Eisner [Herr P. E.]. – In: Tvar [Die Form] 1931/3-4, 194 [2006 in: Ders., Eseje, kritiky, dopisy [Essays, Kritiken, Briefe]. Praha: Triáda, 89f.]. 1932 jl: Franz Kafka [in die Argumentation sind längere übersetzte Passagen aus dem Proceß eingeflochten]. – In: Gedeon. Revue en miniature. Pro duchovní život přítomnosti a pro přátele Palestiny [Gedeon. Revue en miniature. Für das geistige Leben der Gegenwart und für Freunde Palästinas] 1932/1 u. 1932/2, jeweils 1-6. 1934 J[i]r[át, Vojtěch]: Kafka 2. Franz. – In: Ottův slovník naučný nové doby. Dodatky k velikému Ottovu slovníku naučnému [Ottos Konversationslexikon der Neuzeit. Ergänzungen zu Ottos Großem Konversationslexikon]. Bd. 3,1. Praha: J. Otto, 311. 1934/35 Rang, Bernhard: Franz Kafka (übersetzt von Jan Franz). – In: Řád. Revue pro kulturu a život [Der Orden. Revue für Kultur und das Leben] 1934-35/1-2, 19-29. 1935 Brod, Max: Doslov [Nachwort]. – In: Kafka, Franz: Zámek [Das Schloß]. Praha: Spolek výtvarných umělců Mánes, 389-395. E[isner], P[avel]: Soubor Franze Kafky [Sammlung F. K.s] [= zu den ersten vier Bänden der Schocken-Ausgabe]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 1935/429, 7. Wellek, René/Lesná-Krausová, Milada/Eisner, Pavel: Trilogie Samoty a Hledání Boha. Franz Kafka. Pře – Zámek – Amerika [Trilogie der Einsamkeit und Gottsuche. F. K. Der Proceß – Das Schloß – Amerika]. – In: Dies. (Hgg.), Co číst? z literatur germánských posledních deseti let [Was soll man lesen? Aus den germanischen Literaturen der letzten zehn Jahre], Praha: Fr. Borový, 151-153. 1936 Brod, Max: Franz Kafka [= Brod 1935]. – In: Židovské zprávy [Jüdische Nachrichten] (31.01.), 1936/4, 5f. 1937 o. A.: Telegraf mluví s Maxem Brodem. Kniha o pražském spisovateli [Telegraf spricht mit M. B. Ein Buch über einen Prager Schriftsteller]. – In: Telegraf 1937/239, 5.

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Bonn, H[anuš]: Deníky Franze Kafky [Die Tagebücher F. K.s][= Rezension von Tagebücher und Briefe]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 1937/390, 7. [Eisner, Pavel] Ort, Jan: Drobná próza Franze Kafky [Kleine Prosa F. K.s] [= Rezension von Beschreibung eines Kampfes]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 1937/82, 4. Groethuysen, Bernard: O Kafkovi [Über K.]. – In: Listy pro umění a kritiku [Blätter für Kunst und Kritik], 388-397. Jehl, Ludvík: Nad Kafkovými deníky [Über K.s Tagebüchern] [= Rezension von Tagebücher und Briefe]. – In: Rozhledy. Literatura/Věda/Umění [Rundschau. Literatur/Wissenschaft/ Kunst] 6/38-39, 295. Rops, Daniel: Vesmír zoufalství [Universum der Verzweiflung] (übersetzt von Jan Marek). – In: Akord, arch Poesie [Akkord, Bogen Poesie] 1937/2, 34-42. 1937/38 Brod, Max: Básník a světová sláva (Franz Kafka) [Der Dichter und der Weltruhm]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 1937-38/13, 3. 1938 o. A.: Max Brod: Franz Kafka: Eine Biographie [= Rezension]. – In: Věstník židovské obce náboženské v Praze [Mitteilungen der jüdischen Religionsgemeinschaft in Prag] 5/8, 91. o. A.: Kafka Franz. – In: Komenského slovník naučný. Svazek VI [Comenius’ Konversationslexi­ kon. Bd. 6]. Praha: Nakladatelství a vydavatelství Komenského slovníku naučného, 121. Stroh, Heinz: Brodova kníha o Kafkovi [Brods Buch über K.] [= Rezension]. – In: Židovské zprávy [Jüdische Nachrichten] 21/3, 2. 1945/46 o. A.: [= über K.s wachsenden Ruhm]. – In: Kulturní politika [Kulturpolitik] 1945/4 (05.10.), 5. o. A.: [= über Werkausgabe F. K.s in Frankreich]. – In: Kulturní politika [Kulturpolitik] 1945/11 (22.12.), 2. 194635 o. A.: Franz Kafka v Americe [F. K. in Amerika]. – In: Severočeská Mladá fronta [Nordböhmische Junge Front] 1946/295 (25.12.), 4. ki, Franz Kafka v Americe. – In: Svobodné noviny [Freie Zeitung] 1946/296, 8 [dass. wie o.]. Mareš, Michal: Setkání s Franzem Kafkou [Begegnungen mit F. K.]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 15/5-6, 85f. Řezáč, Jan: Bezpříkladná závěť [Beispielloses Vermächtnis] [= Nachwort]. – In: Kafka, Franz, Pozorování [Betrachtung]. Praha: Al. Chvála, [24f.]. Vodička, Timotheus: Poznámky ke Kafkově „Zámku“ [Anmerkungen zu K.s „Das Schloß“] [1943]. – In: Ders., Obraz, maska a pečeť. Essaye [Bild, Maske und Siegel. Essays]. Brno: Brněnská tiskárna, 46-65.

35 Die Národní osvobození (diese Zeitung erschien bis 1948), die Kautman zufolge nach 1945 Beiträge zu Kafka abgedruckt haben soll (Kautman 1966: 191), war mir nicht zugänglich.

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1947 Camus, Albert: Naděje a absurdnost v díle Franze Kafky [Hoffnung und Absurdität im Werke F. K.s] (übersetzt von Jaroslav Janík). – In: Listy [Blätter], 453-459. Eisner, Pavel: Česká kniha o Kafkovi [Ein tschechisches Buch über K.]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] (21.12.).36 Eisner, Pavel: Franz Kafka a Praha [= Rezension von Franz Kafka a Praha]. – In: Svobodné noviny [Freie Zeitung] 1947/297, 6. [Eisner, Pavel] Faber: Kafka [Rezension von Herbert Tauber, Franz Kafka – Eine Deutung seiner Werke]. – In: Kritický měsíčník [Kritische Monatsschrift] 8/19-20, 474. [Eisner, Pavel] Faber: Poznámka ke Kafkovi [Anmerkung zu K.]. – In: Kritický měsíčník [Kritische Monatsschrift], 205f. er: Dílo Franze Kafky [Das Werk F. K.s] [= Mitteilung über geplante tschechische Werkausgabe]. – In: Svobodné slovo [Freies Wort] 1947/42 (19.02.), 5. I., Dr.: O zbořeném domě a jeho obyvateli [Über ein abgerissenes Haus und seine Bewohner]. – In: Věstník židovské obce náboženské v Praze [Mitteilungen der jüdischen Religionsgemeinschaft in Prag] 9/18, 274. Lederer, Zdeněk: Kdo je to Franz Kafka? [Wer ist das, F. K.?]. – In: Severočeská Mladá fronta [Nordböhmische Junge Front] 3/11, [4]. Štg.: Franz Kafka a Praha [= Rezension von Franz Kafka a Praha]. – In: Věstník židovské obce náboženské v Praze [Mitteilungen der jüdischen Religionsgemeinschaft in Prag] 9/28, 393. 1947/48 Siebenschein, Hugo: Franz Kafka a člověk [F. K. und der Mensch]. – In: Slovesná věda [Verbalwissenschaft] 1/4, 202-213. Trost, P[avel]: Hugo Siebenschein, Edwin Muir, Emil Utitz, Peter Demetz: Franz Kafka a Praha [= Rezension von Franz Kafka a Praha]. – In: List. Sdružení moravských spisovatelů [Das Blatt. Vereinigung mährischer Schriftsteller], 156f. Trost, Pavel: Na okraj Kafkova Ortelu [Am Rande von K.s Urteil]. – In: List. Sdružení moravských spisovatelů [Das Blatt. Vereinigung mährischer Schriftsteller], 188-192. 194837 Eisner, Pavel: Franz Kafka a jeho otec [F. K. und sein Vater]. – In: Svobodné noviny [Freie Zeitung] 1948/279, 5. Eisner, Pavel: „Franz Kafka a Praha“ [= Rezension von Franz Kafka a Praha]. – In: Kritický měsíčník [Kritische Monatsschrift] 9/1-2, 143-147.

36 Kusák (2003: 145). Ich konnte keine zwischen April 1945 und Mai 1948 erschienenen Exemplare der Lidové noviny finden. Meines Wissens erschienen sie in diesem Zeitraum unter dem Titel Svobodné noviny. 37 Der Beitrag von Petr Demetz Aktuálnost Franze Kafky [Die Aktualität Franz Kafkas], der in einer der nächsten Nummern („v příštích číslech“) der Zeitschrift Listy erscheinen sollte (o. A. 1948), erschien nicht mehr, wie Čermák (2000: 26) behauptet, kurz vor dem Februarumsturz 1948, denn die Zeitschrift stellte nach der zweiten Nummer ihr Erscheinen ein.

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Eisner, Pavel: Franz Kafka a Praha. – In: Kritický měsíčník [Kritische Monatsschrift] 9/3-4, 66-82 [2001 in: Přibáň, Michal [Hg.], Z dějin českého myšlení o literatuře. Antologie k Dějinám české literatury 1945-1990 [Aus der Geschichte des tschechischen Nachdenkens über Literatur. Anthologie zur Geschichte der tschechischen Literatur 1945-1990]. Praha: ÚČL AV ČR, 455-473]. [Eisner, Pavel] Faber: Ke Kafkovým deníkům [Zu K.s Tagebüchern] [= Rezension von The Diaries of Franz Kafka 1910–1913]. – In: Kritický měsíčník [Kritische Monatsschrift] 9/13-14, 325f. Demetz, P[etr]: Angel Flores: Franz Kafka / J. P. Hodin: Memories of Franz Kafka [= Rezension]. – In: Philologica. Recensní cizojazyčná příloha 32. ročníku Časopisu pro moderní filologii [Philologica. Fremdsprachige Rezensionsbeilage des 32. Jahrganges der Zeitschrift für moderne Philologie] 4/1, 10. Demetz, Petr: Franz Kafka and Prague. A Symposion [=  Rezension von Franz Kafka a Praha]. – In: Philologica. Recensní cizojazyčná příloha 31. ročníku Časopisu pro moderní filologii [Philologica. Fremdsprachige Rezensionsbeilage des 31. Jahrganges der Zeitschrift für moderne Philologie] 3/4, 44f. Siebenschein, Hugo: Max Brod: Franz Kafkas Glauben und Lehre, Kafka und Tolstoj [= Rezension]. – In: Philologica. Recensní cizojazyčná příloha 32. ročníku Časopisu pro moderní filologii [Philologica. Fremdsprachige Rezensionsbeilage des 32. Jahrganges der Zeitschrift für moderne Philologie] 4/2, 30f. Siebenschein, Hugo: Tragický pohádkář (Protiexistencialistická poznámka k dílu Franze Kafky) [Ein tragischer Märchendichter. Antiexistentialistische Bemerkung zum Werk F. K.s]. – In: Časopis pro moderní filologii [Zeitschrift für moderne Philologie] 32/2, 75-79. 1948/49 Vodička, Zdeněk: Boj o Franze Kafku [Kampf um F. K.] [= Rezension der Rezension von Edwin Berry Burgum von The Diaries of Franz Kafka 1910-1913 und von Charles Neider, The Frozen Sea in The Virginia Quarterly Review]. – In: Slovesná věda [Verbalwissenschaft], 124. 1949 Utitz, Emil: Franz Kafka. – In: Věstník židovské obce náboženské v Praze [Mitteilungen der jüdischen Religionsgemeinschaft in Prag] 11/8, 91. 1953 Měšťan, Jaromír: Mezi Shakespearem a Sartrem (Poznámky k překladu z „Briefe an Milena“ Franze Kafky v příštím čísle „Sklizně“) [Zwischen Shakespeare und Sartre (Bemerkungen zur Übersetzung aus „Briefe an Milena“ F. K.s in der nächsten Nummer der „Lese“]. – In: Sklizeň [Die Lese] 1953/9, 7f. 1954 Den, Petr: Kafkovo putování Labyrintem světa [K.s Pilgerschaft durch das Labyrinth der Welt]. – In: Sklizeň [Die Lese] 1954/1, 6-8 [1958 in: Ders., Době proti srsti. Výbor z essayí z let 1940-1957 [Der Zeit gegen den Strich. Auswahl aus den Essays der Jahre 1940-1957]. New York: Edice Svědectví, 28-32].

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1956 Weisskopf, F. C.: Franz Kafka a dnešek. Mythus a objasnění [F. K. und die Gegenwart. Mythos und Auslegung] [1945] (übersetzt von Helena Helceletová). – In: Světová literatura [Weltliteratur] 1956/6, 252-254. 1957 Dubský, Vladimír/Hrbek, Mojmír: O Franzi Kafkovi [Über F. K.]. – In: Nový život [Neues Leben] 1957/4, 415-435. Eisner, Pavel: Franz Kafka. – In: Světová literatura [Weltliteratur] 2/3, 109-129. [Fleischmann, Ivo] if: Otevřené okno. Složitá prázdninová četba [Das geöffnete Fenster. Eine problematische Ferienlektüre] [= Reaktion auf Eisners Beitrag in Světová literatura]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 1957/35, 8. ik: [über die Premiere der Dramatisierung von „Das Schloß“ in Paris]. – In: Kultura [Kultur] 1957/48 (28.11.), 8.

Beiträge, in denen Kafka Erwähnung findet 1912/13 Langer, František: [über die neue Edition „Der jüngste Tag“]. – In: Umělecký měsíčník [Künstlerisches Monatsheft], 223f. 1913 Illovy, Rudolf: Němečtí básníci pražští a Češi [Die Prager deutschen Dichter und die Tschechen]. – In: Veřejné mínění [Die öffentliche Meinung] (16.11.), 2. 1913/14 Langer, František: Z nové německé lyriky [Aus der neuen deutschen Lyrik] [über Heizer]. – In: Umělecký měsíčník [Künstlerisches Monatsheft], 30f. 1920 I[llový], R[udolf]: Z německé literatury [Aus der deutschen Literatur]. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] 1920/275 (21.11.), 7. 1922 Götz, František: Anarchie v nejmladší české poesii [Anarchie in der jüngsten tschechischen Dichtung]. Brno: St. Kočí. 1924 o. A.: Kulturní a umělecké drobnosti [Kulturelle und künstlerische Miszellen]. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] 1924/142 (18.06.), 2. o. A.: O židovských umělcích československých [Über tschechoslowakische jüdische Künstler]. – In: Tribuna [Die Tribüne] 1924/276 (25.11.), 5. Grmela, Jan: Německé impresse [Deutsche Impressionen]. – In: Pramen [Die Quelle] 5/3 (10.12.), 135-138.

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1927 o. A.: Říšskoněmecký „návod“ pro návštěvníky Prahy [Eine reichsdeutsche „Anleitung“ für Prag-Besucher]. – In: Národní politika [Nationale Politik] 1927/343, [4]. Grmela, Jan: Německo [Deutschland]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 1927/3 (07.04.), 5. 1927/28 Z[ima], V[ladislav]: 26. číslo 4. roč. Liter. Welt [...] [26. Nummer des 4. Jahrgangs der Liter. Welt]. – In: Zvon [Die Glocke] 1927-28/49 (16.08.), 688. 1928 Grmela, Jan: Z německé Prahy literární [Aus dem deutschen literarischen Prag]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 2/18.1 (05.01.), 3. Grmela, Jan: Otto Pick ve svém zrcadle [O. P. in seinem Spiegel]. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] 1928/61 (13.03.), 3. [Novák, Arne] ill: Český sešit Literarische Welt [Tschechisches Heft der Literarischen Welt]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 1928/338, 7. 1929 o. A.: V Pyramidě […] [In der Pyramide …]. – In: Rozpravy Aventina [Abhandlungen des Aventinums] 5/25, 251. Grmela, Jan: Chvíli s Otto Pickem, horlivým překladatelem našich dramatiků [Ein Augenblick mit O. P., dem eifrigen Übersetzer unserer Dramatiker]. – In: Pestrý týden [Die bunte Woche] 1929/23, 6. Grmela, Jan: Heřman Ungar: Sen. Úryvek z románu „Verstümmelten“ [H. U.: Traum. Auszug aus dem Roman „Die Verstümmelten“] [mit kurzer Einleitung]. – In: Večerník Právo lidu [Abendausgabe des Rechts des Volkes] 1929/250 (01.11.), příloha Zábavná chvíle [Beilage Unterhaltsame Augenblicke]. Grmela, Jan: Německá Praha literární [Deutsches literarisches Prag]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 3/43.3 (07.02.), 2. Grmela, Jan: Německá Praha literární [Deutsches literarisches Prag]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 3/57.17 (03.10.), 6. Grmela, Jan: Německá Praha literární [Deutsches literarisches Prag]. – In: Literární noviny [Literaturzeitung] 3/60.20 (14.11.), 3. Mágr, A. St./Pick, Otto: Chvíle s Otokarem Březinou. In Memoriam [Ein Augenblick mit Otokar Březina. In Memoriam] [über einen Besuch am 02./03.02.1924 bei B.]. Praha: Alois Srdec. Pick, Otto: Dvacet let německé literatury v Praze [Zwanzig Jahre deutsche Literatur in Prag] (übersetzt von V. P.). – In: Rozpravy Aventina [Abhandlungen des Aventinums] 5/3, 28f.; 5/4, 42. Winter, P[aul]: Literární snahy Němců v československé republice [Die literarischen Aspirationen der Deutschen in der tschechoslowakischen Republik]. – In: Literární svět Lidových novin [Literarische Welt der Volkszeitung] 1929/348 (13.07.), 13.

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Einblendung und Ausblendung: Tschechoslowakische Kafka-Rezeption und Erstveröffentlichungen von Kafkas tschechischen Texten 1. Ausblendung und Einblendung: Kafkas Werk Die Rezeption von Franz Kafka in der Tschechoslowakei wurde mehrmals sehr kenntnisreich von Josef Čermák (1994a-b, 2000) aufgearbeitet, an den ich unmittelbar anschließe. Denn da, wo seine Studie aus dem Jahre 2000 endet, fange ich – im Jahre 1963 – an. Allerdings komme ich über das Jahr 1963 kaum hinaus. Dabei fokussiere ich v. a. auf die Einblendung von Kafkas tschechisch geschriebenen Texten in den wissenschaftlichen und publizistischen Diskurs, die mit der Deutung Kafkas „aus Prager Sicht“ einhergeht. Die – wenn auch nur fragmentarische – Publikation von Kafkas tschechischen Texten ist in der Kafka-Rezeption ein ganz neues Phänomen (Kafka 1963l; Loužil 1963),1 im tschechoslowakischen Kontext gilt dies allerdings gewissermaßen auch von Kafka und seinen Texten selbst. Übersetzungen von seinen Werken können nämlich von 1948 bis 1957 nicht erscheinen, unter dem Vorzeichen des sozialistischen Realismus gelten Kafkas Texte als formalistisch und dekadent und Kafka ist als Repräsentant der Bourgeoisie zum Tabuautor geworden.2 Auch die 1957 verhalten ansetzende Rezeption hat mit starken ideologischen Widerständen derer zu kämpfen, die die Kulturpolitik der seit 1960 offiziell deklarierten Tschechoslowakischen ‚Sozialistischen‘ Republik bestimmten. Die soziale und territoriale „Erdung“ bzw. Proletarisierung und Eingemeindung von Kafka „bei uns“ und seine Darstellung „aus Prager Sicht“ (Goldstücker/Kautman/Reiman 1963) wirkt im Jahre 1963 den ideologischen Barrieren entgegen, kommt aber ohne weitere Ausblendungen und Überblendungen etwa des Jüdischen nicht aus. Warum mir ausgerechnet das Jahr 1963 so wichtig ist, liegt auf der Hand. Es war nämlich – auch mit der u. a. von Eduard Goldstücker initiierten Liblice1 Die tschechischen Textstellen in den Briefen an Milena (1952) sind hauptsächlich Zitate aus Milenas Briefen. 2 Auch später verharrte man in diesen Kategorien, sodass Kafka als Repräsentant der „Prager deutschjüdischen Bourgeoisie“ galt (Reiman 1958b: 211).

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Konferenz3 – ein wichtiger Wendepunkt in der Rezeption von Franz Kafka mit Wirkungen über die Tschechoslowakei hinaus. Auf Kafka werden zeitgenössische Diskurse geblendet, die diesmal aber nicht zu einem Verbot führen, sondern aus Kafka – zumindest in der Tschechoslowakei – einen Kultautor der 1960er-Jahre machen. Dieser Wendepunkt in der Rezeption hat allerdings weniger mit dem textimmanenten oder außertextuellen Autor, sondern vielmehr mit dem Bild des Autors zu tun (zur Terminologie Bílek 2006). Die Konferenz Kafka und die Macht 1963 – 1968 – 2008 warf im Jahre 2008 den Blick gerade auf den Mythos der Liblice-Konferenz und ihre Wirkung tief in die 1960er-Jahre hinein einschließlich des Prager Frühlings. Auch Kusin (2002) setzte sich mit der Rolle der Liblice-Konferenz für die Reformbewegung auseinander. Aus der Perspektive der Akteure haben sie etwa Goldstücker (1989, 2005) oder Kusák (2003) aufgearbeitet. Liest man den zeitgenössischen Schlagabtausch über den Frühling, die Schwalben und Franz Kafka (Fischer 1963; Kurella 1963) (neben Schwalben werden von Kurella polemisch auch andere, weniger positiv konnotierte Vogelarten bemüht),4 glaubt man gar der Metaphorik und Rhetorik einerseits des Prager Frühlings, andererseits der ‚Normalisierung‘ zu begegnen, sodass man die teleologische Perspektive der Konferenz Kafka und die Macht 1963 – 1968 – 2008 sehr gut nachvollziehen kann. Mit der Wahl von Eduard Goldstücker zum Vorsitzenden des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes scheint sich der Bogen von der Liblice-Konferenz zum Prager Frühling zu schließen. In den 1970er-Jahren wurden Kafka diese Nähe sowie die bereits in den 1950er-Jahren bereits diagnostizierte bourgeoise Dekadenz zum Verhängnis:

3 Die Frage der ‚Initiation‘ ist strittig. Durch die Rahmung der Konferenz wird die zentrale Rolle von Eduard Goldstücker und Pavel/Paul Reimann deutlich. Die Konferenz wurde am 27./28.05.1963 von der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, der Karls-Universität und dem Tschechoslowakischen Schriftstellerverband im Schloss Liblice bei Prag ausgerichtet. An der Konferenz nahmen über zwanzig Referenten aus der Tschechoslowakei, der DDR, Polen, Ungarn, Jugoslawien, Frankreich (Roger Garaudy) und Österreich (Ernst Fischer) teil. Im Konferenzband sind folgende Autoren vertreten: O. F. Babler, Josef Čermák, Zdeněk Eis, Dagmar Eisnerová, Ernst Fischer, Pavel Trost, Ivo Fleischmann, Norbert Frýd, Roger Garaudy, Jiří Hájek, Klaus Hermsdorf, František Kautman, Jenö Krammer, Alexej Kusák, Dušan Ludvík, Josef B. Michl, Werner Mittenzwei, Pavel Petr, Jiřína Popelová, Petr Rákos, Pavel Reiman, Helmut Richter, Ernst Schumacher, Ivan Sviták, Pavel Trost und Antonín Václavík (Reiman 2010; Koeltzsch 2012). 4 Bei Čermák (2000: 28) findet sich der aufschlussreiche Hinweis auf den auf Tschechisch herausgegeben Text von Howard Fast (1951), der in Kafka ebenfalls keine Schwalbe, sondern einen abstoßenden Vogel sah, der auf dem Gipfel des „kulturellen Misthaufens der Reaktion“ sitze.

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uředníka J. rozzuřilo, že bylo v překladu ponecháno motto z Kafky: ‚Píšu jinak, než mluvím, mluvím jinak, než myslím, myslím jinak, než bych měl myslit, a tak až k nejzazšímu bodu temnoty.‛ Motto prý je jednak poťouchlé, jednak z Kafky, který byl odsouzen a jehož jméno se ‚nemá nikde objevovat‛. […] Pointa té historie má ovšem švejkovskou superblbost: za tři měsíce na to jsem viděl 18 výtisků Brodovy knihy o Kafkovi […] na pultě v antikvariátě v Ječné ulici… jako neprodaný zbytek nákladu volně ke koupi. (Zábrana 1992: 657f.) [den Beamten J. machte wütend, dass in der Übersetzung das Kafka-Motto ‚Ich schreibe anders, als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.‘[5] beibehalten wurde. Nicht nur, dass das Motto tückisch sei, es stamme auch von Kafka, der verurteilt worden sei und dessen Name ‚nirgends auftauchen solle‘. […] Die Pointe dieser Geschichte ist allerdings auf Švejksche Art ultradämlich: Drei Monaten später sah ich 18 Exemplare des Kafka-Buches von Brod […] auf dem Ladentisch des Antiquariats in der Ječná-Straße … als unverkauften Rest der Auflage, der [nun] frei zum Verkauf stand.]

Um das Ethos der Kafka-Rezeption des Jahres 1963 zu verstehen, ist es notwendig zurückzuschauen. Durch die Machtergreifung seitens der Kommunisten im Jahre 1948 tat sich eine krasse Lücke in der offiziellen Rezeption von Franz Kafka auf, die weitgehend bis ins Jahre 1957 andauerte, eine noch größere Lücke also als die zwischen den Jahren 1939 und 1945. Das Ausbleiben einer offiziellen normativen Rezeption ist jedoch nicht mit der Lücke in der Rezeption an sich zu verwechseln, wie es das Tagebuch von Jan Zábrana in Bezug auf die dezentrierte individuelle Rezeption von Kafka deutlich macht, wobei auch sie sich in einem ideologischen Rahmen und in Bezug auf den offiziellen ideologischen (Nicht-) Diskurs vollzieht: V padesátých letech bylo pro nekonformní mladé pražské intelektuály, kteří se nějak ochomýtali kolem literatury nebo sami psali, typické, že skoro každý měl doma pár kratších povídek Franze Kafky, které si vlastnoručně přeložil a půjčoval nebo předčítal je na schůzkách svým přátelům a známým. […] Patřilo to jaksi k dobrému tónu. Některé Kafkovy povídky jsem slyšel a viděl snad ve dvaceti kolujících rukopisných překladech. Kam se všechny ty usmolené překlady poděly? Bylo to vyjádření touhy, projev touhy po poznání toho zakazovaného, upíraného světa pravdivého psaní, který Kafka pro ně tehdy představoval. To, že vždycky šlo jen o pár povídek, jednu, dvě, tři – nikdy o celou knížku –, jenom svědčilo o krásné amatérské lásce, ne o povrchnosti – oni nebyli profíci, na víc nestačili, na nic neměli sitzfleisch, byli to vesměs ostýchaví milenci přeludu, kterým tehdy Franz Kafka byl. Vzpomínám na ty večery, kdy někde někdo předčítal Kafkovy povídky, s velkou tesknotou. Všechny potom vyšly knižně, takže tohle se už nevrátí. (Zábrana 1992: 886) [Für die jungen non-konformen Prager Intellektuellen, die sich um die Literatur herumschlichen oder selbst schrieben, war es in den 1950er-Jahren typisch, dass jeder von ihnen ein paar kürzere Erzählungen von Franz Kafka zu Hause hatte, die er eigenhändig übersetzte und seinen Freunden und Bekannten lieh oder sie ihnen bei gemeinsamen Treffen 5 Franz Kafka an Ottla vom 10. Juli 1914 (Kafka 2005b: 98).

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Marek Nekula vorlas. […] Es gehörte irgendwie zum guten Ton. Einige Kafka-Erzählungen hörte und sah ich in vielleicht zwanzig zirkulierenden handschriftlichen Übersetzungen. Wohin sind all die zusammengebastelten Übersetzungen verschwunden? Sie waren Ausdruck, Spiegel der Sehnsucht nach der Erkenntnis der verbotenen, untersagten Welt des wahrhaftigen Schreibens, die Kafka für sie damals verkörperte. Dass es sich immer nur um ein paar Erzählungen handelte, eine, zwei, drei – nie um ein ganzes Buch –, zeugte nur von aufrichtiger Laienliebe, nicht von Oberflächlichkeit – sie waren keine Profis, zu mehr waren sie nicht fähig, hatten dafür kein Sitzfleisch, es waren durchweg zaghafte Liebhaber einer Illusion, die Franz Kafka für sie damals verkörperte. Ich erinnere mich mit großer Wehmut an diese Abende, bei denen irgendjemand irgendwo Kafkas Erzählungen vortrug.]

Erst das Tauwetter nach der Kritik am Personenkult im Jahre 1956 machte es jedoch überhaupt möglich, dass Kafkas Texte wieder publiziert werden durften. Der Durchbruch kam 1957 mit dem Erscheinen der tschechischen Übersetzung von Kafkas Erzählung Der Bau. In der Zeitschrift Světová literatura [Weltliteratur] verband sie ihr Übersetzer Pavel Eisner mit seinem Essay über Franz Kafka. Darin greift er seine These aus dem Jahre 1933 vom dreifachen (sozialen, sprachlichen und religiösen) Ghetto noch einmal auf und arbeitet sie aus. Die Publikation dürfte, wie dies Čermák als Zeitgenosse festhält, „obrovský ohlas“ [gewaltige Resonanz] unter den Lesern gehabt haben (Čermák 2000: 28), die Reaktionen in der Presse auf diese Vorstöße von Pavel Eisner sowie auf die Veröffentlichung der tschechischen Übersetzung des KafkaRomans Der Proceß im folgenden Jahr, die ebenfalls von Pavel Eisner übersetzt und von Pavel Reiman mit einem sachlichen und textbezogenen Nachwort versehen wurde, waren aber – gemessen daran, welche Resonanz Kafka im Jahre 1963 erfuhr – sehr rar. Čermák diskutiert diese raren Beiträge im Einzelnen, würdigt dabei die sachlichen Beiträge von Ivan Dubský und Mojmír Hrbek (1958) und Oleg Sus (1959) und stellt sich kritisch zu Pavel Reiman (1958a) und Jiří Hájek (1959).6 Auf eine weitere Kafka-Veröffentlichung hatte man allerdings weitere vier Jahre zu warten. Der zwischenzeitlich erschienene Bildband von Frynta (1960) war lediglich fürs Ausland bestimmt. Nur selten wagte sich jemand hervor, so etwa Goldstücker (1960) oder Grebeníčková (1960), die in der Zeitschrift Plamen über Victor Erlichs Studie über Gogols Die Nase und Kafkas Die Verwandlung berichtete. Um die Kafka-Rezeption in den Jahren 1956 bis 1962 im Sinne der zeitgenössischen Verschränkung Kafkas mit politischen Diskursen auf den Punkt zu bringen, kann man sie in eine Metapher fassen: Im Jahre 1956 wurde zwar 6 Damit ist jedoch die Rezeption nicht erschöpft. Nach Caputo-Mayr/Herz (2000: 255) wäre hier noch Čestmír Jeřábek (1958a-b) mit seinen Publikationen in Host do domu [Gast ins Haus] zu nennen.

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der Leichnam des kommunistischen Präsidenten Klement Gottwald im tschechoslowakischen Mausoleum auf dem Berg Vítkov statt in Uniform in Zivilkleidung zur Schau gestellt, doch blieb der tote Körper an seiner Stelle. Erst 1962 wurde Gottwalds Leichnam eingeäschert und die monumentale StalinStatue auf dem Letná-Hügel in Prag gesprengt (Pokorný 1996; Galandauer 1996). Im selben Jahr erschien die tschechische Übersetzung des Fragments Der Verschollene (Amerika), allerdings mit einem Vorwort von Pavel Reiman, der darin dem Roman eine ideologisch unverdächtige Lesart vorschaltete. So stehe im Mittelpunkt des Romans der „Heizer“ als Repräsentant der Arbeiterklasse. Zu ihm hege Karl Roßmann, der sich als Repräsentant der „Bourgeoisie“ des Zerfalls des Kapitalismus bewusst geworden sei, Sympathien. Aus diesen Sympathien heraus werde er zunächst zum Sprachrohr des Heizers, bis er daran zugrunde gehe, dass er den Heizer und damit die Arbeiterklasse aus den Augen verloren habe. Mit Rezensionen begrüßten das Erscheinen des KafkaTextes Ivan Dubský (Kultura, Host do domu), Ivo Fleischmann (Literární noviny [Literaturzeitung]), Pavel Grym (Lidová demokracie [Volksdemokratie]) und Eduard Goldstücker (Tvorba [Schaffen]). Neben drei kleinen Berichten von Zdeněk Kožmín, Agneša Kalinová und „zf“ war dies nach dem Bibliografický katalog ČSSR – články v českých časopisech [Bibliographischer Katalog der Tschechoslowakei – Artikel in tschechischen Zeitschriften] in diesem Jahr alles. Die Mauer um Kafka wurde im Ostblock nicht in Prag, sondern – dank Jean-Paul Sartre – in Moskau eingerissen. Der französische Intellektuelle hielt dort im Jahre 1962 beim Weltfriedenskongress eine metaphorisch aufgeladene Rede mit dem Titel La démilitarisation de la culture (Sartre 1962; Hermlin 1962). Darin bezeichnete er Kafka als „Waffe“ des Westens und forderte die „kulturelle Demilitarisierung“ zwischen Ost und West.7 Zugleich machte er sich dafür stark, dass es endlich möglich sein muss, Kafka auch im Osten ‚lesen‘ zu dürfen. Im Ostblock leitete er damit eine – quantitativ gesehen – wirkungsmächtige, zugleich aber auch politisch durchwachsene Kafka-Rezeption ein. Im folgenden Jahr kam es zu einer regelrechten Flut von Kafka-Publikationen, für die die Liblice-Konferenz ein Katalysator war. Neben der tschechischen Übersetzung von Kafkas Text Die Verwandlung [Proměna] waren es im Jahre 1963 ca. siebzig kleine Kafka-Übersetzungen und publizistische Texte,8 7 Mit der Rezeption von Franz Kafka zwischen Ost und West im Kalten Krieg befasst sich Veronika Tucker. Das Manuskript der Dissertation stand mir nicht zur Verfügung.  8 S. die Bibliographie der Quellen, die auf eigener Recherche mithilfe von Bibliografický katalog ČSSR – články v českých časopisech und der unterstützenden Recherche von Jiskra Jindrová von der bibliographischen Abteilung der tschechischen Nationalbibliothek in Prag und periphär auch auf Caputo-Mayr/Herz (1997, 2000) basiert. Um diese ‚Flut‘ zu dokumen-

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die auf Jean-Paul Sartre, die Liblice-Konferenz, Kafkas Geburtstag und Veröffentlichungen u. a. Bezug nehmen und die die Öffentlichkeit in dem bisher ausgetrockneten Raum zusammen mit Rundfunkbeiträgen und den auf Tschechisch gedruckten Beiträgen der Liblice-Konferenz wie lang ersehnter Regen erreichten. Auch wenn man sich am Anfang auf den von Jean-Paul Sartre herbeigeführten Durchbruch bezog, um ihn auch für den eigenen Kontext in Anspruch zu nehmen bzw. um ihn symbolisch zu sichern, wurde Kafka anders verhandelt. Im Verlauf des Jahres verliert sich im Übrigen der explizite Bezug auf Sartre vollständig. So erfand Fischer (1963) die Metapher des Frühlings und der Schwalbe. Goldstücker stellte Kafka angesichts der Rezeptionslücke gerade in den Jahren 1948 bis 1957 gar als „Opfer des Personenkultes“ dar (Goldstücker 1963a: 4; 1964d: 62), wobei er auf Kafka auch seine persönliche Agenda eingeblendet haben dürfte.9 Diese Übersetzung der Kafka-Rezeption in die politische Sprache hat zwar mit Kafka und seinen Texten wenig zu tun, wird in der weiteren Rezeption dennoch zum wichtigen Bestandteil des Bildes des Autors und damit auch seiner Texte. Im tschechischen bzw. tschechoslowakischen Kontext ist ferner die Wir-Aneignung von zentraler Bedeutung. Mit Ztracený a znovunalezený [Verschollen und wiedergefunden] titelte Miroslav Kaňák seinen Beitrag in der hussitischen Wochenzeitung Český zápas [Der Tschechische Kampf], in dem er die Rezeption von Franz Kafka reflektiert und den Verschollenen auf Kafka einblendet und damit sein Bild des verlorenen Sohnes prägt. Auch Eduard Goldstückers Metaphorik ging in diese Richtung und unterschied sich damit deutlich von Sartre. In seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung der persönlichen Dokumente und Buchausgaben Franz Kafkas im Literaturarchiv des Památník národního písemnictví [Denkmal des nationalen Schrifttums], die er Anfang Juli 1963 im Anschluss an die Liblice-Konferenz eröffnete, hieß Eduard Goldstücker „den Prager Landsmann aus einer langen und unverdienten Emigration willkommen.“10 Die familiäre Semantik tieren, ist die Bibliographie der Quellen etwas länger geraten, auch wenn im Text selbst nur ein Teil der Texte zitiert wird. Von den Beiträgen der ersten Liblice-Konferenz werden nur solche zitiert, die in diesem Text auch erwähnt werden. Diese Beiträge werden in die Zahl der Kafka-Beiträge des Jahres 1963 nicht eingerechnet. 9 Zum Schauprozess, bei dem Goldstücker 1951 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, sowie zu seiner Rehabilitierung im Jahre 1955 s. u. a. Goldstücker (1991) oder Koeltzsch (2012). 1956 ist Goldstücker Dozent an der Karls-Universität geworden, erst 1963 wurde er vollständig rehabilitiert und zum Professor ernannt. 10 „uvítal pražského rodáka […] z dlouhé a nezasloužené emigrace“. Bericht über die Ausstellung in Literární noviny 12/23 (1963), 13.

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des verlorenen Sohnes („verschollen und wiedergefunden“) und der Heimat („Landsmann“, „unverdiente Emigration“) sticht ins Auge und passt begrifflich zur von Goldstücker verlangten „Erdung“ von Kafka und damit zu seiner Interpretation „aus Prager Sicht“, auf die ich noch zurückkomme. Willkommen hieß man den verlorenen Sohn und Landsmann anlässlich seines 80. Geburtstags am 3. Juli 1963, d. h. etwa fünf Wochen nach der Liblice-Konferenz, quer durch die tschechische Presselandschaft, so z.  B. in Rudé právo [Rotes Recht], Mladá fronta [Junge Front], Práce [Arbeit], Svobodné slovo [Freies Wort], Lidová demokracie u. a.11 Auch die Frauenzeitschrift Vlasta oder die Jugendzeitschrift Mladý svět [Junge Welt] nahmen teil (Moulíková 1963; Kafka 1963i). Der Dichter Ivan Diviš ließ sich in der literarischen Wochenzeitung Literární noviny gar zu einem Gedicht mit dem Titel Franz Kafka hinreißen, das im Unterschied zu Louis Fürnbergs (1963: 108) Gedicht Život a smrt Franze Kafky [Leben und Tod Franz Kafkas] Kafka zwar nennt, ihn aber kaum erkennen lässt: Teprve po létech, sám blízek zlomenině páteře, Teprve po létech, prodíraje se síněmi, kde petlice Zatvrdly v kosý led – poznal jsem, co jsi nechtěl! Tudíž, když ti ve dvaceti řeknou: pamatuj, Že dům lze postavit i jako varování – Nevěříš, lezeš tam, aby ses venku sťat kořalou, Potáceje se od neotce k nematce, pyšnil blouznivou opicí A jankovitě v ní setrvával, podoben mušinci Na lavinovém svahu! Jako bych tě někdy přeplakával, Franzi! Růženec z lískáčků, zbavených jader! To jsou ta léta, kdy jsem nikde nebyl, Kdy těkaje od Archimeda ke Koperníkovi Vytrácel jsem se v adjektivech A jen ufackován vichrem poznal, že ten, co jde přede mnou Na bočitých nohou – ano, teď šírá, je to žena! Ta umolousaná že zbudovala svět. Nevzala Co živa pálené do úst, a když zem vrávorala v nejbližších Jen špetla To sem se vod vás nenačekala – A rozplakala se drobounce Jako křepelka v krvi, než ji zvednou. Tohle jsi říkal pořád. A rádoby ukřižovaní Šlapali mláto mystiky (Diviš 1963: 7).

11 S. Goldstücker (1963d); Svoboda (1963); Čermák (1963a); Vrabec (1963); Bureš (1963); Poppová (1963).

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Marek Nekula [Erst nach Jahren, selbst nahe dem Rückgratbruch, Erst nach Jahren, sich durch die Säle durchkämpfend, deren Riegel sich Zum scharfen Eis verhärteten – erkannte ich, was ich nicht wollte! Wenn sie Dir mit zwanzig sagen: so bedenke, Dass man das Haus auch als eine Warnung bauen kann – Du glaubst es nicht, kriechst rein, um dann vom Schnaps benebelt Vom Nichtvater zur Nichtmutter zu taumeln, stolz auf das affenartige Delirium Und verharrend darin verwirrt verharrend, dem Fliegenexkrement ähnlich, Auf dem Lawinenabhang! Als ob ich um Dich mal weinen würde, Franz! Rosenkranz aus den entkernten Nussschalen! Das sind die Jahre, in denen ich nirgends war, Als ich mich, zwischen Archimedes und Kopernikus schwankend, Allmählich in Adjektiven auflöste Und nur dank einer Ohrfeige des Gewitters erkannte, dass der, der mir vorausgeht, Auf breiten Beinen – ja, jetzt leuchtet’s mir ein, es ist eine Frau! Die verdreckte, da sie die Welt schuf. Sie nahm Ihr Leben lang keinen Schnaps in den Mund, und als die Erde taumelte nah Flüsterte sie nur. Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet – Und fing an zu weinen in winzigen Tränen Wie eine Wachtel im Blut, bevor man sie aufhebt. Das hast Du stets gesagt. Und die Möchtegerngekreuzigten Traten den Treber der Mystik.]

Diviš’ Gedicht ist zwar durch die Verfremdung von Franz Kafka durch die christliche Bildlichkeit etwas merkwürdig, für die Zeit aber eigentlich sehr bezeichnend, indem er auf den „Unbekannten“ – ähnlich wie die anderen Interpreten – seine eigene dichterische Agenda projiziert. Denn wie auch immer man sich in diesem Gedicht Kafka wortgewaltig verweigert, manifestiert sich darin ausgezeichnet die zeitgenössische Einblendung fremder Agenda auf Kafka, wie man ihr in der Semantik des „verlorenen Sohnes“ oder im zeitgenössischen Destalinisierungsdiskurs begegnen kann.

2. Verblendung Der auf Kafka geblendete Opfer- und Rehabilitierungsdiskurs bedeutet aber sicher nicht, dass man sich bei seiner Interpretation vom Marxismus – sogar dem plumpen Marxismus – lossagen würde. In seinem Beitrag auf der Liblice-Konferenz bezieht sich Eduard Goldstücker bei der Frage, warum die Krisenzeichen des bürgerlichen Liberalismus in Prag so früh und eindringlich erkannt wurden, zwar auf Eisners biographische These des dreifachen Ghet-

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tos (Goldstücker 1965: 32), sonst steht er aber eigentlich Pavel Reiman näher. Auch Goldstücker bleibt gefangen in der marxistischen, biographischen und soziologischen Lesart, lenkt Reimans Deutung von Kafka lediglich um. So schließt er Franz Kafka an Karl Roßmann an und erklärt Kafka zu einem utopischen Sozialisten, im Schloß die Figur des Landvermessers K. gar zu einem Revolutionär.12 An anderer Stelle sagt Goldstücker: Když přistupujeme k nanejvýš složitému organismu Kafkova díla, velmi brzy si uvědomíme, že bychom nedošli daleko, kdybychom své zkoumání omezili pouze na jeho texty, protože se nám ihned ukáže […], že jsou to […] krystalizace jeho osobní (životní) problematiky, že všechny hlavní postavy jeho děl, ať se jmenují Bendemann, Samsa, Raban, Gracchus a ovšem Josef K. a zeměměřič K. i ostatní, znamenají Franze Kafku. (Goldstücker 1964d: 67) [Wenn wir uns dem äußerst komplizierten Organismus von Kafkas Werk nähern, so wird uns sehr früh bewusst, dass wir nicht weit kämen, würden wir unsere Untersuchung allein auf seine Texte stützen, denn es zeigt sich gleich, dass sie eine Kristallisation seiner persönlichen (Lebens-)Problematik sind, dass die Hauptfiguren seiner Werke, gleichgültig, ob sie Bendemann, Samsa, Raban, Gracchus oder auch Josef K. und Landvermesser K. oder anders heißen, immer Franz Kafka bedeuten.]

Nach der marxistischen Abbildungstheorie mögen eine solche Abwendung vom Text und die Verlagerung vom textimmanenten Autor zum außertextuellen Autor („persönliche [Lebens-]Problematik“; „die Hauptfiguren seiner Werke […] bedeuten Kafka“) auch richtig sein, bleiben aber dennoch flach, weil sie die Krise als „Situation der Moderne“ durch die marxistische Brille verstellen, die Verhandlung von zeitgenössischen Diskursen in Kafkas Werk nicht identifizieren, auf die Analyse seiner Poetik weitgehend verzichten.13 Diese Diagnose stellte der tschechoslowakischen Kafka-Forschung bereits Grossman (1964) aus, der ein Jahr nach Liblice mit seiner Dramatisierung des Proceß’ für Furore gesorgt hatte. Die Fokussierung auf den Unterbau durchzieht dabei die Goldstücker-Veröffentlichungen des Jahres 1963 wie ein roter Faden. Auffallend ist die dekontextualisierte Stelle Sartres, die Goldstücker immer wieder zitiert, wobei er damit eine signifikant andere Richtung einschlägt als Sartre mit seinem Versuch, Kafka aus lokalen Diskursen heraus12 Den „utopischen Sozialismus“ bezieht Goldstücker auf Kafka direkt, zieht aber auch eine Analogie zwischen Karl Roßmann, dem Heizer und den Herren (Kapitän, Reederei) einerseits und Kafka, den Versicherten und der Leitung seiner Versicherungsanstalt andererseits, während er den „Landvermesser“ unter Bezug auf „Bodenverteilung“ als jemanden versteht, der den Vollzug der „Verteilung des Eigentums“ vorbereitet (Goldstücker 1965: 37, 43). 13 Zur Moderne s. Vietta (2001); zur Verhandlung von Diskursen s. Kilcher (2010), Nekula (2012).

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zuführen und auf sein Werk zu fokussieren. Bei der Literatur – und so auch bei Kafka – wird dagegen die gesellschaftliche, volkshafte Verankerung des künstlerischen Werkes ins Feld geführt: Hloubka každého díla vyvěrá z národních dějin, z jazyka, z tradic, ze zvláštních a namnoze tragických otázek, jež doba a místo kladou umělci skrze živé společenství, jehož je nedílnou součástí. (Goldstücker 1963a: 5) [Die Tiefe eines jeden Werkes speist sich aus der Tiefe der nationalen Geschichte, der Sprache, der Tradition, aus den besonderen und vielfach tragischen Fragen, die die Zeit und der Raum dem Künstler auferlegen durch die lebendige Gemeinschaft, deren untrennbarer Bestandteil er ist.]

Davon leitet Goldstücker seine Forderung der „Erdung“ von Kafka ab, die er sowohl im territorialen als auch im sozialen Sinne versteht. Da Kafkas Proletarisierung sowie seine Verbindung mit dem „Volk“ bei der Übersetzung von Kafka in einen utopischen Sozialisten und Revolutionär eine wichtige Rolle spielen, deutet Goldstücker später Hermann Kafkas Biographie in diesem Sinne um und baut so eine Eselsbrücke zum tschechischen volkshaften Unterbau des Werkes von Franz Kafka. So behauptet er schließlich auch, dass Hermann Kafka, den er „Heřman“ nennt und dessen Nachnamen er etymologisiert, [...] vyrostl v čistě českém prostředí a po celý život ovládal češtinu lépe než němčinu. (Goldstücker 1964d: 7) [in einem rein tschechischen Milieu aufgewachsen ist und sein Leben lang Tschechisch besser als Deutsch beherrschte.]

Zeitgleich verstärkt die tschechischen volkshaften Motive in seiner populären Bildbiographie auch Klaus Wagenbach, der Hermann Kafka als „tschechischen Juden“ etikettiert und ihn „aus dem tschechisch-jüdischen Provinz­ proletariat“ stammen lässt (Wagenbach (1991 [1964]: 17).14 Wagenbach macht aus Hermann Kafka, ein Argument ist ihm auch der „tschechische Nachname“, gar den „Vorstand der ersten Prager Synagoge, in der tschechisch gepredigt wurde“ (Wagenbach 1991 [1964]: 16). Hier ist die Verwandlung des Repräsentanten der „Prager deutschjüdischen Bourgeoisie“ (Reiman 1958b: 211) – dieses Etikett ist ihm in der Stalin-Ära zum Verhängnis geworden – in einen Sohn des tschechischen jüdischen Landproletariers abgeschlossen, wobei Goldstücker bezeichnenderweise das Jüdische zurückstellt. Doch wie nahe steht dieses zweckgebundene Konstrukt zur Wirklichkeit? Hier bleibt 14 Tschechische Motive in der Familie tauchen aber bereits in seiner Biographie aus dem Jahre 1958 auf.

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der in seinen Ausführungen über Kafka anderswo surreale Hugo Siebenschein ziemlich realistisch und spricht in Bezug auf die Sprache davon, dass Hermann Kafka „vollkommen deutsch“ beherrschte und dass ihm die beiden Sprachen (Deutsch und Tschechisch) „ein genauso willkommenes wie gleichgültiges Verständigungsmittel waren.“15 Solche Korrekturen könnte man auch bei anderen Details vornehmen.16 Auf die Spitze trieb Goldstücker seine „Erdung“ und damit auch die territorial-nationale Wir-Aneignung in den Literární noviny, als er Kafka im Oktober 1963 als „heimat- und volksverbunden“ darstellte: Nám v Československu je mnohem víc. Narodil se v Praze, jeho celý život i jeho dílo jsou spjaty s naším hlavním městem a naší zemí. [...] Mezi prostými lidmi z pražského Starého Města kolují vzpomínky a zkazky o Kafkovi, v nichž se mísí báseň s pravdou. [...] v jeho[...] díle [...] nacházíme ohlas našich starostí. (Goldstücker 1963h: 9; Herv. M. N.) [Für uns in der Tschechoslowakei bedeutet er [= Kafka] mehr. Er wurde in Prag geboren, sein ganzes Leben und sein ganzes Werk sind mit unserer Hauptstadt und unserem Land verbunden. [...] Unter den einfachen Menschen / unter dem einfachen Volk aus der Prager Altstadt werden Erinnerungen an und Geschichten über Kafka kolportiert, in denen Wahrheit und Dichtung ineinandergreifen. [...] in seinem Werk [...] findet sich der Abdruck unserer Sorgen.]

Diese Äußerung ist zwar in einem Aufsatz erschienen, in dem er sich gegen die Attacken des „Genossen“ Kurella wehrt. Dabei geht es hier nicht nur um eine literaturhistorische Diskussion um Entfremdung, d. h. ob diese lediglich zeitgebunden als Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft zu betrachten sei, wie dies die Repräsentanten der DDR-Germanistik verstehen möchten, oder ob dieses Konzept übertragbar wäre, wie dies die an der Kafka-Konferenz beteiligten tschechoslowakischen marxistischen Literaturwissenschaftler oder auch Ernst Fischer und Roger Garaudy behaupteten. Durch eine derartige Politisierung der marxistischen Literaturwissenschaft wurden wissenschaftspolitische Grenzen überschritten, die Aversionen der Ideologen gegen Kafka hervorriefen. So verglich der tschechische Literaturwissenschaftler Vítězslav Rzounek Kafka und Jaroslav Hašek in der zentralen literaturwissenschaftlichen Zeitschrift Česká literatura [Tschechische Literatur] miteinander und verwarf Kafka mit biographischen Argumenten als dekadent, denn im Unterschied zu Hašek, der an der Revolution teilnahm, soll sich Kafka der Revolution verweigert haben. Diese Sprache kennt man noch aus den 1950er-Jahren. Es ist aber bei 15 „stejně vítaným a stejně lhostejným dorozumívacím prostředkem.“ (Siebenschein 1947: 21). 16 Zur Analyse der Sprachen in der Familie Kafkas s. Nekula (2003a-b, 2007, 2008).

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Goldstücker bei Weitem nicht nur eine Schutzbehauptung gegen die Angriffe des Genossen Kurella,17 sondern stellt ein Prinzip dar, das durch die Publizistik verstärkt wird und Kafka zum ‚tschechischen‘ Autor macht. Eine territoriale und volkshafte „Erdung“ Kafkas verlangte nämlich Goldstücker bereits in der schon zitierten Februar-Ausgabe der Literární noviny (Goldstücker 1963a: 4) und zeichnete so die Rezeption von Franz Kafka im Jahre 1963 vor. In der Kontextualisierung der Texte sieht er dabei eine Möglichkeit, das Wuchern der Kafka-Forschung einzudämmen und die Vieldeutigkeit der Lesarten von Franz Kafka zu überwinden [sic!], ohne wahrhaben zu wollen, dass der Reiz des Autors vielleicht doch eben in seiner „Mehrstimmigkeit“ bestehen dürfte.18 Das in Bezug auf Kafkas Texte vage Postulat seiner „Erdung“ vertrat Goldstücker auch in der Polemik mit Ivo Fleischmann in den Literární noviny im März 1963 (Fleischmann 1963b). Fleischmann sah in Kafka unter Berufung auf Max Brod einen religiösen, metaphysischen, transzendenten Dichter, der das Leben, in das wir geworfen werden, als einen Prozess darstellt, den wir mit uns selbst und mit Gott führen und in dem wir – da wir ja sterben müssen – die Verlierer seien. Goldstücker warnte dagegen in marxistischer Manier vor der Illusion, dass umělecké dílo a jeho tvůrce lze plně pochopit, aniž vezmeme v úvahu vedle díla i vnější, osobní, společenské, historické okolnosti, v nichž umělec žil a z nichž tvořil. (Goldstücker 1963c: 4f.) [ein künstlerisches Werk und sein Schöpfer voll zu verstehen sei, ohne dass man neben dem Werk auch die äußeren, persönlichen, gesellschaftlichen, historischen Umstände in Betracht zieht, in denen der Künstler lebte und aus denen er schöpfte.]

Auf eine solche „Erdung“, bei der das Jüdische – wie in der Polemik mit Fleischmann – von Goldstücker ausgeblendet wurde, mit anderen Worten auf die Verortung im Prager und im tschechischen Milieu kam es Goldstücker auch bei der Liblice-Konferenz an. Dieser Prager Deutungsanspruch wird auch in der Lokalisierung „aus Prager Sicht“ im Titel des Bandes erkennbar. Die „Prager Sicht“, die in der biographischen Verortung Franz Kafkas bestand, schlug auch in der Ansprache und in der persönlichen Erinnerung der kommunistischen Nationalkünstlerin Marie Majerová durch: Er sprach tschechisch und schrieb deutsch, er war mit uns oft beisammen und war uns dennoch fern. Aber er gehörte zu uns als Prager, einheimisch in den alten Prager Gäßchen 17 Zur Position der DDR-Germanistik zu Kafka und zur Verflechtung der Literatur und Politik in Bezug auf das Jahr 1968 s. den aufschlussreichen Aufsatz von Höhne (2003). 18 So Wagner (2012), der auch von der „poetischen Kurzschrift“ spricht, in der Kafka zeitgenössische Diskurse in seinem Werk „protokolliert.“ (Wagner 2007)

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[...], ein Kenner der tschechischen Literatur. Wir allerdings trieben uns in den noch frischen Spuren Nerudas umher, während er gleichsam in den fünfhundert Jahre alten Fußstapfen des Rabbi Löw herumspazierte. (Majerová 1965: 9)

Bezeichnenderweise wurde das Jüdische in der Ansprache lediglich beiläufig („gleichsam“) erwähnt und sogleich – so zum großen Teil auch in weiteren Konferenzbeiträgen – ausgeblendet, als ob nur die orale Verankerung im tschechischen Volkskollektiv zu gelten hatte. So kam nach zwei weiteren Eröffnungsreden (E. Goldstücker, P. Reiman) Eduard Goldstücker mit seiner marxistischen „Erdung“ von Franz Kafka an die Reihe. In seinem Vortrag Franz Kafka aus der Prager Perspektive griff er die zuvor genannten biographischen Topoi auf: Kafka sei nur von Prag aus zu verstehen; der Prager Kontext ist der Unterbau, aus dem Kafkas Werke wachsen; der Autor suche eine Anbindung an das Volk, von der auch sein Werk zeuge etc. Von der „Prager Sicht“ erwartete Goldstücker, dass „Antworten auf einige, mit dem Leben und dem Werk Franz Kafkas zusammenhängende Fragen doch am besten von Prag aus beantwortet werden können.“ (Goldstücker 1963a: 5; 1964d: 64; 1965: 26) Denn Kafkas „Lebensproblematik in Prag“ solle sich in seinem Werk „spiegeln“, sodass erst das Verständnis des historisch-gesellschaftlichen Kontextes den sicheren „Unterbau“ für das Verständnis von Kafkas Werk – d. h. des „Überbaus“ – darstelle. Gerade die „grundlegende wissenschaftliche [= marxistische] Beleuchtung des Fragenkomplexes, das sich unter dem Stichwort Kafka und Prag zusammenfassen lässt“, sei der „Schlüssel“ zu Kafka (Goldstücker 1964d: 73). Damit bekam Biographisches und Soziologisches einen Vorrang vor dem „Überbau“ der Texte. Auf Goldstückers Vortrag folgte František Kautman mit seinem Beitrag Franz Kafka und die tschechische Literatur, in dem er die Berührungspunkte mit der tschechischen Literatur und Kultur aufzählte, sie aber eher als zufällig und flüchtig einstufte. Dennoch meinte auch er, dass Kafkas Werk ohne den tschechischen Kontext „undenkbar“ sei. Auch der Bericht in den Literární noviny stufte die zwei Plenarvorträge als zentral ein. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Stimme von Václav Černý. Černý setzte sich mit Kafka bereits in den 1940er-Jahren auseinander. In Kafka sah er einen Präexistentialisten und seine Texte las er in Anlehnung an Sartre philosophisch (Černý 1948: 24 f.; Čermák 1994a: 232). Bezeichnenderweise wurde er zur Liblice-Konferenz, wo die „Genossen“ unter sich blieben, nicht eingeladen. Die Liblice-Konferenz, die an einem kaum unbemerkt vorübergehen konnte, fasste er folgendermaßen zusammen: Počet revuí u nás přímo skokem narostl od roku 1963, to byl v květnu rok třetího sjezdu spisovatelů a také málo zdařilé mezinárodní konference o Kafkovi v Liblicích. Goldstücker

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Marek Nekula se tam dosti nemohoucně pokusil přistřihnout Kafku na rozměry a typ sociálního, ne-li socialistického básníka, vrátil se nedávno z dlouholetého žaláře, režim ho odškodnil profesurou na Karlově univerzitě, Goldstücker dělal co mohl a byl hotov udělat i co jinak nešlo. Nicméně povolený Kafka – znamení proměněného času! (Černý 1992: 475) [Die Zahl der Revues stieg bei uns ab 1963 sprunghaft, und zwar zum Zeitpunkt des dritten Schriftstellerkongresses und der wenig gelungenen internationalen Konferenz über Kafka in Liblice. Goldstücker bemühte sich dort ziemlich unbeholfen, Kafka auf die Proportionen und den Typ des sozialen, wenn nicht gar sozialistischen Dichters zurechtzustutzen, er wurde erst kurz davor aus dem Gefängnis entlassen, das Regime entschädigte ihn durch eine Professur an der Karls-Universität, Goldstücker tat, was er konnte, und war bereit, auch das zu tun, was nicht zu machen war. Trotzdem wurde Kafka erlaubt – ein Zeichen der sich wandelnden Zeit!]

Sartres Vorstoß zum Lesen des literarischen Textes und zur Befreiung der Kultur aus der Umklammerung der Politik ist bei der Liblice-Konferenz nicht ganz gelungen und bei der Erdung Kafkas in einem lokalen Kontext hatte die frisierte Biographie Vorrang. Die Texte sind aber immerhin zum Leser durchgedrungen, in der fachlichen Reflexion aber nicht zwingend ins Zentrum des Interesses gerückt.

3. Einblendung und Ausblendung: Kafkas Tschechisch Neben dem Beitrag von Kautman, der unter den damaligen Verhältnissen eine beachtliche Pionierarbeit leistete, waren es die Erstveröffentlichungen von Kafkas auf Tschechisch geschriebenen Briefen, wenn auch fragmentarisch, die für die Kafka-Forschung ein Novum darstellten (Kafka (1963l; Loužil 1963). Die Erstausgabe einer Edition von Kafkas Briefen an die Familie und seiner Amtlichen Schriften ist erst zehn Jahre später erschienen (Kafka 1974, 1975, 1977, 1984). So entstand in Prag in Bezug auf Kafka ein Wissens- und Kompetenzvorsprung, der aber kaum den Glauben an die einzig richtige Deutung von Kafkas vieldeutigen Texten und den alleinigen Deutungsanspruch auf Kafka und Prag „aus Prager Sicht“ begründen konnte, wie man dies aus den polemischen Beiträgen Eduard Goldstückers herauslesen kann. Die Tatsache, dass Kafka Tschechisch beherrschte, war dabei auch vorher nicht unbekannt. Weil man sich jedoch bis zu den erwähnten Veröffentlichungen lediglich auf Zeitzeugen und nicht auf Texte stützen konnte, blieb der Raum für Fantasien offen. So behauptete Hugo Siebenschein in der sonst respektablen Arbeit

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Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag] im Jahre 1947, dass Franz Kafka, den er als einen „surrealen Dichter“ einstufte, selbst etwas surreal: Jazykem jeho politických přátel byla čeština, jen po česku byl bezstarostný a zvídavý jako dítě, jen česky zpíval. Skeptičtější druhové leckdy nad ním kroutili hlavou, když jej spatřili v českém manifestujícím davu zpívat národní, sokolské, socialistické písně. Byl několikrát přistižen, jak z plných plic zpíval Hej, Slované, bledý, rozrušený, nevida a neslyše nic kolem sebe, se zaníceným leskem v plachých očích. (Siebenschein 1947: 21f.) [Die Sprache seiner politischen Freunde war Tschechisch, nur auf Tschechisch war er sorgenfrei und neugierig wie ein Kind, nur auf Tschechisch sang er. Skeptischere Freunde wunderten sich über ihn, wenn sie ihn in der Masse tschechischer Demonstranten sahen, wie er nationale, Sokol- und sozialistische Lieder singt. Er wurde mehrmals ertappt, wie er aus voller Brust ‚Hej, Slaven‘ sang, bleich, aufgeregt, ohne etwas um sich zu hören oder zu sehen, die scheuen Augen vor Begeisterung leuchtend.]

Ein weiterer und nicht unproblematischer Zeitzeuge Kafkas und seines Bezugs zu seiner – auch tschechischen – Umwelt trat 1951 hervor: Gustav Janouch.19 Später, 1958, wurde in Deutschland die einflussreiche Monographie von Klaus Wagenbach veröffentlicht, in der neben den Prager Realien auch Kafkas Anarchismus und mit Verweis auf Hermann Kafka auch Kafkas ,tschechische Ader‘ behandelt wurden. Die tschechischen Editionen bedeuteten jedoch nicht nur die nächsten Vorstöße in diese Richtung, sie brachten auch unbekanntes Quellenmaterial ans Licht. O. Beneš und Paul Lecler, Übersetzer dieser Quellen ins Französische, brachten die Wirkung dieser Briefe bemerkenswert präzise zum Ausdruck, als sie ihre Übersetzung Kafka inconnu [Der unbekannte Kafka] nannten. Im Mittelpunkt steht Kafka und nicht seine Texte, und es ist der Wunsch, den unbekannten und in der Tschechoslowakei gar tabuisierten Kafka zu entdecken, den diese Enthüllungssucht antreibt. Bemerkenswert ist auch, dass die beiden ‚Funde‘, die Kafka „aus Prager Sicht“ zeigen und somit die Wirkung der Liblice-Konferenz verstärken, außerhalb der Konferenz – nämlich in der Zeitschrift Plamen und der Museumszeitschrift – publik gemacht wurden. Auf der Liblice-Konferenz berichtete Josef Čermák über die „unbekannten Kafka-Dokumente“ – d. h. über Kafkas Briefe an Ottla und die Familie. In dem Tagungsband, der auf Tschechisch bereits 1963 veröffentlicht wurde, bezieht er sich explizit auf die Publikation der Briefe in der Juni-Nummer von Plamen [Flamme], druckt sie aber nicht ab.

19 In der weiteren Auflage aus dem Jahre 1968 legte Janouch mit weiteren Details gerade in die tschechische Richtung deutlich nach (Janouch 1968; dazu im Detail Nekula 2009).

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Erst nach 1989 erscheinen diese Texte im Rahmen der textkritischen Edition von Kafkas Texten (Kafka 2005a, b; Čermák 1963b).20 Dabei hat man es hier – wie bei Kafka üblich – mit einem Paradox zu tun. Aus der Edition der unbekannten Briefe in der Zeitschrift Plamen wird zwar ersichtlich, dass Franz Kafka sich seine Briefe an die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt von Ottla und ihrem tschechischen Ehemann Josef David aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzen ließ. Dennoch trug gerade die Edition dieser Texte im Kontext des Jahres 1963 maßgeblich zum Mythos von Kafkas Verbundenheit mit der tschechischen Sprache und Kultur und dem tschechischen Volk bei. Der Abdruck vermittelte nämlich der tschechischen Öffentlichkeit und damit auch der tschechischen Germanistik die Überzeugung, dass Kafka in den nicht übersetzten tschechischen Briefen an die Familie weitgehend fehlerfrei tschechisch schrieb (und sprach). Die Überzeugung, dass er mit der tschechischen Sprache und Kultur auf das Engste verbunden und daher „aus Prager Sicht“ am besten zu verstehen sei, lag dann nahe. In Wirklichkeit war aber Kafkas Tschechisch keineswegs so fehlerfrei, wie man es aufgrund dieser Edition glauben könnte. In der Edition gibt es nämlich auf nicht einmal vier kleinen A5-Seiten des tschechischen Textes 53 Verbesserungen gegenüber dem Original, die Kafkas Tschechisch in positiverem Licht erscheinen lassen sollen. Hier einige in Auswahl: Original21 zůčastnil lyžarský nádeje [ty] si hebrejský totíž oprav ji to nepřijemné lékarské [já] děkují nábídku půjdes večér napíšes nemás

Tschechische Edition (Kafka 1963b: 84-94) zúčastnil lyžařský náděje [ty] jsi hebrejsky totiž oprav jí to nepříjemné lékařské děkuji nabídku půjdeš večer napíšeš nemáš

20 „Die Ausgabe in Kafka (1996) ist allerdings nicht fehlerfrei und wurde erst in Kafka (2005a-b) berichtigt.“ 21 Ich ging, als ich für mein Buch recherchierte, bei dem Vergleich von den in der Bodleian Library (Oxford) aufbewahrten Manuskripten aus. Mehr dazu in Nekula (2003a), Faksimile der Texte in Nekula (2003b).

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Einblendung und Ausblendung ke mě ke mně s ními s nimi ješte ještě jsi chtěl si chtěl o Berlinském o berlínském Berlinské cený berlínské ceny

Am gravierendsten ist die Korrektur eines Fehlers im Aspekt, dem besten Indikator muttersprachlicher oder muttersprachlich naher Beherrschung des Tschechischen: Original [...] buď bude třeba abych se dále léčil totiž buď bude nádeje že bych se mohl ještě dále vyléčit [...]

Tschechische Edition [...] buď bude třeba abych se dále léčil totiž buď bude náděje že bych se mohl ještě dále léčit [...] (Kafka (1963b: 93)

[...] entweder wird es erforderlich sein, dass ich in Behandlung bleibe, das heißt, entweder besteht die Hoffnung, dass ich mich noch weiter auskurieren kann [...]

[...] entweder wird es erforderlich sein, dass ich in Behandlung bleibe, das heißt, entweder besteht die Hoffnung, dass ich mich noch weiter kurieren kann [...]

Wahrscheinlich waren es gerade diese Ausbesserungen, die Kafka als vollständig bilingual erscheinen ließen, dass man trotz besserem Wissen an Kafkas innerer Verbundenheit mit dem Tschechischen festhielt.22 So behauptet etwa Jaromír Loužil anhand von Kafkas Briefen an die Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt etwas voreilig, dass prokazují téměř dokonalé ovládání českého jazyka; rozhodně jde o víc než jen o rakouskou ‚advokátskou češtinu‘ [...]. (Loužil 1963: 59) [sie fast vollkommene Beherrschung der tschechischen Sprache beweisen; es handelt es sich ganz entschieden um mehr als österreichisches ‚Advokatentschechisch‘.]

Dabei kann man diese Texte nur mit wenigen Ausnahmen für authentische Texte von Franz Kafka halten, weil sie für Kafka konzipiert oder aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzt wurden.23

22 Ähnliches kann man bei Zdeněk Nejedlýs Korrektureingriffen bei der Edition von tschechischen Texten aus der Familie von Friedrich/Bedřich Smetana feststellen, wobei er auf diese bereinigte Edition seine These von den national bewussten und rein tschechischen Verhältnissen in der Familie Smetanas stützt (Nekula/Rychnovská 2010). 23 Im Einzelnen nachgewiesen in Nekula (2003a-b). Ähnlich ging in offizieller Kommunikation auch Friedrich/Bedřich Smetana vor, ein anderer für die tschechische Kultur Verein-

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Hinweise auf Kafkas Verbundenheit mit dem ‚tschechischen Element‘ kommen auch von einer anderen Seite. Ich denke hier an die Erinnerungen der Tschechin Anna Pouzarová, die in der Familie Kafka mit einundzwanzig Jahren als Erzieherin von Kafkas Schwestern diente. Sie wurden 1964 in der Zeitschrift Plamen und der Zeitung Práce veröffentlicht und durch Herausgeberkommentare entstellt. Darin wird die Geschichte einer kaum bekannten Liebe zwischen der „schönen und schlanken“ Tschechin und dem zwei Jahre jüngeren Kafka erzählt, der Anna dazu anhält, seinen Schwestern aus der Babička [Die Großmutter] von Božena Němcová vorzulesen. Hier verdichten sich Hinweise auf eine nationale Aneignung nicht nur im sprachlichen, sondern auch im literarischen und erotischen Sinne.24 Mit Blick auf die Briefe an Milena (1952), in denen aus den tschechischen Briefen von Milena tschechische Textfragmente in Kafkas deutsche Texte einfließen und in denen Hinweise auf tschechische Autoren verstreut sind (und die 1966 in einer populären Auflage erschienen), hätte man noch nachlegen können, wie dies Pavel Reiman zuvor am Ende seines Nachwortes zur tschechischen Ausgabe des Proceß getan hatte. Er schließt sein sonst sachliches Nachwort mit einem Satz, in dem er seine Freude zum Ausdruck brachte, dass dieser Roman nun „in der Sprache seiner Milena Jesenská“ erscheint.25 Der Punkt ist aber, dass es sich bei Anna Pouzarová um einen privaten Kontext und bei Milena Jesenská um private Briefe handelt, nicht um literarische Texte. Der Hinweis auf Němcová ist zwar wichtig, dennoch fehlt in den 1960er-Jahren – abgesehen von der Nennung von solchen Berührungspunkten, wie sie Kautman (1965) verdienstvoll zusammengetragen hat – eine ernsthafte Analyse von Kafkas Texten, die Kafka von dieser Seite anhand der literarischen Texte „aus Prager Sicht“ zeigen würde. So verharrt Goldstückers Forderung der „Erdung“ Kafkas und sein Deutungsanspruch auf Kafka „aus Prager Sicht“ im Biographischen und Soziologischen und wird im komparatistischen Sinne in den 1960er-Jahren nicht eingelöst. Damit ist noch ein weiteres Problem verbunden. Die Chiffre ‚Prag‘ in „aus Prager Sicht“ wird nicht nur durch die Publizistik, die die Liblice-Konferenz verstärkt,26 sondern auch durch die Liblice-Konferenz selbst sehr stark auf den lokalen Kontext und dadurch auch auf die tschechische Thematik und nahmter (Nekula/Rychnovská 2012), der aber im Unterschied zu Kafka nach 1861 in die nationale Kultur und ihre Organisationsstrukturen eingestiegen ist. 24 Pavel Eisner glaubt in der erotischen Aneignung einer anderen Kultur gar ein allgemeines Modell für die deutsche Dichtung in Prag und Böhmen zu erkennen (Eisner 1930). 25 „v jazyce jeho Mileny Jesenské.“ (Reiman 1958b: 225). 26 S. u. a. Fleischmann (1963b), Kosík (1963), Hanuš/Šmejkal (1964), Kautman (1964a-c).

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auf die „tschechische Sicht“ fokussiert, wie dies in dem obigen GoldstückerZitat sehr deutlich geworden ist. Ich wiederhole hier nur die ersten zwei Sätze und markiere die darin zum Vorschein kommende Wir-Aneignung von Franz Kafka: Nám v Československu je mnohem víc. Narodil se v Praze, jeho celý život i jeho dílo jsou spjaty s naším hlavním městem a naší zemí. (Goldstücker 1963h: 9; Herv. M. N.) [Für uns in der Tschechoslowakei bedeutet er [= Kafka] mehr. Er wurde in Prag geboren, sein ganzes Leben und sein ganzes Werk sind mit unserer Hauptstadt und unserem Land verbunden.]

Angesichts des tatsächlichen Proporzes des Tschechischen und Jüdischen in Kafkas Lebenspraxis, Freundeskreis, Korrespondenz, Lektüre und Schreiben kommt die Vereinnahmung der Chiffre ‚Prag‘ in „aus Prager Sicht“ für den lokalen sozialen Kontext und die tschechische Literatur und Sprache einer teilweisen Ausblendung des Jüdischen gleich, während der Kontext der ‚Prager deutschen Literatur‘ durch die zweite Liblice-Konferenz im Jahre 1965 Beachtung fand.27

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27 Dennoch dürfte die Liblice-Konferenz im Jahre 1963 einer der Türöffner der Rückbesinnung auf das Jüdische sein. So folgt im Jahre 1964 die Umbenennung des Památník národního utrpení [Denkmal des nationalen Leidens] in Památník Terezín [Denkmal Terezín] und es werden in dieser Zeit Pläne für ein Ghetto-Museum in Theresienstadt entwickelt. Mit Kafkas Texten hat dies allerdings weniger zu tun.

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Manfred Voigts

Entdeckung Kafkas als jüdischer Autor Die folgenden Ausführungen werden sich nicht mit der gesamten Geschichte der Interpretation Kafkas als jüdischem Autor befassen, also auch nicht mit dem Streit über Kafkas Nähe zum Zionismus, sondern nur mit der grundsätzlichen Problematik, die ihr zugrunde liegt. Diese lässt sich schon in der frühen, von Jürgen Born in seinen beiden Bänden Kritik und Rezeption dokumentierten Phase bis 1938 nachzeichnen. 1962 schrieb Johannes Urzidil, der 13 Jahre nach Kafka geborene und mit ihm bekannte Prager Schriftsteller, an die in München herausgegebenen Prager Nachrichten: Die Unterscheidung zwischen ‚nichtjüdischen‘ und ‚jüdischen deutschen Dichtern‘ scheint mir lächerlich. Sie wurde von literaturfernen Dummköpfen in einer Zeit gezogen, die sich als erheblicher Nachteil für alle Beteiligten erwies und die von Neuem durch solche Unterscheidungen einzuleiten ich von Amerika aus auf das Entschiedenste widerraten muß. (zit. n. Wichner/Wiesner 1995: 9)

Die Suche nach etwas spezifisch Jüdischem in der Literatur bleibt problematisch, was spätestens dann deutlich wird, wenn man nach dem spezifisch Deutschen fragt. Der Expressionist Robert Müller hat 1916 „etwas Urdeutsches, rühmlich Artiges, im Erzählenden Meistersingerliches“ in Kafkas Texten gefunden (Müller 1983 [1916]: 72). Genau ein Jahr später schrieb Max Brod: „Obwohl in seinen Werken niemals das Wort ‚Jude‘ vorkommt, gehören sie zu den jüdischsten Dokumenten unserer Zeit.“ (Brod 1916: 150) Bekanntlich hat Kafka daraufhin gefragt: „Bin ich ein Circusreiter auf 2 Pferden?“ (Kafka 2005: 250) Diese Frage erscheint heute nur sinnvoll, weil Robert Müller von ‚Urdeutschem‘ und ‚Meistersingerlichem‘ geschrieben hat und dadurch den historischen Bezugspunkt auf die voraufklärerische und voremanzipatorische Zeit gelenkt hat. Sonst hätten wir kein Problem, von einem deutsch-jüdischen Autor zu sprechen. Warum das so ist, wird klar, wenn wir die zentralen Sätze für den Eintritt der Juden in das deutsche Geistesleben hören, wie sie 1822 von Eduard Gans, dem Mitbegründer des Vereins für Cultur und Wissenschaft des Judentums, formuliert wurden. Gans äußerte sich zu der Art und Weise des „Aufgehens der jüdischen Welt in der europäischen“:

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Manfred Voigts Aufgehen ist nicht untergehen. Nur die störende und blos auf sich reflektierende Selbständigkeit soll vernichtet werden, nicht die dem Ganzen untergeordnete, der Totalität dienend, soll es sein Substantielles nicht zu verlieren brauchen. Das, worin es aufgeht, soll reicher werden um das Aufgegangene, nicht blos ärmer um den verlorenen Gegensatz. (Gans 1919: 112)

Das Verbindende sollte hervorgehoben, das Trennende überwunden werden. Deutsches und jüdisches Kulturerbe sollten innerhalb eines europäischen Rahmens verschmelzen können. Dass diese Zusammenhänge noch über 100 Jahre später aktuell waren, zeigt eine Kafka-Rezension, deren Autor von Jürgen Born nicht identifiziert werden konnte. Kafka wird hier mit Hofmannsthal und André Gide verglichen, und dann heißt es: „Bei diesen beiden Namen wird aber auch sogleich offenbar, was Kafkas Aufzeichnungen fehlt: die europäische Bereitschaft, die uns bei den andern so bewegt.“ (V-c 1937: 449) Besonders störte den Rezensenten, dass es sich bei Kafka vor allem um „Selbstbetrachtungen“ handele, also genau um das, was Eduard Gans aufgelöst sehen wollte, die ‚reflektierende Selbständigkeit‘. Selbständig, aber auch abgeschottet von der Umwelt waren die Juden vor der Emanzipation im Ghetto, und dass Manfred Sturmann in seinem Nachruf auf Kafka diesem „eine ghettohafte Atmosphäre in seinen Geschichten“ attestierte (Sturmann 1983a [1924]: 47), liegt genau auf dieser Linie. Damals – dagegen hätte wohl auch Urzidil nichts einzuwenden – war eine Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Dichtern möglich gewesen, wenn es denn damals im modernen Sinne jüdische ‚Dichter‘ überhaupt gegeben hätte. Jüdische Literatur war nämlich bis zur Emanzipation fast ausschließlich religiöse Literatur – wir werden hierauf zurückkommen. Kafka war Dichter und er war Jude. Kasimir Edschmid hat schon 1916 „alttestamentarische Wurzeln“ bei Kafka erspürt, allerdings seien sie „durch eine Luftschicht von uns getrennt“ (Edschmid 1983 [1916]: 64). Im selben Jahr noch wurde dem Text Die Verwandlung ein ‚feines Judentum‘ attestiert (G., M. 1983 [1916]: 74). Dies blieb ebenso undeutlich wie der Hinweis auf das ‚Unbewußt-Jüdische‘ (Brod 1983a [1921]: 103) bei Kafka oder der nicht näher erläuterte „entscheidende Einfluß jüdischer Geistesströmungen“ (Storck 1983 [1919]: 168). Deutlicher war der Hinweis des zionistischen Schriftstellers Josef Kastein 1919, der auf der Suche nach jüdischen Schriftstellern „Namen von gutem Klang“ aufzählte, „die gelesen und sogar gekauft werden: Baum, Werfel, Kafka, Fuchs, Brod, Zweig und noch andere, auch solche, die noch weiter östlich wohnen und die nicht Parade stehen zu Kurt Wolffs Reklameumschlägen.“ (Kastein 1919: 122)

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Felix Weltsch, Kafkas Freund, präzisierte 1920, die Erzählungen in Ein Landarzt zeugten von einem „spezifisch modern jüdischen Desorientiertheitsgefühl“ (Weltsch 1983a [1919]: 102). Hier war das Thema der Kafkaschen Selbsteinschätzung als traditionslosem Westjuden angeschlagen, dem sich ein Jahr später sogar Max Brod anschloss, als er feststellte, Kafka habe wie kein anderer „das Leid [...] des heimatlosen, gespenstischen Judentums“ beschrieben (Brod 1983b [1921]: 158). Weltsch, der in seinem Nachruf 1924 geschrieben hatte, Kafka sei ein „Jude von tiefster Verbundenheit mit dem Judentum“ (Weltsch 1983b [1924]: 25), beschrieb die jüdische Tiefenschicht seines Werkes 1931 mit den Begriffen „Unsicherheit, Fremdheit, Isoliertheit, Kleinheit vor Gott.“ (Weltsch 1983c [1931]: 320) Das Judentum aber war und ist eine Gemeinschaftsreligion. Ein guter Jude kann man nur sein innerhalb der Gemeinde, schon deshalb, weil man zentrale religiöse Riten nur in Gemeinschaft vollziehen kann. Das Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Juden wurde durch die Emanzipation immer schwächer. Kafka war kein aktives Mitglied der Gemeinde mehr. Manfred Sturmann schrieb 1934: Wie der Einsame in Kafkas Werk den Zuschauern, so steht der Jude seiner Umgebung, so das Judentum den Völkern gegenüber, als Sonderfall, als bemitleidenswerte, oder zu verfolgende, oder auszustoßende Extravaganz. (Sturmann 1983b [1934]: 350)

Und er spitzte zu: Kafka ist der Jude schlechthin, der Ewige Jude. (Sturmann 1983b [1934]: 349)

Dass der Jude schlechthin der ewige Jude sei, heimatlos und gespenstisch in der Welt umherziehend, ist ein uraltes antijüdisches Bild, es entstammt dem Mittelalter. Genau gegen diese Vorstellung eines den Völkern wehrlos ausgelieferten Judentums hatte sich der Zionismus gebildet, eine selbstbewusste und kämpferische Organisation, für die Kafka aber erst ab 1937 vor allem in Max Brods Kafka-Biographie in Anspruch genommen wurde. Immer wieder ist hier also der Bruch zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Judentum wichtig. Von besonderer Bedeutung ist in dieser frühen Kafka-Deutung daher der Bezug zum Talmud. Meines Wissens wurde die erste Verbindung 1925 von Willy Haas gezogen, der das Gespräch zwischen Josef K. und dem Gefängniskaplan als „eine lange streng talmudisch gefaßte Debatte“ bezeichnete, die „ausnahmsweise wirklich nur absonderlich und exzentrisch“ wirke (Haas 1983 [1925]: 92). Im selben Jahr schrieb Ernst Weiß über die Türhüter-Legende: „Kafka zerreibt dieses unvergeßbare Gleichnis, dieses nicht wieder zu ersetzende Erlebnis des Türhüters zu talmudischem Staub.“ (Weiß 1983 [1925]: 96)

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Es ist bemerkenswert, dass diese beiden Aussagen darin übereinstimmen, dass das Talmudische bei Kafka eine negative Auswirkung hatte. Das Bild des Talmud-Juden war nicht nur bei Christen und in der Aufklärung das Schreckbild des an das Gesetz geketteten, starrsinnigen und unaufgeklärten Juden, der Talmud wurde als Relikt des Mittelalters auch durch das Reformjudentum bekämpft. Schon 1818 schrieb der Vater der Wissenschaft des Judentums, Leo­pold Zunz: „Ehe der Talmud nicht gestürzt ist, ist nichts zu machen.“ (Zunz/ Zunz 1959: 13; Herv. i. Orig.) Um so erstaunlicher ist, dass Paul Eisner, ein tschechischer Germanist, 1931 die Meinung äußerte, Kafka sei „die große Spätblüte des Talmud“ (Eisner 1983 [1931]: 281), und auch Felix Weltsch machte in diesem Jahr eine kleine Bemerkung in diesem Sinne ohne jeden kritischen Unterton (Weltsch 1983c [1931]: 321). 1937 schrieb Klaus Mann, Schuld, Sühne und Gesetz seien die eigentliche Kafka-Frage, „die von manchen Kennern und Freunden ins Theologische oder sogar Talmudistische gedeutet [...] wird.“ (Mann 1983 [1937]: 425) Wie ist zu erklären, dass der Talmud hier positiv gewertet wurde? Die Antwort ist einfach: Die Realität des Talmud war hier so weit entrückt, dass er nur noch als Text, als Literatur aufgefasst wurde, seine Funktion innerhalb des jüdischen Lebens aber außer Acht gelassen wurde. Der Talmud wurde gesehen, der Talmudjude nicht. Der Talmud ist die Niederschrift der mündlichen Tradition der Gesetzesauslegung. Diese muss immer wieder den sich ändernden Lebensbedingungen der Juden angepasst werden. Das Durcheinander im Talmud, seine nach logischen Grundsätzen oft haarsträubende Argumentation, die Paradoxien – all dies hat als Hintergrund die praktische Umsetzung der Gesetzesinterpretation. Kafka besaß das Buch Die Geistesreligion und das jüdische Religionsgesetz von Ignaz Ziegler, und dort konnte er ein Zitat von Leo Baeck lesen: „Wo die rechte Handlung das Maßgebende ist, kann dem Ausdruck des Glaubens eine um so unbeschränktere Weite gegeben werden.“ (Ziegler 1912: 27) Wenn man das Ziel der ‚rechten Handlung‘ einfach fortlässt und den Talmud nur noch als Text nimmt, in seinem Stil und seiner äußeren Form, dann kann man auf jene Idee kommen, die Hans-Joachim Schoeps 1937 vortrug: Eine künftige Gesamtausgabe Kafkas wünschte ich mir [ ... ] nach der Art alter Talmudfolianten: den Kafka-Text in der Mitte – oben, unten und an den Seiten umrahmt von exegetischen Erklärungen und Deutungen. Denn diese Texte haben darin einen inneren Sachbezug zu dem Text aller Texte, daß sie der Kommentierung ebenso bedürftig sind wie die Zahl möglicher Kommentare ohne Ende scheint. (Schoeps 1983 [1937]: 419; Herv. i. Orig.)

Die unendliche Deutbarkeit der Texte Kafkas – ein immer stärker hervorgetretenes Problem der Wissenschaft – ist dabei eine ganz andere als die des Talmud. Diese Deutbarkeit muss zur Zukunft hin offen sein, um den Ent-

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wicklungen der Zukunft Rechnung tragen zu können. Die Deutung des Talmud hat immer diese Öffnung zur Zukunft, und nicht – wie bei der KafkaInterpretation – eine Festlegung der Vergangenheit. Der Text des Gesetzes ist im Talmud kein Dokument der Vergangenheit, er ist immer Gegenwart. Das moderne Bewusstsein aber ist ein historisches, auch wenn es um Dichtung geht. Wer, wie es Hans-Joachim Schoeps tat, die Romane und Erzählungen Kafkas als „neuzeitliche jüdische Quellenschriften“ bezeichnet, sagt mehr über seine Wünsche als über die historischen Realitäten. Auch die Beschreibung Kafkas als „vielleicht tiefsten jüdischen Gestalter einer Generation“ (a. 1983 [1937]: 433), vorgetragen immerhin in der hoch angesehenen Zeitschrift Der Morgen, wird von vielen Juden mit Kopfschütteln quittiert worden sein. Einer von ihnen, wahrscheinlich Jakob A. J. Michalski, hat 1935 in der orthodoxen Zeitschrift Der Israelit, die in Frankfurt am Main erschien, Folgendes veröffentlicht: Unfaßbar ist dem Referenten nur, wie eine übersteigerte literarische Propaganda es wagen konnte und fortgesetzt kann, Kafkas Kunst als eine spezifisch ‚jüdische‘ zu kennzeichnen und ihn als jüdisches Genie zu feiern! [ ... ] Mag man Kafka als Künstler feiern, sein Schaffen hat mit Juden und Judentum nichts zu tun und wir lehnen es ab, in diesem Schaffen einen Ausfluß jüdischen Wesens zu erblicken. (M[ichalski?] 1983 [1935]: 398)

Kafka kannte das orthodoxe Judentum als das der Ostjuden, und im Ostjudentum war die Lektüre schöngeistiger Literatur verboten oder erschwert. 1915 notierte Kafka im Tagebuch: Mit schöner Literatur oder sonstigem weltlichen Wissen soll man nach mittelalterlicher Tradition erst vom 70ten Jahr, nach einer mildern Ansicht erst vom 40. Jahr sich beschäftigen. (Kafka 1990b: 776)

Gerade seine eigene Literatur, die so voll von sexuellen Anspielungen und grausamen Szenen ist, wäre im klassisch-orthodoxen Judentum nicht zu akzeptieren. Die Entdeckung Kafkas als jüdischer Autor war also sehr spannungsreich, sogar widersprüchlich. Trotz aller historischen Aufarbeitungen und Interpretationen ist die Kafka-Forschung seitdem substantiell nicht weiter gekommen. Das kann auch nicht anders sein, denn diese Widersprüchlichkeit ist in den Texten Kafkas fest verankert. Der Hinweis von Hans-Joachim Schoeps auf die unendliche Interpretierbarkeit ist ja zutreffend und ebenso zutreffend ist, dass das Vorbild hierfür der Talmud war, mit dem Kafka sich seit der Gymnasialzeit befasst hat, zuletzt in der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Hans-Thies Lehmann hatte 1984 den Wunschtraum,

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Manfred Voigts daß alle Kafka-Leser alle Anspielungen, Etymologien, Strukturen, die ihnen auffielen, zusammentrügen: ein Spiel von riesigen Ausmaßen, das doch dem Ernst von Kafkas Unternehmen durchaus angemessen wäre. (Lehmann 1984: 240)

Dies wäre ohne Nachahmung des Druckbildes der Talmud für Kafka, in dem ebenso alle Meinungen aufbewahrt würden, seien sie auch noch so abseitig oder extrem. Wohl 1912/13 hat Kafka, wie Hugo Bergmann erinnerte (Binder 1977: 298), den Traktat Berachot, den ersten Teil des Talmud gelesen in der zweisprachig gedruckten Übersetzung von Moses Ephraim Pinner von 1842. Dort konnte Kafka in der Talmud-Erklärung des Maimonides lesen: „So sehen wir, dass es unsere Lehrer gethan haben, so das Binden der Hände, das Schlagen mit der Ruthe, das Geiseln, Bestrafen, das Ausziehen der Kleider“ (Maimonides 1842: o. S.). Die Parallele zum Prügler-Kapitel im Proceß ist offensichtlich (Kafka 1990a: 110f.). In dem von Pinner verfassten Vorwort heißt es: „Man findet kaum ein zweites Werk aus dem hohen Alterthume, das so vielfach gedeutet und so verschieden beurtheilt wurde als der Talmud.“ (Pinner 1842: 8) Die Forschung kann diesen Satz unverändert auf Kafka übertragen. Hier und in vielen anderen Passagen dieser Ausgabe des Traktats Berachot konnte Kafka sich und seine besondere Art des Schreibens bestätigt finden. Und doch war Kafka kein mittelalterlicher Talmudist, es ging ihm nicht um die Fortentwicklung des Gesetzes für seine Gegenwart. Marina Cavarocchi Arbib hat dies in einem Satz zusammengefasst: „Er (Kafka) nimmt an einer Denkstruktur teil, deren Inhalte er nicht mehr besitzt.“ (Arbib 1987: 126) Kafka war ein westjüdischer Schriftsteller mit einem unübersehbaren Anteil an jüdischem Selbsthass, und gleichzeitig hatte er ein Gespür für die mittelalterliche Tradition des Talmud. Er war beides, obwohl beides nicht zu harmonisieren war und der so entstandene Widerspruch nicht geglättet werden konnte. Ein Großteil der Schwierigkeiten der Kafka-Interpretation entspringt diesem Widerspruch.

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Entdeckung Kafkas als jüdischer Autor

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Die Verzeitlichung der Erfahrung in der Moderne. Perspektiven der philosophischen Kafka-Rezeption Das wohl wichtigste Motiv des philosophischen Interesses an Kafka liegt in der Rückhaltlosigkeit, mit der er das Problem der Begrenztheit und Vergänglichkeit von Erfahrung auslotet – und es zugleich einem Schreiben öffnet, das seiner Insistenz in ihre metaphysischen und theologischen Dimensionen folgt, deren Konturen sich in der Moderne zunehmend verflüchtigt haben. Denn dieses Problem, das die Moderne wie ein Schatten begleitet, ist mit dem sukzessiven Verlust einer für Kant zumindest noch denkbaren Gottesidee keineswegs obsolet geworden, sondern es radikalisiert und verschärft sich mit ihm. Das Schwinden fundamentaler Gewissheiten setzt die menschliche Erfahrung einer sich beschleunigenden Verzeitlichung und dem nihilistischen Zerfall traditioneller Horizonte und Wertvorstellungen aus, deren erstes unübersehbares Anzeichen die Katastrophe des Ersten Weltkriegs war (Benjamin 1991). Sie markiert einen ersten irreversiblen Bruch im Kontinuum des von der Aufklärung inspirierten Vernunftglaubens, der davon ausgeht, die Grenzen der Erfahrung für die Absicherung einer wissenschaftlich begründeten und progressiv fortschreitenden Vernunftidee dienstbar machen zu können. Vor allem in der zeitgenössischen Kunst der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts artikuliert sich das Bewusstsein, dass sich die Gesetze, unter denen sich Erfahrungen formieren und verändern, fortan keinem universalen Sinnhorizont mehr zuordnen lassen. Mit dieser in ihren Konsequenzen noch keineswegs ausgeloteten Einsicht erhält das moderne Bewusstsein der Begrenztheit und Endlichkeit menschlicher Erfahrung den neuen Sinn einer unkalkulierbaren Offenheit, in der sich die Fortschrittsidee der Aufklärung zunehmend auszuhöhlen beginnt. Kafka benennt in einem Tagebucheintrag ein entscheidendes Merkmal dieser Veränderung: Das Zerreißen des Zusammenhangs zwischen der individuellen Erfahrung und der „Aufeinanderfolge des Lebens“, in die sie einbezogen ist. Literatur, die in der Lage wäre, sich in diesem Zerreißen noch aufrechtzuerhalten, so notiert er, ist ein unablässiger „Ansturm gegen die letzte irdische Grenze und zwar Ansturm von unten, von den Menschen her.“ Das aber, fügt er hinzu, ist „nur ein Bild“, das sich ebenso gut ersetzen ließe „durch das Bild des Ansturmes von oben, zu mir herab.“ (Kafka 2002: 877f.) Der

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hier aufgespannte Vorstellungsrahmen erinnert nicht zufällig an theologische und metaphysische Erfahrungshorizonte. Anders als das moderne wissenschaftliche Bewusstsein begreift Kafka sie aber nicht einfach als historische Phänomene, die hinter uns liegen und sich der archivarischen Aneignung darbieten, sondern als Ansturm einer Fremdheit im Innern der eigenen Erfahrung. Damit ist nicht mehr sicher, ob Literatur das Vehikel dieses Ansturmes ist oder ihr Schauplatz – ebenso wenig sicher, wie die Herkunft und Natur der von Kafka angesprochenen „irdischen Grenze“. Denn eine letzte Grenze hat einen unverkennbar zeitlichen Index, der auch das Bild einer Grenze erfasst und in Frage stellt, die Irdisches und Überirdisches unterscheidet und in eine erkennbare Zuordnung einfügt. Offenbar setzt die hier von Kafka formulierte Erfahrung den klassischen, für wissenschaftliche Erkenntnis konstitutiven Konstruktionsrahmen außer Kraft, in dem die Grenzen unserer Erfahrung sie gegen ein Außerhalb absichern und ihr im Innern eine gesetzmäßige Begründung und Entwicklung garantieren.

1. Der ungreifbare Grund gesetzlicher Autorität: Jacques Derrida, Vor dem Gesetz Diese Problemstellung öffnet uns einen Zugang zu Jacques Derridas Auseinandersetzung mit Kafkas Parabel Vor dem Gesetz (Derrida 1992). Seit Kants Einsicht, dass Erkenntnis keinen festen Bezugspunkt mehr in einem gegebenen Sein außerhalb ihrer hat, wird der Begriff des ‚Gesetzes‘ in der Moderne zunehmend problematisch. Denn wenn Gesetze – etwa Gesetze vernünftiger Erkenntnis, Naturgesetze oder Moralgesetze – ihren Ursprung und ihren Geltungsgrund nicht mehr in einer transzendenten oder natürlichen Instanz haben, sondern allein im Horizont menschlicher Vernunftstrukturen, dann sind im Innern unserer Gesetzesbegriffe und all der Gesetze, mit deren Geltung wir täglich rechnen, die Keime von „Narrativität“ und „Fiktion“ angelegt (Derrida 1992: 46f.). Sie sind dann nichts anderes als Konstruktionen einer unhintergehbar endlichen Vernunft, die sich gegen geschichtliche Veränderungen nicht mehr immunisieren lässt. Diese Keime gehen in Nietzsches Einsicht auf, dass unsere Begriffe von ‚Vernunft‘ und ‚Erkenntnis‘ im Grunde nichts anderes sind und in zeitlichen Dimensionen auch gar nichts anderes sein können, als sprachliche oder „Zeichen-Convention(en)“ (Nietzsche 1980a: 76).

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Ihre Geltung beruht lediglich darauf, dass sie sich durch langen Gebrauch verfestigt haben und uns deshalb als natürlich erscheinen: In zeitlichen Dimensionen, so Nietzsche, sind unsere Grundbegriffe nichts weiter als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt werden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […]. (Nietzsche 1980b: 880f.)

Das aber ist leichter zitiert als gedacht. Die bei Kant bereits angelegte, von Nietzsche ausgesprochene Durchdringung unserer allgemeingültigen, für Erfahrung und Erkenntnis konstitutiven Gesetze und einer irreduzibel temporären Narrativität, findet ihren Niederschlag auch in einer Formulierung Kafkas, die unsere Erfahrungshorizonte als „Konstruktionen“ beschreibt, „deren unterstes Ende irgendwo im Leeren schwebt.“ (Kafka 2002: 596) Vor diesem, für unsere Erfahrung durchaus bedrohlichen, auf jeden Fall aber konstitutiven Hintergrund fragt Jacques Derrida im Blick auf Kafkas berühmte Erzählung, was es heißt, sich Vor dem Gesetz zu befinden und über das Gesetz zu schreiben. Die Durchdringung von Vernunft und Narrativität gibt auch und gerade für Kafka die Allgemeinheit des Gesetzes keineswegs der beliebigen Verfügung preis. Beides sind vielmehr die Spannungspole einer neuen Erfahrung, die auf der einen Seite davon ausgehen muss, dass es allgemeingültige Gesetze, Erfahrungen und Erkenntnisse nicht als feststellbare Gegebenheiten, d. h. nicht außerhalb eines stets singulären und geschichtlich veränderlichen Sprachgebrauches geben kann. Auf der anderen Seite besagt diese spezifisch moderne Erfahrung aber zugleich auch, dass ein singulärer Sprachgebrauch – wie etwa Kafkas Erzählung – sich seinerseits nur in einem unabsehbaren, geschichtlich offenen, aber keinesfalls gesetzlosen Zusammenhang mit anderen Sprachformen und Sprechweisen ausbildet, aus dem er hervorgeht, mit dem er umgeht und in den er sein individuelles Sprechen einschreibt. In diesem Licht gelesen, thematisiert Kafkas Text die für die moderne Erfahrung spätestens seit der Romantik konstitutive Durchdringung der Singularität eines individuellen und zeitlichen Sprachgebrauches und der Gesetzmäßigkeit des sprachlichen Geschehens, in das er immer schon eingebunden ist – und zugleich die unmögliche Begegnung beider. Wie dem „Mann vom Lande“ in Kafkas Text ist es uns unmöglich, die Gesetzmäßigkeiten einzusehen, denen wir unablässig entsprechen und die unsere Intentionen immer wieder durchkreuzen. Denn indem wir ein geltendes Gesetz lesen oder anwenden, haben wir es bereits in die Perspektive unserer singulären Interpretation übertragen und seinen Allgemeinheitsanspruch verfehlt. Aber außerhalb unserer singu-

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lären Perspektive gibt es keinen universalen Allgemeinheitsanspruch mehr, auf den wir uns als Gegebenheit berufen könnten. Gerade weil ein Gesetz anwendbar und lesbar, d. h. transparent ist, bleibt uns sein allgemeingültiger Sinn, den wir voraussetzen müssen, uneinholbar entzogen. Und andererseits ist ein Gesetz individuellen Lektüren zugänglich und transparent, gerade weil der allgemeine Grund seines Geltens unlesbar bleibt. Deshalb hat schon Kant seine Formulierung des Moralgesetzes nicht mehr inhaltlich, sondern rein formal bestimmt: Wir können nicht sagen, warum das Moralgesetz gilt und was es von uns verlangt. Denn sein inhaltlicher Sinn und seine unbedingte Geltung sind nicht unabhängig davon einzusehen, wie wir ihm im Umgang mit unserem Nächsten entsprechen. Indem wir aber seiner unbedingten Forderung Folge leisten und das Moralgesetz anwenden, haben wir es bereits interpretiert und seinen unbedingten Anspruch auf unsere eigene Sichtweise von Moral verengt. Dieses Paradox eines zeitlichen Gesetzes manifestiert sich, so Derrida, in Kafkas Erzählung und wendet sich in ihr direkt an uns: Die Tür zum Gesetz ist ebenso wenig geschlossen, wie die zu Kafkas Text: „sie steht offen‚ wie immer (sagt der Text), aber das Gesetz bleibt unzugänglich“ (Derrida 1992: 56f.) – und es ist gerade diese Unzugänglichkeit, die den Mann vom Lande auffordert, einzutreten und Aufschluss über sein Gelten zu suchen. In gleicher Weise sucht auch Kafkas Parabel Zugang zu einem Gesetz, das ihn kategorisch zum Schreiben auffordert: „Schreiben als Form des Gebets“, notiert er sich (Kafka 1992: 354). Gibt man diesem Anspruch statt, dann muss man davon ausgehen, dass sein Gesetz unbedingt und unabhängig von der Intention des Schreibenden gilt. Genau dieser Ausgangspunkt aber, das unbedingte Gelten des Gesetzes, wird vom Schreibprozess unterlaufen: Es zu formulieren, heißt, seinen unbedingten Anspruch einer subjektiven Schreibintention zu unterwerfen. Und es nicht zu formulieren bedeutet, seine Aufforderung, d. h. seinen Charakter als Gesetz verfehlen und wie der Mann vom Lande den Eintritt zu versäumen, der gerade für ihn offen stand (Derrida 1992: 47f.). Kafka war dieses Paradox des Schreibens und seiner eigentümlichen Gesetzmäßigkeit und Konsequenz durchaus bewusst: „Immer ängstlicher beim Niederschreiben“, notiert er in sein Tagebuch. „Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung –, wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher.“ (Kafka 2002: 926) Für Derrida wird Kafkas Schreibprozess – die paradoxe Spannung zwischen dem Gesetz, unter dem er zustande kommt, und dem Gesetz, das er anwendet und darstellt – zum Exempel oder besser zum Schauplatz für das Wirken einer fundamentalen Zeitlichkeit, welche die Erfahrung in der Moderne konstituiert und zugleich beständig unterminiert. Indem Kafkas Er-

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zählung uns zur Lektüre auffordert und unseren Eintritt zugleich aufschiebt, indem sie uns in ein unendliches Netz von Interpretationen und Meinungen über ihre Bedeutung verwickelt (Kafka 1990: 295-303), radikalisiert und verdichtet sie, so Derrida – eine Grunderfahrung, die in der Moderne bislang eher latent wirksam gewesen als wirklich begriffen worden ist. Wir stehen mit unseren subjektiven Erfahrungen vor dem, was wir Wirklichkeit nennen, wie der Mann vom Lande vor dem Gesetz: Die Tür steht weit offen, denn Wirklichkeit mit ihren Ordnungen und Gesetzen gibt es nur im Horizont unserer geschichtlichen Benennungen und Sprachkonventionen. Das heißt aber auch, dass der Ausblick ins Innere leer ist und niemals auf einen festen Grund stößt, da die Worte, die wir verwenden, keinen zweifelsfreien Halt mehr an einer substantiellen Realität haben. Worte haben ihre Bedeutung und ihre Sinnhorizonte nur in ihren unabsehbar offenen Verkettungen mit anderen Worten. Weil diese sich aber in jedem Sprachgebrauch verändern, ist uns das Gesetz dieser Verkettungen nicht zugänglich – auch wenn und gerade weil es unseren Sinnerwartungen niemals entspricht. Weil keine unserer Benennungen das erschöpft, was uns als Wirklichkeit begegnet, ist unser Zugang zu ihr und zu uns selbst unablässig aufgeschoben: „‚Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ‚jetzt aber nicht‘.“ (Kafka 1994: 267) Weil aber diese Unzugänglichkeit des Gesetzes zugleich verhindert, dass wir uns dauerhaft in den Ordnungen unserer bisher gemachten Erfahrungen einrichten können, ja diese Ordnungen in Frage stellt, fordert es uns unablässig und kategorisch auf einzutreten. Derridas Lektüre macht deutlich, dass Kafkas Wunsch, ganz in Literatur aufzugehen,1 alles andere ist als eine Flucht vor der Wirklichkeit, wie Kafka selbst zuweilen argwöhnt. Diese Literatur ist vielmehr das Medium seiner in unermüdlichen Anläufen unternommenen Versuche, sich rückhaltlos dem paradoxen Gesetz der zeitlichen Genese und den Veränderungen der Gesetzmäßigkeiten zu öffnen, die wir Wirklichkeit nennen, aber nicht mehr als zeitlose Gegebenheit voraussetzen können.2 Schreiben wäre dann – nicht anders als im Grunde jede unserer alltäglichen Erfahrungen – gewissermaßen die Kon­ stitution einer Gesetzmäßigkeit, die sich im Akt des Niederschreibens mit dem in seinem Vollzug Ungeschriebenen, Vergessenen und Verdrängten verbindet und in dieser Verbindung hinter unserem Rücken eine subversive Eigenge­ setzlichkeit annimmt, die uns daran hindert, uns in eingelebten Identitäten und vertrauten Sinnzusammenhängen dauerhaft einzurichten: 1 „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein“, schreibt Kafka an Felice (Kafka 2009: 444). 2 „Und wenn das Gesetz, ohne selbst von Literatur durchdrungen zu sein, seine Möglichkeitsbedingungen mit der Sache der Literatur (la chose littéraire) teilte?“ (Derrida 1992: 47)

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Wir rühren hier an einen der schwierigsten zu situierenden Punkte, wenn man die Sprache ohne Sprache, die Sprache jenseits der Sprache wiederfinden muß, jene Verhältnisse stummer, indes schon von der Schrift heimgesuchter Kräfte, wo sich die Bedingungen eines Performativs, die Spielregel[n] und die Grenzen der Subversion etablieren. (Derrida 1992: 88)

Literatur, welche diese Grunderfahrung einer Sprache, die unserem Sprechen immer schon zuvorkommt, benennt, wäre dann die Freisetzung eines subversiven Gesetzes, das unsere verfestigten Identitäten und Sinnhorizonte unterminiert – und sie hätte damit zugleich den konstruktiven Effekt, die Gesichtspunkte zu öffnen und zu vervielfältigen, unter denen uns ‚Wirklichkeit‘ erfahrbar wird. Diese Dekonstruktion vorausgesetzter Gegebenheiten und der Verallgemeinerung ihrer Gesetze verlangt, so Derrida, „eine große Aufmerksamkeit“ für die Kontexte, in denen sich etwas als gegenständliche Gegebenheit konstituiert: Dies gilt „für alle Kontexte, für die geschichtlichen, wissenschaftlichen, soziologischen usw.“ (zit. n. Engelmann 1990: 24f.) Es liegt auf der Hand, dass dies eine unabschließbare und zugleich unabweisbare Aufgabe ist, in der sich Derrida mit den Versuchen von Kafkas Romanfiguren, Aufschluss über ihren Prozess zu erlangen, oder Zugang ins Schloss zu finden, durchaus einig wissen kann: denn endgiltig durch Aufschreiben fixiert, dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht – und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig – dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, daß das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird. (Kafka 2002: 143)

Mit diesem Erkenntnisanspruch gerät die Erfahrung des Schreibens – sei es Literatur oder Philosophie – in eine aporetische Situation. Denn unabschließbar ist sie nicht, weil die Anzahl der eine Wirklichkeit konstituierenden Bedingungen unendlich wäre, sondern weil jede Erkenntnis ihr eine neue Sichtweise hinzufügt, die neue Differenzierungen freisetzt und den ganzen Kontext verändert. Wenn aber die Erfahrung dieser Aporie unabschließbar ist, inwiefern und in welchem Sinn können wir sie dann noch als „Erfahrung“ ansprechen? Ist deren Allgemeinheits- und Erkenntnisanspruch nicht auch – wie Kafkas Notiz – untrennbar mit der individuellen Form und Konsequenz einer Selbsterkenntnis verknüpft? In der Tat formuliert Kafka sein Misstrauen gegen das Geschriebene vor dem Hintergrund seiner „Angst“, dass die schriftliche Formulierung seine „Selbsterkenntnis“ verraten könnte (Kafka 2002: 143). Das aber impliziert die

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Konsequenz, dass auch diese Angst vor der aporetischen Situation des Schreibens, das gegenüber dem, was es ausdrückt, immer schon zu spät kommt, selbst nur das Moment eines Erfahrungsprozesses ist und keineswegs dessen unhintergehbare Bedingung. Genau dieses, für Kafkas Schreiben geradezu konstitutive Moment der Selbsterkenntnis und -erfahrung verflüchtigt sich in Derridas Interpretation im unendlichen Text unabschließbarer Lesarten, die eine Erfahrung niemals zu sich kommen lassen. Aber besteht nicht in den zeitlichen Dimensionen eines individuellen Werdens immer auch ein unteilbarer und konstitutiver Zusammenhang seiner unterschiedlichen Erfahrungsperspektiven, der sie nicht nur voneinander differenziert, sondern sie auch aufeinander bezieht und sich in jedem Erfahrungsmoment als seiner Mitte verdichtet? Eine Erfahrung, schreibt Derrida, ist eine Reise, ein Durchqueren – das Wort ‚Erfahrung‘ [expérience] zeigt dies an –; die Erfahrung bahnt sich einen Weg quer hindurch, sie reist zu einem Ziel und findet zu diesem Zweck den Weg, die Bahn, den Durchgang. (Derrida 1991: 33).

Aber sie kann dieses Ziel nicht erreichen, da ihr definitives Ankommen unablässig aufgeschoben wird. Mit dieser Konsequenz, die der Erfahrung jedes Ankommen, das Moment ihrer Vollendbarkeit kategorisch bestreitet, verfehlt Derrida jedoch die Dimension des Innewerdens und individuellen Zusichkommens an ihr, das sich im unendlichen Text einander dekonstruierender Lesarten verliert. Wie ließe sich in der unablässigen Vervielfältigung dekonstruierender Lesarten und der endlosen Differenzierung von Kontexten die Konsequenz einer „Geschichte“ ausmachen, in der sich individuelle und kollektive Erfahrungsschichten überlagern und durchdringen?3 Und schließt Erfahrung nicht immer auch das Moment eines Innewerdens, einer geistigen Umkehr im Sinn einer „Selbsterkenntnis“ ein, die über die Metapher eines Weges hinausweist? Wenn Kafka etwa nach der Niederschrift seiner Erzählung Das Urteil notiert: „Nur so kann geschrieben werden, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“ (Kafka 2002: 461), dann deutet sich die Möglichkeit eines Schreibens an, das als konstitutives Moment einer Selbsterkenntnis diese nicht einfach nur aufschiebt. Die von Kafka angesprochene Öffnung des schreibenden Ichs bedeutet keineswegs nur eine Differenzierung und Ent3 Von Derridas Ausgangspunkt betrachtet, erscheint Geschichte lediglich als Epiphänomen eines unabschließbaren Verweisungszusammenhangs neuer Kontexte: Das Wort „Geschichte“, schreibt er, dieses Wort lediglich als Sinnstiftung begreifend, bringt „an sich das Motiv einer endgültigen Unterdrückung der Differenz mit sich.“ (Derrida: 1990: 89)

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grenzung seiner Erfahrung. Denn indem sie sich in einem Text verdichtet, wird dieser zu einem konstitutiven Moment ihres Werdens, das Kafkas Angst vor der schriftlichen Fixierung durchbricht und ein neues Licht auf die Konsequenz seiner Lebenserfahrung wirft: „Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist, wenn wir unseren Zeitbegriff fallen lassen, immerwährend.“ (Kafka 1992: 34) Dann aber ist die von Kafka angesprochene Öffnung im Schreibprozess nicht einfach nur die Wirkung einer das Ich durchquerenden Inspiration, sondern sie muss in einer Umkehrung seines Blickwinkels der durchaus schmerzhaften Einsicht in die eigenen Verschlossenheiten abgewonnen werden: „Immer ängstlicher beim Niederschreiben […] Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister […] wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher.“ (Kafka 2002: 926) Für Kafka wird der Schreibprozess hier gleichsam zum Medium einer Erfahrung, in der die Öffnung des Ichs nur die Kehrseite einer unvorhersehbaren Veränderung ist, die es auf neue Weise mit seiner Vergangenheit und den für sie konstitutiven Kontexten konfrontiert. Kafka hat dieses Problem im Spannungsfeld seiner unausgesetzten Selbstbeobachtung, ihrer Subversion des Selbst und eines im Schreiben möglicherweise erfolgenden Durchbruchs aus der „Totschlägerreihe“ endloser Subversionen unermüdlich umkreist: Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat-Beobachtung, Tat-Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der ‚Reihe‘ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg. (Kafka 2002: 892)

Wäre also inmitten der undurchschaubaren Gesetze, welche die Erfahrung in der Moderne unterminieren, ein erlösender Ausbruch denkbar, der ihr neue geschichtliche Perspektiven eröffnet?

2. Die revolutionäre Kraft einer „kleinen Literatur“: Gilles Deleuze und Félix Guattari Diese Frage ist einer der Ausgangspunkte der Kafka-Lektüre von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die Kafkas Begriff der „kleinen Literatur“ auslotet. Kafka entdeckt deren Wurzeln, wie er an Max Brod schreibt, „in dieser kleinen Welt der deutsch-jüdischen Literatur“ Prags (Kafka 1975: 336). Die Minder-

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heit der deutschsprachigen Prager Juden, so Kafka, lebte zwischen „der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben.“ Denn das Deutsche, ihre angestammte Sprache, habe sich zum „Papierdeutsch“, einem „sprachlichen Mittelstand“ der Beamten und zur Advokatensprache einer gesellschaftlich dominierenden Schicht verfestigt, „die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann, daß überlebende Judenhände sie durchwühlen.“ (Kafka 1975: 336ff.) Diese Worte – die im Verlauf ihrer Nachgeschichte eine geradezu unheimliche Sprengkraft entfalten werden – werfen ein bezeichnendes Licht auf den Begriff des „Kleinen“ oder, wie Deleuze und Guattari interpretieren, des „Minoritären“ [littérature mineure]. Keineswegs bezeichnet er eine quantitativ eingrenzbare Minderheit, wie es Kafkas Ausdruck einer „kleinen Nation nahelegt, sondern – seine Formulierungen deuten es an – einen innerhalb des ‚Großen‘ oder ‚Majoritären‘ wirksamen, von ihm aber ausgeschlossenen, als ‚unmöglich‘ erachteten Rest: Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient. Ihr erstes Merkmal ist daher ein starker Deterritorialisierungskoeffizient, der ihre Sprache erfaßt. (Deleuze/Guattari 1976: 337f.)

Die doppelte Unmöglichkeit, anders als deutsch zu schreiben und sich doch der dominierenden deutschen Sprache nicht einordnen zu können, zwingt den deutsch-jüdischen Schriftsteller dazu, sich des Deutschen in einer Weise zu bedienen, die der Randexistenz seines solitären Junggesellendaseins entspricht: Er führt in die etablierte und traditionell verfestigte Sprache die Elemente einer anderen Geschichte ein, einer Geschichte, die sich unterhalb des von ihr Thematisierten und in ihr Thematisierbaren geltend macht. Kafka nennt dieses Schreiben das „Tagebuchführen einer Nation, das etwas ganz anderes ist als Geschichtsschreibung“ (Kafka 2002: 313): keine Aneignung des Vergangenen aus der Perspektive historischer Beobachtung vom Gesichtspunkt der Gegenwart, sondern Notate einer „Selbstbeobachtung“, in der sich ein Selbst konstituiert, indem es sich verändert.4 Das Tagebuchführen, das sich der Sprache auf eine irreduzibel individuelle Weise bedient, besteht keineswegs darin, dass man persönlichen Erlebnissen eine Ausdrucksform aufzwingt, sondern es konstituiert und reflektiert die Geschichte eines Selbst, das allein als werdendes zu sich kommen kann. Als Moment einer Selbsterkenntnis steht das 4 „Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung: Werde ich von jemandem andern beobachtet, muß ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muß ich mich umso genauer beobachten.“ (Kafka 2002: 874)

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Tagebuchführen unter dem Anspruch einer neuen, noch unerhörten Sprache, welche die zur Verfügung stehende Sprachform herausfordert und ihr neue Formulierungen abverlangt. Denn die Selbsterkenntnis, so Kafka, beschränkt sich ja nicht auf eine Beobachtung im Sinn einer distanzierten Bestandsaufnahme, sondern sie hat in zeitlichen Dimensionen immer auch eine destruktive und verändernde Dimension: Dieses Wort, schreibt er, bedeutet also im Grunde: „Verkenne Dich! Zerstöre Dich!, also etwas Böses und nur wenn man sich tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: ‚um Dich zu dem zu machen, der Du bist‘.“ (Kafka 1992: 42) Der doppelten Stoßrichtung einer Selbsterkenntnis entsprechend, die sich keineswegs auf ein selbstbezügliches Subjekt beschränken lässt, kann auch die Geschichte und das Tagebuchführen eines „kleinen“, minoritären Volkes nicht auf etablierte Traditionsbestände zurückgeführt werden, die sich einer Beobachterperspektive als Gegebenheiten darböten, sodass ein historischer Rückblick auf sie jederzeit als auf dieselben zurückkommen könnte. Da eine solche Minderheit, so Kafka, über keine herausragenden Subjekte verfügt, vor deren Begabung „wenigstens die Mehrzahl der Zweifler zu schweigen hätte“ und die insofern als Maßstab eines historischen ‚Vorher – Nachher‘ fungieren könnten,5 entzieht sich diese Geschichte überhaupt der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Das Fehlen unumstrittener Unterscheidungen wie ‚früher und später‘, ‚groß und klein‘, ‚aktuell und veraltet‘ gibt die Geschichte und insbesondere auch die Literaturgeschichte dem kollektiven Gedächtnis des „Volkes“ zurück und damit, so Kafka, „bekommt der litterarische Streit in größtem Ausmaß eine wirkliche Berechtigung“ zurück.6 Das liegt durchaus nicht an einem zahlenmäßigen Mangel an bedeutenden Talenten, sondern daran, dass sich Talente in kleinen Literaturen nicht an den Anpassungsmechanismen gesellschaftlicher Konventionen und Zwänge bemessen, sondern sich nur innerhalb widerstreitender Sichtweisen entfalten können. Unter diesen Bedingungen haben individuelle Aussagen und hat „die einzelne Angelegenheit“ des Schriftstellers keine „Grenzen, an denen sie mit gleichartigen Angelegenheiten zusammenhängt“ (Kafka 2002: 321). Gerade deshalb hat sie aber auch keine Grenzen, die sie an Gleichartigkeit binden und von anders gearteten Angelegenheiten abschotten, sodass sie als einzelne Angelegenheit inmitten gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse zur Geltung kommen kann. Denn gerade weil es hier keine Gleichartigkeit gibt, die individuelle 5 Wie etwa in geläufigen Prägungen wie „Goethe-Zeit“ oder „vorkantische und nachkantische Philosophie.“ 6 „Aber die Litteratur ist weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes.“ (Kafka 2002: 314)

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Angelegenheiten unter ein gemeinsames Maß subsumieren und andere Angelegenheiten ausschließen könnte, ist die einzelne Angelegenheit offen für andere und ansprechbar von anders gearteten Sichtweisen: Sie ist, mit anderen Worten, in fundamentaler Weise zeitlich. Genau darin sehen Deleuze und Guattari die politische und kollektive Funktion minoritärer Literaturen: Sie konstituieren eine Kollektivität, ein Volk, in dem der Einzelne Mittelpunkt eines sich aufgrund seiner individuellen Angelegenheiten unablässig differenzierenden Ganzen ist, das keine Allgemeinheit fraglos bestehen lässt. Denn gerade weil sich einzelne Angelegenheiten nicht in feststehende Grenzen einschließen lassen, sind sie unabsehbar offen: offen für andere Sichtweisen und offen für kollektive Verkettungen mit anderen Angelegenheiten, ohne diese aus einer Beobachterposition auf deren Perspektivwinkel festlegen zu können: „Das individuelle Ereignis wird um so notwendiger und unverzichtbarer, um so mehr unterm Mikroskop vergrößert, je mehr sich in ihm eine ganz andere Geschichte abspielt“ (Deleuze/Guattari 1976: 25). Es ist keine ‚Universalgeschichte‘, die es auf seine gegenständliche Erscheinungsform im Raum eines universalen Kontinuums reduzierte, sondern die in ihm sedimentierte und es durchziehende Geschichte seines Werdens, die sich unter dem mikroskopischen Blick des Erkennenden unabsehbar differenziert und das individuelle Ereignis mit anderen Geschichten verkettet.7 Weil dieses Werden nicht den Ein- und Ausschlussmechanismen von Traditionsbildungen überantwortet ist, sondern in seinen Differenzierungen aus veränderlichen Blickwinkeln sichtbar und ansprechbar wird, kann Kafka über den Vorzug kleiner Literaturen schreiben, dass es in ihnen nichts Ausgeschlossenes, kein Anathema gibt, das dem kollektiven Gedächtnis dauerhaft entzogen wäre: Was innerhalb großer Litteraturen unten sich abspielt und einen nicht unentbehrlichen Keller des Gebäudes bildet, geschieht hier in vollem Licht, was dort einen augenblicksweisen Zusammenlauf entstehen läßt, führt hier nichts weniger als die Entscheidung über Leben und Tod aller herbei. (Kafka 2002: 322)

7 In diesem Sinn schreibt Kafka über den „Jargon“ der ostjüdischen Dichtung: „Völkerwanderungen durchlaufen den Jargon von einem Ende bis zum anderen. Alles dieses Deutsche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Rumänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier und Leichtsinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in diesem Zustande zusammenzuhalten. Deshalb denkt auch kein vernünftiger Mensch daran, aus dem Jargon eine Weltsprache zu machen“ (Kafka 1993: 189).

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Das hier von Kafka angesprochene „Volk“8 lässt sich – auch wenn Kafka diesen Begriff verwendet – nicht mehr in einer „Nation“ zusammenfassen und von anderen Völkern abgrenzen. Eher ist es die zeitliche Form eines „litterarische(n) Streit(es)“ einander differenzierender Perspektiven, der jedes Bestreben der Dominanz eines Gesichtspunktes scheitern lässt. Minoritär ist dieses Volk lediglich in dem Sinne, dass seine Angelegenheiten „einen nicht unentbehrlichen Keller“ (Kafka 2002: 322) jenes Gebäudes bilden, das wir ‚Weltgeschichte‘ nennen: einen nicht thematisierten, vergessenen Rest innerhalb herrschender Majoritäten, der sich in die Tiefenschichten einer anderen, gleichsam vertikalen Geschichte öffnet. Sie verhält sich zur herrschenden Geschichtsschreibung wie die Tagebuchaufzeichnungen der von ihr erfassten Individuen zum Allgemeinheitsanspruch ihrer Kategorien: als Geschichte jenes irreduziblen individuellen Restes, der die Grenze jedes Allgemeinbegriffes und der durch ihn gebildeten Urteile ausmacht.9 Genau darin sehen Deleuze und Guattari die Bedingungen einer kollektiven Sprache, welche Kollektivität nicht in Ein- und Ausschlußverhältnissen festschreibt, sondern unbegrenzt ermöglicht: So gefaßt, qualifiziert das Adjektiv ‚klein‘ nicht mehr bloß bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befinden. Auch wer das Unglück hat, in einem Land mit großer Literatur geboren zu sein, muß in seiner Sprache schreiben wie ein tschechischer Jude im Deutschen oder ein Usbeke im Russischen: schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt, wie eine Maus ihren Bau gräbt. (Deleuze/Guattari 1976: 27; Herv. i. Orig.)

In nichts anderem besteht im Grunde auch die Funktion des ‚Junggesellen‘ in Kafkas Werk: „Er ist der Deterritorialisierte schlechthin, derjenige, der weder einen ‚Mittelpunkt‘ noch ‚einen großen Komplex an Besitztümern hat‘.“ (Deleuze/Guattari 1976: 98) Seine gesellschaftliche Ortlosigkeit – er hat, so Kafka, „nur soviel Boden als seine zwei Füße brauchen, nur soviel Halt als 8 „aber die Litteratur ist weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes.“ (Kafka 2002: 315) 9 Saul Friedländer weist in seinem Versuch einer historischen Verarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes auf die Bedeutung der überlieferten Tagebücher der Opfer hin, welche die wissenschaftliche Geschichtsschreibung eher als subjektive Zeugnisse behandelt und unterschätzt hat: „Bis heute hat man die individuelle Stimme vorwiegend als eine Spur wahrgenommen, als die Spur, welche die Juden hinterlassen haben, welche Zeugnis ablegt, ihr Schicksal bestätigt und veranschaulicht.“ Aber „gerade durch ihr Wesen, kraft ihrer Menschlichkeit und Freiheit, kann eine individuelle Stimme, die sich plötzlich im Verlauf der gewöhnlichen historischen Erzählung von den Ereignissen wie den hier dargestellten erhebt, eine glatte Interpretation und die (meist unwillkürliche) Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanz und ‚Objektivität‘ durchbrechen.“ (Friedländer 2006: 24)

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seine zwei Hände bedecken“ (Kafka 2002: 118) – ermöglicht ihm eine Erforschung der eigenen Unzulänglichkeiten, ein Vordringen in die Wüsten, die seine Erfahrungen durchziehen, das ihm zugleich erlaubt, die Gesetzmäßigkeiten herrschender Sprachregelungen in Frage zu stellen und sie im Sinn eines schöpferischen Werdens, ihrer Umbildung und der Erfindung einer neuen Sprache zu gebrauchen, die den Erkenntnissen dieser Forschungen entsprechen. Kafka hat dieses schöpferische Werden, das herrschende Vorstellungen unterläuft, ihre Grenzziehungen mit sich reißt und ihren Sprachformen neue Ausdrucksmöglichkeiten erschließt, auch im ‚Jargon‘ der ostjüdischen Dichtung entdeckt: Unsere westeuropäischen Verhältnisse sind, wenn wir sie mit vorsichtig flüchtigem Blick ansehn, so geordnet: alles nimmt seinen ruhigen Lauf. Wir leben in einer geradezu fröhlichen Eintracht; verstehen einander, wenn es notwendig ist, kommen ohne einander aus, wenn es uns paßt und verstehen einander selbst dann; wer könnte aus einer solchen Ordnung der Dinge heraus den verwirrten Jargon verstehen oder wer hätte auch nur die Lust dazu? […] Er hat keine Grammatiken. Liebhaber versuchen Grammatiken zu schreiben aber der Jargon wird immerfort gesprochen; er kommt nicht zur Ruhe. Das Volk läßt ihn den Grammatikern nicht.“ (Kafka 1993: 188f.)

Ein Schreiben, das sich nicht an Grammatiken und literaturgeschichtlichen Klassifikationen orientiert, ist in diesem Sinne durchaus eine Form des Jargons: die Entdeckung und Erfindung einer Fremdsprache innerhalb der eigenen Sprache, und jedenfalls alles andere als der Versuch, Sprache zu benutzen, um einem erlebten Stoff eine Ausdrucksform aufzuzwingen (Deleuze 2000: 11f.): Schreiben, der Primat des Schreibens, heißt bei Kafka nur eins: nicht ‚Literatur‘, sondern Ausdruck, der ganz mit dem Verlangen verschmilzt, jenseits aller Gesetze, Staaten und Regime. Gleichwohl stets selber geschichtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ausdruck. (Deleuze/Guattari 1976: 58f.)

Dieses ‚Verlangen‘, das sich innerhalb bestehender Gesetzesmaschinerien und gesellschaftlicher Mechanismen stets gewaltsam, als Impuls zur Selbsterhaltung und -steigerung manifestiert, wird im kreativen Schreibprozess zu einem Verlangen nach Differenzierung der Sprache umfunktioniert, das ihre konventionellen Fixierungen durchbricht: das Verlangen einer Inspiration nach Ausdruck, dem durch eine unablässige Erforschung und Neuformulierung der eigenen Intentionen und ihrer sprachlichen Fähigkeiten zu entsprechen ist: „jeden Tag“, notiert sich Kafka, „soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man Fernrohre jetzt gegen die Kometen richtet.“ (Kafka 2002: 14) Analog zu seiner Unterscheidung zwischen dem „Tagebuchführen“ eines kleinen, minoritären Volkes, das sich als Moment einer es durchziehenden Geschichte weiß, und der „Geschichtsschreibung“ einer großen, majori-

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tären Nation, die sich Geschichte im Rahmen ihrer Interpretationen aneignet (Kafka 2002: 313), ist der Schreibende eingelassen in ein Werden, in dem er weder die Rolle eines beobachtenden Subjekts noch überhaupt die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt aufrechterhalten kann: Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. (Kafka 2002: 14)

In Kafkas Versuch, sich in die Mitte der Dinge zu begeben und sich in ihrem Werden zu halten, sehen Deleuze und Guattari mit Recht die Bedingungen eines Erschreibens kollektiver Aussageverbindungen, d. h. der Erfindung von Formen, welche die Bedingungen von Kollektivität nicht vorwegnehmen und definieren, sondern sie in der Öffnung dominierender Sprachkonventionen, ihrer unablässigen Reflexion und Neuformulierung – gleichsam im beständigen „litterarischen Streit“ (Kafka 2002: 314) – innerhalb hierarchiefreier Kommunikationsverhältnisse freisetzen. Die Bedingungen eines solchen Schreibens verkörpern sich für Kafka in der Demut all seiner in prekären und Übergangssituationen befindlichen Wesen, die in den Hierarchien der Bürokratien keinen Platz finden können. Ihre Sprache, so Deleuze und Guattari, ist – wie die Sprache aller kolonisierten Völker und unterdrückten Minderheiten – gleichsam der Nährboden kollektiver Identitätsbildungen, deren Ausdrucksbedürfnissen eine geradezu lebensnotwendige Offenheit für Veränderungen und neue kollektive Verbindungen eingeschrieben ist: Die Sprache der Dienstboten ist weder signifikant noch musikalisch, sie ist jener aus Schweigen geborene Tonfall, den Kafka überall sucht, weil in ihm das Ausgesagte schon Teil einer kollektiven Verkettung ist, Teil einer kollektiven Klage ohne verborgenes oder deformierendes Subjekt: reine fließende Ausdrucksmaterie. (Deleuze/Guattari 1976: 90)

Die Freisetzung dieser autonomen Sprachmaterie setzt nichts voraus, sie überredet nicht, sondern befähigt dazu, die Sprache im Sinn eines Schreis, einer Klage oder eines Protests zu gebrauchen und bestehende Sprachregelungen und verfestigte Sprachverwendungen an ihre Grenze und darüber hinaus zu treiben. Diese Arbeit erschöpft sich freilich nicht in einer Entgrenzung der Sprache, denn sie ist unabdingbar an eine Erforschung des in ihr Ungesagten oder Unterdrückten gebunden: eine Erforschung, die auch den eigenen Sprachgebrauch erfasst und an seine Grenzen führt. Und dazu „ist erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene Dritte Welt, die eigene Wüste.“ (Deleuze/Guattari 1976: 27) Deleuze und Guattari verfolgen aber gerade dieses Motiv, das Kafkas unausgesetzte „Selbstbeobachtung“ und -befragung antreibt, nicht mehr weiter.

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Die Frage, wie sich diese Selbsterforschung des einsamen, sich in seine Rand­ existenz vertiefenden „zölibatären Künstlers“ in kollektive und geschichtliche Dimensionen zu öffnen vermag, beantwortet sich für sie in der Entdeckung einer formlosen Ausdrucksmaterie und eines subjektlosen „Verlangens“, das – durch Nietzsches Begriff des „Willens zur Macht“ inspiriert – jede Subjektwerdung durchzieht und ihren Figurationen zugrunde liegt: eine allem Werden immanente Tendenz zur Formbildung, die sich in keiner Form beruhigt, bestehende Formen in Frage stellt und sich in unablässigen Differenzierungen fortsetzt (Deleuze/Guattari 1976: Kap. V und VI): kein Verlangen eines Subjekts nach Macht, sondern ein alle Lebens- und Daseinsformen durchziehendes, ihre Macht- und Erhaltungsmechanismen antreibendes Werden, das seine historischen Konkretionen – seien es Subjekte, Objekte oder deren Verkettungen in gesellschaftlichen Formationen – beständig unterhöhlt, sie zerstört, um seinen Impuls immer wieder von Neuem geltend zu machen (Deleuze/Guattari 1976: 83). Gewiss ist dies eine konsequente Weise, geschichtliches Werden gleichsam von seiner Mitte aus zu denken, ohne es auf die Vorher-Nachher-Unterscheidungen einer Beobachterperspektive festzulegen. Und gewiss auch gibt es bei Kafka keine Gesetzes- und Verwaltungsmaschinerien, die nicht von Dysfunktionen durchzogen wären, und keine Beamten, Richter und Wächter, deren scheinbare Machtposition sich nicht in Wahrheit auf ein Verlangen reduzierte, das sich bei ihnen als Selbsterhaltung und in der Lust äußert, Teil eines Räderwerks zu sein. Es ist dieses Verlangen, das sich in der Promiskuität und Bestechlichkeit der Beamten und Funktionäre Bahn bricht und die Räderwerke der Machtmechanismen aushöhlt. In dieser Entdeckung enthüllen sich Kafka geschichtliche Tendenzen, die sich als verborgene Eigendynamik dieses Verlangens im Zerfall der zeitgenössischen Machtstrukturen und politischen Ordnungen bereits ankündigen: die entfesselten administrativen und bürokratischen Maschinerien des Faschismus und Kommunismus sowie die ökonomischen Maschinerien des Kapitalismus, Konfigurationen eines pervertierten Verlangens der hemmungslosen Selbsterhaltung, die ihre Lust darin findet, im Sinne der Erhaltung eines bestehenden Ganzen zu funktionieren (Deleuze/ Guattari 1976: 58, 115). Die Entdeckung, dass diese Maschinerien „nur je historisch bestimmte Konkretionen des Verlangens wären, während dieses sie immer wieder zerstört und seinen Kopf immer wieder erhebt“ (Deleuze/ Guattari 1976: 83), enthüllt die Dysfunktionen in den Räderwerken geschichtlich etablierter Machtformationen und nährt damit zugleich „die Hoffnung, dabei auch Flucht und Abwehrlinien zu finden.“ (Deleuze/Guattari 1976: 82)

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Wie aber ließe sich aus dieser Entdeckung einer subversiven Logik im Innern etablierter Machtmechanismen eine Perspektive gewinnen, die mehr wäre als ein Ausweg – auch wenn dieser Ausweg in der Entdeckung bestünde, dass noch jede dieser Maschinerien von der Eigenmacht ihres immanenten Verlangens aufgelöst wird? Schließt das Werden von Geschichte über das „Fließen“ einer naturalistisch gedachten ‚Materie‘ hinaus nicht immer auch ein konstruktives Moment ein, das sich aus einem subjektlosen Verlangen allein nicht ableiten lässt, sondern dieses in ein geistiges, ein Erkenntnisverlangen zu transformieren vermag? Wie ließen sich über das subversive Freisetzen immer neuer „Flucht- und Abwehrlinien“ hinaus kreative Lebensformen und Schreibweisen erfinden, die in der Lage wären, bestehende Machtmechanismen in neue Formen kollektiver Erfahrung zu transformieren? Und wie hängt die subversive Leistung der Literatur mit der individuellen Erfahrung des Schreibenden zusammen, der sich in ihr als Ich individuiert und seine Erfahrungen verdichtet, indem er sich verändert? Diese Fragen finden bei Deleuze/Guattari keine befriedigenden Antworten mehr, denn ihr – von Nietzsche inspirierter – Begriff des „Verlangens“ (Deleuze/Guattari 1976: 60) beinhaltet einen antagonistischen Gegensatz zwischen seinem Charakter als nie vollendbares Werden, das alle Formen mit sich reißt, und als für diese Formen konstitutive Tendenz zur Selbsterhaltung. In dieser antagonistischen Konstellation gibt das Verlangen den Formproblemen, die sich einer Selbsterkenntnis und ihrem Zusichkommen stellen, keinen Raum, denn in ihrem Rahmen ist Form letztlich nur als Effekt eines sie durchziehenden Werdens denkbar, das sich über sie hinwegsetzt: „Solange es Form gibt, ist immer noch Reterritorialisierung mit im Spiel.“ (Deleuze/Guattari 1976: 11) Die Entgegensetzung eines subjektlosen Werdens und seiner subjektiven Formgebungen beschneidet zugleich auch die konstruktive Leistung der Erinnerung, die sich mit Kafkas Selbsterkenntnis verbindet. Diese beschränkt sich für Deleuze und Guattari auf eine Reterritorialisierung der Vergangenheit im Interesse des erinnernden Subjekts: „Die Erinnerung blockiert den Wunsch, zieht ihn auf Rahmen, presst ihn in Klischees, kappt ihm alle Verbindungen ab.“ (Deleuze/Guattari 1976: 8) Im Licht dieses Befundes setzen sie der konstruktiven Dimension der Erinnerung die subversive Deterritorialisierung von „Erinnerungsblöcken“ entgegen: die Freisetzung vergessener oder verdrängter Zusammenhänge, die aus den Tiefen des Unbewussten aufsteigen und die Blockaden der bewussten Erinnerung durchbrechen (Deleuze/Guattari 1976: 8f.). So plausibel diese Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Erinnerung auch sein mag, so beschränkt doch ihre kategorische Form ei-

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ner Entgegensetzung den Begriff einer Erfahrung, die dem Anliegen einer geschichtlich durchwirkten Selbsterkenntnis entsprechen könnte. Aber ebenso wenig wie die Freisetzung unbewusster Vergangenheitsschichten ohne die konstruktive Dimension einer Differenzierung der Erkenntisperspektive denkbar ist, lassen sich die Erkenntnispotentiale der Erinnerung auf eine Vergegenständlichung der Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart festlegen. Denn Erinnerung ist keineswegs nur ein Instrument, um der Vergangenheit habhaft zu werden, sondern vielmehr und darüber hinaus das Element ihrer Vergegenwärtigung und ihres Weiterlebens in der Gegenwart. Das reine Verlangen, das sich in der Freisetzung unbewusster Erinnerungsblöcke in der Gegenwart nur subversiv auswirken kann, gewinnt damit eine kreative Kraft, die bestehende Blockierungen nicht nur auflöst, sondern lernt, sie zu bejahen und zu verändern. Indem sich das Verlangen als Inspiration in einer Erkenntnis fortsetzt und diese sich unter den Ansprüchen des zu Erkennenden verändert, gewinnt die Erinnerung eine kreative Komponente, in der sich die Pole des Bewussten und des Unbewussten, des konstruktiven Willens und des Verlangens einer Inspiration intensiv verbinden. Indem sie die Vergangenheit vergegenwärtigt und neu lesbar macht, transformiert sie beides: das Vergangene, das im Licht neuer Erfahrungen eine neue Aktualität erhält, und das gegenwärtige Bewusstsein, das sich in dieser Erkenntnis verändert. „Ich bin ein lebendig gewordenes Gedächtnis, daher auch die Schlaflosigkeit“, notiert sich Kafka ins Tagebuch (Kafka 2002: 863). Es ist dies auch die Schlaflosigkeit des Studenten in Kafkas Roman Der Verschollene10 und des sich in die alten Gesetzesbücher vertiefenden Advokaten Bucephalus, der als einstiges „Streitroß Alexanders von Macedonien“ eine lange, sich unabsehbar verzweigende Vorgeschichte verkörpert und sich nun deren Studium widmet (Kafka 1994: 251f.). Dieses Studium ist aber durchaus kein erinnernder Rückblick, der sich die Vergangenheit als eine hinter ihm liegende Gegebenheit anzueignen strebt, sondern eine Durchdringung und Durchquerung ihrer Tiefenschichten, die neue Aspekte freilegt und insofern auch eine unablässige Selbstreflexion und -korrektur der gegenwärtigen Sichtweise einschließt. So verstanden entspricht das Studium der Vergangenheit zugleich auch einer die Gegenwart beherr-

10 „‚Aber wann schlafen Sie?‘ fragte Karl und sah den Studenten verwundert an. ‚Ja schlafen!‘ sagte der Student, ‚schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.‘“ (Kafka 1983: 347)

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schenden Richtungslosigkeit und Verwirrtheit.11 Vor ihrem Hintergrund ist es der Ausdruck einer erinnernden Umkehrbewegung, die aus einer Neulektüre der Vergangenheit auch neues Licht für das Verständnis der Gegenwart bezieht. Kafka beendet daher seine Erzählung Der neue Advokat mit dem Bild einer geradezu mystischen Versenkung in die Vergangenheit, die keine Möglichkeit der Differenzierung geschichtlicher Erfahrung verloren geben will: Vielleicht ist es deshalb wirklich das Beste sich, wie es Bucephalus getan hat, in die Gesetzbücher zu versenken. Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher. (Kafka 1994: 252)

Die hier angesprochene Versenkung in die Vergangenheit lässt sich nicht mehr nur als Freisetzung einer subjektlosen, „reinen fließenden Ausdrucksmaterie“ verstehen, „die nur noch für sich selber spricht und nicht mehr der Formung bedarf.“ (Deleuze/Guattari 1976: 30, s. 90) Sie entdeckt vielmehr eine geistige Dimension der geschichtlichen Materie, die sich von ihren Fortsetzungen in der Gegenwart nicht trennen lässt. Denn die erinnernde Versenkung liest der Vergangenheit im Licht neuer Erfahrungen stets auch neue, bisher nicht aktualisierte oder unbewusst wirksame Konsequenzen ab, die sie auf die Gegenwart beziehen und diese angehen. Die Erfindung einer neuen Sprache ist deshalb nicht nur der Ausdruck freigesetzter Erinnerungsschichten, sondern sie hat der Erkenntnis dieser Konsequenzen zu entsprechen. Eine Befreiung vergessener Erfahrungsschichten ist, mit anderen Worten, ohne ihre Transformation in eine neue Lesbarkeit und d. h. im Medium des konstruktiven Aktes einer kreativen Erkenntnis nicht denkbar, die sich ihrerseits in diesem Akt verändert. Die Aktualisierung der Vergangenheit im Medium der Erinnerung und deren Transformation in der Entdeckung neuer Tiefenschichten sind mithin irreduzible Spannungspole eines Werdens, dem der Vorstellungshorizont eines naturalistisch gedachten Fließens nicht mehr gerecht wird. Auch wenn und gerade weil sich das erkennende Ich inmitten und als Mitte eines unabsehbaren geschichtlichen Werdens konstituiert, das es in die Dimension kollektiver Erfahrungsschichten öffnet,12 so gewinnt dieses Werden seinerseits doch erst im Medium einer konstruktiven Leistung der Erinnerung eine Lesbarkeit, die es als geschichtliche Konsequenz auf die Mitte einer gegenwärti11 „Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verwirrt sich.“ (Kafka 1994: 252) 12 „Wie wäre es, wenn man an sich selbst erstickte? Wenn durch drängende Selbstbeobachtung die Öffnung durch die man sich in die Welt ergießt, zu klein oder ganz geschlossen würde?“ (Kafka 2002: 910)

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gen Erfahrung bezieht. Finden und Erfinden sind für eine in die Geschichte einbezogene Erinnerung nur zwei Seiten ein und desselben zugleich geistig und körperlich vollzogenen Aktes der Genese einer neuen Erfahrung.

3. Mystische Versenkung und messianische Vision: Walter Benjamins Kafka-Lektüre Vom Gesichtspunkt ihrer Erkenntnisfunktion betrachtet, hat jene von Deleu­ ze angesprochene „Fremdsprache“ (Deleuze 2000: 9), welche die Literatur innerhalb historisch verfestigter und zu Machtmechanismen geronnener Sprachformen freisetzt, durchaus nicht nur die Bedeutung einer anderen, subversiven Sprache, die sich diesen Mechanismen entgegensetzt oder ihnen entkommt. In ihren geschichtlichen Dimensionen schließt diese Fremdsprache vielmehr die Bedeutungsvielfalt fremd gewordener Sprachen, einer fremd werdenden und einer noch ausstehenden Sprache ein, die diesen Veränderungen entspricht: Der Jargon, schreibt Kafka über die Sprache der ostjüdischen Dichtung, ist von den unterschiedlichsten geschichtlichen Entwicklungen durchdrungen, die sich in ihm überlagern und fortsetzen: Er besteht nur aus Fremdwörtern. Diese ruhen aber nicht in ihm, sondern behalten die Eile und Lebhaftigkeit, mit der sie genommen wurden. Völkerwanderungen durchlaufen den Jargon von einem Ende bis zum anderen. All dieses Deutsche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Rumänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier und Leichtsinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in diesem Zustand zusammenzuhalten. (Kafka 1993: 189)

Diese Kraft einer geschichtlich wirksamen Erinnerung, welche die in ihr sedimentierte und sie durchziehende Geschichte zu einer neuen Erkenntnisperspektive verdichtet, wird zu einem der wichtigsten Motive von Walter Benjamins Auseinandersetzung mit Kafka. Auch er geht dabei vom Verfall einer konsistenten, von fraglosen Sinnhorizonten zusammengehaltenen Tradition aus, der die moderne Erfahrung zunehmend fragmentiert. So wie der K. in seinem Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper: ein Fremder, Ausgestoßener, der nichts von den Gesetzen weiß, die diesen Leib mit höheren Ordnungen verbinden […] Diese Gesetzlosigkeit aber ist eine gewordene. (Benjamin 1981: 43f.)

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Als gewordene schließt sie die Konsequenzen eines geschichtlichen Werdens ein, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart durchdringen und das Vergessene in den Tiefenschichten der gegenwärtigen Erfahrung weiterwirkt. Dieser in der Fortschrittsorientierung der modernen Erfahrung verschüttete Zusammenhang steht einer Erinnerung offen, die ihn – vergleichbar etwa der Analyse scheinbar unzusammenhängender Traumbilder – neu lesbar machen und das zur Tradition geronnene Geschichtsbild der Gegenwart verändern könnte. Für Benjamin ist „Kafkas messianische Kategorie“ einer solchen Erinnerung, „‚die Umkehr‘ oder ‚das Studium‘“ (Benjamin 1981: 78). Sie verdichtet eine Erfahrung, die uns mit vergessenen Aspekten unserer Vergangenheit konfrontiert, sich ‚gegen‘ unsere Sinnerwartungen richtet und uns, wenn wir ihr stattgeben, in eine radikale Veränderung unserer eingewöhnten Selbst- und Weltverhältnisse verwickelt. Der Maßstab dieser Veränderung sind nicht mehr die Vorstellungen und Ideale, die wir innerhalb unserer Erfahrungshorizonte ausbilden, sondern das in ihnen Ausgeschlossene, Vergessene und Verdrängte. Dieser in unseren bewussten Erfahrungen nicht aufgehende Rest verweist auf kein Außerhalb und keine Gegebenheit, die sich einer sukzessiven Aneignung darböte. Es geht vielmehr in zeitlichen Dimensionen um die für die Genese jeder Erfahrung konstitutive Insistenz all dessen, was sich innerhalb ihres Verlaufs als Fremdheit in ihrem Innern geltend macht, sich gleichsam stumm an sie wendet und sie unablässig nötigt, sich zu verändern: sei es, dass es sie in die Zwänge der Verneinung und Verdrängung verstrickt oder ihre Intentionen durchkreuzt und ihren ungebrochenen Verlauf hemmt. Diese dem Zugriff einer Erkenntnisintention unverfügbare Fremdheit entzieht sich in ihren zeitlichen Dimensionen der Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Denn es gibt hier kein Außerhalb, das sich als solches nicht bereits auf die Erfahrung bezieht und in ihr auswirkt, und kein Innerhalb, das nicht auf Grenzen der Erfahrung verwiese, die sie auf ein Außen hin öffnen. Diese für sie konstitutive Dimension einer sie durchkreuzenden und begrenzenden Fremdheit verweist zum einen auf die unhintergehbare und totale Vergänglichkeit jeder Erfahrung und der sie tragenden Horizonte – damit zum anderen aber auch auf ihre unbegrenzte Offenheit und Veränderbarkeit. Dieser doppelte Sinn ihres Werdens, zugleich und in Einem Vergehen und Fortsetzung, Altern und Erneuerung zu sein, birgt, wie Benjamin erkennt, die messianische Idee einer jederzeit möglichen Erlösung jenes unbewältigten Restes, der im Innern der Erfahrung wirksam ist. Denn wenn sich Vergangenheit in allen ihren Aspekten in jeder Gegenwart sedimentiert und sich jederzeit in ihr auswirken kann, dann gibt es nichts, was an ihr endgültig verloren zu geben wäre. Aber diese Freisetzung der Vergangenheit entzieht sich jedem Zugriff gegenstandsbe-

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zogener Erkenntnisintentionen, die sie von vornherein auf ihre Voraussetzungen festlegen und damit unterlaufen würden. Es geht einer befreienden Erinnerung nicht um eine sukzessive Aneignung des Vergessenen, sondern darum, den Raum einer Umkehr der Erfahrung zu öffnen, der sie von ihren impliziten Voraussetzungen befreit und ihre Zwänge und Blockaden außer Kraft setzt, indem er sie im Licht neu entdeckter geschichtlicher Konsequenzen neu lesbar macht. Diese Erfahrung einer radikalen und rückhaltlosen Umkehr aktualisiert sich für Kafka im Schreibprozess: Er folgt weder den Intentionen eines Ich, das er vielmehr beständig in Frage stellt, noch den Sachzwängen der Probleme, auf die er antwortet, sondern der Eigengesetzlichkeit der in diesen Kämpfen freigesetzten Kräfte, in denen sich das Ich, seine Widerstände und Gegenkräfte verändern und neue Perspektiven erhalten. Neben dem Studium, auf das Benjamins Interpretation das Gewicht dieser Umkehr legt, ist für Kafka vor allem auch das Schreiben eine Form, der Insistenz einer Erlösung des Vergessenen im Innern der Erfahrung zu entsprechen. Dieses Schreiben, notiert er im Tagebuch, hat die unbegreifliche Fähigkeit, „im Schmerz den Schmerz zu objektivieren“ (Kafka 2002: 834) und den Schmerz der Widerlegung einer Erkenntnisintention durch seine Mitteilung anderen Perspektiven und neuen Erkenntnissen zu öffnen, so daß ich im Unglück, vielleicht noch mit dem brennenden Unglückskopf mich setzen und jemandem schriftlich mitteilen kann: Ich bin unglücklich. Ja ich kann noch darüber hinausgehn und in verschiedenen Schnörkeln je nach Begabung, die mit dem Unglück nichts zu tun zu haben scheint, darüber einfach oder antithetisch oder mit ganzen Orchestern von Associationen phantasieren. Und es ist gar nicht Lüge und stillt den Schmerz nicht, ist einfach gnadenweiser Überschuß der Kräfte in einem Augenblick, in dem der Schmerz doch sichtbar alle meine Kräfte bis zum Boden meines Wesens, den er aufkratzt, verbraucht hat. Was für ein Überschuß ist es also? (Kafka 2002: 834)

Für Benjamin (1991a) liegt der Schlüssel zu diesem Überschuss, wie seine Ausführungen im Theologisch-politischen Fragment deutlich machen, in der Einsicht beschlossen, dass menschliches Unglück und Leid unabdingbare Dimensionen der Erfahrung, als solche aber zugleich auch konstitutive Momente ihrer unbegrenzten Veränderbarkeit sind: die „totale Vergängnis“ jeder Erfahrung ist nur die Kehrseite ihrer totalen Offenheit, die sie anderen Erfahrungsmöglichkeiten öffnet.13 Auch wenn Benjamin diese Einsicht nicht im unmittelbaren Zusammenhang seiner Beschäftigung mit Kafka formuliert, so entspricht sie doch 13 „Der geistlichen resitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen

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aufs Genaueste einer Notiz Kafkas, die ebenfalls in die messianische Dimension vordringt, die in der Erfahrung menschlichen Leids eingeschlossen ist: Alles Leiden um uns werden auch wir leiden müssen. Christus hat für die Menschheit gelitten, aber die Menschheit muß für Christus leiden. Wir alle haben nicht einen Leib, aber ein Wachstum und das führt uns durch alle Schmerzen, ob in dieser oder jener Form. So wie das Kind durch alle Lebensstadien bis zum Greis und zum Tod sich entwickelt – und jedes Stadium dem vorigen Stadium im Verlangen oder in Furcht unerreichbar scheint – ebenso entwickeln wir uns – nicht weniger tief mit der Menschheit verbunden als mit uns selbst – durch alle Leiden dieser Welt gemeinsam mit unseren Mitmenschen. Für Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang kein Platz, aber auch nicht für Furcht vor dem Leiden oder für die Auslegung des Leidens als eines Verdienstes. (Kafka 1992: 93f.)

Dass die theologischen Erfahrungsgehalte der Vergangenheit im Horizont der säkularisierten Erfahrungen der Moderne schal geworden und ihre Lehrgebäude zerfallen sind, heißt für Benjamin durchaus nicht, dass wir sie ‚hinter uns‘ gelassen hätten. Wenn uns vergangene Erfahrungsschichten, aus denen unsere Erfahrungen hervorgehen, fremd werden, so ist das vielmehr das Indiz einer geschichtlichen Ortlosigkeit, der das eigene Gewordensein nur noch im verdinglichten Zustand archivarischer Aneignung und historischer Bildung zugänglich ist. Wenn wir diesen Befund nicht nur als Faktum feststellen, sondern ihn als geschichtliche Konsequenz begreifen, in die wir mit offenem Ausgang einbezogen sind, dann haben wir es mit einer doppelten Problemstellung zu tun, die Benjamin in seiner Deutung von Kafkas Text entfaltet: Zum einen kommen wir nicht umhin zu begreifen, dass die theologischen Sinnhorizonte der Vergangenheit in der Moderne unaufhaltsam und irreversibel auf den äußersten Punkt ihres nihilistischen Nichts zurückgeführt worden sind. Das Nichts wird gleichsam zur Matrix der auf ihre radikale und nackte Endlichkeit reduzierten modernen Erfahrung (Scheier 2010), für die es keine Rückkehr zu vergangenen Sinngebungen mehr gibt. Diese sind uns so unvollziehbar geworden, wie das zu ihnen gehörige, in ihnen reflektierte Leben. Das sagt freilich nichts über ihre Wahrheitsgehalte, sondern wirft Licht auf das unlesbar gewordene, auf die nackte Faktizität seiner Endlichkeit reduzierte Leben: Es entzieht sich einer Erfahrung, der es nicht mehr um die Lesbarkeit seiner Konsequenz geht, sondern um seine Erhaltung und Perpetuierung unter Bedingungen und Gesetzen, die ihr zunehmend entgleiten. Wenn aber diese Erkenntnis der Ausdruck geschichtlicher Veränderungen ist, aus denen wir, so Benjamin mit einem Ausdruck Kafkas, „nicht entlassen werden“ können (Benjamin 1981: 28), dann bleibt sie unauflöslich mit der Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück. Denn messianisch ist die Natur in ihrer ewigen und totalen Vergängnis.“ (Benjamin 1991a: 204)

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Vergangenheit verbunden, die sich in ihr sedimentiert, fortsetzt und mit ihren uneingelösten Potentialen in ihr wirksam bleibt. In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn Benjamin im Juli 1934 an Scholem über seine Kafka-Studien schreibt, „daß auch meine Arbeit ihre breite – freilich beschattete – theologische Seite hat.“ (Benjamin 1981: 76) Und wie bei Kafka ist diese Seite keineswegs theologischen Lehrgegenständen der Vergangenheit zugewandt, sondern der Insistenz fremd gewordener Ansprüche im Innern der modernen Erfahrung, die nach neuen Ausdrucksformen verlangt.14 Die Anliegen, auf welche die theologische Überlieferung auf ihre Weise Antworten gesucht hatte, manifestieren sich für Benjamin im Innern der Entzweiungs- und Leidenserfahrungen der Moderne, die in Kafkas „Vorwelt“ (Benjamin 1981: 30) ihren Ausdruck finden: Dem Schmutz und Staub all des Ausgeschlossenen, Unterdrückten und Verdrängten in den Kammern und Winkeln der Bürokratien, das sich unterhalb ihrer Mechanismen zum Schrei, Protest oder zur Klage formt. Wenn die manifesten Dysfunktionen der Bürokratien und der Widersinn dieser Leidenserfahrungen eine Lehre bergen, dann wäre diese nur durch eine Umkehr einer gegenstandsbezogenen Erkenntnisperspektive zu erreichen, die den Schrei und die Klage in eine neue Selbsterkenntnis transformiert. Deshalb sind der Verlauf und der Ausgang der Veränderungen, welche die moderne Erfahrung erfasst haben, keineswegs unabhängig davon, wie wir uns dieser Vorgänge erinnern. Denn auch wenn die Überlieferung zerfallen und uns ihr Sinn abhanden gekommen ist, so sind wir doch keineswegs aus jenen „dunkelsten Anliegen des menschlichen Lebens“ entlassen, auf welche diese Überlieferung auf ihre Weise versucht hatte, eine Antwort zu finden. Auch wenn und gerade weil die zeitgenössische Moderne für diese Anliegen schon fast keine Sprache mehr hat und sie unter ihren Fortschrittsvorstellungen verdeckt, so wächst doch die beunruhigende Gewissheit, dass ihre stumme Insistenz mit dem Instrumentarium moderner Wissenschaft und aufgeklärter Philosophie keineswegs zur Ruhe zu bringen ist. Vor diesem Hintergrund liest Benjamin Kafkas Werk als den Versuch, auf diese Anliegen unter neuen Bedingungen eine Antwort zu finden. Und dieser Versuch ist unabdingbar an eine neue Lektüre der Überlieferung gebunden, welche die Veränderungen ermisst, die uns von ihr trennen und zugleich mit ihr verbinden: „Kafkas Werk“, schreibt Benjamin an Scholem, „ist eine Ellipse, deren weit auseinander liegende Brennpunkte von der mystischen Er14 „Gewandt habe ich mich gegen den unerträglichen gestus des theologischen professional, der – wie Du nicht bestreiten wirst – die bisherige Kafka-Interpretation auf der ganzen Linie bestimmt.“ (Benjamin 1981: 76)

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fahrung (die vor allem die Erfahrung der Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits, bestimmt ist.“ (Benjamin 1981: 84). Beide Anliegen – und dies widerlegt für ihn theologische Deutungen Kafkas ebenso wie seine Vereinnahmung für die psychologischen Anliegen der Moderne, auf die sich für sie das Problem der Selbsterkenntnis reduziert – lassen sich nicht voneinander trennen, denn beide sind Momente einer Umkehr, welche sich in die Vergangenheit versenkt, um die Veränderungen lesbar zu machen, welche die Gegenwart erfasst haben.15 Unter diesem Anspruch reflektiert Benjamins Deutung zugleich auch das eigene Anliegen, den theologischen Erfahrungsgehalten der Vergangenheit „in ihrer äußersten Gefährdung, ihrer zerrissensten Verkleidung“ in der Moderne „Asyl zu geben“ (Benjamin 1991b: 277), um ihre tiefsten Anliegen und Erfahrungsgehalte für die Erkenntnis zu retten. Dabei geht es keineswegs um ihre Restauration, sondern – wie immer, wenn uns Asylsuchende beanspruchen – darum, die Insistenz vergessener Problemstellungen an den Grenzen unserer eigenen Erfahrungshorizonte zu erkennen. Denn es ist gerade die Fremdheit vergangener Erfahrungen, das in ihnen Vergessene, das uns an ihnen betrifft und den Versuch der Moderne in Frage stellt, die eigenen Erfahrungsbedingungen in die Hand zu bekommen und im Dienst der Selbsterhaltung einer selbstbezüglichen Subjektivitätsidee auf Dauer zu stellen. Das von Benjamin in diesem Sinn gestellte Problem, „wie man im Sinne Kafkas die Projektion des jüngsten Gerichts in den Weltlauf sich zu denken habe“ (Benjamin 1981: 76), besteht im Grunde darin, eine in Vergessenheit geratene Vorgeschichte unter radikal veränderten Bedingungen neu zu denken und ihren Zerfall in der Moderne als Konsequenz dieser Veränderungen lesbar zu machen. Als Motto könnte über Benjamins Interpretation eine Notiz stehen, die Kafka seiner eingangs zitierten Formulierung vom „Ansturm“ der Literatur „gegen die letzte irdische Grenze“ anfügt: Diese ganze Litteratur […] hätte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischen gekommen wäre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala entwickeln können. Ansätze dazu bestehen. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allem sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt. (Kafka 2002: 878)

Auch wenn und gerade weil der Zionismus als Ideologie eines historischen Neubeginns mit der Gedächtniskultur und dem hochgradig sensibilisierten geschichtlichen Bewusstsein der Kabbala bricht, bleibt er doch Moment einer 15 „Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt.“ (Benjamin 1981: 37)

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Geschichte, aus der auch er „nicht entlassen werden“ kann. Eine Notiz Kafkas verdichtet diese unauflösliche aber keineswegs restlos in Bewusstsein auflösbare Koexistenz jeder Gegenwart mit ihrer Vergangenheit: Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden. (Kafka 2002: 875)

Kafka hat diese unbekannten und gerade deshalb wirksamen Gesetze als formlose „Vorwelt“ (Benjamin 1981: 30) des Ungewordenen oder Abgesunkenen im Bodensatz gegenwärtiger Erfahrungen dargestellt. Daß diese Stufe vergessen ist, bedeutet nicht, daß sie in die Gegenwart nicht hineinragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessenheit. (Benjamin 1981: 28)

Die stumme Insistenz der vergessenen Vorgeschichte in den gegenwärtigen Erfahrungen ist freilich alles andere als ein Halt für diese: „Unerschöpflich, ergeht sich Kafka über die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede vermischt sich mit der entgegengesetzten.“ (Benjamin 1981: 28) Aber die Tatsache, dass wir aus dem unbekannten Gesetz, aus der vergessenen Konsequenz unseres Gewordenseins nicht entlassen werden können, ja dass wir für ihre Fortsetzung „eine formelle Notwendigkeit“ bedeuten, beinhaltet zugleich einen ‚unvergesslichen‘ Anspruch, der sich – ob wir das wissen oder nicht – unablässig an uns wendet: „Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht.“ (Benjamin 1981: 63) In diesem Anspruch, der sich im Innern unserer Erfahrungen an uns wendet, verdichtet sich das Eigenleben, welches das Vergessene, Unabgegoltene, Abgesunkene in unseren Erfahrungen gleichsam hinter unserem Rücken führt und das wir zumeist nur als Störung wahrnehmen, die unsere Fortschrittserwartungen durchkreuzt.16 Ein Bild für diesen Anspruch des Vergessenen findet Benjamin in Kafkas Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer: Der Kaiser hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. (Benjamin 1981: 39)

Wenn uns diese Botschaft erreicht – aber sie wird uns angesichts der unermesslichen Entfernung nie erreichen – ist der Kaiser, von dem wir nur aus 16 „Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein.“ (Benjamin 1981: 30)

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dunklen Gerüchten wissen, längst gestorben und seine Sonne erloschen. Aber schon diese Gerüchte erinnern uns in all ihrer Vagheit doch daran, dass wir, eingeschlossen in die Flüchtigkeit unserer selbstbezüglichen Erfahrungen, etwas vergessen haben. Im Bewusstwerden dieser Vergessenheit und der mit diesem Bewusstwerden möglichen Veränderung sieht Benjamin bei Kafka das messianische Motiv der Erlösung aufleuchten.17 Es betrifft freilich nicht ‚unsere‘ Erlösung aus der nihilistischen Gesetzlosigkeit der Moderne, sondern die Erlösung einer vergessenen Vergangenheit, deren Vergessenheit unsere Erfahrung in die Grenzen ihrer Selbstbezüglichkeit einschließt. Dieses Motiv ist, mit anderen Worten, nicht Gegenstand einer Hoffnung, sondern spricht die vage, aber unverlierbare, Möglichkeit einer Umkehr an: einer radikalen Veränderung, wie sie im Betroffensein durch eine Erinnerung liegt, die unwillkürlich aus dem Innern der eigenen Erfahrung hervorbricht, um ihre Spieße gegen uns zu kehren. In einem Brief an Scholem schreibt Benjamin am 20. Juli 1934: Ich habe versucht zu zeigen, wie Kafka auf der Kehrseite dieses ‚Nichts‘, in seinem Futter, wenn ich so sagen darf, die Erlösung zu ertasten gesucht hat. Dazu gehört, daß jede Art von Überwindung dieses Nichts wie die theologischen Ausleger um Brod sie verstehen, ihm ein Gräuel [sic] gewesen wäre. (Benjamin 1981: 77)

Wenn Kafka in seiner Parabel Vor dem Gesetz auf einem „Glanz“ beharrt, „der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“ (Kafka 1994: 269), dann zielt er keineswegs darauf ab, dem „Nichts der Offenbarung“ durch den Rückgriff in die theologischen Motive einer zerfallenen Tradition positive Gehalte zu restituieren: „Im Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar vermittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden“ (Benjamin 1981: 36), geht es Kafkas Schreiben darum, die unbedingte Möglichkeit einer Umkehr zu wahren, die den Widersinn dieser entfremdeten Beziehungen durchbricht: einer radikal neuen, mit undurchschauten Voraussetzungen brechenden Erkenntnis, die in die Schichten des bisher Vergessenen, nicht Thematisierten vordringt und das entfremdete Dasein „in Schrift verwandelt“ und neu lesbar macht. „Ich gehe“, schreibt Benjamin über seinen Kafka-Essay an Scholem, „von der kleinen widersinnigen Hoffnung, sowie den Kreaturen, denen einerseits diese Hoffnung gilt, in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus.“ (Benjamin 1981: 78) Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Bewusstsein des Widersinns einer „aufs höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen untereinander“, das die Möglichkeit birgt, diesem Widersinn die Konsequenz 17 „Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung.“ (Benjamin 1981: 34)

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seines geschichtlichen Gewordenseins abzulesen, seine pure Faktizität in eine Erkenntnisveränderung und diese in die Erfindung einer neuen Sprache zu transformieren. Dies fordert freilich eine Lektürehaltung, die sich von der Repräsentation und Festlegung des Vergangenen unter dem Perspektivwinkel der Gegenwart unterscheidet. Während diese die Vergangenheit den Ordnungskategorien einer Chronologie unterwirft,18 geht es Benjamins Kafka-Lektüre um die Möglichkeit einer radikalen Erkenntnisveränderung, die mit der Veränderung des historischen Blicks auch den Ort und das Subjekt der Erkenntnis in Mitleidenschaft zieht. Damit ist zunächst der mystische Brennpunkt von Kafkas Erkenntnishaltung angesprochen: eine Erkenntnis aus der Mitte der Dinge, die sich in die Tiefen und Verzweigungen ihres Gewordenseins versenkt und im Bodensatz der Ordnungen, Chronologien und Konstruktionen der Gegenwart den Staub, den Schmutz und die Dysfunktionen entdeckt, die unsere Vergessenheit hinterlassen hat. Der mystischen Versenkung, der Kafkas Begriff des Studiums entspricht, geht es genau um dieses Vergessene: eine unvollendbare Aufgabe, deren Ertrag nicht im Einholen der Vergangenheit besteht, sondern in den Veränderungen, die sie der Erkenntnis abverlangt. Der derart Erkennende wird gleichsam vom Einbruch der Zeit ergriffen, der die ihm geläufige Sprache außer Kraft setzt und die Kontinuitäten, Ordnungen und Institutionen der Gegenwart erschüttert. Aber inmitten dieser Erschütterung eröffnet sich die Möglichkeit einer neuen Sprache, in der sich mystische Versenkung und literarische Erfindung verbinden: Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allem sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt. (Kafka 2002: 878)

Wenn Benjamin – wie auch Kafka selbst – dessen Werk an diesem Ziel für „gescheitert“ hält (Benjamin 1981: 76 f.), so ist dies keinesfalls ein Urteil über dieses Werk. Denn gerade die Erfahrung des Scheiterns, an der Kafka unablässig gearbeitet hat, öffnet dort, wo es ihm gelingt, sie in Schrift zu verwandeln, die Möglichkeit einer Erkenntnis, die alles verändert: eine Erkenntnis, die nichts vorwegnehmen und in einer positiven Sinngebung kulminieren kann, aber in diesem Misslingen die fixierten Grundlagen des Selbst- und Geschichtsbe-

18 In diesem Sinne schreibt Reinhart Koselleck: „Um die Einheit der Historie als Wissenschaft zu wahren, müssen theoretische Prämissen entwickelt werden, die sowohl vergangene und völlig anders geartete wie auch eigene Erfahrungen abzudecken fähig sind.“ (Koselleck 1979: 131)

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wusstseins der Gegenwart, allen voran ihren Begriff des Fortschritts, radikal erschüttert:19 Aber in diesem Mißlingen bereitet sich freilich ganz im Bodensatze und in der untersten Schicht der Kreatur, bei den Ratten, Mistkäfern und Maulwürfen die neue Verfassung der Menschheit, das neue Ohr für die neuen Gesetze der neue Blick für die neuen Verhältnisse vor (Benjamin 1981: 121).20

Die Unmöglichkeit, die Umkehr einer Erkenntnis in eine neue Lehre zu überführen, welche diese neuen Verhältnisse vorwegnehmen könnte, ist das Sig­ num einer definitiven Auflösung der theologischen Lehre – aber auch des Weiterwirkens und der ungebrochenen Insistenz ihrer kreativen Impulse, mit denen sie auf die Anliegen eines Daseins geantwortet hatte, das sich den Ansprüchen seiner unbedingten Vergänglichkeit ausgesetzt sah. ‚Lehre‘ ist dieses Weiterwirken theologischer Motive unter geschichtlichen Bedingungen nicht mehr in einem dogmatischen, sondern in dem Sinn, wie man aus einer Erfahrung Lehren zieht: indem man sich in sie und die Konsequenz ihres Scheiterns versenkt, um in ihr die differenziertere Sichtweise einer neuen Erkenntnis auszumachen. In einer Tagebuchnotiz nähert sich Kafka den Bedingungen und Perspektiven einer solchen Erkenntnis: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können) in der das Leben zwar sein natürliches schweres Steigen und Fallen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: ‚ihm ist das Hämmern ein Nichts‘ sondern ‚ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts‘, wodurch ja das Hämmern noch entschlossener, noch wirklicher und wenn Du willst noch irrsinniger geworden wäre. (Kafka 2002: 854f.) 19 S. Hamacher (1998), für den das Scheitern deshalb zur Vorbereitung eines Neuen wird, weil es die Möglichkeit einer Vollendung durchkreuzt und unendlich aufschiebt. Geschichtsträchtig wird es aber nicht schon deshalb, sondern insofern jedes Scheitern eine Lehre beinhaltet, die aus ihm zu ziehen wäre. Von hier aus gesehen gewinnt dann auch der Begriff der ‚Vollendung‘ einer Erfahrung den zeitlichen Sinn eines Zu-sich-Kommens, den Benjamin als ‚Umkehr‘ fasst. 20 Am 19.10.1921 notiert Kafka ins Tagebuch: „Derjenige der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren – es geschieht sehr unvollkommen – mit der anderen Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht, denn er sieht anderes und mehr als die anderen, ist er doch tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende.“ (Kafka 2002: 867)

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Diese Arbeit steht, wie Benjamin erkennt, „jenem Nichts sehr nahe, das das Etwas erst brauchbar macht – dem Tao nämlich“ (Benjamin 1981: 35):21 einem Nichts, welches das Etwas hervortreten lässt, es aber nicht auf sein gegenständliches Erscheinungsbild beschränkt, sondern es im Doppelsinn seiner Vergänglichkeit als Nichts und zugleich als Werden erkennbar macht und es damit unterschiedlichen Ansichten und neuen Gebrauchsweisen öffnet. Der hier bei Kafka zum Ausdruck kommende Erkenntnisanspruch bindet die Erkenntnis an eine Erfahrung, wie sie allein ein intentionsloser Gebrauch des Erkannten vermitteln kann, der die Blockaden seiner gegenständlichen Fixierung und der Selbstbezüglichkeit intentionaler Erkenntnis überschreitet: eine geistige Übungspraxis, die einen geschichtlichen Körper, das Werden einer individuellen Erfahrung konstituiert, deren Vollendung nicht im Erreichen eines Zieles, sondern in einer Umkehr liegt, die der Wirksamkeit vergessener Erfahrungsschichten zum Ausdruck verhilft. Sie unterscheidet sich vom intentionalen Zugriff auf Gegenstände vor allem dadurch, dass sie sich in die Geschichte einer unablässigen Veränderung und Differenzierung der Erfahrung einbezogen weiß. Versenkt man sich, wie es Kafka getan hat, in die von der Moderne freigesetzten Leidenserfahrungen, so öffnet sich in ihren tiefsten Abgründen, an denen alle Ordnungen, Gesetze und Wertvorstellungen außer Kraft gesetzt sind, die Möglichkeit einer Aussicht auf das, was er „das Unzerstörbare“ genannt hat: „jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam. Daher die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen.“ (Kafka 1992: 66) In einem Tagebucheintrag entdeckt Kafka für diese Verbindung ein Wort wieder, das in seinem modernen Gebrauch schal geworden ist und das auch er nicht recht zu gebrauchen weiß: das zutiefst theologisch verwurzelte Wort „Liebe“. Kafka ahnt jedoch, dass sein Gebrauch nicht weniger verlangt, als eine Umkehr der Erkenntnis, wenn er sogleich hinzufügt: „Aber diese Liebe liegt zum Ersticken begraben unter Angst und Selbstvorwürfen.“ (Kafka 2002: 574) Ein Schreiben, das sich von dieser Liebe tragen ließe, hätte außer seiner mystischen Dimension einer Umkehr und Freisetzung der Erkenntnis zwei21 Im Tao Te King heißt es: „Dreissig Speichen treffen die Nabe / Die Leere dazwischen macht das Rad. / Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen / Die Leere darinnen macht das Gefäß. / Fenster und Türen bricht man in Mauern / Die Leere damitten macht die Behausung. / Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes. / Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.“ (Laotse 1999: 19) S. zur Diskussion um Benjamins Deutung dieses Nichts im Spannungsfeld von Thora und Tao Müller (1996: 205-219). Hamacher weist auf den Ursprung dieser Formulierung Benjamins in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung hin (Hamacher 1998: 320).

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fellos auch etwas von jener grenzenlos gemeinschaftsbildenden und verwandelnden Kraft des „Jargons“ eines „kleinen Volkes“. Bei diesem Licht besehen – das nun auch den anderen Brennpunkt von Kafkas Werk beleuchtet: die Orientierungslosigkeit in der Erfahrung des modernen Menschen – ließe sich ein solches Schreiben durchaus auch mit jenem Pfeifen der künstlerischen Maus Josefine vergleichen, von der es in Kafkas Erzählung heißt: Dieses Pfeifen, das sich erhebt, wo allen anderen Schweigen auferlegt ist, kommt fast wie eine Botschaft des Volkes zu dem Einzelnen; das dünne Pfeifen Josefines mitten in den schweren Entscheidungen ist fast wie die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult der feindlichen Welt. (Kafka 1994: 362)

Wenn Kafkas Literatur der Ausdruck seines Wunsches und die unausgesetzte Arbeit an dessen Umsetzung ist, sich über die feindliche Widerständigkeit der Welt zu erheben, um sie als ein Nichts erkennbar zu machen, dann geht es ihm nicht darum, diese wirklichen Bedingungen seines Schreibens hinter sich zu lassen, sondern sich im Gegenteil erinnernd in sie zu versenken, ihnen vergessene und niemals aktualisierte Sinnschichten abzulesen und sie dergestalt für neue Erfahrungen brauchbar zu machen. Jene Sätze über den Gesang Josefines in Kafkas Erzählung lassen sich, wie alles von Kafka Geschriebene, nicht von seiner unausgesetzten Selbstbeobachtung und Selbstreflexion trennen. Auch sie sind insofern Momente eines Werdens, das in vergangene Sinnschichten seiner Erfahrung hinabreicht, die Mechanismen der ihn bedrängenden Gegenwart außer Kraft setzt und sie in die Perspektive einer neuen Sprache transformiert. Deshalb lassen sie sich auch nicht von dem theologischen Motiv abtrennen, das in ihnen nachhallt: einer Insistenz, die sich „fast wie eine Botschaft“ an den Einzelnen wendet. Auch wenn diese Botschaft leer ist, so ermöglicht sie doch eine wie auch immer armselige kollektive Existenzform, die sich mit den Tumulten einer feindlichen Welt nicht abfindet. Wenn Kafka sein Schreiben als eine „Form des Gebets“ (Kafka 1992: 96) verstanden hat, so deshalb, weil es sich an ein Du wendet, das, im Schreibprozess angesprochen, gleichsam die Augen aufschlägt und auf die Intentionen des Schreibenden zurückwirkt: „Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung –, wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher.“ (Kafka 2002: 926) Aber weder Kafka noch auch Benjamin sind so weit gegangen wie Gershom Scholem, dieses Du als den Gott der Tradition anzusprechen – und sei dies im Sinn einer verlorenen, auf ihr Nichts reduzierten und nicht mehr vollziehbaren Erfahrung.22 22 Im Zusammenhang ihrer Debatte um Kafka legt Scholem seinem Brief vom Juli 1934 an Benjamin ein selbstverfasstes Lehrgedicht bei, dessen erste Strophe lautet: „Sind wir ganz

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Denn wenn der Name Gott eine durch und durch geschichtliche Erfahrung bezeugt, dann ist auch er nicht von der Vergängnis ausgenommen, die in aller Erfahrung wirksam ist. Ebenso wenig ist dieses theologische Motiv dann aber von der Offenheit alles Zeitlichen ausgenommen, das nicht einfach in der Vergangenheit verschwindet, sondern sich in seinem Vergehen transformiert und in den Tiefenschichten der Gegenwart fortsetzt. Wenn in der Zeit nichts verloren zu geben ist, weil gerade das Verlorene und fremd Gewordene in der Gegenwart weiterwirkt, dann gehört auch das theologische Motiv der Erlösung nicht einfach nur einer verfügbar und zitierbar gewordenen vergangenen Tradition zu, sondern ist ein konstitutives Moment einer Geschichte, die wir verkörpern und aus der wir nicht entlassen werden können. Wohl deshalb spricht Kafka jenes im Schreibprozess freigesetzte Du auch als „das Unzerstörbare“ an, das sich in „einer beispiellos untrennbaren Verbindung der Menschen“ manifestiert (Kafka 1992: 66). Denn diese beispiellos untrennbare Verbindung verweist nicht auf intersubjektive Relationen, sondern auf ein unbedingtes und unteilbares Werden, das sich in jeder seiner individuellen Figurationen ungeteilt manifestiert. Für Kafka – und dieses Motiv nimmt Benjamins Interpretation nicht mehr auf – verkörpert sich jenes Du auch und vielleicht vor allem im Blick des Nächsten: „Das Verhältnis zum Mitmenschen als Form des Gebets.“ (Kafka 1992: 96)23 Der unbedingte und unzerstörbare Anspruch, den er bezeugt, ist mithin zutiefst zeitlich und d. h. er ist keineswegs unabhängig davon, wie wir ihm entsprechen.24 Er ist für den Hassenden oder auch Misstrauischen ein anderer wie für den Liebenden. Und auch für diesen modifiziert er sich mit der Last von „Angst und Selbstvorwürfen“, welche die Umkehr einer Erkenntnisintention wie ein Schatten begleitet. Mit diesem Motiv der Liebe, das Benjamin ebenfalls nicht verfolgt, erhält die „Sumpfwelt“, die er in den Tiefen von Kafkas Werk ausmacht,25 erst jene geschichtliche Dimension, die seine Interpretation Kafkas Welt öffnen

von dir geschieden? / Ist uns, Gott, in solcher Nacht / nicht ein Hauch von deinem Frieden, / deiner Botschaft zugedacht?“ (Benjamin 1981: 72) 23 „Die Demut gibt jedem, auch dem einsam Verzweifelnden, das stärkste Verhältnis zum Mitmenschen und zwar sofort, allerdings nur bei völliger und dauernder Demuth. Sie kann das deshalb, weil sie die wahre Gebetsprache ist, gleichzeitig Anbetung und festeste Verbindung.“ (Kafka 1992: 96) 24 „‚Das Gericht will nichts von Dir“‘, sagt der Domgeistliche zu K., „Es nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entläßt Dich wenn Du gehst.‘“ (Kafka 1990: 304) 25 „Die Welt befindet sich, nach ihrer Naturseite, bei ihm in dem Stadium, das Bachofen das hetärische genannt hat. Kafkas Romane spielen in einer Sumpfwelt.“ (Benjamin 1981: 116)

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will.26 Im Licht dieses Motivs – das sich bei Kafka in den Gesten der Demut ausdrückt, die seine Selbsterkenntnis immer wieder erzwingt – stellt sich auch das Problem der Gesetze neu, das Benjamin unterschätzt, ja im Grunde missversteht, indem er es dem für ihn entscheidenden Begriff der „Lehre“ entgegensetzt.27 Wenn Kafka der destruktiven Seite der Selbsterkenntnis, die ihn für sich genommen in die Selbstbezüglichkeit seines ‚Jungesellendaseins‘ verstricken würde, durch eine Geste der Demut eine kreative Perspektive abgewinnt,28 dann erhält der Begriff des ‚Gesetzes‘ in dieser Veränderung den neuen Sinn eines geistigen Gesetzes: einer Konsequenz zeitlicher Veränderung und kreativer Transformation, welche diese Veränderung nicht festlegt, sondern ermöglicht. In der Konsequenz der Gesetze kreativer Schöpfung verbinden sich die Unerbittlichkeit eines geschichtlichen Werdens, „aus dem wir nicht entlassen werden können“, mit dessen unabsehbarer und radikaler Offenheit. Beides verdichtet sich buchstäblich in der jederzeit gegebenen Möglichkeit einer geistigen ‚Umkehr‘, die der Vergangenheit neue Aspekte abgewinnt und neue Fortsetzungen erschließt. Die Türhüterlegende mit ihrem Scheitern und ihrem unendlichen Aufschub eines möglichen Eintritts ins Gesetz gehört daher, wie der Geistliche im Dom K. erklärt, nur zu den „einleitenden Schriften zum Gesetz“ (Kafka 1990: 292), und es steht zu vermuten, dass es keine anderen als einleitende Schriften mehr geben kann. Aber jener Glanz, „der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“ (Kafka 1990: 294), beharrt auf der unvergesslichen und jederzeit gegebenen Möglichkeit einer Vertiefung der Einsicht in es. Im Grunde – und auch das ist eine Wirkung der Liebe – gibt die abschließende Erklärung des Domgeistlichen gegenüber K.s Zweifeln am Sinn der Parabel: „Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten“ (Kafka 1990: 303) der Unwahrheit ihren Ort in der zeitlichen Konsequenz eines Werdens zurück, das sie erkennbar und zum Ausgangspunkt einer erneuerten Erfahrung macht, wie sie sich für Kafka in seinem Schreiben verdichtet. 26 „Beginn einer Deutung, die bei Kafka das Geschichtliche mit dem Ungeschichtlichen verbindet. Ersteres kommt in meiner Fassung noch zu kurz“, schreibt Benjamin am 12.11.1934 an Werner Kraft (Benjamin 1981: 98). 27 „Ich werde“, heißt es im selben Brief an Kraft, „ – in einem späteren Zeitpunkt – den Versuch machen, aufzuzeigen, wieso – im Gegensatz zum Begriff der ‚Lehre‘ – der Begriff der ‚Gesetze‘ einen überwiegend scheinhaften Charakter hat und eigentlich eine Attrappe ist.“ (Benjamin 1981: 98) 28 „Und nur wenn man sich tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: ‚um Dich zu dem zu machen, der Du bist.‘“ (Kafka 1992: 42)

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In der doppelten, in sich gegenläufigen Stoßrichtung dieses Schreibens im Spannungsfeld von Unwahrheit und Wahrheit, Vergängnis und Erneuerung, gewinnt die messianische Idee der Erlösung, die beides umspannt,29 ihre Insistenz: Als Moment eines durch und durch zeitlichen Vorgangs bezeichnet sie nichts, was sich in diesem Prozess antizipieren ließe, sondern sie bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger als die stumme Insistenz kollektiver Sinnschichten im Innern einer Erfahrung, die es ohne sie nicht gäbe.

Literatur Benjamin, Walter (1981): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hrsg. von Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1991): Erfahrung und Armut. – In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2,1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 213-219. Benjamin, Walter (1991a): [Theologisch-politisches Fragment]. – In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2,1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 203-204. Benjamin, Walter (1991b): Theologische Kritik. Zu Willy Haas’ „Gestalten der Zeit“. – In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 275-278. Deleuze, Gilles (2000): Kritik und Klinik. Aesthetica. Aus dem Franz. von Joseph Vogl. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976): Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1990): Die différance. – In: Engelmann, Peter (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte zur französischen Philosophie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam., 76-113. Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1992): Préjugés. Vor dem Gesetz. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen.

29 „Merkwürdiger, vielleicht erlösender Trost des Schreibens […].“ (Kafka 2002: 892)

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Volker Rühle

Engelmann, Peter (Hg.) (1990): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte zur französischen Philosophie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam. Friedländer, Saul (2006): Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 19391945. München: Beck. Hamacher, Werner (1998): Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka. – In: Ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 280-323. Kafka, Franz (1975): Briefe 1902-1924. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1983): Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1990): Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Paisley (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1993): Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Paisley (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1994): Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (=  Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (2002): Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Paisley (=  Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (2009): Briefe an Felice. Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt/M.: Fischer. Koselleck, Reinhart (1979): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Laotse (1999): Tao Te King. Frankfurt/M.: Barth. Müller, Bernd (1996): „Denn es ist noch nichts geschehen.“ Walter Benjamins Kafka-Deutung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Nietzsche, Friedrich (1980): Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (= KSA, 1). München: dtv, de Gruyter, 875-890. Nietzsche, Friedrich (1980 a): Götzen-Dämmerung. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (= KSA, 6). München: dtv, de Gruyter, 55-160. Nietzsche, Friedrich (1980 b): Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (= KSA, 1). München: dtv, de Gruyter, 873-890.

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Scheier, Claus-Arthur (2010): Hegels Nihilismus. Zur Matrix der Moderne. – In: Kreuzer, Johann (Hg.), Hegels Aktualität. Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit. München: Fink, 109-120.

Klaus Schenk

Kafka-Umschriften. Zur Inter- und Hypertextualität einer Rezeptionsweise Wie bei kaum einem anderen Autor der modernen Literatur zeigt sich die Rezeption der Texte von Franz Kafka als produktiver Diskurs. Ein maßgebliches Verfahren bildet dabei das Um- und Weiterschreiben als Modus einer Inter- bzw. Hypertextualität, die es genauer zu bestimmen gilt. Vor allem in den Schreibweisen von Autoren der Zweiten Moderne nach 1945 spannt sich eine weitgefächerte Reihe von Kafka-Umschriften. Festgestellt werden kann: Es ist sehr häufig das Ende der Texte, das ein Um- und Weiterschreiben provoziert. Ein Ende, das entweder als Fragment in seiner Unabgeschlossenheit ausklingt oder sich im abgeschlossenen Text als absolutes Ende setzt, mit einem oft ausweglosen Schicksal des Protagonisten. Aber auch Umschriften, die den Diskurs Kafka bereits als Bricolage seiner selbst nutzen, finden sich in dieser Rezeptionspraxis. Offensichtlich inszenieren Kafkas Texte derart ihre Prozessualität, dass ihr Schreibimpuls über die Text- und Werkgrenzen hinausreicht. Dabei zeigt sich, dass die Umschriften eine spezifische Unbestimmtheit in der Schreibweise Kafkas auflösen und Verortungen in sehr unterschiedliche Kontexte vornehmen. Aufgezeigt werden sollen wesentliche Vorgehensweisen und Verfahren in der literarischen Geschichte dieses Um- und Weiterschreibens von Texten Kafkas an ausgewählten Beispielen der deutschsprachigen Literatur.

1. Kafka-Umschriften im Prager Kontext Dem Phänomen des Um- und Weiterschreibens seiner Texte begegnete Franz Kafka noch zu seinen Lebzeiten im Jahre 1916. Zu dieser Zeit war der Autor mit dem Band Betrachtung in Erscheinung getreten, hatte bereits die Erzählung Das Urteil herausgebracht und publizierte nun zunächst in der Monatsschrift Die Weißen Blätter (Oktober 1915) seine Erzählung Die Verwandlung, bevor sie im Dezember 1915 in der Reihe Der Jüngste Tag im Kurt Wolff Verlag erschien

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(Alt 2005: 331). Bereits am 11. Juni 1916 war allerdings im Prager Tagblatt eine vierseitige Erzählung mit dem Titel Die Rückverwandlung des Gregor Samsa zu lesen, verfasst von dem Prager Dichter Karl Müller, der unter dem Pseudonym Karl Brand einige Gedichte und Erzählungen veröffentlicht hatte. In einer redaktionellen Vorbemerkung der Zeitung hieß es dazu, den Text habe „einer aus dem Kreise Kafkas in dessen Stil geschrieben“ (zit. n. Vollmer 1991: 264). Zu bemerken ist, dass Brand das Ende von Kafkas Erzählung Die Verwandlung (KKAD: 113-200) zunächst in Details weiter steigert: Man hatte den entsetzlichen Wanzenkadaver des Gregor Samsa mit dem Abdeckwagen fortschaffen lassen. Dieser hatte den trockenen und abgemagerten Leib mit seinen Gehilfen vor die Stadt gefahren und denselben auf einem ungeheuerlichen Kehrrichthaufen abgeladen. Wie lange der tote, vermorschte Leib daselbst auf das Verscharren wartete, läßt sich nicht feststellen, doch begann derselbe bereits durch den Einfluß der Sonnenhitze einen entsetzlichen Pestgeruch zu verbreiten. (Brand 1991: 295)

Brand greift Die Verwandlung Kafkas paratextuell bereits im Titel auf, aber auch in Anspielungen, wenn z. B. vom „ungeheuerlichen Kehrrichthaufen“ die Rede ist und sich das bei Kafka unbestimmt gebliebene „Ungeziefer“ (KKAD: 113) zu einem „Wanzenkadaver“ konkretisiert. Zudem fällt auf, dass der zentrale Satz, an dem der Wendepunkt im Text von Brand kulminiert, an eine vergleichbare Formulierung in Kafkas Erzählung erinnert: Gregor Samsas toten Leib begann ein seltsames Etwas zu durchrinnen, das einem plötzlichen Denkenkönnen gleich und sich ewig in dem einzigen Satze: ‚Morgen will ich mich zusammenraffen und vor sie hintreten‘, äußerte. (Brand 1991: 295)

Bei Kafka hieß es: „Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt.“ (KKAD: 117) Es sind zunächst intertextuelle Relationen, die sich im Text von Brand realisieren. Darüber hinaus zeigt Brands Text aber auch Ähnlichkeiten mit Kafka im Hinblick auf die Wortwahl, den stellenweise hypotaktischen Satzbau sowie in der Erzählweise mit interner Fokalisierung durch Gedankenzitate bzw. erlebte Rede und könnte im weitesten Sinne als Pastiche verstanden werden. Weitere Auszüge aus dem Text machen deutlich, wie Brand den Text Kafkas in eine Rückwärtsbewegung drängt und ins expressionistisch Messianische umschreibt: Die Sonne kroch langsam ihren Himmelsweg empor und breitete sanfte Wärme um ihn. Gregor Samsa lag schweigend und ruhig dem Ätherbogen des Himmels an, der wortlos und ruhig, nur von ihm gehört zu ihm sprach: ‚Stehe auf! Gehe jetzt.‘

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Und Gregor erhob sich und ging. Seine Schritte waren langsam, aber fest und unerbittlich. Und als er zu den ersten Häusern der Stadt gelangte, schrieen ihm die Häuserketten zu: ‚Ein neues Leben beginnt!‘ (Brand 1991: 297)

In seiner Kafka-Biographie kommentiert Rainer Stach diesen Rezeptionsvorfall: Da hatte offenbar jemand die widersprüchlichen, beklemmenden Gefühle nicht ertragen, die das Ende eines so mediokren Menschen begleiten, und hatte ohne jede Rücksicht auf literarische Glaubwürdigkeit dieses Ende einfach storniert. (Stach 2002: 225)

Was Stach erlebnishaft stilisiert, lässt sich auch als Verfahren des Um- und Weiterschreibens verstehen, wenn Brand Kafkas Verwandlung von ihrem Ende her auflöst, um einem Anspruch auf Erlösung gerecht zu werden. Brand verändert den finalen Ablauf der Erzählung Kafkas, ohne die Vorlage zu parodieren, und verortet Kafkas Erzählung im Kontext des messianischen Expressionismus (Vietta/Kemper 1983: 186ff.). Was bei Kafka unbestimmt blieb, wird bei Brand an einen Epochenstil angepasst und zeit- bzw. literaturgeschichtlich kontextualisiert. Weitere Um- und Anverwandlungen finden sich auch in Kafkas engerem Kreis. So hatte der blinde Dichter Oskar Baum (1992: 192-202) die Erzählung Der Geliebte verfasst, die Ähnlichkeiten zu Kafkas Verwandlung zeigt und im Jahre 1918 ebenfalls in Der jüngste Tag im Kurt Wolff Verlag publiziert wurde. Eine kurze Skizze des Inhalts möge dies verdeutlichen: In der Nacht vor der Einberufung zum Kriegsdienst schließt eine junge Frau ihren Bräutigam im „Kohlenkeller“ (Baum 1992: 197) ein, was erst entdeckt wird, als sie sich nach Kriegsende einem Fremden offenbart, der im Keller ein zum Tier verwandeltes Wesen vorfindet: „Ein ganz von Bart überwachsenes Gesicht mit gläsernem Tierblick neigte sich vor, schwer gelallte Laute bewegten den Mund und hagere Hände mit sehr langen Fingernägeln griffen nach Licht.“ (Baum 1992: 201) Früh schon entfachten gerade erst veröffentlichte Texte Franz Kafkas eine produktive Rezeption, umso mehr aber, seit auch die bisher unveröffentlichten Texte Kafkas von Max Brod publiziert und zu einem Werkkomplex zusammengeschlossen wurden. Aus dem weiteren Umfeld des Prager Kreises hat Johannes Urzidil z. B. Kafka in seinen Essays zur Titelfigur gestaltet, an die er sich von seinem amerikanischen Exil aus erinnert: Da geht Kafka (Urzidil 1965). Eine der letzten Vertreterinnen, die sich der Prager Szene zugehörig fühlte, war Lenka Reinerová (1983: 7-49), die Kafka in ihrer Erzählung Das Traumcafé einer Pragerin literarisch imaginiert und mit dem Veranstalter der Kafka-Konferenz in Liblice (1963), Eduard Goldstücker, zusammentreffen

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lässt. Der produktive Diskurs, der sich um Kafka entspinnt, eröffnet eine große Spannbreite an Literarisierungen, unter denen sich die Adaptionen und Transformationen seiner Texte besonders deutlich profilieren. Dass ein prozessualer Impuls seine eigene Schreibweise durchzieht, der auch über die Grenzen seiner Texte hinausreicht, mag dem Autor bereits ahnbar gewesen sein, wenn man bedenkt, dass er in seinem 1919 veröffentlichten Text Die Sorge des Hausvaters (KKAD: 282-284) ein „Wesen“/„Gebilde“ (KKAD: 282/283) vorführte, das in seiner Texturmetaphorik selbst schon als sich aus heterogenen Komponenten zusammenfügender Text erscheint. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. (KKAD: 283)

Kafka selbst bietet mit Odradek eine Texturmetapher, die sich als brüchig erweist, aber ebenso ihr mutwilliges Eigenspiel treibt und den Erzähler vermutlich sogar überleben wird. Zahlreich sind wohl nicht zufällig die Anverwandlungen, die Odradek in sehr verschiedenen Medien fand (Holbein 1990). Andere Texte Kafkas ließen sich anführen, die die Verflechtung von Texten in Texten andeuten, wie etwa das von Brod mit dem Titel Der Bau versehene Erzählfragment (KKAN II: 575-632), das in seiner Schreibmetaphorik ‚graben‘/ ‚graphein‘ eine Selbstreflexivität, aber auch eine Vernetztheit des Schreibens förmlich zum Erzählprinzip macht. Der Bau erweist sich als labyrinthisches Netzwerk, in das einerseits fremde Gänge inkorporiert werden, das andererseits aber auch selbst den Grabungen eines fremden Systems anheimfallen könnte. Die um- und weiterschreibende Kafka-Rezeption hat in dieser Hinsicht eine mehrfache Begründung, die über Motivanleihen hinausgeht und vielmehr die Schreibweise Kafkas selbst zum Gegenstand der literarischen Rezeption macht.

2. Kafka um- und weiterschreiben nach 1945 Bei einem Blick auf die unmittelbare Situation nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, dass auch der literarische Wiederbeginn am Um- und Weiterschreiben Kafkas großen Anteil hatte. Zunächst könnte man darin mit Heinrich Böll (2002: 159) die „Suche nach einer bewohnbaren Sprache“ vermuten, die nicht vom Sprachmissbrauch der Vergangenheit korrumpiert worden war.

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Eine ganze Schriftstellergeneration, darunter namhafte Autoren, aber auch zahlreiche, deren Namen nur noch wenigen bekannt sind, hat über die Anlehnung an Kafka einen Einstieg in die literarische Nachkriegsmoderne gesucht. Bereits im Jahre 1952 findet sich in der literarischen Monatsschrift Welt und Wort ein Artikel, der diese frühe Kafka-Rezeption unter dem Titel Franz Kafka und die junge Literatur mit folgenden Worten beschreibt: Die Bild- und Stoffwelt Kafkas hat über jede der vielstufigen religiösen, existentialistischen, psychoanalytischen Deutungen hinaus, als Bereich einzigartigen nüchternen Leidens und Suchens, Wehrens und Ergebens einen großen Teil junger Nachkriegsdichter angezogen. (Meidinger-Geise 1952: 189)

Unter den Autoren, die Themen, Motive, Gestalten oder nur „Kafkas WerkWelt“ (Meidinger-Geise 1952: 194) adaptiert hätten, werden u.  a. genannt: Heinrich Böll, Arno Schmidt, Barbara Zaehle, Walter Jens, Hermann Lenz, Ernst Kreuder, Ilse Aichinger, Georg Hensel, Hans-Erich Nossack, Otto Herdings. In motivischer Hinsicht habe besonders Kafkas Die Brücke (KKAN I: 304f.) in sehr unterschiedlichen Texten nachgewirkt. Vor allem die Erzählung Der Löwenzahn von Barbara Zaehle (1948: 148-164) und der Roman Nein – Die Welt der Angeklagten von Walter Jens (1950) werden angeführt, um Kafkas Spuren bis auf die Ebene der Schicksale und Figurennamen zu verfolgen. Verstanden werden die Kafka-Bezüge in der ‚jungen Literatur‘ als „Proben und Prüfungen auf Verständnis und Bezwingung einer Macht, die Kafka zweifellos für die junge Literatur geworden ist.“ (Meidinger-Geise 1952: 194) Über diese abwägende Einschätzung hinaus sollte auch bedacht werden, welchen starken Einfluss die Rezeption Kafkas auf die Gruppe 47 hatte (Reid 1999: 110). Auch ein Jahrzehnt später hält die Faszination an Kafka in der Literatur der Bundesrepublik weiter an. Doch nicht nur in der Bundesrepublik wird das Schreiben und Weiterschreiben Kafkas zum Thema. Auch in der Literatur der DDR finden sich frühe Kafka-Adaptionen wie etwa schon bei der literarischen Veteranin Anna Seghers (1992), die in ihrer Erzählung Die Reisebegegnung E.T.A. Hoffmann, Kafka und Gogol in einem Prager Café zusammentreffen lässt und dabei Szenen aus Kafkas Schloß-Roman (KKAS) paraphrasiert bzw. in der Narration umsetzt (Winnen 2006: 62ff.). Eine spezifische Tradition der Kafka-Rezeption hat sich in diesem Kontext herausgebildet wie später auch bei Christa Wolf, die ihr Schreiben immer wieder auf Kafka bezog, z. B. in dem Text Unter den Linden (Wolf 1974: 7-60) oder in Kindheitsmuster (Wolf 1976). Aber auch Kritiker hat der Schreibdiskurs über Kafka bereits früh gefunden. So lässt Günter Grass in seiner Novelle Katz und Maus (1961) die Figur des Paters Alban die schriftstellerischen Versuche von Pilenz charakterisieren:

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Setzen Sie sich einfach hin, lieber Pilenz, und schreiben Sie drauflos. Sie verfügen doch, so kafkaesk sich Ihre ersten poetischen Versuche und Kurzgeschichten lasen, über eine eigenwillige Feder: greifen Sie zur Geige, oder schreiben Sie sich frei – der Herrgott versah Sie nicht ohne Bedacht mit Talenten. (Grass 1987: 99)

Deutlich wird, dass bei Grass bereits karikierend die scheinbare Produktivität eines kafkaesken Schreibens beschworen wird, wie es die Nachkriegsgeneration bestimmte. Von den Vertretern der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur hat sich vor allem Martin Walser in seiner frühen Prosa an Kafka orientiert, was inzwischen eingehend in der Forschung dokumentiert ist (Fingerhut 1980; Schweikert 1983). Walser knüpft in seinen frühen Erzählungen nicht nur an die Schreibweise Kafkas an, sondern macht sie auch in seiner 1951 eingereichten Dissertation Beschreibung einer Form (erstmals 1961 veröffentlicht) auf wissenschaftlicher Ebene zum Untersuchungsgegenstand, wozu Walter Höllerer in der Neuauflage Zur Einführung bemerkt: Martin Walser untersucht das, was Kafka ‚Schreiben‘ nannte. Er deutet eine Auffassung von Literatur, die die Wirklichkeit schon vor dem Werk sich verwandeln heißt, die die bürgerliche Person des Dichters reduziert und zerstört und ‚die Persönlichkeit des Schreibenden‘ zum Ziel hat. Die Person Kafka gibt das Wort an den ‚Schreiber‘ Kafka ab. (zit. n. Walser 1978: 5)

Offensichtlich ist, dass ein kafkaeskes bzw. kafkaisierendes Schreiben1 auf die frühen Erzählungen Walsers übergreift. Vor allem in seinen Erzählungen aus dem Band Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten, der 1955 im Suhrkamp-Verlag erschien, finden sich deutliche Kafka-Anklänge. Wie Schweikert (1983: 32) feststellt, wurde besonders das Moment der Störung von Walser aus seiner akademischen Arbeit auf die Erzählform der frühen Texte übertragen: Walser diagnostiziert bei dem Bemühen, anhand der drei Romane, die Gegenstand seiner Untersuchung sind, die Leerform eines Kafkaschen Vorgangs zu finden, die Störung als das Moment, mit dem der Vorgang beginnt. Diese Störung ist freilich nicht absolut zu sehen, sondern als Impuls innerhalb eines Ordnungsgefüges, das dadurch überhaupt erst auf den Plan gerufen wird.

So legt Walser mit Gefahrenvoller Aufenthalt (Walser 1955: 18-34) eine für die Erzählweise Kafkas typische Zimmergeschichte vor, in der der Protagonist aus unbekannten und nur zu vermutenden Gründen das Bett nicht mehr verlässt:

1 Die Kennzeichnung ‚kafkaisierend‘ (Genette 1993: 106f.) kann genutzt werden, um den hypertextuellen Aspekt einer Schreibweise zu betonen, im Unterschied zu ‚kafkaesk‘ (Neff 1979: 881ff.; Stromšík 1992; Niehaus 2009), das mehr auf ein Weltmodell abhebt.

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An jenem Nachmittag drehte ich mich früher als sonst vom Fenster weg und legte mich, angezogen wie ich war, auf mein Bett. Meine Arme fielen ausgestreckt links und rechts neben mich hin und blieben liegen. Seit diesem Augenblick habe ich auch nicht mehr die geringste Bewegung vollbracht. (Walser 1955: 18)

Situation und Duktus teilt der Text mit Kafkas Verwandlung, aber auch Ein Landarzt (KKAD: 252-261) scheint auf, wenn am Ende der Erzählung die Ankunft eines Amtsarztes imaginiert wird. Im Unterschied zu Kafkas Verwandlung bezieht der Erzähler allerdings eine homodiegetische Position. Zu Recht wurde von Pezold (1971: 27) daher auf die Gemeinsamkeiten zwischen Kafkas Erzählung Der Bau und Gefahrenvoller Aufenthalt hingewiesen: Hier wie dort beginnt der Bericht des Ichs, nachdem es sich von den Fährnissen der Außenwelt, des Lebens, auf sich selbst zurückgezogen und alle Brücken nach draußen abgebrochen hat.

Mit Kafkas Erzählweise teilt Walser die interne Fokalisierung, die sich stellenweise in Gedankengebilde verflüchtigt, wie in folgender Passage bei der Auseinandersetzung mit dem „Angestellte(n) des Elektrizitätswerkes“: Ich hatte nicht einmal versucht, den Mund zu bewegen, solange ich spürte, daß es meinen endgültigen Untergang beschleunigen mußte, wenn ich Gedanken wie die seinen ungehindert aufschießen ließ. Warum bewegte ich den Mund nicht? Warum sprach ich kein Wort? Warum? Warum? Die Frage tanzte mir vor dem Gesicht auf und ab und sagte dann, sie sei gar keine Frage, sie sei nur ein Lächeln, das sich jetzt gleich gegen die Zimmerdecke hin auflösen würde, um nie wieder zu erscheinen. (Walser 1955: 21)

Will man sondieren, welche Anspielungen in dieser kurzen Passage versteckt sind, so führen die Wege über Die Verwandlung zu einer Reihe von Texten. So erinnert z. B. die Fragekette an die Schlusspassage in Kafkas Roman Der Proceß (KKAP: 312), aber auch Kafkas aphoristisches Schreiben scheint auf, wenn Abstrakta personifiziert oder in Konkreta überführt werden, um sie schließlich in Nichts aufzulösen. Vergleichbar dem Verfahren, das Walser (1997: 731737) im Nachtrag zu seiner Promotion Kafkas Stil und Sterben herausarbeiten wird: „Jede Mitteilung produziert förmlich ihre Aufhebung.“ (Walser 1997: 732) Kafkas an der sprachkritischen Reflexion geschultes Schreiben wird bei Walser ebenso verarbeitet, wie dessen spezifische Art, innere Vorgänge in hypothetisches Erzählen zu überführen. Auch kontextuelles Kafka-Wissen aus den Briefwechseln und den Tagebüchern wird eingeblendet. In Walsers Erzählung Ich suchte eine Frau (Walser 1955: 35-47) werden Szenen und Handlungsorte aus Kafkas Proceß-Roman sogar direkt aufgegriffen und wiederum im Duktus der internen Fokalisierung inszeniert:

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Als ich dann die zweite Versammlung verließ, ohne sie gesehen zu haben, war ich ein bißchen niedergeschlagen, aber ich sagte mir gleich, daß ich dazu eigentlich keinen Grund hatte. (Walser 1955: 41)

Im Unterschied zur stilistischen Nachahmung im engeren Sinn wird in Wal­ sers Schreibweise ein Kafkasches Setting des Erzählens genutzt, ohne allerdings die radikalen Konsequenzen Kafkas nachzuvollziehen. Zum Zusammenhang zwischen Kafkas Verwandlung und Walsers Gefahrenvoller Aufenthalt konnte Schweikert (1983: 32f.) daher bemerken: Was bei Kafka eine tödlich endende Zwangssituation ist, erscheint in Walsers Fassung der Geschichte als vorzeitig abgebrochener (der Schluß bleibt ja offen, die letzten Sequenzen sind futuristische, potentielle Überlegungen) Versuch, sich probeweise in eine Kafkasche Situation zu begeben.

Kafkas absolut gesetztes Ende wird von Walser in ein relatives überführt, was der Schreibsituation Anfang der 1950er-Jahre entspricht. Anders als bei Kafka werden bei Walser die Figuren aber auch sozial verortet, wenn z. B. die Abfolge ihres Erscheinens in Gefahrenvoller Aufenthalt jeweils mit einer Berufsbezeichnung eingeführt wird, wie es für Walsers Erzählweise charakteristisch ist (Walser 1997: 672-687). Es handelt sich bei Walser um Kafka-Umschriften auf Probe, die Anschlussstellen suchen zur weiteren literarischen Produktivität. Entsprechend haben auch die zeitgenössischen Rezensionen auf Walsers kafkaeske Schreibversuche reagiert, wenn etwa Hans Egon Holthusen in seinem Artikel Ein Kafka-Schüler kämpft sich frei der Titelnovelle des Bandes zugesteht: „Der Bann ist gebrochen, und das glückliche Ergebnis einer rechtmäßigen Schülerschaft tritt zutage. Hier ist Walser schon ganz er selbst“ (Holthusen 1970: 11). Polemischer tritt allerdings schon Paul Noack (1970: 12) auf, wenn er seine Besprechung Ein Kafka-Epigone mit folgenden Worten abschließt: Wir müssen es dem Kafkaspezialisten Walser kaum sagen, daß bei seinem Vorbild eine existentielle Not und eine Nötigung vorlagen, als das Unheimliche in seine Prosa einbrach. Das ist bei dem jungen Nachfolger sichtlich nicht der Fall. Hier werden oft allzu deutlich nur die ‚Mittel‘ virtuos gehandhabt, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.

Durch die Anlehnung an Kafka kann Walser Themen generieren, die ihre Erzählweise mit sich führen. Will man die produktive Kafka-Rezeption in Walsers frühen Texten bewerten, so zeigt sich, dass sie weder in satirischer noch in ironischer Weise auf ihr Vorbild Bezug nehmen. Auch der Vorwurf einer Epigonalität wird in der Forschung immer wieder zurückgewiesen: Die Parallelität der frühen Geschichten Martin Walsers zu Kafka, die in vielen einzelnen Punkten – Handlungsablauf, Konstellation, Erzähltechnik – festzustellen war, legitimiert weder die Folgerung einer generellen Übereinstimmung noch kann sie, recht verstanden,

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Anlaß sein, in Walser den noch unsicheren, noch nicht zu sich selbst und seinem eigenen Stil gefundenen Epigonen zu sehen. (Schweikert 1983: 37)

Betont werden kann, dass Walser erst durch seinen textanalytischen Hintergrund souverän über die Erzählformen Kafkas zu verfügen lernt: Nicht mangelnde Eigenständigkeit, sondern erst wissende Souveränität ermöglicht das Spiel mit den Elementen Kafkascher Erzählkunst; als Spiel freilich aber fehlt ihm der ursprüngliche Ernst – mit den Vorzeichen verwandelt sich bei der Transposition in eine andere Tonart auch das Thema. (Schweikert 1983: 37)

Der Modus, in dem Walser auf Kafkas Schreiben zugreift, ist der einer Umschrift, die sich transformierend, aber nicht entlarvend zu ihrem Gegenstand verhält. Dieser Kafka-Impuls hat sich auch im weiteren Werk von Martin Walser nicht verloren, wenn Mathäs (2004: 14) die Hypothese aufstellt, dass Walser sich zwar allmählich vom handlungsarmen Erzählmodell kafkascher Provenienz entfernt, dabei seine an Kafka geschulte Darstellung subjektiver Wirklichkeitsverzerrung aber keineswegs aufgibt, sondern diese immer mehr als Folgen der gesellschaftspolitischen Gegebenheiten begreift.

Zu Recht kann Mathäs (2004: 26f.) drei Aspekte benennen, die sich von den frühen Erzählungen bis zu Walsers erstem Roman Ehen in Philippsburg spannen: erstens, die Aneignung von Kafkas einsinniger Erzähltechnik, durch die er sich von der eigenen Biographie distanziert, um sie dann auf einem existentiellen Niveau zu variieren [...]; zweitens die surrealistische Stilisierung autobiographischer Erfahrung zur Fremdheitsmetapher ermöglicht ihm die bewusste Identifikation mit Kafkas Schreibmotivation, die er beispielhaft in ‚Gefahrenvoller Aufenthalt‘ verarbeitet; in einem dritten Schritt konkretisiert er dann diese Fremdheitserfahrung und überträgt sie auf den Kontext der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der fünfziger Jahre.

Der hohe Stellenwert von Kafkas Erzählweise in den Texten Walsers lässt sich auch im späteren Werk aufzeigen. Wenngleich sich das Sujet ändert und das Alltägliche zur vordergründigen Matrix wird, Kafkas Erzählform klingt weiter an (Pilipp 1989; Mathäs 1994). Auch auf der Kafka-Konferenz in Liblice (1963) wurden Walsers kafkaeske Schreibversuche aufgegriffen und von Helmut Richter zum Anlass genommen, die Problematik der westlichen Kafka-Rezeption vorzuführen, um dieser globalen Mode aus sozialistischer Sicht entgegenzuwirken. Neben der modellhaften Übernahme bei anderen Autoren wird bei der Durchbrechung einer realistisch gestalteten Wirklichkeit auch Walsers Versuch einer Gestaltung „in der Betrachtungsweise und Sprache Kafkas“ (Richter 1965: 190) angeführt. Kaum noch ist während der 1950er-Jahre die Kafka-Rezeption

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und ihre produktive Resonanz bei den Autoren vom Politikum zwischen den ideologischen Lagern zu trennen.

3. Kafka-Umschriften seit den 1960er-Jahren In einer am 1. Juni 1974 zum fünfzigsten Todestag Kafkas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veranstalteten Hommage, wo unter anderem Marcel ReichRanicki, Dolf Sternberger, Wolfgang Koeppen und Peter Handke ihre Verbundenheit mit Kafka dokumentierten, hat auch Peter Weiss unter dem Titel Der Landvermesser, das Dorf und das Schloß (1974: 46) über eine Lektüreerfahrung von Kafkas Schloß-Roman berichtet, die mit kleinen Abweichungen in den 1975 veröffentlichten ersten Band des Romans Die Ästhetik des Widerstands (Weiss 1988: 175) einging und mit einer Textumschrift des Romananfangs beginnt: Das Dorf, in das der Landvermesser kam, war der Wohnplatz derer, die nichts in Frage stellten. Obgleich das Schloß sichtbar war, mit seinen flachen weitgestreckten Gebäuden, seinen runden mit Efeu bewachsenen Türmen, seinen Krähenschwärmen, befand es sich doch völlig außerhalb jeder Möglichkeit zur Annäherung. Es war das Quälende, daß von Anfang an diese Trennung feststand, daß keine Überlegung aufkam, warum das Gesetz der Unzugänglichkeit für das Schloß zu gelten hatte. Sie alle, die hier unten im Dorf lebten, auch der hinzugereiste Landvermesser, nahmen den aufgezwungenen Abstand zwischen ihrer Welt und der Welt der Herren als etwas Unverbrüchliches hin. (Weiss 1974: 46)

Schon an diesem Textauszug wird deutlich, welchen Duktus sich die Kafka-Umschriften von Peter Weiss geben als Befreiung aus den kleinbürgerlichen Zwängen der durch die revolutionäre Theorie veränderbar gewordenen Machtverhältnisse. In seiner Einleitung zur Dramatisierung von Kafkas Proceß-Roman stellt sich Weiss (1977: 524) daher die Frage: Warum nutzt er nicht die Impulse seines Zorns, seines Zweifelns aus, um zu bekämpfen, was ihn niederhalten will. Weil er nicht aus seiner Klassenbindung herauskommt. Alles was er unternimmt bleibt gefangen innerhalb der Normen, die sein bisheriges Dasein bestimmten.

Peter Weiss (1977, 1984) bezieht sich nicht nur mit den zwei Dramen Der Prozeß (1974) und Der neue Prozeß (1981) auf Kafka (Zimmermann 1990), sondern zeigt in der gesamten Spannbreite seines Werkes eine Verbundenheit mit diesem für seine Schaffensweise prägenden Autor (Heyde 1997).

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Innerhalb der deutschsprachigen Rezeption ist auch an Kafka-Umschriften in der österreichischen Literatur zu denken, allen voran bei Peter Handke, dessen Werk in vielfältiger Hinsicht von Kafka geprägt ist. Schon unter den frühen Erzählungen des Autors findet sich ein kurzes Prosastück, das paratextuell bereits im Titel eine direkte Beziehung zu Kafka herstellt und auf das Jahr 1965 datiert ist: Der Prozeß (für Franz K.) (Handke 1969: 86-98). Dass Handkes Erzählung eine intertextuelle Relation zu Kafkas Proceß-Roman eröffnet, wird auch deutlich, wenn Handke den ersten Satz aus Kafkas Text zur Frage umformuliert: „Wer hat Josef K. verleumdet?“ und von einem wörtlichen Zitat des Eingangssatzes folgen lässt: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (Handke 1969: 86; KKAP: 7) Im weiteren Text zeichnet sich deutlich der Gestus einer Umschrift ab. Angeführt sei eine Passage aus der Schlussszene, die K. bereits in „einem kleinen, verlassenen Steinbruch außerhalb der Stadt“ zeigt (Handke 1969: 98): Schließlich entnahm ein Herr seinem Gehrock ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Mondlicht. Höflich reichten die beiden einander das Messer über K. hinweg und wiederholten wieder und wieder diese Gebärde, in der Hoffnung, K. werde zugreifen und ihnen die Arbeit abnehmen. K. dachte jedoch nicht daran. Es erschien ihm wie eine Rechtfertigung, daß er sie gewähren ließ.

Die entsprechende Stelle bei Kafka (KKAP: 311) lautete: Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfen im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem andern, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte.

Zunächst fällt auf, dass Handke nicht nur eine inhaltliche Verknappung der Kafka-Vorlage vorgenommen hat, sondern auch in stilistischer Hinsicht Kafkas Erzählen zu einem Bericht komprimiert. Reinhard Urbach kann dazu bemerken: „Handkes Nacherzählung ist keine Kritik des Romans, keine Parodie seines Stils, sondern: er nimmt Kafkas Roman zum Anlaß für eine neue Geschichte; eine Geschichte, die nicht mehr erzählt wird, sondern berichtet“ (Urbach 1987: 187). Auch Dietrich Krusche (1979: 663) hat darauf hingewiesen, Handke beziehe sich auf Kafkas Vorlage „im Sinne einer Inhaltsangabe“ und vermerkt, dass zwar auch Handke „die Erzählperspektive mit der Hauptfigur

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der Handlung“ verknüpft, sich „als Nacherzähler aber eine Minimaldistanz zu der Zentralfigur“ sichert. Eine detaillierte Analyse der Kafka-Umschrift von Handke hat Roland Galle (1993) vorgelegt, in der er bemerkt, dass Handke nicht nur die monologischen bzw. dialogischen Partien Kafkas nicht übernimmt, sondern auch in der Schlusspassage durch den Satz: „K. dachte jedoch nicht daran“ (Handke 1969: 98) eine entscheidende Veränderung der Perspektive vollzieht. Auf diese Art der Perspektivierung aufmerksam geworden, ließen sich weitere bewertende Einschübe finden wie z. B.: „Sie wußten jedoch nichts miteinander anzufangen“ (Handke 1969: 88) oder: „Dann aber gebärdete er sich wieder wortreich und schwätzte seine üblichen sorglosen Reden“ (Handke 1969: 97). Dadurch wird eine Ambivalenz in den Text hineingetragen, die es erlaubt, Handkes implizite Antwort auf die von ihm eingangs gestellte Frage, wer Joseph K. verleumdet habe, nun zu formulieren: Niemand anders als Franz Kafka, der Autor, dem Handke weit gefolgt ist, den er an einer für ihn entscheidenden Weggabelung aber verläßt (Galle 1993: 138).

Über die Positionierung der Relation Kafka-Handke hinaus kann Galle aber auch ein Verfahren benennen, das die Umschrift Handkes bestimmt: „Die Eigenart und Wirkung solch mimikryhafter ‚Wiederholung‘ des Bezugstextes lenkt aber, notwendigerweise, die Aufmerksamkeit auf die Erstellung von Differenz.“ (Galle 1993: 134) Wenig beachtet blieb, dass Handke zudem die Beschreibung einer Zeichnung Kafkas intermedial in den Textablauf montiert: „Ein Bild zeigt ihn, wie er, den Kopf zwischen die Hände schwer auf den großen Tisch gelegt, mit von sich gestreckten Beinen gleichsam abgeknickt dasitzt und grübelt.“ (Handke 1969: 94) Dadurch wird Kafka selbst mit K. in Verbindung gebracht und in seinen Text eingerückt. Aber auch andere kontextuelle Hinweise ließen sich ausfindig machen wie auch die Wortwahl im Österreichischen eine gewisse Nähe zu Kafkas Sprachgebung zeigt. Die von Handke genutzten Verfahren gilt es später literaturtheoretisch weiter zu spezifizieren. Doch sei zunächst noch das Spektrum an Kafka-Umschriften in literaturhistorischer Sicht erweitert. Noch zahlreiche Autoren ließen sich anführen, bei denen sich KafkaUmschriften in ihrem Erzählwerk finden. Zu denken ist z. B. auch an Thomas Bernhards Experiment zum filmischen Schreiben Der Italiener – Ein Film (1971), das wie folgt beginnt: Der Landvermesser, dick, fünfzig, im Hubertusmantel, beobachtet vollkommen unbeweglich, wie Landvermesser immer, wenn sie durchs Objektiv schauen, den Leichenwagen nach Wolfsegg hinauf, den Leichenwagen, der mit immer größerer Geschwindigkeit durch Wald,

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offene Landschaft, Wald, offene Landschaft, wieder Wald, wieder offene Landschaft, fährt [...]. (Bernhard 1971: 5)

Tatsächlich wurde Bernhards Vorlage im Jahre 1971 von Ferry Radax (2010) im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks unter dem Titel Der Italiener in einer 75-minütigen Version verfilmt. Bernhard selbst wiederum hat das Erzählfragment in seinem Roman Auslöschung. Ein Zerfall (1986) weiter verarbeitet. Im österreichischen Kontext gilt es auch Klaus Hoffer zu erwähnen, der sich ähnlich wie Martin Walser sowohl durch seine wissenschaftliche Beschäftigung in seiner Dissertation (Hoffer 1970) wie auch in literarischer Hinsicht dem Werk Kafkas verbunden weiß. So lassen die beiden Teile seines Romans Bei den Bieresch (1979 u. 1983) das Erbe des Protagonisten K. aus Kafkas SchloßRoman, aber auch Karl Roßmanns aus Der Verschollene erkennen. Im Kontext der bundesdeutschen Literatur hat auch Eckhard Henscheid im Jahr 1982 drei Kafka-Geschichten in dem Band Roßmann, Roßmann ... vorgelegt,2 dessen Titelgeschichte sich als Versuch erweist, Kafkas Romanfragment Der Verschollene weiterzuschreiben, wenn sie den mittellosen und inzwischen steckbrieflich gesuchten Karl Roßmann „von seiner kurzen, vom Naturtheater von Oklahoma organisierten Reise quer durch das Landesinnere nach New York“ (Henscheid 1999: 11) zurückkehren lässt. Erzählerisch lehnt sich Henscheid an Kafkas Techniken der Gedankenwiedergabe an, wenngleich nun zum Teil ins laute Selbstgespräch gemischt: Nichts, sprach Karl laut, spricht doch dagegen, daß ich mich in dieser Stadt beim zweiten Anlauf endlich und endgültig durchschlage und bewähre – und diesmal sogar ohne des Onkels zupackende Hilfe! Einmal ist doch keinmal! dachte Karl ohne weitere Besinnung und lachte über diesen vor Freude etwas danebengegangenen Gedanken schon hellauf. (Henscheid 1999: 27)

Henscheids Um- und Weiterschrift erinnert mit Anspielungen an sehr unterschiedliche Kafka-Texte und zeigt gelegentlich auch stilistische Anleihen, die kafkaisierend anmuten. Am Ende von Henscheids Text erscheint Roßmann ein rätselhaftes Kätzchen, das „sogar dem Onkel Senator ein wenig ähnlich sah“ (Henscheid 1999: 92) und an das rätselhafte Zwitterwesen erinnert, das bei Kafka in der von Brod zum Lesetext kompilierten Fassung Eine Kreuzung (Kafka 1946: 110ff.) beschrieben wird. Offen bleibt, ob Henscheids Remake im Unsinn oder im Wahnsinn versinkt: Da fühlte Karl es und wußte es, daß dies mitnichten alles Unsinn sei und als ein Unsinn rasch vergänglich, in nichts und Staub ja schon zerfalle; sondern das Erz der reinen Wahrheit. (Henscheid 1999: 92) 2 Für diesen Hinweis danke ich Frau Prof. Dr. Angelika Storrer.

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Den Bestand an Kafka-Umschriften in der deutschsprachigen Literatur der Zweiten Moderne zu sichten, bleibt dem Format von Handbuch-Artikeln (Engel/Lamping 2006; Jagow/Jahraus 2008; Engel/Auerochs 2010) überlassen; hier sollen lediglich übergreifende Aspekte zusammengetragen werden. Zunächst lässt sich bemerken, dass bei den angeführten Kafka-Umschriften deutlich wird, dass es sich weder um epigonale noch um parodistische Versuche handelt. Vielmehr gehen die Autoren in ernsthafter Weise mit ihrer Vorlage um. Die Verfahren werden in der Forschungsliteratur mit Begriffen wie Transformation oder Mimikry gekennzeichnet, um ein Um-, Weiter- und Neuschreiben zu erfassen. Es soll im letzten Abschnitt der Versuch unternommen werden, diese Verfahren literaturtheoretisch genauer zu bestimmen. Zunächst soll aber der Ausblick noch auf die produktive Kafka-Rezeption in der interkulturellen Gegenwartsliteratur erweitert werden.

4. Kafka-Umschriften der Migration Seit den 1980er-Jahren erhält die Spannbreite von Kafka-Umschriften einen weiteren Impuls. Vor allem Autoren der Migration beziehen sich auf Kafka als Wegbereiter von Interkulturalität. Auch aus theoretischer Sicht wurde diese Bezugnahme interkultureller Literatur auf Kafka gestützt, wenn etwa Deleuze und Guattari (1976) in ihrer Arbeit Für eine kleine Literatur Kafkas Schreibsprache als Deterritorialisierung – als Ent-Ortung des Schreibens – verstanden haben. An zwei Beispielen soll der Rückbezug von interkulturellen Schreibweisen in ihrer Literatursprache Deutsch auf das Vorbild Franz Kafka erläutert werden. Immer wieder inszenierte die auf Deutsch schreibende Autorin Prager Herkunft Libuše Moníková im Geflecht von intertextuellen und intermedialen Verweisen eine literarische Verwandtschaft zu Kafka. Besonders in der fragmentarischen Erzählstruktur des 1983 erschienenen Romans Pavane für eine verstorbene Infantin (Moníková 1988) wird eine intensive Auseinandersetzung mit Kafka deutlich, wenn die Ich-Erzählern ein Zitat aus Kafkas ProceßRoman auf sich bezieht: „Ja, sie hetzen mich“ (Moníková 1988: 10), sich als Lehrbeauftragte eines Kafka-Seminars zu erkennen gibt (Moníková 1988: 18), über Kafkas Texte reflektiert und diskutiert (Moníková 1988: 57ff.), vermeintlich biographische Bezüge herstellt (Moníková 1988: 69) und schließlich eine Begegnung mit dem Autor imaginiert (Moníková 1988: 92ff.). Doch bleibt es

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in Moníkovás Texten nicht bei intertextuellen Einflüssen und Anleihen. Besonders dicht gestaltet sich die Auseinandersetzung mit Kafka, wenn Passagen aus seinem Schloß-Roman umgeschrieben werden (Moníková 1988: 111-115, 121-125). Brigid Haines (2007: 117) bewertet diese Auseinandersetzung Moníkovás mit Kafka: „Pavane can be read as the work in which Moníková – rather in the mode of Harold Bloom – did battle with Kafka’s literary influence and found her own voice.“ Mit dem Hinweis auf Harold Blooms The Anxiety of Influence (1973) thematisiert Haines eine spezifische Form der Intertextualität, die Renate Lachmann (1990: 36) mit dem Begriff der Tropik als Konflikt mit dem Einfluss des Vorbilds beschreibt. Bereits in Moníkovás Kafka-Essays lässt sich der Versuch aufzeigen, die Geschichte der Familie Barnabas aus Kafkas Schloß in kleinen Episoden fortund umzuschreiben. Unter dem Titel Vier Versuche, die Familie Barnabas zu rehabilitieren (Moníková 1990: 84-92) wurden diese Fragmente im ersten Band der Essays veröffentlicht. In einem kurzen Kommentar stellt sich Moníková hier die Frage: „Wie kann eine Familie erlöst werden, die sich selbst aufgegeben hat und dadurch die ganze Arbeit des Dorfes an der Bezeugung der Schloßherrschaft auf sich genommen hat?“ (Moníková 1990: 84) Nur die vierte Episode, das „Fortgehen“ Olgas, sei „eine Lösung, auch von Kafka“. Moníkovás Umschriften aus den Essays finden Eingang in ihren Roman Pavane für eine verstorbene Infantin, den sie mit ihrem Versuch IV. Fortgehen (Moníková 1990: 92) abschließt, indem sie die Figur Olga literarisch aus der verhängnisvollen Familiengeschichte in Kafkas Schloß-Roman befreit: In der Frühe, es ist noch dunkel, steht Olga mit dem am Vorabend gepackten Bündel in der Tür und horcht auf die Schlafgeräusche der Familie. Draußen graut es schon. Die Madeleinegasse liegt in tiefem Schweigen vor ihr, kein Licht fällt hinein. Sie zieht die Tür hinter sich zu, ein paar Schritte vom Haus sieht sie am entfernten Dorfende ein Licht, das wird Gerstäcker sein, der anspannt. Sie biegt zu Lasemanns ein, schreitet an ihnen vorüber und an der Schule, aus dem Schuppen des Gemeindehauses ragt der alte Feuerwehrwagen halb heraus und versperrt den Weg. Sie sieht den Vater darauf, wie er früher war, wenn er sie hochhob und lachte. Sie ist schon weiter, sie läßt sich nicht aufhalten. Die letzten Häuser sind erreicht, in dieser Richtung ist das Dorf kurz. Aus dem Brückenhof hört sie Gardenas erbärmliches Husten – wie lange kennt sie es schon? Auf der Brücke, die auf die Landstraße führt, dreht sie sich um. Die Dorfhäuser liegen deutlich umrissen da, kein Schloß weit und breit. Die Knechte im Pferdestall, die Geschwister und Eltern hat sie hinter sich gelassen. Sie wendet sich ihrem Weg zu, der blühenden und staubigen Apfelbaumlandschaft der Chaussee – she’s leaving home, bye bye. (Moníková 1988: 147ff.)

Mit dem topographischen Setting, den Figurennamen wie auch mit der Erzählweise inszeniert Moníkovás Text zunächst einen imitativen Bezug zu Kaf-

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kas Romanfragment. Allerdings stattet Moníková die Nebenfigur Olga mit einer eigenen Perspektive („wie lange kennt sie es schon?“) und einem neuen Entscheidungsspielraum aus. Auch ein Verfahren ihrer Kafka-Umschriften kann Moníková (1988: 10) benennen, das sie von dem britischen Dramatiker tschechischer Herkunft Tom Stoppard alias Tomáš Straussler entlehnt hat als „rectification of literary fates“ (Moníková 1988: 10) bzw. „Berichtigungen literarischer Schicksale“ (Moníková 1988: 110). Stoppard, der besonders mit seiner Shakespeare-Transposition Rosencrantz and Guildenstern are Dead (1966) bekannt wurde, bildet mit Borges den Hintergrund für Moníkovás Umschriften (Weninger/White 2005: 204). Mit dem Beatles-Zitat aus dem gleichnamigen Song She’s Leaving Home, der bekanntlich auf einer Vermisstennachricht basiert, eröffnet der Text aber ebenso eine intertextuelle Relation zu seinem zeitgenössischen Kontext. Dass Kafka auch in aktuellen literarischen Projekten der interkulturellen Literatur als Bezugsgröße gilt, kann am Beispiel von Arbeiten Yoko Tawadas und ihrem Theaterstück Kafka Kaikoku angedeutet werden, dessen Prozesshaftigkeit die Autorin in einem Interview charakterisiert: Ich habe ‚Kafka Kaikoku‘ auf Deutsch geschrieben, denn es geht in diesem Projekt um einen kulturellen Austausch, in dem wir nicht etwa ein fertiges Produkt exportieren, sondern im Prozess des Schaffens vom Ort lernen, an dem wir leben, proben und spielen (das Lasenkan Theater spielt Theater und ich spiele mit den Wörtern). Der ‚Ort‘ ist in diesem Fall ‚die deutsche Sprache‘. Es gibt aber auch einige japanische Stellen im Stück, die man onomatopoetisch verstehen kann. (Tawada 2010)

In Kafka kaikoku, das die Autorin als „Adaption von Kafkas Verwandlung“ präsentiert, gehe es gleichzeitig um die „Öffnung des Landes (Kaikoku) Japan“ (Tawada 2010). Auch das Verfahren Tawadas lässt sich näher bestimmen. Es handelt sich um eine Hybridisierung (Bachtin 1979: 244) im weiten Sinne, die nicht nur verschiedene Sprachen und ihre kulturellen Kodierungen, sondern auch Literaturkontexte und ihre Gattungen miteinander überkreuzt. In den angeführten Bereichen der deutschsprachigen Literatur ließen sich weitere Formen und Varianten von Kafka-Umschriften und -Reminiszenzen aufzeigen mit Vertretern wie Ror Wolf, Peter Härtling, Karin Struck, Peter O. Chotjewitz, Jurek Becker, Günter Kunert u. a. (Fingerhut 1983) oder gar Chris Bezzel (1972), der in seinen Variationen die produktive Kafka-Rezeption fortführt und selbst bereits parodiert (Fingerhut 1980: 392ff.). Doch wäre damit nur wenig gewonnen, wenn nicht versucht würde, die spezifische Art dieser literarisch produktiven Rezeptionsweise auch literaturtheoretisch näher zu bestimmen. Im Folgenden sollen daher Konzepte von

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Inter- bzw. Hypertextualität herangezogen werden, um das Phänomen aus einem theoretischen Blickwinkel zu erfassen.

5. Zur Theorie des Um- und Weiterschreibens Während immer wieder versucht wurde, die literarische Produktivität des Um- und Weiterschreibens von Kafka-Texten an Kreativitätsparadigmen anzuschließen, hat sich der vordergründige Anspruch der Produktionsästhetik inzwischen entlarvt. Um sich der literarischen Praxis von Kafka-Umschriften auch theoretisch anzunähern, ist vielmehr ein Blick auf Konzepte von Interbzw. Hypertextualität erforderlich. Verfolgt man die Auseinandersetzung mit der literarischen Rezeptionsweise des Um- bzw. Weiterschreibens, so findet sich ein deutlicher Schwerpunkt in der poststrukturalistischen Literaturtheorie. Zum einen wird dabei an die Schreibpraxis der alten Rhetorik angeknüpft, wenn Roland Barthes (1988: 30) z. B. darlegt, dass Quintilian bereits eine „Propädeutik des Schriftstellers“ entworfen habe: „Man muß viel lesen und schreiben, Vorbilder nachahmen (Pastiches verfassen), ungeheuer viel korrigieren, nachdem man eine Weile ‚ruhen‘ ließ, und abschließen können.“ Andererseits war es aber vor allem Julia Kristeva, die mit ihrem Begriff von literarischer Produktivität die Relation von Schreiben und Lesen entgrenzt hat. Intertextuell nuanciert und auf die Entwicklung moderner Literatur bezogen wurde diese Textprozessualität von Kristeva (1978: 35ff.) besonders im Verständnis des Textes als semiotische Praxis. Der Text gewinnt eine ambivalente Produktivität in seiner Relation zur Sprache und zu anderen Texten: Folglich ist der Text eine Produktivität (productivité). Das bedeutet: 1. Sein Verhältnis zur Sprache, in der er eine bestimmte Stellung einnimmt, hat redistributiven (konstruktivendekonstruktiven) Charakter; folglich sollte er eher mit logischen als mit rein linguistischen Kategorien erfaßt werden; 2. Er ist eine Textverarbeitung (permutation du textes), eine Intertextualität: Im Bereich eines Textes überschneiden und neutralisieren einander mehrere Aussagen, die anderen Texten entstammen. (Kristeva 1977: 194)

Im Anschluss an die Arbeiten von Michail Bachtin (1979) versteht Kristeva (1972a) den Text als Raum einer intertextuellen Ambiguisierung von Zeichen. Der Text und seine Sprache erweisen sich als ein Doppeltes, das nicht als Gegensatz verstanden werden soll, wofür sie das Konzept einer textuellen ‚Dyade‘ entwirft (Kristeva 1972b: 196). Ähnlich wie bei Barthes tritt auch

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bei Kristeva die Problematik des Schreibens in Relation zu einem produktiv gewordenen Lesen: „‚Lesen‘ weist also auf eine aggressive Teilnahme, auf eine aktive Aneignung des anderen hin. ‚Schreiben‘ wäre demnach ein zur Produktion, zur Tätigkeit gewordenes ‚Lesen‘: Schreiben – Lesen (écriture – lecture)“ (Kristeva 1972b: 171). In der dyadischen Relation von Schreiben und Lesen kann Kristeva eine Produktivität erkennen, die den Status des literarischen Textes grundsätzlich transformiert zum Paragramm eines Ein-, Um- und Überschreibens, dessen dispersive Räumlichkeit sich nicht mehr auf Sinneinheiten festlegen lässt. Aufgegriffen wurde Kristevas Theorie der Intertextualität vor allem von Renate Lachmann (1990: 36) im Kontext ihrer Gedächtnistheorie: „Die Intertextualität der Texte zeigt das Immer-WiederSich-Neu- und Umschreiben einer Kultur, einer Kultur als Buchkultur und als Zeichenkultur, die sich über ihre Zeichen immer wieder neu definiert.“ Lachmann gelingt es auch, Relationen näher zu bestimmen, die die Praxis des Umschreibens mit ihrer Vorlage eingeht, wenn sie zwischen den Modellen der Partizipation, Tropik und Transformation unterscheidet: Partizipation schließt im Wiederholen und Erinnern der vergangenen Texte ein Konzept ihrer Nachahmung ein. Tropik verstehe ich im Sinne des Tropus-Begriffs Harold Blooms als Wegwenden des Vorläufertextes, als Kampf, tragischen Kampf gegen die sich in den eigenen Text notwendig einschreibenden fremden Texte, als Versuch der Überbietung, Abwehr und Löschung der Spuren des Vorläufertextes; Transformation dagegen als eine über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt, durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt, eine Tendenz zu Esoterik, Kryptik, Ludismus und Synkretismus zeigt. (Lachmann 1990: 39)

Zu Recht betont Lachmann (1990: 39) allerdings, dass die „drei Modelle nicht klar voneinander abzugrenzen“ sind, sondern sich ihre Verfahren in den Texten vielmehr überlagern, wenn sie bemerkt: „Alle Texte partizipieren, wiederholen, sind Gedächtnisakte, alle sind Produkte der Abweisung und der Überbietung des Vorläufertextes.“ Lachmanns Kategorien können genutzt werden, um sich dem Phänomen der Intertextualität in ihrer Schreibproblematik anzunähern. Jedoch eignet den bisher angeführten Intertextualitätstheorien ein sehr weit gefasster Anspruch, der kulturelle (Gedächtnis-)Räume entwirft, in denen sich die Texte überkreuzen. Noch zu wenig ist damit gewonnen, um die Spezifik von Kafka-Umschriften in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen näher zu bestimmen. Ein weniger universales, dafür aber am textanalytischen Umgang orientiertes Konzept hat Gérard Genette (1993) unter dem Titel Palimpseste vorgelegt, wenn er versucht, ein Feld von Textrelationen, er nennt sie „Transtextualität“

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(Genette 1993: 11) in Abgrenzung zu dem von ihm enger gefassten Begriff der Intertextualität (Genette 1993: 10f.), zu bestimmen. Dabei berücksichtigt Genette (1993) neben intertextuellen Bezugnahmen durch Zitat, Plagiat oder Anspielung (Genette 1993: 10) vor allem Aspekte einer Schreibweise als „Hypertextualität“, „wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist“ (Genette 1993: 14f.). Über die Unterscheidung von spielerischen bzw. satirischen Genres wie Parodie und Travestie und andererseits Pastiches und Persiflage hinaus beschäftigt sich Genette (1993: 44) aber ebenso mit ‚ernsten‘ Funktionen von Hypertextualität, wofür er die Genrebegriffe ‚Transposition‘ und ‚Nachbildung‘ vorschlägt. In struktureller Hinsicht grenzt Genette (1993: 44, 108) die hypertextuellen Genres nach den Relationen ‚Transformation‘ und ‚Imitation‘ voneinander ab, wodurch ein übergreifender mimetischer Aspekt dieser Schreibweisen in den Hintergrund gerät. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass Genette (1993: 109) das Verfahren der Imitation vorwiegend auf einen Stil bzw. eine Gattung beschränkt, während die Transformation sich auf einen konkreten Text bezieht. Dagegen ist einzuwenden, dass sich nachahmende Schreibweisen in sehr unterschiedlichen Relationen realisieren können, wodurch Mischlagen entstehen, die im Rahmen von Gattungspoetiken oder mit Kategorien der Rhetorik bzw. ihrem Stilbegriff kaum noch zu fassen sind. Selbst wenn Genette (1993: 108) den Begriff Stil „im weitesten Sinn“ versteht und „sowohl thematische als auch formale Manier“ darin einbezieht, wird doch eine Verengung des Konzepts deutlich, die er mit dem Begriff des Mimetismus (Genette 1993: 107) auszugleichen sucht. Nach einer längeren Begriffsdiskussion gesteht er ein: Wir werden uns mit Mimetismus zufriedengeben müssen. Als solchen werde ich jedes punktuelle Merkmal einer Nachahmung bezeichnen, ganz gleich, ob es sich dabei um die unterschiedlichen Register des Pastiches, der Persiflage oder der Nachbildung handelt, und (wenn ich schon dabei bin) als Mimotext jeden nachahmenden Text oder jede auf Mimetismen aufbauende Gestaltungsform. (Genette 1993: 107)

Es kann ein Bestand an Motiven und Themen sein ebenso wie die Erzählweisen fremder Texte, die sich in einer mimotextuellen Relation realisieren. Inzwischen wurde Genettes Begriff des Mimotextes entgegengehalten, es sei kategorial zwischen textueller ‚imitatio‘ und referentieller ‚mimesis‘ zu trennen (Stocker 1998: 64, Anm. 59), wodurch das mimetische Konzept aber wieder eingeengt würde. Auch wurde „die Kardinalgrenze zwischen Text- und Systembezug innerhalb einer Intertextualitätsform“ problematisiert, wenn Stocker (1998: 64f.; Herv. i. Orig.) vorschlägt, zwischen Hypertextualität und Similtextualität zu unterscheiden.

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Im Folgenden soll versucht werden, zunächst an den Kategorien Genettes festzuhalten, um sie in einem weiteren Schritt mit den Vorschlägen von Lachmann zu korrelieren. Bei der Anwendung von Genettes Typologie auf die konkreten Fälle der produktiven Kafka-Rezeption wird sich zeigen, dass sich Grenzverläufe ergeben, die es im Einzelnen zu diskutieren gilt. Es sollen nun in einem systematischen Durchgang an den angeführten Textbeispielen die dominierenden Verfahren mit den von Genette vorgeschlagenen Kategorien der Hypertextualität aufgezeigt werden, um die Tendenzen dieser produktiven Kafka-Rezeption zu skizzieren. Bei den meisten der Textbeispiele können die im Titel markierten Bezüge auf ihre Vorlagen mit Genette (1993: 20) zunächst als Hypertextualitätsvertrag verstanden werden, wie es bei Brand, Moníková, Henscheid, Handke, Weiss, aber auch bei Tawada der Fall ist. In der Terminologie Genettes (1993: 241) könnte Brands Verfahren in seiner Rückverwandlung des Gregor Samsa als proleptische Verlängerung bzw. Weiterführung3 (‚continuation proleptique‘, Genette 1982: 197) verstanden werden, die die Erzählung Kafkas über ihr gesetztes Ende hinaustreibt, freilich mit der Absicht, einen weiteren Anfang zu erreichen. Brands Umschrift wäre damit dem nachahmenden Genre der Nachbildung (‚forgerie‘, Genette 1982: 37) zuzuordnen. Allerdings nimmt Brand auch eine semantische Transformation seiner Vorlage vor, indem er sie in den Kontext des messianischen Expressionismus einschreibt. Ebenfalls imitierend erscheint in dieser Hinsicht zunächst die Kafka-Umschrift von Libuše Moníková, die einzelne Szenen zu ihrer Vorlage paraleptisch (Genette 1993: 241) fortführt, ohne den Gesamttext zu transformieren. Moníková bemächtigt sich zwar weniger eines Stils im engeren Sinn, dennoch orientiert sie sich an der Erzählweise von Kafkas Schloß-Roman. Kaum merklich verschiebt sich in Moníkovás Text die Wahrnehmungsperspektive auf die Figur Olga, wodurch sich eine Transfokalisation ergibt, die Genette (1993: 394ff.) dem transformierenden Genre der Transposition zurechnet. Auch das Verfahren der Berichtigung von Stoppard, an dem sich Moníková orientiert, wird von Genette (1993: 402) am Beispiel von Rosencrantz and Guildenstern are Dead als Sonderfall der Transposition behandelt, wenn er die Mischung von Becketts Stil und Shakespeares Hamlet als „Nachbesserung von Hamlet“ versteht. Bei Moníková realisiert sich die Umschrift des Schicksals von Olga zwar als Weiterführung, ebenso aber ‚berichtigt‘ sie dabei auch die Vorlage und 3 Leider schwankt die deutsche Übersetzung (Genette 1993: 241) zwischen den Begriffen ‚Verlängerung‘ und ‚Weiterführung‘ bei der Wiedergabe des Begriffes ‚continuation‘.

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spielt mit dem Beatles-Zitat sogar auf einen aktuellen Zeitkontext an. Eine Verlängerung des Textes bietet auch Henscheids Kafka-Geschichte Roßmann, Roßmann ..., wobei hier stellenweise die Grenze zum Parodistischen überschritten wird. Besonders komplex verhält es sich mit Walsers Kafka-Adaption. Dass der in der Forschung häufig angeführte Begriff der Transformation in dieser Hinsicht zu kurz greift, ist nun offensichtlich. Dagegen handelt es sich bei Walser um ein Bündel von inter- bzw. hyper- und auch mimotextuellen Relationen, die sich von der Anspielung, dem verdeckten Zitat, dem Pastiche einer Schreibweise bis hin zur Imitation der Erzählweise Kafkas und ihrer Transposition in zeitgenössische Alltagskontexte erstrecken. In späteren Werken Walsers ist der Einfluss Kafkas kaum noch mit Kategorien der Hypertextualität zu fassen, da die Anlehnung an erkennbare Hypotexte zurücktritt und nur noch eine Darstellungsmatrix überdauert. Von den Verfahren, die Genette unter dem Genre der literarisch besonders produktiven Transposition fasst, lassen sich quantitative Aspekte vor allem in der Kafka-Umschrift von Peter Handke erkennen, wobei das Verfahren der Kondensation bzw. der Verdichtung dominiert. Anders als die Verknappung (concision, Genette 1982: 280) bezieht sich die Verdichtung (condensation, Genette 1982: 280) nicht nur auf einzelne Sätze, sondern erfasst den gesamten Text, was sich im Text von Handke wechselseitig überlagert, wenn sowohl Sätze aus Kafkas Proceß-Roman umgebaut werden, wie auch der Handlungsverlauf im Gestus einer Inhaltsangabe (Genette 1993: 332) reproduziert wird. Dass sich dabei thematische Umgewichtungen ergeben, konnte bereits gezeigt werden. Die Dramatisierungen von Peter Weiss sind ebenfalls der Transposition (Genette 1993: 288) zuzurechnen, zunächst in formaler aber auch in thematischer Hinsicht. Wenngleich Weiss im Prozeß-Drama vorgibt, sich eng an die Vorlage zu halten, nimmt seine Kafka-Umschrift stellenweise sogar allegorische Züge an (vgl. Fingerhut 1980: 392). Im Drama Der neue Prozeß schließlich transponiert Weiss die Handlung in die Gegenwart. Vor allem in den Verfahren der Nachahmung überlappt sich Genettes Differenzierung mit dem Modell der Partizipation von „Weiter- und Wiederschreiben“, wie es von Renate Lachmann (1990: 38) definiert wird. Allerdings lassen sich auch Abwendungen von der Einflussnahme Kafkas erkennen, wie sie Lachmann (1990: 39) als „Widerschreiben“ und in Anlehnung an Bloom als Tropik begreift. Yoko Tawadas Hybridisierung vollzieht radikale Mischungsverhältnisse eines Umschreibens und entfacht bereits ein komplexes Spiel der synkretistischen Überbietung. Mit Lachmann (1990: 39) gilt es allerdings daran zu erinnern, dass sich die Verfahren gegenseitig überlagern können.

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Es sind zunächst vor allem partizipierende Relationen, die sich in der literarisch produktiven Kafka-Rezeption eröffnen, wie sie den Neu- und Wiederbeginn der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur kennzeichnet. Ebenso deutet sich in den Kafka-Umschriften der Zweiten Moderne aber auch eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem Vorbild an, die verdeckte Spiele generiert und Kafkas Einfluss bis zur Unbemerktheit verflüchtigt.

6. Schlussbemerkung Weitere Beispiele von Kafka-Umschriften ließen sich anführen, aber um Vollständigkeit soll es hier nicht gehen. Im Fall von Franz Kafka wird vielmehr ein Phänomen deutlich, das die Rezeption seiner Texte nahe an das heranrücken lässt, was Michel Foucault im Unterschied zur Autor-Funktion als Diskursbegründung bestimmte (Foucault 1993: 27). Kafkas Texte generieren mehr als nur Themen und Motive, sondern eröffnen vielmehr einen heterogenen literarischen Diskurs, der sich performativ in seinen Um- und Weiterschriften manifestiert. Wie bei keinem anderen Autor der Moderne, so lassen sich die Beobachtungen zusammenfassen, wurde das Um- und Weiterschreiben derart umfassend zu einem Modus seiner literarischen Rezeption, die sich als diskursives Phänomen einer Inter- bzw. Hypertextualität verstehen lässt.

Literatur KKAD – Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Frankfurt/M.: Fischer 1995. KKAN I – Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt/M.: Fischer 1993. KKAN II – Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt/M.: Fischer 1992. KKAS – Franz Kafka, Das Schloß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt/M.: Fischer 1982. KKAP – Franz Kafka, Der Proceß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt/M.: Fischer 1990.

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Ludger Udolph

Ein Ufo: Die literaturwissenschaftliche Rezeption Franz Kafkas in der Sowjetunion

I. Joyce, Proust und Kafka galten in der Sowjetunion als die dekadente Troika par excellence. Allerdings wusste man über Kafka jahrzehntelang hier nur sehr wenig.1 1922 erschien in Sovremennyj Zapad [Der heutige Westen] Aleksej Gvozdevs Aufsatz Ėkspressionizm v nemeckoj drame [Der Expressionismus im deutschen Drama], wo neben dem Dramatiker Max Brod auch ein zweiter, nämlich Franz Kafka genannt wurde, den Gvozdev, gestützt auf eine falsche deutsche Quelle, mit Friedrich Koffka verwechselt hatte (Sineok 2002). 1931 gab es einen Eintrag zu Kafka in der Literaturnaja ėnciklopedija [Literaturenzyklopädie] (11 Bde., Moskau 1929-1939, hier Bd. 5). 1938 erschien noch eine Rezension von Max Brods Kafkabuch von 1937 (Fuks 1938). Äußerst spärlich auch die Erwähnungen Kafkas in der russischen Exilliteratur (Vejdle 1935; 1 Die Bekanntheit Kafkas bei russischen Schriftstellern ist nicht Gegenstand dieser Studie. Jedenfalls kursierten Texte von ihm in den 1930er-Jahren in deutscher Sprache (In der Strafkolonie, Der Prozeß, Das Schloß), so bei den Obėriuten, bei den ‚zaumniki‘ (Aleksandr Vasil‘evič Tufanov), bei Evgenij Švarc und Daniil Charms (Mallac 1972: 212); Nikolaj Olejnikovs Gedicht Tarakan (Die Schabe; 1934) könnte von Kafkas Verwandlung inspiriert sein (Filippov-Čechov 2012.: 390-393); Anna Achmatova schrieb 1961 ihr Gedicht Podražanie Kafke [Nachahmung Kafkas] (Filippov-Čechov 2012: 394f), aus den 1960er- und 1970erJahren gibt es einige Gedichte Gennadij Ajgis über Kafka (Filippov-Čechov 2012: 397402). Marina Cvetaeva las den Proceß in französischer Übersetzung 1937 und empfahl ihn ihrem Freund Vadim L. Andreev; es war zu der Zeit, als ihr Mann Jakov Ėfron, ein ehemaliger ‚Weißer‘, der jetzt für den NKWD arbeitete, von der französischen Polizei verdächtigt wurde, an der Ermordung des ehemaligen sowjetischen Spions Ignatz Reiss beteiligt gewesen zu sein (Filippov-Čechov 2012: 482). Kopelev nennt die Namen von Boris Vachtin, Vasilij Aksenov, Evgenij Popov, Fridrich Gorenštejn (Kopelev 1985: 179; o. J.). Abram Terc evoziert zu Beginn seiner Erzählung Sud idet [Der Prozess beginnt] (1967) den Anfang des Prozeß. – Eine Untersuchung der Kafkazitate, -paraphrasen und -anspielungen in der russischen Literatur fehlt; das bibliographische Material jetzt in Filippov-Čechov (2012); für den Hinweis auf dieses Buch, das sie mir auch zur Verfügung gestellt hat, möchte an dieser Stelle Frau Gudrun Lehmann (Düsseldorf) herzlich danken!

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Rittenberg 1937; Janovskij 1939). Für Ja. Frid war Kafka 1947 der typische Autor dekadenter Ästhetik (Frid 1947: 148f.). In den 1950er-Jahren konnte man in ausländischen Zeitschriften lediglich Rezensionen über Theateraufführungen von Kafkas drei Romanen lesen, was wieder zu falschen Vorstellungen über ihn führte (Satonsky 1993: 110). Im sogenannten Tauwetter kam es dann zu einer sehr vorsichtigen Öffnung zur moderneren Literatur des ‚Westens‘; anders als Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Ernest Hemingway, Erich Maria Remarque oder Heinrich Böll war aber Kafka für die Funktionäre offenbar schwerer zu ‚rehabilitieren‘ resp. überhaupt erst einmal zu rezipieren. Mit den üblichen Rehabilitierungstopoi – fortschrittlich, lebensbejahend, volkstümlich, optimistisch, Entlarvung der unmenschlichen bürgerlichen Gesellschaft – war er nicht zu fassen (Kopelev 1985: 174; Kopelev o. J.). Auch entzog er sich der so wichtigen politischen Einordnung; wenn man eine solche überhaupt vermutete, dann war es eine unterstellte Nähe zum Zionismus. So wurde noch im Jahre 1983 eine Dramatisierung des Briefes an den Vater an der Kleinen Bühne des Moskauer Künstlerischen Theaters mit der Begründung verboten: „Man muß keine zionistischen Ansichten und antisemitischen Stimmungen provozieren“ (Kopelev 1985: 181; Kopelev o. J.; Kaceva 1993: 198). Auch hatte man Probleme mit Kafkas Freundin Milena Jesenská, galt sie doch als Trotzkistin (Kopelev 1985: 181). 1956 lehnte Boris Sučkov vom Goslit Lev Kopelevs Vorschlag ab, Kafka herauszugeben: Alles, was Kafka geschrieben hat, ist durch und durch dekadent, morbid, misanthropisch; das sind hoffnungslos pessimistische Beschreibungen einer verzerrten Wirklichkeit usw. (Kopelev 1985: 174; Kopelev o. J.).

Solche ‚Urteile‘ blieben der Grundton der sowjetischen Kafkaforschung bis zum Schluss. Schon in der genannten Literaturnaja ėncyklopedija [Literaturenzyklopädie] konnte man lesen: Die pessimistische Verneinung der Wirklichkeit erscheint bei K. hauptsächlich darin, daß die begabtere Persönlichkeit untergeht und daß die dümmliche und beschränkte kleinbürgerliche Umgebung triumphiert. Man kann K. für den Ausdruck der Psychoideologie einer niedergehenden Klasse, genauer gesagt, jener Schicht von ihr, die sich in Opposition zur eigenen Klasse befindet, halten. Er ist der Repräsentant der kleinbürgerlichen Intelligenz der Epoche des imperialistischen Krieges. (Rjurikov 1931)2

Viel besser las es sich dreißig Jahre später, 1962, in der Filosofskaja ėnciklopedija [Philosophische Enzyklopädie] auch nicht, wo Kafka (wie damals ja auch im Westen) als Vorläufer des Existenzialismus interpretiert wird; der Mensch sei in die Welt ‚geworfen‘, 2  Diese und ff. Übersetzungen aus dem Russ. vom Vf.

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in der er einsam und hilflos ist und vor der er beständig eine unbestimmte Angst empfindet. Wenn in K.s frühen Erzählungen die Vorahnung der nahen Katastrophe ihre Widerspiegelung fand, die im Jahre 1914 ausbrach, so tritt in den Werken des reifen K. das Thema der Verlorenheit der menschl. Persönlichkeit im automatisiert-bürokratischen Mechanismus der gegenwärtigen kapitalist. Wirklichkeit in den Vordergrund. […] K.s Werk bringt die Hilflosigkeit der Persönlichkeit in der ‚entfremdeten‘ Welt der kapitalist. Beziehungen zum Ausdruck. (Gajdenko 1962)

Kafka war den meisten sowjetischen Autoren noch zu Anfang der 1960erJahre unbekannt; wenn sie auf einer ‚komandirovka‘ im Westen nach ihm gefragt wurden, mussten sie betreten schweigen. Im Herbst 1962 durften Heinrich Böll, Rudolf Hagelstange und der Tierschriftsteller Richard Gerlach in die UdSSR reisen. Sie wurden hier nach ihren Lieblingsautoren gefragt; Böll nannte Kafka, was er dann erklären musste (Kopelev 1985: 176). Damals hat Arsenij Gulyga in einer satirischen ‚stengazeta‘ [Wandzeitung] die Unkenntnis Kafkas auch bei den ‚akademiki‘ verspottet (Gulyga 2000: 414). Roman Karst weiß zu berichten, dass nach 1956, als Kafkas Werke in polnischer Sprache erschienen, mancher Russe Polnisch lernte, um Kafka lesen zu können, und dass russische Schriftsteller polnische Buchhandlungen nach Kafkas Werken durchwühlten (Karst 1978: 182). Valerij Belonožko, Jahrgang 1939, hat von dem Abenteuer berichtet, den berühmten ‚schwarzen Band‘, der allerdings eine ungewöhnlich geringe Auflage hatte, in die Hände zu bekommen. Er lebte im nördlichen Ural und kannte Kafkas Texte aus den Publikationen in Inostrannaja literatura [Die Literatur des Auslands] und Voprosy literatury [Fragen der Literatur]. In Moskau und Leningrad war der Band, da ständig ausgeliehen, in den Staatsbibliotheken 1976 nicht zu bekommen; auf dem Trödelmarkt war er unbekannt. Schließlich fand sich ein Exemplar in der Bibliothek des Literaturinstituts, wo man sich für diesen Band offenbar kaum interessierte, es gab nur elf Eintragungen im Ausleihformular. Belonožko schrieb sich das Kapitel Im Dom ab. Im Dezember 1979 fand er im Moskauer Dom knigi [Haus des Buches] die schwarze siebenbändige Fischer-Taschenbuch-Ausgabe im Schuber, die er für einen Monatslohn kaufte, um nun anzufangen, Deutsch zu lernen. In der SU war die Kafka-Lektüre eben eine Lektüre von wenigen; Kafka war ein „unbekanntes Flugobjekt [...] in der Umlaufbahn der sowjetischen Ideologie“ (Belonožko 2000). Was konnte der Sowjetbürger in russischer Sprache von diesem Ufo nun zu lesen bekommen?

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II. Im Juli 1962 fand in Moskau ein Internationaler Kongreß für Abrüstung und Frieden statt, auf dem Jean-Paul Sartre zur kulturellen Aufrüstung riet und den Russen Kafka anzudienen versuchte. Im Westen werde dieser nämlich verfälscht; seine Bücher würden in der Hoffnung ‚geschminkt‘, dass sie in den Händen sowjetischer Leser explodieren würden. Man behauptet, die Bürokratie sei „die notwendige Sünde des Sozialismus“ und Kafka habe die Bürokraten entlarvt. Und nach dieser Erklärung reicht es schon aus, ihn den Russen in der Hoffnung zu schicken, daß dort jeder Leser in seinem Land die Welt des Prozesses erkennt. (Sartre 1962: 57)

Die sowjetischen Hörer werden bei solchen Worten eher erstarrt sein. Sartre weiter: Die ‚sowjetischen Freunde‘ sollten, statt Kafka zu verschweigen, „marxistische kritische Studien“ über ihn verfassen, dann würden sie siegen, „denn eure Methoden zur Erklärung eines Autors und Werkes führen weiter als die Methoden der westlichen Kritiker“ (Sartre 1962: 58). So weit der Weltweise aus Paris, der des Russischen nicht mächtig und mit den östlicher gelegenen Weltprovinzen auch nur unzureichend vertraut war. Hier dachte man nämlich anders. Zunächst wurde 1962 die Publikation des Berichtes für eine Akademie in der Inostrannaja literatura verboten. Die Gestalt eines Affen, der Professor geworden ist, war den weitgehend humorlosen sowjetischen akademiki offenbar unangenehm, vielleicht fühlten sie sich beleidigt und denunziert. Das Bild des Affen war in den Augen der Zensur ein Gefäß von aufrührerischem Inhalt; hinter ihm vermutete man eine bestimmte Poetik der Freigeisterei. (Sineok 2002)

1964 erschienen erstmals acht Texte Kafkas, darunter In der Strafkolonie, Die Verwandlung, Vor dem Gesetz in der Inostrannaja literatura. Im Jahr darauf kam der sagenumwobene, 600 Seiten dicke „černyj tomik“ [schwarze Band] Roman. Novelly. Pričti [Roman. Novellen. Parabeln] mit dem Proceß heraus.3 1968 erschienen Auszüge aus den Tagebüchern in den Voprosy literatury [Fragen der Literatur] und der Brief an den Vater in der Zvezda [Der Stern]. Nach dem August 1968 wurden Kafka-Publikationen erst einmal wieder unmöglich. Erschreckt durch die Ereignisse in Prag, hatte man sich in Moskau wohl der Meinung angeschlossen, Kafka sei schuld am Prager Frühling. Die Polemik des serbischen Schriftstellers Erih Koš Zum Teufel mit Kafka, die 1975 in rus3 Der Band kostete 1,49 Rubel, auf dem Schwarzmarkt musste man dafür aber 35 Rubel, d. h. mehr als 40 Dollar bezahlen (Friedberg 1977: 274).

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sischer Übersetzung erschien, sollte vielleicht eine Art letztes Wort zu Kafka sein (Koš 1975). Vergeblich; seit 1981 hob mit dem Urteil die Reihe weiterer Übertragungen, wenn auch stockend, wieder an.

III. Woher kam diese sowjetische Enthaltsamkeit gegenüber Kafka? Da sind sicher einmal die Vorurteile der sowjetischen, mit sozialer Belletristik à la Gor’kij erzogenen Leser zu nennen: Kafka ist dagegen misan­ thropisch, menschenverachtend, krankhaft absurd, dekadent pessimistisch; seine Wirklichkeit ist ‚entstellt‘. Man muss auch durchaus nicht immer direkten politischen Druck oder politische Verbote vermuten. Kopelev hat auf die kleinkariert-spießige Einstellung der wissenschaftlichen Funktionäre hingewiesen, nach deren Geschmack Kafka – und die Moderne überhaupt – eben nicht war. So erzählt er von einer „resoluten Parteitante mit Dauerwellen“ (die Vorsitzende der Kulturabteilung des Parteikomitees der Stadt Moskau, deren Namen er leider nicht nennt), die völlig unfähig war, sich eine noch so geringe Meinungsvielfalt überhaupt vorzustellen. Diese Dame war eine grotesk-überspitzte, aber doch typische Erscheinung. Was können schon solche Kulturfunktionäre mit einem vieldeutigen Kafka anfangen? (Kopelev 1985: 180; Kopelev o. J.)

Sie lasen lieber sozialistisch-patriotischen Kitsch. „Wer hat Angst vor Franz Kafka?“, fragte Evgenija Kaceva im Jahre 1993. Kafka mußte für die SU ja gefährlich sein: Millionen Menschen werden verhaftet, obwohl sie wie Josef K. nichts Böses getan haben; eine bürokratische Maschine macht den Menschen hilf- und schutzlos vor der Macht der Schwungräder dieser Maschine. Und doch: Solche Assoziationen seien, so Kaceva, für die ‚Instanzen‘ unwahrscheinlich, da sie Kafka ja gar nicht lasen. Eher sieht sie den Grund für die Ablehnung durch Eduard Goldstücker formuliert: Kafkas große Popularität im Westen habe seine Verbreitung im Osten verhindert (Goldstücker 1993: 25). „Aber auch das ist wahrscheinlich nicht alles“. Kafka habe entdeckt, was sich auf ‚Kakanien‘, auf Hitlerdeutschland und – so Kaceva – eben auch auf die Länder des ‚Sozlagers‘ bezog (Kaceva 1993: 199).

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IV. Die sowjetischen Wissenschaftler haben sich (auch) mit Kafka schwergetan. In der SU waren es vielleicht zwei Dutzend Wissenschaftler, die sich mit ihm befassten; hinzunehmen muss man allerdings auch die Gutachter und Zensoren, die letztendlich über die Herausgabe eines Werkes entschieden – und im Falle Kafka eher verhinderten.4 Zu seinen frühen Lesern gehörte Lev Kopelev, der 1955 Die Verwandlung und In der Strafkolonie las. Die Lektüre sei schwer, minutenweise [!] bedrückend gewesen, aber Kopelev wollte nun mehr über den Autor wissen (Kopelev 1985: 173; Kopelev o. J.). Er schrieb den wohl ersten Aufsatz über Kafka in russischer Sprache, der 1960 erscheinen konnte (Kopelev 1960). Ein Jahr zuvor hatte Dmitrij Zatonskij, Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Kiev, eine erste Arbeit über Kafka in der Inostrannaja literatura publizieren dürfen: Smert’ i roždenie Franca Kafki [Franz Kafkas Tod und Geburt]. Von Zatonskij stammen die meisten russischen Publikationen zum Thema, auch in seinen Lehrveranstaltungen hat er Kafka immer wieder behandelt. Verpackt in den üblichen sozialistischen Jargon mit seinen Versatzstücken, Topoi und Floskeln, erfuhr der sowjetische Leser nun durch ihn von der „Kafkawelle“ im Westen; erfuhr, warum in der kapitalistischen bürgerlichen Welt, die sich in ein „absurdes […] Chaos“ verwandelt habe, durch das ein nur von Instinkten und Intuition gelenkter, in den Anzug eines modernen Menschen gekleideter „Wilder“ irre, das Werk gerade Kafkas auf eine solche Resonanz stoße (Zatonskij 1959: 203). Kafka lebte im halbfeudalen, klerikal-bürokratischen Österreich-Ungarn, jenem pompösen und kraftlosen Imperium der Habsburger, das historisch bereits lange vor seinem faktischen Zerfall im Jahre 1918 tot war. (Zatonskij 1959 : 205)

Seine Mutter war „eine träumerische und hysterisch unberechenbare Person“; in der Familie gab es ständig Streit, weshalb der „neurasthenische Junge“ sich ganz auf sich selbst zurückzog (Zatonksij 1959: 204). Er habe aber großes Interesse für das tschechische Volk gezeigt, die Versammlungen der linken Anarchisten besucht und sogar Jaroslav Hašek gekannt. In seinem Dienst habe er täglich die „ärmliche Lage des Proletariats von Böhmen“ beobachten können (Zatonskij 1959: 205). Er stellt kurz die Romane vor, zitiert aus den Tagebüchern, versucht sich interpretatorisch: Der Kübelreiter erzähle „von der 4 Evgenija Kaceva hat rückblickend ihren jahrelangen Kampf für die Edition ihrer Übersetzung von Kafkas Tagebüchern beschrieben; ohne ihr Wissen erschien ihr Manuskript 1981 dann plötzlich in Tel Aviv (Kaceva 1993: 198f.).

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schädlichen Macht des Geldes“; in der Strafkolonie stelle Kafka „die österreichische Staats- und Kriegsmaschinerie“ dar; im Anschluss an eine Stelle aus dem Schloß sieht er in K.s Verhalten die „Versklavung des Menschen, die der Autor in der ihn umgebenden bürgerlichen Wirklichkeit beobachtete“ (Zatonskij 1959: 209f.). Kafkas Verbindung von Realität und Phantastik referiert Zatonskij ausführlich und sachlich am Beispiel der Verwandlung, um dann unverhofft zu erklären, Kafka habe nicht nur „eine Reihe reaktionärster philosophischer und ästhetischer Ideen“ gehabt, sondern er habe diese auch mit einer „Technik der künstlerischen Verwirklichung“ dargestellt, die „dem damaligen Zustand der bürgerlichen Kultur und den konkreten politischen Aufgaben, die die Ideologie der Reaktion sich stellt“, entsprochen habe (Zatonskij 1959: 211). Aus der reaktionären Ideologie erklärt Zatonskij auch Kafkas Einfluss auf die „modernistische Kunst“ der Zeit, auf Hermann Kasack, Ilse Aichinger,5 Camus, Beckett, Ionesco. Kafkas Werk war eine Sackgasse, denn er „vernichtete das objektive Bild der Wirklichkeit“ (Zatonskij 1959: 212). Wer also den „gegenwärtigen Leser“ – auch den sowjetischen – in die stickigen Stollen, die vom verwirrten Denken Kafkas gegraben sind, ziehen will, der möchte, dass dieser Leser sich verirre und den Weg zu Licht und Wahrheit nicht finde – so das Fazit (Zatonskij 1959: 212). Schon Zatonskij formuliert das sowjetische Klischee vom unfähigen Denker Kafka: Die bei ihm häufige Form der Parabel entspreche in höchstem Grade seiner außerhistorischen, primitiv-bildlichen, ‚naiven‘ Denkart. So dachten die religiösen Fanatiker des alten Judäa und die heiligen Asketen der mittelalterlichen Klöster. Kafka war kein Philosoph, sondern nur ein Künstler (Zatonskij 1964a: 86).

Vermutlich hätte Zatonskij einen Artikel über Kafka ohne diese Kapriolen, Invektiven und Scheingefechte gar nicht drucken können. Ganz so verhielt es sich mit Sučkovs ‚apotropäischem‘ Vorwort zum Kafka-Band 1965, wo der sowjetische Leser vor der Lektüre dieses Ufo gewarnt werden muss. Dazu Zatonskij in der Rückschau: Die Durchsetzung eines Kafka-Bandes war in den sechziger Jahren nur unter der Bedingung möglich, daß ein ganz hartes Vorwort die Brisanz des übrigen Textes irgendwie ausbalancierte. Und Sutschkow brachte dieses Opfer. Ob vollkommen bewußt, bleibt offen, unsere Gedankenschizophrenie war und bleibt eine heikle Sache. (Satonsky 1993 : 115)

In diesem ‚Geist‘ sind die Darstellungen Kafkas durch sowjetische Wissenschaftler im Wesentlichen geschrieben. Von dieser von einem doktrinären, 5 Bei Zatonskij merkwürdigerweise E. Ėjchinger, also Je. Eichinger; vermutlich kannte er den Namen nur vom Hören.

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pseudowissenschaftlichen Jargon geprägten Kafka-Literatur – „This language is indigestible even for the most patient of reader“ (Karst 1978 : 194) – nimmt Roman Karst lediglich die Ausführungen Vladimir Dneprovs aus. Dneprov bestreitet die beiden sowjetischen Doktrinen vom ‚guten‘ Künstler und dem ‚schlechten‘ Denker Kafka und von seiner Realitätsferne; er verwirft zudem die Behauptung, Kafka sei ein Reaktionär gewesen. Mit seiner differenzierten Perspektive, der differenzierten Sprache und der differenzierten Methode der Interpretation war es Dneprov gelungen, „an appreciative recognition“ Kafkas zu geben (Karst 1978: 188; Dneprov 1965).6

V. Nach der Edition von Marxens sogenannten Pariser Manuskripten 1932 kam es unter Marxisten zu einer endlosen Diskussion über den Entfremdungsbegriff; die ‚Entfremdung‘ wurde zur „Gretchenfrage im Ostlager“ (Sander 1964: 373). Wir finden sie in allen sowjetischen Arbeiten zu Kafka, wobei a priori klar ist, dass Entfremdung [otčuždenie] nur im Kapitalismus existieren kann. Dem unermüdlichen Zatonskij ist zum otčuždenie nicht sehr viel eingefallen. Er hilft sich mit den üblichen pseudohistorischen ML-Erklärungen: Österreich-Ungarn gilt als hoffnungslos veraltet; Prag wird als Industriestadt verstanden (Zatonskij 1964a: 99, „duch proletarskoj Pragi“ [der Geist des proletarischen Prags]), dementsprechend finster sei sie bei Kafka gezeichnet (obwohl die Stadt in Kafkas Werken gar nicht genannt wird). Sein Gefühl der Fremdheit sei eine Folge der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft (Zatonskij 1964a: 100). Denisova hat 1968 Kafka als Aufhänger für ihre langweilige Abhandlung über Entfremdung benutzt (Denisova 1968). Selbst Arsenij Gulyga, ein ausgezeichneter Kenner Kants und der deutschen idea6 Zu Dneprov zustimmend auch Etkind (1980: 236). – Einzelne sowjetische Arbeiten sind auch im Westen besprochen worden, so Knipovič (1964; Hasselblatt 1964), der die Vf., deren Vornamen er mit G. angibt, für einen Mann hält, sowie Struc (1965a: 135; 1965b: 197); Motyleva (1963; Struc 1965a: 136); Sučkov (1964; Struc 1965a: 138-140); Zatons’kyj (1958; Struc 1965b: 193; 1965a: 130); Zatons’kyj/Libman (1959a; Struc 1965b: 193-195; 1965a: 130f.); Zatons’kyj (1959b; Struc 1965a: 131f.; 1965b: 193-195); Zatonskij (1963a; Struc 1965a: 133f.); Zatonskij (1964a; Struc 1965a: 136-138); Zatonskij (1965, 1972; Struc 1965a : 140f.); Knipovič (1965), Sučkov (1965) und Zatonskij (1965) sind kritisch diskutiert bei Karst (1978).

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listischen Philosophie, hat sich mit diesem fruchtlosen Problem abgegeben. Er vermeidet allerdings die üblichen polemischen Töne und argumentiert mit den Texten. Aus den marxistischen Denkmodellen kann auch Gulyga sich allerdings nicht befreien, so wenn er schreibt, die „Alogizität“ von Kafkas Darstellung sei die adäquate Form „der Widerspiegelung der absurden, irrationalen kapitalistischen Wirklichkeit“ (Gulyga 1968: 294f.). Auch er hält Kafka für einen Kritiker der bürgerlichen und kapitalistischen Welt, auch er blendet Kafkas Aktualität für die totalitäre SU aus. Der Kübelreiter zeige, dass für einen Händler ein Mensch, der mittellos geworden ist, zu existieren aufhöre (Gulyga 1968: 295). Unfreiwillig komisch wird es, wenn Gulyga in jener Szene im Schloß, wo K. und Frieda sich auf dem Boden des Wirtshauses in Bierpfützen und Unrat lieben (Kap. 3), eine ‚entfaltete Metapher‘ sehen möchte – heißt es doch, in der bürgerlichen Gesellschaft werde die Liebe in den Schmutz getreten (Gulyga 1968: 295). Auch Gulyga nimmt Kafka als Prophet einer düsteren Zukunft in Anspruch, er habe vieles von dem erahnt, was die westliche Welt – natürlich nur diese – später habe erleben müssen (Gulyga 1968: 309). So sei die Figur des Titorelli eine Vorwegnahme der Kunst im ‚faschistischen‘ Deutschland (Gulyga 1968: 309, 317f.). Auch bei ihm ist Kafka ein Zeuge des Verfalls von Österreich-Ungarn, wobei Gulyga über die üblichen Klischees nicht hinauskommt und einen Zusammenhang zwischen Kafkas Texten und der historischen Situation auch nicht zu formulieren vermag: Eine gewisse Rolle spielt dabei jener Umstand, daß Kafka unter den Bedingungen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie lebte, die vor seinen Augen zusammenbrach. Stagnation, Verfall und Zusammenbruch eines imperialistischen Staates erlaubten es ihm, einige Erscheinungen, die für den gesamten untergehenden Imperialismus charakteristisch waren, zu bemerken, Erscheinungen, die in vollem Maß erst in der folgenden Epoche zu erkennen waren. (Gulyga 1968: 309)7

Für Kafka sei die Methode der Verfremdung [otstranenie] das Alpha und Omega des Schaffens (Gulyga 1968: 299). Gulyga behandelt den Begriff im Rückgriff auf Brecht – und mit Verweis auf Šklovskij, der ihn 1916 in seiner Abhandlung Iskusstvo, kak priem [Die Kunst als Verfahren] entwickelt hatte –, wonach eine gewöhnliche Sache, die zu Bewusstsein gebracht werden soll, in eine unerwartete, besondere, in die Augen fallende verwandelt werden müsse. 7 Bei diesem – in allen marxistischen Deutungen vorhandenen – Bemühen, Kafkas ramponierte Welt irgendwie mit Österreich-Ungarn in Verbindung zu bringen, kann es zu völlig sinnfreien Aussagen kommen, z. B.: „Das Österreich-Ungarische Imperium zerfiel in Stücke, doch die Lebensbedingungen in Tschechien [sic!] (damals noch bürgerlich-republikanisch) veränderten sich fast nicht. Die Unterdrückung wurde keineswegs schwächer, aber ihre Formen wurden weniger sichtbar, weniger unterscheidbar“ (Zatonskij 1959: 210).

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Gulyga gelingt es auf diese Weise, das Nichtrealistische, Phantastische bei Kafka in seine Interpretation zu integrieren. Kafka erschafft eine paradoxe, unglaubliche Situation, kleidet seinen Gedanken in eine ungewöhnliche Form, um das Interesse des Lesers an diesem Gedanken festzuhalten. (Gulyga 1968: 299)

Brechts Lehre vom Verschwinden der Charaktere im nichtaristotelischen Theater findet Gulyga – eher willkürlich – in der Gesichtslosigkeit [bezlikost] der Kafkaschen Figuren in ihrer Typisierung wieder. So seien die elf Söhne „elf Varianten der Rekonstruktion der geistigen Gestalt [oblik] des gegenwärtigen homo sapiens“, was Gulyga jedoch nicht weiter ausführt (Gulyga 1968: 301). Wichtiger als die Typologie der Charaktere aber sei bei Kafka die der sozialen Situationen. So gehe es im Hungerkünstler um den Ort des Künstlers in der gegenwärtigen Gesellschaft (Gulyga 1968: 301ff.). Das Gesetz von Angebot und Nachfrage zerstöre die Kunst; Warenbeziehungen stünden der Inspiration entgegen. Die Arbeitsteilung erzeuge und vernichte den Künstler, wie Kafka es in der Erzählung Frühes Leid gezeigt habe (Gulyga 1968: 303ff.). Von hier aus ist es dann nicht weit zum Begriff der Entfremdung, der sich auch gleich einstellt; ihre Ursache sei das Privateigentum in der kapitalistischen Gesellschaft (Gulyga 1968: 305). Kafka habe sie in einer Reihe satirischer Werke gestaltet: in der Verwandlung, im Bericht für die Akademie, in Poseidon, im Neuen Advokaten, in den Forschungen eines Hundes.8

VI. An der Kafka-Konferenz in Liblice im Mai 1963 nahm trotz Einladung kein russischer Wissenschaftler teil; in der sowjetischen Presse erschienen zu Liblice nur kurze Notizen. Der tschechische Konferenzband (Franz Kafka. Liblická konference 1963, Praha 1963) war aber bald greifbar; Tamara Motyleva jedenfalls hat ihn benutzen können (Motyleva 1966: 36-40). Zatonskij hat die Konferenz dreimal behandelt; im Mai 1964 referierte er Paul Reimans Eröffnungsrede und nennt Garaudys, Kautmans und Goldstückers Vorträge 8 Auf das Problem der Entfremdung ist Gulyga noch einmal in einer umfangreichen Studie zurückgekommen, die 1970 geschrieben war, aber erst 2000 veröffentlicht werden konnte (Gulyga 2000: 279-384). So sorgfältig und eingehend sie ist, so sehr ist sie wegen des Themas eben doch obsolet.

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„grundlegend“. Es gehe darum, dass die historische Wahrheit, die von der bürgerlichen Wissenschaft – natürlich – gefälscht worden sei, wiederhergestellt werde. Kafka sei Realist gewesen, der den Zweiten Weltkrieg, die Schrecken des Faschismus und „alle [!] Tragödien und Dramen des zeitgenössischen Menschen“ vorausgesehen habe. Kafka sei aber auch eine „Erfahrung der sozialistischen Welt“, denn auch nach der Machtübernahme durch das Proletariat begleite die Entfremdung die ganze Periode des Aufbaus des Kommunismus. Kafkas Thema sei die kapitalistische Entfremdung, mit der er gekämpft habe. Sein Werk war also mit der Wirklichkeit verbunden, daher sei es auch realistisch (Zatonskij 1964a: 69f.). Zatonskij äußert keine eigene Meinung zu diesem Nichtsinn, zitiert aber mit Alfred Kurella, Stefan Żiółkiewski und László Mátrai drei marxistische Kritiker dieser Kafka-Deutung (Zatonskij 1964a: 70f.). Ein Jahr später zitiert er ohne Kommentar Textpassagen aus Ausführungen und Vorträgen von Roger Garaudy.9 1966 war Garaudys Buch über den Realismus in russischer Übersetzung erschienen; als der Autor 1970 aus der KPF ausgeschlossen wurde, wurde das Buch konfisziert und aus den Bibliotheken entfernt. In der zweiten Auflage seines Kafka-Buches, vier Jahre nach dem Prager Frühling, schreibt Zatonskij dann, die Konferenz von Liblice sei eine „eigenartige Kraftprobe des internationalen Revisionismus“ gewesen; verdächtig scheinen nun die Vorträge von Goldstücker, Kautman, Ernst Fischer und eben Garaudy, dessen französisches Buch, nicht aber die russische Übersetzung, Zatonskij an dieser Stelle anführt (Zatonskij 1972: 26). Er zitiert Garaudys These, Leben und Werk Kafkas seien ein Kampf gegen die Entfremdung innerhalb der Entfremdung selber gewesen, um sie natürlich zu widerlegen (Zatonskij 1972: 70ff.).10 Dagegen beschwört er die sowjetische Literaturwissenschaft seit 1958; denn diese entlarve die theologischen, existentialistischen, psychoanalytischen Interpretationen von Werk und Persönlichkeit des Schriftstellers, polemisiert mit dem unkritischen Verhalten ihm gegenüber und mit den Versuchen seiner primitiven ‚Aktualisierung‘ (Zatonskij 1972: 27)

– mit Verweis auf eine Arbeit von Evgenija Knipovič aus dem Jahre 1964, worin Kafka als „‚Beweis der Verbrechen des Kapitalismus gegen die menschliche Kultur‘“ erscheint (Zatonskij 1972: 28; Knipovič 1964: 204). Nach 1968 war die Linie deutlich härter geworden. Im Oktober 1963 war in Leningrad als eine Art offizielle Gegenveranstaltung zu Liblice eine internationale Konferenz zu Problemen des zeitgenös9 Zatonskij (1965: 16f.) nennt als Quellen Il Contemporaneo, November 1963; die Lettres françaises vom 06.-11.06.1963 und die Literární noviny [Literaturzeitung] (1963/23). 10 Hier hat Zatonskij die russische Übersetzung – die es ja eigentlich nicht gibt – benutzt.

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sischen Romans abgehalten worden, auf der auch Sartre, Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Hans Magnus Enzensberger, Hans Werner Richter und viele andere dabei sein durften.11 Den geradezu mythischen Rang der LibliceKonferenz hat sie natürlich nicht erreichen können. Auch in Leningrad wurde mehrfach über Kafka gesprochen, den die ‚Westler‘ durchaus verteidigten; die sowjetischen Literatur-Funktionäre blieben aber wie zu erwarten bei ihrer harten Haltung: Die Traditionen von Kafka und Joyce seien für die Russen unannehmbar, so Ivan Anisimov, der Direktor des Instituts für Weltliteratur (Kopelev 1985: 176f.; Kopelev o. J.). Behindert durch den politischen Druck, eingeengt von ideologischen Vorschriften und Vorurteilen, immer mit Blick auf die jeweilige Parteilinie, ist es den russischen Wissenschaftlern nicht gelungen, den großen KafkaMonographien im Westen eine gleichwertige an die Seite zu stellen. Der Marxismus-Leninismus gab die Parameter für die Interpretation der Wirklichkeit vor; ästhetisch bewegte man sich in dem längst obsoleten Streit um den Rea­ lismus und in der Apologie eines traditionellen Realismus, zudem noch des sozialistischen.12 Die politische Isolierung der SU zog auch die geistige nach sich; mit ML und ‚sozialistischem Realismus‘ ist Kafkas Werk eben nicht zu beschreiben. Im Rahmen des einfältigen dualistischen Weltbildes ist dieses Werk dann lediglich eine ‚Widerspiegelung‘ der verheerenden Zustände im kapitalistischen Westen. Ob die Autoren das alles selbst auch geglaubt haben, ist kaum festzustellen, aber Zweifel sind angebracht. Dass eine Handvoll Kafka-Forscher in ihm sicher etwas anderes sah als einen dekadenten Autor, dass sie in ihm auch ihr eigenes Land, ja vielleicht sogar ihr eigenes Schicksal wiederfinden konnten, ohne dies jedoch offen schreiben zu dürfen, mögen einige Biographien erhellen:13 Zatonskijs Vater, ein Bolschewik der ersten Stunde und Volkskommissar für Bildung in der Ukraine, wurde 1937 arretiert und hingerichtet, die Familie verbannt. Boris Sučkov war Direktor des Verlages Internacional‘naja literatu11 Rjurikov (1963); Anonym (1963a, b); Motyleva (1963); Rjurikov (1964); Herling (1965a: 43); Herling-Grudziński (1965b: 9f.); Struc (1965a: 134f.); Struc (1965b: 196); Motyleva (1966: 27-45). 12 S. dazu etwa Dresler (1960); Nivelle (1972); Liehm (1975). – In größeren literaturhistorischen Zusammenhängen haben sowjetische Forscher Kafkas Verhältnis zu Dostoevskij behandelt, so (erstmals?) Sučkov (1964: 225), Sučkov (1965a: 27-30); Dneprov (1965: 202); Azadovskij/Dudkin (1973: 709ff.); Fridlender (1979: 325-329). 13 S. zum Folgenden Etkind (1980: 236); Kopelev (1985: 178); Kopelev (o. J.); Satonsky (1993: 115ff.).

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ra [Die internationale Literatur]. Er wurde verhaftet und gefoltert; er sollte gestehen, ein amerikanischer Spion zu sein und Stalin ermorden zu wollen. Eine Sonderkommission verurteilte ihn zu 25 Jahren Freiheitsentzug, wovon er sieben Jahre in Gefängnissen und Lagern verbrachte. 1956 kam er wieder frei. Evgenija Knipovič fiel in Ungnade, weil sie während des Krieges in einem Artikel behauptet hatte, die deutschen Jungen, die als Soldaten nach Russland kamen, seien normale junge Leute, die lediglich die falsche Erziehung und die üble Staatsmacht zu Verbrechern gemacht habe. In der Pravda [Die Wahrheit] wurde sie wegen dieser objektivistischen, schädlichen Reinwaschung des Feindes beschimpft. Vladimir Dneprov war als Volksfeind mehr als zwanzig Jahre in Haft und Verbannung.

VII. Neben den Zeugnissen der Wirkungsverweigerung und der staatlichen Rezeptionssteuerung gibt es jedoch auch Zeugnisse für eine Wirkung Kafkas in der SU; 1978 berichtete Efim Etkind darüber auf einem Kafka-Kolloquium an der Sorbonne.14 „Etwa im Jahr 1961“ sei im sich allmählich formierenden Samizdat anonym „ein geheimnsivoller Roman“ mit dem Titel Der Prozeß aufgetaucht, eine offenbar „geschickt getarnte Darstellung sowjetischer Zustände“ (Etkind 1980: 229f.).15 Stellte Der Prozeß nicht in leicht verschleierter Form die Ereignisse der Terrorjahre 1935, 1937/38 und 1949-1952 in der UdSSR dar? Nur ein Sowjetrusse konnte die konkreten Einzelheiten so genau kennen! Und diese Einzelheiten sind in dem Roman zahlreich. (Etkind 1980: 230)

Etkind verbindet die Wirkung des Prozeß mit dem 1967 in der Zs. Moskva erschienenen Roman Master i Margarita [Der Meister und Margarita] von Michail Bulgakov: Beide Romane thematisieren „die doppelte Wirklichkeit“, in der der Sowjetbürger lebte.

14 Efim Etkind (1918-1999) war seit 1952 Mitarbeiter am renommierten Pädagogischen Aleksandr-Gercen-Institut in Leningrad, 1974 wurden ihm seine akademischen Titel aberkannt; er emigrierte nach Paris, wo er an der Universität Paris-Nanterre lehrte. 15 Ich konnte diese von Etkind genannte Übersetzung bisher nicht nachweisen; alle Darstellungen kennen erst die 1965 im ‚černyj tomik‘ erschienene Übertragung als die früheste.

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Alles, was um uns ist, ist zugleich Realität und Schein; Wirklichkeit ist die Herrschaft dunkler Mächte, die wir nicht kennen. Die beiden Welten gehen ineinander über, sind nicht voneinander zu trennen. (Etkind 1980 : 231)

Die Lehre der Apologeten und Wirkungsverhinderer, Kafka habe den ‚Faschismus‘ vorausgesehen, erschien aus dieser Erfahrung heraus wenig plausibel. Josef K. erscheint vielmehr als „das abstrakt geschilderte typische Schicksal der sowjetischen Intellektuellen“ (Etkind 1980: 233). In seinem Buch Unblutige Hinrichtung, in dem es um Vorladungen, Verhöre, Überwachungen, Verhaftungen, Politschulungen und Parteiversammlungen geht, die alle den Charakter von Prozessen haben, werden Kafka und sein Prozeß zwar erwähnt, doch verzichtet Etkind hier darauf, sein eigenes Schicksal mithilfe Josef K.s zu interpretieren (Etkind 1981: 175, 147f.). Die Prozess- und Lagerthematik war Anfang der 1960er-Jahre in der sowjetischen Literatur aufgetaucht, als in großen Massen Menschen aus den Konzentrationslagern zurückkehren konnten.16 Darüber schrieben Viktor Nekrasov, Vadim Koževnikov, Leonid Pervomajskij, Aleksandr Solženicyn, Abram Terc, Julij Daniėl‘, Vasilij Grossman, Lidija Čukovskaja, Evgenija Ginzburg. Für Kafkas verkommene Gerichts- und Bürokratiewelt war der russische Leser aber auch sensibilisiert durch die Wiederentdeckung der Trilogija Alek­sandr Vasil’evič Suchovo-Kobylins aus den Jahren 1855-1869; die drei Dramen verdankten ihre Entstehung Suchovo-Kobylins eigenen Erfahrungen mit dem russischen Gerichtswesen;17 in der SU bemerkte E. Zlobina ihre Nähe zur Welt Kafkas (Zlobina 1967: 243; Friedberg 1977: 278). Der zweite Teil, Delo [Der Prozeß], behandelt den Gerichtsprozeß, in den die Braut Krečinskijs und ihr Vater hineingeraten, weil sie etwas von den Betrügereien Krečinskijs gewußt zu haben scheinen. So werden sie von der bürokratischen Maschine der russischen Justizbehörde (vor den Reformen der sechziger Jahre) erfaßt, und nur der Tod befreit den unglücklichen Muromskij aus dem Räderwerk dieser unbarmherzigen juristischen Maschinerie. (Tschižewskij 1967: 150)

16 S. zum folgenden Friedberg (1977: 275-279). 17 „Die französische Freundin Suchovo-Kobylins wurde 1850 ermordet in Moskau aufgefunden. Der Dichter wurde unter die schwere Anklage des Mordes oder der Anstiftung zum Mord gestellt. Während des sieben Jahre dauernden Gerichtsprozesses (vor den damaligen russischen Gerichten waren alle Verhandlungen Amtshandlungen und fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt) vereinsamte Suchovo-Kobylin vollkommen. Nachdem er freigesprochen worden war, wanderte er ins Ausland aus.“ (Tschižewskij 1967: 150)

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VIII. Allerdings sollte man die schleppende und in der Breite auch verhinderte Rezeption Kafkas in der UdSSR nicht isoliert betrachten (Kopelev 1985: 181). Es gab kaum einen bedeutenden russischen Schriftsteller, der spätestens in den 1930er-Jahre nicht vergessen oder verdrängt wurde, nach dem Tauwetter nicht oder sehr spät oder nur an abgelegener Stelle, in kleiner Auflage und mit entschärfenden Vorworten und z. T. ungenauen Biographien wieder gedruckt wurde: Isaak Babel’, Osip Mandel’štam, Marina Cvetaeva, Il’f und Petrov, Michail Zoščenko, Jurij Oleša, Michail Bulgakov, Daniil Charms, Evgenij Zamjatin, Andrej Platonov, Boris Pil’njak, Andrej Belyj, Dmitrij Merežkovskij, die russischen Religionsphilosophen; die gesamte russische Emigrationsliteratur – genannt seien nur Ivan Bunin und Vladimir Nabokov –, sie alle waren Volks-, Staats- und Klassenfeinde. Sie alle scheinen die totalitäre SU und ihre Bewohner bedroht zu haben; in diesem Land war Franz Kafka durchaus nicht das einzige Ufo.

1. Werke Kafkas in russischer Übersetzung in der UdSSR (1964-1989) Kafka, Franc (1964): V ispravitel’noj kolonii. Prevraščenie. U vrat zakona. Most. Passažiry. Pravda o Sančo-Panse. Vosvraščenie domoj. Noč’ju. [In der Strafkolonie. Die Verwandlung. Vor dem Gesetz. Die Brücke. Der Fahrgast. Die Wahrheit über Sancho Pansa. Heimkehr. Nachts.] – In: Inostrannaja literatura [Die Literatur des Auslands] 1, 134-181. Kafka, Franc (1965): Roman. Novelly. Pritči. Perevod s nemeckogo. Sost. i avtor predislovija B. Sučkov [Roman. Novellen. Parabeln. Übers. aus dem Dt. Hrsg. und Verf. d. Vorw. B. Sučkov]. Moskva: Progress, 614. Kafka, Franc (1968a): Iz dnevnikov Franca Kafki [Aus Franz Kafkas Tagebüchern]. – In: Voprosy literatury [Fragen der Literatur] 2, 135-168. Kafka, Franc (1968b): Pis’mo k otcu [Brief an den Vater]. – In: Zvezda [Der Stern] 8, 175-197. Kafka, Franc (1974): Ja ljubil devušku [Ich liebte ein Mädchen]. – In: V mire knig [In der Welt der Bücher] 7, 60.

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Kafka, Franc (1981): Prigovor [Das Urteil]. – In: Avstrijskaja novella XX veka [Die österreichische Novelle im 20. Jh.]. Moskva: Chudožestvennaja literatura, 110-120. Kafka, Franc (1983): Razgovor s samim soboj. Otryvki iz dnevnika pisatelja. 19101922 [Ein Selbstgespräch. Auszüge aus dem Tagebuch des Schriftstellers]. – In: Literaturnaja gazeta [Literaturzeitung] 27 (ijulja), 11. Kafka, Franc (1985a): Iz dnevnikov [Aus den Tagebüchern]. – In: Sovremennaja dramaturgija [Dramaturgie der Gegenwart] 3, 271-279. Kafka, Franc (1985b): Malen’kaja basnja [Kleine Fabel]. – In: Literaturnaja gazeta 27 (marta), 6. Kafka, Franc (1986a): Iz dnevnikov [Aus den Tagebüchern]. – In: Nazyvat’ vešči svoimi imenami [Die Dinge bei ihrem Namen nennen]. Moskva: Progress, 373-377. Kafka, Franc (1986b): Progulka v gory. Stuk v vorota [Der Ausflug ins Gebirge. Der Schlag ans Hoftor]. – In: Zarubežnaja literatura XX veka. 1917-1945. Chrestomatija [Ausländische Literatur des 20. Jhs. 1917-1945. Chrestomantie]. Moskva: Prosveščenie, 264-266. Kafka, Franc (1988a): Iz dnevnikov. Pis’mo k  otcu. Zaveščanie [Aus den Tagebüchern. Brief an den Vater. Testament] (= Biblioteka „Inostrannoj literatury“). Moskva: Izvestija. Kafka, Franc (1988b): Iz dnevnikov 1910-1912 gg. [Aus den Tagebüchern 1910-1922]. – In: V mire knig [In der Welt der Bücher] 3, 70-73. Kafka, Franc (1988c): Toska [Unglücklichsein]. – In: Zolotoe sečenie. Avstrijskaja poėzija XIX-XX vekov v russkich perevodach [Der goldene Schnitt. Österreichische Dichtung des 19. und 20. Jhs. In russischen Übersetzungen], Moskva, 286f. Kafka, Franc (1988d): Zamok [Das Schloß]. – In: Neva [Die Neva] 1, 103-139; 2, 103145; 3, 84-105; 4, 120-153. Kafka, Franc (1988e): Zamok [Das Schloß]. – In: Inostrannaja literatura [Die Literatur des Auslands] 1, 105-164; 2, 159-178; 3, 131-185. Kafka, Franc (1989): Izbrannoe [Auswahl] (= Mastera sovremennoj prozy). Moskva: Raduga.

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Zur Kafka-Rezeption in Polen Die Entwicklungslinien der Rezeption von Franz Kafkas Werk in Polen sind mittlerweile recht gut dokumentiert und erforscht. Detailliert und kenntnisreich hat sich zuletzt Beate Sommerfeld in ihrer Posener Dissertation von 2005 sowie weiteren Aufsatzbeiträgen mit dem recht intensiven Strom der „Kafka-Nachwirkungen in der polnischen Literatur“ (Sommerfeld 2007) befasst. Sie stützt sich auf Vorarbeiten u. a. von Halina Góral (1976), Janusz Lewoń (1982), Ewa Gromała-Rucka (1984), Eugenia Prokopówna (1985), Stefan Kaszyński (1991) und Jan Watrak (1992). In ihrer Ausgangsthese nimmt sie eine vergleichsweise geringe Repressivität der volkspolnischen Kulturpolitik an, aufgrund derer Kafkas – bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen bekanntes – Werk insbesondere nach 1956 zum Gegenstand polnischer Literatur und Literaturdebatten wurde: Auf Grund der relativen Liberalität der polnischen Regierungen zur Zeit der Volksrepublik Polen konnte Kafkas Werk hier seine Wirkung entfalten. Oft wurde es zum Prüfstein für die vorgebliche Toleranz des Regimes und von zahlreichen Autoren – Literaturkritikern und Schriftstellern – dazu genutzt, die Grenzen der Nachgiebigkeit auszutesten. (Sommerfeld 2007: 12)

Diese „Liberalität“ ist, wie sie hervorhebt, freilich sorgsam zu chronologisieren, um die „prozesshafte Gestaltung des Kafka-Bildes“ (Sommerfeld 2007: 12) nicht zu verfälschen. Sehr unterschiedlich zeigen sich etwa die um 1936 festzustellenden Resonanzen im Vergleich mit der nach 1956 einsetzenden Debatte um die Integrationsfähigkeit Kafkas in ein moderates sozrealistisches Kanonmodell oder mit der Diskussionslage in den 1970er- und 1980er-Jahren, als Kafkas Protagonisten auf ihre gesellschaftliche Widerstandskraft hin befragt wurden. Durchgängig als folgenreich erweist sich vielleicht allenfalls die unter Gomułka und Gierek in den 1960er- bzw. 1970er-Jahren je anders vertretene, aber permanent spürbare Intellektuellenfeindlichkeit der Volksrepublik Polen mit ihrem Dogma der Volkstümlichkeit der Nationalkultur als Massenkultur, unter deren Einfluss Kafka nicht nur einmal schlicht als langweiliger Autor abgetan wurde (Walas 2003). Die polnische Kafka-Rezeption lässt insofern auch Rückschlüsse auf die Transformation des polnischen Kulturmodells innerhalb der vergangenen achtzig Jahre zu.

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Sommerfeld identifiziert eine Reihe von Rezeptionsknoten unterschiedlichen Umfangs, die zusammengenommen ein recht klares Bild der KafkaRezeption zwischen 1936 – als Bruno Schulz seinen Namen für die erste Prozess-Übersetzung hergab – und 2008 – als die neue Proceß-Übersetzung von Jakub Ekier erschien. Im Folgenden sei ein Überblick dieses Rezeptionsverlaufs unter Berücksichtigung der wesentlichen Forschungsergebnisse bis in die Gegenwart (v. a. Sommerfeld 2003, 2007) geboten.

1. Die Zwischenkriegszeit Erste kurze Texte Kafkas in polnischer Übersetzung finden sich bereits 1925 in der zionistischen Zeitschrift Nowy Dziennik [Neues Tageblatt].1 In derselben Zeitschrift erschien 1929 die polnische Übersetzung von Max Brods Zauberreich der Liebe [Zaczarowany kraj miłości] (in Buchform 1932). Das Buch förderte in erheblichem Maße die Entstehung einer Kafka-Legende, und zwar noch bevor das Werk des Dichters dem polnischen Publikum in der Muttersprache zugänglich war. (Sommerfeld 2007: 44)

Brod war mit dem Roman gleichsam zum Generalschlüssel für Kafkas Werk geworden, wie etwa Äußerungen des Lemberger Germanisten Izydor Berman, der 1936 den Landarzt ins Polnische übertrug, im Skamander – einer der einflussreichsten Literaturzeitschriften Polens in der Zwischenkriegszeit – belegen: Brod napisał powieść p.t. ‚Zauberreich der Liebe‘, w której Kafka występuje jako Ryszard Garta. Jest to wierny obraz przyjaciela. Możemy skorzystać z kilku miejsc powieści i uzupełnić w ten sposób charakterystykę wyjątkowej indywidualności Kafki. (Berman 1936: 180)2 [Brod schrieb einen Roman unter dem Titel ‚Zauberreich der Liebe‘, in dem Kafka als Richard Garta auftritt. Es ist dies ein getreuliches Bild des Freundes. Wir können einige Stellen des Romans heranziehen und auf diese Weise die Charakteristik der außergewöhnlichen Individualität Kafkas ergänzen.]

Für Berman zählen Kafkas Texte zweifelsfrei „do arcydzieł prozy niemieckiej“ [zu den Meisterwerken der deutschen Prosa] (Berman 1936: 180)]. In 1 Es handelt sich um Auf der Galerie, Das Unglück des Junggesellen, Kleider, Die Abweisung. 2 Übersetzungen der polnischen Zitate: C. P.

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dieser Reihe befinden sie sich aufgrund der ihnen eingeschriebenen „logika cudowności“ [Logik des Wunderbaren], (Berman 1936: 184), die den Leser unmittelbar berühre: Rzeczowe sprawozdanie wyrasta niepostrzeżenie w niezwykłość i zaczyna nas niepokoić. Prozie Kafki wyrastają mityczne skrzydła. Ogarnia nas jakby groźna magja. (Bermann 1936: 183) [Der sachliche Bericht wächst unversehens ins Ungewöhnliche hinüber und beginnt uns zu beunruhigen. Kafkas Prosa wachsen mythische Flügel. Es erfasst uns gleichsam eine schreckliche Magie.]

Kafkas „wizyjność stylu” [visionärer Stil] sei so außergewöhnlich und einzigartig, dass jede ins Detail gehende Interpretation fehlschlagen müsse. Berman hatte schon 1927 eine enthusiastische Rezension zu Amerika geschrieben. Im selben Jahr äußerte sich Artur Prędski in den Wiadomości Literackie [Literarische Nachrichten], eine dem Skamander nahestehende, gleichfalls mit Meinungsführerschaft ausgestattete Zeitschrift zum Schloß als einem Roman, der Kafka ohne Weiteres über Balzac oder Dostoevskij erhebe. Zwar seien Schloß wie Proceß nur Fragmente eines durch den Tod des Autors verhinderten größeren Ganzen: Mimo to jednak powieść ta pozostanie najwyższym bodaj szczytem europejskiej prozy literackiej, arcydziełem, jakiem dotychczas literatura żadnego narodu poszczycić się nie może. Ma się wrażenie, że bledną przy niej nawet geniusze tej miary co Balzac i Dostojewskij, bo najgłębsze wyczucie tragedii człowieczego bytu łączy się w niej z najwyższą umiejętnością artystyczną, czego ani o Balzacu ani o Dostojewskim powiedzieć nie można. Operowanie superlatywami jest na ogół rzeczą conajmniej podejrzaną – z czego dokładnie zdaję sobie sprawę – ale inaczej o tej książce mówić niepodobna. (Prędski 1927) [Dennoch bleibt dieser Roman der wohl höchste Gipfel der europäischen literarischen Prosa, ein Meisterwerk, dessen sich bislang die Literatur keiner Nation rühmen kann. Man hat den Eindruck, dass daneben sogar Genies vom Rang eines Balzac oder Dostoevskij verblassen, denn das tiefste Empfinden der menschlichen Tragödie verbindet sich darin mit höchster künstlerischer Meisterschaft, was man weder von Balzac noch von Dostoev­ skij behaupten kann. Das Operieren mit Superlativen ist für gewöhnlich etwas zumindest Verdächtiges – worüber ich mir vollkommen klar bin – aber anders kann man über dieses Buch nicht sprechen.]

Statt Balzac oder Dostojevskij hatte Berman 1932 Heine und Spinoza genannt: Bez ryzyka można powiedzieć, że przyjdzie czas, w którym będziemy szczycić się Kafką przed światem jak Heinem, jak Spinozą. Czy nie należałoby nadejście tego czasu przyspieszyć? (zit. n. Prokopówna 1985: 95)

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[Ohne Risiko kann man sagen, dass die Zeit kommen wird, in der wir uns mit Kafka vor der Welt rühmen werden wie mit Heine, mit Spinoza. Sollte man die Heraufkunft dieser Zeit nicht beschleunigen?]

Die polnische Kritik greift also bereits in der Zwischenkriegszeit in die obersten rhetorischen Regale, um die Ausnahmeerscheinung Kafka gebührend in der polnischen Öffentlichkeit zu platzieren. Skamander und Wiadomości Literackie gehören zu den führenden Literaturzeitschriften der Zweiten Republik, sodass die „salonzionistische“ (Prokopówna 1985: 96) Einverleibung Kafkas, von der – unter Verweis auf Äußerungen wie jene von Berman – Prokopówna (1985: 97) und in Anlehnung daran Sommerfeld (2003: 122) schreiben, wohl nur einen Teil der Rezeptionssituation in den 1920er- und 1930er-Jahren darstellt. Die Begeisterung für Kafka mag zum Teil im Zusammenhang mit dem ideologisch und taktisch unterschiedlich motivierten, mehrheitlich eher ungelenken deutsch-polnischen kulturpolitischen Bemühen jener Zeit gedeutet werden (Pryt 2010); insgesamt stellt sich jedoch das polnische Kafka-Bild in den ersten zehn Jahren nach seinem Tod als durchaus eindringliches dar. Wesentlichen Anteil daran hat die Autorisierung der Proceß-Übersetzung durch Bruno Schulz (begründeten Vermutungen Jerzy Ficowskis zufolge hat wohl Schulz’ Verlobte Józefina Szelińska die Übersetzung angefertigt; GromałaRucka 1984: 174; Prokopówna 1985: 93; Sommerfeld 2007: 45) und die damit ab 1936 mögliche breitere Rezeption durch des Deutschen nicht mächtige Leserkreise. Die literaturkritische Vermittlung etwa durch Schulz’ Nachwort transportiert das „Bild eines Dichters von tragischer Größe, dessen Werk einen geheimnisvollen, mystischen Appell in sich trägt“ (Sommerfeld 2003: 126) und schafft somit die Grundlagen für die nach 1956 umstrittene „KafkaLegende“ – auch wenn die Erstausgabe von 1936 in den Wiadomości Literackie unerwähnt blieb (Prokopówna 1985: 112) und die Neuauflage der ProceßÜbersetzung von 1957 ohne das Nachwort auskommen musste.

2. Kafka in der Volksrepublik Polen Schulz überlebte die Publikation der Prozess-Übersetzung mit seinem Nachwort nur um sechs Jahre. Der deutsch-polnische Kulturaustausch bricht mit dem Zweiten Weltkrieg ab; die Neuanknüpfung nach Kriegsende steht angesichts der Katastrophe vor erheblichen Schwierigkeiten. Vorsichtige Annäherungsversuche ab 1946 auf dem Umweg über die Berichterstattung zu

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französischen Kafka-Übersetzungen enden ab 1949 mit der Deklarierung des Sozialistischen Realismus als verbindlicher Kunstdoktrin in der Volksrepublik Polen (Polska Rzeczpospolita Ludowa – PRL). Noch bis ans Ende der 1950er-Jahre wird Kafka in der Schublade westlich-dekadenter Autoren eingeschlossen, sein Werk als das eines „Verrückten“, als „kulturelle Darmspülung“ verunglimpft (Sommerfeld 2003: 130f.). Entsprechend kontrovers werden die 1956 im Przekrój [Querschnitt] (eine in Volkspolen außerordentlich populäre Kultur- und Unterhaltungszeitschrift) veröffentlichte Übersetzung der Strafkolonie aus der Feder von Juliusz Kudryński sowie die 1957 erschienene Neuauflage der Schulz’schen/Szelińskaschen Proceß-Übersetzung diskutiert. Lewoń (1982) erörtert eingehend die hitzigen Debatten der Jahre 1957ff., die in einer Kontroverse auf den Seiten der Nowa Kultura [Neue Kultur] – dem 1950 aus der Fusionierung von Odrodzenie [Wiedergeburt] und Kuźnica [Schmiede] entstandenen Zentralorgan des Sozialistischen Realismus in Polen – kulminierten. Twórczość Franza Kafki pojawia się w owej dwuletniej luce, kiedy to nikt jeszcze dokładnie nie wiedział, jak sprawy się potoczą. Przyjmowano go więc spontanicznie i odważnie, pozytywnie i negatywnie zarazem. (Lewoń 1982: 60) [Franz Kafkas Werk erscheint in jener zweijährigen Lücke, als noch niemand genau wusste, wohin die Dinge sich entwickeln würden. Man nahm ihn also spontan und mutig, positiv und negativ zugleich an.]

Im Przekrój erschienen Erzählungen, die Romane wurden publiziert, Hörspiele gesendet und Theateradaptationen vorgestellt. Andrzej Wirth versuchte, das Schloß für eine sozialistische, d. h. antistalinistische Lektüre zu öffnen; dieser frühe Aktualisierungsversuch stieß jedoch auf heftige Gegenwehr linientreuerer Kritiker, die im Gefolge von Gomułkas ablehnender Haltung gegenüber der „czarna literatura“ [schwarze Literatur] (Lewoń 1982: 63) Kafka schlicht als „Irrweg der literarischen Entwicklung“ (Sommerfeld 2003: 133) bezeichneten. Kafkas Weltmodelle auf den stalinistischen Totalitarismus zu beziehen, war kurz nach Einsetzen des ‚Tauwetters‘ weniger opportun, als ihn in die für überwunden gehaltene Phase eines abstrakt begriffenen metaphysischen Katastrophismus einzuordnen. Damit aber ist Kafka ab den späten 1950erJahren in Polen kein für das ideologische Tagesgeschäft ernsthaft gefährlicher Autor mehr, und man kann Sommerfeld (2003: 135) darin zustimmen, dass Kafka, nachdem die Fronten einmal geklärt waren und autoritativ festgestellt worden war, dass dieser Schriftsteller der sozialistischen Pädagogik kaum einverleibt werden konnte, am Ende der 50er Jahre von der polnischen Literaturkritik allgemein geduldet wurde. Es ist also richtig, Kafka als das ‚trojanische Pferd‘ der Regimekritik zu bezeichnen […]. Kafka wurde eine Nische zugewiesen, in der sich auch die Literaturkritik einrichtete.

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Eine dieser Nischen besetzte früh schon Roman Karst – der 1963 zu den Teilnehmern der Liblicer Konferenz gehörte – mit seiner 1958 in der Twórczość [Schaffen], 1960 als Büchlein erschienenen Studie zu Kafka, die in ihrem zurückhaltenden Ton wohl zur Duldung Kafkas in der volkspolnischen Literaturdebatte beigetragen haben mag. Ohne Kafka mit Nachdruck als Antizipator des Faschismus zu etikettieren, liest Karst ihn eher als Existentialisten: Twórczość Franza Kafki jest próbą uporządkowania chaosu, w którym pogrążyło się nasze stulecie. Jako eksperyment literacki zadziwia dwiema charakterystycznymi cechami: niezwykłą, rzec można absolutną siłą przeżycia i skrajną tendencją etyczną. (Karst 1958: 78) [Franz Kafkas Schaffen ist der Versuch, das Chaos zu ordnen, in das unser Jahrhundert gestürzt ist. Als literarisches Experiment erstaunt es durch zwei charakteristische Merkmale: durch die ungewöhnliche, man könnte sagen absolute Kraft des Erlebens und durch die extreme ethische Tendenz.]

Das bewusst eingestandene Scheitern an dieser Gegensätzlichkeit kennzeichne Kafkas Werk: Proba przebudowy świata kończy się klęską, do której pisarz przyznaje się z goryczą i z calą szczerością. Jest to jednak klęska poniesiona w walce, prowadzonej z najwyższym wysiłkiem woli i poświęceniem. (Karst 1958: 110) [Der Versuch eines Umbaus der Welt endet mit der Niederlage, die der Schriftsteller mit Bitterkeit und in aller Aufrichtigkeit eingesteht. Doch ist dies eine Niederlage, davongetragen in einer mit höchster Willensanstrenung und Aufopferung geführten Schlacht.]

Auf diese Weise bereitet Karst von polnischem Terrain aus den Weg zur Liblicer Konferenz, die einen der nachdrücklichsten Ansätze zur Vermittlung zwischen der sozrealistischen Ablehnung Kafkas und der metaphysischbürgerlichen Vereinnahmung in den Fußstapfen Brods bildet. Besonders im Polen der mała stabilizacja [kleine Stabilisierung] – das Motto der GomułkaJahre im Licht der Entstalinisierung und Festigung der Lebensverhältnisse auf bescheidenem Niveau – war die Beanspruchung von Kafkas Werk in diesem Sinn hoch. Die vergleichsweise weiten experimentellen Grenzen der polnischen Literatur und Kunst der 1960er-Jahre befördern dieses Streben nach Versöhnung des abstrakt-metaphysischen und des zeitgenössisch konkret aktualisierbaren Kafka unter dem Motto der Entfremdung und Verlogenheit der erfahrenen Welt. Es bilden sich zwei Rezeptionsstränge: Auf der einen Seite stehen die metaphysischen Deutungen, welche jeglichen Realitätsbezug der Werke Kafkas leugnen, auf der anderen Seite des Spektrums der Literaturkritik stehen Autoren, die einen solchen einfordern. (Sommerfeld 2003: 141)

Vor allem die Theaterinszenierungen werden in den 1960er-Jahren unter ersterer, in den 1970er-Jahren dann verstärkt unter letzterer Perspektive bespro-

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chen. Tadeusz Różewicz, dessen Stück Świadkowie albo nasza mała stabilizacja [Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung] von 1964 den 1960er-Jahren unter dem Motto von Gomułkas „Dość wiecowania!“ [Genug der Versammlungen!] den Namen verliehen hatte, nahm mit seinen Kafka-Stücken Odejście głodomora [Der Hungerkünstler geht, 1976] und Pułapka [Die Falle, 1979] darauf einen im letzten Jahrzehnt der PRL unübersehbaren Einfluss. Różewicz steht damit in einer Reihe literarischer Auseinandersetzungen mit Kafka und seinem Werk, die in den 1930er-Jahren mit Bruno Schulz ihren Anfang genommen hatte. Typisch für die 1960er-Jahre ist Tadeusz Brezas experimentell angelegter Roman Urząd [Die Behörde, 1960; dt. 1962 als Audienz in Rom 1962], in dem die Unzugänglichkeit des Kafkaschen Schlosses durch jene des Vatikans ersetzt wird (Sommerfeld 2007: 100-104). Breza, der von 1955 bis 1959 als Kulturattaché in Rom tätig gewesen war, repräsentiert literarisch die Art und Weise der Kafka-Rezeption der Umbruchsjahre nach dem Tauwetter in der gleichsam realistischen Variante. Eine komplizierte kirchenrechtliche Angelegenheit führt den Protagonisten nach Rom, wo der Vatikan Pius’ XII. als die Behörde schlechthin präsentiert wird. Der Klappentext der deutschen Übersetzung warb mit einer Rezension aus der Nowa Kultura, in der die Hereinholung des Kafkaschen Themas ins Diesseitige begrüßt wurde: Wenn wir die Motive des Romans untersuchen, so fallen uns gewisse Ähnlichkeiten auf. Aber ja! Das erinnert doch sehr an Kafkas ‚Schloß‘. Doch nur an eine Seite des Kafkaschen Romans. Brezas ‚Urząd‘ ist das Schloß, ins Realistische transponiert. Breza hat die kahlen Strukturen Kafkas in ein klares historisches und soziales Gewand gekleidet. Und das entscheidet über die Wahrhaftigkeit des Bildes [zit. nach Klappentext der dt. Ausg. von 1962].

Aus dem Exil setzt Gustaw Herling-Grudziński, der 1953 mit Inny świat. Zapiski sowieckie [Welt ohne Erbarmen. Sowjetische Aufzeichnungen] einen zentralen Text der polnischen Lagerliteratur veröffentlicht hatte, etwas andere Akzente, betont aber die im totalitären Polen als Bestandteil des Ostblocks unumgängliche realistische Lektüre Kafkas. Breza als PRL-Kulturfunktionär wählt den Vatikan, Herling-Grudziński dagegen erklärt 1967 in der Pariser Kultura aus seiner eigenen Lagererfahrung (1940-1942) heraus, Kafkas Strafkolonie könne nicht als gänzlich abstrakter Text gelesen werden. Auch Mieczysław Kurpisz geht mit seinem Roman Dochodzenie [Die Ermittlung, 1984] in eine ähnliche Richtung, wenngleich in den 1970er-Jahren die Überzeugung von der politischen oder ideologischen Relevanz von Literatur nicht mehr so stark ausgeprägt war wie noch im vorangegangenen Jahrzehnt (Sommerfeld 2007: 112-116). Ob im Land oder im Exil – die polnischen Kafka-Rezipienten nach 1956 stehen sämtlich vor der Frage einer aktualisierenden oder einer abstrahierenden Lektüre von Kafkas Werk.

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Różewicz dürfte sich vor diesem Hintergrund als eindringlichster KafkaLeser der polnischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweisen. Während die polnische Literaturwissenschaft bis zum Ende der PRL ziemlich am Rand des Kafka-Geschäfts zu finden war, fand die Befassung mit Kafkas „arcydzieła“ [Meisterwerken] in der Literatur selbst sehr wohl statt. Stefan H. Kaszyński urteilt in aller Strenge: Relativ wenig hatte für die Kafka-Popularisierung und Neuinterpretation die polnische Universitätsgermanistik geleistet. Es entstand keine einzige Kafka-Dissertation […]. Die Tatsache, dass Kafka weit populärer bei Kritikern und Schriftstellern als bei den Universitätsliteraturforschern bleibt, ist wohl auch ein polnisches Rezeptionsphänomen. (Kaszyński 1991: 39f.)

Różewicz hatte sich schon bald nach dem Krieg mit Kafka auseinandergesetzt. So war er 1949 nach Prag gereist mit dem Ziel, ein Kafka-Buch zu verfassen. Wenngleich dieses nie entstand, so schlug sich sein „intertextueller Dialog“ (Sommerfeld 2007: 121) mit Kafka doch in den wichtigen späten Dramen auf nachhaltige Weise nieder. Odejście głodomora transponiert – in ironischer Kommentierung der polnischen Versessenheit nach Fleisch – Elemente aus Kafkas Hungerkünstler in die gegenwärtige Problematik des primitiven Massenkonsums. In Różewiczs Drama vollzieht sich somit eine Schwerpunktverschiebung zugunsten einer kritischen Darstellung der zeitgenössischen Massengesellschaft, die einen der Fixpunkte im Schaffen des polnischen Autors darstellt. Die herrschende Verrohung und Abstumpfung gegenüber fremdem Leid werden als Folge des Krieges gekennzeichnet. Der unablässige Fleischverzehr will als Chiffre für die Primitivität der den Hungerkünstler umgebenden Menschen verstanden werden, die Diskurse der Printmedien ersetzen das eigenständige Denken. (Sommerfeld 2007: 123)

Die Rolle der Kunst in dieser nicht so sehr am Totalitarismus als an der ungehemmten Vermassung und Banalisierung der Gesellschaft krankenden Welt ist prekär geworden. Różewiczs Hungerkünstler tritt in Einlösung der pessimistischen Einschätzung des Autors von der Bühne ab. Die bewusst exponierte enge intertextuelle Verflechtung mit dem Prätext thematisiert formal den inhaltlichen Ansatz des Stücks: Literatur und Kunst im Zeitalter der beliebigen Reproduzierbarkeit von Versatzstücken der Kulturgeschichte stehen unter dem Generalverdacht der Epigonalität. Einzig möglicher Ausweg scheint – in den späten 1970er-Jahren – das mit allem Ernst betriebene intertextuelle Spiel zu sein. Kafka wird für Różewicz also zur Operationsbasis für die Gestaltung eines in der Spätphase der PRL für die polnische Literatur insgesamt dominierenden Themas: der Machtlosigkeit des erschöpften Intellektuellen gegenüber einem so stumpfen wie brutalen System.

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Pułapka wiederum motivierte zwanzig Jahre später Anna Bolecka zu ihrem Briefroman Kochany Franz [Geliebter Franz, 1999]. Wolfgang F. Schwarz (2006: 66f.) erkannte in beiden Texten als spezifisch, „wie die zum (post-)modernen Mythos gewordene Figur Kafka mit poetischen Verfahren unterschiedlich (re- oder de-)konstruiert und dabei in einen erweiterten historischen Zusammenhang gestellt wird“. Dabei fallen zwei möglicherweise komplementäre, ästhetisch aber voneinander abweichende Lösungen an: auf der einen Seite der zeitkritisch aufrührende, ins Allegorische ausgreifende, illusionsbrechende Gestus bei Różewicz, der, die Potenzen szenischer Verfremdung ausreizend, den Rezipienten zur distanzierenden Reflexion drängt, auf der anderen bei Bolecka der Gestus des einfühlend-illusionsträchtig durchgehaltenen ‚autobiografischen Paktes‘ […] mit ‚ihrem‘ Franz – ein Pakt, den sie weitgehend ungebrochen an den Leser weiterreicht. (Schwarz 2006: 79)

Insgesamt verläuft die Kafka-Rezeption in Polen also mit einer Kontinuität, die analog zur Geschichte der polnischen Literatur im 20. Jh. insgesamt zu betrachten ist. Die wache Aufmerksamkeit der Literaturszene der Zwischenkriegszeit für europäische, ja weltweite literarische und künstlerische Tendenzen bestätigt sich an der vergleichsweise hohen Präsenz Kafkas im polnischen literarischen Diskurs. Ebenso typisch ist der Verlauf der teils camouflierten ‚Wiedereingliederung‘ Kafkas in das Diskussionsreservoir der späten 1950erJahre vor dem Hintergrund der sehr viel schärferen Kontroversen um einen Autor wie Joseph Conrad, an dem sich die ideologischen Geister gerade auch deshalb stärker schieden, weil Conrad ähnlich wie Kafka für die Tschechen als sprachlich gleichsam verlorener, unter der sprachlichen Hülle aber möglicherweise als ‚eigener‘ Autor gefasst werden konnte. Die noch bis in die späten 1980er-Jahre hinein verbindliche Alternative zwischen abstrakter und konkret auf die ‚polnische Sache‘ bezogener Lektüre der Kafkaschen Texte steht gleichermaßen für die Rezeptionsgewohnheiten der postromantischen polnischen Leser, für die angesichts der polnischen Haltung gegenüber einem so anonymen wie übermächtigen Antagonisten wie der ‚Teilungsmacht‘ Sowjetunion, angesichts der patriotischen Widerstandstradition der vergangenen fast zweihundert Jahre eine existentialistisch-westliche Deutung Kafkas nur bedingt in Frage kam. Als wichtigste Zäsuren dürfte man insofern die Jahre 1939 und 1949 ansehen – ersteres als Jahr der Septemberkampagne und der damit beginnenden Weltkriegskatastrophe, letzteres als Anfang der späten und in Polen ja nicht sehr lange erfolgreich gewesenen sozialistisch-realistischen Umerziehung ästhetischer Wahrnehmungsgewohnheiten. Auf beide Zäsuren reagiert die polnische Kultur mit nachgerade verblüffenden Selbstheilungsmechanismen: Die deutsch-sowjetische Besatzung löst einen romantischen

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Backlash aus, der für Kafka zeitweise kaum Verwendung findet; die „Familienschande“ (so könnte man Jacek Trznadels 1986 unter dem Titel Hańba domowa erschienenen Interviews mit polnischen Schriftstellern zum Stalinismus übersetzen) Sozialistischer Realismus hingegen wird nach 1956 vorerst gleichsam eingekapselt, um nach 1990 umso chirurgischer autopsiert zu werden. Um Kafka zu streiten, bedeutet Ende der 1950er-Jahre also etwas ganz anderes, als um sein Verfremdungspotential oder seine emotionale Vergegenwärtigung mit den ästhetischen Mitteln der Spätmoderne zu fechten. Die nicht eben wuchtige, aber kontinuierliche Präsenz von Kafkas Werk spricht einerseits für die Kommunikativität, andererseits für die Autonomie der polnischen Literatur und Kultur. Die vergleichsweise früh einsetzende Aufmerksamkeit für Kafka bricht bis in die Gegenwart nicht ab, produziert allerdings, wie zu vermuten steht, insgesamt einen für die polnischen Verhältnisse domestizierten Autor, der mit dem Kafka-Bild in anderen nationalliterarischen Rezeptionslinien nur bedingt vergleichbar scheint.

Literatur: Berman, Izydor (1936): Proza Franza Kafki [Franz Kafkas Prosa]. – In: Skamander 1936/68-69, 179-187. Góral, Halina (1976): Recepcja twórczości Franza Kafki w Polsce Ludowej (19451970) [Rezeption der Werke Franz Kafkas in der Volksrepublik Polen]. – In: Germanica Wratislaviensia 26, 141-163. Gromała-Rucka, Ewa (1984): Kafka-Rezeption in Polen in der Zwischenkriegszeit. – In: Germanica Wratislaviensia 19, 169-175. Karst, Roman (1958): Franz Kafka. Studium. – In: Twórczość [Das Schaffen] 14, 78110. Karst, Roman (1960): Drogi samotności. Rzecz o Franzu Kafce [Wege der Einsamkeit. Rede über Franz Kafka]. Warszawa: Czytelnik. Kaszyński, Stefan H. (1991): Franz Kafka in Polen. Aspekte der Rezeption und Nachwirkung. – In: Winkler, Norbert/Kraus, Wolfgang (Hgg.), Franz Kafka in der kommunistischen Welt (= Schriftenreihe der Franz Kafka-Gesellschaft, 5). Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 32-45. Lewoń, Janusz (1982): Pożytki ze światła komet. Recepcja twórczości Franza Kafki przez polską krytykę literacką lat pięćdziesiątych [Nutzen vom Licht der Kometen.

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Die Rezeption der Werke Franz Kafkas durch die polnische Literaturkritik der Fünfzigerjahre]. – In: Akcent 2, 59-65. Prokopówna, Eugenia (1985): Kafka w Polsce międzywojennej [Kafka im Polen der Zwischenkriegszeit]. – In: Pamiętnik Literacki [Literarischer Almanach] 1985/4, 89-132. Prędski, Artur (1927): Arcydzieło Franza Kafki [Ein Meisterwerk Franz Kafkas]. – In: Wiadomości Literackie [Literarische Nachrichten] 38, 2. Pryt, Karina (2010): Befohlene Freundschaft. Die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen 19341939. Osnabrück. Warschau: Dt. Hist. Inst. Schwarz, Wolfgang F. (2006): Polens Kafka: Tadeusz Różewiczs Drama ‚Pułapka‘ und Anna Boleckas Roman ‚Kochany Franz‘ – zwei Möglichkeiten literarischen Rewritings. – In: Marszałek, Magdalena/Nagórko, Alicja (Hgg.), Berührungslinien. Polnische Literatur und Sprache aus der Perspektive des deutsch-polnischen kulturellen Austauschs (= westostpassagen, 2). Hildesheim: Olms, 65-81. Sommerfeld, Beate (2003): Die Rezeption Franz Kafkas in der polnischen Literaturkritik. – In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2003, 119-164. Sommerfeld, Beate (2007): Kafka-Nachwirkungen in der polnischen Literatur. Unter besonderer Berücksichtigung der achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts (= Posener Beiträge zur Germanistik, 14). Frankfurt/M.: Lang. Walas, Teresa (2003): Zrozumieć swój czas. Kultura polska po komunizmie [Seine Zeit verstehen. Polnische Kultur nach dem Kommunismus]. Kraków: Rekonesans. Watrak, Jan (1992): Ein literarisches Schicksal. Franz Kafka in Polen: 1945-1982. – In: Ders., Gestern und heute. Studien zur deutschen Literatur der Zeit. Gdańsk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 141-159.

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Roman Karst, Teilnehmer der Kafka-Konferenz in Liblice I. Nach der Kafka-Konferenz in Liblice lud ich als Leiter des wissenschaftlichen Studentenzirkels am Germanistischen Institut der Warschauer Universität Roman Karst mit der Bitte ein, uns über diese Konferenz zu berichten. Ich war damals Student des dritten Studienjahres. Er teilte uns über die Konferenz allerdings herzlich wenig mit. Es schien, als würde er deren politische Bedeutung nicht sehen, obwohl er – wie aus der Darstellung von Klaus Hermsdorf hervorgeht – gegen Werner Mittenzweis Formulierung, Kafka gehöre dem kritischen Realismus an, heftig protestiert hatte.1 Uns gegenüber sprach Karst dagegen immer wieder von der Wanze [pluskwa] in der Verwandlung und von dem Sinn dieser Erzählung. Ich und auch einige Studentinnen waren irritiert. Hatte sich Gregor Samsa wirklich in eine Wanze verwandelt, fragten wir uns. Da wir den Text nicht vor uns hatten, protestierten wir nicht. Und so blieb als wichtigste Erinnerung an das Treffen die vermeintliche Wanze. Ich traf Roman Karst noch mehrmals bei verschiedenen Anlässen. Vor allem wurde er, wie es schien, ein recht enger Freund des Leiters des Österreichischen Kulturinstituts, Fritz Cocron, der ihm auch weiterhalf, als er infolge der im Frühjahr 1968 von der Partei initiierten antisemitischen Kampagne ein Jahr später Polen verließ. Ich gehörte zu denjenigen, die an den demonstrativen Abschieden auf dem Danziger Bahnhof in Warschau teilnahmen. Natürlich begab ich mich auch dorthin, als Karst mit seiner Tochter in den Zug in Richtung Wien einstieg. Später fragte ich mich immer wieder, was der Grund dafür war, dass Karst die politische Bedeutung der Kafka-Konferenz in Liblice nicht wahrnahm. Dass er sie nicht wahrnehmen wollte, schließe ich aus, denn er hätte in jener 1 „Als Nächstes hörte ich in rauem, aber gut verständlichem Deutsch den polnischen Publizisten Roman Karst, der sich mit unbestimmter, aber sarkastischer Entschiedenheit gegen Meinungen aus der DDR wandte und zu Mittenzwei nur zu bemerken hatte, ‚daß dieser große Dichter nicht immer in ‚odore sanctitatis‘ stand‘, jetzt aber könne man ‚ihn schon gegen Kafka zitieren‘.“ (Hermsdorf 2006: 156)

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Zeit in Warschau nichts riskiert, wenn er darüber gesprochen hätte. Ich nehme an, dass er durch das freie Klima, das in Polen seit 1956 herrschte, die Vorstellungskraft verloren hatte, dass solch eine Konferenz politische Ausmaße annehmen könnte. Er hatte seine eigene Tätigkeit als Verkünder des sozialistischen Realismus so sehr verdrängt, dass er den Blick für die Realität sowohl im sogenannten sozialistischen Lager wie auch in Volkspolen verloren hatte. Roman Karst wurde 1911 in Tyczyn, einer Ortschaft bei Rzeszów, in einer jüdischen Familie unter dem Namen Adolf Tischman[n] geboren. Sein Vater Nafali Tischman war Buchhalter. Seine Mutter trug ursprünglich den Vornamen Chaje, später Bronisława. Adolf Tischman besuchte in Tyczyn sowohl die Grundschule wie auch das Gymnasium. Von 1931 bis 1935 studierte er Jura an der Jagiellonen-Universität. Er geriet 1939 in sowjetische Gefangenschaft und verbrachte die nächsten Jahre in einem sibirischen Arbeitslager, dem er schließlich entkam, indem er in die in der Sowjetunion gebildete Polnische Volksarmee eintrat. Er gehört wahrscheinlich zu jenen, die Berlin eroberten. Nach dem Krieg begann er, unter dem Namen Roman Karst Literatur aus dem Russischen und Deutschen zu übersetzen und über sie zu schreiben. Er wurde schnell Redakteur, zuerst der Nowiny Literackie [Literarische Neuigkeiten] (1947/1948), dann der damals berühmten Zeitschrift Kuźnica [Schmiede] (1949-1952), die heftigst für die Durchsetzung des sozialistischen Realismus kämpfte. Führend in der Zeitschrift waren Stefan Żółkiewski und Jan Kott. Letzteren kennt man im Westen vor allem als Verfasser des Buches Shakespeare heute, das 1964 bei Langen Müller erschienen war. Ein Jahr später brachte es Piper in erweiterter Form mit einem Vorwort von Peter Brook heraus. Brook hatte dieses Vorwort zu der englischen Ausgabe von 1964 verfasst. Er schreibt dort, das Buch sei für die „Welt der Wissenschaft“ ein „wertvoller Beitrag“, für die „Welt des Theater ein unschätzbarer.“ (Kott 1965: 10) Kott trete als Zeitgenosse Shakespeares und Shakespeare als Zeitgenosse Kotts auf. Zu Beginn der 1950er-Jahre wurde Kott dagegen in der DDR als Theoretiker des sozialistischen Realismus hochgelobt. Auch Roman Karst tat an der Seite von Żółkiewski und Kott alles, um diese neue Ideologie durchzusetzen. 1949 erschienen seine Übertragungen: die Erzählungen über Felix Dzierzynski (Opowiadania o Feliksie Dzierżynskim), den Begründer der Tscheka, verfasst von Jurij German, die Schrift Walka o realizm socjalistyczny w plastyce radzieckiej [Der Kampf um den sozialistischen Realismus in der sowjetischen Plastik] von P. M. Sysoev, ein Jahr später Bitwa stalingradzka. Scenariusz literacki [Die Schlacht um Stalingrad. Ein literarisches Szenarium] von Nikolaj Virta und So begann es [Tak się zaczęlo] von Friedrich Wolf. 1951 folgte die Übersetzung des Romans Aleksander Matrosów von P. Żurba [Shurba]. Ein Jahr zuvor war Karst noch als

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Adolf Tischmann der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei beigetreten. Der offizielle Namenswechsel von Adolf Tischmann zu Roman Karst erfolgte 1955. Sein erstes eigenes Buch erschien 1952. Es war eine Biographie über Lew Tolstoi. Ein Jahr später gab er einige seiner Essays über russische und deutsche Literatur Pisarze i ksiązki. Szkice z literatury rosyjskiej i niemieckiej [Schriftsteller und Bücher. Skizzen zur russischen und deutschen Literatur] heraus. Sie sind durch und durch in der damaligen Konvention verfasst. Die grundlegenden Fragen waren: Wie stand der besprochene Dichter zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, sah er sie kritisch, kämpfte er für den Fortschritt? Zu Goethe, über den Karst anlässlich des 200. Geburtstages einen längeren Essay verfasste, heißt es, dass er zwar die bourgeoise Revolution nicht verstanden habe, er aber die deutsche Enge sah und auch versuchte, gegen sie anzugehen. Vor allem habe er die Welt dialektisch gesehen, „ununterbrochen die mechanistischen Interpretationen bekämpft, die für das Denken des achtzehnten Jahrhunderts typisch waren.“ (Karst 1953: 128) Mehrere Absätze sind Faust gewidmet, der sich von den mittelalterlichen Fesseln befreit habe, um das wahre Leben „im unmittelbaren Erleben und Beobachten“ kennenzulernen: Er gibt sein kleines Zimmer auf, in dem er sich vor der Welt abgeschlossen hatte, und durchbricht den verzauberten Kreis der mittelalterlichen Magie, ihrer Formeln und Dogmen, indem er hinauszieht, um die Wahrheit zu ermitteln, die er in den verstaubten Folien nicht finden kann. Er verwirft die Kontemplation und die intuitive Erkenntnis – bisher halfen sie ihm nicht, in die existentiellen Rätsel einzudringen –, er beschließt durch Praxis und Handeln zu dem Kern des Geheimnisses vorzudringen. Dieses Verwerfen des Irrationalismus und der abstrakten Idee erkennen wir deutlich in der Interpretation der Genese der Welt, deren Quelle für Faust nicht das Wort, der Geist oder die Kraft sind, sondern die Tat, das schöpferische Handeln. (Karst 1953: 134)

Ich übersetze absichtlich sehr wörtlich, so holprig schrieben nun einmal die meisten der sich zu der neuen Ideologie bekennenden Kritiker und Schriftsteller. Das Ende von Faust interpretiert Karst im Einklang mit Lukács, den er auch zitiert, als eine große Vision einer künftigen befreiten Menschheit. Goethe überschreite in den Wanderjahren und im Faust sowohl das 18. wie auch das 19. Jahrhundert. Es sei nicht so, wie die bourgeoisen Denker, unter ihnen Karl Jaspers, meinen, dass Faust, als er dem Tod entgegensieht, seinem Zweifel am Menschen Ausdruck verleihe. In dem Buch über russische und deutsche Literatur fehlt es auch nicht an einem Kapitel über die Ansichten zur Literatur von Marx und Engels, den Klassikern des Marxismus. Anlass zu diesem Kapitel war der Band Karl Marx, Friedrich Engels – Über Kunst und Literatur, der 1949 im Ostberliner HenschelVerlag erschienen war. Die Zusammenstellung der Texte stammte noch aus

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der russischen Ausgabe von 1933. Ihr Autor war M. Lifschitz. Karst endet seinen Artikel über Marx und Engels mit dem Satz: Marxens Lehren, die von Lenin und Stalin vertieft wurden, sind ein Wegweiser für die revolutionäre Kunst, die um den Sieg der kommunistischen Gesellschaft‚ der einzigen, in dem die originelle und freie Entwicklung des Individuums keine Phrase darstellt, kämpft. (Karst 1953: 167)

Überraschend ist, dass der Band auch einen Artikel über Thomas Manns Zauberberg enthält. Aber das ist damit verbunden, dass dieser 1953 in einer polnischen Übersetzung erschienen war, zu der Karst das Vorwort verfasst hatte. Thomas Mann galt bekanntlich dank der Bemühungen von Lukács als Vertreter des kritischen Realismus und vor allem als Gegner derjenigen, die den Kommunismus bekämpften. Immer wieder wurde Manns Satz, der Antikommunismus sei die Grundtorheit unserer Epoche, zitiert, wobei man die Einschränkung, die Mann formuliert hatte, wegließ. Karst interpretiert erwartungsgemäß den Roman als ein Werk, in dem der Autor „entschlossen gegen die Niedergangsströmungen der kapitalistischen Kultur und die antidemokratischen Ideen, die dem europäischen Faschismus vorhergingen, kämpfte“, aber diese kritische Sicht habe nicht auf einer „positiven, realen gesellschaftlichen Doktrin“ basiert (Karst 1953: 210). Daher wird Castorp so wie der abstrakte, überhistorisch aufgefasste Humanismus überhaupt Opfer der untergehenden bourgeoisen Welt. Bemerkenswert ist, dass Karst nicht wie sein Kollege Reich-Ranicki, der in Polen unter dem Namen Ranicki auftrat, bereit ist, den Roman von der Form her zu kritisieren. Ranicki schrieb zwei Jahre später in seinem Buch zur deutschen Literatur, dass der Zauberberg „mit einer Riesenmenge von abstrakten Theorien, Konzepten und Informationen aus verschiedenen Wissensgebieten überladen“ sei, hie und da würden sie die Romanform sprengen und, was das Wichtigste sei, das alles trage nicht zu einer klaren Aussage bei. Das habe zur Folge, dass die Lektüre anstrengend ist und „vom Leser eine solide Vorbildung“ erfordere (Karst 1953: 117), was, wie wir wissen, Reich-Ranicki bis zu seinem Tode für etwas Aliterarisches hielt. Karst endet seine Ausführungen mit den Worten, dass wir Thomas Mann eines der reichsten Bilder der bourgeoisen Welt verdanken, der Roman ist sogar in seinen Fehlern eine Widerspieglung der Epoche, er ist eine Art Führer durch die Sackgassen der Ideologie des Bürgertums. (Karst 1953: 118)

Einen ganz anderen Karst erleben wir nach dem XX. Parteitag, als den polnischen Parteigenossen Chruschtschows Geheimrede zugänglich gemacht wurde, und vor allem unmittelbar vor dem VIII. Plenum im Oktober 1956 der Polnischen Vereinigten Arbeitpartei, als Władysław Gomułka Erster Parteisekretär

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wurde. Mitte Oktober hatte sich Karst zusammen mit Ranicki in die DDR begeben. Sie waren anlässlich des 100. Todestags von Heinrich Heine eingeladen worden. Beide trafen dort mit bekannten Schriftstellern im Rahmen des DDR-Schriftstellerverbands zusammen. Die beiden Polen waren über die Art, wie in diesen Tagen über ihr Land in der Presse berichtet wurde, beunruhigt. Bei dem Treffen, an dem zur Überraschung der beiden auch der sowjetische Autor und Kunstideologe Alexander Dymschitz teilnahm, kam Karst u.  a. auf die neuen polnischen literarischen Texte zu sprechen, in denen die stalinistischen Verbrechen thematisiert wurden. Nach dem über dieses Gespräch angefertigten Protokoll sagte er: Wenn Sie das alles lesen, spüren Sie ein trauriges Gefühl. Ich habe darüber mit [Mieczysław] Jastrun gesprochen, und er hat mir geantwortet, er könne nicht anders. Er meint, man müsse einen mit bitterem Wein gefüllten Becher austrinken, damit man ihn mit einem neuen anderen Wein füllen kann. Ich hatte auch mit anderen Kollegen gesprochen, und auch sie sagten: wir können nicht anders, unser Herz ist verbittert, wir müssen das alles aussprechen, wenn wir nicht lügen wollen. Sie werden in diesen Versen sehr viel Gespenster, sehr viel Tote finden. [...] Was für Gespenster sind das? Das sind die Gespenster der Toten, der toten Genossen, die unschuldig in den Gefängnissen umgekommen sind in den Jahren 1949 bis 1954, die vor dem zweiten Weltkrieg als Opfer des Stalinismus fielen usw. Wirklich hat die ganze Literatur einen tragischen Charakter. Wenn ich über die Tragik spreche, dann soll man es nicht so verstehen, dass es eine kosmisch bedingte Tragik ist. Doch spürt man in vielen Werken, daß es eine Tragik ist, die einen guten Ausweg sucht für das polnische Volk und das Empfinden eines polnischen Dichters. (Brandt 2002: 133f.)

Karst veröffentlichte später in der Monatszeitschrift Twórczość [Das Schaffen] einen Bericht über seine Eindrücke in der DDR. Verallgemeinernd schrieb er: Auf Schritt und Tritt verfolgte mich ein Gefühl von Einsamkeit, das vom Bewußtsein des großen Unterschieds in der Entwicklung des literarischen Lebens beider Länder vertieft wurde. Nach 1949 wies der politische und literarische status quo in den volksdemokratischen Ländern erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Die unsinnigen und mythischen Schemata im literarischen Leben Polens und der DDR waren mutatis mutandis fast deckungsgleich. Nach 1954 verwandelten sich die Analogien in Gegensätze. Die deutschen Schriftsteller begründeten dies mit den unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen und beriefen sich dabei vor allem auf die Teilung des Landes. Mit anderen Worten: Beim Begehen von Fehlern waren wir trotz der unterschiedlichen Lebensbedingungen solidarisch, bei der Korrektur der Widersinnigkeiten gingen wir aufgrund der unterschiedlichen Lebensbedingungen verschiedene Wege. Außerdem konnte ich mich des Anscheins nicht erwehren, daß sich polnische Schriftsteller viel lebhafter als ihre deutschen Kollegen für politische Probleme interessieren. Wir haben es geschafft, uns das Recht und die Möglichkeit zu erkämpfen, unsere Gedanken offen auszusprechen. Auf der anderen Seite der Oder fällt es gegenwärtig schwer, davon nur zu träumen. Es ist z.B. bezeichnend, daß die Broschüre mit der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag für die große Mehrheit der Genossen unter den Schriftstellern – von anderen Parteikreisen gar nicht zu reden – ein Buch mit sieben

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Siegeln darstellt. Hier wurde nach dem Prinzip ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘ verfahren. Doch wer es wissen will, der weiß es. Man kann die Broschüre in Westberlin für 30 Pfennig kaufen, selbstverständlich die amerikanische Fassung. (zit. n. Brandt 2002: 561f.)

Interessant ist auch ein Brief, den Karst am 11. November 1956 an Ernst Bloch gerichtet hatte. Karst lobt darin den Philosophen dafür, dass er es gewagt habe, etwas Positives über Polen zu schreiben (Brandt 2002: 181). Ich zitiere hier den Brief in der Übersetzung von Carola Bloch: Diesen Brief zu schreiben hat mich die Zeitschrift Nr. 45 der Wochenschrift ‚Sonntag‘ veranlaßt, in der unter den Aussagen zu ungarischen Ereignissen ich auch Ihre Worte, Herr Professor, gelesen habe. In dem Meer der Dunkelheit, das sich über die Presse der DDR angesichts der Ereignisse in Polen und Ungarn ergossen hat, ist Ihre Stimme der einzige Lichtstrahl. Das, was die Zeitungen der Deutschen Demokratischen Republik über die Ereignisse in Polen als passend zu schreiben erachteten, ist entweder Verleumdung oder Fälschung. Anfangs bezeichnete man die Veränderungen in unseren [sic!] Lande als das Werk ‚imperialistischer Agentur‘, und als diese These unhaltbar wurde, hat man gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Endlich haben Sie als erster deutlich die Revolution in Polen mit den Worten ‚Sozialistische Erneuerung‘ bezeichnet, wodurch Sie die volle Anerkennung dafür zum Ausdruck brachten, was bei uns geschah. Es freut mich auch, daß Sie – als einziger – über Ungarn ein paar Worte gesagt haben, welche sonst keinem deutschen Intellektuellen aus dem Schlunde[2] kamen. Sie alle schreiben über die Verbrechen der Faschisten, aber keiner wagte die Frage zu beantworten: wer hat den Faschisten die Rückkehr ermöglicht, wer hat ihnen den Weg für ihre blutige Schau geebnet? Wieso ist nach zwölf Jahren Bestehens der Volksmacht in Ungarn das ungarische Volk mit den Faschisten gegen die Volksmacht gegangen? Sie als einziger sagen, man dürfe es nicht so weit kommen lassen, daß eine Explosion erfolgt. Man dürfe nicht in der Lüge verharren und sich vor den Konsequenzen des XX. Parteitages zurückziehen. Kann jedoch eine Schwalbe den Frühling machen? Tiefe Trauer ergreift den Menschen, wenn er Eure Presse liest. Jedes Wort windet sich wie eine Schnur um den Hals. Ich drücke meine Achtung für Ihre Ehrlichkeit und Ihren Mut aus. Roman Karst

2 Leider ist es nicht gelungen, den Brief in der Originalfassung zu finden. Vermutlich hat Roman Karst hier das Wort „gardło“ verwandt, das auch mit „Kehle“, „Hals“ oder „Rachen“ übersetzt werden kann (Brandt 2002: 181f.).

Roman Karst, Teilnehmer der Kafka-Konferenz in Liblice

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II. Roman Karst bereitete in der Folgezeit ein Buch über Kafka vor, das er 1960 unter dem Titel Drogi samotności. Rzecz o Franzu Kafce [Wege der Einsamkeit. Über Franz Kafka] in einem angesehenen polnischen Verlag herausgeben konnte, welches allerdings wenig Aufmerksamkeit erweckte. Zu Kafkas Verwandlung lesen wir dort, dass Gregor Samsa so wie Kafka lungenkrank war und an anderer Stelle, dass er sich in einen Wurm [robak] (keine Wanze) verwandelt hatte (Karst 1960: 35, 72). Eine erstaunliche Beobachtung! Auf der gleichen Seite erfahren wir auch, dass die Frieda im Schloß ein groteskes Abbild der Milena sei (Karst 1960: 35). In einem nächsten Kapitel geht Karst jedoch ausführlicher auf die Verwandlung ein. Gregor Samsa habe mit dem bisherigen Leben gebrochen, lesen wir dort. Als er auf sein Leben zurückblickte, musste er erkennen, dass er ein völlig entfremdetes Dasein geführt habe. „Die Besonderheit der Novelle“, führt Karst aus, beruhe jedoch darauf, dass sich das Drama von Samsa nicht in Form einer inneren Reflexion [abspiele], sondern in der Gestalt eines unerhörten Bildes, das die innere Projektion seiner seelischen Erlebnisse darstellt. Diese Methode hat nichts mit dem Surrealismus gemein. Samsas neue Verkörperung bildet eine metaphorische Kontinuität seines bisherigen Lebens, das er bis hin zu seinen Grenzen geführt hatte; es ist ein bildhaftes Zeichen einer maximalen Entfremdung. Samsa ist sowohl er selber wie auch ein ‚Wurm‘, für sich selbst und seine Umgebung unverständlich, etwas Fremdes und Furchtbares. (Karst 1960: 73)

Es folgt der verallgemeinernde Satz: Die absolute Negation […] ist eine gefährliche Waffe. Sie wendet sich im allgemeinen gegen den, der sie sucht. Sie zerstört alle Figuren Kafkas und am Ende schont sie auch den Autor nicht. (Karst 1960: 74, der gleiche Satz wird auf S. 176 wiederholt)

Es entsprach der damaligen Zeit, alles vom Gesichtspunkt der Entfremdung zu erörtern. Bis 1956 galt das kapitalistische System als das eo ipso entfremdete. Der Mensch war dadurch, dass er förmlich zur Ware wird, sich selbst entfremdet. Erst mit Abschaffung der Warenwirtschaft könne er nach der Marxschen Lehre wieder zu sich gelangen. Nun entdeckte man, dass es auch im Sozialismus Entfremdung gab – zugespitzt sollte es dann der ehemalige verbissen marxistische Philosoph Adam Schaff zum Ausdruck bringen, der besonders deutlich von der Alienation im Sowjetsystem sprach. Karst überträgt diese Kategorie auf die Kafkaschen Gestalten und auf Kafka selber, ohne allerdings bereits auf die Entfremdung im realen Sozialismus einzugehen. Heute würde man das anders sehen. Man würde wahrscheinlich erklären, dass der aus einer jüdischen Familie stammende Tischman, der sich in einen

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Roman Karst verwandelte, in besonderer Weise Entfremdung spüren musste. Persönlich würde ich dieser Spur nicht folgen, sondern eher die Meinung vertreten, dass Karst die Texte nach einem neuen Muster las, einst nach dem des sozialistischen Realismus, jetzt nach dem der Entfremdungstheorie. Eine genaue philologische Lektüre der Texte bleibt ihm fremd. Er ist bereit, aus ihnen etwas herauszulesen, was – weiß Gott – in ihnen nicht steht. Sicherlich bedeutet dieses Buch für Karst einen Schritt zur Selbstbefreiung von der Doktrin des sozialistischen Realismus. Man spürt immer wieder, wie er mit sich kämpft, die Bilder Kafkas einerseits als Traumgebilde, phantastische Einfälle vorzustellen, in denen die sogenannte Wirklichkeit negiert wird, er aber zugleich versucht, sie als einen Weg hin zum Positiven auszulegen. Sie würden nicht ins Transzendente führen, sondern zurück in die Gesellschaft. Da heißt es im zweiten Kapitel, dass Kafka mit seinen Parabeln „stets den allgemeinen, endgültigen und maximal objektivierten Sinn des Lebens“ suche (Karst 1960: 55). Gleichzeitig wird betont, dass die Parabeln vieldeutig bleiben, um dann aber wieder zu erklären, dass Kafka die Überzeugung gehegt habe, „das höchste Ziel des menschlichen Strebens“ sei „die Schaffung solcher Bedingungen, die die Freiheit und die Herrschaft der Wahrheit garantieren.“ (Karst 1960: 63) An anderer Stelle lesen wir dagegen: Kafka sieht in der Negation nicht nur die erfolgreichste Waffe im Kampf um die Wahrheit, sondern auch die einzige Möglichkeit, sie zu erkennen und sie zu benennen. Nirgends, weder in der belletristischen Prosa noch in den Aphorismen und im Tagebuch finden wir eine positive Definition des Ziels, zu dem seine Gestalten streben. (Karst 1960: 76)

Trotzdem möchte Karst immer wieder Eindeutigkeit erlangen, wobei er nicht zwischen persönlichen Bekenntnissen Kafkas und Aussagen seiner fiktiven Gestalten unterscheidet. Am Ende kommt er zu dem Schluss, dass Kafka zufolge der Mensch nicht ohne einen Glauben an etwas Unzerstörbares in sich, wenn es auch unerkennbar und unerreichbar ist, leben kann (Karst 1960: 181f.). Eine Sünde sei nicht die Tat, „sondern Tatenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Entschlusslosigkeit, die Vorgabe, man habe ein reines Gewissen.“ (Karst 1960: 182) Von der Pflicht zur Aktivität werde man nicht durch Mangel an eigner Kraft und auch nicht durch die Möglichkeit einer Niederlage oder gar der Vernichtung befreit. Karst kann daher sein Buch mit dem Satz abschließen: Der Versuch, die Welt zu verändern, endet mit einer Niederlage, zu der sich der Autor [d. h. Kafka – K. S.] mit Bitterkeit und gänzlicher Offenheit bekennt. Es ist jedoch eine Niederlage, die in einem Kampf mit äußerster Willensanstrengung und Hingabe davongetragen wird. (Karst 1960: 184)

Roman Karst, Teilnehmer der Kafka-Konferenz in Liblice

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Ist dieser Satz, fragt man sich, als ein Bekenntnis zu der eigenen Niederlage gemeint, die ein Roman Karst im Kampf um den Sieg des Sozialismus davongetragen hatte?

III. Dass Karst den Teilnehmern unseres wissenschaftlichen Zirkels nichts über die politische Relevanz der Kafka-Konferenz in Liblice zu berichten wusste, obwohl er sich dort in der Diskussion politisch sehr engagiert hatte, wie mir in Prag vor kurzem erzählt wurde, interpretiere ich damit, dass Polen im Jahre 1963 kulturell relativ frei war – es war die Zeit, als im Westen polnische Filme und Theaterstücke große Erfolge feierten –, in der Kafka kein Politikum mehr darstellen konnte. Erst ein Jahr später sollte es zu der berühmten Aktion gegen die Zensureingriffe kommen, als 34 Schriftsteller und Professoren in einem kurzen Schreiben an den Ministerpräsidenten gegen die Beschränkung der öffentlichen Meinung Einspruch erhoben. Die Machthaber reagierten mit harten Maßnahmen, die aber nicht zu der erhofften Einschüchterung führten.3 Karst nahm nach einer gewissen Zeit auch an den zunehmenden Protesten gegen den erneuten Rückfall in das alte, die Meinungsfreiheit einschränkende System teil. Als der Philosoph Leszek Kołakowski 1967 wegen seiner Kritik an Władysław Gomułkas repressiver Politik aus der Partei ausgeschlossen wurde, solidarisierte sich Karst zusammen mit achtzehn anderen z. T. bekannten Schriftstellern, die der Partei angehörten, gegen diesen Ausschluss. Die Folge war, dass auch er aus der Partei ausgeschlossen wurde bzw. er nach den Gesprächen austrat (Fik 1989: 392). Ein Jahr später wurde er, wie gesagt, Opfer der antisemitischen Hetze. 1969 verließ er zusammen mit seiner Tochter Polen. Er wurde später dank der Hilfe des schon genannten Cocron Professor für slawische und germanische Literaturwissenschaft an der State University of New York in Stony Brook.

3 Siehe hierzu das Kapitel Der Kampf mit der Zensur in Volkspolen bei Sauerland (2006: 77-90).

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Literatur Brandt, Marion (2002): Für eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die Solidar­ ność-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR. Berlin: Weidler. Fik, Marta (1991): Kultura po Jałcie. Kronika lat 1944-1981 [Kultur nach Jalta. Chronik der Jahre 1944-1981]. Warszawa: Niezależna. Hermsdorf, Klaus (2006): Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten (= Theater der Zeit. Recherchen, 44). Berlin: Theater der Zeit. Karst, Roman (1953): Pisarze i ksiązki. Szkice z literatury rosyjskiej i niemieckiej [Schriftstel­ ler und Bücher. Skizzen aus der russischen und deutschen Literatur]. Kraków: Wyd. lit. Karst, Roman (1960): Drogi samotności. Rzecz o Franzu Kafce [Wege der Einsamkeit. Über Franz Kafka]. Warszawa: Wiedza Powszechna. Kott, Jan (1965): Shakespeare heute. Aus d. Poln. von Peter Lachmann. Frankfurt/M. u. a.: Gutenberg. Sauerland, Karol (2006): Literatur- und Kulturtransfer als Politikum am Beispiel Volkspolens. Frankfurt/M. u. a.: Lang.

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Die versäumte Suche nach einer verlorenen Zeit. Anmerkungen zur ersten Liblice-Konferenz Franz Kafka aus Prager Sicht 1963 Ich glaube, die entscheidende Rolle […] spielt die gründliche wissenschaftliche Erhellung eben jenes Fragenkomplexes, der sich unter der Überschrift ‚Kafka und Prag‘ zusammenfassen ließe. In dieser Hinsicht ist bis jetzt bei weitem noch nicht das entscheidende Wort gesprochen, und hier erwarten den Forscher noch zahlreiche Aufgaben. (Goldstücker 1965b: 35)

1. Kafka als Autor einer Regionalliteratur Die Entscheidung, für die Rubrik Kafka und der Sozialismus in einem Sammelband zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Kafkaschen Texte einen Beitrag über die erste Konferenz von Liblice zu schreiben, ist denkbar unoriginell. Wem wäre unter diesem Stichwort wohl nicht als Erstes jene Tagung zum Thema Franz Kafka aus Prager Sicht 1963 eingefallen, auf der, anders als es der Titel versprach, eigentlich nur darüber diskutiert wurde, wie eine Lektüre Kafkas zu den Bedingungen einer marxistischen Literaturwissenschaft aussehen könnte? Oder, um gleich Eduard Goldstücker als einen ihrer Initiatoren zu zitieren: Die Konferenz sollte zu einem „Baustein für den künftigen festen, marxistisch orientierten Standpunkt über Kafka“ (Goldstücker 1965b: 25) werden.1 Für mich lag es allerdings durchaus nahe, mich noch einmal der ja durchaus nicht vergnügungssteuerpflichtigen Lektüre des zugehörigen Sammelbandes auszusetzen. Auf der von Peter Becher organisierten Tagung Prag – Provinz2 in Liberec haben mein Olmützer Kollege Jörg Krappmann und ich im No1 Im rückblickenden Vorwort, das keine Verfasserangabe hat, ist dies so formuliert: „An der Konferenz nahmen vorwiegend Literaturwissenschaftler teil, die auf dem Boden der marxistischen Weltanschauung stehen und von diesem Standpunkt einen neuen Zugang zum Werk Kafkas erörterten“ (N.N. 1965: 7). 2 Der Gesamttitel der Tagung lautete Prag – Provinz. Zum Spannungsverhältnis zwischen Prager deutscher Literatur und der deutschsprachigen Literatur Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens

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vember 2011 gemeinsam den Eröffnungsvortrag unter dem programmatisch gemeinten Titel Region – Provinz. Die deutsche Literatur Prags, Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens jenseits von Liblice. Mit Anmerkungen zu Franz Kafka als Autor einer Regionalliteratur gehalten. Mit dem letzten Teil des Titels ist dabei das aufgerufen, worum es auch in diesem Beitrag geht. Die ersten beiden Teile des Titels wollten verdeutlichen, dass die auf der zweiten Liblice-Konferenz etablierte oppositionelle Sortierung der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern in eine, wie es die Ankündigung der Reichenberger Tagung (schon mit Vorbehalten) formuliert hat, „ästhetisch anspruchsvolle, demokratisch gesinnte Literatur Prags auf der einen und eine minderwertige, nationalistische Literatur der Provinz auf der anderen Seite“3 untauglich ist, der komplexen Situation der deutsch-böhmischen, deutsch-mährischen und sudetenschlesischen samt Prager deutschen Literatur und ihrem inneren Zusammenhang gerecht zu werden. Ich habe dabei versucht aufzuzeigen, wie die Einleitungsbeiträge von Paul Reimann und Eduard Goldstücker die behauptete Sortierung nach gutem Prag und ‚böser‘ Provinz, die sich unschwer als notwendige Voraussetzung, um Mitte der 1960er-Jahre im kommunistischen Machtbereich überhaupt über deutschsprachige, der Dekadenz verdächtige Autoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts diskutieren zu können, erkennen lässt, selbst, obgleich wohl eher unabsichtlich, unterlaufen. Bei Goldstücker gibt es eine provinzielle Literatur in Prag schon vor, aber eben auch noch während Rilkes Prager Zeit.4 Und sowohl bei Reimann wie bei Goldstücker erscheint Prag außer als Zentrum auch gelegentlich als peripher im Verhältnis zu den Haupt(­Liberec, 10.-12.11.2011). Ein Sammelband zu dieser Tagung ist in Vorbereitung (Becher/ Džambo/Knechtel 2014). 3 Zit. n. (Zugriff: 23.06.2012). 4 Goldstücker schreibt: „Schon vor dem Auftreten R. M. Rilkes gab es in Prag ein reges literarisches Leben, das jedoch über einen guten provinziellen Durchschnitt nicht hinausging“ (Goldstücker 1967b: 22). Später heißt es: „Ich möchte hier darauf hinweisen, dass auch die deutsche Bevölkerung Prags […] in zwei Gruppen zerfiel: in ständige Einwohner und in vorübergehende, deren größten und auch lautesten Teil die aus der Provinz stammenden Studenten der Prager deutschen Hochschulen bildeten. Auch dieser Teil der deutschen Bevölkerung hatte seine Literatur“ (Goldstücker 1967b: 25). Die Argumentation ist durchaus erstaunlich, da es Goldstücker, wie der ganzen zweiten Konferenz von Liblice, um die Rechtfertigung der Einheit des ‚Prager deutsche Literatur‘ genannten Phänomens ging und diese Einheit – abgesehen von einer generellen Entzeitlichung und Enträumlichung – durch die Abgrenzung der Prager deutschen von der provinziellen sudetendeutschen Literatur gerechtfertigt werden sollte.

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städten vermeintlich welthistorischer Völker (Reimann)5 oder konkreter zu Wien6 (Goldstücker), wird gerade deshalb jedoch zum ‚Zentrum‘ eines neuen Zusammenlebens der Völker, das sich in der positiven Haltung der Prager deutschen Autoren zu ihren tschechischen Landsleuten ausgedrückt haben soll. Die beiden Argumente (Prag als Zentrum und Peripherie) gingen jedoch vielleicht in Jurij Lotmans Semiosphären-Modell zusammen, nicht aber in einer Argumentation, die aus der Nichtprovinzialität (und doch peripheren Lage) eine einheitliche, humanistische und antinationalistische Prager deutsche Literatur7 konstruieren will. Mehr noch: Auch die genaue Begründung, warum die Prager deutsche Literatur per se eine „Literatur von Weltinteresse“ (Goldstücker 1967b: 30) 5 Die „welthistorischen Völker“ (diese ‚Kategorie‘ finde sich, so Reimann, nicht nur bei Hegel, sondern auch bei Marx und Lenin) und unter ihnen besonders Deutschland hätten sich selbst die Lizenz zur Hegemonie zugeschrieben. Gleichzeitig sei aber die kulturelle Entwicklung in Deutschland in eine „langandauernde Periode der Stagnation“ geraten. „Der Impuls für neue literarische Entwicklungen geht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr von Ländern aus, die bis dahin nur eine periphere Rolle spielten“ (Reimann 1967: 11). Gemeint ist damit zunächst vor allem Russland; im Weiteren rechnet Reimann aber eben auch die Prager deutsche Literatur zu diesen neuen, von der Peripherie ausgehenden literarischen Entwicklungen. Solche Rechtfertigung der einen Prager deutschen Literatur ist wiederum frappierend. Denn die im Vordergrund stehende Konfrontierung des Zentrums Prag mit dem peripheren Sudetendeutschland erweist sich bei näherem Zusehen eben nur als eine Seite der Medaille. Tatsächlich wird die Einheit der Prager deutschen Literatur auch von der Peripherie her gerechtfertigt – als Stimme gegen den Hegemonieanspruch vermeintlich ‚zentraler‘ Völker, die sich in einer besonderen Form von Interkulturalität zeige, für die Reimann die Übersetzungstätigkeit der Prager deutschen Dichter anführt. 6 Man liest bei Goldstücker: „Prag war die Hauptstadt des (wirtschaftlich, politisch und kulturell) fortgeschrittensten der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns und deshalb auch einer der Hauptschauplätze des Nationalitätenkampfes, dessen Intensität die Prager Deutschen vor allen anderen zu spüren bekamen. Vom Standpunkt des Nationalitätenkampfes lag die Kaiserstadt Wien tief im Hinterland, Prag aber in der vordersten Frontlinie“ (Goldstücker 1967b: 29f.). Hier wird die Modellierung ins Militärische verschoben: Wien ist Hinterland, Prag Frontlinie; man kann gleichwohl Reimanns Argument wieder erkennen: An die Stelle des Zentrums Wien (wenngleich Österreich-Ungarn auf der Liste der „welthistorischen“ ‚Völker‘ bei Reimann fehlt) tritt die bisherige Peripherie Prag. Und wiederum erscheint Prag als Ort einer spezifischen Interkulturalität, die sich im Nationalitätenkampf gewaltsam, in der Prager deutschen Literatur aber humanistisch und anti-chauvinistisch zeigt. 7 Diese Zuschreibungen sind auch schon auf der ersten Liblice-Konferenz vorhanden. So schreibt Paul Reimann: „Dennoch wird der, der Kafka nur einigermaßen kennt, nicht zweifeln, daß dieses Werk aus einer humanistischen Grundhaltung geboren wurde, daß Kafkas Verzweiflung echt und nicht posiert war, daß er im Leben vieles haßte, was auch wir als Anhänger einer sozialistischen Weltanschauung hassenswert finden.“ (Reimann 1965a: 16)

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sein soll, erweist sich bei näherem Zusehen als unhaltbar. Denn sie hängt selbstverständlich an der Trias Kafka, Rilke und Werfel. Bezüglich Rilkes und Werfels wendet Goldstücker dabei das gleiche Schema an: Er liest Texte – bei Rilke Gedichte aus dem Stundenbuch, bei Werfel die Erzählung Die Stagione –, die er selbst schon Nicht-Prager Einflüssen unterstellt sieht, erkennt in ihnen bereits Qualitäten der später weltberühmten Autoren und rechnet das Ganze dann kurzerhand nach Prag zurück. In Liberec habe ich das „die Geburt einer Literatur von Weltgeltung aus dem Geist einer literaturwissenschaftlichen Milchmädchenrechnung“ (Krappmann/Weinberg 2014) genannt. So bleibt nur Kafka als Autor der Prager deutschen Literatur von unbezweifelbarer Weltbedeutung. Ausgerechnet den aber wollen Jörg Krappmann und ich, wiederum programmatisch, zukünftig (auch) als Autor einer Regionalliteratur verstanden wissen. Denn während ich versucht habe, die theoretische Haltlosigkeit der Sortierung ‚Prag – Provinz‘ und der absoluten Singularisierung der Prager deutschen Literatur auf der zweiten Liblice-Konferenz zu zeigen, hat Jörg Krappmann die sachliche Unhaltbarkeit dieser Zuschreibungen erwiesen. Am schlagendsten ist ihm dies wohl mit einem Zitat aus Max Brods Der Prager Kreis gelungen. Krappmann führt aus: Neben anderen Autoren der Prager deutschen Literatur war auch Franz Kafka bis in seine späten Jahre hinein ein aufmerksamer Leser des Kunstwart.[8] Das belegt neben Tagebucheintragungen auch eine kleine Liste, auf der er seinem Freund Max Brod im Anschluss an dessen Vortrag im Verein Frauenfortschritt am 28. Januar 1910, einige Autoren zur Lektüre empfahl: ‚Wilhelm Fischer, Traugott Tamm, Heinz H. Ewers [sic!], Schnitzler, Kellermann, Ginzkey, Rudolf Hans Bartsch, Stratz, Herzog, Zobeltitz, Conte Skapinelli, Hermann Ilgenstein, Otto Ernst, Sudermann, Wilbrandt. […] Der Name ‚Rudolf Hans Bartsch‘ ist doppelt unterstrichen.‘ (Krappmann/Weinberg 2014, Zitat im Zitat: Brod 1966: 91)

Auch Jörg Krappmann musste danach erst einmal Aufklärungsarbeit leisten, die Texte welcher ‚Provinz‘-Autoren (natürlich außer Schnitzler) Kafka hier Max Brod überhaupt zur Lektüre empfiehlt, um dann zu resümieren: Alle österreichischen Autoren in Kafkas Repertoire sind auch an exponierter Stelle in [Ottokar] Stauf von der Marchs völkischer Literaturgeschichte Wir Deutschösterreicher zu finden, die 1913, also wenig später, erschien. (Krappmann/Weinberg 2014)

Wenn aber der weltbedeutende Kafka solche poetae minores aus der ‚Provinz‘ für vorbildlich erklärt, dann kollabieren damit kurzerhand alle ‚sauberen‘ Sortierungen nach (nationalistischer) sudetendeutscher und (humanistischer) 8 Jörg Krappmann verweist dabei auf die Nähe des Kunstwarts zur damaligen Heimatkunstbewegung.

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Prager deutschen Literatur etc. pp. – und Kafka erscheint als noch zu entdeckender Autor einer Regionalliteratur!9

2. Liblice, der Sozialismus und Franz Kafka Wie oben schon angesprochen, hat die erste Konferenz von Liblice das im Titel gegebene Versprechen eines Franz Kafka aus Prager Sicht (siehe dazu ausführlich unten) nicht gehalten. Oder positiv formuliert: Der Blick, den diese Konferenz auf Kafka warf, war eben ein Prager Blick des Jahres 1963 – also einer zu marxistischen Bedingungen. Im namenlosen Vorwort kann man resümierend dazu lesen: Die während der Konferenz aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten waren natürlich und verständlich, vor allem deshalb, weil es sich um das erste Zusammentreffen von Marxisten handelte, das einem Schriftsteller gewidmet war, dessen Werk durch tiefe Widersprüche charakterisiert ist und daher die Klärung zahlreicher Grundfragen der literarischen Theorie erfordert, so zum Beispiel der Fragen des kritischen Realismus unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts, der Dekadenz u. ä. m. Bei der Beurteilung dieser Fragen gingen die Meinungen öfter auseinander; die Konferenz war sich jedoch in der Ansicht einig, daß Kafka eine der bedeutendsten Gestalten der Literatur des 20. Jahrhunderts ist und daß sich in seinem Werk die Widersprüche der damaligen Gesellschaft in eigenartiger Weise widerspiegeln (N. N. 1965: 7f.).

9 Im Reichenberger Vortrag habe ich dazu ausgeführt, dass dies allerdings nur dann gilt, wenn man die regionale Literaturforschung „von jenem einschränkenden Begriffsverständnis der Region als Provinz befreit […]. Hat man diese Bewertung hinter sich gelassen, lässt sich Region auch anders als identitätslogisch denken: nämlich als vielfältiger Raum, für den sich in erster Annäherung durchaus Homi Bhabhas Begriff des third space in Anschlag bringen lässt (wenn man ihn von allen genuin postkolonialen Implikationen befreit). Entscheidend ist jedenfalls, die Region nicht mehr als homogen, sondern als heterogen zu denken – als Pluralität, in der sich einzelne Phänomene anziehen, abstoßen, aber in einem nachweisbaren Zusammenhang miteinander stehen. Weiterhin sind die vermeintlichen Grenzen einer Region und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften nicht als einfach gegeben, sondern als je kulturell konstruierte zu betrachten. Konkret heißt dies: Prag, Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien als eine vielfältige Region aufzufassen, die Austauschprozesse in ihr zu beobachten, dabei die tschechischsprachige Literatur in diesem Raum nicht außen vor zu lassen und nicht zuletzt auch die Kommunikationsprozesse dieser Region mit anderen Regionen wahrzunehmen, fokussiert etwa auf die Frage nach Prag als Knotenpunkt der europäischen Modernen im Austausch mit Berlin, Paris, Wien und anderen Städten.“ (Krappmann/Weinberg 2014)

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Es ist durchaus erstaunlich, dass Vertreter der marxistischen Literaturwissenschaft10 noch in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts darauf verweisen können/müssen, dass „zahlreiche Grundfragen der literarischen Theorie“ bisher zu wenig geklärt seien, um sich mit Autoren des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Auch wenn zuzugeben ist, dass sie es insofern schwer hatte, als sie sich eben kaum auf Marx (und/oder Engels)11 beziehen konnte, da von diesen so gut wie keine Äußerungen zur Literatur vorliegen, gab es natürlich – etwa mit den Schriften von Franz Mehring12 und Georg Lukács13 – pointierte Fassungen eines marxistischen Verständnisses von Lite10 Tilmann Köppe und Simone Winko rechnen in ihrer Darstellung von Theorien und Methoden der Literatur in Thomas Anz’ Handbuch Literaturwissenschaft die marxistische Literaturwissenschaft zu den „Kontextorientierten Theorien und Methoden“ (Köppe/Winko 2007: 336ff.) – und führen aus: „Nach den frühen Versuchen bei Herder und anderen Aufklärungstheoretikern, Literatur im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, entstand im Rahmen des Marxismus eine erste ausformulierte Theorie zum Zusammenhang von geistigen Produkten (einschließlich der Literatur) und der Gesellschaft. Marxistische Literaturwissenschaft geht von einem Abhängigkeitsverhältnis geistiger Produktionen (Literatur) von den materialen Lebensverhältnissen (Gesellschaft, insbesondere Ökonomie) aus. Im Zentrum stehen die Geschichts- und Naturphilosophie des historischen Materialismus sowie als Erkenntnistheorie die Widerspiegelungstheorie“ (Köppe/Winko 2007: 338). Über einer von den Produktionsverhältnissen und Produktivkräften gebildeten Basis erhebt sich dabei ein „juristischer, politischer, und philosophischer Überbau“, wobei deren Verhältnis als „einseitige Determination des Überbaus durch die Basis“ (Köppe/Winko 2007: 338) gedacht wird. 11 Die üblicherweise zur Begründung herangezogenen Stellen sind Briefe von Engels an Minna Kautsky (1885) und Margaret Harkness (1888) sowie ein Briefwechsel zu Ferdinand Lassalles Drama Franz von Sickingen. 12 „Als Anfangspunkt einer umfassenden Anwendung des historischen Materialismus auf die Literatur und damit einer marxistischen Literaturwissenschaft wird das Werk des Publizisten Franz Mehring betrachtet. Nach Mehring liegt die Aufgabe der Literaturbetrachtung als Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft darin, das ‚literarische Erbe‘, in dem Autoren für die fortschrittlichen Klassen ihrer Zeit eingetreten sind, für die zukunftsbestimmende gesellschaftliche Klasse, das Proletariat, vor dem verfälschenden Zugriff der bürgerlichen Literaturwissenschaft zu retten […]. Mehrings Methode ist eine Analyse der Basis-Überbau-Verhältnisse, die monokausal die politische Position des Autors bzw. den politischen Inhalt des Werks auf den Klassenkampf als zentrales Moment der Basis bezieht“ (Köppe/ Winko 2007: 339). 13 Zu Lukács heißt es bei Köppe und Winko: „Hervorzuheben sind […] Georg Lukács’ literaturtheoretische Schriften, da sie für die weitere Entwicklung der marxistischen Literaturwissenschaft von kaum zu überschätzender Bedeutung sind. Im Rückgriff auf Hegels Ästhetik betont Lukács den Erkenntniswert von Literatur und sieht als Aufgabe der Kunst ‚die treue und wahre Darstellung des Ganzen der Wirklichkeit‘ […], wobei die Einsicht in diese Wirklichkeit, insbesondere in den objektiven Gang der Geschichte, durch die

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ratur. Für einen Autor wie Franz Kafka ‚passten‘ all diese Voraus-Setzungen aber nicht, da sich seine Texte, einfach gesagt, der zugrunde liegenden Widerspiegelungstheorie nicht fügten – und sie selbstverständlich auch keinen Typus als Handlungsträger anboten, der Allgemeines und Besonderes vermitteln würde. Die Beschreibung von Meinungsverschiedenheiten im Vorwort lässt sich durchaus euphemistisch nennen. Tatsächlich standen sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber – die eine, die die Lektüre Kafkascher Texte in Zeiten eines aufzubauenden Kommunismus unnütz, gar schädlich fand; die andere, die Kafka als auch für den Sozialismus wichtigen Autor pries. Beide Positionen seien hier mit Zitaten belegt. Für die erste Position zitiere ich Paul Reimann ,und zwar sehr ausführlich, um so das zuletzt dann doch banale Theoriedesign (wenn von Theorie überhaupt die Rede sein kann), mehr aber noch das (hohle) Pathos der Abwehr Kafkas vorzustellen. Reimann schreibt: Wir lernten ihn damals kennen als einen Schriftsteller, der mit der Eindringlichkeit eines Meisters, mit großer Überzeugungskraft die Fäulnis und Unmenschlichkeit der kapitalistischen Ordnung entblößte. Zunächst lasen wir seine kleine, vorwiegend satirische Prosa, erst später, nach seinem Tod die Romanfragmente, die Max Brod aus dem Nachlaß herausgab. Und da gemahnte uns Kafka, der oft unerbittlich kritisierte, was auch wir im Leben haßten, oft an eine Maus, die in die Falle geriet, einen Ausweg suchend hilflos hin- und herläuft und schließlich entkräftet hinsinkt. Doch wir wollten nicht einer solchen Maus gleichen, wir konnten nicht die traurige Schlußfolgerung Kafkas hinnehmen, daß es kein Heil, keine Rettung gebe. Wir suchten und erkannten das, was er schon nicht mehr zu sehen vermochte: daß es einen realen, sicheren Weg in die Freiheit gibt, einen Weg, den er suchte und nicht zu finden vermochte. Wir blieben nicht, wie jener Mann vom Lande, den uns Kafka in seinem bekannten Gleichnis vorstellte, stehen vor den geheimnisvollen Türen der unerkannten Gesetzes, wir schoben den Türhüter beiseite und drangen angriffsfreudig zu den Gesetzen des Lebens vor, die Kafka niemals kennen lernte. Da erkannten wir im Kampfe selbst die Welt von einer neuen Seite und überwanden Kafka dadurch, daß wir fanden, was er nur suchte. Und deshalb schoben wir Kafka, dessen künstlerische Kraft in der Darstellung der Widersprüche des Lebens wir anerkannten, beiseite und verwarfen ihn. Er half uns zwar die Welt zu sehen: aber er hinderte uns, den Weg zu beschreiten, auf den uns Marx und Lenin riefen, den Weg zur Veränderung der Welt, er hinderte uns, die Aufgabe zu lösen, die zur Lebensaufgabe unserer Generation wurde: die Gesetze des Lebens in die eigene Hand zu nehmen und die Welt so einzurichten, daß Menschen in ihr zu leben und zu schaffen vermögen. Um diese Aufgabe zu lösen, um den Sinn unseres Lebens zu erfüllen, dazu brauchen wir eine andere Literatur als Kafka, eine Literatur, von deren Ziel und Sendung Julius Fučík Wissenschaft des Marxismus garantiert ist. Diese umfassende Widerspiegelung wird im Kunstwerk vor allem mittels einer spezifischen Form der Figur, des ‚Typus‘, geleistet, der Allgemeines und Konkretes vermittelt“ (Köppe/Winko 2007: 339, Zitat im Zitat: Lukács 1969: 219).

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in den unvergeßlichen Worten seiner letzten Reportage sprach: Und noch einmal wiederhole ich: wir haben für die Freude gelebt, für die Freude sind wir in den Kampf gegangen und für sie werden wir sterben. Deshalb möge nie Trauer mit unserem Namen verbunden sein (Reimann 1965a: 19f.; Herv. i. Orig.)

Diese Passage macht deutlich, dass man es bei Reimanns Ausführungen im Grunde gar nicht mit Literaturwissenschaft zu tun hat,14 sondern mit einer ideologischen Debatte – oder, noch einfacher gesagt, mit Propaganda. Solche Stellen erinnern mich an mein Studium, genauer: an das Oberseminar meines Doktorvaters Beda Allemann, dessen ‚stehende Rede‘ war, dass zuletzt nicht die Literaturkritik die literarischen Texte zu beurteilen habe, sondern dass die literarischen Texte in ihrer unhintergehbaren Komplexität die literaturwissenschaftlichen Annäherungen an sie beurteilten. Aber Reimann nähert sich den Texten Kafkas nicht einmal an, sondern schreibt etwa die Türhüterlegende kurzerhand zu einer banalen Fortschrittsgeschichte um. So weltanschaulich und alltagsbezogen argumentiert Reimann munter weiter, wenn er ausführt, man habe es bei Kafka eben mit jemandem zu tun, dem „der optimistische Glauben ans Leben fehlt, der mit sich selbst innerlich nicht fertig wird“; von daher gelte, „daß diese Kafka-Haltung nicht zum normalen Lebensgefühl eines Menschen werden kann, der aktiv am Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft teilnimmt, der vor sich eine Lebensperspektive hat.“ Und so helfe Kafka eben nicht beim Aufbau des Sozialismus: „Wir brauchen […] keine Literatur, die die wirklichen Widersprüche des Lebens verschleiert.“ Allenfalls könne man bei Kafka etwas von den „komplizierten Widersprüchen“ lernen, „die sich im Innern des Menschen abspielen“ (Reimann 1965a: 20). Reimann fährt dann jedoch unbeirrt fort: Sein Werk werden wir darum neu herausgeben und aufmerksam lesen. Gleichzeitig sind wir aber entschieden gegen jede Art von Defaitismus: wir glauben Kafka nicht, daß die Gesetze des Lebens unerkennbar sind, wir glauben auch nicht an unüberwindbare Widersprüche. Das Leben selbst, die jahrzehntelangen Erfahrungen unseres Kampfes haben uns überzeugt, daß aus dem Kampf der Widersprüche gesetzmäßig neue höhere Formen des Lebens hervorgehen. Die Widersprüche, die heute entstehen beim Aufbau des Sozialismus, werden wir überwinden, denn wir lassen das Schiff unseres Lebens nicht mehr dahintreiben in den Wogen des Meeres ohne Steuermann und Kompaß, wohin uns die Strömungen tragen. Wir haben Stürme erlebt, unser Schiff schaukelte oft bedenklich bei

14 Immerhin wird Reimann in der am Ende des Bandes zu findenden Rubrik Über die Autoren des Buches außer als „korrespondierendes Mitglied der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften“, „Historiker“ und „Direktor des Instituts für die Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei“ auch als „Literaturhistoriker“ eingeführt (Goldstücker/Kautman/Reimann 1965: 295f.).

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hohem Seegang, aber wir haben einen festen Kurs und steuern zielbewußt zu den Ufern des Morgens! (Reimann 1965a: 20f.)

Wir glauben Kafka nicht! Nur ist ‚Glauben‘ eben auch kein Kriterium der Literaturwissenschaft. Auf dieser Seite der Diskussion waren auch die Vertreter der DDR-Germanistik zu finden. Wilfried Barner hat in der von ihm herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart resümiert: In der Diskussion mit Sozialisten wie Roger Garaudy aus Paris, Ernst Fischer aus Wien und Goldstücker aus Prag – aber auch zahlreichen anderen Schriftstellern und Wissenschaftlern aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien –, wurde die Isolation der offiziellen DDR-Kulturpolitik unübersehbar. Noch im Nachfeld der Konferenz wurde das Peinliche der internationalen sozialistischen Konfrontation merklich. Man versuchte in der DDR, die Gegenseite ins bloß Modische, Zeitgeistige abzudrängen, so etwa Alfred Kurella in einem Aufsatz unter dem Titel ‚Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka‘. Oder man erklärte einfach, Kafka, Joyce und Proust hätten mit dem künstlerischen Erfassen der Tiefen der Bewegung, der Widersprüche der Menschen beim Aufbau des Sozialismus in der DDR nichts zu tun, so der einflussreiche Literaturwissenschaftler Hans Koch. (Barner 2006: 506f.)

Mit den Namen Roger Garaudy und Ernst Fischer sind die Hauptbefürworter der Integration Kafkas in den sozialistischen Lektürekanon genannt. Zu Beginn seines Beitrags schreibt Ernst Fischer noch vergleichsweise nüchtern von „Kafka, diese[m] große[n] revoltierende[n] Dichter, den viele Marxisten allzulang der Bürgerwelt überließen“, um hinzufügen: „Wir haben ein Versäumnis gutzumachen“ (Fischer 1965: 157). Am Ende aber steigert er sein Plädoyer für einen Kafka aus sozialistischer Sicht ins höchst Pathetische: „Ich appelliere an die sozialistische Welt: Holt das Werk Kafkas aus unfreiwilligem Exil zurück! Gebt ihm ein Dauervisum!“ (Fischer 1965: 168)15 15 Unter den Gründen, die Fischer anführt, warum Kafka auch ein Autor für Sozialisten ist, befindet sich auch der, dass die ‚Entfremdung‘ zwar das zentrale Kennzeichen des kapitalistischen Systems, aber auch im gegenwärtigen Sozialismus noch nicht überwunden sei: „Ich möchte zunächst der Behauptung entgegentreten, daß Kafka nur mehr eine historisch zu wertende Erscheinung sei, daß sein Werk der Vergangenheit angehöre. Kafka ist ein Dichter, der uns alle angeht. Die Entfremdung des Menschen, die er mit maximaler Intensität dargestellt hat, erreicht in der kapitalistischen Welt ein schauerliches Ausmaß. Sie ist aber auch in der sozialistischen Welt keineswegs überwunden. Sie Schritt für Schritt zu überwinden, im Kampfe gegen Dogmatismus und Bürokratismus, für sozialistische Demokratie, Initiative und Verantwortung, ist eine große Aufgabe. Die Lektüre von Werken wie Der Prozeß und Das Schloß ist geeignet, zur Lösung dieser Aufgabe beizutragen“ (Fischer 1965: 157). Dass Eduard Goldstücker, auch wenn er weniger deutlich formuliert hat, im Grunde auf Fischers Seite steht, zeigt eine ähnliche Stelle in seiner Zusammenfassung der Diskussion: „In dieser Übergangszeit kann es sogar vorkommen – und haben dies schließlich nicht die Erfahrungen unseres Lebens deutlich genug bewiesen? –, daß sich in

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Mit deutlich weniger Pathos äußert sich Roger Garaudy. Er schreibt zu Beginn seines Beitrags: „Die Konferenz über Franz Kafka hat sich die Aufgabe gestellt, sein Werk, das wir im Namen allzu enger Kriterien des Realismus16 nicht zu lieben wagten, zu prüfen.“ (Garaudy 1965: 200) – und zieht am Ende ein dem Fischerschen Aufruf entsprechendes Fazit: Er [Kafka] attackiert unermüdlich unsere Grenzen, ohne daß es ihm gelänge, sie zu überschreiten. Es ist kein Zufall, daß seine drei großen Werke – Amerika, Der Prozeß und Das Schloß – unvollendet blieben. Sie sind das Bild unseres Lebens: Es sind die Startflächen zur Unendlichkeit, zur Erreichung wahrhaft menschlicher Dimensionen für den Menschen, Dimensionen der Unendlichkeit seiner Geschichte, deren Gestaltung grenzenlos ist. Gerade dadurch hat Kafka uns, uns Kommunisten, etwas zu sagen. Ich bin meinen tschechischen Freunden dankbar dafür, daß sie uns bei der Dechiffrierung seiner Botschaft geholfen haben (Garaudy 1965: 206f.).

Als im Oktober 2008 das Heidelberger Institut für Textkritik und das Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften Prag unter dem Titel Kafka und die Macht eine Folgekonferenz auf Schloss Liblice veranstalteten, resümierte Gerrit Bartels im Tagesspiegel den Rückblick auf die erste Tagung in Liblice:17 manchen Etappen [der Entwicklung zum Kommunismus] die Menschen noch viel stärker entfremdet fühlen als im Kapitalismus“ (Goldstücker 1965c: 282). 16 Dies ist selbstverständlich aus der Sicht einer marxistischen Literaturwissenschaft die entscheidende Grundfrage. Eindringlicher als Garaudys Anregung einer Überprüfung des marxistischen Realismusbegriffs ist, nicht nur in dieser Hinsicht, das Plädoyer von Alexej Kusák in seinem Beitrag Bemerkungen zur marxistischen Interpretation Kafkas: „Kafka erscheint mir als ungeheuerer, monumentaler Realist des 20. Jahrhunderts, der es besser als viele sog. [sic!] Realisten verstand, nicht nur Charaktere und Situationen zu erfassen und zu typisieren, sondern menschliche Beziehungen, das Teuflische dieser Welt, ihre Verunmenschlichung, aber auch die Gegenbewegung, den Protest, den Aufschrei, den zornerfüllten Schmerz“ (Kusák 1965: 169). Dies ist aber alles andere als das sozusagen klassisch marxistische Verständnis von Realismus auf der Grundlage der Widerspiegelungstheorie, auch wenn hier Lukács ‚Typus‘ in das Argument mit eingebaut wird. 17 Bartels berichtet u. a. von einem Streit zwischen Alexej Kusák und dem Sohn von Paul Reimann auf dieser Tagung: „Der 1929 geborene tschechische Publizist Alexej Kusák beansprucht in seinem Eröffnungsvortrag zunächst eher spielerisch, dass die Initiative der damaligen Kafka-Konferenz von ihm ausgegangen sei, erdacht bei einem Telefonat mit einem befreundeten Kollegen, und eben nicht vom Ausschuss der tscheslowakischen [sic!] Germanisten, insbesondere in persona Goldstückers und seines Kompagnons, des Historikers und federführenden Mitglieds der Akademie der Wissenschaften der CSSR, Pavel Reimanns. / Dass es ihm tatsächlich ernst ist, das beweisen Kusáks Ausfälle gegen den ebenfalls anwesenden Sohn Reimanns, den Historiker Michal Reimann [sic!], der versucht die Probleme seines Vaters darzustellen und den Kusák wiederholt und immer wieder sehr aufgebracht als ‚Lügner‘ bezeichnet“ (Bartels 2008). Dieser Streit hat allerdings eine tsche-

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Wie sich das für einen ordentlichen Mythos gehört, ranken sich um diese Konferenz unterschiedlichste Wahrheiten und Interpretationen. Den einen gilt sie als literaturwissenschaftliche Veranstaltung, die sich zu einem politischen Ereignis auswuchs, das letztendlich in den Prager Frühling bis zu seinem Ende am 21. August 1968 durch den Einmarsch der russischen Truppen mündete. Andere sind zurückhaltender (Bartels 2008).18

Die Wahrnehmung der beiden Liblice-Konferenzen als Vorboten des Prager Frühlings (eine Art ideologischer ‚Persil-Schein‘) mag im Übrigen auch erklären, warum sie nicht spätestens nach 1989 ihrerseits auf ihre ideologischen Implikationen hin befragt wurden, was dazu führte, dass zumindest die Sortierungen der zweiten Konferenz unbefragt in Geltung blieben. Die Beschreibung der Positionen marxistischer Literaturwissenschaftler zu Kafka im Detail hätte den Band zur ersten Liblice-Konferenz im Weiteren als bloßes Zeitdokument marxistischer Literaturwissenschaft und kommunistischer Positionskämpfe (was er unzweifelhaft ist) vorzustellen. Für die hier zur Diskussion stehende Kafka-Rezeption brächte eine solche Aufarbeitung aber wenig.

chische Vorgeschichte. Michal Reiman hatte unter dem Titel Čáry máry fuk aneb Jak podat dějiny kafkovské konference 1963 [Simsalabim! oder Wie die Geschichte der Kafka-Konferenz 1963 darzustellen ist] in einem am 10.07.2003 in der Zeitung Právo erschienenen Artikel seine Sicht der Dinge zu Protokoll gegeben. Ihm antwortete Alexej Kusák am 07.08.2003 in der gleichen Zeitung unter dem Titel: Láry fáry aneb Kafkovská konference z rychlíku [Papperlapapp! – resp. Larifari – oder An der Kafka-Konferenz vorbei schnellend], woraufhin am 14.08.2003 noch einmal Michal Reiman das Wort ergriff: Stručně a naposled o kafkovské konferenci 1963 [Bündig und zum letzten Mal über die Kafka-Konferenz 1963]. S. a. Michal Reimans diese Debatte noch einmal kommentierenden Aufsatz Kafkovská konference 1963 prizmatem Alexeje Kusáka [Die Kafka-Konferenz 1963 durch das Prisma Alexej Kusáks] (Reiman 2003). In dem Aufsatz Sága rodu Fleischmannů [Die Fleischmann-Saga] werden Eduard Goldstücker und Ivo Fleischmann als einzige Organisatoren der ersten Liblice-Konferenz genannt: „V roce 1963 uspořádali Eduard Goldstücker a Ivo Fleischmann v Praze nebývalou akci: první československou konferenci o Franzi Kafkovi.“ (Vašák/Kolář 2006: 62) [Im Jahr 1963 richteten Eduard Goldstücker und Ivo Fleischmann ein beispielloses Ereignis in Prag aus: die erste tschechoslowakische Konferenz über Franz Kafka.] Ich danke Petr Brod herzlich für die Hinweise auf die Kontroverse und die ‚Nominierung‘ Fleischmanns als zweitem Organisator. Die Nachgeschichte der ersten Liblice-Konferenz konnte ich hier aus Platzgründen aber nicht ausführlicher berücksichtigen. 18 Bartels zitiert u. a. Kurt Krolops einmal mehr pointierte und treffende Einschätzung: „Der Germanist Karl [sic!] Krolop wiederum, ebenfalls Zeuge der 63er-Konferenz, hält nur wenig von der These, Liblice sei der Ausgangspunkt für den Prager Frühling gewesen: ‚Für mich war das eine Revolte der Gemäßigten in der kommunistischen Partei, die für Erleichterungen auf den unterschiedlichsten Gebieten zu sorgen versuchten‘“ (Bartels 2008).

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3. „Kafka und Prag“ jenseits von Liblice Der Call for Papers zur Tagung, auf den der vorliegende Band zurückgeht, begann pointiert mit Susan Sontags Zuschreibung, Kafkas Werk sei „zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden“ (Sontag 1980: 13); gemeint sind diejenigen, die Kafkas Texte als „soziale“, als „psychoanalytische“ oder als „religiöse Allegorie“ (Sontag 1980: 13) lesen. Willy Haas hat in Die literarische Welt. Lebenserinnerungen 1960 entsprechend von Kafkas Weltruhm als einem „Haufen perverser Missverständnisse“ (Haas 1960: 34) gesprochen. Er schreibt auch: Ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendein Mensch ihn überhaupt verstehen kann, der nicht in Prag und nicht um 1890 oder 1880 geboren ist. Es liegt an seinem merkwürdig stummen, allegorisch-realistischen Tiefsinn, daß derjenige, der die ungeheuer suggestive lokale Vordergrundswelt […] nicht wirklich kennt, auch die ganz dichte metaphysische Analogie, die nur in diesem und durch diesen lokalen Mikrokosmos existiert, nicht wirklich verstehen kann: so entstanden und entstehen die abstrusesten Missverständnisse (Haas 1960: 34).

Schließlich fügt er hinzu: Alte Österreicher sagen gern, daß das Österreichertum, das wahre, alte Österreichertum, eigentlich ein Geheimnis sei, das keiner außerhalb Österreichs wirklich verstehe […]. Aber Kafka scheint mir ein noch viel verschlosseneres österreichisches, jüdisches Prager Geheimnis zu sein. Und meine größte Freude ist, dass Kafkas Weltruhm, […] endlich abnimmt und wir ihn, den Freund, zurückbekommen (Haas 1960: 34).

Johannes Urzidil hat den Bezug zwischen Kafka und Prag zur Gleichung fortgeschrieben: „Kafka war Prag und Prag war Kafka. Nie war es so vollkommen und so typisch Prag gewesen und nie mehr sollte es dies sein wie zu Kafkas Lebzeiten“ (Urzidil 1966c: 102). An anderer Stelle heißt es bei Urzidil: Obzwar Prag in Kafkas Werk höchstens in gelegentlichen Umschreibungen deutlich wird, ist es doch überall in den Schriften enthalten, wie das Salz jenes buddhistischen Gleichnisses im Wasser. Obzwar das Salz als solches nicht sichtbar wird, schmeckt dennoch das Wasser ganz und gar salzig. (Urzidil 1965b: 11)

Man könnte die Anmerkungen von Willy Haas und Johannes Urzidil allerdings dem Verhalten von Dichterwitwen parallelisieren, die versuchen, nach dem Ableben des Mannes und Dichters das Verständnis seiner Texte aus einer Vertrautheit mit dem Autor heraus zu monopolisieren (siehe dazu noch weiter unten). Vor den Hintergrund der Kafka-Forschung gestellt (und als titelgebendes, wenngleich ungehaltenes Versprechen der ersten Konferenz von Liblice) hat dieses Verständnis aber seine eigene Sprengkraft. Natürlich gibt es

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Unmengen an Forschungsbeiträgen, die Kafka und Prag zusammenbringen – meistens aber nur im Horizont eines durchaus unseligen Biographismus. Geht es an die Texte, wird ein konkreter Bezug meist geleugnet. Das lässt sich leicht an einem Text aufweisen, der den Bezug schon im (allerdings von Max Brod) stammenden Titel trägt: Das Stadtwappen. Peter Demetz schreibt in einem Aufsatz: „Max Brod meinte, Kafka habe an das Wappen der Stadt Prag gedacht, das eine geballte Faust zeigt, aber weniger topographische Lokalisierung des Textes wäre mehr“ (Demetz 1994: 138). Warum eigentlich? Theo Buck verbittet sich überhaupt Anschlüsse an die Realität: Das Prager Wappen betont eindeutig die wehrhafte, verteidigungsbereite urbane Kraft und Macht. Kafkas Absichten gehen in eine gänzlich andere Richtung, denn sie heben auf die ‚Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag‘ ab, ‚an welchem die Stadt von einer Riesenfaust […] zerschmettert werden wird‘ […]. Diese eschatologische ‚Sehnsucht‘ mit dem Prager Wappen in Verbindung zu bringen, ist schlicht abwegig. (Buck 1996: 22)

Im Band zum 80. Geburtstag von Kurt Krolop habe ich versucht, eine Lektüre zu entwickeln, die tatsächlich das zuletzt im Text genannte Wappen mit dem Prager Stadtwappen zusammenbringt (Weinberg 2012a); ihre Stichhaltigkeit mögen die ‚Kafkologen‘ bewerten. Mir geht es dabei jedenfalls ganz und gar nicht um den Nachweis, dass Kafkas Texte durchgängig von Prag handeln. Worum es mir geht, lässt sich etwa mit der Protagonistin von Libuše Moníkovás Roman Pavane für eine verstorbene Infantin erklären, die als aus Prag exilierte Literaturdozentin im Stadtwappen Kafkas „örtliche Situation, das Gemisch von Tschechen, Juden und Deutschen“ reflektiert sieht, um der allgemeineren These einer Rückbindung Kafkascher Texte an den Prager Stadtraum den Satz anzufügen: „Es geht ja nicht darum, daß das alles ist“ (Moníková 1988: 58). Ich komme zurück auf Sontags Vergewaltigungsvorwurf und Haas’ Perversionsverdacht bezüglich der Kafka-Philologie. Denn es lohnt durchaus die Reflexion, warum ein solcher Vorwurf der Überinterpretation gerade bezüglich der Analyse Kafkascher Texte angemessen ist. Das lässt sich möglicherweise mit einem – aus meiner Sicht – weiteren Vergewaltigungsversuch Kafkas erklären: Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Studie Kafka. Für eine kleine Literatur. Diskutabel finde ich an den Zuschreibungen dieser Studie eigentlich nur die Herleitung der Besonderheiten des Kafkaschen Schreibens aus dem, was Deleuze und Guattari die „Deterritorialisierung“ des Prager Deutschen nennen. Auf das „papierene“ Prager Deutsch hätten die Autoren in zweierlei Weise reagiert. Die Prager Schule, Meyrink und auch Max Brod hätten „dieses papierene Deutsch artifiziell“ bereichert, es ‚aufgebläht‘, indem sie „sämtliche Ressourcen eines Symbolismus, einer Hellseherei, einer esoterischen Sinngebung, eines verborgenen Signifikanten“ ausbeuteten.

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Kafka entschied sich schnell für den anderen Weg – oder besser, er erfand einen anderen: das Pragerdeutsch nehmen, wie es ist, mit all seiner Armut; die Deterritorialisierung weiter vorantreiben, in aller Nüchternheit; den ausgetrockneten Wortschatz in der Intensität vibrieren lassen; dem symbolischen oder bedeutungsschwangeren oder bloß signifikanten Gebrauch der Sprache einen rein intensiven Sprachgebrauch entgegenstellen; zu einem perfekten und nicht geformten, intensiv-materialen Ausdruck gelangen. (Deleuze/Guattari 1976: 28)19

Dieser Weg führt dann etwa zu Einschätzungen wie der Albert Camus’: „Es ist das Schicksal und vielleicht auch die Größe dieses [Kafkaschen] Werks, daß es alle Möglichkeiten darbietet und keine bestätigt“ (Camus 2001: 180). Einerseits also: Kafkas Texte sind durchweg verständlich; auf Wort- oder Satzebene bereiten sie dem Interpreten wohl sogar weniger Schwierigkeiten als Texte anderer Autoren. Dennoch aber oder gerade deshalb sind sie in anderer Hinsicht unendlich interpretabel, weil die verständliche Präzision im Detail keinen einzigen Hinweis auf den Zusammenhang (oder hermeneutisch gesprochen: Sinn) des Ganzen gibt. Das erklärt dann auch den so oft beobachtbaren Gestus, der die gerade vorgeschlagene Interpretation eines Kafka-Textes als alleinigen Schlüssel behauptet, wobei die Halbwertszeit dieses vermeintlich einzig passgenauen Schlüssels bekannterweise nur so lange währt, bis der nächste Interpret mit gleicher Überzeugung einen anderen Schlüssel präsentiert. Dass aber Kafkas Texte „alle Möglichkeiten darbieten“, hat auch noch einmal auf eine andere Weise (wenngleich ex negativo) mit Prag zu tun. Denn jenes Prag, von dem Johannes Urzidil behauptet, dass es „zur Zeit der Hauptproduktion Kafkas […] am typischsten Prag und am typischsten kafkaesk“ (Urzidil 1965b: 11) war, hört spätestens 15 Jahre nach Kafkas Tod, nämlich 1939 durch die Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren, für immer auf zu existieren. Das aber heißt: Was zumindest die westlichen Kafka-Interpreten eint, ist, dass sie – wie sollten sie auch? – keine wirkliche Kenntnis von jenen besonderen kulturellen oder pointierter transkulturellen Verhältnissen im Prag des frühen 20. Jahrhunderts hatten und somit keinerlei Stoppregel für ihre allegorischen Delirien kannten. Am ehesten hätte man diese Kenntnisse wohl noch von den tschechischen Germanisten erwarten können. Francine Pallas, die schon erwähnte Protagonistin aus Libuše Moníkovás Pavane für eine verstorbene Infantin, sagt Kafka in einem imaginierten Gespräch allerdings einerseits auf Tschechisch: „Jste největší spisovatel století.“ [Sie sind der größte Schriftsteller des Jahrhunderts.], erklärt ihm seine tschechoslowakische Rezeption aber andererseits unumwunden mit den Worten: „Sie sind erst spät ver19 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kafka-Bild von Deleuze und Guattari s. a. den Beitrag von Thirouin in diesem Band.

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boten worden, weil man sie vorher nicht kannte, dafür aber auf lange Sicht.“ (Moníková 1988: 93)

4. „Kafka und Prag“ in Liblice So wird das besondere Versprechen deutlich, das die Liblice-Konferenz von 1963 mit ihrem Titel Franz Kafka aus Prager Sicht gab. Noch einmal: Gerade in dieser Hinsicht ist der Band aber eine einzige Enttäuschung, auch wenn man im Vorwort liest, die Konferenz habe ihre Aufgabe erfüllt: „Kafkas Rückkehr in seine Heimatstadt Prag wurde nicht nur proklamiert, sondern findet tatsächlich statt“ (N. N. 1965: 8). Man mag dabei die Formulierung einer Rückkehr Kafkas nach Prag schon verräterisch genug finden, denn das kommunistische Prag, in das er hier aus einer entstellenden internationalen Interpretation heimgeholt werden sollte, ist seinerseits eben nicht mehr ­Kafkas Prag. Im Folgenden sei die Auseinandersetzung mit dem Thema „Kafka und Prag“ in Liblice knapp skizziert, um auf diese Weise deutlich zu machen, warum mir das Versprechen der Liblicer Tagung radikal ungehalten zu sein scheint. Zwar ist in vielen Beiträgen von (Kafka und) Prag die Rede; tatsächlich aber nur summarisch, zudem in einer erschreckenden Versammlung all der Stereotype über Prag, die bei der Klärung des Bezugs Kafkascher Texte auf seine Heimstadt tatsächlich in keiner Weise weiterhelfen, da sie (wenn überhaupt) radikal an der thematischen Oberfläche bleiben. Die Stereotypie der Verweise auf Prag beginnt bereits mit der Eröffnungsansprache von Marie Majerová, die die am Ende des Bandes stehende Auskunft „Über die Autoren des Buches“ als „Schriftstellerin, Nationalkünstlerin“ (Goldstücker/Kautman/Reimann 1965: 295) benennt. Majerová schreibt: Er [Kafka] sprach tschechisch und schrieb deutsch, er war mit uns oft beisammen und war uns dennoch fern. Aber er gehörte zu uns als Prager, einheimisch in den alten Prager Gäßchen, ein Spaziergänger unter den Hunderten von Türmen und ein Kenner der tschechischen Literatur. Wir allerdings trieben uns in den noch frischen Spuren Nerudas umher, während er gleichsam in den fünfhundert Jahre alten Fußstapfen des Rabbi Löw herumspazierte. Franz Kafka war ein Prager und er ist ein Prager Dichter. Ohne die Kulisse des alten Prag und ihres tausendjährigen Gesteins gäbe es nicht die Atmosphäre seiner Romane Der Prozeß und Das Schloß. Aber er ist ein einzig dastehender und unnachahmlicher Dichter, ein Dichter, der mit dem Gehirn fühlte und dessen uferlose, komplizierte Phantasie Fachleute hier würdigen und einreihen werden“ (Majerová 1965: 9).

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Was immer die Aussage, dass Kafka „mit dem Gehirn fühlte“, meint – das aufgerufene Bild Prags ist an Stereotypie nicht zu überbieten:20 die Gässchen, die Hunderte von Türmen, Rabbi Löw, das tausendjährige Gestein – und als bloß allgemeine Diagnose, dass es die Atmosphäre von Kafkas Romanen Der Proceß und Das Schloss ohne „die Kulisse des alten Prag“ nicht gäbe. Nun muss eine Schriftstellerin, die eine Konferenz eröffnet, dies nicht unbedingt zu wissenschaftlichen Bedingungen tun. Aber es wird, als die Wissenschaftler das Wort ergreifen, nicht besser. In František Kautmans (immerhin Mitherausgeber des Bandes) Beitrag Franz Kafka und die tschechische Literatur heißt es unter der Prämisse: „Es wurde schon wiederholt gesagt, daß es in Kafkas Leben und Werk noch unerforschte Stellen gibt, die nur seine Heimat beantworten kann“ (Kautman 1965: 44): Die besondere Situation der Prager Altstadt, die Spuren des aufgelassenen Prager Ghettos, die engen, winkligen Gäßchen und majestätischen Portale der Paläste, die düsteren Kirchen und Synagogen, die verstaubten Amtsgebäude, die Nachtlokale in Kellergeschossen, das Moldau-Ufer und die Barock-Gärten […] das alles zusammen hat die Atmosphäre der quälenden Visionen Kafkas mitgeformt. (Kautman 1965: 45)21

Auch andere Beiträge verbleiben im Horizont solcher Stereotypen. So schreibt Jiří Hajek in seinem Beitrag Kafka und wir davon, dass Kafkas ganzer moralischer Rigorismus und Absolutismus nachweislich an den Genius loci seiner Vaterstadt anknüpft, an die hussitische Unversöhnlichkeit gegen alles, was im Widerspruch mit dem menschlichen Recht und Verstand, dem Glauben an die Möglichkeit menschlichen Glücks, der realen Existenz des Schönen auf Erden steht. Es ist bezeichnend, daß eine der Quellen dieses Glaubens für Kafka auch die lieblichste und weiseste, gleichzeitig durch ihr Schicksal tragischste Dichterin der Tschechen, Božena Němcová, war. (Hajek 1965: 111)

20 Dies trifft erstaunlicherweise auch auf jenen Brief zu, mit dem Max Brod seine Teilnahme an der Tagung aus gesundheitlichen Gründen absagte und den Eduard Goldstücker in seiner Begrüssung [sic!] der ausländischen Tagungsteilnehmer vorlas: „Milerád bych přo jiné přiležitosti budu-li zdráv, Vašemu pozvání vyhověl ais Vámi se seznámil i svě rodné město, zlatou Prahu, opět navštivil.“ [Sehr gern würde ich bei einer anderen Gelegenheit, Ihrer Einladung Folge leisten sowie auch Ihre Bekanntschaft machen und meine Heimatstadt, das goldene Prag, wieder aufsuchen.] (Goldstücker 1965a: 12; Herv. M. W.) 21 Die oben angesprochene Sortierung von guter Prager und ‚böser‘ sudetendeutscher Literatur ist übrigens auch schon im Band zur ersten Liblice-Konferenz als Grundmuster zu finden. So liest man bei Kautman: „Und wer schon überhaupt keinen Anspruch darauf erheben kann, Kafka in das eigene Kulturerbe einzubeziehen, ist die Literatur der Sudetendeutschen aus den böhmischen Gebieten. Kafkas stärkstes Band mit der deutschen Literatur war der deutsche Expressionismus, der aber war, seinem Charakter nach am wenigsten nationalistisch.“ (Kautman 1965: 49)

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Dagmar Eisnerovás Bemerkungen zur ethischen Problematik in Kafkas Romanen und über den Prager Hintergrund im ‚Prozess‘ kommen auch nicht über derlei Banalitäten hinaus. So heißt es: „Die Entfremdung hatte für Kafka eine durchaus reale Dimension; es waren Erlebnisse, die in der besonderen Situation wurzelten, in der Kafka in Prag lebte.“ (Eisnerová 1965: 138) Zum Prozess, den sie für „Kafkas unmittelbarsten autobiographischen [!; M. W.] Roman“ (Eisnerová 1965: 136) hält, schreibt sie: Die eigentlich nur angedeutete Prager Lokalisierung entspringt zweifellos Kafkas künstlerischer Methode. Sie hängt jedoch meiner Meinung nach auch damit zusammen, daß Prag für Kafkas Innenleben von ungeheurer und tragischer Bedeutung war. (Eisnerová 1965: 139)

Ein letztes Beispiel. Norbert Frýd formuliert in seinem Aufsatz Warum gerade Kafka?: Das Werk Franz Kafkas gehört zu dem unteilbaren Ganzen der Literatur, die aus diesem Land hervorgegangen ist. Kafka wurde in Prag geboren, hat hier den längsten Teil seines Lebens verbracht und wurde hier bestattet; sein Werk ist mit der Atmosphäre und Problematik des Prags seiner Jahre verwoben, ins All blickte es von Prag aus, wuchs dabei hoch empor und gewann wirklich Weltgeltung, ohne je an den Orten, wo die Wurzeln verankert sind, sein Heimatrecht zu verlieren. Franz Kafka war ein prachtvoller Mensch von seltener Reinheit, auch wenn er sich selbst nicht als solchen sah und seiner eigenen Natur unversöhnlich feindlich gegenüberstand (Frýd 1965: 215).

Man kann sich fragen, ob es wirklich notwendig ist, derlei Banalitäten hier aneinanderzureihen. Tatsächlich zeigt sich so aber, auf welchem Niveau weite Teile der Diskussion auf den Konferenzen in Liblice, zumindest auf der ersten, angesiedelt waren. Dass deren Formatierungen der Prager deutschen Literatur dennoch im Weiteren (und über 1989 hinaus)22 Geltung behalten haben, sollte aus dieser Sicht allerdings noch einmal in besonderer Weise zu denken geben. Von diesem Niveauvorbehalt ist allerdings jener Wissenschaftler auszunehmen, der am deutlichsten proklamierte, dass Kafka nur von Prag aus beizukommen sei: Eduard Goldstücker, den die schon zitierte Anmerkung „Über die Autoren des Buches“ so vorstellt: „Prag, Professor für deutsche Literaturgeschichte, Leiter des Katheders für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität“ (Goldstücker/Kautman/Reimann 1965: 295). 22 So schreiben etwa Dieter Sudhoff und Michael Schardt im Vorwort ihres Prager deutsche Erzählungen versammelnden Bandes, dass die Prager deutsche Literatur ihre „Besonderheit insulär in tschechischer Umgebung entwickelte und sich trotz ihrer Heterogenität deutlich abgrenzt von der nationalistischen Literatur der Sudetengebiete“ (Sudhoff/ Schardt 1992: 9).

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Goldstücker beginnt sein Plädoyer in seinem Beitrag Über Franz Kafka aus der Prager Perspektive 1963 noch vergleichsweise zurückhaltend mit den Worten: Ich vermute […] – und ich hoffe, daß diese Vermutung nicht ein lokalpatriotisch motivierter Wunsch bleiben wird –, daß einige, mit dem Leben und Werk Franz Kafkas zusammenhängende Fragen doch am besten von Prag aus beantwortet werden können. (Goldstücker 1965b: 26)

Dann aber folgt das klare Statement, das ich als Motto diesem Beitrag vorangestellt habe – auch weil ich diesem Postulat nur voll und ganz zustimmen kann. Allerdings enttäuschen Goldstückers Begründungen eines solchen Forschungsdesiderats ‚Kafka und Prag‘, insofern sie sich wiederum nur in (diesmal allerdings wissenschaftlichen) Stereotypen erschöpfen. Man liest: Die bisherigen Bemühungen, die spezifischen Charakterzüge der Prager deutschen Literatur um die Jahrhundertwende zu erfassen, haben ihre plausibelsten Ergebnisse in den Arbeiten Pavel Eisners gezeitigt, in seiner Ansicht, die Prager deutsche Literatur in den letzten Jahren der österreichisch-ungarischen Monarchie sei in einem unnatürlichen, insularen, von einem gesunden Volksganzen abgeschlossenen Milieu entstanden und ihre Schöpfer hätten auf diesem deutschsprachigen Inselchen gelebt wie in einem dreifachen Ghetto: einem deutschen, einem deutsch-jüdischen und einem bürgerlichen (Goldstücker 1965b: 30).

Im Fall der Diagnose des dreifachen Ghettos von Pavel Eisner (Eisner 1948) wird man wohl davon sprechen können, dass die Forschung sich inzwischen einig ist, dass es sich dabei um eine deutliche Übertreibung handelt. Goldstückers Rechtfertigung für die besondere Qualität der Prager deutschen Literatur lautet auch hier schon: Die Spezifik der Prager deutschen Literatur ist eng verknüpft mit der Erkenntnis oder der Ahnung der Prager deutschen Schriftsteller, daß die Epoche des bürgerlichen Liberalismus sich unaufhaltsam ihrem Ende näherte. (Goldstücker 1965b: 33)

Das sind jene Zuschreibungen, die Goldstücker dann auf der zweiten Konferenz von Liblice wiederholt hat – und die ich oben schon als m. E. unzutreffend, zumindest aber übergeneralisiert kritisiert habe. In seinen Bemerkungen zur marxistischen Interpretation Kafkas hat Alexej Kusák dann zum Generalangriff auf Goldstückers These ausgeholt: Wo ist der Schlüssel, der die Türen seines Geheimnisses aufschließt? Liegt er vielleicht in der Tatsache, daß Kafka Prager ist? Hier sind wir bei einer der grundlegenden Fragen angelangt, um die sich die Diskussion schon lange dreht. Sie hängt mit der Ansicht Eduard Goldstückers zusammen, daß ein gewichtiges Wort zu einer Reihe von Kafka-Problemen nur von Prag aus gültig gesagt werden kann. Eduard Goldstücker wollte damit bestimmt nicht sagen, daß dieses Wort von Prag aus deshalb gesagt werden kann, weil hier besonders geniale Germanisten oder Literaturwissenschaftler leben. Bei diesen wiederholt vorgebrachten Ansprüchen geht es ihm um etwas anderes: er ist der Meinung, daß Kafka vor allem genetisch

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aus seinem Milieu erklärt werden muß, daß also Kafka ‚geerdet‘ werden muß, daß man sein Leben und sein Werk im Zusammenhang mit allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren studieren muß. Nichts dagegen, wenn wir das als selbstverständliche Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Arbeit verstehen – mit dem Materialstudium beginnen, alles über Umgebung und Zeit wissen. Aber darüber müßten wir doch gar nicht besonders reden, und das kann bei Kafka zum Beispiel auch ein Forscher tun, der in Grönland lebt, wenn er sich die betreffende Literatur beschafft und das historische Material einige Zeit an Ort und Stelle studiert. Aber wie reimt sich das mit Goldstückers Ansicht zusammen, daß man Kafka vollgültig nur von Prag aus erkennen kann? Ist Prag vielleicht mit einem besonderen Fluidum gesegnet, das zu erkennen nur den Pragern gegeben ist? Kann man Kafkas Geheimnis nur mit dem Schlüssel des Prager Primators aufschließen? (Kusák 1965: 170f.; Herv. i. Orig.)

Kusák zitiert im Übrigen auch die oben schon meinerseits angeführten Ausführungen von Willy Haas und merkt dazu prägnant an: Gegen seinen Willen hat Willy Haas sehr gut die Hauptgefahr einer Aktualisierung des Pragertums Kafkas erfaßt. Wenn wir nach der Formel ‚Kafka ist gleich Widerspiegelung von Prag zu Beginn des Jahrhunderts‘ rechnen wollen, dann müßte uns schließlich die Kenntnis der Soziologie Prags genügen, um in Kafkas Werk einzudringen, und alles andere wäre dann überflüssig – jegliche weitere Interpretation, die Untersuchung von Kafkas Typologie, der dichterischen Methode usw. Hinter Kafkas Fabeln steht dann für den Leser, der das Prager Milieu nicht kennt, wiederum nichts anderes als nur sie [sic!] selbst, und wer es versuchen wollte, etwas anderes [sic!], allgemeineres [sic!] darin zu sehen, halte den Mund, denn hier stehen wir auf der Wacht, wir, die Prager Altansässigen, Landsleute und Augenzeugen, und wir werden als einzige Freunde Kafkas eifersüchtig die Suggestivität des Lokalmilieus und das Geheimnis des österreichischen Kaiserreichs vor den unberufenen Aufhäufern perverser Interpretationen hüten. Damit sind wir aber am Ende jeder wissenschaftlichen Untersuchung angelangt und hierher führt auch die Fetischisierung der Abstammung Kafkas. Die vulgär verstandene Genetik des Kafkaschen Werkes ist nicht imstande, die prinzipielle Frage der Kafka-Forschung zu lösen – wie es denn kommt, daß diese Widerspiegelung Prags zu Beginn dieses Jahrhunderts heute und gerade heute so suggestiv auf Leser einwirkt, welche dieses Prag überhaupt nicht kennen und welche Prag zwischen 1900 und 1920 überhaupt nicht interessiert. Worin unterscheidet sich Kafkas Prager Werk von den Genrebildern eines Ewers, Strobl, Meyrink und einer ganzen Reihe anderer Schriftsteller, welche zu Kafkas Zeiten das Thema Prag gestalteten? Das gerade ist die Frage, die am Anfang jeder ernst gemeinten Untersuchung stehen muß. Die Verabsolutierung der Prager Soziologie in Kafkas Werk kommt der Deklassierung seines Werkes auf das Niveau von Genrebildern aus dem Prager Milieu gleich. Von seiner Genesis muß zur Untersuchung der Struktur des Werkes Franz Kafkas fortgeschritten und damit seine Bedeutung und sein Einfluß verstanden werden. Andernfalls landen wir bei Taines Positivismus und erfahren im besten Fall Interessantes aus der Kulturgeschichte Prags. Eine solche Sicht verhindert jedoch, das Wesen der Kunst Kafkas zu sehen, das Geheimnis seines Hinüberreichens, seiner heutigen und künftigen Wirksamkeit. (Kusák 1965: 172f.)

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Sosehr Kusák selbstverständlich recht hat mit seiner Forderung nach einer Analyse der spezifischen ‚Struktur‘ von Kafkas Texten und sosehr er im Generalangriff auf Goldstücker die zuletzt eben zu große Allgemeinheit der These vom Forschungsdesiderat ‚Prag und Kafka‘ entlarvt, so sehr bleibt doch auch er selbst im Horizont der marxistischen Widerspiegelungstheorie (siehe dazu unten noch einmal mehr). Nach diesem Angriff springt Paul Reimann dem ‚Genossen‘ Goldstücker in seinem Referat Über den fragmentarischen Charakter von Kafkas Werk zur Seite: Zunächst die Frage, warum wir beide, Genosse Goldstücker und ich, dem Zusammenhang Kafkas mit Prag eine so große Bedeutung beimessen. Genosse Kusák irrt, wenn er glaubt, daß es uns nur in einem engen Sinn um die Feststellung lokaler Dinge, die topographische Untersuchung der Schauplätze von Kafkas Erzählungen usw. geht. Das ist nicht das Wesentliche. Prag ist für Kafkas Verständnis wichtig aus einem anderen Grunde. Wie immer wir es nehmen, Prag ist ein alter Kulturboden, der durch Jahrhunderte wuchs, ein großes Zentrum des europäischen Kulturlebens, ein Zentrum, in dem sich auch wichtige historische Konflikte verknoteten. Man muß Kafkas Wort von dem Mütterchen Prag, das Krallen hat, das nicht losläßt, zur Kenntnis nehmen, man muß auch auf den Gedanken von E.E. Kisch hinweisen, daß in der Geschichte Prags, wie kaum in einer anderen Stadt Mitteleuropas sich die ganze Weltgeschichte widerspiegelt. In Prag flossen durch die Jahrhunderte verschiedenartige Strömungen der europäischen Kultur zusammen; aus ihrem Zusammenstoß entwickelten sich teils Konflikte, teils komplizierte wechselseitige Einflüsse. Prag wurde zu einem Vorposten der slawischen Kulturwelt, die hier einen großen überragenden Einfluß erlangte. Nach Prag drangen aber auch Einflüsse der deutschen Kultur, hier gab es Konflikte, aber auch wechselseitige Beziehungen dieser beiden Kulturwelten. Prag war schließlich ein altes Zentrum des jüdischen Lebens, hier entstand die legendäre Tradition des Rabbi Löw, die man – wenn man von Kafka spricht – nicht ignorieren kann, denn ich bin überzeugt, daß auch die jüdische Tradition, der Talmud und anderes, an der Entstehung seines Werkes mitwirkte. Kafkas Eigenarten kann man völlig nur verstehen, wenn man ihn als eine Erscheinung wertet, die aus diesem und gerade aus diesem Kulturboden hervorgewachsen ist. (Reimann 1965b: 222f.)

Das ist durchaus eine prägnante Beschreibung der Spezifik Prags, die hier eben auch als eine – sowohl diachrone wie synchrone – besondere Interkulturalität Prags erkennbar wird. Ausführungen zur Relevanz dieser Beschreibung für Kafkas Texte bleibt Reimann dann allerdings schuldig, weil er gleich wieder zur Frage übergeht, warum Kafka in seiner Zeit nicht zum Kommunismus fand.23 23 Das geht so weit, dass Reimann sich – mit Bezug auf Fuchs und Janouch – zur These ‚versteigt‘, dass Kafka, hätte er nur länger gelebt, schon noch zum Kommunismus gefunden hätte: „Rudolf Fuchs hat, weit entfernt von der Absicht, Kafka in irgendeiner primitiven Weise für den Kommunismus zu ‚agitieren‘, mit Kafka auch über den Kommunismus gesprochen und bezeugte mir, daß sich Kafka dafür lebhaft interessierte. Das hat mir, viel

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Eduard Goldstücker lässt es sich schließlich in seiner Zusammenfassung der Diskussion nicht nehmen, auf diesen Punkt ein weiteres Mal zurück­zukommen: Aus den Fragekomplexen, die uns helfen, näher an Kafka heranzukommen, ist der Komplex Kafka und Prag wichtig. Da wir diese Konferenz in Prag veranstalten und weil viele Momente dafür sprechen, daß gewisse Dinge nur von Prag aus gesagt werden können, aus der intimen Kenntnis dessen, was Prag zu Kafkas Lebzeiten bedeutete, sowie der ganzen Atmosphäre jener Epoche, glaube ich, daß die Kafka-Forschung in der Tschechoslowakei im Rahmen der Kafka-Forschung in der Welt eine besondere Aufgabe hat. Deshalb habe ich den Komplex von Problemen hervorgehoben und tue dies von neuem. Es ist undenkbar und entspricht nicht den Tatsachen, daß ein Gelehrter, nehmen wir an aus Grönland, der auf eine Woche hierher kommt, oder der einen Monat, eventuell ein ganzes Jahr lang zurückgezogen in einem Archiv arbeitet, das Wesen dieser Dinge erfassen könnte. Wie falsch eine solche Behauptung ist, zeigt die Tatsache, daß praktisch alles, was in der sich mit Kafka befassenden Weltliteratur über den Komplex Kafka und Prag gesagt wird, entweder von Personen stammt, die den Komplex aus der Prager Autopsie kennen, oder von solchen, die ihn von Pragern übernehmen. Zu diesem Komplex wurde jedoch von niemandem wesentlich Neues hervorgebracht, das nicht aus Prag stammen würde. (Goldstücker 1965c: 278)

Jetzt erst bewegt sich Goldstücker mit seinen Ausführungen zum Thema „Kafka und Prag“ auf dem Niveau, das ihm Kusák zuvor schon vorgeworfen hatte: Zu diesem Punkt hat jeder Nicht-Prager zu schweigen! Was Goldstücker übersieht: Das Prag des Jahres 1963 ist einfach nicht mehr das Prag Kafkas. Dazwischen liegt nicht nur viel Zeit, sondern auch das Protektorat Böhmen und Mähren und die Machtergreifung der Kommunisten, wobei mit letzterer das interkulturelle Prag, das Gemisch von „Tschechen, Deutschen, Juden“ schlicht verloren ging. Kafkas Prag ist selbst für die Prager des Jahres 1963 eine ‚verlorene Zeit‘ – es sei denn, man bringt allen Ernstes einen „Genius loci“ in Anschlag, wie dies, wie zitiert, Jiří Hajek (1965: 111) in seinem Beitrag tut. Solche ‚verlorenen Zeiten‘ aber lassen sich nur durch intensive Forschung wiedergewinnen, durch eine akribische, alle Archivbestände berücksichtigende Aufarbeitung. Über ‚dieses‘ Desiderat hat Eduard Goldstücker 1963 in Liblice schlechterdings hinweggeredet.

später, auch Janouch bestätigt. Fuchs sprach in diesem Zusammenhang die Vermutung aus, daß Kafka, wäre er nicht so schwer krank gewesen und hätte er länger gelebt, den Weg zum Kommunismus gefunden hätte. Das begründete er aus der ganzen geistigen Haltung Kafkas in den letzten Lebensjahren. Fuchs aber äußerte dies vorsichtig, als eine niemals beweisbare Vermutung.“ (Reimann 1965b: 224)

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5. Schlussfolgerungen Ich habe mit dem Hinweis auf die denkbar große Unoriginalität begonnen, sich unter dem Stichwort ‚Kafka und der Sozialismus‘ mit der ersten Konferenz von Liblice zu befassen. Hätte ich diese Perspektive tatsächlich gründlich verfolgen wollen, hätte man die Beiträge des zugehörigen Sammelbandes geduldig ins Gesamtpanorama der marxistischen Ideologie und Literaturwissenschaft der frühen 1960er-Jahre einordnen müssen. Einer Studie zur Rezeption Kafkas aber reicht die Diagnose, dass selbst diejenigen, die Kafkas Werk gut marxistisch aus der Geschichte und dem gesellschaftlichen Umfeld heraus erklären wollen, somit „aus Prager Sicht“, niemals konkret werden. Die Zuschreibungen werden oft nur als Programmatik entfaltet oder bleiben erschreckend allgemein und stereotyp. Allerdings gilt das Gleiche auch für diejenigen, die mit dem Freund Kafka aus Prager Sicht noch radikaler ernst machen. Urzidils Formeln vom kafkaesken Prag und vom nie mehr so sehr Prag seienden Prag wie zu Kafkas Zeiten sind jedenfalls um keinen Deut genauer. Mir selbst scheint, dass den Weg zum Zusammenhang des Kafkaschen Werks mit dem Prag des frühen 20. Jahrhunderts noch am ehesten Libuše Moníkovás Rede vom „Gemisch von Tschechen, Juden und Deutschen“ weist. Johannes Urzidil hat, als Kontrafaktur von Eisners dreifachem Ghetto, den „Prager deutschen Dichtern“ den „gleichzeitigen Zugang zu mindestens vier ethnischen Quellen“ zugeschrieben: dem Deutschtum selbstverständlich, dem sie kulturell und sprachlich angehörten; dem Tschechentum, das sie überall als Lebenselement umgab; dem Judentum, auch wenn sie selbst nicht Juden waren, da es einen geschichtlichen, allenthalben fühlbaren Hauptfaktor der Stadt bildete; und dem Österreichertum, darin sie alle geboren und erzogen waren. (Urzidil 1966a: 7f.)

Urzidil fährt fort: „Jede dieser Quellpunkte […] bezog seine Dynamik aus zwei Sphären: aus dem ortsgebundenen Pragertum und aus dem zentripetal anflutenden Böhmentum“ (Urzidil 1966a: 8). Das untergräbt immerhin die von Eisner gesetzten starren Grenzen und bringt auch noch die Provinz ins Spiel – und ist doch auch noch viel zu unpräzise. Kafka aus Prager Sicht oder Kafka als Autor einer Regionalliteratur zu zeichnen, bedarf jedenfalls noch großer Anstrengung (und wird selbstverständlich die traditionellen ‚Kafkologen‘ in Rage bringen). Doch könnte es beitragen zu einer weniger gewalttätigen Lektüre Kafkas. Dabei behauptet ja zumindest heute niemand mehr, dass man Kafkas Texte umfassend aus Prag heraus erklären könne oder dass das alles ist. Statt um eine Wiederbelebung des Theoriedesigns marxistischer Li-

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teraturwissenschaft geht es vielmehr darum, eben in der Struktur Kafkascher Texte den besonderen trans- oder plurikulturellen Kontext ihrer Entstehung mitreflektiert zu sehen. Man kann sich fragen, warum die Beiträger zur ersten Konferenz in Liblice so deutlich an ihrem Vorhaben, „Franz Kafka aus Prager Sicht“ zu perspektivieren, gescheitert sind. Die ebenso einfache wie naheliegende Antwort ist, dass eine marxistische Widerspiegelungstheorie notwendig an Kafkas Texten vorbeigehen muss – und dies erst recht, wenn es eben um die Frage des Verhältnisses von „Kafka und Prag“ geht. Denn dass sich Prag (oder auch nur seine damaligen gesellschaftlichen Bedingungen) so einfach in Kafkas Texten widerspiegeln, ist eine angesichts der spezifischen Struktur dieser Texte schlicht abstruse Behauptung. Wenn ich dennoch an einem Forschungsdesiderat ‚Kafka und Prag‘ festhalte, dann eben nicht unter der Voraussetzung, dass Kafka ‚über‘ Prag geschrieben habe oder dass seine Texte von Prag handelten (was die These von der Widerspiegelung ja notwendig voraussetzt). Am ehesten lässt sich wohl davon sprechen, dass Prag (vor allem seine spezifische Interkulturalität und alles, was mit ihr verbunden ist) sich ins Werk Kafkas ‚übersetzt‘ finden. Das Übersetzungsparadigma24 (im Sinne dessen, was inzwischen gelegentlich schon Translational turn heißt und sich dabei nicht nur auf die Übersetzung aus einer Sprache in eine andere bezieht, sondern auch kulturelle Übersetzungsleistungen meint) hat den Vorteil, dass man so zwar darauf beharren kann (dann aber auch konkret nachweisen muss), dass Kafkas Texte einen Bezug zu Prag haben; dass man aber sozusagen implizit schon voraussetzen kann, dass Kafkas eben nicht ‚über‘ Prag schrieb. Denn die Frage ist unter dieser Voraussetzung vielmehr, wohin er seine Erfahrungen in und mit Prag übersetzt hat. Um es zuletzt an nur einem Beispiel deutlich zu machen: Die Relevanz seines (ja durchaus spezifisch Pragerischen) Judentums für Kafkas Texte ist immer wieder behauptet und immer wieder belegt worden. So hat etwa Karl Erich Grözinger in seiner Studie Der Prozeß und die Türhüter-Tradition, die sich in seinem Buch Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka findet, die kabbalistischen Vorbilder der Türhüterlegende so präzise herausgearbeitet, dass man danach an diesem Bezug m. E. nicht mehr vorbeikann. Allerdings führt er im Weiteren aus, dass zu den entsprechenden 24 Ich habe in einem Aufsatz zu Libuše Moníkovás Pavane für eine verstorbene Infantin (Weinberg 2012b) versucht, einen solchen Horizont kultureller Übersetzungen als entscheidende Bezugsgröße für alle Migrantenliteratur zu entwerfen, habe aber auch in diesem Aufsatz schon darauf hingewiesen, dass sich dieser Ansatz auch etwa auf Goethes West-Östlichen Divan oder Franz Kafka anwenden lässt.

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Themen in der jüdischen Synagoge immer dann gepredigt worden sei, als Kafka die jeweiligen Texte geschrieben habe, was eine wiederum banale ‚Einflusstheorie‘ voraussetzt. Aber selbst wenn man diese gut kulturwissenschaftlich durch ein allgemeines, wohl oft auch unausdrückliches Wissen Kafkas um diese Dinge ersetzt, ist damit noch lange nicht gesagt, dass es sich bei der Türhüterlegende um einen ‚jüdischen Text‘ handelt, denn dem Text ist sein jüdischer Hintergrund nur noch sehr bedingt abzulesen. Eben das meint die These der Übersetzung des Judentums oder Prags. Es wird erst noch umfangreicher Arbeiten bedürfen – und zwar sowohl in der akribischen Erforschung der verlorenen Zeit von Kafkas Prag als auch in der dann anders als bisher (und weniger gewaltsam) agierenden Interpretation seiner Texte –, um dem Forschungsdesiderat ‚Kafka und Prag‘ gerecht zu werden und so vielleicht auch eine neue Phase der Kafka-Rezeption einzuleiten. In Liblice 1963 blieb dieses Versprechen jedenfalls ungehalten; es einzulösen wird nur mittels des Dementis der in Liblice 1965 gemachten Voraussetzungen zur Prager deutschen Literatur gelingen.

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Ekkehard W. Haring

Produktive Missverständnisse. Zur Kafka-Rezeption in der DDR zwischen 1968 und 1989 Ach nein, Herr Kafka, wir gehen doch wohl wesentlich andere Wege als Sie. (Endler 2005: 51, Schreibender Arbeiter) [...] – zufällig oder nicht zufällig erinnert jeder K. eines Buches zuerst an Kafka-Verdünnung – [...] (Hilbig 1992: 220)

Die Kafka-Rezeption der 1950er-/1960er-Jahre in der DDR ist immer wieder Gegenstand ausführlicher Analysen und Rückblicke gewesen. Nicht ohne Grund steht die Konferenz von Liblice 1963 im Zentrum dieser Betrachtungen – gehen doch von hier aus wesentliche Impulse auf die weitere Auseinandersetzung mit Werk und Person Franz Kafkas aus. Dennoch scheint es so, als würde die starke Fokussierung auf Liblice mitunter auch den Blick auf die allgemeine Kafka-Rezeption in der DDR verstellen oder einseitig verzerren. Zwar lassen sich mit den Prager Ereignissen der 1960er-Jahre die Befangenheiten vieler Akteure in Kultur und Politik erklären, die zur öffentlichen Tabuisierung des Dichters führten; über die tatsächliche Verbreitung Kafkas in der DDR, seine Diskussion jenseits ideologisch vorgeprägter Diskursbahnen indes erfährt man wenig. Neben dieser ohnehin schwer einzuschätzenden ‚unsichtbaren Rezeption‘ wäre aber auch nach den diskursiven Gegenentwürfen zu fragen. Gerade in den 1970er-/1980er-Jahren vollziehen sich auf literarischem Gebiet Entwicklungen, die einen bemerkenswerten Wandelprozess erkennen lassen und ein neues Kapitel der Kafka-Rezeption eröffnen. Anders als die relativ überschaubare und äußerlich fast homogen wirkende Auseinandersetzung mit Kafka in den 1960ern zeichnet sich die Rezeption der späteren Jahre durch literarische Breite und Vielfältigkeit, nicht zuletzt durch diskursive Selbständigkeit und Originalität aus.1 1 Zur Rezeption Kafkas in der DDR liegen bereits eine Reihe lesenswerter Untersuchungen vor (Behn 1994; Binder 1979; Denham 1992; Erbe 1993; Fingerhut 1985; Hermsdorf 1978, 2006; Höhne 2003; Langenbruch 1978, Langermann 2000; Winnen 2006; Wolle 1998). Die wichtigste und umfangreichste stammt von Angelika Winnen, die sich jedoch vorwiegend

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1. Ein Autor für Revisionisten Gleichwohl wurden in Liblice entscheidende Fragen aufgeworfen, deren Diskussionen den Boden bereiteten für kommende Jahrzehnte. Bereits die Frage nach der „Aktualität Franz Kafkas für eine sozialistische Lebenswelt“, war unter den politischen Vorzeichen der frühen 1960er-Jahre von einiger Brisanz. Offiziell galt der Prager Schriftsteller für DDR-Kulturfunktionäre als dekadent, formalistisch befangen oder, wie es Johannes R. Becher auf dem Leipziger Kulturkongress 1951 bündig zusammengefasst hatte: als überflüssig und irrelevant für die gesellschaftliche Entwicklung des Sozialismus (Becher 1979: 555). Entsprechend zurückhaltend bzw. kritisch waren auch die Positionen der Teilnehmer der DDR-Delegation, sobald es um eine Neubewertung Kafkas ging.2 Insbesondere der Begriff der ‚Entfremdung‘ erwies sich hier als prekär und warf die Frage auf, ob sich Formen der Entfremdung, wie Kafka sie beschrieben habe, auch auf sozialistische Gesellschaften übertragen ließen.3 Die nach Liblice aufkommende Diskussion, deren Echo sich 1964 auf dem Berliner Kolloquium des DSV (DDR-Schriftstellerverband) – der „kleinen Kafka-Konferenz“ – laut genug vernehmen ließ,4 wurde durch einen auf die literarische Rezeption konzentriert. Zudem werden jüngere Autoren und die Literatur der späten 1980er-Jahre nicht berücksichtigt. Hervorzuheben ist auch Klaus Hermsdorfs postum 2006 veröffentlichtes Erinnerungsbuch Kafka in der DDR, in dem zahlreiche Informationen aus der Innenperspektive der DDR-Hochschulgermanistik – allerdings nur bis 1983 – nachzulesen sind. Einige der hier aufgezählten Aufsätze widmen sich eingehend den kulturpolitischen Entwicklungen und Diskursen unter Aussparung rezeptionsästhetischer Aspekte, wobei v. a. die 1950er-/1960er-Jahre im Blickfeld stehen. Die ansonsten fast völlig ausgesparte Grauzone der Alltagsrezeption versucht Wolle (freilich nur exkursiv) zu beleuchten. Daneben gibt es eine Vielzahl germanistischer Analysen, in denen über die Kafka-Rezeption einzelner Autoren nachzulesen ist. Mit dem vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, an die Ergebnisse dieser Arbeiten anzuknüpfen, Ansätze und Betrachtungsebenen zu verbinden und neue Untersuchungen einfließen zu lassen. 2 Eine Übersicht über die wichtigsten Positionen gibt Stromšík (1991: 120-143); s. a. Erbe (1993: 98-102). 3 Bereits vor Liblice wurde in der DDR darüber heftig debattiert. Die Teilnehmer der DDRDelegation waren ‚gewarnt‘ durch den Fall Peter Huchels, der 1962 als Herausgeber der Sinn und Form-Doppelnummer (1962/5-6) Kontroversen auslöste und daraufhin in Ungnade fiel; ausführlich dazu Schor (1992). Die Diskussionen der Vorjahre waren in der DDR in besonderer Schärfe geführt worden, sodass es den ostdeutschen Referenten von Liblice in erster Linie darum ging, Kafka als historisch wichtigen Autor zu retten, ihn aber auf keinen Fall in die Nähe einer aktuellen Deutung zu rücken. 4 Zu den Kafka-Bezügen dieser Konferenz s. Scherstjanoi (2008).

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Aufsatz von Alfred Kurella Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka in die Schranken verwiesen (Kurella 1964: 10-12): Die Anwendung von Kafkas Parabeln einer entfremdeten, bürokratischen Welt auf die Verhältnisse des real existierenden Sozialismus sollte für die ostdeutsche Kulturpolitik auf Jahre tabu bleiben (Winnen 2006: 21). Daran änderten auch gelegentliche Vorstöße und Anfragen namhafter Schriftsteller wie Stephan Hermlin, Franz Fühmann oder Anna Seghers nichts. Ihre Versuche, die übertrieben dogmatische Verurteilung Kafkas aufzuheben oder wenigstens zu mildern, fanden keine Resonanz; Fühmanns Appell in seinem offenen Brief an den Minister wurde von der Redaktion des Neuen Deutschland schlichtweg aus dem Textentwurf gestrichen (Behn 1994: 326). Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings schließlich waren aus Kafkas Fürsprechern von Liblice – insbesondere Goldstücker, Fischer, Garaudy – Vertreter feindlicher bürgerlicher und revisionistischer Ideologien geworden. Kulturminister Klaus Gysi, der sich wenige Jahre zuvor noch als Aufbau-Verlagsleiter am Zustandekommen der ersten Kafka-Ausgabe (1965/67) beteiligt hatte, schwor nun, 1968, seine Parteigenossen auf ein gemeinsames Bekenntnis ein: Welches Erbe ist uns gemäß? Faust oder Gregor Samsa? […] Der Kampf um Kafka diente dazu, Enttäuschungen zu etablieren, zu verbreiten, um mich der Terminologie jener Intellektuellen zu bedienen, deren Wirken sich […] nahtlos in die psychologische Kriegsführung des Imperialismus einpaßte. [...] Das war leider nicht nur geistige Notzucht, die hier mit dem Andenken eines unglücklichen und bedeutenden Schriftstellers getrieben wurde, das war die systematische geistige Vorbereitung jener Ereignisse, die unser Nachbarland in eine tiefe, von Konterrevolution ausgenützte Krise stürzte. (Gysi 1968: 187f.)

In ähnlicher Diktion warnte 1969 auch Parteichef Walter Ulbricht vor einer von rechten Revisionisten betriebenen „Idealisierung […] des Kafka, nicht um ihn zu ehren, sondern ihn als Rammbock gegen den sozialistischen Realismus zu nutzen“ (Ulbricht 1969: 1274). Seinem Staatsgast Gustav Husák empfiehlt Ulbricht noch 1970 eindringlich, mit aller Konsequenz „gegen die kleinbürgerlichen Ideologien auf dem Gebiet der Kultur (Kafka u. a.) und Ökonomie aufzutreten“.5 Kafkas Werk – als Agentur revisionistischer Verschwörung: Sowohl Kafka-Leser, als auch seine literarischen Vermittler standen folglich unter dem Verdacht subversives Gedankengut im Dienste einer falschen Ideologie zu fördern. Ein Umstand, dessen Tragweite nicht unterschätzt werden sollte – 5 BArchB (SAPMO, DY 30/IV A2/2.021/918: Protokoll der Aussprache mit dem Ersten Sekretär des ZK der KPC, Gen. Dr. Husak und seine Begleitung anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse am 8.3.1970, Bl. 8), zit. b. Wolle (2008: 208).

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führte er doch letztlich dazu, dass die entscheidenden Auseinandersetzungen mit dem Prager Dichter statt in öffentlicher Diskussion vorwiegend in der Abgeschiedenheit privater Lesezirkel – in durchaus intensiven Lektüren – geführt wurde. Kafkas Proceß und andere Schriften wanderten in zerlesenen Textkonvoluten, deren Anblick mitunter an den Zustand der Originalmanuskripte erinnerte, von Hand zu Hand.6 Auch Bibliotheken – öffentliche wie private – erfüllten in bescheidenem Maße ihren Zweck. Der oft und zu Recht beklagte Mangel an relevanten Buchausgaben konnte nicht verhindern, dass Kafka dennoch gelesen wurde. Freilich beschränkte sich die Rezeption auf ein nicht allzu breites Publikum, dessen Aufmerksamkeit sich hauptsächlich auf Texte richtete, in denen aussagekräftige thematische Bezüge zur eigenen Gegenwart zu finden waren. So wurde Der Proceß von nicht wenigen als „Vorausahnung totalitärer Herrschaftspraxis“ gedeutet; bereits die Verhaftungsszene Josef K.s ließ sich wie eine Geschichte aus dem Umfeld des MfS lesen, was durch zahlreiche weitere Details des Romans nur noch unterstrichen wurde (Wolle 1998: 222). Gleichwohl hat die Verbannung Kafkas aus dem Bildungskanon der DDR – Faust statt Gregor Samsa – die Diskussion seiner Schriften zwar einschränken, aber nicht verhindern können. Im Gegenteil – sie sind durch die Didaktik des Deutschunterrichts nicht beschmutzt worden. Sie wurden zum Gegenstand der kulturellen Neugierde. (Hermsdorf 2006: 251)

Auch die hochrangige politische Kritik an den Fürsprechern eines schwer zugänglich bleibenden Werkes sollte die Nachfrage schüren. Kafkas Werk avancierte auf die Weise seiner Tabuisierung zum Geheimtipp, zum Lesestoff für Unangepasste und oppositionelle Kreise – es gehörte zu einer „Subkultur für Eingeweihte“ (Hermsdorf 2006: 251). Als fatal sollte sich hingegen, neben der desaströsen Editionspraxis, das Fehlen eines politisch unabhängigen, philologisch fundierten Kafka-Bildes erweisen.7 Somit wurden Leben und Werk des Autors zur Projektionsfläche willkürlicher Deutungen. Unter den genannten Voraussetzungen war Kafka 6 Eine profunde Untersuchung des Anteils solcher Texte wie Kafkas Prozeß oder Solschenizyns Archipel Gulag an der Herausbildung einer kritisch intellektuellen Subkultur und der sich später formierenden Bürger- und Demokratiebewegung wäre durchaus lohnenswert. 7 Eine Kafka-Biographie hat es in der DDR nicht gegeben. Die seit den 1960er-Jahren für diverse Lexika verfassten Autorenporträts waren Spiegelbilder der offiziellen Kulturpolitik (Behn 1994: 326ff.). Helmut Richters und Klaus Hermsdorfs Arbeiten, um die einzigen verdienstvollen Monographien von 1959 u. 1961 zu nennen, stützten sich zwar auf Forschungsergebnisse der westlichen Kafka-Forschung und -Biographik, formulierten aber deutlich weltanschauliche Standpunkte.

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schon vor 1968 zur „verknüpfenden Chiffre innerhalb eines vielschichtigen und politisch brisanten Diskurs-Feldes“ und sein Werk zum „Kristallisationspunkt“ geworden (Langermann 2000: 175f.). Dabei gehörte die Auseinandersetzung mit dieser Chiffre durchaus zur Alltagserfahrung, wenn es um die Bestimmung individueller oder gesellschaftlicher Standpunkte ging. Ihr sinnstiftendes Potential zeigte sich vor allem in der Vielfalt von Gemeinplätzen und Missverständnissen – wie Adolf Endler anschaulich in seinen Aufzeichnungen festhält: Der Journalist Mechtel aus Neubrandenburg (‚Parteijournalist‘) berichtet mir von seiner Armeezeit ’68/’69 und seiner damaligen Kafka-Lektüre. Als der Hauptmann in den Händen von M. den ‚Prozeß‘ von Kafka wahrgenommen hatte: ‚Geben Sie das mal her, das muß ich einziehen! Dieser Kafka, wissen Sie das denn nicht?, das ist doch der Führer der tschechischen Konterrevolution …‘ (Ein Vertreter weniger der ‚gebildeten‘ als der durch Kurella u. ä. ‚geschulten‘ Nation). (Endler 2005: 51)

2. Neuentdeckung Kafkas als humanistischer Autor Mit dem Ende der Ulbricht-Ära deutete sich tatsächlich eine Kurskorrektur an. Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 sprach Erich Honecker darüber, dass es für die Schriftsteller der DDR keine Tabus gebe.8 Eine Bemerkung, die sehr bald nachgebessert wurde: „Tabufreie Kunst“ – soweit sie unter dem gemeinsamen Streben sozialistischer Ideale stand. Damit war keineswegs die von Künstlern ersehnte Demokratisierung eingeleitet. Honeckers Sentenz steht vielmehr exemplarisch für eine neue Politik der Doppelzüngigkeit, die bemüht ist, die immer deutlicher zutage tretenden Widersprüche zwischen Ideal und Realität der sozialistischen Gesellschaft in beschönigender Phrase zu glätten. Wer 1971 an das aufgehobene Tabu glaubte, wurde spätestens 1976 aus den Träumen gerissen. Immerhin wurde die Zensur, die es laut Verfassung offiziell gar nicht gab,9 etwas nachgiebiger, vergleicht man mit den 1960er-Jahren. Auch die Schrift8 „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es m. E. auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils […].“ (Honecker 1971; s. a. Neues Deutschland, 18.12.1971) 9 Laut DDR-Verfassung existierte eigentlich keine rechtliche Grundlage für die Zensur. Eindeutig garantierte der Artikel 27 die Meinungs-, Presse- und Medienfreiheit. Es ist bezeich-

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steller gewannen nun in begrenztem Rahmen an Autonomie (Zipser 1995: 20ff.; Franke 1993: 126). Eine Veröffentlichung, die sich zweifellos dieser Entwicklung verdankt, ist Anna Seghers Novelle Die Reisebegegnung (1973). Bemerkenswert ist diese Erzählung nicht unbedingt aufgrund ihres künstlerischen Gehalts, sondern weil sie eine neue Phase der literarischen Auseinandersetzung mit Kafka einleitet. In der insgesamt recht statisch und konstruiert wirkenden Erzählung wird eine fiktive Begegnung Franz Kafkas mit den Dichtern Nicolai Gogol und E. T. A. Hoffmann in einem Prager Café der 1920er-Jahre inszeniert. Das Gespräch der drei Autoren kreist im Wesentlichen um Fragen der literarischen Widerspiegelung von Wirklichkeit – wobei vor allem über die Verantwortung des Schriftstellers, das Verhältnis von Leben und Schreiben, aber auch über das Problem von Zensur und Selbstzensur unter politischem Druck diskutiert wird. Kafka wird hier durchaus positiv porträtiert: als realistischer Schriftsteller, der gleichsam für ein humanistisches Weltbild eintritt, in seinem Spätwerk allerdings die Aspekte der Ausweglosigkeit überbetont. Seghers unterlegt dies mit Textauszügen aus seinen Romanen und Erzählungen, die wiederum von den drei Dichtern ausführlich kommentiert bzw. diskutiert werden. Unverkennbar verfolgt die Erzählung auch eine didaktische Absicht: Ihre Leser sollen an Kafka herangeführt werden, um seine literarische Leistungen, wie auch seine Grenzen erkennen zu lernen. Die Reisebegegnung steht am Beginn einer langsamen Rehabilitierung Kafkas in der DDR (Behn 1994: 328).10 Dabei mag die Tatsache, dass die Erzählung von einer renommierten Schriftstellerin stammt, die sich auch Anfang der 1970er-Jahre noch – als andere Autoren bereits Abschied vom kommunistischen Traum genommen hatten – als überzeugte Sozialistin verstand, eine nicht ganz unerhebliche Rolle gespielt haben. Immerhin war Seghers als Präsidentin des Schriftstellerverbandes eine wichtige Repräsentantin der DDRLiteratur. Die Erzählung erschien zudem zu einem Zeitpunkt, als im Rahmen der sogenannten Erbediskussion neu über literarische Vorbilder verhandelt wurde (Winnen 2006: 32). Noch 1963 hatte Seghers als Delegationsmitglied an der Liblice-Konferenz teilgenommen, zur Frage nach dem Platz Kafkas im Literaturkanon der DDR jedoch beharrlich geschwiegen.11 Ihre Erzählung kann vor diesem Hintergrund wohl auch als ‚verspäteter Beitrag‘, oder zuminnend, dass der Staatsratsvorsitzende Honecker noch 1990 nichts von einer Zensur gewusst haben wollte. 10 Martina Langermann (2000: 208) spricht indes von einer „stillen Eingemeindung“ Kafkas als humanistischer Autor, die bereits seit Ende der 1960er-Jahre einsetze. 11 Eine erste Stellungnahme gibt Seghers erst 1965 auf dem internationalen Schriftstellertreffen in Weimar ab (Seghers 1965).

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dest als Reaktion auf die Entwicklungen der Vorjahre betrachtet werden. Wie immer man Seghers längst überfälligen Versuch einer Positionierung beurteilen mag: Entscheidend ist vor allem die Verteidigung des Kafkaschen Werkes – trotz kritisierter Mängel – im Rahmen eines marxistischen Literaturbegriffs. Formen produktiver Aneignung Kafkas lassen sich auch in Christa Wolfs 1974 erschienenem Erzählband Drei unwahrscheinliche Geschichten erkennen. In Neue Lebensansichten eines Katers (1970) werden in deutlicher Anspielung auf E. T. A. Hoffmann, aber auch auf Kafkas Bericht für eine Akademie die wissenschaftlichen Ambitionen eines Katers mit menschlichen Zügen parodiert. Die Erzählung Unter den Linden (1969) berichtet wiederum von einem Traum, in dem die Ich-Erzählerin vor ein unbekanntes Gericht geladen wird, um nach einer zurückliegenden Schuld zu suchen. Die hier geschilderte ‚kafkaeske‘ Atmosphäre wird schließlich mit dem ‚Traumerwachen‘ überwunden: Die Untersuchung im Traum diente der Selbstfindung der Erzählerin. Wolfs literarische Anleihe gründet wie bei Seghers in der Überzeugung, „Kafka mit positivem Ausgang ‚weiterschreiben‘ zu können“ (Winnen 2006: 109) und ihn gegebenenfalls auch zu ‚korrigieren‘. Anders als Seghers allerdings stützt sich die Erzählerin auf Kafka als eine literarische Tradition,12 die die Schwierigkeiten der Suche nach einem authentischen Subjekt fokussiert. Der unbestimmte Rückgriff auf Kafkaeskes bedeutet dabei weniger eine Aufwertung des Prager Dichters als vielmehr die Abkehr vom alten Realismusdogma in Wolfs Schreiben. Der literarische Spurwechsel, die Wende zur Innenansicht, impliziert für die Autorin ein neues Selbstverständnis – und nicht zuletzt die Utopie von der Subjektwerdung des Individuums, das sich über gesellschaftliche Normen hinwegsetzt, um als authentisches Subjekt die sozialistische Gesellschaft zu verändern. Veröffentlichungen wie Unter den Linden oder Neue Lebensansichten eines Katers wären zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen; sie markieren somit in der Literatur der 1970er-Jahre eine Entwicklungsstufe mit erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten: Gesellschaftlich brisante Fragen werden nun, in Fortsetzung literarischer Traditionen, mittels Selbstreflexion und Selbstbespiegelung als kulturelle Fragen behandelt. Wiederholt hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang auf Klaus Schlesingers 1977 erschienene Erzählung Die Spaltung des Erwin Racholl, die von Wolf inspiriert wurde und zahlreiche Parallelen zu Kafkas Proceß aufweist. Er12 Die Traditionslinie Kafka wird vermittelt durch Ingeborg Bachmann, die zu dieser Zeit großen Einfluss auf Christa Wolf ausübte. In den 1960er-Jahren hatte Wolf den Prager Autor noch als unbrauchbar bezeichnet; in ihren späteren Büchern bleibt eine gewisse Reserviertheit gegenüber Kafka bestehen, explizite Hinweise auf Kafka finden sich z. B. im Reisebericht zu Kassandra.

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zählt wird die Geschichte eines Partei-Karrieristen, der von seiner politischen Vergangenheit (Beihilfe zur Republikflucht) eingeholt wird. Gefangen in der albtraumhaften Realität eines undurchschaubaren Gerichtsprozesses führt ihn die Ausweglosigkeit seiner Lage schließlich in eine Ich-Spaltung (Köhler 2007: 65; Schlesinger 1977). Die Fortschreibung Kafkas hat hier bereits eine für DDR-Autoren verbindliche Grenze überschritten und mündet offen in Systemkritik. Wenn die Erzählung dennoch im Jahr 1977, ein Jahr nach Biermanns Ausweisung, veröffentlicht wurde, so zeugt das entweder von einer punktuellen Liberalisierung (Emmerich 2009: 255) oder von einer taktisch motivierten Druckgenehmigungsstrategie seitens der Zensur.13 – Eine Druckgenehmigungspraxis, wie sie nicht zuletzt an der Editionsgeschichte Kafkas exemplarisch vordemonstriert wurde. Wurden DDR-Leser bis weit in die 1970er-Jahre deutlich unterversorgt mit Kafka-Ausgaben (1965 u. 1967 erschienen lediglich zwei Ausgaben in karger Auflagenhöhe), so wurden sie nach dem Kafka-Jubiläumsjahr 1983 mit neuen Ausgaben fast überversorgt.14 Freilich zeigten sich auch hier klare Grenzen: Eine Tagebuchausgabe hat es bezeichnenderweise in der DDR nie gegeben, offenbar ließ sich das literarische Genre Tagebuch in die Ästhetik des sozialistischen Menschenbildes nur schwer integrieren – wie namhafte Beispiele gezeigt hatten.

3. Paradigmenwechsel mit Kafka Kafka war – entgegen allen Tauwetterprognosen – Mitte der Siebzigerjahre noch immer ein verfemter Autor. Dem schreibenden Studenten Lutz Rathe­ 13 Dümmel (1997: 74) spricht von einer „perfiden Druckgenehmigungspraxis“. 14 Größere Sammlungen mit Kafka-Texten wurden nach der kleinen Werkauflage von 1965/1967 erst wieder 1978 bei Reclam (Kafka: Erzählungen) veröffentlicht – diesmal in etwas größerer Auflagenhöhe; 1979 folgte Beim Bau der chinesischen Mauer im G. KiepenheuerVerlag, 1983 im Aufbau-Verlag eine zweibändige Werkausgabe (zweite Auflage 1988), 1984 Die Verwandlung und andere Tiergeschichten im Verlag Der Morgen (zweite Auflage 1987), 1985 im Aufbau-Verlag (Reihe TdW) Erzählungen, 1987 Der Prozeß bei Reclam und Das Schloß bei Volk u. Welt. Brief- und Tagebuchausgaben wurden nicht veröffentlicht – lediglich eine gekürzte Briefauswahl in Canettis Der andere Prozeß erschien bei Reclam. Insgesamt wurden 1965/1967 etwa 15.000 Exemplare, von 1968-1977 keine – und von 1978-1989 ca. 550.000 gedruckte Exemplare (von neun Verlagen) ausgeliefert (Behn 1994: 328).

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now wird die Beschäftigung mit dem Prager Dichter fast zum Verhängnis – wie ein Gesprächsprotokoll der Abteilung Strafermittlung des MfS Gera dokumentiert. – Dazu Rathenow: Alle wollten wissen, ‚auf welcher Seite der Barrikade‘ ich stehe […] ‚Jetzt schreiben Sie ein Kafka-Gedicht‘ hieß es, ‚Was soll das? Wir werden keinen Jenaer Frühling zulassen.‘ (Scheer 1999: 77).15

Bezeichnend ist auch der Journaleintrag Adolf Endlers vom Sommer 1977: Das ständige Geraune darüber, daß Kafka vor allem das Schlimme schlechthin in der Literatur verkörpere, hat offenkundig dazu geführt, daß so mancher der Meinung ist, Kafka treibe auch heute noch sein Unwesen und sei nicht bereits 1924 gestorben. Vor Jahren habe ich mir schon einmal Äußerungen ‚Schreibender Arbeiter‘ über Kafka notiert: Einer schrieb: ‚Ich kramte in meinem Gedächtnis: Den Namen hast du doch schon einmal gehört …‘; und dann: ‚Ach nein, Herr Kafka, wir gehen doch wohl wesentlich andere Wege als Sie.‘ (Endler 2005: 51)

Die Reihe namhafter Autoren, die wie Schlesinger den Weg einer immanenten Systemkritik mit Kafka-Anleihen einschlugen, ließe sich fortsetzen mit Jurek Becker, Günter Kunert, Thomas Brasch, Christoph Hein – Autoren,16 deren literarisches Selbstverständnis auf verschiedene Weise durch das Initiationserlebnis ‚Kafka‘ geprägt wurde.17 In diese Reihe gehört auch der seit den 1970er-Jahren unter Publikationsverbot stehende Autor Gert Neumann, der in seinem Roman Elf Uhr (1981) das Tagebuch zu einem Ort sprachkritischen Widerstands macht. Neumann will mit seinen Aufzeichnungen die verborgene Wirklichkeit – jenseits der durch Sprache vorgeformten Realität – sichtbar machen. Dabei findet er in Kafka einen wichtigen Verbündeten, mit dem er in einen intertextuellen Dialog tritt. Angelika Winnen hat dem eine ausführliche Untersuchung gewidmet, die in vielen Details sehr erhellend ist. Sie konnte u. a. zeigen, dass Neumanns Roman nicht nur im Sinne einer produktiven Aneignung Kafkas zu lesen ist, sondern gleichsam hinsichtlich der Interpretation Kafkascher Prätexte erstaunliche Einsichten vermittelt (Winnen 2006: 162-222). Besondere Erwähnung verdient Franz Fühmanns viel beachtete Erzählsammlung Saiäns Fiktschen von 1981 (entstanden 1974-80). In Pavlos Papierbuch, 15 Bereits 20 Jahre vorher hatte Erich Loest seinen Einsatz für Kafka, Joyce und Proust mit einem Zuchthausaufenthalt gebüßt (Behn 1994: 319 u. 328). 16 Jurek Becker (Schlaflose Tage, Die Beschwerde oder Der Verdächtige) – zu inhaltlichen und formalen Parallelen mit Kafka s. Wieczorek (1990); Günter Kunert (Interfragmentarium, Zirkuswesen, Türen), Christoph Hein (Der neuere [glücklichere] Kohlhaas). 17 Die Reihe ließe sich fortsetzen. Die hier genannten Autoren haben in Selbstzeugnissen den prägenden Einfluss Kafkas erwähnt.

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der letzten Geschichte des Bandes, wird die Rezeption von Kafkas Strafkolonie in einer fernen Zukunft explizit zum Thema gemacht: Man schreibt das Jahr 3456, die Welt ist zerrissen in zwei feindliche gesellschaftliche Systemblöcke „Uniterr“ und „Libroterr“ – ein Stillstand menschlicher Entwicklung (oder wie Fühmann es charakterisiert: ein Zustand „entwickelter Entwicklungslosigkeit“; Emmerich 2009: 279) ist erreicht. Hier ist es der Leser Pavlo, der in Kafkas Erzählung eine ernüchternde Aktualität entdeckt, die er zwar nicht reflektieren kann, dafür aber intuitiv erfasst. Am Ende der Lektüre wird ihm schlagartig der Zusammenhang deutlich, der zwischen seiner Welt und jener der Strafkolonien (wie auch der des Lesers von 1981) besteht: In Kafkas Worten „… es war armes, gedemütigtes Volk“ liest Pavlo eine universale Botschaft, die ernüchternd hinter den Begriffen der Realität als conditio humana aufleuchtet (Fühmann 1985: 157). Fühmanns Erzählung bietet, anders als Seghers oder Wolf, keinen Raum mehr für utopische Entwürfe und macht die Resignation verständlich, die Pavlo am Ende befällt. Die ferne Zukunft, wie sie „Uniterr“ – ein verzerrtes Spiegelbild der DDR – repräsentiert, ist im Grunde trostlos, weil sie die drängenden gesellschaftlichen Probleme nicht gelöst hat und den Prozess der Entfremdung ad infinitum weiterführt. Für DDR-Leser, gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen und nach Analogien zu suchen, war Saiäns Fiktschen alles andere als eine banale Science-Fiction: Fühmanns offensichtliche Provokation bestand in der parabolischen Darstellung einer Endzeitgesellschaft mit vertrauten Zügen. Kafka wird hier auffallend als Referenz für den fortschreitenden Prozess der Desillusionierung in Anspruch genommen. Mit dieser Lesart steht Fühmann gewiss nicht allein, wiewohl er damit auch ein nicht ganz unproblematisches Kafka-Bild bedient, das zu Missverständnissen einlädt. Doch unter den Vorzeichen der Zeit ist die Reduktion auf dystopische Aspekte zumindest nachvollziehbar. Das, was sich im Laufe der 1970er- bis in die 1980er-Jahre hinein vollzieht, so resümiert Wolfgang Emmerich am Beispiel der Literatur Fühmanns und anderer, ist ein geschichtsphilosophischer Paradigmenwechsel: Das vom Marxismus in seiner orthodoxen Version vermittelte Fortschrittsdenken wird von den kritischen Künstlern verworfen, der Glaube an ein gesetzmäßig gesichertes Ankommen im Sozialismus und endlich im Kommunismus geht verloren. (Emmerich 2009: 273)

Es entbehrt nach den Verwerfungen der 1960er-Jahre nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Kafka in den literarischen Zeugenstand gerufen wird, um das Ende einer staatstragenden Utopie einzuläuten. Aus dem Angeklagten ist nun abermals ein Kronzeuge geworden.

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4. Ende der Illusionen Die von Fühmann angedeutete Perspektive eines gesellschaftlichen Stillstandes (in ‚entwicklungsloser Entwicklung‘) wurde in den 1980er-Jahren radikal fortgeführt und teilweise sogar utopisch neu besetzt. In diesem Zusammenhang wäre auch Heiner Müller zu nennen, dessen Kafka-Rezeption nachweislich bis in die 1950er-Jahre zurückreicht.18 Müllers spätere Aufsätze, Texte und Montagen (Traktor, Der Bau, Wolokolamsker Chaussee IV. Kentauren, Prometheus etc.) nehmen auf vielfältige Weise intertextuell Bezug auf Kafka.19 So greift Der Mann im Fahrstuhl im Stück Der Auftrag bekannte Texte wie etwa Eine alltägliche Verwirrung oder Der Verschollene sowie Strukturen des Proceß-Romans auf. Wichtig für Müllers eigene Konzeption ist seit Mitte der 1970er-Jahre auch Deleuzes/Guattaris poststrukturalistische Kafka-Schrift Für eine kleine Literatur, die u. a. in der Hamletmaschine verarbeitet wird. Für Müller enthält der Prozess der Desillusionierung – die Annäherung an das Nichthumane, das Tierwerden, wie Kafka/Deleuze/Guattari es beschreiben – auch die Möglichkeit einer Unterbrechung des Kontinuums – und damit eines (Neu-)Beginns von Geschichte (Lehmann/Primavesi/Schmitt 2003: 321f.). Eine ebenso vielfältige wie eigenständige und produktive Rezeption Kafkas lässt sich in Wolfgang Hilbigs Texten feststellen. Hilbig, der als ‚Schreibender Arbeiter‘ begonnen hatte, und mit seinem Werk wie kein anderer die Einheit von Literatur und Arbeitswelt in ihrer krisenhaften Existenz verkörperte, beschäftigte sich mit Kafka spätestens seit den 1970er-Jahren. Intertextuelle Hinweise finden sich dem entsprechend häufig in seiner Prosa – angefangen von den Doppelgängerfiguren und Protagonisten, die als Initialen durch Erzählungen und Romane geistern, über motivische und strukturelle Analogien, 18 Bereits 1951, als Müller den Bankrott des großen Sargverkäufers zu einem Wettbewerb einreicht, wird seine Erzählung als kafkaesk abgelehnt. 19 Die Auswahl bezieht sich hier lediglich auf Texte der 1970er-/1980er-Jahre. Für die 1990erJahre wären einige Kafka-Bearbeitungen (u. a. In der Strafkolonie) zu nennen. Für Robert Wilsons Ausstellung, in der Persönlichkeiten als Stühle porträtiert sind, verfasst Müller Unterschriften – zu Kafka heißt es hier: „Ich hab zur Nacht gegessen mit Gespenstern“. Mit dieser Sentenz beginnt auch ein Gedicht, mit dem Müller 1993 auf die Stasi-Vorwürfe reagiert ( Lehmann et al. 2003: 128f.). Zudem antwortet Müller auf die Anschuldigungen mit einer Lesung von Kafka-Texten im Berliner Ensemble. In der Stasi-Auseinandersetzung steht Kafka für ihn als Gewährsmann: „Die Prosa der Akten erinnert an das Verfahren von Kafka […]. Man begreift, daß Kafkas Arbeit für die Versicherung ihn zum bolschewistischen Schriftsteller qualifiziert hat, die Verwandtschaft der Strukturen“ (Müller 2005: 603 u. 612).

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Problemkonstanten, paradoxe Erzählformen, gestische Figurensprache bis hin zu reinen Kafka-Zitaten. Ein herausragendes Beispiel für diese Art der produktiven Aneignung ist die Erzählung Der Heizer (1980). Der Protagonist H., der heimlich während der Arbeit im Kesselhaus des Werks VI an seinem literarischen Werk schreibt und damit in Konflikt mit den Stellvertretern einer unsichtbaren Betriebsleitung gerät, versucht vergeblich aus seinem Doppelleben auszubrechen. Beim Versuch, endlich als selbstbestimmtes Subjekt zu handeln und der Werksleitung, vielleicht sogar dem Land die Kündigung zu erklären,20 versagt H. und fällt zurück in sein beschämendes ‚Hundedasein‘ als sprachloser Heizer („die Heizer, die Hunde“), der sich selbst als zunehmend kafkaeske Romanfigur imaginiert (Hilbig 2009: 123, 128). Hilbigs Erzählung thematisiert an der Gestalt H. die Rolle des Schriftstellers im Arbeiter- und Bauernstaat und legt damit eine in ihrer Radikalität beispiellose Analyse sozialistischer Produktionsverhältnisse vor: Weil H. es nicht schafft, seinen Protest (in Form einer Kündigung) zur Sprache zu bringen, geht er an den äußeren Verhältnissen und der eigenen inneren Zerrissenheit zugrunde. Die „Kündigung“, die er letzten Endes in einem Fiebertraum niederschreibt, nimmt den „Umfang eines dicken Buches“ ein, welches er seinem Doppelgänger übergibt (Hilbig 2009: 136). An die Leerstelle des handelnden Subjektes ist das Schreiben umfangreicher Texte getreten: Literatur erscheint hier als Instanz der Ohnmacht und des Wirklichkeitsverlusts. In diesem Sinne könnte Der Heizer von 1980 auch als Hilbigs ‚Kündigung‘ an den sozialistischen Großbetrieb gelesen werden21 – nach Fühmanns Saiäns Fiktschen wäre dies eine weitere ‚Kündigung‘ mit explizitem Kafka-Verweis. In seinem 1983 in der Neuen Rundschau erschienem Essay Vorblick auf Kafka nimmt Hilbig eine Abrechnung mit den Kunstdoktrinen der 1950er-/1960erJahre vor, insbesondere mit Brechts folgenreichem Bannspruch, Kafkas Werk könne „kein Vorbild“ sein. Gegen das Diktum des alten schematischen Kunstbegriffs (Kunst als objektive Wiederspiegelung der Wirklichkeit) stellt Hilbig einen Literaturbegriff des Fragments, der wie im Falle Kafkas auf die Anmaßung von Objektivität verzichte und darin weit mehr Wahrheit ausstrahle: „Statt Vorbild zu sein, schuf er mit jedem seiner Werke Bilder, die vor uns stehen […] und die die unverzichtbarsten sind, die von uns gemacht wurden.“ (Hilbig 1992: 219ff.) Noch weitaus brisanter ist der Epilog dieses Essays, der Bezug auf die Gegenwart nimmt: Angesichts des wachsenden Einflusses der 20 „[...] eigentlich hätte er das Land verlassen müssen […].“ (Hilbig 2009: 125) 21 1985 verließ Hilbig die DDR. Der Heizer erschien erstmals 1982 im Frankfurter S. Fischer Verlag. Das im Heizer behandelte Thema wird noch in einigen anderen Erzählungen, z. B. Die Arbeit an den Öfen (1994), weitergeführt.

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Bewusstseinsindustrien und gewisser Tendenzen, die Wirklichkeit in fassadenhaftem Glanz darzustellen, erweise sich gerade Kafkas Aktualität auf furchterregende Weise als aktuell: Die Totsagung Kafkas ist mißlungen, in den unteren Klassen setzt ein Erwachen und Aufblicken ein, das sich immer weniger einer totalen Fremdbestimmung zur Verfügung halten zu wollen scheint. (Hilbig 1992: 222)

Eine Warnung, die sich 1983 auf die globalen Probleme bezog, sich aber ebenso gut auf die Situation des realen Sozialismus münzen ließ (und daher wie so viele Texte Hilbigs für eine Veröffentlichung in der DDR nicht infrage kam). Im gleichen Jahr erschien, rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Dichters und mit einer langen Einführung Klaus Hermsdorfs versehen, die erste geschlossene (zweibändige) Werkausgabe Kafkas in der DDR.22 Auch die Ostberliner Akademie der Wissenschaften nahm das Jubiläum zum Anlass, eine Kafka-Konferenz zu veranstalten – nach exakt 20 Jahren das erste deutliche Lebenszeichen institutioneller Kafka-Forschung in der DDR.23 Die Konferenz wurde denn auch als Zeichen verstanden, den seit 1963 tabuisierten Autor wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse zu machen. Akzente setzten neben Kurt Krolop (zu einer Tagebuchgeschichte) und Eike Middell (zum Schloss-Roman) vor allem Klaus Hermsdorf, der seinem früheren sozialgeschichtlichen Ansatz folgend die Arbeitswelt des Prager Schriftstellers in den Blick rückte: Wenn Kafka im Amerika-Roman die Entfremdungen in der Arbeitswelt beschreibe, so ergebe sich daraus die Frage nach „guter“ und „falscher Arbeit“ – eine Fragestellung, die durchaus mit marxistischem Denken konvergiere (Erbe 1993: 144f.). Hermsdorf modifizierte damit seine 1963 vorgetragene Forderung, den Dichter zu historisieren, in einem entscheidenden Punkt: Kafka ist nun nicht mehr nur historisch von Belang, sondern auch aktuell. Die verschlungene Apologetik dieses Neuansatzes verdeutlicht noch einmal, dass 1983 längst kein Stadium erreicht war, Kafka unverkrampft zu diskutieren – selbst für Hermsdorf, der mit seinen Amtlichen Schriften (1984) zu den wenigen international renommierten Kafka22 Hilbigs Essay scheint in enger, wenn auch kritischer Berührung mit Hermsdorfs Vorwort zu stehen. Auch Hermsdorf hebt Brechts Abbildrealismus hervor und geht auf dessen Kafka-Verdikt – teilweise unter Beifügung derselben Zitate – ein (Hermsdorf 1983: 24f.). Ebenso werden hier die Themen der inneren Entwicklung als Teil biographischer Wirklichkeit (25), der Entfremdungsproblematik (34), der Rolle des Sexus (39) sowie der Bürokratie (50) behandelt. 23 Wenngleich seit den 1970er-Jahren Germanisten sich wieder verstärkt mit Kafka zu beschäftigen begannen, wurde auf institutioneller Ebene über zwei Jahrzehnte kein sichtbares Forschungsinteresse signalisiert.

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Forschern in der DDR gehörte. Auch andere Stimmen aus dem Umfeld der Konferenz sprachen sich für eine Wiedereingliederung des Dichters in den Literaturkanon aus: Der Wert seiner Schriften bestehe nicht zuletzt darin, Fragen aufzuwerfen, deren Diskussion für die Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft und deren Streben nach humanistischen Idealen von Interesse seien (Erbe 1993: 146; Hermsdorf 2006: 267ff.). Zweifellos sandte die Konferenz neue Signale, schon ihr Zustandekommen war ein Zugeständnis des politischen Apparats – aber was war damit erreicht? Den Dichter und seine produktiven gesellschaftskritischen Potentiale hatten bereits Anna Seghers und Christa Wolf in den 1970er-Jahren entdeckt. Die Hochschulgermanistik ist über diesen Erkenntnisstand auch 1983 nicht hinausgekommen. Eine wissenschaftliche Diskussion Kafkas unabhängig von kulturpolitischen Maßgaben hat es im institutionellen Rahmen bis 1989 nicht gegeben.24 Mochte das Werk des Prager Autors nun auch in einer zweibändigen Ausgabe Romane und Erzählungen bei Rütten und Loening (1983) vorliegen, so hatten sich hinsichtlich seiner Deutung die Wogen keineswegs geglättet. Seine Aktualität zeigte sich nicht zuletzt in den Anmerkungen des kritischen Philosophen Wolfgang Heise, der in Kafkas bekannter Prometheus-Auslegung eine „Wahrnehmungschiffre des ‚Endes der Geschichte‘“ sah. Heises Darstellung, zweifellos als Antwort auf Blumenbergs Arbeit am Mythos intendiert (Müller 2013: 191ff.), ließ sich nebenbei auch als unmittelbare Replik auf die aktuelle Kulturpolitik der DDR verstehen: Zum 150. Todesjahr des Klassikers Goethe hatte der Kulturbund namhafte Künstler zur Mitgestaltung eines ambitionierten „Prometheus-Projekts“ aufgerufen – in der Erwartung, mit dem Bild des Lichtbringers den revolutionären Geist insbesondere der jüngeren Generation wachzuhalten (Rittig/Ziemann 1995: 92). Die daraus hervorgehende Künstleranthologie Prometheus 1982 präsentierte freilich keinen unverbrüchlich optimistischen Kollektivmythos, sondern eine Galerie desillusionierter Momentaufnahmen, die den Mythos nach dem Muster eines ganz anderen Klassikers als Goethe fortschrieben – und wurde erwartungsgemäß noch im Jubiläumsjahr konfisziert.

24 Klaus Hermsdorf vertrat in seinen Erinnerungen eines Beteiligten diesbezüglich eine andere Sicht: „Die kulturpolitische Führung gab für das Kafka-Jahr 1983 einen Rahmen frei, den […] die Akteure nicht auszufüllen vermochten“ (Hermsdorf 2006: 267).

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5. Kafka am Prenzlauer Berg Betrachtet man die DDR-Literatur und ihre öffentliche Auseinandersetzung mit Kafka (oder einem ‚kafkaesken‘ System), so wird leicht übersehen, dass zahlreiche Autoren mit ihren Texten sowie manches literarische Projekt eine breitere Öffentlichkeit niemals fanden, vielleicht auch gar nicht suchten. Gert Neumann veröffentlichte z. B. in den 1980er-Jahren vorwiegend in unabhängigen Zeitschriftenprojekten wie Anschlag, Ariadnefabrik, Glasnost, Schaden oder Zweite Person, die in kleinen Auflagen in Künstler- und Intellektuellenkreisen kursierten und in begrenztem Umfang Autonomie versprachen. Nur in einem solchen Rahmen konnten Texte wie Brief in das Gefängnis (1983) publiziert werden: Rekapituliert wird hier der Verlauf eines politischen Strafprozesses. Der Briefschreiber versucht seinem Freund in der Haft Mut zuzusprechen und führt ihm – sichtlich auf der Folie von Kafkas Proceß – die zu erwartenden Konsequenzen vor Augen. Dabei warnt er nachdrücklich auch vor der Gefahr, „in eine ‚Gemeinschaft von Schurken‘“ zu geraten (Neumann 1991: 103ff.). Neumanns Texte verarbeiten biographische Erfahrung und artikulieren mit Kafka einen Realismus, der trotz seiner forcierten Wirklichkeitsnähe in der Öffentlichkeit – selbst in den späten 1980er-Jahren – keinen Platz hat. Für die jüngere Generation eines Uwe Kolbe, Durs Grünbein oder der Autoren des Prenzlauer Bergs, die ihre Texte in Untergrundzeitschriften, Kleinverlagen (teilweise auch in westdeutschen Verlagen) veröffentlichen, ist das Verhältnis zu sozialistischen Idealen und Utopien, wie auch die Gefolgschaft zu einer Einheitspartei längst gebrochen und bestenfalls noch ironisch zu fassen. Durs Grünbein schreibt 1989 in seinem Gedichtzyklus Der cartesianische Hund über einen „jungen Hund“, der an der Grenze seinen Dienst verrichtet – ...zig Jahre Dienst mit Blick auf Stacheldraht / Landauf landab im Trott hält nur ein Hund aus, […] / Wo Pawlow für den Rest der Psyche steht / […] / Ist Dialektik nichts als … Hundetreue; / Sinn für die Stimmung in his master‘s voice. / So kommt es, dass er erst im Abgang klarsieht, / Am Ende des Prozesses. / ‚Wie ein Hund‘. (Grünbein 1991: 95)

Schon in einem vorangegangenen Gedicht des Zyklus‘ hatte Grünbein das „Hundedasein“ als Künstlerdasein erklärt und mit Kafkas „Seekrankheit auf festem Land“ in Verbindung gesetzt (Grünbein 1991: 95).25 Kafka und Joyce leuchten hier als Lichtpunkte einer klassischen Moderne auf, deren Reflexe in 25 Kafkas viel zitierte Metapher aus dem Gespräch mit dem Beter beschreibt den Zustand eines verlorenen Sprache-Welt-Bezugs. Grünbein greift dies auf, wenn er im Gedicht von „Seekrankheit an Land“ spricht.

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der Suchbewegung eines fragmentarischen Subjekts aufgenommen werden. Herausgelöste Zitate und Anspielungen verdichten sich bei Grünbein zu einer bemerkenswerten These: Das System, für das der Hund in Treue gedient hat, ist letztlich nicht mehr als ein neurowissenschaftlich interessantes Experiment. Doch das assoziative Spiel mit Worten und Zitaten wendet sich nicht zuletzt an Leser, die gewohnt sind, auch zwischen den Zeilen zu lesen, um Andeutungen selbständig zu ergänzen: Der korrekte Schlusssatz am Ende des Prozesses lautet: „’Wie ein Hund,‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Scham ist die geistige Überlebensform in Kafkas Roman; die von Grünbein beschriebe Figur teilt diese Empfindung im Abgang – im Gegensatz zu Hilbigs Heizer, dessen Scham vor dem eigenen Hundedasein unter sozialistischen Verhältnissen verloren gegangen ist. Auch für Rainer Schedlinski ist Dichtung Systemanalyse mit sprachlichen Mitteln. Er analysiert das System und ist ausführender Teil seiner Funktionen. In dem Gedicht er … von 1988 ist aus Kafkas Aphorismus eine aufschlussreiche Selbstaussage geworden: er aber war fehlender / kern der dinge selbst- / imitation täuschend echt / etwas an ihm / wurde von tag zu tag ernster / etwas an ihm / wurde von tag zu tag lächerlicher / […] / Die sprache war die fiktion / des geistes von einem leib / problematisch in der tat / Der käfig ging / & fing sich einen vogel. (Schedlinski 1991 [1988]: 198)

Unabhängig von den selbstbiographischen Konnotationen dieser Erkundung in dritter Person macht Schedlinskis Gedicht noch einmal die grundlegenden Unterschiede deutlich, die die Kafka-Rezeption der Aufbaugenerationen Seghers, Wolfs und Fühmanns von jener der Nachgeborenen trennt. Für die Generation Schedlinskis (Jahrgang 1956) ist die politisch-ideologische Aussagefunktion des Kafka-Werkes jedenfalls kaum noch von Belang, seine Aktualität besteht vielmehr in der Beobachtung fortschreitenden individuellen Identitätsverlusts: Ich-Auflösung, Bezeichnungsnot, Fragmentierung, Entwirklichung26 bestimmen diese (durchaus Kafka-nahe) Perspektive – das zerfallende, dissoziierte Subjekt bildet die vorausgesetzte Größe, auf die der Text aufbaut (Geist 1991: 386). In Schedlinskis Gedicht sind die Grenzen zwischen Individuum und System, Mensch und Staat, Freiheit und Gefängnis, Subjekt und Objekt bereits sichtbar in Auflösung begriffen. „Er“ steht für den namenlosen, in sich gespaltenen Intellektuellen der 1980er-Jahre – und zugleich für den Spätsozialismus, der sich in eine absurde kafkaeske Welt verwandelt hat. Doch während sich bei Kafka der Käfig erst auf die Suche nach einem 26 Ein Begriff, den Wolfgang Hilbig für den ideologisch besetzten Begriff der Entfremdung eingeführt hat.

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Vogel begibt, scheint hier die Gefangennahme auf fast banale Weise schon vorweggenommen. Wie nah Schedlinskis Beobachtung damit dem Selbstbild vieler Intellektueller kommt, die, wie Heiner Müller einmal behauptete, „Kafkas Literatur als Realität erlebt“ haben (Wolle 1998: 222), muss dahingestellt bleiben. Doch seine Zustandsanalyse lässt bereits die Abgründe ahnen, die einer solchen Depersonalisierung unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus drohten. Den Nekrolog auf eines dieser zerfallenden Subjekte hat Wolfgang Hilbig nach dem Zerfall der DDR mit seinem Ich-Roman (1993) geschrieben: als die Geschichte C.s, der im Prozess seiner fortschreitenden Entwirklichung zum denunzierenden Schriftsteller und dichtenden IM der Stasi wird. Die unheilvollen Verwicklungen der Literatur in ein System pervertierter Zweideutigkeit werden hier – abermals in Anlehnung an Kafkas Werk – vor Augen geführt. Für die rückblickende Betrachtung der Rezeptionsgeschichte Kafkas in der späten DDR deutet sich hier ein freilich nicht ganz unproblematischer Perspektivenwandel an. Scheint es doch, dass die Auseinandersetzung mit der dunklen Geschichte des Staatssicherheitsdienstes ohne den expliziten Hinweis auf Kafka nicht mehr auskommt. In der Alltagskommunikation hat sich diesbezüglich ein breiter Konsens etabliert, den Namen des Prager Dichters mit Strukturen und Phänomenen des Unrechtsregimes in Verbindung zu setzen.27 Dieses Aufweichen der Grenzen zwischen Realität und Literatur, mit den fatalen Folgen, wie Hilbig sie beschreibt, hat bereits in der DDR-Rezeption Kafkas – als einer allseits verwendbaren Chiffre – seine Blüten getrieben und scheint sich im Prozess produktiver Missverständnisse fortzusetzen. Kafka wäre dann, eine weitere bittere Ironie der Geschichte, von einem Führer der Konterrevolution zum Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS mutiert.

Quellen BArchB (SAPMO): Bundesarchiv, Berlin, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. 27 Die Beispiele sind ebenso zahllos wie skurril, wie man sich leicht unter google überzeugen kann – s. etwa Kafka forever? Neues Gutachten zur Birthler-Behörde oder .

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Kafka und Prag. Kulturelle und mentale Prägungen als Wirkungsbedingungen 1. Zur Beziehung von Raum und Kultur Die Frage nach einer syntagmatischen Beziehung von Kafka und Prag, in der Literatur seit Langem ein Thema,1 verweist unabhängig von bestehenden realhistorisch-landeskundlichen oder biographischen Bezügen oder Prägungen auf potentielle Spuren einer spezifisch pragerischen, böhmischen, austria­ zistischen, mitteleuropäischen Kultur auch in Kafkas Texten und damit auf die Frage, ob sich Kafka, gleichwohl einer der universal wirkungsmächtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts, nicht doch auch lokal oder regional verankern lässt. Mit regionaler Verankerung sind dabei weniger die gut erforschten Netzwerke innerhalb der Prager deutschen Literatur gemeint, also z. B. der Prager Kreis,2 sondern die generellen intellektuellen und mentalitätshistorischen, die kultur-, medien- und wissenschaftspolitischen Prägungen, die auch für Kafka Relevanz besessen haben. Wie steht es um den lebensweltlich relevanten Raum, der für Kafkas Werk konstitutiv war? Die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die sich in der Folge des Linguistic Turn in den letzten Jahren herausgebildet haben, führten auch zu einer Wiederentdeckung des Raumes3 als sozialer Konstruktion, d. h. zu einem Verständnis von Raum als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse von Strukturierung und Positionierung, von Wahrnehmung und Erinnerung, von territorialen – historisch determinierten und kontingenten – Relationen. Die Repräsentation von Räumen erfolgt mithilfe von Codes, Zeichen und Karten über kommunikative und performative Grenzziehungen nebst der Herausbildung von Nähe- und 1 S. hierzu die Sammelbände von Goldstücker/Kautman/Reiman (1965); Krolop/Zimmermann (1994); Becher/Höhne/Nekula (2012) sowie die einschlägigen Texte in den KafkaHandbüchern (Binder 1979; von Jagow/Jahraus 2008; Engel/Auerochs 2010). 2 Neben dem einschlägigen Text von Max Brod (1979) sind hier vor allem die Arbeiten von Kurt Krolop zu nennen (Krolop 2005). 3 Zu Einführung s. Günzel (2009, 2010), Schlögel (2009); mit Bezug auf die Spezifika der habsburgischen Metropolen Csáky (2010).

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Distanzvorstellungen, von Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit und basierend auf Verfahren der Raumerschließung.4 Verknüpft man Raumerschließungsverfahren mit diskursanalytischen Methoden, dann lassen sich nicht nur zeit- und ortsgebundene Strukturierungen von Kommunikation und die damit verbundenen Denk- und Handlungsdispositionen der Akteure untersuchen (wie konstruieren die Akteure Räume bzw. positionieren sie sich in ihnen?), sondern auch akteursübergreifende argumentative Strategien und Muster (Topoi) sowie Themenfelder, die permanent aktualisiert werden und soziales Wissen kommunikativ transformieren und somit verändern (Haslinger 2010: 26). Aus einer räumlichen und diskursiven Perspektive kann man ‚Gespräche‘ über Prag, über Böhmen, über Kakanien als ein wichtiges kulturhistorisches Narrativ der Jahrhundertwende, also der Kafka-Zeit verstehen, in die auch Franz Kafka involviert war. Als ein Beispiel sei auf einen häufig zitierten Brief Kafkas an Oskar Pollak vom 20. Dezember 1902 verwiesen, in dem es heißt: Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen. (Kafka 1999: 17)

Nimmt man die Differenzierung von Henri Lefèbvre (1991), der zwischen räumlicher Praxis, Raumrepräsentation und Repräsentationsräumen unterscheidet, dann erhält man einen schlüssigen Erklärungsansatz für diese Textstelle. Die räumliche Praxis verweist auf die Verknüpfung des von den Akteuren wahrgenommenen Raumes mit der Alltagspraxis, die wiederum Räume produziert und reproduziert. Demnach hat man es mit einer Praxis zu tun, die auf lebensweltliche Determinanten der Alltagswelt und deren Wahrnehmung weist: Der gemeinsame soziale Bezugspunkt zwischen Kafka und Pollak ist Prag. Auf der Ebene der Raumrepräsentation, nach Lefèbvre der mit Zeichen und Symbolen konzipierte städtebauliche Raum, verweist Kafka auf die beiden markanten Burghügel als Symbole des städtischen Raumes, die zugleich als dessen Grenze wahrgenommen werden und die tatsächlich die vier mittelalterlichen Stadtteile, Staré Město [Altstadt], Nové Město [Neustadt], Malá strana [Kleinseite] und Hradčany [Burgstadt] begrenzen. Der Repräsentationsraum, nach Lefèbvre der imaginierte Raum, der durch Bilder und Symbole zum Ausdruck gebracht wird, weist auf die emotionale Bindung an die Geburtsstadt Prag, die man sich nicht ausgesucht hat, deren Strenge 4 Produktiv umgesetzt wird der Ansatz der Raumerschließung bei Ines Koeltzsch (2012: 4), der es gelingt, ein „differenziertes multiperspektivisches Bild des tschechisch-jüdischdeutschen Beziehungsgeflechts“ in Prag zwischen 1918 und 1938 herauszuarbeiten.

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man ausgeliefert ist, verbunden mit der Unmöglichkeit, ihr zu entkommen, emphatisch verstärkt im Symbol der Krallen. Es ist eine körperlich erfahrbare Anziehungs- wie Abstoßungskraft,5 der Kafka hier, wie im Übrigen auch andere Autoren seiner Zeit, Ausdruck verleiht. Kafka bezieht sich auf die beiderseitig gescheiterten Versuche, Prag nach Schulabschluss, z. B. zum Studium, zu verlassen; möglicherweise verweist er aber auch auf eine sprachnationale Konnotation zwischen dem als tschechisch attribuierten Vyšehrad und dem österreichisch-dynastisch attribuierten Hradschin (Hradčin) (Nekula 2006; Neumann 2008: 140-149). An dieser Stelle lässt sich zeigen, dass für ein Verständnis von Kafkas Werk nicht nur der physische und soziale Raum der Stadt relevant ist, sondern immer auch die individuelle Disposition an der Konstitution von Räumen beteiligt ist, woraus sich spezifische Kontingenzen im Hinblick auf die Materialität von Räumlichkeiten ergeben, die einer prinzipiellen Veränderlichkeit unterliegen. Räume entstehen eben erst durch die Vorstellungen und Handlungen der Akteure. Selbstverständlich ist die Erkenntnis räumlicher Prägung nicht neu, vielmehr findet man gerade um 1900 in der deutschen Literaturwissenschaft eine gewisse Konjunktur derartiger Vorstellungen, erwähnt seien nur August Sauers Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde,6 Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften,7 die diversen Versuche tschechischer Intellektueller, Vorstellungen von einer Tschechoslowakei inklusive deutsch und ungarisch besiedelter Grenzgebiete auch auf der kognitiven Landkarte zu verankern (Haslinger 2010) oder die von Hugo von Hofmannsthal semantisch präzisierte Kategorie des Austriazistischen, mit der eine raumzeitliche Verortung von Künstlern erfolgt, deren Wirken und Wirkungen aus der Trias von Person, Werk und eben Kontext herzuleiten sei. Bezogen auf Franz Kafka bedeutet dies, nicht nur von Biographie und Werk, sondern auch von den jeweiligen determinierenden, raum-zeitlichen Kontexten, Lebenswelten oder Milieus auszugehen – also z. B. einem ‚kakanischen‘ Raumkonzept. Ungeachtet konkurrierender Konkretisationen der Rezeption und Wirkung Kafkas nach 1945, z. B. den jüdisch-theologischen (Max Brod) oder den 5 Dieses Phänomen hat Kurt Krolop schon 1966 in dem Beitrag Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ (Krolop 2005: 89-102) behandelt. 6 Das volkskundliche Modell August Sauers und vor allem Nadlers stammeskundlich-landschaftliche Literaturgeschichte eröffnen im Rahmen der geistesgeschichtlichen Kritik an der positivistischen Scherer-Schule, in deren Tradition auch Sauer stand, eine weitere literaturwissenschaftliche Option (Wehrli 1951: 120f.). Zu Sauer s. zuletzt Höhne (2011a). 7 Kritisch mit Nadler setzt sich Rohrwasser (2002) auseinander, ferner Ranzmaier (2008).

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historisch-materialistischen,8 verweist das Eponym des Kafkaesken eben nicht nur inhaltlich neutral „auf die Erzählwelt Kafkas“, also ‚in der Art der Schilderungen Kafkas‘, sondern – ob im Sinne einer „existenzialistischen Fixierung“ oder im Sinne totalitärer lebensweltlicher Erfahrungen auf ein „irrationales, undurchsichtiges, bedrückendes, abstruses, groteskes Ausgeliefertsein an ein unbegreifliches Schicksal in Gestalt anonymer Mächte“ (Fingerhut 1981: 177), welches in einem raum-zeitlichen Kontinuum anzusiedeln ist und welche auf das Zeitalter der Extreme bezogen werden kann. Inwieweit kann nun eine austriazistische Rückbindung helfen, Texte von Kafka zu verstehen bzw. deren Wirkung erklären? Räume sind wie gezeigt nicht voraussetzungslos und von Natur gegeben, sondern Ergebnis von „Zuschreibungen, Repräsentationen und diskursiven wie performativen Praktiken“, die erst Raumrealitäten generieren (Haslinger 2010: 16), also bspw. ein „Mütterchen mit Krallen“. Andererseits sind auch Sprechakte wiederum nicht voraussetzungslos und quasi natürlich gegeben, sodass eine wechselseitige Durchdringung von räumlichen und kommunikativen Strukturen eine doppelte Perspektive verlangt: Es geht um die Art und Weise der sozialen, kommunikativen Herstellung von Räumen, aber auch um die Rückkopplung an das, was der Raum vorgibt, somit um „Interferenzen zwischen Konstruktion und Naturalisierung.“ (Haslinger 2010: 17)

2. Austriazistische Einstellungen im Prager Kreis Räume entstehen als Ergebnis gemeinsam konstituierter Geschichte in Form mehrfacher Abgrenzungen: Das habsburgische Mitteleuropa als Ordnungsrahmen bildet dabei einen zentralen Topos in den politischen Diskursen des 19. und auch noch des 20. Jahrhunderts. Mit ihm soll Differenz gegenüber dem Westen und Osten behauptet werden, aber auch gegenüber einem während des Ersten Weltkrieges immer dominanter auftretenden Deutschen Reich. Ohne auf die komplexe Vorgeschichte eines austriazistisch konzipierten habsburgischen Mitteleuropa eingehen zu können, man denke an kulturpolitische Projekte wie Josef von Hormayrs Österreichischer Plutarch oder Leben und Bildnisse aller Regenten und der berühmtesten Feldherrn, Staatsmänner, Gelehr8 In historisch-materialistischer Tradition deutet z. B. Walter Benjamin Kafka als Seismograph künftiger sozialer Entwicklungen.

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ten und Künstler des österreichischen Kaiserstaates. 1807-12 in 20 Bänden sowie das Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst (1809-1828), an den berühmten offenen Brief František Palackýs an die Frankfurter Paulskirchenversammlung mit seiner emphatischen Bejahung Österreichs oder an einen machtpolitisch motivierten Neuordnungsplan wie den des Fürsten Schwarzenberg 1849 mit dem Ziel, eine österreichische Vormachtstellung in einem von Wien dominierten Raum von Nord- und Ostsee sowie Rhein bis Ungarn und Norditalien zu errichten, also einen Ordnungsrahmen Mitteleuropa zu kreieren, der Deutschland und Norditalien einschloss (Höhne 2011b), soll der Frage nachgegangen werden, ob auch im Prager Kreis eine austriazistische Orientierung oder Prägung, wie sie u. a. von Johnston (2011) für die Wiener Autoren erarbeitet wurde, vorliegt. Immerhin scheint sich in Prag schon früh eine Abwehr des Österreichischen einzustellen, die „Hauptrichtung der Abwanderung Prager deutscher Autoren wies in den Vor- wie Nachkriegsjahren nicht nach Wien, sondern eindeutig nach Berlin.“ (Krolop 2005: 165)9 Erst in der Phase des unmittelbaren Untergangs findet man austriazistischen Einstellungen auch aufseiten der Prager deutschen Autoren, so Ludwig Winder am 17. Oktober 1918 mit einem elegischen Nachruf Abschied von Österreich in der Bohemia: Es wird Ernst, es geht ans Abschiednehmen. Und in dieser Stunde fühlen sich vielleicht zum erstenmal alle Bewohner dieses Staates, der viel weniger und viel mehr als ein Staat gewesen ist, als Österreicher […]. In dieser Stunde wissen wir wie nie zuvor, was uns Österreich gewesen ist. (zit. n. Krolop 2005: 37)

Inwieweit lassen sich nun ungeachtet eines konstatierten „Unbehagen[s] am ‚Österreichischen‘ der Zwischenkriegszeit“ (Krolop 2005: 165f.) und verbunden mit Ambitionen zur Eigenständigkeit der Prager deutschen Autoren, wie sie gerade mit dem Konstrukt eines Prager Kreises behauptet werden,10 Beispiele austriazistischer Orientierung auch im Prager Kreis finden? Hierzu sei zunächst ein Blick auf den frühen Max Brod und den späten Franz Werfel gerichtet. Zugrunde gelegt werden dabei nicht die literarischen Werke der Au9 Auf tschechischer Seite verstärkt sich diese Abwehrhaltung auch in politischer Hinsicht, die während des Ersten Weltkriegs auf Konzepte staatlicher Eigenständigkeit hinausläuft, was der bekennende Austriazist Hofmannsthal anlässlich einer Pragreise 1917 zur Kenntnis nehmen muss (Höhne 2014). 10 Bei dem bis heute wirkungsmächtigen Bild eines isolierten und isolierbaren Prager Kreises im Sinne eines werkbiographisch und kulturregionalen, eines sozial- und ereignisgeschichtlichen sowie eines stilistisch-geistesgeschichtlichen Konzepts handelt es sich um eine retrospektiv höchst erfolgreiche literarische Gruppenbildung, die bis heute die Wahrnehmung und Beurteilung der Prager deutschen Literatur insgesamt prägt.

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toren, sondern die Textsorte des kulturräsonnierenden Essays (Weissenberger 1985), der gerade in der Kafka-Zeit eine gewisse Konjunktur e­ rlebte.11

2.1. Max Brod Zunächst sei ein Blick auf den vorzionistischen Max Brod geworfen, der während des Ersten Weltkriegs eine dezidiert austriazistische Einstellung vertrat. In dem Essay Gefühl von einer Verwandlung des Staates beschreibt Brod (1915a) den Wandel seiner Einstellung gegenüber dem Staat, dem er kritisch bis ablehnend gegenüberstand, dessen Wirken jetzt, in einer außergewöhnlichen Situation des Krieges, verstanden werde; ein Wandel von Distanz zu emotionaler Nähe: Es war eben Übermenschliches über uns gekommen, und damit spreche ich nicht von dem Gefühl der ganz Glücklichen, für welche dieser Krieg ein nationaler deutscher Krieg ist, sondern von denen, die in ihm nur das Walten, Leiden, Siegen des bloßen Staatsorganismus fühlen können wie wir im vielsprachigen Österreich. Ich habe Lemberg und Czernowitz nie gesehen und ich werde vielleicht hundert italienische Städte besuchen, ehe es mir einfallen wird, nach Galizien zu reisen. Aber als man mir Lemberg und Czernowitz nehmen wollte, da fühlte ich an meinem Körper, daß sie Rechtens zu mir gehören und daß ich sie auf keinen Fall vermissen kann. (Brod 1915a)

Kurz darauf akzentuiert Brod (1915b) in dem Essay Zur Ideologie der Zeit, in dem er die Politik der Zeit verwirft, das Metternichsche Legitimitätsprinzip als geistige Tendenz zum „Wohle Europas, der Menschheit“ sowie dass „überhaupt einmal eine überstaatliche, übernationale Idee, ein Immaterielles zur Richtlinie der ganzen äußeren Politik diente“ (Brod 1915b: 1043). Ungeachtet von jungen, unreifen Nationalismen und „Weltmetzelei“ äußert Brod die Hoffnung, dass aus dem Weltkrieg eine neue „Humanitätsethik“ hervorgehe. Brod bekannte sich bis in den Ersten Weltkrieg hinein als Austriazist (Brod 1918; 1979: 98f.), noch 1918 beschwor er „eine gerechte Föderationsregierung autonomer Völker“ (Brod 1918: 1584f.) sowie eine wirkliche „Völkerautonomie“ als Ausgleich „deutscher, tschechischer und jüdischer Politik“, die in der Folge – durchaus konsequent – in das partikularistische Modell des Nationalhumanismus mündete. Mit dem Konzept des demokratisch legitimierten Nationalhumanismus, einer Art gereinigter Nationalismus, bereitet Brod eine neue, zionistische Positionierung vor, mit der die eigene Gruppe, die Juden, von Deutschen und Tschechen gleichermaßen abgegrenzt werden kann: 11 Hier wäre mit Bezug auf die Prager deutschsprachigen Autoren neben Max Brod und Franz Werfel vor allem auf die Essayistik von Johannes Urzidil, Ernst Weiß und Ludwig Winder zu verweisen.

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Allerdings ist mein Nationalbegriff ein gründlich anderer als der heute selbst bei sogenannten gemäßigten Nationalisten herrschende National-Imperialismus. Mein Nationalismus faßt die Möglichkeit, ja die Pflicht freiwilligen Opfers nationaler Interessen zugunsten der Menschheit in sich, […]. Mit aller Schärfe muß diesem heutigen Nationalismus, der den Kultur- und Geisteswert des Volkstums zu kapitalistischer Pleonerie vergewaltigt, ein neuer Nationalismus entgegengesetzt werden. (Brod 1918: 1591f., Herv. i.Orig.)

Mit dem Konzept der Distanzliebe (der Begriff stammt aus Brods Roman Die Frau, die nicht enttäuscht) erfolgt zudem eine Absage an Optionen ethnischer Assimilation: Mein Verhältnis zum Deutschtum definierte ich als Kulturverbundenheit, denn aufs vertraulichste und entschiedenste war ich in deutscher Kultur erzogen worden, das bedeutete aber von nun an nicht mehr, daß ich mich dem deutschen Volk in eins zu verschmelzen hoffen durfte. Schmerzlicher Abschied, der mich durchtobte. […] Es konnte Freundschaft mit dem deutschen Volk geben. Dankbarkeit für die von deutschen Genies geschaffenen geistigen Werte (Brod 1979: 52).

Diese neu postulierte Eigenständigkeit, die den Untergang der habsburgischen Lebenswelt zu kompensieren sucht, scheint für die Prager Autoren in der Folge charakteristisch zu sein. Erst mit der drohenden Gefahr durch das Dritte Reich wird eine neue austriazistische Position propagiert, was bei Franz Werfel zu zeigen sein wird.

2.2. Franz Werfel Anders als bei Brods Weg vom Austriazismus zum Zionismus greift Franz Werfel, dessen spätes Werk in einem sehr starken Maße Trauer über Heimatlosigkeit verrät (Barbara oder die Frömmigkeit), mit dem Essay Ein Versuch über das Kaisertum Österreich (1936) auf eine supranationale austriazistische Tradition zurück. In einer Zeit nationalsozialistischer Bedrohung konzipiert Werfel das Sacrificium nationis, die „Selbstaufopferung der Nationalität“ als habsburgisches Charakteristikum und als Zukunftsmodell Europas. Wer die Idee in ihrer Tiefe begreift, kommt zu dem Schluß, daß der wahre Österreicher immer nur ein gelernter Österreicher sein konnte. Denn Österreicher sein heißt ja gerade, alles Blutgebundene, Instinktmäßige, Dämonische überschritten zu haben und zum abendländischen Allmenschen umgeschaffen worden zu sein in der Lehre des Reiches. (Werfel 1975b: 517)

Gegen die reichsdeutsche Blut-und-Boden-Ideologie erhält Habsburg eine höhere Legitimation, da es als Reich eine höhere Idee verkörpere, durch die

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es sich zugleich – ähnlich wie das Hofmannsthals einschlägige Essays formulierten – vom Deutschen Reich abgrenzt: Nur im Zeichen einer höheren Idee wurden und werden Reiche gegründet. Nationen können bloß Staaten bilden. Nationalstaaten sind ihrem innersten Wesen nach dämonische Einheiten; wie alles Dämonische und Abgöttische reizbar, ‚dynamisch‘, drohend und bedroht. Die wahren Reiche aber entstehen dadurch, daß den dämonisch-natürlichen Einheiten ein übernatürlich-göttliches Element zugemischt wird, das sie über sich emporreißt: eine Offenbarung oder eine höhere Idee. Jedes echte Reich ist ein mißlingender Versuch, das Reich Gottes auf Erden zu stiften. In seiner Geburtsstunde wenigstens ist es das. (Werfel 1975b: 496; Herv. i. Orig.)

Habsburg wird zum legitimen, antiimperialen, zum konstitutiv Anderen, wogegen es den Hohenzollern widerrechtlich gelungen sei, die deutschen Kleinstaaten unter ihre Herrschaft zu bringen. […] Und nun erfolgte einer der übelsten Wortwitze der Weltgeschichte. Großpreußen nannte sich ‚deutsches Reich‘, da es doch bestenfalls nur ein Nationalstaat, eine dämonische Einheit war, das Gegenteil also eines völkerverbindenden, aus einer übergeordneten Idee geborenen Reiches. Die preußischen Könige aber verliehen sich den Titel von Kaisern. […] Jeder Kaiser ist Nachfolger Cäsars, der die supernationale Weltherrschaft abendländischer Gesittung begründete. Cäsarentum ist der absolute Gegensatz zum Stammeskönigtum. Die Hohenzollern waren erfolgreiche Stammeskönige, die aus Haß gegen die legitimen Cäsaren des Hauses Habsburg einen leeren Kaisertitel usurpierten. (Werfel 1975b: 502)

Das Österreich der 1930er-Jahre, das nicht als Nationalstaat, sondern als Erbe der Habsburgermonarchie verstanden wird,12 stehe in einer supranationalen Tradition, die Werfel in späteren Texten präzisiert: in der seinerzeit unveröffentlichten Skizze Das Ostreich (1938) und in dem Essay Les deux Allemagne, erschienen am 16. September 1939 im Neuen Tage-Buch in Paris mit dem Fazit, dass der fehlerhafte Lauf der Geschichte [...] gewissermaßen rückgängig gemacht werden [müsste], dadurch, daß man dem preußischen Gravitationssystem ein anderes, nunmehr doppelt so starkes entgegenstellt, durch welches es für absehbare Zeit gebunden und majorisiert wird. (Werfel 1975a: 309)

Man kann hier unschwer einen geopolitischen Gedanken wiederfinden, der 90 Jahre zuvor von František Palacký 1848 in dem schon erwähnten Brief an die Paulskirche formuliert wurde. Werfels supranationale Semantik von Reich wird zu einem politischen Gegenmodell und auch zur Apologie eines

12 Einen ähnlichen Transfer, nur auf die multinationale Tschechoslowakei, konstruiert Johannes Urzidil (1922). Von Werfel siehe ferner den Essay Heimkehr ins Reich, erschienen am 1.2.1939 in der Österreichischen Post in Paris.

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sprachlich-ethnisch hybriden Kulturraumes, den es vor Desintegration zu bewahren gilt. Unter dem Eindruck des Münchner Abkommens, Österreich ist längst besetzt worden, verteidigt Werfel die Kulturelle Einheit Böhmens, das letzte demokratische Bollwerk in Ostmitteleuropa gegen ein aggressiv imperial agierendes Drittes Reich. Werfel bezieht sich dabei ausdrücklich auf die habsburgischen Traditionen der ČSR, als deren integraler Teil die deutschböhmische Kultur mit ihren austropetalen Tendenzen vor 1933 sowie der nicht existenten „staatsbildenden Kraft“ angesehen wird (Werfel 1992b: 51). Der deutschböhmische ‚Stamm‘ entwickle seine kollektive Identität nur in wechselseitigem Kontakt bzw. Konflikt mit den Tschechen. Mit diesem Interdependenzmodell knüpft Werfel u. a. an Goethe, an Palacký, an Johannes Urzidil an. Die böhmischen Länder bilden eine eigene Welt, die zugleich ein verkleinertes „Modell des Vielvölkerstaates Österreich“ (Werfel 1992b: 52) und eine Art intellektuell-künstlerisches Reservoir in Mitteleuropa sei. In Werfels europapolitischer Apologie Das Geschenk der Tschechen an Europa erfolgt gar wie bei Johannes Urzidil ein Sendungstransfer, eine Translatio imperii, vom längst „angeschlossenen Österreich“ auf die Tschechoslowakei, die als ein „Organ des Gleichgewichts“ (1992a: 44) in einem Europa der kleinen Völker, einem Nová Evropa [Das neue Europa], wie es Masaryk verstand, das Prinzip demokratischer Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalte.13

2.3. Austriazistische Perspektiven bei Franz Kafka? Inwieweit ist nun Franz Kafka Teil dieses austriazistischen Diskurses, zumal aus den wenigen Äußerungen Kafkas gerade keine austriazistische Orientierung abzuleiten ist, worauf schon Kurt Krolop (2005, Das ‚Prager Erbe‘ und das ‚Österreichische‘ ) und Hans-Gerd Koch (2007) hingewiesen haben. Als österreichischer Jurist, der ich ja im Ernst gar nicht bin, habe ich keine für mich brauchbaren Aussichten; das beste, was ich für mich in dieser Richtung erreichen könnte, besitze ich ja in meiner Stelle und kann es doch nicht brauchen. Übrigens kämen für diesen an sich ganz unmöglichen Fall, daß ich aus meiner juristischen Vorbildung etwas für mich herausschlagen wollte, nur 2 Städte in Betracht: Prag, aus dem ich weg muß, und Wien, das 13 Michael Wagner (2009: insb. 132-145) hat sich zuletzt mit Werfels Österreichbewusstsein befasst, allerdings handelt es sich dabei um eine positivistische Studie, die davon ausgeht, ein Vergleich zwischen literarisch-essayistischen Texten und ‚der Geschichte‘ führe zu einem objektivierbaren Ergebnis. Der Konstruktcharakter von ‚Geschichte‘ wird in dieser essentialistischen Auffassung nicht weiter problematisiert.

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ich hasse und in dem ich unglücklich werden müßte, denn ich würde schon mit der tiefsten Überzeugung von der Notwendigkeit dessen hinfahren. Ich muß also außerhalb Österreichs und zwar, da ich kein Sprachentalent habe und körperliche sowie kaufmännische Arbeit nur schlecht leisten könnte, wenigstens zunächst nach Deutschland und dort nach Berlin, wo die meisten Möglichkeiten sind, sich zu erhalten. (Kafka 1990: 507f.)14

Die zweite Stelle entstammt dem Brief an Fritz Lampl vom März 1917, als man Kafka zur Mitarbeit an einer Zeitschrift einlud, die sich der Vision eines künftigen Großösterreich verpflichtet sah: Trotzdem kann ich nicht mitkommen. Ich bin nämlich nicht imstande mir ein im Geiste einheitliches Österreichertum klar zu machen und noch weniger allerdings mich einem solchen Geistigen ganz eingefügt zu denken. Vor einer solchen Entscheidung schrecke ich zurück. (Kafka 2005: 291, 8. März 1917)15

Man kann an beiden Passagen die von Kurt Krolop für die Prager deutsche Literatur konstatierte generelle „Anschluß-Resistenz“ gegenüber der deutschen wie der österreichischen Seite herauslesen (Krolop 2005: 166), auf die indirekt auch der Meraner Brief Kafkas an Brod vom 10. April 1920 weist.16 Andererseits findet man Äußerungen, die zeigen, dass auch für Franz Kafka die fragile 14 Nimmt man die Zuschreibungen, wie sie in den Nachrufen zu Kafkas Tod formuliert wurden, so weisen diese auf Kafka als deutschen bzw. deutschschreibenden Dichter (Franz Hildenbrandt, Otto Pick, Rudolf Fuchs) oder als Prager Dichter (Franz Theodor Csokor) bzw. ergänzen Hinweise auf den Geburts- und Wohnort Prag oder auf die Mitgliedschaft im Prager Kreis. Einen Hinweis auf eine Staatsangehörigkeit zur Habsburgermonarchie, der Kafka den größten Teil seines Lebens angehörte, findet man nicht (Born 1983). 15 Lampl war in dieser Zeit im Wiener Kriegespressequartier tätig und Mitglied einer Gruppe national gesinnter Kulturschaffender, die sich – so Lampl – zusammenschlossen, „um dem Zustand der allgemeinen Lähmung und Stagnation des Kunstlebens ein Ende zu bereiten. Es soll der Versuch gemacht werden, alle jungen, hoffnungsvollen künstlerischen Kräfte Österreichs zu vereinigen durch gegenseitigen Wettbewerb und durch wechselseitige Hilfe zu Höchstleistungen anzuspornen und die Zeit nach dem Kriege zu einer Epoche des Aufbaues, der Regeneration und vor allem der Selbstbestimmung zu machen.“ (Kafka 2005: 636) Wahrscheinlich bezieht sich die Anfrage an Kafka auf die Zts. Daimon bzw. Der neue Daimon (Wien, Prag, Leipzig 1919; Kafka 2005: 822). 16 In diesem Brief berichtet Kafka von der Schwierigkeit eindeutiger Identitätszuweisung: „Nach den ersten Worten kam hervor, daß ich aus Prag bin, beide, der General (dem ich gegenübersaß) und der Oberst kannten Prag. Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun in diese treuen deutschen militärischen Augen, was Du eigentlich bist. Irgendwer sagt ‚Deutschböhme‘, ein anderer: ‚Kleinseite‘ Dann legt sich das Ganze und man ißt weiter, aber der General mit seinem scharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr ist nicht zufrieden, nach dem Essen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an, vielleicht zweifelt übrigens mehr das Auge als das Ohr. Nun kann ich das mit meinem Judentum zu erklären versuchen. Wissenschaftlich ist er jetzt zwar zufriedengestellt, aber menschlich nicht.“ (Kafka 2013: 117)

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habsburgische Lebenswelt biographische Relevanz besaß. An Max Brod berichtet Kafka am 13. Januar 1921 aus Matliary über seine „innere Situation“: Sie erinnert ein wenig an das alte Österreich. Es ging ja manchmal ganz gut, man lag am Abend auf dem Kanapee im schön geheizten Zimmer, das Thermometer im Mund, den Milchtopf neben sich und genoß irgendeinen Frieden, aber es war nur irgendeiner, der eigene war es nicht. Eine Kleinigkeit nur, ich weiß nicht, die Frage des Trautenauer Kreisgerichtes war nötig und der Thron in Wien fing zu schwanken an, ein Zahntechniker, das ist er nämlich, studiert halblaut auf dem oberen Balkon und das ganze Reich, aber wirklich das ganze, brennt mit einemmal. (Kafka 1975: 288f.)17

Zudem wurde die Erosionsphase der Monarchie von Kafka durchaus kritisch vermerkt, berichtet er doch Max Brod am 6.-8. April 1920 aus Meran von jüdischen Pragern, die vor Kriegsende rasch ihre Namen tschechisieren lassen. Berichtenswert erscheint auch jener Prager jüdische Kurgast, ein liebenswürdiger alter Herr, der bis „zum Umsturz“, Kafka verwendet hier die deutschböhmische Bezeichnung zum Untergang der Monarchie, „Mitglied sowohl des Deutschen Hauses als der Měštanská beseda gewesen“ (Kafka 2013: 116) war – also einem Prager deutschen und einem Prager tschechischen nationalen Verein –, der dann aber die Streichung des Namens aus dem deutschen Verein durchsetzte „und seinen Sohn sofort in die tschechische Realschule hat übertreten lassen.“ (Kafka 2013: 116f.)18 Derartige Briefstellen belegen auch für Kafka eine Prägung durch die ‚Epoche‘,19 die sich als Spur im Werk zeigt. Kafka lebte in einer Umbruchphase, eine Zeit wachsender innen- wie außenpolitischer Unsicherheiten, die an den lebensweltlichen Bedingungen eines Prager Autors und Beamten keinesfalls spurlos vorbeiging: 1908 die bosnische Annexionskrise, 1912/13 die Balkankriege, dann der Erste Weltkrieg, zu dem patriotismusskeptische Äuße17 1891 wurde ein Kreisgericht in Trautenau mit Deutsch als Amtssprache geschaffen, was zu Unruhen unter den Prager Tschechen führte. In diesem Sinne interpretierte Stefan George Kafkas Erzählung Gibs auf als ein Eingeständnis der Ausweglosigkeit von Habsburgs politischem Schicksal (zit. nach Politzer 1978: 28). – Bei dem Zahntechniker handelt es sich laut Auskunft von Hans-Gerd Koch, der derzeit den fünften Band der Briefe Kafkas vorbereitet, um Adalbert (Bela/Vojtěch) Glauber, eigentlich ein Zahnarzt, von Kafka aber als Zahntechniker erinnert, der am 26. Juli 1923 in Matlarenau an Lungentuberkulose starb. 18 S. hierzu auch den Brief an Max Brod vom 14.10.1918, in dem Kafka auf Presseartikel zur Tschechisierung jüdischer Namen verweist (Kafka 2013: 56). 19 Mit Blick auf Kafka vermerkt Hermann Broch in einem Brief an H. G. Adler vom 30.5.1950, dass niemand „seiner Epoche entgehen [kann], und jeder ist gezwungen, ihre Syntax und ihr Vokabular zu gebrauchen: das ist die jeweilig gegebene Konstitution –, nur daß sie in beiden, in der Syntax wie den Vokabeln sich erweitern läßt; es handelt sich um die neuen Realitätsschichten, die einer aufzudecken fähig ist.“ (Broch 1981: 461)

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rungen Kafkas, der sich gleichwohl – da ausgemustert – ausgeschlossen sieht, im Tagebuch vermerkt sind: Die Artillerie, die über den Graben zog. Blumen, Heil und Nazdarrufe. Das krampfhaft stille, erstaunte aufmerksame schwarze und schwarzäugige Gesicht. – Ich bin zerrüttet statt erholt. […] Patriotischer Umzug. Rede des Bürgermeisters. Dann Verschwinden, dann Hervorkommen und der deutsche Ausruf: ‚Es lebe unser geliebter Monarch, hoch.‘ Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges. Ausgehend von jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind, es sich zwar eingestehen, niemals aber es so laut herausschreien dürfen wie jetzt. (Kafka 1990: 545-547, 06.08.1914)20

Innenpolitische Krisen, die Kafka nicht entgangen sind, bildeten die BadeniUnruhen 1897 in Prag,21 die Hilsner-Affäre 189922 sowie die von Tisza-Ezlár, die Redl-Affäre 1913, ferner die nach der Staatsgründung ausbrechenden antisemitischen Ausschreitungen, von denen Kafka (1997: 288) Mitte November 1920 Milena Jesenská berichtet. Ausgehend von diesen und vielen weiteren Textbelegen kann man durchaus, ohne einer Komplexitätsreduktion Vorschub leisten zu wollen, im Proceß, der fast zeitgleich mit dem Ausbruch der Balkankriege niedergeschrieben wurde, auch einen Weltkriegsroman erkennen, der unter dem Eindruck einer offenkundigen Unfähigkeit der Habsburgermonarchie entsteht, selbst gegen Serbien militärisch erfolgreich agieren zu können,23 verstärkt durch die katastrophale Niederlage der k.-u.-k.-Armee gegen Russland bei Lemberg und der damit verbundenen Bedrohung der jüdischen Bevölkerung durch den russisch-zaristischen Despotismus. Ähnlich

20 Am 5.8.1914 notiert Kafka: „Ich entdecke in mir nichts als Kleinlichkeit, Entschlußunfähigkeit, Neid und Haß gegen die Kämpfenden, denen ich mit Leidenschaft alles Böse wünsche.“ (Kafka 1990: 546) – Nach der für Österreich siegreichen Schlacht am Tagliamento, der 12. und letzten Isonzoschlacht, notiert Kafka einen Traum über das Kriegsgeschehen, s. Kafka (1990: 843f.). 21 Auf den Dezembersturm geht explizit Max Brod ein: „Es kamen die Dezemberkrawalle 1897, nach dem Sturz Badenis schlug der Pöbel allen Deutschen und Juden die Fenster ein. Auch in meiner Elternwohnung splitterten nachts die Scheiben, bebend flüchteten wir aus dem gassenwärts gelegenen Kinderzimmer ins Schlafzimmer der Eltern. Ich sehe noch, wie mein Vater die kleine Schwester aus dem Bett hebt – und am Morgen lag wirklich im Bett ein großer Pflasterstein.“ (Brod 1921: 29) 22 Zu Analogien zwischen der desintegrativen Entwicklung, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf dem österreichischen ‚Staatsschiff‘ herrschte und dem Verschollenen s. Blahak (2012). Zum Antisemitismus in der Kafka-Zeit s. Stölzl (1989), Frankl (2011) sowie Koeltzsch (2012); speziell zu Hilsner Wagner (2006). 23 S. hierzu die einschlägigen Tagebuchaufzeichnungen vom 13.09.1914 und vom 18.10.1914 (Kafka 1990: 677, 710); ferner Neumann (2008).

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wird in einzelnen Erzählungen und Romanen24 Bezug auf den Niedergang der Monarchie genommen. Es ist somit durchaus legitim, nach Verweisen sprachlicher oder gar inhaltlicher Natur in literarischen Texten wie Eine kaiserliche Botschaft (in der Selbstwehr am 24.09.1919) und dem in dieser Erzählung vermittelten Bild von Unbeweglichkeit und Überlebtheit zu fragen.25 Gleiches gilt für die Erzählung Ein altes Blatt (in Marsyas im September 1917), welche von Versäumnissen im Innern berichtet: „Es ist viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres Vaterlandes.“ (Kafka 1994: 263) Gleichwohl dürfen Motive mit Bezug zum Weltkrieg wie der invalide oder der nachts erscheinende bzw. dann der verstorbene Herrscher nicht im Sinne einer realistischen „Verarbeitung der Geschehnisse“ (Blank 2012: 185) verstanden werden. Die poetische Konstellation wird zwar „möglicherweise von der historischen Situation ausgelöst,“ was aber nicht heißt, dass genau diese Situation thematisiert wird (Blank 2012: 199). Anders als bei Max Brod, Franz Werfel, Johannes Urzidil oder Hugo von Hofmannsthal findet man bei Kafka keine unmittelbaren Äußerungen, die sich als ein austriazistisches Plädoyer deuten ließen.

3. Austriazistische Lesarten Ist also eine austriazistisch oder bohemistisch begründete regionale Verortung Kafkas, an der schon die Liblicer Kafka-Konferenz von 1963 scheiterte, sinnlos?26 Eduard Goldstücker adaptierte damals eine These von Willy Haas, nach der kein Nicht-Prager Kafka verstehen könne. Diese Lokalisierung und Historisierung Kafkas im Prager Kontext blieb schon in Liblice wirkungslos, wie die sich entwickelnden Kontroversen um Entfremdungsphänomene 24 Thomas Anz (2012) untersucht Kafkas „Technik indirekter, verschlüsselter, andeutender Bezugnahmen zu den persönlichen und den überpersönlichen, allgemeineren Peinlichkeiten“ (Anz 2012: 174) sowie die Überblendung von Szenarien des literarischen Schreibens und dem Szenario des Krieges (Anz 2012: 175), so am Beispiel der Werbekampagne des Naturtheaters von Oklahama [sic!] und der allgemeinen Mobilisierung im August 1914. S. a. Anz (2000). 25 Manfred Engel (2012) arbeitet anhand der Erzählungen Beim Bau der chinesischen Mauer und Die Abweisung Tendenzen der Entpragmatisierung, der Etablierung von Gemeinschaft und deren erfolgreiche Wirkung heraus. Im Gegensatz zur Russland-Metapher verweise bei Kafka die „spätere ‚China‘-Metapher ironisch auf das ‚Eigene‘ […]: das veränderungsunfähige Österreich-Ungarn.“ (Engel 2012: 15). 26 S. hierzu die Beiträge von Nekula und Weinberg im vorliegenden Band.

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innerhalb der sozialistischen Gesellschaften sowie um eine erweiterte Realismuskonzeption zeigen sollten. Aus diesem Grund sei zumindest kursorisch eine andere Variante der Territorialisierung nachgezeichnet, die in den 1960ern Otto Basil, in den 1980ern der kürzlich verstorbene Jiří Gruša, seit den 1990ern Robert Menasse entwickelten. In seiner postkakanischen Abhandlung über Österreich wird Kafka bei Otto Basil zur Chiffre einer dem Untergang geweihten habsburgischen Lebenswelt: In manchen seiner Prosastücke, besonders auffällig in den Parabeln ‚Beim Bau der chinesischen Mauer‘, ‚Ein altes Blatt‘, ‚Vor dem Gesetz‘ […] schimmern durch das altchinesische oder unbestimmt orientalische, biblische Sujet die Umrisse der kakanischen, exakter: der kaiserlich-böhmischen Welt hindurch. (Basil 1962: 72)

Es sei eine völlig eigenartige, eine kafakeske Lebenswelt gewesen, die einen Bezug Kafkas zur habsburgischen mentalen Verfasstheit herstellen lasse: Die ‚kafkaesken‘ Dachboden-Amtsstuben und erstickenden Winkelkanzleien, die zwielichtigen Methoden einer subalternen, bestechlichen, nach oben liebedienenden Beamtenschaft, die Aussichtslosigkeit für den normalen Staatsbürger, hoch- und höchststehende k. k. Instanzen je zu erreichen, das System der Geheimagenten, Spitzel und Prügler, der ganze, von Kafka metaphysisch verfremdete Moralkodex im ‚Prozeß‘- und ‚Schloß‘-Roman, die sich nach oben, zur Spitze hin, ins Unendliche verlierende Pyramide des Gerichtswesens und der Schloßbehörde daselbst sind nichts als Vexierbilder von völlig realen, höchst vordergründigen kakanischen Zuständen, Einrichtungen, Milieus und Gepflogenheiten (Basil 1962: 72f.).

Hermann Bahrs Formulierung aus Schwarzgelb von 1917, der Staat sei „ein bloßer Gedanke, von Beamten erdacht“, könne daher als Motto von Kafkas Werk dienen (Johnston 2010: 313). Selbst Kafkas Schreiben sei „den paranoiden Schüben des spätkakanischen Lebensstils“ angemessen (Basil 1962: 74), sein kristallklarer Stil entstamme der „plastischen Begriffsbildung des österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches oder dem Exerzier-Reglement der k.u.k. Armee.“ (Basil 1962: 74) Eine Einschätzung, in der sich Kafka einem berühmten Prager Zeitgenossen, dem er aber wahrscheinlich nie begegnet ist, annähert: Jaroslav Hašek, auf dessen Affinität zu Kafka Basil wohl als Erster, fast zeitgleich mit dem berühmten Essay von Karel Kosík,27 hingewiesen haben dürfte. Tatsächlich schildert Kafka bürokratische Prozesse; bürokratische und organisationale Verfahren werden in durchaus unrealistischer Weise28 mystifiziert, allein schon auf der sprachlichen Ebene durch Verfahren der 27 Kosíks Essay Hašek und Kafka oder Die groteske Welt erschien zuerst in den Literární noviny 1963. 28 Zu dieser Mystifizierung bürokratischer Abläufe s. Boyer (2012).

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Deagentivierung – Tilgung des Subjektes – realisiert auf der Textoberfläche z. B. durch den Gebrauch von Passiversatzformen. Diese Lesart des Kafkaschen Werkes findet eine Fortsetzung im Diskurs ostmitteleuropäischer Dissidenten vor allem nach 1968, für die Kafka ebenfalls zur Chiffre avancierte, nur eben in diesem Falle einer des totalitären Alltags – der kafkárna (Stromšík 1992; Höhne 2007). Ausgehend von Prag als „synthetischer Landschaft des reifen Kafka“, skizziert Jiří Gruša (1983: 9) die „tektonische Verschiebung“, die sich schon in der „barocken“ Unifizierung der nachreformatorischen Zeit (Gruša 1983: 10) andeutete, eine Zeit, in der zwar der „Partikularismus des Glaubens und der Politik“ überwunden wurde, allerdings um den Preis strikter sozialer Separation, die durch die ethnische Schichtung zwischen Schloss und Dorf verfestigt werde: Bei aller Blutigkeit ihres Entstehens war diese Gemeinschaft schließlich fruchtbar und kennzeichnete ihre Akteure auf Dauer. Äußerlich freilich zusammengeflickt mit Habsburger Rohgarn und eigentlich von der ‚konfuzianischen‘ Institution des Kaiserreiches mit seinem Mandarinismus der Beamtenschaft, mit seinem Adel, abhängig von außerhalb des Landes, und mit einem Militär, das erst einmal das Militär des Reiches war (und dann erst Böhmens), konnte sich diese fast ‚chinesische‘ Staatsreligion (deshalb ist auch die chinesische Metaphorik bei Kafka nichts Exotisches) nur so lange halten, wie ihr barockes Fundament dauerte, oder so lange, wie sie durch es und in ihm transzendierbar war. (Gruša 1983: 10)

Es ist der Identitätsverlust einer untergehenden habsburgischen Lebenswelt als universale Erfahrung, die Gruša mit den Metaphern vom unnahbaren Schloss und einem Dorf als Gegenpol beschreibt, zu denen das sich öffnende Ghetto gesellt: Drei Zeiten ticken unterschiedlich. Drei Gemeinschaften sind in ihrem Wesen vom Verlust der Identität betroffen. Das ist der Prozeß, der hier abläuft, Österreich, ‚diese Menschheit im Kleinen‘ ist ihr Weltlaboratorium. (Gruša 1983: 11)

Ohne die Debatte um Kafkas Werk als Chiffre totalitärer Herrschaft hier ausbreiten zu können,29 lässt sich gleichwohl ein Bruch zu nostalgischer oder 29 Einer solchen Deutung hat schon Max Brod am 24.11.1933 in der Selbstwehr Vorschub geleistet: „Kafkas Roman Der Prozeß, ungefähr 1920 geschrieben, beginnt mit den Worten: ‚Jemand […] erschien.‘ – als ich heute diese Worte wieder las […] überfiel mich Entsetzen. Ist hier nicht wörtlich die Erscheinung eines SS-Mannes, wie er erst heuer in Funktion trat, vorausgenommen? Man könnte an eine seherische Kraft unseres Freundes glauben! Die ganze Situation, die sportlich-schlanke Gestalt, die Uniform wird genau beschrieben, nur das Wort ‚Uniform‘ fehlt, sonst ist alles da, sogar die schwarze Farbe, der Gürtel! – Liest man den Roman weiter, so mehren sich die Analogien. Der unschuldig verhaftete K. wird zum Symbol des Judentums; aber nicht nur um der Unschuld willen, die er in seinem rati-

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postkolonialer Wiederaneignung Kakaniens nach 1989 postulieren, die zumindest in Teilen auf den „Mythos einer besseren, friedlichen und kosmopolitischen Zeit“ (Brix 2006: 87) verweist und in der Habsburg zu einem Modell der heutigen Europäischen Union avanciert (Brix 2006: 89). Einem derart retrospektiv idyllisierten Austriazismus entzieht sich selbstverständlich Kafka, für den auch ein zeitgenössischer Autor wie Robert Menasse ungeachtet fragiler Identitäten kein Verständnis aufbringt: Zweimal in der jüngsten Geschichte wurde Österreich aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen, in dem es sich sicher gefühlt oder in dem es Sicherheit gesucht hatte: aus dem habsburgischen Vielvölkerstaat und aus dem Großdeutschen Reich. Und gar viermal hat Österreich seit der Habsburgerzeit seine politische Identität wechseln müssen. (Menasse 2005a: 57)

Nach Menasse ist das Herr-Knecht-Verhältnis ein Topos in der Literatur des habsburgischen Mythos. […] Die soziologischen Wurzeln dieses Topos deutet schon die Literatur des habsburgischen Mythos immer wieder selbst an: Es ist der Einfluß der Ohrenbeichtform auf den gesellschaftlichen Diskurs im katholischen Österreich, der zu jenen Organisationsweisen gesellschaftlicher Widersprüche führt, in denen Macht immer auf den Zuhörenden übergeht und damit, über Mitwisserschaft vermittelt, zur gemeinsamen Macht und zur Macht übereinander wird – allerdings nur im Diskurs. (Menasse 2005b: 181f.)

Kafka verweist, dies zeigen die Deutungen von Basil, Gruša, Menasse u. a., sicher nicht auf der Textoberfläche auf einen austriazistischen Traditionskontext, wohl aber mit der Wahl der Themen und deren Darstellung, die als Chriffren auf den habsburgisch-austriazistischen Kontext rekurrieren. Denn, wie Robert Menasse erkennt, ohne Kafka namentlich zu erwähnen: Der Topos vom so eigentümlich harmonisierten Herr-Knecht-Verhältnis ist das Verbindungsglied zwischen der habsburgischen Literatur und der des Neuen Österreich, es bezeichnet den einzig relevanten literarischen Traditionszusammenhang zwischen der habsburgischen Monarchie und der Zweiten Republik. (Menasse 2005: 183f.)

Mit einer derart weitgreifenden Interpretation und ihren Implikationen auf kleine Literaturen und Nationen ist man tatsächlich bei zentralen, auch von Kafka immer wieder aufgegriffenen Topoi, die sich als ein mitteleuropäisches onalen Bewußtsein festhält, sondern mehr noch im Hinblick auf das geheimnisvoll dunkle Schuldgefühl, das aus seinem anormalen und eigentlich erstarrten Leben erwächst […] – all das, was für die heutige Lage des Judentums charakteristisch ist, findet sich in Kafkas Prozeß.“ (Brod 1933: 3) Diesem Deutungsmuster folgen bekanntlich u. a. Hannah Arendt (The Jew As Pariah, 1944) und Theodor W. Adorno mit dem von Klaus Mann übernommenen Topos von Kafka als Propheten des Dritten Reiches.

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Identifikationsmodell darbieten, in das auch Kafka einzuordnen wäre.30 Hierzu sei abschließend auf einen weiteren Prager verwiesen. Ausgehend von seiner Stifter-Lektüre, bei dem er eine spezifische Form der österreichischen Sprache erkennt, gelangt Rilke in einem Brief an August Sauer vom 11. Januar 1914, seine Erfahrung mit Polyglossie in der Donaumonarchie reflektierend, zu einer bemerkenswerten sprachkritischen Überlegung: Irr ich mich, oder ist er wirklich eine der wenigen künstlerischen Erscheinungen, die uns dafür entgelten und darüber trösten, daß es Österreich, dem eine eigentliche Durchdringung seiner Bestandteile in keinem Sinne beschieden war, zu einer ihm eigenen Sprache nicht hat bringen dürfen? Je älter ich werde, je schmerzlicher fühle ich diesen negativ vorgezeichneten Posten mit, er steht gleichsam als Schuldübertrag auf jeder neuen Seite meiner Leistungen oben an. Innerhalb der Sprache, deren ich mich nun bediene, aufgewachsen, war ich gleichwohl in der Lage, sie zehnmal aufzugeben, da ich sie mir doch außerhalb aller Spracherinnerungen, ja mit Unterdrückung derselben aufzurichten hatte. Die unselige Berührung von Sprachkörpern, die sich gegenseitig unbekömmlich sind, hat ja in unseren Ländern dieses fortwährende Schlechtwerden der Sprachränder zur Folge, aus dem sich weiter herausstellt, daß, wer etwa in Prag aufgewachsen ist, von früh auf mit so verdorbenen Sprachabfällen unterhalten wurde, daß er später für alles Zeitigste und Zärtlichste, was ihm ist beigebracht worden, eine Abneigung, ja eine Art Scham zu entwickeln sich nicht erwehren kann. (Rilke 1987: 433f.)

Betrachtet man mit Oskar Benda (1936) Rainer Maria Rilke als paradigmatischen Österreicher, der durch Heimatlosigkeit sich immer auf der Suche nach einer ‚gültigen‘ Sprache befand, so lassen sich darin nicht nur Analogien zur Heimatlosigkeit bei Franz Werfel erkennen, sondern letztlich auch zur fehlgeschlagenen Assimilation, die Kafka beispielsweise im Juni 1921 gegenüber Max Brod formulierte: Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben […], also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß. (Kafka 1975: 337f.)

30 Zum Mitteleuropa-Komplex s. Höhne (2011b, 2014).

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4. Fazit Ausgehend von einer Dichtung, die den Erwartungshorizont der Zeit radikal bricht und – so Friedrich Schlegel – ‚Fragmente für die Zukunft‘ schafft, steht auch für den austriazistisch geprägten Mitteleuropäer Kafka die Wirkungsmächtigkeit des Werkes außer Frage. Eine Territorialisierung bzw. Kontextualisierung darf somit nicht auf eine Bohemisierung Kafkas und eine Kafkaisierung Böhmens hinauslaufen, sondern es muss, mit Milan Kundera (1991) gesprochen, darum gehen, den engen nationalphilologischen sowie den noch engeren mikroskopisch-biographischen Kontext zugunsten des weiten, übernationalen oder weltliterarischen zu überwinden, diesen aber in seiner territorialen Bedingtheit zu erkennen.

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Michael Rohrwasser

„Die Sache mit Kafka“. Ernst Fischer und Franz Kafka Die Positionen in den Kontroversen um Kafka scheinen klar, die Positionspapiere und Dokumente sind zitierbar, und dennoch schleicht sich von Anfang an eine merkwürdige Unbestimmtheit ein, weil man spürt, dass hinter ästhetischen Argumenten sich andere verbergen, dass Stellvertreterkämpfe ausgefochten werden. Man spricht in Liblice von Franz Kafkas Proceß und meint (auch) den Prager Schauprozess gegen „das Verschwörerzentrum“ Rudolf Slánský von 1952, man versucht einen jüdischen Autor zu rehabilitieren und thematisiert damit den Antisemitismus im stalinistischen System, die SED kritisiert Ernst Fischer und meint die KPÖ, man argumentiert gegen Kafkas Werk und meint eigentlich dessen Verteidiger, die man als Schädlinge der Partei ausgemacht hat. Selten ist es so offensichtlich, dass Kulturpolitik, Ästhetikdebatten und politische Auseinandersetzungen ineinanderfließen und sich überdecken wie bei den Kontroversen um Franz Kafka in den Jahren des Kalten Kriegs. Am Anfang scheint noch alles klar und Franz Kafka ein historischer Autor. So unterschiedlich die Blicke und Urteile von Hannah Arendt, Georg Lukács und Ernst Fischer über das Werk Franz Kafkas ausfallen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie die österreichische k.-u.-k.-Monarchie und deren Bürokratie als historische Kulisse in Kafkas Werk ausgemacht haben. „In welch bitterer, aber auch verzweifelt satirischer Verzerrung die Bürokratie in Österreich erschien, kann man am besten noch bei Franz Kafka nachlesen“, schreibt Hannah Arendt (1955: 399) in der deutschen Fassung ihres Totalitarismus-Buches, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Im selben Jahr erscheint Georg Lukács’ programmatischer Aufsatz Franz Kafka oder Thomas Mann, der Kafka bei den Antirealisten und Allegorikern einordnet, zugleich aber konzediert, dass auch eine antirealistische Literatur Spurenelemente von Realismus in sich trage, in Kafkas Fall „ein Bild der kapitalistischen Gesellschaft (mit etwas österreichischem Lokalkolorit).“1 Und Ernst Fischer 1 Franz Kafka oder Thomas Mann ist das zweite Kapitel von Georg Lukács’ Studie Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus (1955). Die erste westdeutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Wider den mißverstandenen Realismus (Lukács 1958: 46). Lukács trug Teile seines Essays als Vortrag vor unter dem Titel Kafka oder Thomas Mann, zuerst im Januar 1956 an

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schreibt einige Jahre später, 1962, in der DDR-Akademie-Zeitschrift Sinn und Form, Josef K. wehre sich „im Tonfall eines renitenten österreichischen Staatsbürgers.“ (Fischer 1962a: 529)2 Ernst Fischer ist der Prominenteste im Kreis der politischen Kafka-Leserschaft in Österreich, und das, obwohl er Kafka sehr spät erst für sich entdeckt hat. Fischers linientreuer Mitstreiter Bruno Frei merkt in seiner Autobiographie (Der Papiersäbel) an: „Bis heute ist mir unverständlich, wie es geschah, daß die Auseinandersetzung in Österreich sich an den Namen Ernst Fischer knüpfte.“ (Frei 1972: 363)3 Während in Österreich Fischers Auseinandersetzung mit Kafka erst einmal marginale Beachtung fand, wurde der Verfasser in der DDR bald zum Inbegriff des Dissidenten; die Auflagen der Anti-FischerBroschüren für den ‚internen Dienstgebrauch‘ des Ministeriums für Staatssicherheit überstiegen bald die von Fischers Schriften. In Moskau war Ernst Fischer von 1935 bis 1938 KPÖ-Vertreter bei der Komintern, Redakteur der Kommunistischen Internationale, und er war 1937 auch Berichterstatter beim Moskauer Schauprozess gegen Karl Radek („Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums“). Fischer hatte die gefährlichen Jahre in Moskau, die vielen seiner Mitstreiter das Leben kostete, nicht nur ‚überlebt‘, sondern war ein wichtiger Funktionsträger gewesen und hatte als hoher Komintern-Funktionär auch belastende Dossiers über seine Landsleute weitergeleitet (Kröhnke 1994: 69ff.).4 Fischer betonte in diesen Jahren die nationale Eigenständigkeit Österreichs und opponierte auch später gegen eine Westanbindung. Nach seiner Rückkehr nach Österreich im April 1945 stand er bis 1969 als Mitglied des Zentralkomitees der KPÖ zusammen mit Friedl Fürnberg und Johann Koplenig (die mit ihm im Moskauer Exil waren) an der Parteispitze, darüber hinaus war er Chefredakteur der ersten Nachkriegszeider Berliner Akademie der Künste, im Juni desselben Jahres auch an der Wiener Urania. Das österreichische Tagebuch (1956/14: 5f.) druckte Auszüge des Vortrags. 2 Und: „Dieses Werk entnahm Nährstoff und Gift dem untergehenden Habsburgerstaat“ (Fischer 1962a: 497). 3 Frei hat im Unterschied zu Fischer Kafka schon in seiner Jugend gelesen, seine Schilderung klingt aber so, als müsse er sich dafür rechtfertigen: Dahinter habe sich keine Absicht verborgen, sondern nur Lesesucht. Er habe er ihn damals „ohne Verstand verschlungen“, ohne „nachhaltige Empfindungen“ (Frei 1972: 360). Er unterstreicht damit, dass er nicht infiziert worden sei, und gibt damit zu verstehen, dass Kafka ein gefährlicher, ein politischer Autor war. 4 Das Material verdankt Kröhnke den Wiener Historikern Barry McLoughlin und Hans Schafranek; in Erinnerungen und Reflexionen blendet Fischer die eigenen Verwicklungen aus und schreibt, dass er „das System des Terrors nicht einmal zu ahnen vermochte“ (Fischer 1969: 370). Über die österreichischen Opfer des Stalinismus s. McLoughlin (1991).

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tung Neues Österreich und ab 1950 Mitherausgeber des (Österreichischen) Tagebuch, der kulturpolitischen Zeitschrift der KPÖ (Pfoser 2010: 228-243),5 die in diesen Jahren neben der Volksstimme zu seiner wichtigsten publizistischen Plattform wurde. Nach einem Herzinfarkt und dem Ausscheiden der KPÖ aus dem Nationalrat 1959 zog er sich aus der Tagespolitik zurück und widmete sich verstärkt seinen literarischen Arbeiten und kulturpolitischen Themen. Fischer war das prominente intellektuelle Aushängeschild der KPÖ; er selbst betrachtete sich als kulturpolitischer „Außenminister der Partei“ (Kroll 2007: 308) und inszenierte sich erneut als Dichter (auch wenn er „jahrelang nur in den konfidentiellen kommunistischen Organen publiziert“ hatte; Amery 1969: 26). Trotz der sinkenden Mitgliederzahlen und des steigenden Altersdurchschnitts ihrer Mitglieder hatte die KPÖ außenpolitisch ihre Bedeutung erhalten, weil sie in den alten k.-u.-k-Raum hineinwirkte. Was das Wiener Parteiorgan Volksstimme schrieb, machte in den 1950er- und 1960er-Jahren in Budapest, Warschau und Prag die Runde und spielte dabei eine wichtigere Rolle als in Österreich, außerhalb des KPÖ-Umfelds.6 Fischer versuchte sich in den Nachkriegsjahren in einem intellektuellen Spagat, weil er einerseits stalinistische Positionen vertrat (bis hin zur Rechtfertigung der sowjetischen Arbeitslager und der Forderung, dieses Modell des Strafvollzugs auch in Österreich einzuführen),7 andererseits aber in kulturpolitischen und ästhetischen Fragen immer mehr gegen den Stachel einer Kulturpolitik löckte, die Front machte gegen die literarische Avantgarde.8 Wirkliche 5 Für die Überlassung ausführlicher Exzerpte und Kopien der Zeitschrift danke ich Doris Neumann-Rieser und Stefan Maurer. 6 „Auf jeden Fall steigerte sich die Auflage von Jahr zu Jahr, nicht zuletzt durch die von mir betriebene systematische Verbreitung in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Polen. Es kam zu einer verkauften Auflage, die 10.000 überstieg und weiter im Ansteigen war. Bis Ende 1949 war das Österreichische Tagebuch auf 600 verkaufte Exemplare herabgewirtschaftet worden. Bald merkte jedoch das Pol-Büro, daß die Parteispitzen in Budapest, Prag und Warschau mit diesem österreichischen Import nicht einverstanden waren“ (Matejka 1980: 76). 7 Nach seinem Parteiausschluss 1969 grub die KPÖ einen Artikel Fischers aus dem Jahr 1949 aus, in dem dieser das System der sowjetischen Arbeitslager verteidigte (Kröhnke 1994: 84f.). Im Tagebuch spottet Fischer 1950 über die „antikommunistischen Lügen“ über „geheimnisvolle Konzentrationslager ‚hinter dem Eisernen Vorhang‘“, lobt das sowjetische Lagersystem und meint, auch in Österreich wäre es für „wurmstichige, faule Elemente“ gut, in Arbeitslager zu kommen (Tagebuch 1950/2 [19.01.]: 4). Zwei Nummern später wiederholt er gegenüber Friedrich Heer, dass „Schmarotzer ins Arbeitslager“ gehörten (Tagebuch 1950/4 [18.02.]: 4). 8 So heißt es beispielsweise 1964 im Tagebuch über Gerhard Rühm: „Der junge Dichter hat das Lallen der Dadaisten von 1919 neu entdeckt und in ‚skripturale Malerei‘ respektive

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Kontinuität entfaltete Fischer da, wo er den „österreichischen Volkscharakter“ gegen „die deutsche Misere“, den „preußisch-faschistischen Deutschnationalismus“ stark machte (Schmidt-Dengler 2000). Zu den stalinistisch-antisemitischen Nachkriegsprozessen in Osteuropa hat er öffentlich geschwiegen,9 und auch noch zum Einmarsch der Sowjets in Ungarn im Herbst 1956. Hans Mayer erwähnt zwar einen Protest Fischers, doch ein solcher hat sich wohl auf private und parteiinterne Kreise beschränkt, denn bislang haben sich in Archiven dafür keine Anhaltspunkte gefunden – jedenfalls hat Fischer sich damals wie sein Parteifreund Bruno Frei geweigert, eine Protestresolution des österreichischen PEN-Club gegen die sowjetische Invasion zu unterschreiben, was im November 1956 zu ihrem Ausschluss aus dem PEN führte (Mayer 1985; Torberg 1965: 79f.)10 Bruno Frei rächte sich für diesen Ausschluss später in seinen Erinnerungen, in denen er die Wiener Kommunisten, die nach dem Einmarsch in Ungarn ihrer Partei die Treue gehalten haben, zu den Juden von heute, und die Antikommunisten, die sie auf den Straßen attackierten, zu den neuen Nazis erklärte.11 Dass Fischers Positionen im Tagebuch deutlich doktrinärer sind als die seines Mitherausgebers Viktor Matejka, mag den überraschen, der nur den Häretiker von 1968 im Blick hat.12

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‚konkrete Poesie‘ umgesetzt. Späteren Historikern des Kultur- und Sprachverfalls dringend zur Lektüre empfohlen“ (Tagebuch 1965/5: 11). Der Slánský-Prozess sei „für Ernst Fischer völlig unglaubwürdig und tief erschütternd“ gewesen, erinnert sich Lou Eisler-Fischer (2006: 72). Fischer berichtet über eine Auseinandersetzung mit Koplenig, der ihn getadelt habe, weil er zu dem Prozess keine Stellung genommen habe. Er habe geantwortet, dass er kein Wort der Anklage glaube, dennoch habe er öffentlich geschwiegen, weil er kein Wasser auf die Mühlen des Feindes habe gießen wollen (Fischer 1973: 345ff.). Bruno Frei schreibt allerdings, Fischer habe sich „seit der ungarischen Konterrevolution […] Stück für Stück“ von der kommunistischen Bewegung entfernt (Frei 1968: 3), und verweist auf Fischers Aufsatz Die unbequemen Intellektuellen (Tagebuch 1957/1), in dem Frei den „Widerhall der ungarischen Ereignisse“ erkennt. Frei zitiert aber auch linientreue Reden Fischers aus dem Jahr 1958, die er „verbale Verbeugungen vor dem dogmatischen Klassenstandpunkt“ nennt. In dem Artikel Wie konnte es geschehen? (Volksstimme 1965/275 [25.11.]: 5) kritisierte Fischer die ungarische Parteiführung, die den Aufständischen eine Angriffsfläche geboten hätte; zugleich verteidigt er die militärische Intervention der Sowjetunion. „Im ‚Nieder‘-Geschrei verschmolzen die Begriffe; wie einst. Die Exzesse dieser Nacht hielten sich eng an das Modell der unvergessenen Pogromtechnik.“ (Frei 1972: 319) „Ernst Fischer, zweifellos auch in diesen Jahren durch seine Verlaine- und BaudelaireÜbersetzungen ein Mann der Literatur, trat im Tagebuch als pathetischer Stalinist auf, der nicht nur überschwänglich Stalin und die Sowjetunion pries, sondern eine Eigenständigkeit politischen Denkens im besten Fall erahnen ließ“ (Pfoser 2010: 238).

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Wegen seines kulturpolitischen Engagements nach 1959 gerät Fischer jedoch in der DDR bald unter Häresieverdacht. „Walter Ulbricht hat diesen Österreicher so tief gehasst, wie es ihm, dem dürren und emotionslosen Besserwisser, überhaupt möglich war“, schreibt Fischers Freund Hans Mayer (1985). In einer auflagenstarken Broschüre des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wurde Fischer als Vertreter eines „besonders gefährlichen Revisionismus“ gebrandmarkt, der durch „die Hintertür Kunst“ versuche, seine „revisionistischen Ansichten“ zu verbreiten.13 Eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung Fischers zum Häretiker spielten Franz Kafka und der Marxsche Begriff der Entfremdung. Im Moskauer Exil, so versichert Fischer in seinen Erinnerungen und Reflexionen, sei er Kafka noch nicht begegnet, und er fügt hinzu, dass Kafka ihm dort vielleicht geholfen hätte, „manches mit schärferen Augen zu sehen.“ (Fischer 1969: 367) Erst in den späten 1950er-Jahren taucht Kafka als Referenz in Fischers kulturpolitischen und literaturästhetischen Aufsätzen auf. Im Namen Kafkas wird vorerst eine Distanzierung gegenüber Georg Lukács vollzogen, der 1955 Thomas Mann über Kafka gestellt und erklärt hatte, dass Thomas Mann als Realist dem Sozialismus näher stünde (Lukács 1958). Unbestritten dürfte sein, dass für seine eigene literarische Arbeit Kafka keine Spuren hinterlassen hat – über Fischers Autobiographie merkt Jean Amery an: „Das Wort von der kafkaesken Welt wird da und dort ausgesprochen, aber es ist nicht Kafka, der diese Welt uns vorführt.“ (Amery 1969: 26) Da verharrt Fischer mit seinen belehrenden Agitationsstücken, die auch in der DDR mit großem Erfolg aufgeführt wurden,14 und seinen konventionellen Gedichten – „genügt Ihnen meine Zustimmung, daß die lyrische Sprache Ernst Fischers nicht avantgardistisch war?“ (Mayenburg 1980) – in einer Kafka-fernen Tradition, und die Berufung auf Kafka (in seinen Essays) bedeutet auch nicht zwingend eine Anerkennung der literarischen Moderne, denn immer noch bleiben für ihn Samuel Beckett und andere vorerst dem staatskommunistischen Décadence-Formalismus-Verdikt unterstellt. Fischer rettet sich aus diesem Widerspruch, indem er schließlich seinen Realismus13 Oberstleutnant Hofmann: Information aus aktuellem Anlaß zu dem im Hamburger Rowohlt Verlag im Oktober 1966 veröffentlichten Buch von Ernst Fischer, Österreich, Kunst und Koexistenz. April 1968 (zit. n. Schmole 2012). Die Broschüre für den „internen Gebrauch“ erschien in einer Auflage von 2.000 Exemplaren! 14 Fischers Anti-Tito-Stück Der große Verrat (1949), in dem das Lagerdenken des Kalten Krieges postuliert („Heute gibt es nichts als zwei Fronten. Und zwischen den Fronten wächst kein Gras, blüht kein Baum“) und Tito der Tod gewünscht wird, wurde erfolgreich an der Wiener Scala uraufgeführt und danach auch an Bühnen der DDR gespielt. Matejka nennt das Stück „einen hochdramatischen Bannstrahl gegen Tito“ (Matejka 1980: 71).

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begriff öffnet und Kafka in Liblice als „realistischen“ Autor feiert. Das Phänomen der Dekadenz bleibt vorerst bestehen: „Gewiß: die Welt, in der dieser Kafkaismus gedeiht, ist überfüllt von Erscheinungen der Dekadenz, des Niedergangs“ (Fischer 1962a: 553). Fischers Aufsatz in Peter Huchels letztem Sinn und Form-Heft (1962/5-6)15 trägt den Titel Entfremdung, Dekadenz, Realismus. Hier plädiert der Autor dafür, Kafkas Verhältnis zur Dekadenz genauer zu bestimmen, ohne dass er die Gefährlichkeit der Dekadenz in Frage stellt. Dekadenz sei ein Gift, vor dem zu warnen Pflicht der Marxisten sei, aber es gebe „nicht allzu viele Dichter und Schriftsteller, die sich mit der Dekadenz identifizieren“ (Fischer 1962b: 823); andere hätten sich zwar mit der Dekadenz infiziert, aber Antitoxine entwickelt (die Metaphorik von Gift und Infektion durchzieht nicht nur diesen Auf­satz, sondern begleitet die ganze Kafka-Debatte im Umfeld der Liblice-Konferenz). Wie Franz Fühmann es 1964 in einem Brief an den DDR-Kulturminister tat und Sartre 1962 in Moskau getan hatte (Fischer 1966: 71), gibt Fischer den Kunsttheoretikern und Feuilletonisten „der kapitalistischen Welt“ die Hauptschuld an der Funktionalisierung Kafkas: „Meister der phantastischen Satire wie Joyce und Kafka werden in Mystiker umgefälscht“ (Fischer 1962b: 816). Fischer bettet den Begriff der Dekadenz ein zwischen Entfremdung und Realismus. Der Begriff der Entfremdung spielte im staatskommunistischen Diskurs keine große Rolle (die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte des jungen Marx wurden kaum rezipiert und erst spät aufgelegt), für Fischer dagegen begann er eine immer größere Rolle zu spielen, aber erst auf der Kafka-Konferenz in Liblice wurde die Entfremdungsdiagnose auf den realen Sozialismus bezogen. Dem Entfremdungs-Essay vorangegangen war ein über 50-seitiger KafkaAufsatz von Fischer (ebenfalls in Sinn und Form),16 der mit dem Satz schließt: „Der Kafkaismus wird vorübergehen, wenn seine Voraussetzungen überwunden sind. Kafka wird bleiben“ (Fischer 1962a: 553)17 – eine Parole, die Kaf15 Huchel war von den Kulturfunktionären als Chefredakteur vor die Tür gesetzt worden und packte in die letzte Doppelnummer alles hinein, was ihm wichtig war, Texte von Ilse Aichinger und Günter Eich, von Isaak Babel und Paul Celan, Jewgenij Jewtuschenkos Gedicht Babi Jar, Sartres Moskauer Rede von 1962 (ein Plädoyer für Kafka), eine Attacke von Louis Aragon auf den „sozialistischen Realismus“ und – den Aufsatz von Ernst Fischer. 16 Fischer veröffentlicht in der renommiertesten Literaturzeitschrift der DDR (herausgegeben von der Akademie der Künste) zwischen 1951 und 1964 elf Aufsätze; sein Kafka-Aufsatz gehört in eine Reihe von Essays über österreichische Autoren wie Robert Musil, Karl Kraus und Johann Nestroy. 17 Fischer betont die Widerständigkeit der österreichischen Autoren (beispielsweise in seiner Aufsatzsammlung Von Grillparzer zu Kafka), d. h. sein Plädoyer für Kafka ist ein österrei-

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ka jenseits von Funktionalisierungen ortet und die zugleich ausblendet, dass Kafka noch gar nicht angekommen war in der literarischen Öffentlichkeit von Ost-Berlin, Prag, Budapest, Warschau etc. (wobei es spezifische Unterschiede gab, denn in Belgrad war es um Kafka weitaus besser bestellt, in den Schulbüchern fanden sich Texte von Kafka, und Orson Welles konnte in Zagreb seinen Proceß-Film drehen; Rohrwasser 2010). Zum einen funktioniert dieser Aufsatz mit seinen ausführlichen Zitaten aus Briefen, Erzählungen und Romanen als eine Art von kleinem kommentiertem Kafka-Lesebuch für jene Leser, denen der Zugang zu dessen Texten verwehrt war (also nicht für österreichische Leser),18 zum anderen ist er ein fürstenaufklärerisches Plädoyer für den verfemten Dichter. Kafka wird den DDR-Kulturfunktionären als wacher Beobachter der Entfremdung (im Kapitalismus) und der Ausbeutung offeriert, als ein Autor mit sympathisierendem Blick für die Unterdrückten, wobei Fischer konzediert, dass der Dichter „die Arbeiter nicht als kämpfende Klasse, sondern als hilflose Einzelne“ gezeichnet habe (Fischer 1962a: 534). Es ist die kapitalistische Welt, die Fischer in Kafkas Texten gespiegelt sieht, und der Amerika-Roman liefert ihm Anlass zur ausführlichen Kritik am Wahlsystem der USA und an der „bürgerlichen Demokratie“ überhaupt (Fischer 1962a: 520). Außerdem wird Kafka hier den Tschechen zurückgegeben: „Um ein Volk zu finden, mußte er zu den Tschechen gehen.“ (Fischer 1962a: 508) Fischer verfolgt dabei einen schlichten biographischen Ansatz (als ginge es darum, einen recht unbekannten Autor vorzustellen, über den nichts voraussetzbar sei, darüber hinaus aber mit der Sicherheit, dass sich Werk und Leben gegenseitig erläutern): Er unterstreicht Kafkas Schwächen, angefangen von seiner zerbrechlichen Physis bis hin zu seiner Unfähigkeit, echte Beziehungen zu Frauen einzugehen, um zu schlussfolgern, dass diese Schwäche ihm die Sensibilität geschenkt habe, die gesellschaftliche Entwicklung seiner Zeit zu empfinden und darzustellen wie kein anderer: „Seine Schwäche [ist] Urgrund seiner literarischen Kraft.“ (Fischer 1962a: 498) Diese Argumentation, dass Kafkas Schwäche für seine seherische Stärke verantwortlich ist, ist mehr als nur eine simplifizierende Wendung für die Funktionäre, sondern es scheint eine Umschreibung des ‚jüdischen Kafka‘. Sie

chisches, das sich ins große Programm Fischers fügt, den österreichischen Sonderweg zu begründen. 18 Günter Anders (1984: 46) hatte dagegen seinem Essay Kafka pro und contra (1951) die Bemerkung vorangeschickt, es handle sich um einen Kommentar, der „nicht vor, sondern neben oder nach der Lektüre Kafkas benützt werden“ solle.

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erinnert von Ferne an die antisemitisch grundierte Erzählung vom gefährlichen schwachen Juden, aus dessen Schwäche die Kraft zur Zersetzung wächst. Fischer verleiht dem Autor eine prophetische Begabung, die aus der von ihm diagnostizierten Schwäche erwächst: Kafka roch die Verwesung einer scheinbar noch intakten Gesellschaft, im Bürokraten von heute den Prügler, den Henker von morgen, im unscheinbaren Keim die heranreifende Katastrophe. (Fischer 1962a: 501, s. a. 529 [„eine Vorahnung künftigen Schreckens“])

Die Rede von der seherischen Begabung, die dem „Genie der Schwäche“ gegeben war, erscheint im Nachhinein als ein vergiftetes Lob, das auf Kosten der Anerkennung von Kafkas literarischem Vermögen geht – eine Begabung ist eine Gabe und kein Resultat langwieriger schriftstellerischer Arbeit. Er unterstreicht Kafkas Sympathien für die Arbeiterbewegung und erkennt auch noch im Verhältnis zu seinem Vater das „Wetterleuchten des Klassenkampfes“, eine allzu routinierte biographische Interpretation, der man den Blick auf den Adressaten anmerkt. Er wiederholt, was schon sein tschechischer Kollege Paul Reiman[n] moniert hatte, dass Kafka keinen Klassenstandpunkt gehabt und nicht an die Revolution und die „geschichtliche Kraft der Arbeiterklasse“ geglaubt habe. Das entspricht ganz dem Tenor der Einleitungen, Nachworte und flankierenden Aufsätze, die in den 1950er- und 1960er-Jahren in den osteuropäischen Staaten erschienen waren, aus der Feder von Reimann, Oto Biha, Franz Fühmann und anderen. Und gewiss ist es sinnvoll, die Kafka-Texte des österreichischen Kulturpolitikers, von denen Fritz J. Raddatz sagte, dass Fischer sich hier „bewußt ein brillantes Feuerwerk der Worte versagt“ habe (Raddatz 1990: 274), als Teil dieses staatskommunistischen Diskurses wahrzunehmen, in dem Kafka in die Schranken gewiesen wurde, um eine Edition zu ermöglichen, in dem seine Beschränktheit unterstrichen wurde, um den Kulturfunktionären seine Ungefährlichkeit zu beweisen. Ich gehe ein auf ein frühes Beispiel, das zugleich den Kontrast zu Fischers Strategie deutlich macht. Der Prager KPFunktionär und Germanist Paul Reimann, einer der späteren Initiatoren der Liblice-Konferenz, publiziert 1957 auf Einladung von Louis Fürnberg einen Kafka-Aufsatz in den (von Fürnberg herausgegebenen) Weimarer Beiträgen. Er geißelt dort die „Schwäche“ von Kafkas „Weltanschauung“: Die Menschen sind bei Kafka nur passiv, nur leidend […]. Die subjektiven Sympathien für das werktätige Volk, die in Kafkas Werk stellenweise sichtbar werden, genügten nicht, die gestellte Aufgabe zu bewältigen. Deshalb sind auch alle Versuche, aus Kafka eine mystische Persönlichkeit zu machen, ihn zum Rang eines Propheten zu erheben, völlig aussichtslos und zum Scheitern verurteilt. Kafka war nichts weniger als ein Prophet, er war ein Schiffbrüchiger. (Reiman[n] 1961: 173)

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Reimann attestiert Kafka „ein starkes literarisches Talent“, das freilich unfähig sei, mehr als „Skizzen oder Fragmente“ zu liefern (Reiman[n] 1961: 151). Nach der Liblice-Konferenz von 1963 (von der gleich die Rede sein wird), war Kafka endgültig zum politischen Autor und zur Sache für Kulturfunktionäre geworden. Bruno Frei lädt Reimann nach Wien zu einem Vortrag über Kafka ein, in der Hoffnung, mit dessen Hilfe die Wogen zu glätten, und Frei kommentiert auch, dass nun die Diskussion von Liblice „vom Kopf auf die Beine“ gestellt worden sei (Frei 1972: 363) – Reimann habe von den Grenzen Kafkas gesprochen, davon, dass er unfähig gewesen sei, in die Kämpfe seiner Zeit einzugreifen: „Wir machen ihm daraus keinen Vorwurf; aber als Kinder einer neuen Zeit müssen wir die Grenzen sehen, über die Kafka nicht hinauskam“ (zit. n. Frei 1972: 363) – dieselbe Argumentation, nun aber ‚nach‘ Liblice und statt in der DDR in Österreich vorgetragen, hat sich in eine doktrinäre Argumentation verwandelt. Fischers Verteidigung Kafkas ist hier wie in früheren Annäherungen behutsam (aber auch er bringt auf dem Altar der Dogmatik Opfer und bezichtigt andere Autoren wie Samuel Beckett der „makabren Dummheit“; Fischer 1958: 476). Doch unverkennbar ist auch eine verborgene Linie des Essays, nach der Kafka das stalinistisch-bürokratische System beschreibt. Im Dekadenz-Aufsatz hatte er gegen Ende einen Ausfallschritt gewagt: Aus der Sowjetunion kam zur Zeit des Personenkults zuwenig Ermutigung. In vielen Werken sowjetischer Kunst und Literatur wurde die Wirklichkeit nicht nur simplifiziert, sondern auch beschönigt oder verdrängt, also in einem gewissen Ausmaß ‚entwirklicht‘. (Fischer 1962b: 853)

In den verschiedenen Entwürfen seiner Essays, die sich im Nachlass finden, lässt sich diese antistalinistische Stoßrichtung noch deutlicher erkennen, und besonders deutlich in seinem Vortrag auf der Kafka-Konferenz von Liblice. Dass diese Linie in seinem Essay von 1962 noch untergründig bleibt, sei ein Kennzeichen der „Sklavensprache“, schreibt Hans Mayer (1985) – man könnte hinzufügen: ein Kennzeichen, dass Fischer sich hier auf ausländischem Terrain bewegte. Die von der tschechischen Akademie der Künste, der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität und dem Schriftstellerverband einberufene Kafka-Konferenz auf dem Schloss Liblice in der Nähe von Prag (am 27. und 28. Mai 1963, im Jahr von Kafkas 80. Geburtstag) versammelte einen Kreis internationaler Literaturwissenschaftler. Als Referenten wurden Marxisten eingeladen, um nicht „dem moskauhörigen Establishment“ Gelegenheit zum Argument zu geben, „daß es sich bei den Teilnehmern um Klassenfeinde

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handelt.“ (Gold­stücker 2000: 161)19 Gleichwohl bleiben die sowjetischen Delegierten zu Hause. Die literaturwissenschaftlichen Organisatoren der Konferenz, Eduard Goldstücker und Paul Reimann, verband neben ihrem Bemühen um Kafka noch mehr. Sie waren 1952 beteiligt an dem sogenannten Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slánský an der Spitze, in dem 14 Angeklagte (darunter 11 Juden) zum Tode verurteilt wurden – Goldstücker als Angeklagter (als tschechischer Botschafter aus Israel zurückbeordert, wurde er zum Tode verurteilt, dann zur lebenslangen Haft begnadigt und 1955 rehabilitiert), Reimann als Hauptzeuge der Anklage. Dass diese beiden sich für eine Kafka-Konferenz zusammenschlossen, war ein deutliches Signal, dass Kafka zum Vehikel für die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit geworden war (auch Reimann und Fischer kannten sich aus dem Moskauer Exil). Die Forderung nach einer Rehabilitierung der Opfer der Stalin-Ära, nach einer Aufarbeitung des stalinistischen Antisemitismus und die nach einer Neubewertung des Werks von Kafka verschmolzen. Pavel Kohout sagte im Juni 1963, wenige Tage nach der Liblice-Konferenz, auf dem Kongress des tschechischen Schriftstellerverbandes, man müsse sich der „Prozesse“ erinnern: In einer Sache allerdings sollte man sich über die Wahrheit ohne Verzug, in vollem Umfang und in aller Öffentlichkeit auseinandersetzen. Ich denke an die Prozesse. Ich kann sie in dieser Versammlung nicht unerwähnt lassen (Kohout 1969: 7).

Er fährt fort, dass ihn einen Monat später die Witwe des hingerichteten Hauptangeklagten angerufen habe, Josefa Slánská (Kohout 1969). Aus dieser Verbindung heraus entsteht Slánskás Buch über den Schauprozess und ihren Mann, das im Frühjahr 1968 in Prag erscheinen kann. Sie montiert im ersten Teil ihres Buches Dokumente zur Geschichte des Prozesses. Der erste eigene Text, den sie in das Buch einfügt, beginnt mit den Worten: „Wie einen Hund / legten sie ihn an die Kette / für ein Jahr“ (Slánská 1969: 47). Kafka gibt ihr die Sprache, denn der Schlusssatz im Proceß lautet: „‚Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben“. Die Auseinandersetzung um Kafka auf der Liblice-Konferenz hat verschiedene politische Vorzeichen. Vor allem DDR-Delegierte wie Werner Mittenzwei und Klaus Hermsdorf halten daran fest, dass die Diagnose der Entfremdung sich auf die bürgerliche Gesellschaft beschränke. Goldstücker, der später im Rückblick auf Liblice vom „geistigen Verdun des Ost-WestKonflikts“ spricht (zit. n. Götze 2010), macht auf der Konferenz deutlich, 19 Einige Dokumente der Konferenz sind versammelt in: Goldstücker/Kautman/Reimann (1966).

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dass er (nicht nur) seine einleitenden Sätze sowohl auf Kafka als auch auf die Prozesse bezogen sehen will: Franz Kafka, den die ganze Welt uns zuzählt, wurde bei uns in der CSSR […] ein Opfer dessen, was als Folgen des Personenkults bezeichnet wird. Zu diesen Folgen gehörte auch die gefährliche Schwarz-Weiß-Simplifizierung des Weltbildes, der Zweifel an der Stärke der sozialistischen Idee und dadurch die Ersetzung der Diskussion durch administrative Maßnahmen. Wir dürfen uns nicht mehr der Illusion hingeben, daß auf der geistigen Landkarte der Welt von heute […] auf die Dauer irgendein Gebiet verdeckt oder einfach ignoriert werden könnte. Wir dürfen unter dem allumfassenden und undefinierten Begriff Dekadenz nicht summarisch alle künstlerischen Strömungen verurteilen, die anderen als unseren Voraussetzungen entspringen und Werke schaffen, die unserer Methode und unserem Geist zuwiderlaufen. (Goldstücker 1965: 24; Herv. i. Orig.)

Und Fischer wendet seine Diagnose der Entfremdung nun explizit gegen die DDR: Die Entfremdung des Menschen, die er mit maximaler Intensität dargestellt hat, erreicht in der kapitalistischen Welt ein schauerliches Ausmaß. Sie ist aber auch in der sozialistischen Welt keineswegs überwunden. Sie Schritt für Schritt zu überwinden, im Kampfe gegen den Dogmatismus und Bürokratismus, für sozialistische Demokratie, Initiative und Verantwortung, ist ein langwieriger Prozeß und eine große Aufgabe. Die Lektüre von Werken wie Der Prozeß und Das Schloß ist geeignet, zur Lösung dieser Aufgabe beizutragen. Der sozialistische Leser wird in ihnen Züge der eigenen Problematik wiederfinden, und der sozialistische Funktionär wird genötigt sein, in manchen Fragen gründlicher und differenzierter zu argumentieren. Anstatt Kafka als abgetan zu betrachten oder vor ihm Angst zu haben, sollte man seine Bücher drucken, und dadurch eine Diskussion auf hohem Niveau heraufbeschwören. (Fischer 1965: 157)20

Rückblickend schreibt er: Durch die Kontroversen in Liblice und ihren Widerhall rings in der Welt wurden dogmatische Kommunisten genötigt, von Problemen zu sprechen, die bisher tabu waren, vom offiziellen Schweigen verschüttet; es gilt dies vor allem vom Problem der Entfremdung. Für die alten Dogmatiker war der junge Marx ein unmarxistischer Störenfried. Von ihm zu sprechen war Verlegenheit. Er wurde zur Un-Person, aus dem Marxismus ausgeschlossen, in die nicht-marxistische Welt verbannt […]. Zahllose junge Leute vor allem in der DDR hörten zum erstenmal das Wort ‚Entfremdung‘ und wünschten, mehr davon zu hören. Altbewährte Vulgärmarxisten nahmen sich der Sache an. Sie sahen ihre Aufgabe darin, den

20 Wiederabdruck der Rede in Fischer (1991); sie schließt mit den viel zitierten Sätzen: „Ich appelliere an die sozialistische Welt: Holt das Werk Kafkas aus unfreiwilligem Exil zurück! Gebt ihm ein Dauervisum.“

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Begriff möglichst einzuengen und nach der zu Stalins Zeiten üblichen Methode alles zu verwerfen, was über das Zitat hinausgeht.21

Und Fischer unterstreicht in seinen Aufzeichnungen die Außenseiterrolle der DDR-Delegation in Liblice: Die Einmütigkeit der Auffassungen war für uns alle eine ermutigende Überraschung. Unabhängig waren wir zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, in Fragen, die mit dem Werk Kafkas zusammenhängen, doch tief in andre Bereiche hineingreifen, vor allem in die Problematik der in der sozialistischen Welt weiterwirkenden Entfremdung. In der Freude über die plötzlich sichtbar gewordene Kampfgemeinschaft gegen konservative Vorurteile und offizielle Selbstgefälligkeit verhielten wir uns zur DDR-Delegation ungerecht. Die jungen deutschen Germanisten hatten durch anfechtbare Aeusserungen die grundsätzliche Diskussion heraufbeschworen und waren dadurch in eine schwierige Lage geraten […]. Sie waren zur Defensive genötigt obwohl es ihnen vielleicht lieber gewesen wäre […] unhaltbare Stellungen aufzugeben und auf angemessene Art kundzutun, wie weit sie mit den übrigen Konferenz-Teilnehmern übereinstimmten. Doch sie standen der Konferenz nicht als autonome Individualitäten gegenüber, sondern als disciplinierte ‚Delegation‘, als Verkörperung des strengen Corpsgeists, als die monolithe Meinung der DDR. Der schreckliche Widersinn, dass Staaten, Regierungen, Parteileitungen sich eine autoritative Meinung über das Werk eines Schriftstellers oder eines Malers oder eines Gelehrten anmassen, dass sie diese autoritative Meinung zu Konferenzen über Kunst, Literatur, Philosophie ‚delegieren‘, fand seinen Ausdruck darin, dass keinerlei Meinungsverschiedenheit zwischen den Sprechern der DDR zutage trat, dass sie nicht jeder er selbst waren, sondern gegenüber Diskussionsrednern, deren Gedanken keinerlei Direktiven oder Resolutionen entsprachen, einen Staat und eine Partei repräsentierten […].22

Die Kafka-Konferenz von 1963 signalisierte eine neue Wetterlage. „Der Tau troff“, schreibt Heinz Politzer (1965: 141) im FORVM. Den „Panzerkommunisten“ (eine Wortschöpfung von Ernst Fischer) galt die Konferenz im Rückblick als Anfang vom Ende, als ein politischer Schachzug, der zum ‚Prager Frühling‘ geführt hat. Heiner Müller nennt in seinen Erinnerungen die Konferenz den „Beginn“, womit er die Verbindungslinie zum ‚rager Frühling‘ zieht. Er fügt einen galligen Kommentar hinzu, der von Kafka in der DDR erzählt: „Ein Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Universität sagte damals: ‚Die Methode Franz Kafkas, einen Menschen in einen Käfer zu verwandeln, ist für uns nicht akzeptabel.‘ Sie hatten andere Methoden.“ (Müller 1992: 194) Auch Fischer, Garaudy und Goldstücker sehen die Verbindungslinie zum ‚Prager Frühling‘, nur ist bei ihnen die Befreiung in den utopischen Lichtschein 21 ÖLA (Nachlass Fischer, Mappe 37: 54ff., Est. Kafka-Konferenz, ad Kafka Redivivus [maschinenschriftl. Mskr.]). Auf die Bedeutung der Entfremdungsdebatte für die Loslösung Fischers von der KPÖ weist auch Baryli (2008) hin. 22 ÖLA (Nachlass Ernst Fischer, Mappe 37: 54-56).

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eines „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ (auch eine Wortschöpfung Fischers) getaucht. Es gibt nach 1989 aber auch skeptische Stimmen, die dieser Legende, nach der die Auseinandersetzung mit Kafka der Anfang vom Ende des Staatskommunismus war, widersprechen. Sie nehmen das SchlossSzenario als gescheiterten Versuch wahr, Kafka ins kommunistische System zu integrieren. Goldstücker, dessen Erinnerungen recht rücksichtsvoll gegen das stalinistische System waren, beklagt sich: „Nach dem Umsturz hieß es, ich […] wollte Kafka durch die Konferenz in die kommunistische Ideologie einbinden“. (Goldstücker/Schreiber 2009: 149) Sicher ist aber, dass auf der Liblice-Konferenz das stalinistische Redeverbot über Schauprozesse und Antisemitismus aufgebrochen worden ist. Die Delegierten der DDR, die Fischers These zurückwiesen, dass auch die DDR zum Territorium der Entfremdung gehöre, waren ins Abseits geraten. Anna Seghers, die unangemeldet auf der Konferenz erschienen war, hatte die Brisanz der Konstellation sofort verstanden und schnell reagiert; sie schwieg zu den Diskussionen und reiste nach einem Tag zurück nach Ost-Berlin. Durch die internationale Resonanz, die diese Kafka-Konferenz fand, aufgeschreckt, wurde in der DDR Kafka zur Chefsache sowie Fischer zum Feind erklärt,23 und damit verschloss sich für ihn der Publikationsort DDR, wo 1963 noch im renommierten Insel-Verlag seine Ovid-Gedichte erschienen waren (Fischer 1963).24 Man kann mutmaßen, dass mit der Rückkehr zum österreichischen Publikum und dem Wegfall der Sprachregelungen in Zeitschriften der DDR seine Argumentation in der Folgezeit an Deutlichkeit gewonnen hat. Klaus Hermsdorf, der zur DDR-Delegation in Liblice gehörte, schreibt in seinen Erinnerungen: Mit Kafka und den Folgen beschäftigten sich höhere, jedoch geschlossene Gremien, die von dem einzigen Mann informiert wurden, der sich in dieser Sache ernsthaft engagierte, deren unseliger Urheber er war: von Alfred Kurella. Er sammelte sorgfältig die Daten […]. Er stellte sie in einer chronikalischen Auflistung zusammen […]. Er machte Vorschläge für den Umgang mit beunruhigenden Entwicklungen an einer unbekannten ideologischen Front. (Hermsdorf 2006: 175; s. a. Winnen 2006: 22f.)

23 „Ab der Kafka-Konferenz von Liblice galt Fischer in der DDR als Renegat und Revisionist, und bald schon erschienen dort zwar keine Werke mehr von ihm, aber nicht wenige über ihn, in denen er als Hohepriester der internationalen Häresie, als Erzketzer figurierte“ (Gauß 1991: 420). Selbst Breschnew attackierte Fischer (und Garaudy) auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU (März 1971) als gefährliche Renegaten. 24 Fischers letzte Publikation in der DDR war sein Aufsatz Hanns Eisler und die Literatur, der 1964 in Sinn und Form erschien (Sonderheft Hanns Eisler).

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Kurella veröffentlicht nach der Liblice-Konferenz in der Kulturbund-Zeitschrift Sonntag einen polemischen Artikel mit dem Titel Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka, der zum einen in Kafka eine Fledermaus wahrnimmt, zum anderen bei Fischer und Garaudy falsche politische Thesen und Tendenzen ausmacht. Das Tagebuch erlaubt sich, diesen Artikel nur in Auszügen abzudrucken (Tagebuch 18/11 [Nov. 1963]) und dafür mit Antworten von Roger Garaudy, Bruno Frei und Ernst Fischer (Die Schwalbe war’s und nicht die Fledermaus) zu ergänzen. Fischer erntet daraufhin in der DDR scharfe Kritik, darf aber nicht antworten, weil die SED entschieden hat, die Diskussion abzubrechen. Am Ende versanden seine Beschwerden, man würdigt ihn keiner Antwort mehr. Sein Redaktionskollege im Tagebuch, Bruno Frei, fasst zusammen: Aus den temperamentvollen Entgegnungen Garaudys und Fischers wurde deutlich, daß der Streit um Kafka tatsächlich ein Gefecht von Maskierten ist. […] Kurellas Widersacher gebraucht nicht zufällig ein Bild, das sich nach dem XX. Parteitag der KPdSU eingebürgert hatte: in Liblice hätte man das ermutigende Bewußtsein gehabt, ‚daß unter dem Eis der Fluß sich bewegt und daß, indem er das Eis durchbricht, Welle um Welle vorwärtsdrängt. Das Neue, das auch in der Kafka-Konferenz hervortrat, ist nicht mehr aufzuhalten.‘ (Frei 1972: 361f.)

Was Fischer und Garaudy über Kafka gesagt hätten, damit sei er einverstanden gewesen, nicht aber mit dem Komplex Entfremdung und sozialistische Gesellschaft. All dies konnte nicht ohne Rückwirkungen auf die Beziehungen zwischen KPÖ und SED bleiben, auch wenn sich die Krise zwischen den beiden „Bruderparteien“ erst langsam Bahn brach (Graf/Rohrwasser 2012). Vonseiten der SED waren insbesondere das Auftreten Ernst Fischers und seine Ausführungen zur „Entfremdung im Sozialismus“ angeprangert worden. Alfred Kurella hatte Fischers Thesen im Sonntag heftig attackiert. Bald musste aber jedem Beteiligten klar sein: „Es ging um Politik und nicht um Literatur.“ (Spira 1979: 63) Im Februar 1964 hatte Horst Sindermann in einem Bericht des Politbüros an das 5. ZK-Plenum der SED, der in Neues Deutschland veröffentlicht wurde, „die Polemik gegen Ernst Fischer auf eine parteioffizielle Ebene“ gehoben. (Neues Deutschland, 13.02.1964: Zu einigen Problemen des geistigen Lebens) Die Erwiderung Fischers ließ nicht lange auf sich warten und wurde im Zentralorgan der KPÖ Österreichische Volksstimme (21.02.1964) veröffentlicht. Fischer ließ seine Antwort auch der Redaktion von Neues Deutschland zukommen. In seinem Begleitbrief an die Redaktion unterstrich er, dass er von Sindermann „auf eine an schlimme Zeiten erinnernde Weise verdächtigt“ worden und deshalb auch eine Veröffentlichung in Neues Deutschland angemessen sei: „Ich erwarte dasselbe von Euch, umso mehr, da in dem Bericht sehr viel von offener Diskussion und freiem Meinungsstreit in der DDR die Rede war.“ In seinem

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Brief beschwört Fischer noch einmal das alte Gespenst von einem deutschen Zentrum, das die österreichische Stimme ignoriert. Gen. Sindermann, der den Bericht des Politbüros der SED an das 5. Plenum des ZK erstattete, hat mich des ‚Revisionismus‘ angeklagt. Ebenso wurden Kommunisten andrer Länder gerügt. Hält sich die SED für befugt, über die Grenzen des eignen Landes hinaus ein ideologisches Protektorat auszuüben? Die Methode des Anklägers stammt aus einer Zeit, die vorbei sein sollte. Behauptung ersetzt die Tatsache, Machtwort das Argument, Verdächtigung die Diskussion. Dunkle Andeutungen, dass es darum gehe, ‚die sozialistische Ordnung zu negieren‘, sind in den Bericht eingestreut. Der Berichterstatter verschweigt, was ich sage, unterschiebt mir jedoch, was ich ‚will‘ – nämlich: ‚den grundlegenden Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft verwischen und aufheben‘. Der Beweis dafür sind ‚neue Frühlingstheorien‘ sowie die Propagierung eines ‚Realismus ohne Ufer‘, das Louis Aragon als ein ‚Ereignis‘ begrüßt hat, heisst nun freilich nicht Ernst Fischer, sondern Roger Garaudy und ist Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Frankreichs. Ich stimme mit den ästhetischen Auffassungen Aragons und Garaudys weitgehend überein und verhehle nicht, dass ich die in der DDR herrschenden Kunsttheorien ablehne. Obwohl es mich ehrt, mit meinem Namen bedeutende französische Schriftsteller decken zu dürfen, muss ich doch sagen: ein Heldenstück war es nicht, den Repräsentanten eines kleinen Landes öffentlich anzugreifen, ohne zu wagen, diesen Angriff auf prominente Mitglieder einer grossen Partei auszudehnen.25

Die Antwort aus der DDR ließ nicht lange auf sich warten. Der Chefredakteur Hermann Axen persönlich informierte Fischer: Unsere Redaktion hält die Veröffentlichung Deiner ‚Erwiderung‘ nicht für richtig. Erstens: Du richtest die Aufforderung zum Abdruck Deiner Erwiderung auf den Bericht des Politbüros des ZKs der SED im Organ des ZKs nicht an unser ZK selbst, sondern an die Redaktion. Entsprechend den zwischen den Bruderparteien üblichen Normen hättest Du als Mitglied der KPÖ diese Forderung auf Veröffentlichung Deiner Erwiderung auf ein Dokument unseres ZKs durch das ZK der KPÖ an uns richten müssen. Das ist nicht geschehen. Du schreibst zwar, daß Du Rücksprache mit Deiner Partei genommen hast, aber es gibt bei unserem ZK bis zum heutigen Tage keine entsprechende Mitteilung von Seiten des ZKs unserer österreichischen Bruderpartei. […] Zweitens: Es gibt noch einen wesentlicheren Grund für die Ablehnung des Abdrucks Deiner Erwiderung durch unsere Redaktion. In Deiner Erwiderung hast du leider nichts über Deinen eigenen Standpunkt gesagt, wenn man von der ‚Ablehnung der in der DDR herrschenden Kunsttheorien‘ absieht. Statt dessen bist Du bemüht, Genossen anderer Bruderparteien in die Auseinandersetzung mit hineinzuziehen und Dich gewissermaßen hinter ihnen zu verschanzen, obwohl im Bericht des Politbüros des ZK der SED die politische Quintessenz von Auffassungen kritisiert wird, wie sie in einigen Deiner Reden und Artikel vertreten werden. Wir sind für Meinungsstreit und pflegen ihn. Wir sind für eine Veröffentlichung von Materialien in einem Meinungsstreit, die zur Klärung im Sinne des Marxismus-Leninismus und nicht 25 ÖLA (Nachlass Ernst Fischer, Mappe 37: 54ff., Est. Kafka-Konferenz, Fischer an die Redaktion von Neues Deutschland, 20.02.1964 [Entwurf]).

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zur Verwirrung beitragen. Der Abdruck Deiner Erwiderung würde aus den vorgenannten Gründen unserer Meinung nach nicht zur Klärung beitragen.26

Fortan sollte Ernst Fischer zum „Kristallisationspunkt“ der Kritik der SED an der KPÖ werden (Ehmer 1994: 174) und „dies auch bis zu seinem Ausschluss aus der KPÖ im Herbst 1969 bleiben.“ (Mugrauer 2009: 264) Da beiden Seiten nicht an dieser öffentlichen Auseinandersetzung gelegen sein konnte, reisten Friedrich Hexmann und Erwin Scharf im März 1964 zu einer Aussprache nach Ost-Berlin. Scharf bezeichnete diese Reise später als „den Versuch […] eine Zwistbereinigung mit Fischer zu erreichen.“ (Scharf 1988: 247) Für die SED nahmen daran Kurt Hager, Hermann Axen und Peter Florin teil. Welche enorme Bedeutung der Aussprache beigemessen wurde, zeigt sich allein daran, dass das Protokoll ganze 24 Seiten umfasst, obwohl es sich nicht um ein Wortprotokoll handelt. Neben der gegenseitigen Information über die Politik der beiden Parteien und einer Aussprache über die Haltung zur chinesischen Partei nahm die Kontroverse um Ernst Fischer den meisten Raum ein. Zwar nahm man von Seiten der KPÖ Fischer in Schutz und betonte, dass er nicht „politisch abgeglitten“ sei, versprach aber, sich mit ihm zu Hause auseinanderzusetzen und notfalls seinen Ausschluss herbeizuführen, obwohl damit die Gefahr einer Spaltung der Partei verbunden wäre. Gleichzeitig räumte man ein, dass es mit Fischer seit 1956 Probleme gebe und die Partei viele seiner Auffassungen nicht teile. Überzeugen konnte man die SED-Gesprächspartner aber nicht.27 Während die KPÖ in Sachen Kafka zu beschwichtigen versuchte (Hexmann: „Man muß immer davon ausgehen, daß Kunstfragen sehr kompliziert sind“), unterstrich Kurt Hager, dass das Gerede um Kafka politisch motiviert sei. Er stellt klar, dass Kafka keine Bedeutung für die Gegenwart habe und die „Entfremdungsproblematik“ untauglich sei.28 Im Blick auf Fischer und den Ost-Berliner „Störenfried“ Robert Havemann fasste er zusammen: „Fest steht, daß hier die Philosophie, die Literatur und die Kunstkritik lediglich als 26 Axen an Fischer, 2.  März  1964, ÖLA Nachlass Ernst Fischer, Mappe 37/S 54-56 Est. Kafka-Konferenz. 27  BArchB (SAPMO, DY 30/IV A 2/20/1037: Protokoll über die Aussprache der Genossen Hager, Axen und Florin mit dem Genossen Hexmann, Mitglied des Politbüros der KPÖ, und dem Genossen Scharf, Mitglied des Politbüros der KPÖ und Chefredakteur der ‚Volksstimme’ am 6. und 7. März 1964, [ohne Zeichnung], Berlin, den 12. März 1964. 28  BArchB (SAPMO, DY 30/IV A 2/20/1037: Protokoll über die Aussprache der Genossen Hager, Axen und Florin mit dem Genossen Hexmann, Mitglied des Politbüros der KPÖ, und dem Genossen Scharf, Mitglied des Politbüros der KPÖ und Chefredakteur der ‚Volksstimme’ am 6. und 7. März 1964, [ohne Zeichnung], Berlin, den 12. März 1964, 5.

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Tarnmantel benutzt werden, um politische Fragen aufzuwerfen.“29 Eine zusammenfassende Information über die Aussprache erging an die Mitglieder und Kandidaten des SED-Politbüros (Bericht 1964).30 Fischer scheint damals mit der offiziellen Kulturpolitik der SED bereits abgeschlossen zu haben. Als er für Mai 1965 anlässlich des 20. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus zu einem Schriftstellertreffen in Weimar und Berlin eingeladen wurde, schrieb er an Anna Seghers in ihrer Funktion als Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes: Besten Dank für die Einladung zum Schriftstellertreffen in Weimar und Berlin. Ich muss nicht betonen, wie sehr ich den Anlass, die Befreiung Deutschlands, zu würdigen weiss, und mit den Zielen der Zusammenkunft, dem Protest gegen jegliche Kriegsvorbereitung, gegen den atomaren Krieg, übereinstimme. Wenn ich dennoch an dem Treffen nicht teilnehme, könnte ich dies wahrheitsgemäss mit meinem schlechten Gesundheitszustand begründen, füge aber hinzu, dass auch andre Gründe bestehn. Nach all den offiziellen Angriffen und publizistischen Verdächtigungen, auf die zu erwidern mir die Möglichkeit versagt wurde, muss ich leider annehmen, dass ich in der DDR kein willkommener Gast bin. Ich bedaure aufrichtig diese widersinnige Situation, die zu ändern nicht von mir abhängt.31

Das Aus für Kafka kommt mit dem August 1968. Der DDR-Kulturminister Klaus Gysi, der wie Bruno Frei aus einer jüdischen Familie stammt, hält wenige Tage nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag eine Rede zur Eröffnung des Weimarer Nationaltheaters mit dem Titel Faust oder Kafka? Kafka ist damit endgültig aus dem DDR-Kanon gestrichen, und das Bedrohungsszenario, das von den SED-Kulturfunktionären entworfen wird, dass das Werk Kafkas eine „ansteckende Krankheit“ sei und die Liblice-Konferenz eine „absichtliche Infektion im Blutkreis der sozialistischen Literatur“,32 die den gesunden Volkskörper gefährde, transportiert wieder ein tradiertes antisemitisches Stereotyp.

29  BArchB (SAPMO, DY 30/IV A 2/20/1037: Protokoll über die Aussprache der Genossen Hager, Axen und Florin mit dem Genossen Hexmann, Mitglied des Politbüros der KPÖ, und dem Genossen Scharf, Mitglied des Politbüros der KPÖ und Chefredakteur der ‚Volksstimme’ am 6. und 7. März 1964, [ohne Zeichnung], Berlin, den 12. März 1964, 8). 30  BArchB (SAPMO, DY 30/J IV 2/2J/1163: Bericht über die Aussprache mit den Vertretern der KP Österreichs, gezeichnet Kurt Hager, Berlin, 15. März 1964). 31 ÖLA (Nachlass Ernst Fischer, Briefwechsel: Fischer an Seghers, 06.05.1965). 32 Jan Kozak, zit. n. Haller-Nevermann/Rehwinkel (2008: 56); Ernst Fischer schreibt 1972, dass der neue Vorsitzende des tschechischen Schriftstellerverbandes, der „weithin unbekannte“ Kozak, das Werk Kafkas „als ansteckende Krankheit verdammt, als Infektion im Blute der sozialistischen Länder verdammt“ hat (ÖLA, Nachlass Ernst Fischer Mappe 37: 56, Der tschechische Schriftstellerverband).

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Man hätte angesichts seiner vehementen Kritik nach der militärischen Intervention in Prag erwarten können, dass Fischer selbst den Bruch mit der Partei vollzieht. Stattdessen harrt er aus, vielleicht auch deshalb, weil er in Teilen der Partei Solidarität erfährt und selbst an einen Reformprozess glaubt; er wird in den Monaten nach dem August 1968 zum Hoffnungsträger der Unzufriedenen in der Partei, ebenso wie in Frankreich Roger Garaudy. Schließlich ist Fischer immer noch gläubiger Marxist, der nicht an der welthistorischen Wende der Oktoberrevolution zweifelt und dem ‚der‘ Kapitalismus Inbegriff des Bösen ist (Niederle 1980: 57, 81-87). Als Fischer 1968 „aus Altersgründen“ nicht mehr ins Zentralkomitee gewählt wurde, erwiderte er, seine Senilität sei so fortgeschritten, dass er beim Ausdruck „brüderliche Hilfe“ nur noch an Panzer denke (Niederle 1980: 3). Am Ende gibt sein Auftritt im ORF, bei dem er in einem Fernsehinterview den Begriff „Panzerkommunismus“ prägt, den Anlass zu seinem Ausschluss. Hatte er in seinem Dekadenz-Essay noch von Infektion und Ansteckung gesprochen, so wird er nun selbst als gefährlicher Bazillus wahrgenommen, der unschädlich gemacht werden muss. Es kommt zu Solidarisierungen und zu Einspruch, aber die Schiedskommission der Partei erklärt am 22. Oktober 1969, Ernst Fischer (und nicht die Panzer) habe „der Partei schweren Schaden zugefügt“. Noch einmal Bruno Frei: „Es ging um die Zurückweisung eines Angriffs auf die Fundamente des Baus.“ (Frei 1972: 385) Frei lässt eine Broschüre drucken, in der er sich von seinem alten Chef distanziert: Der Weg Ernst Fischers führt, im Blick Freis, hin zur gegnerischen Front des Kalten Kriegs, und Kafka ist der Verführer (Frei 1968: 7).33 Der Ausschluss beflügelt noch einmal Hoffnungen. Am 4. Dezember 1969 berichtet Fischer an Ernst und Karola Bloch nach Tübingen, dass in Österreich 27 Mitglieder des ZK, darunter fast alle Betriebsdelegierten und alle Jungen, öffentlich gegen meinen Ausschluss protestiert und eine Fraktion gebildet haben, dass alle Redakteure der Volksstimme (mit vier Ausnahmen) sich öffentlich mit diesem Protest solidarisieren, dass fast die gesamte Jugend-Organisation diesen Protest unterstützt und sich aus der Vormundschaft der Partei befreit hat.34

33 Frei (1968: 7) kritisiert Fischers „Bereitschaft, bürgerliches Gedankengut zu übernehmen“, was sich augenfällig bei seinen ästhetischen und kunsttheoretischen Ansichten gezeigt habe. 2008 lud ich den ehemaligen KPÖ-Vorsitzenden Walter Baier zu einem Gespräch in eine Vorlesung an der Uni Wien ein, wo Baier unterstrich, dass auch aus heutiger Sicht Fischers Äußerungen im ORF ausschlusswürdig seien. 34 ÖLA (Nachlass Fischer, Briefwechsel mit Ernst und Karola Bloch: Fischer an Ernst und Karola Bloch, 04.12.1969).

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Als ein halbes Jahr später auch Roger Garaudy aus der kommunistischen Partei Frankreichs ausgeschlossen wird, meldet Karola Bloch dies Fischer,35 und bald darauf schreibt sie ihm: „Eine neue KP im internationalen Maßstab wäre fällig, mit Männern wie Du und Garaudy“.36 Doch die Kräfteverhältnisse entwickeln sich anders. Fischer schreibt im März 1970 an den mittlerweile emigierten Eduard Goldstücker nach England: „Die Rache der Reptilien ist unaufhaltsam“.37

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35 ÖLA (Nachlass Fischer, Briefwechsel mit Ernst und Karola Bloch: Karola Bloch an Fischer, 24.05.1970). 36 ÖLA (Nachlass Fischer, Briefwechsel mit Ernst und Karola Bloch: Karola Bloch an Fischer, 17.07.1970). Auch Fischer ist guter Hoffnung: „Geächtet von allen Hierarchien, über keine Macht verfügend, sind wir vielleicht ein mächtiges Häuflein, ein im Entstehen begriffenes“ (Fischer 1971: 8). 37 ÖLA (Nachlass Fischer, Briefwechsel mit Eduard Goldstücker: Fischer an Goldstücker, 07.03.1970).

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Phantasmagorie und Welttheater: Welles’scher Trial und Kafkascher Proceß Es ist bekannt, dass das Kafkasche Werk selbst im Wortsinn von einer Begegnung mit dem Kino ausgeht, handelt doch der erste uns von Kafka überlieferte Satz in seinem Tagebuch von dem schockhaften Eindruck jener ersten Filme, welche das Heranfahren eines Zuges festhalten.1 Insofern ist es da vielleicht nur angemessen, dass das wohl hervorstechendste künstlerische Denkmal der Kafka-Rezeption im Kalten Krieg die Kafka-Verfilmung von Orson Welles sein sollte, The Trial aus dem Jahre 1962. Ist diese Verfilmung doch selber so kafkaesk paradoxal wie zeit- und mediengeschichtlich bemerkenswert: Denn zum einen stellt sie die einmalige Begegnung von dem von Truffaut bis Pasolini, von der britischen wie von der US-amerikanischen Filmakademie als wohl wichtigster und bedeutendster westlicher Filmemacher des 20. Jahrhunderts anerkannten Welles mit dem ebenso gemeinhin als wohl wichtigster und charakteristischer Autor der Moderne und des 20. Jahrhunderts anerkannten Franz Kafka dar.2 Zum anderen aber sind diese Begegnung sui generis und dieses einmalige intermediale Vorkommnis, soweit ich das übersehe, von den KafkaForschern wie von den Filmhistorikern zwar registriert, kaum aber rezipiert und eigentlich bis heute in ihrer ganzen Besonderheit und epochalen Tragweite wohl noch gar nicht angemessen reflektiert worden.3 ‚Kongenial‘ wäre dabei wohl das so angemessene wie überbemühte, so nichts- wie viel sagende Wort. 1 Der inzwischen berühmte Satz: „Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt“, der sozusagen das Kafksche Schrifttum einläutet und der sich auf die frühsten Filme mit ihren Aufnahmen von den in die Bahnhöfe fahrenden Zügen bezieht (Kafka 1990: 9). Zu Kafka und dem neuen Medium Film – einmal in der Eigenschaft als Produzent, einmal als Konsument – vgl. die beiden Standardwerke von Alt (2009) sowie Zischler (1996); ferner auch die nützliche Übersicht bei Pohland (2000). 2 2002 hat eine Umfrage des British Film Institute Welles zum größten Filmregisseur aller Zeiten gekürt: Citizen Kane gilt dem American Film Institute ebenfalls als „greatest film of all time.“ Vielleicht aussagekräftiger sind die Huldigungen von jüngeren Kollegen wie Francois Truffaut, Jean-Luc Godard und Pier Paulo Pasolini (McBride 2006: ix-xviii). 3 Eine Übersicht zum Thema (nebst Übersicht über die ältere Literatur) bieten Brady/ Hughes (2002). Für die spezifische Fragestellung der vorliegenden Arbeit s. Berthomé/ Thomas (2008); Mereghetti (2011) und vor allem Bogdanovich/Welles (1993).

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Denn, um es einmal so auszudrücken: Orson Welles’ Trial ist ebensowenig ein weiterer Film unter den Filmen, wie Kafkas Proceß ein weiterer Roman unter den Romanen ist, und es ist vielleicht der Grundfehler der meisten Kritiken und Kommentare zu diesem Film, in ihm nur einen weiteren Welles-Film oder eine weitere Kafka-Verfilmung unter vielen anderen zu sehen. Und somit ist die Singularität dieser Begegnung vielleicht am ehesten so bezeichnet: dass der Welles’sche Film gerade in seiner Eigenart und Inkommensurabilität etwas von der prophetischen Eigenart und darstellerischen Inkommensurabilität des Kafkaschen Romans einfängt und kontemporär wie filmisch umsetzt, und zwar in die postnukleare Landschaft der geteilten Welt und des Kalten Krieges. Hiermit berühren wir aber eine zweite paradoxe Schicht dieser sonderbaren Begegnung, die vielleicht auch einigen Aufschluss über sie erteilt. Kafka, wie ihn Welles im Jahre 1962 verfilmt, ist ein düsterer avantgardistischer Außenseiter von der – thematisch wie geographisch gesehen – Peripherie, der nun durch den Kafka-Boom der Fünfzigerjahre ins Zentrum rückte, und zwar in einem Ausmaß, das auch den Rahmen des Literarischen sprengt: Aus dieser Zeit rührt ja die Einbürgerung des Begriffes ‚kafkaesk‘ in alle Kultursprachen der Welt als Bezeichnung einer existenziellen Befindlichkeit des modernen Menschen schlechthin, also auch für die, die noch nie in ihrem Leben eine Zeile Kafkas gelesen haben. Welles dagegen, wie er Anfang der Sechziger aufgrund eines Zufalls, den wir aber getrost einen objektiven nennen dürfen, auf den Roman des von ihm so sehr geschätzen Autors Kafka als mögliche Filmvorlage stößt, befindet sich auf der entgegengesetzten Bahn. Er rückt mediengeschichtlich gesehen vom Mainstream Hollywoods und damit dem Zentrum der Medienwelt in die europäische Peripherie und dreht – paradox genug – als nordamerikanischer Regisseur mit einem nordamerikanischen Hauptdarsteller für den nordamerikanischen Markt einen unverkennbar mitteleuropäischen Film mit den filmischen Mitteln und der künstlerischen Kompromisslosigkeit des europäischen Autorenkinos, die nicht zufällig auch die des Welles’schen Autorenkinos sind (Berthomé/Thomas 2008: 230f.).4 Wir befinden uns, wenn wir uns auf das Gelände des Welles’schen Trial begeben, in einem medialen 4 Wir haben auf die Huldigungen Godards und Truffauts bereits hingewiesen, die in Welles ihr großes Vorbild erblickten. In Pasolinis Beitrag zum Kollektivfilm ROGOPAG (1963) wird Welles vonseiten des europäischen Kinos die größte denkbare Hommage dargebracht: Er darf in Pasolinis Darstellung der Dreharbeiten eines imaginierten Films zum Leben Jesu die Rolle des Regisseurs übernehmen. Nach seinem Weggang nach Europa im Jahre 1948 ist Welles ja selber und gleichsam avant la lettre Autorenregisseur geworden, sodass er auch im unmittelbarsten Sinne, nämlich als Produzent, den europäischen Regisseuren der Nachkriegszeit als Modell gedient hat.

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wie geopolitischen Dazwischen, in einem Niemandsland, einem im Wortsinn polar aufgeladenen Spannungsfeld zwischen den Welten: Europa und Amerika, Ost und West, Zentrum und Peripherie, Mainstream und Avantgarde. Aber wie der Welles’sche Film in einem topographisch so atmosphärischen wie unbestimmbaren Raum angesiedelt ist, der West und Ost, Europa und Amerika auf seltsame Weise kombiniert, so besteht er auch zeitlich aus einer Montage von Versatzstücken, die mit der eigentümlichen Zeitschichtung und dem neuen Zeitgefühl von Nachkriegszeit und Kaltem Krieg korrespondiert. Man erfährt die unsägliche, blockübergreifende Tristesse von Großraumbüros und Neubausiedlungen, die Anonymität und kalt abweisende technokratische Herrschaftsaura von Verwaltungsgebäuden und Großbetrieben, durchzogen von unmissverständlichen Reminiszenzen an die jüngsten Weltbegebenheiten, an den ‚univers concentrationnaire‘ wie an die Welt der Deportierten, Ausgebombten und der Lagerinsassen, wir haben, wenn wir das Studio des Künstlers Titorelli aufsuchen, sogar den Jazz und als mögliche Auskunftsquelle über die weiteren Geschicke K.s ein frühes Computerungetüm aus der Vorzeit der Informatik; zum Schluss gar, bei der Hinrichtung K.s – als Mahnung an die neuen annihilatorischen und atomaren Möglichkeiten –, wie über Dresden oder Hiroshima die aufsteigende Rauchwolke. Das heißt, wir erfahren die Welt nach 1945, suspendiert nicht nur räumlich zwischen Ost und West, sondern zwischen der einen Vernichtungserfahrung von Weltkrieg und Shoah und der drohenden eines kommenden nuklearen Schlagabtausches, bei Welles nicht im erschreckenden Extrem ihrer geopolitischen Teilung, sondern im noch erschreckenderen und unausdenkbareren Extrem ihrer letztlichen geopolitischen Einheit. Denn die geteilte Welt nach 1945 ist für Welles noch die eine, und sein Film über die Kafkasche Vorlage, der wie kaum ein anderes Werk den Autor im Benjaminschen Sinne als prophetischen Schriftsteller versteht, bezieht seine eigene prophetische Kraft vielleicht am ehesten daraus, dass er gegen jede Chance wie gegen jeden Augenschein, gegen jedes Dogma wie gegen jegliche lautstarke und waffenstarrende Ideologie die Welt letztlich als die eine unteilbare begreift. Freilich, als die eine Welt der neuen unausdenkbaren Bedrohungen für ihre menschlichen Bewohner wie für das im Kafkaschen Helden personifizierte politische Gesamtsubjekt K. Mit anderen Worten: Welles stellt sich in seinem Film der neuen Teilung der Welt, indem der unberirrbare Weltbürger Welles sich darstellerisch dieser Teilung strikt verweigert. Zugleich ist das Medium der Darstellung der absoluten Dystopie der geopolitischen Grundkonstellation des Kalten Krieges selber ein utopisches, indem Welles’ an vielen Orten, hauptsächlich im damals Titoschen Zagreb wie in dem damals leeren und verlassenen Pariser Gare d’Orsay

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gedrehter Film an keinem bestimmten und bestimmbaren Ort und gleichzeitig fest und unverkennbar in beiden Machtblöcken wie in beiden Welten angesiedelt ist (Berthomé/Thomas 2008: 243f.).5 Schon in den Dreißigerjahren, in den Diskussionen der deutschen Emigranten wie bei Klaus Mann oder bei Bertolt Brecht und Walter Benjamin in Svendborg wurde Kafka als prophetischer Schriftsteller des Totalitären verstanden; ein Verständnis, das in den Fünfziger Jahren neue Aktualität erhielt, wo Kafka wie als existenzieller Autor so auch als Prophet totalitärer Herrschaft im Faschismus wie im Stalinismus verstanden worden ist.6 So hat ein prominenter Prager literarischer Nachkomme und Bewunderer Kafkas, Milan Kundera, eloquent die vielfachen und genauen Korrespondenzen heraufbeschworen, die sich spontan bei den Pragern der stalinistischen Epoche zwischen dem politischen Kosmos Kafkas und ihrem eigenen einstellten; so wie Michael Rohrwasser zeigen konnte, dass es im russischen und sowjetischen Bereich einen ‚sibirischen‘ Kafka gibt, von dem man schwerlich behaupten wird, dass er nicht der eigentliche und echte sei (Kundera 1986; Rohrwasser 2010). Nichtsdestoweniger erhalten diese Darstellungen, so berechtigt sie auch sind, immer dann etwas Bedenkliches, wenn sie selber ideologisch und somit unkafkaesk diskulpierend, statt echt kafkaesk, sprich inkulpierend wirken; nämlich dann, wenn sie den Westen ganz aus dem Bilde herauszulassen und damit gleichsam auch aus der Schuld des Totalitären zu entlassen scheinen. Denn so sehr die Übertragung Kafkas auf die stalinistischen Despotien und Bürokratien offensichtlich erscheint, die systematische Verletzung menschlicher Grundrechte, die Verhängung des Kafkaschen Ausnahmezustands über die Bürger war im Kalten Krieg kein staatliches Monopol des Ostens. Denn es bestand durchaus die Gefahr, wie einige Hellsichtige erkannten, dass der antikommunistische Westen im Kampf gegen den Osten selber totalitäre Züge annehmen könnte.7 Der Demokrat und Humanist Welles, von Hollywood und McCarthyismus aus Amerika ausgegrenzt und seit den Vierzigern, als politisch Engagierter des New Deal und 5 Welles selber hat vielleicht die treffendste Bezeichnung für die Atmosphäre des Filmes gefunden: „a sort of Middle European dream world.“ (Bogdanovich/Welles 1993: 278). 6 Vgl die Diskussion zwischen Benjamin und Brecht in Svendborg, wo, in Bezug auf Kafkas Proceß-Roman der Satz fällt: „Was aus der Tscheka werden kann, sieht man an der Gestapo.“ (Benjamin 1985: 529) 7 In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant – was den Zeitgeist betrifft – auf den damals sehr erfolgreichen Thriller von Alfred Hitchcock hinzuweisen, North by Northwest (1959), der die Proceß-Fabel – vom Aufgreifen eines nichtsahnenden Normalbürgers durch eine anonyme und mörderische Geheimorganisation – ganz im Zeichen des Kalten Krieges erzählt: zum Glück gibt es da die ebenso mysteriöse Gegenorganisation der Guten – die CIA –, welche die finsteren Machenschaften der Bösewichte dann durchkreuzt.

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systemkritischer Filmemacher des Citizen Kane von dem FBI Edgar Hoovers unter Bewachung gestellt, wusste davon ein Lied zu singen; und in The Trial singt er mitunter auch dieses Lied (Mereghetti 2011: 96).8 Das heißt, gerade wenn man denkt, es gäbe nichts Schlimmeres und Kafkaeskeres, als im damaligen Ostblock Opfer einer stalinistischen Verfolgung zu sein, erinnert uns Welles daran, dass es im Zeichen des Kalten Krieges sehr wohl die wahrhaft Kafkasche Steigerung davon geben könnte: namentlich das Opfer einer so stalinistischen wie antikommunistischen, McCarthyischen und Hooverischen Verhaftung und Verfolgung zu werden. Denn ist Welles’ Josef K., ist sein Hauptdarsteller Anthony Perkins als nichtsahnender Jedermann des Kalten Krieges nicht beides und simultan dem Zugriff von beiden Seiten, beiden Machtblöcken, beiden Herrschaftssystemen ausgesetzt? Und wird er nicht zu Beginn des Filmes gleichsam von Beamten des Hooverschen FBI verhaftet, um dann zum Schluss gar von den Schergen der GPU ermordet zu werden? Anders gesagt: Der sehr partikuläre Kafkasche Kosmos des Welles’schen Trial ist so ökumenisch wie phantasmagorisch. Welles umspannt die Welten, Blöcke, Kontinente und Sphären und zeigt das gegenwärtige Weltverhängnis, aktualisiert das Kafkasche Welttheater kraft dieses Umspannens. Denn die Kafkasche wie Welles’sche Ökumene, die im Proceß und im Trial gleichermaßen ausgebrochen ist, ist eine Ökumene des Totalitären. „But is it political? But is it political?“ fragt verängstigt bei Welles Fräulein Bürstner inmitten der Diskussion um K.s Verhaftung; und ihre anfängliche Sympathie für den Verhafteten weicht augenblicklich eisiger Ablehnung, als sie zu erkennen meint, dass es sich bei dieser so mysteriösen wie willkürlichen frühmorgendlichen Verhaftung um etwas Politisches handeln könnte. Dazu sei angemerkt, dass die Szene in ihrem ganzen Ambiente weniger an die Stalinschen Verhaftungen im Rahmen der diversen Säuberungswellen der späten Vierziger und frühen Fünfziger im Ostblock als an das FBI und die McCarthyschen Verhaftungen und Verhöre im Amerika der Fünfziger und Sechziger gemahnt. Denn 8 Inzwischen hat der Welles-Biograph McBride nachweisen können, dass Welles – was er zeitlebens selbst verschwiegen hat – auf die berüchtigte Schwarze Liste der Regisseure gekommen war, die nicht mehr in Hollywood drehen durften (McBride 2006: xvii; nicht zuletzt die Abbildung von Welles’ einschlägiger FBI-Akte, 93). Eine Ironie dieser Geschichte: Welles ist dem HUAC, dem berüchtigten Ausschuss für „unamerikanische Umtriebe“, auch deshalb unangenehm aufgefallen, weil er Umgang mit Bertolt Brecht pflegte und dessen Galileo-Stück aufführen wollte – gerade wegen, wie er sagte, des dort dargestellten Bruches mit dem Stalinismus, den Welles im Stück durch Inquisition und Kirche symbolisiert sah. Aber solche politischen Feinheiten interessierten dann im Amerika McCarthys nicht mehr (McBride 2006: 97).

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die Physiognomien von K.s Häschern sind explizit von Welles gewählt worden, um den notorisch dumpfen und geistig unterbelichteten ‚gumshoes‘ von Hoovers FBI zu ähneln. Dagegen wirken die nichtssagenden wie brutalen grauen Visagen der Filzhut- und Lodenmantel tragenden amtlichen Mörder K.s, bei denen Welles’ Kamera einen Augenblick gleichsam liebevoll verweilt, wie einem zeitgenössischen FBI-Fahndungskatalog über in Amerika wirkende KGB-Agenten entnommen (Berthomé/Thomas 2008: 243). Damit sind aber zwei für uns in diesem Zusammenhang entscheidende Stichworte gefallen: Phantasmagorie und Physiognomie. Welles arbeitet in seinem Film ebenso mit einer phantasmagorischen Auflösung des Raums wie er visuell mit einer außergewöhnlich ausdrucksstarken Physiognomik sowohl der Gesichter als auch der Orte arbeitet. Es ist oft darauf hingewiesen worden, wie Kafka im Proceß das normale Raumempfinden auflöst, indem die Räume des Gerichts sich eigentlich überall befinden, sich jederzeit unverhofft auftun können, wie auch dadurch, dass private und intime Räume sich unversehens in öffentliche und politische verwandeln – und umgekehrt. Und neuerlich ist sogar darauf hingewiesen worden, dass die befremdende schriftstellerische Technik Kafkas sogar selbst vom frühen Kino beeinflusst worden ist.9 Wie dem auch sei: Bei Welles gewinnt diese eigentümliche Kafkasche wie kinematographische Eigenschaft eine neue Qualität. Denn das unheimliche Ineinandergreifen und Ineinandergehen von privat und öffentlich bei Kafka wird nicht nur vom Filmemacher übernommen, sondern auf Topographien wie Zeitschichten ausgedehnt. Ost und West, Europa und Amerika, die Zeitebenen der jüngsten Vergangenheit, der angsterfüllten Gegenwart wie der nuklearen Zukunft gehen bei Welles ineinander über, verschmelzen sich unheilvoll zu einer unerhörten Einheit. So ist auch zu verstehen, dass es in Welles’ parallel in der Pariser Industrieruine Gare d’Orsay und dem blockmäßig frei schwebenden jugoslawischen Zagreb gedrehtem Film Szenen gibt, in denen in einem einzigen Szenenablauf von einigen Minuten in einer Art Teleskopage nicht weniger als fünf verschiedene Städte in vier verschiedenen Ländern als ein einziger Ort zu sehen sind. Die Welt ist, so Welles, gleichsam ein Ort geworden, und dieser neue Ort der schieren Simultaneität ist gleichsam der Schauplatz von K.s Verfolgung und Hinrichtung.10 So sind die Orte bei Welles gleichsam statt wie unter der Herrschaft einer stabilen Newtonschen Schwerkraft nicht zentripetal und dreimensional 9 So die Auffassung von Kafkas ‚kinematographischem Erzählen‘ bei Alt (2009). 10 Zur Teleskopage der Orte im Film Berthomé/Thomas (2008: 243f.); Bogdanovich/Welles (1993: 247f, 281f.). Zum Problem der Simultaneität s. Hamazaki/Ivanovic (2012).

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klar voneinander abgegrenzt und linear getrennt, sondern vielmehr zentrifugal und wie in einem Einsteinschen oder Heisenbergschen Kraftfeld vierdimensional verbunden, dabei freilich weniger auseinander- als zusammengeschleudert. Denn wie bei einem vulkanischen Ausbruch sind hier die Erd- und Zeitschichten vielleicht weniger wüst durcheinander als wüst ineinander. Sie werden wie das metamorphisierte Gestein bei einem vulkanischen Ausbruch zu einem neu fusionierten Gebilde verschmolzen. So akzentuiert Welles dann auch auf eine alles andere als beruhigende oder wohlmeinende, sondern geradezu boshafte Weise nicht etwa das zwischen den beiden großen rivalisierenden Machtblöcken erschreckend Trennende, sondern das ihnen noch erschreckendere Gemeinsame: die Trostlosigkeit ihrer Vororte, die Anonymität ihrer Städte, das Entfremdete ihrer industrialisierten Arbeitsprozesse, die systematische Einschüchterung und die so rebellische wie komplizenhafte, letztlich resignierte Subalternität ihrer Bevölkerungen; und zu guter Letzt die über die Köpfe der Subjekte hinauswachsenden bürokratischen und technischen Machtapparate, welche die Subjekte durch rücksichtslosen Zugriff zu einem fortwesenden und dem Ganzen wie eingeschriebenen Status als perennierende Opfer und Objekte zu verurteilen droht.11 Bei Welles ist die Kafkasche Prophetie in der gegenwärtigen menschlichen Wirklichkeit angekommen und wird, wie ehemals durch das literarische Massenmedium Roman, durch das neue Massenmedium Film dem kontemporären menschlichen Subjekt selber gleichsam wie ein Haftbefehl zugestellt.12 Dass dieses Subjekt aber bei Welles in dem von Anthony Perkins verkörperten K. ein Amerikaner ist, hat dabei ebenfalls geopolitisch seinen guten Sinn. Denn das Eigentümliche bei Welles’ Phantasmagorie und Ineinanderfließen ist doch, dass die Physiognomien der Menschen und Orte nicht etwa an Schärfe, Einprägsamkeit, Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit verlieren, sondern gewinnen. Die Welles’sche Phantasmagorie des Simultanen schafft kein Überall und Nirgends, sondern ein ubiquitäres Hier und Jetzt, das bei al11 So evoziert Benjamin in seinem Kafka-Essay „Organisation“ als „Fatum“ und schreibt über die „vorweltlichen Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wurde, Gewalten, die man freilich mit gleichem Recht auch als weltliche unserer Tage betrachten kann.“ (Benjamin 1977: 420, 422) 12 Allerdings ist The Trial zwar in Europa zum kritischen Achtungserfolg, weder in Amerika noch in Europa aber zum kommerziellen Kassenschlager geworden: Er hat sich inzwischen wohl als klassischer Welles-Film und somit als eine Art Untergrundklassiker etabliert, ist aber – auch dies ein Zeugnis von Kafkas paraliterarischer Mächtigkeit wie von Welles’ Isolation, und in bemerkenswertem Gegensatz zum sonstigen Verhältnis von Literatur und Verfilmung – an Resonanz und Wirksamkeit weit hinter Kafkas Roman geblieben.

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lem instantanen Verschwimmen von Zeit- und Ortgrenzen stets die bestimmte zeitliche wie örtliche Signatur und Kontur wahrt, um nicht zu sagen, schafft. So ist Perkins’ K. als amerikanischer Klein- und Normalbürger nicht nur der weltpolitische Jedermann in dem Sinne, dass nach 1945 Europa definitiv abgedankt hat und die USA weltweit die neue Führungsmacht geworden sind, sodass der amerikanische Normal-, Klein- und Staatsbürger, und nicht etwa der Europäer, das neue anthropologische Maß der menschlichen Dinge geworden ist und nun die Rolle jenes geopolitischen Jedermanns antritt. Perkins ist als Amerikaner auch eine besondere Art von Amerikaner, nämlich der absolute Durchschnitts- und geschmacks- und geschichtsneutrale Amerikaner, dessen Akzent und Gebaren ihn unverkennbar zu einem treuherzigen Vertreter des biederen und weltfrommen ‚Middle America‘ macht, also einem Sprössling des geschichtslosen Mittleren Westens anstatt des geschichtsträchtigeren Ostens oder Südens. Denn wenn der Amerikaner der neue Jedermann ist, so ist Perkins als ‚Middle American‘ der genaue Durchschnitt dieses Durchschnitts, der Jedermann der Jedermänner. Wie das ahnungslose politische Weltkind mit dem neuen Allerweltsgesicht, dessen glatt rasierte Naivität und forschen Habitus eines jungdynamischen Managers und strahlenden weltpolitischen Siegers so seltsam mit den welterfahrenen, geschichtsgesättigten und leiderfahrenen europäischen Physiognomien Jeanne Moreaus, Romy Schneiders oder Akim Tamiroffs (als Bürstner, Leni und Block) kontrastiert – von den endlosen Reihen der Angeklagten ganz zu schweigen, denen Holocaust, Weltkrieg und Nachkrieg gleichsam in den Gesichtern geschrieben steht. So ist der Welles’sche Film von dem durchtränkt, was wir ein eher epochales und somit ortsübergreifendes Lokalkolorit nennen könnten, wobei diese Ahnungslosigkeit und Naivität von Perkins als K., dem US-Durchschnittsbürger als geopolitischem Jedermann, zum Schluss alles andere als beruhigend oder hoffnungsstiftend wirkt. Denn es erscheint fast so, als würde er als noch unbeschriebenes weltpolitisches Blatt nicht kontrastierend, sondern komplementär zu den ‚abgelebten‘ Europäern wirken. Denn diese haben ihre traumatisierten Erfahrungen ja weitgehend hinter sich, Perkins alias K. hat sie noch vor sich, und es ist fast so, als würde sein Zuwenig, sein purer Mangel an leidvoller Geschichtserfahrung nur das nächste und bevorstehende Zuviel an Leid vorwegnehmen, die geschichtliche Leere und Unbesetztheit bloß wie bei einer polarisierten elektrischen Spannung – gleichsam als Minus-Feld – die nächste große kataklysmische Entladung gleich auf sich ziehen.13 13 Man vergleiche die klassischen zeitgenössischen Darstellungen der schuldhaft-unschuldigen Physiognomie der US-amerikanischen weltpolitischen Naivität bei James Baldwin

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Doch wenn Welles mit der Perkinschen/K.schen Physiognomie – wie mit den anderen so Sprechenden im Film – den Lehrsatz seines Schülers Pasolini bewahrheiten zu wollen scheint, dass im Film die Physiognomie des Schauspielers alles sei, so fast mehr noch als mit der Physiognomie der Menschen mit der Physiognomie der Orte, mit deren Aura und Atmosphäre. Im Gespräch mit Peter Bogdanovich hat Welles nämlich erläutert, inwiefern der verlassene Bahnhof Gare d’Orsay auf ihn einen gleichsam Kafkaschen Reiz ausübte. Denn ein solcher Bahnhof sei eigentlich ein so mystischer wie gespenstischer Ort, ein Ort voller Trauer, die sich überall an Orten ablagern würde, wo Menschen haben warten müssen. Dass das Victor Hugosche ‚attendre, c’est la vie‘ noch mehr als für den Exilanten für den Subalternen gilt, hat Welles genauso wie Kafka erkannt. So handele der Roman Kafkas mitunter auch davon, dass die Menschen immerzu nur warten müssten, warten und warten, darauf, endlich ihre Papiere zu bekommen. Auf seine Papiere zu warten ist aber wie auf einen Zug zu warten, also ist so ein Bahnhof auch ein Ort für Entrechtete und Flüchtlinge. Von hier aus wurden Menschen nach Nazi-Deutschland geschickt, Algerier sind hierhin gebracht worden [...]. (Bogdanovich/Welles 1993: 247)14

Diese Worte gemahnen doch sehr an die Walter Benjamins, wenn er Verkommenheit, Verlassenheit und Verfall als Merkmale der Welt des Kafkaschen­ Gerichts benennt. Aber gleichzeitig, und vielleicht sogar noch stärker, erinnern sie an die Schilderung der trauernden Natur bei Benjamin.15 Denn (1955) und Graham Greene (1955). Vielleicht ist an dieser Stelle der Hinweis darauf nicht unangebracht, dass drei Jahre nach der Premiere des Welles’schen Filmes Amerika sich im Zeichen von Antikommunismus und Kaltem Krieg in das weltpolitische Inferno des Vietnam-Krieges stürzen sollte, wo es dann an leidgeprüften Physiognomien – und zwar von Vietnamesen wie von US-Amerikanern – nicht fehlen sollte. 14 Das deckt sich auf verblüffende Weise mit der von Max Brod kolportierten Aussage Kafkas zum Verhalten der Antragsteller in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt: „Wie bescheiden diese Menschen sind [...]. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.“ (Brod 1966: 76) 15 Über die Gerichtswelt bei Kafka schreibt Benjamin (1977: 411): „Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht sie aus.“ – ein Satz, der genauso wie für die Kafkasche für die Welles’sche Gerichtswelt gilt. Ist aber, der Benjaminschen Sprachphilosophie zufolge, die Natur gezeichnet durch stumme Klage, so scheint diese Klage, diese den Dingen selbst inhärierenden ‚lacrimae rerum‘ bei Welles von dem Wissen um die neue Reversibilität, um die ‚omnium vanitas‘ nicht nur eines jeden Geschaffenen, sondern von der Schöpfung selbst herzurühren. So scheint die Schöpfung selber bei Welles nun jene stumme Benjaminsche Klage zu führen, und die Menschen und Dinge sind alle bereits gezeichnet (Benjamin 1977: 155). Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, was der WellesBiograph Charles Higham (1971: 162) in einer Geste hilfloser Abwehr über den Film geschrieben hat: „an agonizing experience [...] a dead thing, like some tablet found among

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„die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ (Schiller 1992: 168), und das Gericht, sagt Kafka, ist überall. So tagt auch das neue drohende Weltgericht des Kalten Kriegs und des nuklearen Weltendes allerorten in dem Welles’schen Film. Denn der Schillersche Satz scheint sich bei Welles und Kafka in einem ebenso potenzierten wie ungeahnten Sinne bewahrheiten zu wollen wie jener Goethesche, wonach für den neuzeitlichen Menschen die Politik das Schicksal sei.16 Und wie bei dem Kafkaschen Gericht, wie bei der Benjaminschen Natur scheinen die verkommenen und verfallenen Orte in dem Film von Welles eine namenlose Trauer und untröstliche Melancholie zu verströmen, die durchaus zeitgeschichtlich zu verstehen sind. Es ist, als ob in dieser Welles’schen Steigerung des Proceß nicht nur die Menschen, sondern sogar die Orte und die Dinge wüssten, dass sie einem Urteil unterliegen, das sie unweigerlich der Vernichtung ausliefern wird, und dass sie nur noch stumpf und lethargisch der Vollstreckung dieses Urteils harren.17 „Das Leben lebt nicht.“ Wenn das Motto von Adornos Minima Moralia keinen schlechten Aufhänger für eine Gesamtdeutung von Kafkas Proceß abgäbe – noch K.s letzter Gang ist ja von dem verzweifelten Versuch gezeichnet, sich dem Schritt seiner Mörder anzugleichen –, so scheinen bis auf wenige Ausnahmen sämtliche Darsteller in Welles’ Film ihre verbliebenen vitalen Regungen nicht aus sich, der Natur oder aus ihrer autonomen sozialen Umwelt, sondern lediglich aus ihrer Beziehung zur Gerichtswelt zu beziehen; und somit dem Tode und der Komplizenschaft mit dem Tode schon verfallen zu sein, denen sie um jeden Preis entrinnen wollen. Wir haben bereits von der unübersehbaren Präsenz der Shoah in diesem Nachkriegsfilm gesprochen, der sich im Zeichen des Kalten Krieges durchaus auch als Vorkriegsfilm begreift, wie das damalige Zeitalter insgesamt von einer apokalyptischen und endzeitlichen Schwingung durchzogen war. Auch Welles scheint von einem fast Celan’schen Empfinden geprägt zu sein, dass der eine Himmel der Zernichtung fast nahtlos in den zweiten übergehen könne. Damals – also während des Kalten Krieges – haben the dust of forgotten men.“ Denn damit – in diesem gleichsam prä- und paraästhetischen ‚refus‘ – ist wohl Wesentliches, ja Entscheidendes über die Eigenart dieses Filmes und die ihn prägende Atmosphäre ausgesagt, wie es in einer bloß ästhetischen Würdigung nicht vorkäme. 16 Zur Politik als Schicksal s. Goethe (1949: 638) im berühmten Erfurter Gespräch mit Napoleon. Diese Goethesche Aussage hat Benjamin auf die Organisation als Fatum übertragen. 17 Es geht eine Irritation von dem Welles’schen Trial aus, welche die übliche Konsumhaltung des Zuschauers infrage stellt. Auch Bogdanovich spricht von seiner verstörenden Unfähigkeit, den Film einfach wie die anderen Welles’schen Filme genießen zu können: „I simply didn’t enjoy the picture“, worauf Welles ihm entgegnet: „But you are supposed to have a very unpleasant time.“ (Bogdanovich/Welles 1993: 284)

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ein paar Unentwegte, haben die Nuklearphysiker für den Frieden im Zeichen der atomaren Bedrohung jene berühmt-berüchtigte Weltuhr aufgestellt, auf der es immer fünf vor zwölf stand. In den Welles‘schen Gesichtern, in den Welles’schen Physiognomien, ja in den Welles‘schen Orten und Dingen, in der Welles’schen Schöpfung selbst scheint es ebenfalls immer fünf vor zwölf zu stehen; also unmittelbar vor jenem Augenblick, bei dem die Weltgeschichte das fällige nukleare Weltgericht über sich selbst und den Planeten abhält. Ist Kafkas Proceß immer schon eine politische wie kosmische Anklage gewesen, so sind im Welles’schen Trial, im Zeichen des drohenden und von den Menschen fabrizierten Weltendes, diese beiden Anklagen nun unzertrennlich und definitiv in eins gefallen.18 Wie überraschend tief – auch im Detail – die Welles’schen und Kafkaschen Sympathien indes bisweilen greifen, zeigt eine andere Anekdote aus den Gesprächen mit Peter Bogdanovich. Hier geht es um eine Vorliebe, die der Wahl-New-Yorker Welles mit dem gebürtigen Prager Kafka teilte: die Liebe zum jüdischen Theater (Bogdanovich/Welles 1993: 275).19 Der ausgeprägte Theatermensch Welles nennt es voller Bewunderung – also noch vor dem Kino – das erste Welttheater. Damit meint er, dass es ein jüdisches Theater in New York, London, Paris, Rom, Buenos Aires wie ja auch kurze Zeit in Moskau gegeben hat. Und ebenso, wie Kafka einige Grundszenarien seiner Erzählungen dem jüdischen Theater entliehen hat, spricht Welles von seinem Erstaunen darüber, dort nicht nur etwa die Shakespearesche Gestalt des Shylock, sondern wohl noch ergreifender die Gestalt des Lear in die Welt des osteuropäischen Shtetl glaubhaft verpflanzt zu sehen. Der Moment, von dem 18 Günther Anders reflektierte als Philosoph wohl am eindringlichsten über den epochalen Einschnitt, den der postnukleare Zustand einer in der Menschheits- wie Erdgeschichte unerhörten, von Menschen geschaffenen Reversibilität der Schöpfung bedeutete spekulativ in seinem kulturphilosophischen Opus magnum (Anders 1956); auf die weltpolitische Grundkonstellation und atomare Dauerkonjunktur bezogen in Anders (1972). Aus dem Bereich der Künste seien hier nur drei bemerkenswerte Beispiele in drei verschiedenen Medien genannt: In der Poesie hat Paul Celan sein Gedicht von der Menschenzernichtung in der Shoah, Engführung (1959), ausdrücklich auch als Gedicht über die atomare Bedrohung verstanden wissen wollen; im Film hat der Regisseur des ersten Auschwitz-Filmes, Nuit et brouillard (1956), Alain Resnais, aus einem verwandten zeitgeschichtlichen Empfinden heraus den Film Hiroshima mon Amour (1959) gedreht; und einer der bemerkenswertesten Komponisten der Gegenwart, Krzysztof Penderecki, hatte in den frühen 1960ern sein aufsehenerregendes, damals noch avantgardistisches Debüt mit zwei Werken gegeben, die diesen epochalen Zusammenhang gleichsam zum Erklingen brachten: in den Stücken Threnodie für die Opfer von Hiroshima (1960) und Dies Irae: Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz (1967). 19 Zu Kafka und dem jüdischen Theater s. Beck (1971).

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Welles in bewegenden Worten erzählt, wo der entmachtete und umnachtete Lear sich zu den Bettlern des Ortes gesellt, nur noch dadurch von ihnen unterschieden, dass er als Einziger von ihnen von einem grellen Scheinwerferlicht angeleuchtet wird, hat für den großen und erfahrenen Regisseur offenbar zu den stärksten theatralischen Eindrücken überhaupt gezählt. Und ist K., zumal zum Schluss, bei Kafka wie bei Welles nicht so etwas wie ein grell ausgeleuchteter Bettlerkönig, das königliche Subjekt der Moderne auf sein kreatürliches Minimum herabgewürdigt und reduziert? Somit sind wir berechtigt, in Hinblick auf Kafka und Welles, im Sinne Benjamins das Wort vom Welttheater etwas weiter zu fassen (Benjamin 1977: 422). Denn worum es in diesem Theater vor allem geht, ist das Einreißen der vierten Wand, die Zeit und Raum des Protagonisten von Zeit und Raum des Zuschauers oder Lesers trennt. Denn wenn der Held und Antiheld K. ein wahrer Jedermann ist, müssen diese Grenzen und Barrieren aufgehoben werden, damit sein Schicksal einen jeden auch unmittelbar etwas angehen kann. Wir erinnern uns alle daran, wie Kafka in dem Roman diese Wand des bloß ästhetisch Scheinhaften abreißt: durch das Fenster wie das Licht, das er im allerletzten Augenblick plötzlich über dem mörderischen Geschehen aufgehen lässt. Oder wie er schreibt: Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch schwach und dünn in der Ferne und Höhe beugte sich und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer der teilnahm? Einer der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? (Kafka 1990: 312)

Die scharfsichtigsten Kommentatoren, allen voran Elias Canetti, sind über diese Stelle stutzig geworden als etwas, das in der Literatur ihresgleichen sucht (Canetti 1969: 74).20 Sie sucht schon deshalb ihresgleichen, weil in einem solchen Augenblick die Literatur aufhört, Literatur zu sein. Denn es ist keine Frage, dass durch dieses Fenster der Leser selbst in das Geschehen hineinversetzt wird wie das Geschehen in ihn. Der Leser steht im Fenster und schaut zu. Geschehen und Leser befinden sich somit in einer einzigen Dimension, werden wie in einem raumzeitlichen Feld gegen jegliches lineare und bloß Newtonsche Raum- und Zeitverständnis vereinigt, werden somit zeitgleich, ortgleich, simultan. Differenz und Entfernung werden zwischen ihnen so weit aufgehoben, dass die Frage eines Eingreifens des Lesers in das Mordgeschehen geradezu gestellt wird, da die Konfrontation mit diesem Geschehen unversehens auch für ihn zu einer existenziellen und unmittelbaren geworden ist. 20 Canetti (1969: 74) schreibt „von jenem über alle Maßen herrlichen Passus, [...] den keiner, der ihn gelesen hat, je wieder verliert.“

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Denn ein wahres Welttheater hat keine Wände – auch die rettende Wand des Ästhetischen, auch die trennende Wand der raumzeitlichen Entfernung nicht, da sie per definitionem die ganze Welt umfasst. So werden diese Grenzen von Kafka im Handumdrehen aufgelöst; jene Grenzen, die sich laut Benjamin in dem traditionellen Theater zwischen dem Zuschauer und dem Geschehen auf der Bühne auftun, unüberbrückbar und final wie nur die, welche die Toten von den Lebendigen trennt (Benjamin 1977: 539). Mit anderen Worten: Womit wir auf den Höhepunkten des Kafkaschen Werkes immer wieder konfrontiert sind, ist die prophetische Gegenwart; der Umstand, dass ihr Geschehen vor uns hier und jetzt abläuft, uns folglich unmittelbar etwas angeht und uns eine Stellungnahme abverlangt. Der große Stalinist und Antistalinist Georg Lukács hat einmal in seiner polemischen Abwehr jener schriftstellerischen Moderne, die für ihn wie von keinem anderen von Franz Kafka verkörpert wurde, geschrieben, dass es dieser angeblich so schematischen und schemenhaften Moderne nie gelungen sei, Handlungen und Personen von einer auch nur entfernt ähnlich einprägsamen Suggestionskraft wie die der großen Fabeln und Gestalten des Realismus zu schaffen (Lukács 1971: 340f.). Dem kann man heute schlicht entgegenhalten, dass Suggestionskraft und Einprägsamkeit der Kafkaschen Fabeln und Gestalten – K. im Kampf mit dem Gericht, der Käfermensch Gregor Samsa, die Todesmaschinerie der Strafkolonie – in der Imagination des modernen Menschen längst die altehrwürdigen Figuren des Realismus verdrängt und selbst einen fast mythischen Status erlangt haben – mythisch nicht im Sinne einer scheinbar erdrückenden und schicksalhaften Unentrinnbarkeit, sosehr diese Konstellationen bei Kafka bisweilen auch einen verhängnisvollen Schein entfachen, sondern in dem Sinne, dass hier die bestimmenden, immer wieder durchschlagenden Grundstrukturen und Grundkonstellationen unserer Zeit und unseres Lebens freigelegt und bildhaft festgehalten sind, an denen wir uns – wie ehemals in der mythischen Ausgesetztheit vor den archaischen Gewalten – um den Preis des Untergangs zu messen und zu bewähren haben. Gerade deshalb aber greift jedes bloß mythische Verständnis des jüdischen Schriftstellers Kafka entschieden zu kurz, das ihn darauf reduziert, bloß der Dichter der neuen Schicksalhaftigkeiten, der modernen Verhängnisse zu sein. Denn er ist auch Dichter der prophetischen Gegenwart: Dichter der Interpellation, Dichter der Reversibilität und menschlichen Verhandelbarkeit auch dieser scheinbaren Unentrinnbarkeiten. Wenn wir nun die Welles’sche Leistung bei der Umsetzung des ProceßStoffes in das Medium des Filmes abschließend zu würdigen versuchen, so vor allem in der wahren Kongenialität, mit der Welles Kafkas Roman sowohl

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als mythische wie als prophetische Angelegenheit verstanden hat. Mythisch darin, dass hier – im modernen mythischen und mythenstiftenden Medium des Films – die gleichsam planetarische und blockübergreifende Grundkonstellation und Grundstruktur freigelegt und bildlich festgehalten sind, mit der sich die zeitgenössische Menschheit am ehesten und am dringlichsten konfrontiert sah; prophetisch darin, dass bei Welles wie bei Kafka die Handlung auf eine absolute interpellative Gegenwärtigkeit zugespitzt wird, wo in der Simultaneität die Grenze zwischen Zuschauer und Handlung auch letztlich aufgehoben wird. Freilich, es gibt bei Welles kein Fenster. Es sei denn, dass wir Kamera, Leinwand und Kinosaal als dieses Fenster auffassen würden. Aber wie bei den Shakespeare-Verfilmungen von Welles gibt es auch hier bei der Verfilmung Kafkas eine Art transformative Treue, eine Treue gegenüber dem Geiste der Erzählung und der inneren Logik von Stoff und Fabel, die sich gerade durch die scheinbare Untreue gegen dessen Wortlaut – und sei es ein Shakespearescher oder Kafkascher – bewahrt.21 Wir können deshalb sagen, dass an die Stelle des Kafkaschen Fensters bei Welles die Rauchwolke getreten ist. Denn wenn K. der moderne Jedermann ist, dessen fatales, namenloses und von ihm selbst nicht begriffenes Martyrium in dem blockübergreifenden, so rebellischen wie komplizenhaften Leid an dem Totalitarismus der Systeme besteht, so ist sein Tod auch einer, der so blockübergreifend wie symptomatisch und kennzeichnend ist für die nunmehr in tödlich rivalisierende Machtblöcke aufgeteilte Welt. Denn nicht durch das Messer stirbt Josef K. bei Welles, sondern durch die Bombe. Das ist die prophetische Zuspitzung auf absolute Gegenwärtigkeit, die Welles sich bei der Geschichte vom K. als kontemporärem Jedermann erlaubt. Sie ist prophetisch in zweifachem Sinne. Zum einen hat Welles es für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten, angesichts der Erfahrung des Holocaust die Kafkasche Figur des K. als letztlich passiv und resigniert vor seinem Tode darzustellen, wie dies in dem Roman der Fall ist. Welles hielt dies in einer Epoche nach der Shoah für schlechterdings nicht mehr zu verantworten. Folglich tritt bei Welles das Moment der Auflehnung und Rebellion K.s in extremis, im letzten Augenblick vor seiner Hinrichtung, das freilich schon bei Kafka in Ansätzen vorhanden ist, nun in eine andere Qualität (Bogdanovich/Welles 1993: 274). K.s Weigerung bei Kafka, sich selber zu erstechen, schlägt um bei Welles in Ratlosigkeit und Panik bei seinen Henkern vor der Aufgabe, ihn sel21 Zur transformativen Treue bei Welles s. Berthomé/Thomas (2008: 237) und Mereghetti (2011: 55).

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ber erstechen zu müssen. So greifen diese zum distanzierteren wie effektiveren Mittel der Bombe. Während K. im Proceß – in einer wahrhaft prophetischen Regung (denn wie viele Menschen im 20. Jahrhundert sind nicht so verendet) fast wort- und lautlos stirbt, lässt Welles ihn laut auflachen und -schreien – aber mehr noch: Er lässt ihn sprechen. Nicht anders als der Darsteller Chaplin am Ende des Großen Diktators, der angesichts des drohenden faschistischen Zeitverhängnisses seine Rolle verlässt, um eine direkte Ansprache an das Publikum zu halten, hält K. bei Welles ebenfalls eine Ansprache, bei der er allerdings gleichermaßen in seiner Rolle verbleibt wie im Sinne Brechts aus ihr herausfällt.22 Denn er verlässt gleichsam seine Rolle im Film, um seine Rolle im Welttheater wahrzunehmen. Die vierte Wand fällt, das Kafkasche Fenster wird aufgerissen. Was hier vor sich geht, wird somit nicht zur schicksalhaften Unentrinnbarkeit, sondern zur dringenden menschlichen Verhandlungssache erklärt. Und auch wir als Zuschauer realisieren mit einem Mal, dass diese Rolle weniger die in einem Film als die in einem Welttheater ist, eine Rolle, die wir sozusagen mit ihm teilen.23 Zweitens ist durchaus bemerkenswert, wie diese Rauchwolke bei Welles entstanden ist: nämlich so ungewollt wie unwillkürlich. Keineswegs hatte der Regisseur beabsichtigt, dem Film einen für das Welles’sche Empfinden so penetranten und symbolträchtigen Schluss aufzusetzen. Doch, wie er sagt, bildet sich bei jeder Bombenexplosion unvermeidlich eine Rauchwolke, sodass ganz 22 So in dem grandiosen Schlussbild von The Great Dictator (1940), wo Chaplin in seinem ersten Tonfilm nicht mehr in seiner Eigenschaft als Protagonist, sondern in seiner Eigenschaft als Weltbürger sein internationales Publikum im Sinne des antifaschistischen Bündnisses unmittelbar anspricht. Zu erinnern ist auch daran, dass Chaplin genauso wie Welles den Machenschaften von Edgar Hoover und dem FBI ausgesetzt war, und aufgrund dessen 1952 Amerika verlassen musste. 23 In diesem Moment fallen das Filmhafte und das Kafkasche zusammen, indem das Kafkasche Moment der Aufhebung der vierten Wand, des Herausspringens aus dem bloß imaginären Geschehen, ja auf die Ursprünge des Kinos zurückgreift. In einer der wichtigsten Aussagen zum Kafkaesken überhaupt hat Theodor Adorno darauf hingewiesen, dass die Kafkaschen Texte so auf uns zukommen wie jene Züge in den ersten Filmen, die sich von der Leinwand zu lösen schienen und somit drohten, die Zuschauer zu überfahren, sodass sich diese alle unwillkürlich wegduckten. Etwas von diesem Herausspringen ist am Schluss von Proceß-Roman und Proceß-Verfilmung durchaus zu spüren. Adorno (1977: 256): „Unter den Voraussetzungen Kafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist. Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik.“ So wird in einem verwandten Gestus auch bei Welles zum Schluss das kontemplative Verhältnis von Film und Zuschauer aufgehoben.

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unversehens die Bombe bei Welles zu ‚der‘ Bombe schlechthin geworden ist. Wie Kafka nicht aus einer bewussten und symbolischen Intention heraus, sondern aus dem Bereich des ebenso politisch wie psychisch Unbewussten seine so archetypischen wie prophetischen kollektiven Angstvisionen erschuf, so entstand bei Welles wie bei den Zuschauern aus dem Kontext des politisch wie seelisch Unbewussten eine Wolke, die sich als weltpolitisches Menetekel zu einer beklemmenden Symbolhaftigkeit verdichtete und vor ihren Augen dann aufgestiegen ist (Bogdanovich/Welles 1993: 275). Bezeichnend hierfür ist die Welles’sche Reaktion: Bei der ersten privaten Vorführung des Filmes in Paris, kurz vor der offiziellen Premiere, sprang der Regisseur bei der Szene entsetzt auf und lief verzweifelt aus dem Saal mit dem Impuls, die Vorführung sofort abbrechen zu lassen, um den unliebsamen Schluss herausmontieren zu können (Bogdanovich/Welles 1993: 275f.). Aber zu spät, denn es war keine Zeit mehr, den Film noch abzuändern. Welles hat anschließend seine überstürzte Reaktion mit rein ästhetischen Gesichtspunkten zu begründen versucht; es bleibt aber die Frage, ob das Prinzip des Welttheaters sich nicht hier an seinem Autor gerächt habe, und ob Welles nicht ebenfalls zum Darsteller und Akteur nicht nur seines Filmes, sondern seines Welttheaters geworden ist; ob das Ende, das er verzweifelt versucht hat abzuwehren, weniger der für sein Empfinden misslungene Schluss seines Filmes, als vielmehr das drohende Scheitern der Welt, das somit vor den staunenden Augen aller zum Bild geronnene Weltende gewesen ist. Somit hätte, in einer letzten Zersprengung der Gren­ zen, das Welles’sche Welttheater seinen Urheber am Ende selber eingeholt.

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Zwischen Existentialität und Ironie. Zu einigen Kafka-Reflexionen in der Musik der Gegenwart 1. Zum Gegenstand und zur Auswahl der Beispiele Den Gegenstand unseres Beitrags bilden einige Vertonungen von Texten Franz Kafkas. Das Spektrum der komponierten Kafka-Bezüge ist, wie vor mehr als drei Jahrzehnten bereits Ulrich Müller dargestellt hat (Müller 1979: 851f.), ohne allzu viel Vergröberung in drei Kategorien aufzufächern: Erstens gibt es direkte Vertonungen von konkreten Texten, meist in der Form von Liedern, zweitens musikdramatische Werke sowie Ballettwerke zu Kafkas Texten, drittens Werke, die sich auf die Persönlichkeit von Franz Kafka indirekt beziehen.1 Dies sind Rezeptionskategorien, die auch für die Auseinandersetzung mit einigen anderen literarischen Autoren, die in der Neuen Musik große Resonanz gefunden haben, gängig sind. Im Folgenden geht es vor allem um die beiden ersten Gruppen von Werken mit Kafka-Bezug: um liedartige Vertonungen sowie um Musiktheaterwerke. Summarisch sei zunächst festgehalten, dass die musikalische Kafka-Rezeption bis in die Gegenwart als sehr rege bezeichnet werden kann. Freilich besteht ein Unterschied zur Rezeption zweier anderer in der Neuen Musik bevorzugter Dichter, nämlich Friedrich Hölderlin und Paul Celan, darin, dass bei Kafka die Musiktheaterdimension insgesamt von größerer Bedeutung ist. Die beiden Beispiele aus diesem Bereich sollen dem Rechnung tragen. Die Beschränkung auf die Zeit nach 1990 – mit einer Ausnahme gleich zu Beginn – ist motiviert durch die Situation der Forschung; es handelt sich um Werke, die im Gegensatz zu jenen der vorangehenden Periode bislang noch kaum oder gar nicht betrachtet wurden. Mit Blick auf die Zeit vor 1989 ist eine gewisse Ost-West-Differenz festzustellen hinsichtlich der konkreten Kafka-Bezüge in Musikwerken. Und dies steht in Korrespondenz zu den bereits häufiger beschriebenen Spezifika der allgemeinen Rezeption. Während 1 Darunter sind Musikwerke, die, so Müller (1979: 852), „so etwas wie den gesamten geistigen Gehalt“ des Werkes von Kafka betreffen.

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im Westen die musikalischen Werke mehr zu einer existentialistischen und/ oder allegorischen Interpretation neigten, gab es – dies dürfte exemplarisch zumindest für die tschechische Rezeption gelten – einerseits eine realistische Lesart, die in den Texten der zeitgenössischen Realität nachspürte (statt Parabel eher Hyperbel, möchte man sagen), andererseits aber auch in besonderem Maße groteske Akzentuierungen. Gefragt werden kann, inwieweit sich nach 1990 in dieser Hinsicht noch im engeren Sinne regionale Differenzen ausmachen lassen. Im Folgenden versuchen wir an einigen Kompositionen zu bestimmen, welche Interpretationen die jeweiligen Vertonungen aufscheinen lassen, welche Aspekte sie an den jeweils ausgewählten Texten hervorheben, und schließlich welche weiteren Reflexionen diese Werke, die von Kafkas Texten Impulse beziehen, aufrufen. Wir vollziehen bei unserer Betrachtung einen Weg von einem bekannten Liederzyklus zum Bereich des Musiktheaters – und anschließend wieder zurück in den Liedbereich. Allerdings wählt – und das ist typisch für viele Textvertonungen in der Neuen Musik – keines der Lieder die klassische Besetzung Gesang und Klavier. Berücksichtigt werden dabei, um nicht zu sehr in einem einzigen geografischen Raum zu verharren, Werke eines ungarischen, eines deutschen, eines österreichischen sowie zweier tschechischer (und dabei je eines Prager und Brünner) Komponisten.

2. György Kurtágs Kafka-Fragmente und der gestische Charakter der Texte Der 1985-87 entstandene, etwa einstündige Zyklus Kafka-Fragmente (im Original: Kafka-Töredékek) für Sopran und Violine (op. 24) des ungarischen Komponisten György Kurtág sei hier deshalb an erster Stelle erwähnt, weil er zu den bekanntesten und auch am meisten aufgeführten Kafka-Vertonungen der letzten Jahrzehnte gehört. Mit Blick auf die Frage nach der Wirkung von Kafkas Werk gilt es zu beachten, welche Aspekte der Texte Kurtág hervorhebt – zumal man davon ausgehen kann, dass dieser Zyklus einen gewissen Referenzcharakter besitzt und manchem Komponisten überhaupt erst das Bewusstsein dafür schärfte, auf welchem Wege man sich Kafka auf sinnfällige und ebenso suggestive Weise nähern kann, ohne dabei in den Sog der Tradition des klassisch-romantischen Klavierlieds zu geraten. Immer wieder wurde dieses Werk auch als ein für die Ästhetik Kurtágs zentrales Werk be-

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zeichnet. Dies scheint zumindest teilweise außermusikalische Gründe zu haben, bedingt durch die Tatsache, dass Kurtág in seiner ungarischen Heimat ein wechselvolles Schicksal erlebte. Doch hinzu kommt etwas anderes, für den Rang dieser Komposition Entscheidendes, das auf einen signifikanten ästhetischen Einfluss deutet. Die Rede ist von Kurtágs oft beschriebener Vorliebe für das gleichsam Aphoristische beim Komponieren. Diese Vorliebe besitzt weit über den Bereich der Textvertonungen hinaus Relevanz und der Komponist hat eingeräumt, dass sie von der Kafka-Lektüre zumindest teilweise stimuliert wurde. Die Lieder Kurtágs vollziehen und akzentuieren auf eine das Existentielle betonende, erschütternde Art das, was man die Paradoxien von Kafkas Schreiben nennen kann. Es sind sinnliche Abstraktionen der Kafkaschen Gebärden. Analog zu Kafkas Texten bilden sie einen –  mit Walter Benjamin gesprochen – dramatisierten „Kodex von Gesten“ (Benjamin 1977: 418). Typisch für Kurtágs Fragmente ist immer wieder, dass die Violine das Wort in einer dramatischen Geste mimetisch nachvollzieht. Dabei handelt es sich – und auch das ist wichtig – um eine Dramatik, die das plötzliche Pointieren ebenso kennt wie das ebenso plötzliche Herunterblenden oder gar Heraustreten aus allem Dramatischen. Kafka gilt heute – offenbar jenseits aller politisch bedingten Rezeptionsmomente – als einer jener Autoren, die ein besonderes Maß an Denk- und Lesegenauigkeit einfordern. Und gerade damit dürfte, ähnlich wie bei Hölderlin und Celan, das Interesse vieler Komponisten zusammenhängen; insbesondere gilt dies wohl für die Paradoxien vieler seiner Texte. Als in besonderem Maße verwandt mit musikalischen Setzungen kann dabei der Aspekt eines Schweigens durch Worte gelten. Dieser kann von Komponisten als Impuls dazu verstanden werden, ein Schweigen in oder durch Musik ins Werk zu setzen – oder es zumindest zur Reflexion zu bringen. Anders formuliert: Komponisten Neuer Musik finden in Kafka gerade dann einen bevorzugten Bezugspunkt, wenn sie ihrerseits eine Neigung zu Ambivalenzen und Brüchigkeiten jenseits des allzu Evidenten besitzen. Fragt man nach Gründen dieser besonderen Wertschätzung, ist zudem aber auch jener stark gestische Charakter vieler Texte zu nennen, der in besonderem Maße aus Kurtágs Kafka-Fragmenten herauszuhören ist. Insofern überrascht es nicht, dass Kafkas Texte in den letzten zwei Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum mehrfach zum Ausgangspunkt von Musiktheaterwerken wurden. Zwei dieser Werke seien nachfolgend kurz ­vorgestellt.

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3. Von der stummen Geste zur Polyphonie der Gewalt: Kafka-Opern von Rolf Riehm und Georg Friedrich Haas Der 1937 geborene deutsche Komponist Rolf Riehm hat sich in seinen Werken mehrfach der Odyssee und dabei stets auch der Textwelt Kafkas genähert, um damit Resonanzen des im Nachlass Kafkas überlieferten Textes Das Schweigen der Sirenen auszukomponieren. Zu den Kompositionen, die sich direkt auf diesen Text beziehen, gehört ein abendfüllendes Musiktheaterwerk, nämlich die 1994 in Stuttgart uraufgeführte Oper Das Schweigen der Sirenen. Diese folgt – und das markiert einen Unterschied zu mehreren Kafka-Opern früherer Zeiten – keinem streng am Text entlang komponierten, narrativen Ansatz, sondern in fünf Szenen versucht der Komponist Kafkas Text – und zugleich auch einige Assoziationen, die sich durch die Lektüre der Homerschen Odyssee ergaben, – gleichsam in fünf Grundsituationen aufzufächern. „Begehren, nicht mehr verführen, hörend sehen“ lautet dabei z. B. die Grundsituation der 1. Szene. Und wenn man diese Szenenbeschreibung liest, erscheint es plausibel, wenn Riehm mehrere substantielle Fragen des Komponierens aus den von ihm selbst gewonnenen thematischen Resonanzräumen sozusagen herausdestilliert. Vor allem zwei dieser Aspekte sind dabei wichtig: An erster Stelle ist hier die Frage nach der Verführbarkeit durch Musik und im Speziellen durch Gesang zu nennen – eine Frage, die in Zeiten, da Tonalität nichts Selbstverständliches mehr ist, besondere Dringlichkeit besitzt und die überdies auf eine Problemstellung auch verschiedener anderer Riehmscher Werke deutet. An zweiter Stelle ist die mit diesem Aspekt nicht unverwandte, uralte Frage nach dem Sichtbarmachen durch Musik zu nennen. In der Musik der Gegenwart hat auch diese Frage besonderes Gewicht.2 Wesentlich und für seinen eigenen Ansatz inspirierend ist für Rolf Riehm, dass Kafka nicht linear erzählt: Meine Perspektive ist die, dass ich auf Kafkas Text von oben, wie auf eine Landschaft, auf eine Wörterlandschaft, schaue und den Blick hin und her schweifen lasse. (Riehm 1994: 16)

Die Oper endet mit einer Szene, in der nicht mehr gesungen wird. In der Libretto-Fassung der Uraufführung finden sich die Anweisungen: Die Szene hat keine Musik mehr. Die Bühne ist leer. Das gesamte Portal wird von einem riesigen Auge ausgefüllt, welches ‚blickt‘. Dieses Bild steht sehr lange. ((Dann kommt das elektronische ‚F-----lopp‘, sofort dunkel und Vorhang)).

2 Darauf deutet etwa der Untertitel Musik mit Bildern von Helmut Lachenmanns viel beachteter Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (UA 1997).

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Die vorletzte Szene besteht in einer musikalischen Umsetzung des Satzes: „Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, diese gewaltigen Sängerinnen nicht“ (Kafka 2002a: 40). Und die letzte bietet einen Gesang, der in durchaus dramatischer Weise vom Nichtsingen handelt. Mit Blick auf den Text Kafkas kann behauptet werden, dass Riehm – der zu jenen Komponisten gehört, die in ihren Werken häufig konkrete Weltbezüge bis hin zu politischen Akzenten aufscheinen lassen – aus dem Text eine ethische Dimension herausliest. Er steht hier stellvertretend für verschiedene Versuche im Musiktheater, einen Kafka-Text mit einem dramatischen Tonfall auszustatten. Doch trägt Riehms Werk zugleich den Impuls in sich, die Frage zu stellen, ob und inwieweit solche Dramatik überhaupt beim Umgang mit dem Schaffen von Kafka angemessen ist. Darin unterscheidet sich Riehms Werk von früheren Werken – beispielhaft erwähnt sei hier Aribert Reimanns 1995 in München uraufgeführte Oper Das Schloss (Hiekel 1994). Nicht ohne Ironie, vielleicht sogar Selbstironie, wird am Ende von Riehms Oper eine Umwertung auskomponiert. Dies vollzieht sich im Sinne der Formulierung Kafkas, es wäre „vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang [der Sirenen] gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht.“ (Kafka 2002a: 40) Ein ebenfalls eindrucksvolles Musiktheaterwerk mit substantiellem KafkaBezug schrieb wenige Jahre nach Riehm der 1953 geborene österreichische Komponist Georg Friedrich Haas. Seine im Jahre 2003 bei den Bregrenzer Festspielen uraufgeführte Oper trägt den Titel Die schöne Wunde und bietet eine Engführung zweier Texte der Weltliteratur, nämlich Kafkas Erzählung Ein Landarzt und Edgar Allan Poes Novelle Grube und Pendel. Das Werk bewegt sich auf dem Wege dieser ungewöhnlichen Verklammerung erkennbar von dem weg, was im neueren Musiktheater oft als Literaturoper bezeichnet wird – und als solches im Rahmen der Neuen Musik etwas in die Kritik geraten ist. Auch dies mag man als deutliche Akzentverschiebung gegenüber früheren Kafka-Opern bezeichnen. Es steht in Korrespondenz zu kompositorischen Strategien verschiedener anderer Musiktheaterwerke der jüngeren Zeit, etwa jenen von Beat Furrer, Helmut Lachenmann und Isabel Mundry. Einerseits zeugt das Werk Haas’ von einer tiefen Auseinandersetzung mit literarischen Texten, andererseits ergreift seine Musik das Wort, um in ausgedehnten textlosen Passagen zu demonstrieren, dass sie selbst, jenseits ihrer vielfältigen Sinnsetzungen, in all ihrer Reichhaltigkeit die Hauptsache zu sein beansprucht. Der Titel der Oper ist auf Kafka bezogen und signalisiert damit die große Bedeutung von dessen Erzählung für das Gesamtkonzept. Dabei registriert man in diesem Werk eine Parallelisierung auch von zwei Handlungssträngen, die jeweils ihrer Textvorlage folgen. Georg Friedrich Haas ist in den

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letzten Jahren international bekannt geworden mit einer Musik, die sich mit erheblicher Virtuosität jenseits der gewohnten Klangräume bewegt – in einem mikrotonalen Feld, das in der Nachfolge etwa von Ivan Wyschnegradsky in nachdrücklicher Weise darauf zielt, eine besondere Form von Sinnlichkeit zu entbinden. Etwas pointiert lässt sich in Anspielung auf das in Rede stehende Opernwerk dabei sogar sagen, es geht um eine „schöne Wunde“ im Feld der seit Jahrhunderten geläufigen wohltemperierten Musik. Das Libretto folgt in den Landarzt-Passagen sehr nah dem Text. Beide Handlungsstränge enden, ungeachtet des Happy Ends bei Poe, gemäß der Erzählung Kafkas in einer völligen Ausweglosigkeit, in einer Aporie. In der Szene, in der die „schöne Wunde“3 des kranken Knaben entdeckt wird, spürt Haas nach eigenem Bekunden einer „Gewaltsamkeit“ der Szene nach. Die Musik kehrt dabei, vereinfacht gesagt, geradezu spürbar eine intensive Körperlichkeit des Kafkaschen Textes hervor. Zu der Szene, in welcher der Landarzt zum kranken Knaben ins Bett gelegt wird, vermerkt der Komponist: In der ,Heilungsszene‘ spielt auch die Rhythmik eine große Rolle, wo ein gleichmäßiger Puls, der immer wieder auf- und abschwillt, dann zu einem zentralen Modell dieser Szene wird, auch die Unerbittlichkeit, auch die Grausamkeit – wir dürfen ja nicht vergessen, bei Kafka ist das ja so beschrieben, dass die Familienangehörigen und Freunde des Kranken auf den Arzt zugehen, diesen Arzt entkleiden, diesen Arzt in das Bett des kranken Knaben tragen, ihn hineinlegen, ihn dann auch alleine lassen mit diesem kranken Knaben –, dass da diese ganze Unerbittlichkeit und diese ganze Gewalt, die da auch durchgeführt wird, dass die sich eben dann in diesen unerbittlichen Sechzehntelpulsen manifestiert. (Haas 2003: 23)

Neben der vom Komponisten selbst vermerkten Rhythmik ist es auffällig, wie bei der musikalischen Darstellung der Familie durch Gemurmel eine bedrohliche Atmosphäre evoziert wird. Während bei György Kurtág ebenso wie bei Rolf Riehm die Paradoxien und der gestische Charakter von Kafkas Werken hervortreten, verweist Haas in besonders intensiver Weise auf die Körperlichkeit dieser Textpassagen, um mit seiner spezifischen, ausdrucksintensiven Musiksprache zugleich das Unerhörte und Erstaunliche des Dargestellten zu vergegenwärtigen. In seiner Art der Textdeklamation ist Haas, wie er selbst bemerkt hat,4 wesentlich von Leoš Janáček beeinflusst – darin vor allem, wie sich sein Gesangsstil am gesprochenen Wort orientiert. Daraus resultiert, bei aller Artifizialität des Werkes, ein gewisses Maß an Nüchternheit, eine Vermeidung bestimmter vor allem seit der Oper des 19. Jahrhunderts präsenter 3 S. Kafka (2002b: 260): „Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war meine ganze Ausstattung.“ 4 Im Gespräch mit J. P. Hiekel anlässlich der Uraufführung von Die schöne Wunde im Jahre 2003.

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– und teilweise noch in der Gegenwart virulenter – Ausdrucksklischees. Auch dies ist eine der Bedingungen dafür, dass man beim Hören dieses Werkes den Eindruck erhält, dass der Umgang mit Kafkas Sprache ein höchst reflektierter ist, durchweg konzentriert auf die nachdrücklich existentiellen Dimensionen in seinem Werk.

4. Von existentiellem Schreiben und jugendlichem Weh: Liedvertonungen von Peter Graham und Martin Smolka Die beiden letzten Beispiele, die von den tschechischen Komponisten Peter Graham und Martin Smolka stammen, verweisen noch einmal in besonderer Weise auf die beiden anfangs angedeuteten Traditionen von Bezugnahmen auf Kafka: auf die, verkürzt gesagt, auf ernste Weise existentialistische Tradition einerseits, auf die grotesk verspielte andererseits. Doch beide Komponisten gehen, wie zu zeigen sein wird, mit diesen Traditionen in origineller Weise um und lassen ein Bewusstsein für die vorangegangene (nicht nur musikalische) Kafka-Rezeption erkennen. Kennzeichnend für den 1952 geborenen mährischen Komponisten Peter Graham ist es, dass sich seine Werke immer wieder durch eine hohe Reflexivität auszeichnen. Dies gilt auch für seine etwa siebenminütige Komposition Der Erste, eine Kammerkantate aus dem Jahre 1993. Markant und fast wie eine kleine Theaterszene anmutend ist der Beginn des Werkes: Nach heftigen Paukenschlägen folgt ein bizarr gefärbter Eindruck beklemmenden Stillstands und einer in der Luft liegenden rätselhaften Spannung, die ein imaginäres Ausrufungszeichen setzt, noch ehe die ersten Worte zu hören sind. Der vertonte Text, der im deutschen Original gesungen wird, geht auf ein Gedicht Kafkas zurück, das im Begleitheft zur CD-Produktion des Werkes von 1998 zusammen mit einer tschechischen Übersetzung abgedruckt wird:

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An Hedwig Weiler (Prag, 29. August 1907) In der abendlichen Sonne sitzen wir gebeugten Rückens auf den Bänken in dem Grünen. Unsere Arme hängen nieder, unsere Augen blinzeln traurig. Und die Menschen gehn in Kleidern schwankend auf dem Kies spazieren unter diesem großen Himmel, der von Hügeln in der Ferne sich zu fernen Hügeln breitet.5

Ähnlich markant wie der Beginn ist auch der Schluss des Stückes: Grahams Musik verklingt im leisen Kratzen eines Griffels – einer Feder – auf dem Papier. Stille und Konzentration kontrastieren mit Unruhe und lauten Ausbrüchen, Emphase wechselt mit Nüchternheit. Typisch für dieses Werk ist die Verschränkung einer an Arnold Schönberg gemahnenden Expressivität mit einer sachlichen Präzision, ja Trockenheit des Schlagzeugs sowie mit eigentümlichen Klezmerklängen. Man nimmt diese Verknüpfung unterschiedlicher musikalischer Welten als Suchbewegung wahr – und es fällt nicht schwer, dies in Korrespondenz zum Inhalt zu sehen. Dabei scheint es, als ginge es dem Komponisten vor allem um eine Reflexion über das Phänomen Kafka: um die Unbedingtheit des Schreibens im Kontext aller Welt- und Kunstbezüge, denen er sich aussetzt, aber auch der permanenten Vereinnahmung dieser Unbedingtheit. Zugleich handelt es sich bei diesem Musikwerk um einen exemplarischen Versuch, im Ästhetischen ein in mehrfacher Hinsicht Anderes als Fremdes zu vergegenwärtigen. Die Verwendung der deutschen Sprache verweist auf die Unerreichbarkeit eines Raums, der sich einst durch eine wesentliche Heterogenität – von Sprachen, Kulturen und Völkern – auszeichnete. Damit stellt die Komposition an sich selbst die Uneinholbarkeit der Geschichte dar. Im Vergleich zu allen bisherigen Beispielen ist das von dem 1959 geborenen Prager Komponisten Martin Smolka stammende letzte der hier vorgestellten Kafka-Stücke von besonderer Eigentümlichkeit. Charakteristisch nämlich ist eine geradezu verspielte Leichtigkeit, die wie eine bewusste Abkehr von den gängigen Kafka-Annäherungen und all ihrer Seriosität erscheint. Smolka, der in der europäischen Musik der Gegenwart in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere für verschiedenste Facetten ironischer Darstellung bekannt wurde, 5 Booklet der CD Peter Graham, Der Erste, Ensemble Mondschein, CD ARTA F1 0091-2, Praha 1998, o. S.

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gab seinem 2004 entstandenen Liederzyklus den Titel Wunsch, Kafka zu werden – und schon dieser Titel deutet auf die ironische Pointierung des Ganzen. Es handelt sich dabei um eine bewusste Verweigerung gegenüber der bisherigen Rezeption des Kafkaschen Œuvres. Lapidar äußert Smolka zu seinem Werk: „Diese Komposition ist mein erstes Zeugnis dafür, dass ich bei Kafka einen Humor fand.“6 Als Interpreten werden für diesen Liederzyklus zwei Gymnasialchöre vorgesehen – wobei eine Pointe darin besteht, dass dies ein deutscher und ein tschechischer sein soll und die Schülerinnen und Schüler jeweils in ihrer Muttersprache singen. Zum Klingen kommen vier kurze Texte aus der Betrachtung: Wunsch, Indianer zu werden; Die Bäume; Die Abweisung; Der Ausflug ins Gebirge. Um die Besonderheit von Smolkas Ansatz zu vergegenwärtigen, ist es hilfreich, an den Text vom Ausflug ins Gebirge zu erinnern: ‚Ich weiß nicht‘, rief ich ohne Klang, ‚ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur daß mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, daß alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaße offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.‘ (Kafka 2002b: 20)

Bemerkenswert ist nun, dass – wie schon in der Oper von Rolf Riehm – erneut die Frage des Singens zum Thema wird. Die Ambivalenz der Vorstellung eines Ausflugs mit „lauter Niemand“ wird am Ende von Smolkas Stück dadurch vollzogen, dass aus Kafkas Schlusssatz „Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen“ die Wendung „wir singen nicht“ eben gerade gesungen wird. Martin Smolka wusste gewiss, als er dieses Stück komponierte, um die gebildete Kafka-Rezeption in seinem Heimatland, die insbesondere für die Prager Szene einer nicht offiziellen Musik von großem Gewicht gewesen war. Doch er selbst setzt sich mit einer provokativ naiven Geste von dieser großen Tradition ab. Indem er Kafkas Juvenilien von zwei Jugendchören singen lässt, entdeckt er an ihnen eine eigentümliche, spielerische und – das sei nicht vergessen – zugleich eine anrührende Stimmung. Er gibt den Texten eine Frische zurück, die wiederum vielleicht eine erste Lektüre erneut möglich macht.

6 Im Gespräch mit A. Stašková im Februar 2006 (Stašková 2010: 286ff.).

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5. Fazit Anhand von mehreren Beispielen aus den letzten Jahrzehnten sind wir einigen jener Impulse nachgegangen, die im Rahmen der musikalischen Rezeption unterschiedlicher Texte Kafkas wesentlich erscheinen. Diese Impulse benennen oder betonen bestimmte Aspekte, welche jeweils die spezifische Wirkung der verwendeten Texte in wesentlichem Maße ausmachen: ihren gestischen Charakter, ihre Paradoxien und Aporien, ihre Körperlichkeit, ihre existentielle Dimension, schließlich aber auch ihre zuweilen unterschlagene groteske, gar humoreske Seite. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt Folgendes: So bekannt oder gar vertraut manchen von uns die Texte Kafkas sein mögen, so signifikant ist es doch, dass die mit besonderer Vorliebe auf das Andere, das Unwägbare zielende oder gar die verstörende Grundtendenz der Neuen Musik dazu angetan sein kann, die Texte Kafkas immer wieder von Neuem unerhört erscheinen zu lassen.

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Michael/Schenk, Klaus (Hgg.), Erinnerungsmetropole Riga. Deutschsprachige Literaturund Kulturvielfalt im Vergleich. Würzburg: Königshausen & Neumann, 283-300.

Marie-Odile Thirouin

Franz Kafka als Schutzpatron der minoritären Literaturen – eine französische Erfindung aus den 1970er-Jahren Seit der Veröffentlichung des Manifests von Gilles Deleuze und Félix Guattari Kafka. Pour une littérature mineure im Jahre 1975 wird der Name Kafka – vorzüglich in Frankreich, aber auch anderswo – immer wieder und fast zwangsläufig mit dem Begriff der ‚littérature mineure‘, der minoritären Literatur, identifiziert. Dieser besondere Kunstgriff ist dem Philosophen und dem mit ihm befreundeten Psychiater gelungen, indem sie Kafka einer doppelten Manipulation unterzogen: Zunächst einmal machten sie den Prager Autor zum typischen Vertreter einer sogenannten minoritären Literatur, darüber hinaus aber auch zum Theoretiker einer idealen und somit vorbildhaften, ebenfalls „minoritären“ Praxis der Literatur (Deleuze/Guattari 1975: 29-50). In diesem Beitrag soll untersucht werden, wie diese heute allgemein als Missverständnis geltende Lektüre der Lebens- und Schaffenssituation Kafkas (Kafka 1984; Casanova 1997; Gauvin 2003) zustande kommen konnte, ferner was sie für die damaligen französischen Intellektuellen so attraktiv machte, schließlich wie sie sich auf die Rezeption Kafkas in Frankreich auswirkte. Wie bereits bekannt ist, berufen sich Deleuze und Guattari im Rahmen ihrer Kafka-Lektüre auf Tagebucheinträge vom Dezember 1911, so wie sie damals in der deutschen Edition von Max Brod aus dem Jahre 1951 zugänglich waren (Brod 1951).1 Zwar wussten sie nicht, wie weit Brod in den Originaltext eingegriffen hatte: Denn wenn man Brods Version mit der Fassung der Handschrift vergleicht, so wie sie heute vorliegt (Kafka 1990), so stellt man fest, dass Brod eigentlich drei Fragmente vom 25., 26. und 27. Dezember 1911 zu einem einheitlichen Text zusammengefügt hat, wobei allerdings der letzte 1 Die Tagebucheinträge zu den „kleinen Litteraturen“ hatte Brod aus seiner Teiledition aus dem Jahre 1937 gestrichen (Kafka 1937). Deshalb fehlen sie auch in der ersten französischen Übersetzung von Kafkas Tagebüchern (Kafka 1945), die auf der ersten Edition von Brod fußt; dagegen befinden sie sich – obwohl verändert und unvollständig – in der ersten englischsprachigen Edition, die ebenfalls auf Brod zurückgeht (Kafka 1948/1949). Kompletter Text bei Nekula (2003: 216f.); s. a. Zimmermann (2008).

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Absatz in Form einer Bilanz fehlt2 – ganz zu schweigen von Brods Eingriffen in Interpunktion und Textgliederung. Aber ohnehin versuchten Deleuze und Guattari sicher nicht einmal, den deutschen Text einzusehen, zum einen aus mangelnden Sprachkenntnissen (was vielleicht auch mit dem für ‚große‘ Nationen typischen Sprachdünkel zu tun haben mag), zum anderen, weil sie sich aus hermeneutikkritischen Gründen durchweg nicht für philologische Fragen interessierten, vielmehr mit jeder Form von Textauslegung, insbesondere mit dem Interpretationswahn und den Deutungsmustern der traditionellen Kafka-Forschung brechen wollten: Wir glauben nur an eine Politik Kafkas, die weder imaginär noch symbolisch ist. Wir glauben nur an eine oder mehrere Maschinen Kafkas, die weder Strukturen noch Phantasien sind. Wir glauben nur, daß Kafka Experimente protokolliert, daß er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen. (Deleuze/Guattari 1976: 12; Herv. i. Orig.)

Die „Abkehr“ von jeder Sinnsuche, die „Zurückweisung der hermeneutischen Unterscheidung von Buchstäblichkeit und Sinn, Form und Inhalt“ gelten hier – so Detlef Kremer – „gleichermaßen der Deutungs- und Subjektfixierung der Hermeneutik wie den binären Schematismen des Strukturalismus“, sodass das Kafka-Buch von Deleuze und Guattari „einen maßgeblichen Einfluss auf die antihermeneutischen, poststrukturalistischen Kafka-Lektüren gehabt hat“: „ihre Kafka-Analyse steht in direktem Zusammenhang eines theoretischen Großprojekts“ (Kremer 2008: 345f.) und nimmt deshalb die polemische Form eines Manifests an, das bei Kafka programmatisch das Verlangen nach einer „Welt aus reinen Intensitäten“ entdecken will, wo alle Formen sich auflösen, alle Bedeutungen, Signifikanten und Signifikate, um lediglich ungeformte Materie, deterritorialisierte Ströme, asignifikante Zeichen übrig zu lassen. (Deleuze/Guattari 1976: 20)

Ein solcher theoretischer Ansatz erklärt, warum beide Denker für den Wortlaut von Kafkas Tagebüchern wenig übrighatten und ohne Weiteres zu der damals verfügbaren französischen Übersetzung derselben durch Marthe Robert griffen (Kafka 1954). Damit stand aber leider ein weiteres „Brett“ (Kafka 1990: 326) zwischen Kafkas Originaltext und seinen beiden französischen Lesern, das sie gar nicht wahrnahmen, obwohl sie den „unglückseligen psychoanalytischen Interpretationen“ Kafkas (Deleuze/Guattari 1976: 15), d. i. vorrangig Marthe Robert (Deleuze/Guattari 1976: 124), besonders kritisch gegenüberstanden. So merkten sie nicht, wie schwer es die Psychoanalytikerin 2 Kafka (1990: 326): „Wie wenig kräftig ist das obere Bild. Zwischen tatsächliches Gefühl und vergleichende Beschreibung ist wie ein Brett eine zusammenhanglose Voraussetzung eingelegt.“

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mit der Übersetzung der Tagebucheinträge vom Dezember 1911 gehabt hatte. Wenn man den Originaltext mit Marthe Roberts Übersetzung vergleicht, fällt nämlich auf, dass sie bei diesem besonders schwierigen, kompakten, von Max Brod rekonstruierten Text über die „kleinen Litteraturen“ einiges bewusst oder unbewusst nicht verstanden, und entweder wortwörtlich oder gegensätzlich interpretierend verfahren ist. Das ist namentlich der Fall beim Ausdruck „kleine Litteratur“ selbst, den sie mit „littérature mineure“, also minoritäre Literatur, und nicht mit petite littérature überträgt, womit sie den Begriff einer fragwürdigen Sinnverschiebung unterzieht. Denn das Adjektiv mineur, das sich von der lateinischen Komparativform minor ableitet, bedeutet im Französischen nicht klein, sondern kleiner, also zweitrangig, und hat im Unterschied zu petit, das rein quantitativ und nicht unbedingt abwertend ist, eine negative Konnotation. Vermutlich hat Marthe Robert mineur doch vorgezogen, weil sie an die Lebenssituation von Kafka als „minoritärem“, deutschsprachigem jüdischen Autor im mehrheitlich tschechischsprachigen Prag dachte (Kafka 1954: 16). Darüber hinaus sind die Wendungen petite littérature sowie petit peuple in Frankreich nicht im selben Grade lexikalisiert wie in Mitteleuropa, wo sie unmittelbar an die Herdersche Lehre der vielen Stimmen von großen und kleinen Völkern anknüpfen, deren Geist sich in einer jeweils eigenartigen Kultur und Literatur äußert: Mit littérature mineure geht die Anknüpfung an Herder und an die damit zusammenhängende romantische Auffassung vom Volkswesen verloren, sodass der ideelle und kulturelle Hintergrund von Kafkas Aufzeichnungen für den französischen Leser noch undeutlicher wird.3 Das ist aber bei Weitem nicht der einzige Nachteil dieser Übersetzung. Der Ausdruck mineur erklärt nämlich auch, warum Deleuze und Guattari in Anlehnung an Marthe Robert von der Fehlannahme ausgehen, Kafka würde, wenn er von „kleinen Litteraturen“ schreibt, an den eigenen Fall denken, also von sich selbst als Vertreter einer minoritären Literatur in Prag reden. In 3 Der deutsche Übersetzer von Deleuze’ und Guattaris Manifest, Burkhart Kroeber, geht seinerseits von mineur auf klein, d. h. auf Kafkas Ausdruck zurück. Er hat im Grunde recht, doch er kann mineur und klein nicht ohne Weiteres gleichsetzen und fühlt sich genötigt, das Adjektiv klein im deutschen Text mit einem zweiten, glossierenden zu paaren: une littérature mineure wird eine kleine oder mindere Literatur. Diesen Eingriff rechtfertigt Kroeber in einer Anmerkung: „Im Französischen nicht petite littérature, sondern beziehungsreicher littérature mineure (als Gegensatz zur großen, anerkannten, wohletablierten littérature majeure). Um dies anzudeuten, wird Kafkas Bestimmung ‚klein‘ hier behelfsweise durch ‚minder‘ kommentiert oder in Anführungszeichen gesetzt.“ (Deleuze/Guattari 1976: 24) Die Sinnverschiebung ist offensichtlich: von der Herderschen, quantitativen Unterscheidung zwischen groß und klein (Kafka) ist man zu einem soziologisch und politisch konnotierten Begriff (Deleuze/Guattari) übergegangen.

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diesem Punkt ist das Missverständnis besonders auffallend, denn schon in den ersten Zeilen seiner Überlegungen über die „kleinen Litteraturen“ nimmt Kafka explizit Bezug sowohl auf den durch Löwy vermittelten Kontakt mit der jiddischen Literatur sowie die eigenen Erfahrungen mit der tschechischen Literatur. Der negative Bezugspunkt, das Exempel einer ‚großen‘ Literatur ist, wie ein kurz darauf folgender Eintrag zeigt, die deutsche, insbesondere der Einfluss Goethes, mit dem sich Kafka in den Tagebüchern häufig auseinandersetzt. (Heinz 2010: 138)

Aber als Angehörige einer praktisch monolingualen Staatsnation stellen sich Deleuze und Guattari 1975 die sprachlichen und nationalen Zustände im Prag der Jahrhundertwende etwas schematisch vor, sodass sie nicht merken, dass Kafka einen Außenstandpunkt bezieht, von wo aus er einen Blick sowohl auf die „gegenwärtige jüdische Litteratur [in jiddischer Sprache] in Warschau“ als auch auf die „gegenwärtige tschechisch[sprachig]e Litteratur“ in Prag wirft, wobei er zwischen seinem „teilweise eigenen Einblick“ in die tschechische Literatur und dem von Jizchak Löwy vermittelten in die jiddische Literatur unterscheidet (Kafka 1990: 312). Dagegen laufen beide Literaturen bei Deleuze und Guattari pauschal zusammen zu der „jüdischen Literatur in Warschau oder in Prag“ (Deleuze/Guattari 1976: 24) als einzigem Thema der Tagebucheinträgen, die sich ohne Weiteres auf die Situation von Kafka als jüdischem Autor deutscher Sprache in Prag anwenden lassen. Einerseits überdecken sich hier Sprach- und Ländernamen: In Prag muss für Deleuze und Guattari tschechisch gesprochen werden und wenn man dort auch noch deutsch spricht, so kann das nur eine „ausgetrocknete, mit tschechischen und jiddischen Brocken durchsetzte Sprache“4 (Deleuze/Guattari 1976: 30) sein; Juden – ob in Prag oder Warschau – stehe eigentlich nur eine „deterritorialisierte“ Sprache, das Jiddische, und eine „mythische“ Sprache, das Hebräische, zur Verfügung – eine Auffassung, die übrigens den alten Topos des ‚Volkes ohne Land‘ neu aktiviert, sodass Deleuze und Guattari gleich zur Annahme übergehen, das Deutsche könnte für Juden in Prag nur eine Fremdsprache sein, um so mehr, als sie sich der Landessprache – dem Tschechischen – beim Verlassen des ‚ländlichen Milieus‘ entfremdet hätten.5 Andererseits 4 Der Ausdruck ist eigentlich ein Zitat aus dem Brief von Kafka an Max Brod vom Juni 1921, wo sich jedoch Kafka zum „Mauscheln“ äußert, nicht zur eigenen Sprache; auch der Ausdruck „Papierdeutsch“, den Deleuze und Guattari als „langage de papier“ dem selben Brief entnehmen, gehört in diesen Zusammenhang. 5 Deleuze und Guattari sprechen sogar von der „ursprünglichen tschechischen Territorialität“ der Prager Juden (Deleuze/Guattari 1976: 24), die ihnen bei ihrem Niederlassen in der Großstadt Prag abhandengekommen wäre. Mit dieser kulturkonservativen Auffassung

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sind solchen Überlegungen von Deleuze und Guattari auch durchaus marxistische Untertöne zu entnehmen, z. B. wenn es um den Untergang des jüdischen Bürgertums in Prag sowie dessen postulierte Volksfremdheit oder um Goethe als Vertreter einer ‚Herrenliteratur‘ sowie Kafkas vermeintliche „Hinwendung zu den Knechten, zu den kleinen Angestellten“ (Deleuze/Guattari 1976: 37) geht. Aus solchen Ansätzen geht folgende Charakterisierung der Prager jüdischen deutschsprachigen Autoren hervor, die auf den berühmten Brief von Kafka an Max Brod vom Juni 1921 Bezug nimmt: Anders als deutsch zu schreiben war für die Prager Juden unmöglich, weil sie zu ihrer ursprünglichen tschechischen Territorialität eine unüberwindliche Distanz empfanden. Und deutsch zu schreiben war gleichfalls unmöglich, weil die deutsche Bevölkerung in Prag selbst deterritorialisiert war: eine herrschende Minderheit mit einer elitären, von den Massen getrennten, künstlich gepflegten, einer ‚papierenen‘ Sprache. Dies galt erst recht für die Juden, die dieser Minderheit angehörten und zugleich von ihr ausgeschlossen waren, gleich Zigeunern, ‚die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen‘ haben. (Deleuze/ Guattari 1976: 24)

Dabei übersehen Deleuze und Guattari, dass der Umgang Kafkas mit der deutschen Sprache 1911, also vor der mit antideutschen und antisemitischen Ausschreitungen verbundenen Gründung des tschechoslowakischen Staates, ganz anders sein musste als 1921, wie die kontrapunktisch in den Aufzeichnungen zu den „kleinen Litteraturen“ verflochtene Auseinandersetzung Kafkas mit Goethe deutlich erkennen lässt: 1911 versteht sich Kafka als Teil der deutschsprachigen Literatur, der mit dem großen Vorbild Goethe zu rechnen hat; deshalb – so meint er damals – sei einer der Vorteile von kleinen Literaturen, zu denen Kafka entschieden ‚nicht‘ gehört, eben der „Mangel unwiderstehlicher nationaler Vorbilder“ (Kafka 1990: 314), die man nachahmen muss.6 Eigentlich entspricht Deleuze’ und Guattaris Darstellung der Lebenswelt der Prager Juden nach 1900 dem wohlbekannten Topos der deutschen Sprachinsel Prag, den Hartmut Binder schon seit Jahren als „Chimäre“ zu entlarven versucht (Binder 1996; 2000). Beide haben ihn unkritisch aus zwei Quellen übernommen: einer unzitierten, Marthe Robert, und einer dagegen viel zi-

von Sprache als Produkt eines „Landes“ (d. i. zugleich Raum, Territorium und Boden) hängt auch die falsche Annahme zusammen, Kafka „gehör[e] zu den wenigen jüdischen Schriftstellern in Prag, die das Tschechische verstanden und sprachen“ (Deleuze/Guattari 1976: 36). 6 Zur „Komplexität von nationalen Identitäten der Prager Juden“ und insbesondere von Kafka siehe Čapková (2006) und Nekula (2006).

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tierten, Klaus Wagenbach (sein Name erscheint zwölfmal im dünnen Band).7 Von Marthe Robert kann man z. B. in der Einleitung zu ihrer Übersetzung von Kafkas Tagebüchern folgende Zeilen lesen, die bei Deleuze und Guattari offenkundig tiefe Spuren hinterlassen haben: Tout, dans cette capitale qui n’est en fait qu’une petite ville, semble concerté pour faire naître l’idée d’une distance absurde, infranchissable, entre des hommes apparemment liés par les mêmes intérêts et le même genre de vie. Les différences de langues, de mœurs et de cultures qui maintiennent strictement séparés les trois groupes humains rassemblés là depuis des siècles, sont d’autant plus dérisoires qu’aucun de ces groupes n’a de peuple véritable derrière lui. Les Tchèques, affaiblis par la longue politique de germanisation des Habsbourg, ne peuvent pas plus que les Juifs se rattacher à une nation, et les Allemands de Bohême, séparés de l’Allemagne depuis deux siècles, se trouvent dans la position d’un petit groupe de colons qui ne pourrait se réclamer d’aucune métropole. A l’intérieur de leurs quartiers respectifs, les différentes couches de la population vivent dans un isolement d’autant plus figé que les différences de langues et de races se doublent de différences sociales tranchées. Si les Bohémiens allemands (Sudètes) et les Juifs forment une classe où dominent la haute bureaucratie et la bourgeoisie commerçante, le fond de la population laborieuse est constituée par les Tchèques. (Kafka 1954: 16)

In dieser Schilderung, die eher an die Zustände in einer afrikanischen Stadt erinnert, wie sie 1954 am Ende der französischen Kolonialzeit herrschen mochten, ist alles falsch: die Deutschen und Juden bildeten in Prag keine geschlossene Sprach- und Siedlungsgemeinschaft innerhalb eines größeren anderssprachigen Gebiets. […] Selbst einzelne Prager Straßen oder Mietshäuser waren ethnisch heterogen. […] Die Prager Deutschen lebten also als über das gesamte Stadtgebiet zerstreute Einsprengsel (Binder 1996: 186).

Man kann sogar von einer „engen räumlichen Nachbarschaft zwischen den Volksgruppen“ sprechen, was „nicht automatisch ein gesellschaftliches Miteinander“ bedeute, aber immerhin ein ghettoartiges Dasein ausschließe (Binder 1996: 186f.); darüber hinaus – so argumentiert Hartmut Binder weiter – bestanden in der Zeit der Donaumonarchie auf der Ebene der Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft zahlreiche Beziehungen zwischen der böhmischen Metropole und den geschlossenen deut-

7 Im Französischen waren damals von Marthe Robert – neben Übersetzungen – Introduction à la lecture de Kafka (Éditions du Sagittaire, 1946), L’Ancien et le nouveau: de Don Quichotte à Franz Kafka (Grasset, 1963), Kafka (Gallimard, 1960) sowie ihre wichtige Einleitung zum Journal (Grasset, 1954) verfügbar; von Klaus Wagenbach Franz Kafka: les années de jeunesse (1883-1912) [Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend, 1958], übersetzt von Elisabeth Gaspar (Mercure de France, 1967) und Kafka par lui-même [Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten] (1964), übersetzt von Alain Huriot (Seuil, 1968).

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schen Siedlungsgebieten in Nord- und Westböhmen, Österreich und dem Deutschen Reich […], die den linguistischen Terminus Sprachinsel unsinnig machen. (Binder 1996: 188)

Diese Beziehungen rissen zum Teil erst nach 1918 und provisorisch ab oder wurden zwischen dem liberalen Prag und den immer chauvinistischer und antisemitischer werdenden deutschen Randgebieten Böhmens (den sogenannten Sudètes) schwieriger; und wenn Hartmut Binder schließlich einräumt, „daß die Prager Deutschen mehrheitlich der Mittelschicht angehörten“, bedeutet das noch nicht, „daß Arbeiter und Handwerker fast gänzlich gefehlt hätten“ (Binder 1996: 196). Wie Binder bei mehreren deutschen Schriftstellern dieser Zeit feststellt, ermangelten [sie] während ihrer Entwicklungsjahre keineswegs eines ihrer Sozialisation entsprechenden volklichen Umfelds, wobei noch zu fragen wäre, ob denn überhaupt eine erfolgversprechende literarische Tätigkeit das Vorhandensein einer solchen Einbettung in die eigene Volksgruppe notwendigerweise voraussetzt. (Binder 1996: 197f.)

Auf die von Marthe Robert vorausgesetzte „Schwächung“ der Tschechen ist es nicht nötig näher einzugehen, da die Tschechen um 1900 ganz im Gegenteil einen bemerkenswerten, wohl dokumentierten Aufschwung auf allen Gebieten des kollektiven Lebens – also als ‚Volk‘ – erlebten. Hartmut Binder verweist mit Recht auf die romantische Auffassung vom Volk, die solchen Aussagen wie denen von Marthe Robert zugrunde liegt: Weder die Inselmetapher noch der Begriff ‚Ghetto‘ entsprächen dem damaligen Sprachgebrauch, Bewusstsein oder Lebensstil der Prager Deutschen; übrigens stammten „sämtliche Selbstprädikationen der genannten Art aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen“ (Binder 1996: 185): Sie wurden also im Rückblick formuliert, nachdem sich die Lebensverhältnisse in der ersten tschechoslowakischen Republik stark verändert hatten. In Anlehnung an Hartmut Binder erblickt Georg Escher auch in Paul Eisner den Hauptverantwortlichen für die erfolgreiche Verbreitung der Ghettothese, nach der die Prager Juden Opfer einer mehrfachen Exklusion gewesen wären und somit in einem dreifachen – religiösen, nationalen und sozialen – Ghetto8 gelebt hätten (Binder 2000): eine These, die der Prager Publizist „wahrscheinlich am klarsten und wirkungsvollsten auf den Punkt gebracht“ hat: Dem Modell wurde denn auch – zumeist in der Form des ‚dreifachen Ghettos‘ – ein bemerkenswertes Nachleben in der tschechischen wie westlichen Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre zuteil, indem es unter anderem von Klaus Wagenbach in seiner 8 Eisners These erlebte eine interessante Variation: vor dem Krieg hieß es, es sei ein ethnisches, psychisches und soziales Ghetto gewesen, nach dem Krieg ein religiöses, nationales und soziales (Binder 2000: 18-24).

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bahnbrechenden Kafka-Biografie und im Umfeld der Kafka-Konferenz in Liblice 1963 von Eduard Goldstücker an prominenter Stelle wieder aufgegriffen wurde. Später entfaltete es seine Wirkung indirekt auch in der berühmten Kafka-Studie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Vom ersten Kafka-Boom nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre hinein tauchen Eisners Thesen in der Fachliteratur zu Kafka und dessen Prager Zeitgenossen immer wieder unhinterfragt als soziohistorisches Beschreibungsmodell der Lebenswelt dieser Autoren auf […]. (Escher 2011: 259f.)

Deleuze und Guattari kannten Eduard Goldstücker nur über einen KafkaArtikel von Antonín Liehm, der 1973 auf Französisch in Sartres Les Temps Modernes veröffentlicht worden war (Deleuze/Guattari 1976: 130), aber zur Eisner-These gelangten sie tatsächlich über Klaus Wagenbach und vor allem über Marthe Robert, die sich ausdrücklich und im Zusammenhang mit der oben zitierten Stelle auf die englische Version von Eisners Studie über Kafka and Prague aus dem Jahre 1950 beruft (Kafka 1954: 16). Das Paradoxe dabei ist, dass beide Franzosen, weil sie mit Paul Eisners These indirekt zu tun hatten, wieder die Situation missverstehen und Argumente für eine deterritorialisierte Lektüre Kafkas gerade bei dem Autor suchen, für den sich „der Zugang zu Kafkas literarischem Werk prinzipiell in einer Lokalisierung“ finde (Escher 2011: 262): Für Eisner „sei [Kafkas Werk] wesentlich durch seine biografische Verortung in Prag geprägt und könne letztlich nur vor diesem Hintergrund gültig interpretiert werden.“ (Escher 2011: 258) Eigentlich knüpft Eisner mit seiner These, wie Georg Escher nachweist, an Josef Nadler und an den ihnen beiden gemeinsamen Lehrer, den Prager Germanisten August Sauer an, indem „Eisners Figur von Prag als Ghetto […] die doppelte Determinierung durch den Lebensraum und das biologistisch-ethnisch gedachte Kollektiv“ (Escher 2011: 263) enthält, die für Nadlers Verständnis von Literatur typisch sind.9 Eigentlich – so setzt Escher fort – bewirken die Vagheit der von Eisner gebrauchten Begriffe (Volk, Herkunft, Stamm u. dgl. mehr) und ihre damalige große Verbreitung über Nadler hinaus, dass „nicht ausschließlich Nadlersche Dimensionen […], sondern eine ganze Skala von Konnotationen“ darin Platz finden können von der „durchaus in einem biologistischen oder rassistischen Sinn ethnisch gedachten Abstammung“ über „individuell-biografische Dimensionen einer Familiengeschichte10 bis hin zu 9 Roger Bauer betont nachdrücklich, daß die Ghetto-Metapher im Sauer-Kreis allein schon wegen „deren Herkunft aus der jüdischen Geschichte“ nicht gebraucht werden konnte, auch weil es ihm darum ging, die deutschsprachige Literatur Österreichs (also Böhmens) als „gleichwertig und ebenbürtig der anderer deutscher Stämme“ zu etablieren (Bauer 1991: 12f.). S. a. Höppner (2007). 10 Hartmut Binder erklärt übrigens die Tatsache, dass Eisner eine solche Ghetto-These, „die in der Wirklichkeit keinen Anhalt hatte“, entwickeln konnte, mit persönlichen und famili-

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eigentlichen sozialgeschichtlichen Aspekten.“ (Escher 2011: 265) Dieser Umstand erklärt den Erfolg von Eisners dreifachem Ghetto „als symbolisch überdeterminiertem und zugleich offenem Topos […]“, der „sich [zum Schluss] fast nahtlos in eine marxistische Betrachtung der Prager deutschen Literatur“ einfügen konnte – namentlich bei Goldstücker und seinen Zeitgenossen, die ohne Weiteres auf Eisners Topos zurückgreifen konnten mit seinem Ansatz, Literatur aus ihrem Entstehungskontext zu erklären, [seiner] antiindividualisti­ sche[n] Rhetorik und insbesondere d[er] postulierte[n] Sehnsucht nach einer Verwurzelung im Volk. (Escher 2011: 266f.)

Auch diese Verschiebung des Begriffs Volk „von einem nationalistisch-pseudobiologischen Begriff hin zur marxistischen Kategorie der sozialen Klasse“, die „bereits bei Eisner angelegt ist“ (Escher 2011: 268), findet sich bei Deleuze und Guattari wieder, sodass Georg Escher mit Recht von einem „Kontinuum von rechtsnational-konservativer Literaturwissenschaft der 1930er und marxistisch orientierter Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre“ (Escher 2011: 268) sprechen kann: Dieser Reihe, die von Sauer und Nadler bis hin zu Goldstücker führt, schließen sich aber über Marthe Robert auch Deleuze und Guattari an, denen solch unerwünschte Nachbarschaft gewiss unbewusst war. Die Ghetto-These geht mit einem weiteren Topos einher, nämlich dem des vermeintlich verarmten Prager Deutsch, wie Roger Bauer anschaulich darstellt: Einer sagt es dem anderen nach: die karge, frugale und angeblich verarmte Sprache Kafkas (wie auch des jungen Rilke) erklärt sich einfach als Folge oder Epiphaenomen der Ghettoisierung des Prager Deutsch und der enstprechenden Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. (Bauer 1991: 11)

Und tatsächlich übernehmen ihn Deleuze und Guattari aus ihren beiden Quellen zu Kafka, Marthe Robert und Klaus Wagenbach, indem sie u. a. von Kafkas „Wortarmut“ und „inkorrekter Syntax“ sprechen (Deleuze/Guattari 1976: 32), nur dass sie diese Merkmale ins Positive drehen und zu Bedingungen einer deterritorialisierten, d. i. dem Sinn entrissenen Sprache machen im Dienste „einer neuen Expressivität, einer neuen Flexibilität, einer neuen Intensität“ (Deleuze/Guattari 1976: 33). Kafka mache die eigene Sprache kreativ, indem er sie „bis an ihre Extreme, ihre äußersten Grenzen“ spanne und gelegentlich unter Schmerzen zur „Diskordanz“ bringe (Deleuze/Guattari engeschichtlichen Angelegenheiten – als „Hypostasierung von Verhältnissen, unter denen er gelebt ha[be]“ (Binder 2000: 80f.). Georg Escher stimmt in diesem Punkt mit ihm überein: „Darin liegt wohl nicht so sehr die Tragik des Autors Franz Kafka, sondern vielmehr jene des Autors Paul/Pavel Eisner.“ (Escher 2011: 270)

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1976: 33). Das ist eine Version der These, die Roger Bauer schon zum Teil in den 1960er-Jahren bei Eduard Goldstücker und Emil Skála findet: Beide tschechischen Germanisten „nehmen selbstverständlich Rilke und Kafka vom Vorwurf der sprachlichen Verarmung aus“ und „erkennen ihre erneuernde Kraft“, so Bauer, auch wenn sie die vermeintliche Spracharmut in Bezug auf die Prager Deutschen doch nicht in Frage stellen (Bauer 1991: 11). Aber diese „Legende vom verarmten Prager Deutsch“ (Bauer 1991: 11) fällt jedoch bei Paul Eisner, der schon wieder als deren Hauptpropagator in den Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden kann, nicht so gut aus, indem sie bei ihm als Resultat und Beweis der Isolierung der deutschsprachigen Prager fungiert. Hartmut Binder geht seinerseits der Spur dieser Legende von Paul Eisner über Otto Pick und Oskar Wiener (d. i. Prager Juden, die „den jüdischen Nationalismus ablehnten und sich als Deutsche fühlten“; Binder 1996: 194) bis zu Fritz Mauthner nach: Der aus Prag stammende Mauthner vertritt in [seinen Erinnerungen aus dem Jahre 191811] die These, die im Innern Böhmens lebenden Deutschen sprächen ein ‚papierenes Deutsch‘, das ihn selbst für die ‚Wortkunst‘ untauglich gemacht habe, weil er keine eigene Mundart besitze, des ‚erdgewachsenen Ausdrucks‘ ermangle, eine Behauptung, die, ohne je ernsthaft überprüft worden zu sein, bis in die Gegenwart hinein immer wieder nachgebetet wurde, obwohl doch Mauthner selbst ausdrücklich bemerkt, was er zu erzählen habe, gelte ‚nicht mehr für die gegenwärtigen Verhältnisse‘. (Binder 1996: 198)

Offensichtlich trug die anschauliche Kraft des metaphorisch qualifizierten „papierenen Deutsch“ entscheidend zur Verbreitung dieser These bei, die auch bei Deleuze und Guattari mit dem Ausdruck „langage de papier“ (papierene Sprache) in Anführungszeichen und in Anlehnung an Klaus Wagenbach direkt vertreten ist (Deleuze/Guattari 1976: 24, 27): das Papierene fasst augenfällig alle Merkmale zusammen, die das Prager Deutsch charakterisieren soll als künstliches, rein mechanisches, abgeleitetes und zum Teil unreines, lebloses Produkt eines abseits vom Volk geführten Daseins. So beschreibt auch Marthe Robert die Sprache der Prager Schriftsteller in Worten, die Deleuze und Guattari von ihr fast wortwörtlich, allerdings unerörtert übernehmen: L’écrivain allemand de Prague – qu’il fût Juif ou non – héritait d’une langue dont l’état ne reflétait que trop bien celui du petit groupe qui lui la parlait. Coupée de tout langage populaire, tenue à l’écart de la vie profonde qui, en Allemagne, nourrissait de toutes parts la littérature, elle souffrait du même déracinement que les hommes, se trouvait, comme eux, privée d’une tradition et d’une histoire. Desséchée par un usage restreint, elle était en même temps corrompue par les deux autres langues qui empiétaient sur son territoire: le 11 Hartmut Binder verweist hier auf Fritz Mauthners Erinnerungen I. Prager Jugendjahre. München: Georg Müller 1918, S. 39 und 51.

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bohémien et le yiddish. Rigide et pauvre, elle n’offrait au poète que de maigres ressources naturelles et l’obligeait à tirer du néant ses propres moyens d’expression. Tous les écrivains praguois de cette époque, y compris Rilke et Werfel, ont eu à surmonter à la fois la corruption et l’indigence de leur langue. (Kafka 1954: 20f.)

Schon Marthe Robert erklärt mit diesem Kontext „die künstliche und künstlerische Sprödigkeit der Sprache Kafkas“ (Bauer 1991: 15): Zwar bringe Kafka dem Deutschen nichts mit, was sein eigenes Gebiet erweitern könne, aber er grabe tief in die Sprache, um deren vergessene Ausdruckskraft wieder freizusetzen (Kafka 1954: 25). Hier wird der Ansatz für Deleuze’ und Guattaris Auffassung von Kafkas innovatorischem Sprachgebrauch deutlich, den sie dann zum Modell der notwendigen Deterritorialisierung der Sprache entwickeln. Wenn man aber im Gegensatz zu Marthe Robert die Wandlungen der ‚legenda‘ der von den nationalen Urenergien abgeschnittenen und deshalb kraft- und leblosen Sprache nachvollzieht und sie als vorgeprägtes Denkschema entlarvt, verliert „die Erklärung der angeblichen Verarmung [von Kafkas] Sprache infolge lokaler Zwänge […] ihre Plausibilität.“ (Bauer 1991: 13, 15) Denn das Modell einer literarischen Sprache, der allein eine Volkssprache Kraft und Leben einflößen könnte und die ihre Formen nur aus sich selbst zu gebären hätte, um sich von jedem ‚fremden‘, ihrer ‚Reinheit‘ drohenden Einfluss fernzuhalten, weist deutlich romantische Züge auf und knüpft an die schon erwähnte Herdersche Auffassung von Volk an. So bemüht sich Bauer, Kafkas ästhetische Strategien nicht nur im Prager soziohistorischen Kontext, dessen Interpretation von so vielen Klischees abhängig ist, sondern auch im europäischen literarischen Kontext seiner Zeit zu verorten, nämlich in der „Kontinuität der post-baudelaire’schen modernen Dichtung“ (Bauer 1991: 13-16 ; s. a. Gernig 1999: 102-122). Auch Milan Kundera glaube „an eine bewußte poetische Strategie“ Kafkas und weigere sich, „Kafkas reduktionistischen Stil, sein relativ begrenztes Vokabular mit der soziolinguistischen Situation in Prag“ zu begründen (Schmeling 1999: 300). Schwierig zu beantworten bleibt die Frage, was Deleuze und Guattari sowie vor ihnen Marthe Robert hinderte, Paul Eisners Thesen sowohl zum „dreifachen Ghetto“, in dem die Prager Juden gelebt hätten, als auch zur „papierenen“ Sprache und zum Werk Kafkas als kausal bestimmten Resultaten dieses vermeintlichen soziohistorischen Kontexts einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Auch bei Eisner selbst lässt sich nicht leicht entscheiden, welche Ziele er mit der Verbreitung dieser Thesen verfolgte. Georg Escher glaubt nicht an seinen Willen, Kafka zu instrumentalisieren und ihn anhand seiner Thesen „für tschechische, tschechojüdische oder später marxistische Positionen akzeptabel zu machen“ (Escher 2011: 269); so bleibt Escher bei der

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Feststellung von Eisners gleichzeitiger und paradoxer Behauptung, Kafkas Werk sei isoliert und doch spezifisch verortet im deutsch-jüdischen Prag des frühen 20. Jahrhunderts (Escher 2011: 270). Eine Erklärung für Deleuze’ und Guattaris Verblendung ist eben auf diesem Gebiet der komplexen Beziehung zwischen dem literarischen Werk und dem soziohistorischen Kontext seines Entstehens zu suchen und auf dem Gebiet des Gebrauchs, den die Interpreten davon machen. Kafkas Rezeption zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie bis heute stets zwischen textimmanenten, den Entstehungskontext außer Acht lassenden Interpretationen und anderen, die im Gegenteil das lebensweltliche Umfeld des Autors mit einbeziehen, oszilliert hat. So bedauert Steffen Höhne eine starke „Tendenz zur Entkontextualisierung“ in der Interpretationskultur um Kafkas Werk, denn abgesehen von der Thematisierung der jüdisch-zionistischen Problematik bzw. von biographisch orientierten Beiträgen [bleibt] eine weitergehende Kontextualisierung von Kafka und seinem Werk häufig ausgeblendet, sozial- und kulturgeschichtliche Rückbindungen erscheinen immer noch unterrepräsentiert. (Höhne 2012: 35f.)

Dieses bei Kafkas, von dem man „zunächst so gut wie nichts wusste“, besonders prägnante Defizit ist wahrscheinlich auf die Besonderheiten der frühen Kafka-Rezeption zurückzuführen; gepaart mit den „gerade in Frankreich gültigen Stiltraditionen und geistigen Tendenzen“, so Manfred Schmeling, bewirkte dieser Umstand „vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten“ unzählige „Manipulationen.“ (Schmeling 1996: 297f.) Wie Manfred Schmeling überzeugend nachweist, kennzeichne die „Anfangsphase der französischen Kafka-Rezeption“ erstens, dass die Übersetzer eigentlich keine „professionellen Übersetzer“ waren, sondern ausgezeichnete Schriftsteller, die den hermeneutischen Freiraum um Kafka in Anspruch nahmen und auch gleich als Exegeten fungierten; zweitens ist die Zielkultur Frankreich schon immer sehr dominant gewesen und hat sich aufgrund der vermeintlichen ‚französischen Kulturüberlegenheit‘ gern fremde Autoren angeeignet (Schmeling 1996: 298, 293). So ist die Tatsache, dass Marthe Robert nach dem Krieg so nachdrücklich auf den Hintergrund von Kafkas Werk hinweist, als Reaktion auf die Gleichgültigkeit der ersten französischen Interpreten gegenüber der historisch-biographischen Situation von Kafka und auf ihre Aneignungsstrategien zu verstehen: Marthe Roberts Kritik an den Aneignungen Kafkas durch Surrealisten oder Existentialisten, durch Religionsphilosophen wie Groethuysen und tendenziöse Übersetzer wie Vialatte beruht freilich auf der Annahme, daß eben auch ein Kafka (sie spricht vom ‚wahren‘ Kafka) den Anspruch auf Objektivierbarkeit, auf adäquate Rezeption mithin, erheben kann. In der Tat ist wohl kaum ein Autor je so der Subjektivität von Rezipienten oder, allgemeiner

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gesagt, den Manipulationen der Zielkultur(en) ausgesetzt gewesen wie gerade Kafka. Für den französischen Bereich stehen die Namen von Breton, Klossowski, Vialatte, Camus, Sartre, Robbe-Grillet, Sarraute, Perec und vielen anderen. (Schmeling 1996: 297f.)12

Es steht also fest, dass Marthe Robert dem Trend der Entkontextualisierung Kafkas entgegenzuwirken vermeinte, der sich innerlich von der Abwesenheit konkreter Referenzen auf seine Lebenswelt in den Kafka’schen Texten und äußerlich von der im Kalten Krieg immer größer werdenden Ferne Prags nährte, indem sie kritiklos zu Eisners Thesen als Modell einer Verortung Kafkas in Prag griff. Diese Thesen hatten übrigens den Vorteil, nicht nur augenfällig und plausibel zu sein, sondern auch gefügig und dehnbar genug, um sich – wie bereits angedeutet – einer ganzen Skala von zum Teil widersprüchlichen Konnotationen zu öffnen (Escher 2011: 265f.). Deshalb konnten Deleuze und Guattari, die ebenfalls mit den analogischen und allegorischen Deutungsmustern der hermeneutischen Tradition brechen wollten, zum einen Marthe Roberts Anspruch, Kafkas Lebenssituation nicht außer Acht zu lassen, gerecht werden (bzw. diesen Anspruch gegen Marthe Robert selbst anwenden) und zum anderen die spezifische Konstellation Prags umdeuten in ein über das Lokale hinaus­gehendes, allgemeingültiges Modell der ‚littérature mineure‘ als Aufruf zur „Deterritorialisierung“, d. i. schließlich zu einer erneuten Entkontextualisierung: Das Problem einer kleinen Literatur, aber auch unser aller Problem: Wie kann man der eigenen Sprache eine Literatur abzwingen, die fähig ist, die Sprache auszugraben und sie freizusetzen auf eine nüchtern-revolutionäre Linie? Wie wird man in der eigenen Sprache Nomade, Fremder, Zigeuner? Kafka sagt: Indem man das Kind aus der Wiege stiehlt, indem man auf einem Seil tanzt. (Deleuze/Guattari 1976: 29)

Hier schließt sich der Kreis: Vom typischen Vertreter einer minoritären Literatur wird Kafka zum Propagandisten derselben, wobei Deleuze und Guattari von dem Falle Kafka zu ‚uns allen‘ übergehen. Damit missverstehen sie nicht 12 So liest man zum Beispiel im Beitrag von Marthe Robert zu Hartmut Binders Kafka-Handbuch: ‚Die merkwürdige, ja fast zu große Gastfreundlichkeit, die Kafka in Frankreich zuteil wurde, hing also hauptsächlich von seinem Mangel an sozialem und nationalem Hintergrund ab; da nähere Informationen fehlten und überdies nicht für so wichtig gehalten wurden, schuf man spontan aus der ungewohnten Situation eine Art von absolutem Exil. Hier hatte man es nicht mit einem ausländischen Dichter zu tun, dem seine Heimat, seine Sprache, seine Literatur nicht verlorengehen können, wenn er auch verfolgt oder mißverstanden wird, sondern mit einem Verbannten an sich, der aus einem Anderswo kam, von dem man nur wußte, daß seine geschichtliche und sprachliche Beschaffenheit eine sehr komplizierte gewesen war. Das Wie und Warum aber war entweder schlecht bekannt oder schon halb vergessen, so daß es nahelag, das Anderswo mit einem Nirgendwo gleichzusetzen.‘ (Robert 1979a: 679)

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nur Kafkas Überlegungen zu den kleinen Literaturen innerhalb ihres Entstehungskontexts ganz, sondern verwandeln sie auch präskriptiv in „ein politisches Programm“ (Deleuze/Guattari 1976: 25). Die Aufzählung der Vorteile kleiner Literaturen, so wie sie bei einem leicht spöttischen, doch etwas neidischen Kafka zu lesen ist,13 wird in diesem Zusammenhang zu „Zielen“, die erreicht werden müssen (Deleuze/Guattari 1976: 25), denn jeder sollte sich schließlich bemühen, am Beispiel Kafkas „die eigene Sprache, auch wenn sie einheitlich und [groß] ist oder war, wie eine kleine Sprache zu benutzen. In der eigenen Sprache wie ein Fremder leben“ (Deleuze/Guattari 1976: 38; Herv. i. Orig.). Konkret soll die Sprache als Machtinstrument entkräftet werden, und zwar indem sie von der Sinnsuche abgekoppelt wird, um an „Intensität“, an „Expressivität“, an „Erfindungskraft“ zu gewinnen. In anderen Worten handelt es sich für Deleuze und Guattari darum, zu einem perfekten und nicht geformten, intensiv-materialen Ausdruck [zu] gelangen, […] das Unterdrückte in der Sprache dem Unter­drückenden in der Sprache entgegen[zu]stellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung [zu] finden, die Regionen der sprachlichen Dritten Welt, durch die eine Sprache entkommt, eine Verkettung sich schließt. (Deleuze/Guattari 1976: 28, 38f.)

So vage dieses als Horizont gedachte Ideal sein mag, es muss natürlich im Kontext der 1970er-Jahre in Frankreich – die Anspielung auf Nietzsches Seiltänzer in dem oben angeführten Zitat fungiert hier als Signatur – verstanden werden, als es darum ging, die Beziehungen zwischen Literatur und Politik nach 1968 neu zu denken. Für die französische libertäre Linke war die Litera13 Diese Liste befindet sich am Anfang der Aufzeichnungen vom 25.12.1911: „die Bewegung der Geister, das einheitliche Zusammenhalten des im äußern Leben oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewußtseins der Stolz und der Rückhalt, den die Nation durch eine Litteratur für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält, dieses Tagebuchführen einer Nation, das etwas ganz anderes ist als Geschichtsschreibung und als Folge dessen, eine schnellere und doch immer vielseitig überprüfte Entwicklung, die detaillierte Vergeistichung des großflächigen öffentlichen Lebens, die Bindung unzufriedener Elemente, die hier, wo Schaden nur durch Lässigkeit entstehen kann, sofort nützen, die durch das Getriebe der Zeitschriften sich bildende, immer auf das Ganze angewiesene Gliederung des Volkes, die Einschränkung der Aufmerksamkeit der Nation auf ihren eigenen Kreis und Aufnahme des Fremden nur in der Spiegelung, das Entstehen der Achtung vor litterarisch tätigen Personen, die vorübergehende aber nachwirkende Erweckung höheren Strebens unter den Heranwachsenden, die Übernahme litterarischer Vorkommnisse in die politischen Sorgen, die Veredlung und Besprechungsmöglichkeit des Gegensatzes zwischen Vätern und Söhnen, die Darbietung der nationalen Fehler in einer zwar besonders schmerzlichen, aber verzeihungswürdigen und befreienden Weise, das Entstehen eines lebhaften und deshalb selbstbewußten Buchhandels und der Gier nach Büchern – […].“ (Kafka 1990: 312f.)

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tur nämlich nicht mehr außerhalb der Kritik von Machtverhältnissen, zu der sie übrigens aktiv beitragen sollte, zu analysieren (Casanova 1997: 235). AntiHermeneutik und politisches Engagement fließen hier zusammen. Damit ist aber ein weiterer Schritt in Kafkas Instrumentalisierung getan: Dort, wo der Prager Autor kleine Literaturen als Ort für die Konstituierung eines nationalen Kollektivs mit ihren Vor- und Nachteilen, also eher als konservativen Prozess zur Kreierung und Erhaltung der Nation sieht, wird die minoritäre oder vielmehr minoritär praktizierte Literatur für Deleuze und Guattari zum ‚revolutionären‘ Mittel par excellence, um sich der politischen und kulturellen Dominanz einer fremden, quantitativ überlegenen Gruppe zu entziehen. Und das Fazit lautet: „groß und revolutionär“ ist nur das Minoritäre (Deleuze/Guattari 1976: 37). Das Missverständnis ist hier zwar einleuchtend, muss jedoch richtig eingeschätzt werden; denn so groß das Defizit auf dem Gebiet des Sinntransfers auch ausfallen mag, es kann doch auf dem Gebiet der Sinnproduktion durchaus positiv bewertet werden. Einerseits existiere, so Manfred Schmeling über die an Missverständnissen besonders reiche KafkaRezeption in Frankreich, der beschriebene Vorgang, den man in der komparatischen Literaturtheorie auch gerne als ‚schöpferischen Verrat‘ bezeichnet, […] zu allen Zeiten und in allen nur denkbaren Formen […]. Mißverstehen oder schöpferischer Verrat sind die Konsequenz einer Distanz, die zunächst einmal sprachlich bedingt ist. (Schmeling 1996: 293, 296)

Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass Deleuze und Guattari unter Berufung auf Kafka ein wirkungsmächtiges Modell entwickelt haben, das bis heute entscheidend zur Reflexion über „Literatur[en] [von] Minderheit[en], die sich einer großen Sprache bedien[en]“ (Deleuze/Guattari 1976: 24) beiträgt (Jäger 2005). So könnte der hier beschriebene und als Missverständnis abgestempelte Rezeptionsvorgang schließlich unter dem Blickpunkt der kulturellen Produktivität ‚salviert‘ werden: Denn die Literaturgeschichte, auch was die Geschichte der Kafka-Übersetzungen, -Bearbeitungen, -Reminiszenzen etc. betrifft, lehrt uns in der Tat, daß Mißverständnisse im Sinne einer ‚nicht-adäquaten Rezeption‘ kulturell durchaus produktiv sein können. […] verhält sich die Rezeption gegenüber diesem Autor nicht gerade dadurch ‚adäquat‘, daß sie keine Deutung von vornherein ausschließt? […] Die moderne Literaturtheorie hat die Lektion der Romantiker, daß kein (literarischer) Textsinn ‚endlich‘ sei, auf ihre Weise umgesetzt: […] Wenn wir, beispielsweise mit Hans-Robert Jauß, anerkennen, daß ‚im inadäquaten Verstehen die Voraussetzung und Eigentümlichkeit allen Kunstverstehens‘ liegt, dann brauchen wir uns über diese oder jene dogmatische Deutung Kafkas, sei sie politisch-ideologisch, religiös oder eng psychoanalytisch ausgerichtet, nicht mehr zu entrüsten. (Schmeling 1996: 294f.)

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Solche Entrüstung erscheint übrigens im Falle von Deleuze und Guattari besonders unangebracht, da beide Denker von vornherein jeden Verweis auf einen vorgeprägten, zwingenden Sinn verweigern und sogar den Begriff Text an sich in Frage stellen. Auch wenn ihr Verständnis von Kafkas Tagebuchaufzeichnungen nicht intendiert gewesen ist, könnte man nicht sogar argumentieren, dass sie dadurch einen neuen, unerwarteten Sinn hinzugewinnen? Ist nicht Innovation am Ende wichtiger als (adäquate) Rezeption? Diese Fragen muss man im hiesigen Fall entschieden verneinen. Natürlich wird nicht erwartet, dass auf eine rein textimmanente Deutung von Kafkas Überlegungen zu den kleinen Literaturen ohne Kontextualisierung zurückgegriffen oder umgekehrt dass der Kontext, in dem sie entstanden sind, als einzige Sinninstanz verabsolutiert wird. Aber die Art und Weise, wie Deleuze und Guattari mit Kafkas (übersetzten) Worten umgehen, erscheint als höchst fragwürdig. Sie bedienen sich eigentlich seiner nur als Autoritätsprinzip, um mit dem Namen Kafka ihr eigenes Modell zu legitimieren und durchzusetzen. Dabei wird nicht mehr Sinn gewonnen, sondern einfach Sinn verloren, denn nichts kann vermuten lassen, dass Kafka diese Zeilen als ganz sinnlos konzipiert hätte, auch wenn Kafka mit dem eigenen Text unzufrieden war (s. u.) und wenn die Autorenintention „ohnehin schwer genug zu rekonstruieren ist“ (Schmeling 1996: 296). Immerhin sind die Tagebucheinträge vom Dezember 1911 durch Deleuze’ und Guattaris Eingriff bis zur Unverständlichkeit und sogar zur Unsichtbarkeit verzerrt. Wenn Kafkas Aufzeichnungen doch richtig kontextualisiert werden, so können sie als das gelesen werden, was sie sind: ein theoretischer Entwurf zu den Beziehungen von Literatur und Nation, wie sie sich vorzüglich im Falle der tschechischen Literatur offenbaren. Es leuchtet nämlich ein, dass Kafka in seiner Reflexion die jiddische Literatur bald außer Acht lässt, weil sie ihm fremd ist und vorerst rein analogisch als Bezugspunkt für die tschechische Literatur dient. Gerhard Lauer zeigt überzeugend, wie mittelbar, lückenhaft und oberflächlich Kafkas Kenntnisse auf dem Gebiet der Jiddischkeit sind: Wenn Kafka ins jiddische Theater ging, dann betrat er eine bürgerliche Einrichtung des 19. Jahrhunderts, [die] mit der orthodoxen Welt des frühneuzeitlichen Judentums nichts zu tun [hatte,]

und in seiner Rede vom 18. Februar 1912 zur jiddischen Sprache übernimmt [er] für seine Charakteristik des Jiddischen Merkmale, wie sie zeittypisch Pinès in der Einleitung zu seiner jiddischen Literaturgeschichte aufzählt […]. Weder ist das Jiddische ungrammatisch, noch hat es mehr Fremdworte als andere. (Lauer 2006: 135, 140f.)

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Solche ‚zeittypischen‘ Vorurteile, deren nachhaltige Wirkung noch bei Marthe Robert spürbar ist, wenn sie schreibt, der Jargon sei nicht einmal wert, als Sprache betrachtet zu werden (Robert 1979b: 201), waren für Kafka kein sicherer Zugang zur Welt der Ostjuden, wie er das selber ahnt. Allerdings hatte er genug Spürsinn und Einsicht, die jiddische und die tschechische Literatur unter ein Dach zu bringen, denn die Ostjuden befanden sich damals tatsächlich zum Teil im selben Prozess der sprachzentrierten Nationsbildung nach Herderschem Muster wie die Tschechen, nur dass dieser Prozess in Osteuropa etwas später einsetzte und mit anderen Projekten für die Juden (u. a. Assimilation, Zionismus) zu konkurrieren hatte (Bechtel 2001: 21-74). Kafkas Kenntnisse der tschechischsprachigen Kulturwelt waren unzweifelhaft größer und besser, wie der Entwurf vom 25. Dezember 1911 trotz der großen Knappheit des sprachlichen Ausdrucks erkennen lässt. Als Probe sollen hier zwei Stellen herangezogen werden: Wenn Kafka z. B. schreibt, die Lebhaftigkeit einer an großen Talenten mangelnden „Litteratur“ sei sogar größer als die einer talentreichen, denn da es hier keinen Schriftsteller giebt, vor dessen Begabung wenigstens die Mehrzahl der Zweifler zu schweigen hätte, bekommt der litterarische Streit in größtem Ausmaß eine wirkliche Berechtigung. Die von keiner Begabung durchbrochene Litteratur zeigt deshalb auch keine Lücken, durch die sich Gleichgültige drücken könnten. Der Anspruch der Litteratur auf Aufmerksamkeit wird dadurch zwingender. Die Selbständigkeit des einzelnen Schriftstellers, natürlich nur innerhalb der nationalen Grenzen, wird besser gewahrt. Der Mangel unwiderstehlicher nationaler Vorbilder hält völlig Unfähige von der Litteratur ab. Aber selbst schwache Fähigkeiten genügen nicht, um sich von den undeutlichen Charakterzeichen der eben herrschenden Schriftsteller beeinflussen zu lassen oder die Ergebnisse fremder Litteraturen einzuführen oder die schon eingeführte fremde Litteratur nachzuahmen (Kafka 1990: 314).

So treten diese leicht ironischen Ausführungen in Widerspruch zu den Befürchtungen mancher tschechischer Intellektueller der Jahrhundertwende, die Nation habe die Literatur bisher allzu sehr instrumentalisiert und hindere die Entwicklung großer Talente, indem sie sich fremden Einflüssen verschließe in der Annahme, sie würde so ihrer Literatur einen größeren Dienst leisten, sie ‚tschechischer‘ machen – aber „eine unvollendete Nation kann keine vollendete Literatur haben“, so Jiří Karásek ze Lvovic, wobei er die bestehende Hierarchie von Nation und Literatur umkehrt.14 Kafka verfährt manchmal 14  „Jedno vás však při všem tom stále překvapuje: že máme sice literáty a sice slušnou část jich, kteří dokázali relativně dobré věci, ale že nemáme naprosto ještě žádné literatury. To jest, že nemáme literatury, která by se jako celek při vší různosti svých představitelů representovala, jako se representuje na př. literatura francouzská, jako se representuje v typické čistotě literatura anglická a jako se representují i tak malé literatury, jako je dánská nebo norská. Snad pohoršuji tak nahým konstatováním nemilého fakta, ale nemělo by smyslu

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sogar unmittelbarer und spielt direkt auf ein bestimmtes Ereignis aus dem kulturellen und somit politischen Leben Prags an, das 1911 noch im Gedächtnis lebendig war, nämlich die Affäre um die Königinhofer und Grünberger Handschriften, die T. G. Masaryk als literarische Fälschung entlarvt hatte. Wenn Kafka von der „Darbietung der nationalen Fehler in einer zwar besonders schmerzlichen, aber verzeihungswürdigen und befreienden Weise“ schreibt (Kafka 1990: 313), klingen da die Worte von Jan Gebauer mit, der 1886 schrieb: Nemohu vysloviti, jak mi nálezy tyto bývaly trapné a jaký mi způsobovaly zármutek. Bylyť úplně proti mému přání a nadání; bořily, co jsem dotud měl za pevné a co jsem se strojil upevniti ještě více; a přiváděly mi na mysl, že mi časem nastane povinnosť, předložiti tyto věci ku povážení obecnému - povinnosť zajisté vědecká a vlastenecká, ale spolu těžká a traplivá, poněvadž zpráva nepříjemná nikdy se ráda neslyší. (Gebauer 1886: 160; Herv. i. Orig.) [Ich kann nicht ausdrücken, wie peinlich mir diese Erkenntnisse waren, wie traurig sie mich stimmten. Sie liefen sowohl meinen Wünschen als auch meinen Erwartungen völlig entgegen; sie ruinierten das, was ich bisher für felsenfest hielt und was ich mich anschickte, noch weiter zu festigen; und sie brachten mich auf den Gedanken, dass mir mit der Zeit die Pflicht obliegen würde, allen diese Sachen zur Prüfung zu unterbreiten – eine zwar wissenschaftliche und patriotische, aber gleichzeitig schwierige und peinliche Pflicht, weil man eine schlechte Nachricht nie gern hört.]

Dass solche genaueren oder allgemeineren Anspielungen auf den tschechischsprachigen Kontext unsichtbar werden, muss sicher als Verlust eingestuft wermlčeti z falešného vlasteneckého studu nebo snad dokonce tvrditi opak. Stejné jako by bylo bláhové mysliti, že vystavíme-li kolem sebe čínskou zeď odmítavosti, budeme-li důsledně a vytrvale ignorovati vše, co v Německu nebo ve Francii se vytiskne, co bude míti cizí marku, pomůžeme tím cburavé českosti domácího písemnictví na nohy, učiníme svou literaturu národnější, výraznější, typičtější, slovem češtější. […] Nehotový národ nemůže míti hotové literatury. (Karásek ze Lvovic 1894: 470f.) [Dabei ist man aber immer wieder überrascht von der Tatsache, dass wir zwar Literaten haben, von denen ein ziemlich großer Teil relativ gute Sachen hervorzubringen vermag, aber dass wir einfach noch keine Literatur haben. D. i., dass wir keine Literatur haben, die sich über alle Unterschiede der einzelnen Vertreter hinweg als Ganzes darbieten würde, wie sich z. B. die französische Literatur, wie sich die englische Literatur als reiner Typus, wie sich selbst kleine Literaturen wie die dänische oder die norwegische darbieten. Möglicherweise treibe ich somit die bloße Feststellung einer unangenehmen Tatsache zu weit, aber es wäre hier fehl am Platz, aus unangebrachter patriotischer Scham darüber zu schweigen oder sogar das Gegenteil zu behaupten. Genauso töricht wäre der Gedanke, wir könnten dadurch, dass wir zur Abweisung alles Fremden eine chinesische Mauer um uns herum errichten und alles konsequent und beharrlich igno­ rieren, was in Deutschland oder in Frankreich gedruckt wird und also fremd markiert ist, dem kränklichen Tschechentum unseres Schrifttums auf die Beine helfen, also der Gedanke, wir würden damit unsere Literatur nationaler, expressiver, typischer, in einem Wort tschechischer machen. (…) Eine unfertige Nation kann keine fertige Literatur haben.]

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den. So darf man wohl bei Deleuze’ und Guattaris Umdeutung des Begriffs „Kleine Literatur“ von Ignoranz und Manipulation oder mit Michael Schmidt zusammenfassend von Dilettantismus sprechen, einem Terminus, der sich auf den Zeitgeist der 1970er-Jahre und deren Umgang mit literarischen Texten besonders gut anwenden lässt (Schmidt 2009, 2010). Denn auch wenn beide französischen Kafka-Exegeten Anerkennung dafür verdienen, dass sie die Kritik auf die so wichtigen Tagebucheinträge vom Dezember 1911 aufmerksam gemacht haben, haben sie damit am Ende Kafka eher geschadet als gedient. Ob „Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris auf Kafka aufbauendes Modell der ‚kleinen Literatur‘“ (oder eher Poetologie des Minoritärwerdens, so Jäger 2002) trotzdem „zur Beschreibung der kulturtopographischen Ausdifferenzierungen der deutschsprachigen Literatur jenseits räumlicher Kausalitäten und Heimatzuordnungen“ und somit „zur Neufassung des Begriffs Prager deutsche Literatur“ beitragen kann, wie sich Georg Escher in Anlehnung an Michael Böhler wünscht (Escher 2010: 206), wollen wir einmal dahingestellt lassen.

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Philippe Wellnitz

Traduttore, tradittore. Die französischen Kafka-Übersetzungen von Alexandre Vialatte bis heute Franz Kafkas Name und Werk gehören in Frankreich mit Cervantes’ Don Quijote und vielen großen Dramen Shakespeares zum allgemeinen Bildungsgut, – so sehr, dass man oft im Sinne der ‚culture générale‘ versucht ist, darüber Kafkas Nationalität bzw. seine Ursprungssprache zu vergessen – ganz im Gegensatz zu Goethe, der eben gerade für die ‚langue de Goethe‘, das Deutsche, steht, den aber hingegen nicht unbedingt fast alle in Frankreich gelesen haben, wie dies bei Kafka der Fall ist. Denn in der Tat ist es in Frankreich so, dass zum Beispiel Kafkas Verwandlung zur obligaten Lektüre in der 4e/3e gehört (also den Klassen der allgemeinbildenden Sekundarstufe I, in der die Schüler ca. 14/15 Jahre alt sind). Wegen der bestehenden Schulpflicht bis 16 Jahre kennen im Prinzip also (fast) alle Franzosen Kafka, jedenfalls diejenigen, die allgemeinbildende Schulen besucht haben. Nur die Deutschklassen lesen Kafka im Original, oft in zweisprachigen Ausgaben, alle anderen Schüler eines Jahrgangs lesen in der Regel die gängigen französischen Übersetzungen (bzw. darauf basierende, didaktisierte Schulausgaben), von denen drei in der allgemeinen französischen Kafka-Rezeption prägend gewesen sind. Auch auf akademischem Niveau und beim gebildeten Publikum fand nur in den seltensten Fällen die französische Kafka-Rezeption anders als auf dem Weg über diese drei gängigen Übersetzungen statt. Deshalb wollen wir paradigmatisch anhand der Übersetzungen des Amerika/Verschollenen-Romans deren möglichen Einfluss auf Kafkas Wirkung in Frankreich kurz beleuchten. Da Frankreich (mit Japan) zu den nicht-deutschsprachigen Ländern gehört, die Kafka sehr stark rezipiert haben (Caputo-Mayr/Herz 2000) bzw. früh eigene Interpretationen z. B. unter dem Einfluss von Camus’ L’espoir et l’absurde herausgebildet haben, kommt es auch auf den kulturellen Kontext der Rezeption durch diese Übersetzungen an. Drei Namen großer Übersetzer stehen hierbei im Vordergrund: Zunächst Alexandre Vialatte (1901-1971). Er war selbst Schriftsteller und Publizist, entdeckte 1925 Kafkas Werk, als er im besetzten Rheinland in Mainz von 1922 bis 1928 bei den Rheinischen Blättern als Journalist arbeitete. Der zweite

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Übersetzer war der Professor für Germanistik Claude David (1913-1999), der an der Sorbonne lehrte. Als dritten großen Kafka-Übersetzer muss man Bernard Lortholary (*1936) nennen, der zwar im Hauptberuf Germanist an der Sorbonne war, dessen eigentliche Bedeutung aber auf seine Tätigkeit als Übersetzer zurückgeht, die durch zahlreiche Preise entsprechend gewürdigt wurde, zuletzt durch den Prix de l’Académie de Berlin 2012. Es gibt noch viele andere Kafka-Übersetzer in Frankreich, so z.  B. die Philologin Marthe Robert (1914-1996), die Kafkas Tagebücher und Briefe übersetzt hat, sowie Georges-Arthur Goldschmidt (*1928). Wichtig sind aber die drei erstgenannten Übersetzer (Vialatte/David/Lortholary), weil sie in unterschiedlichen Ausgaben beziehungsweise Verlagen auf dem französischen Buchmarkt erhältlich sind, was einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Kafka-Rezeption in Frankreich hat. Wir wollen uns hier paradigmatisch auf Kafkas Amerika-Roman konzen­ rieren. Nimmt man Vialattes Übersetzung von Kafkas Amerika, eben weil sie einem sehr breiten Publikum in der gängigsten Taschenbuchausgabe (Kafka 1973), nämlich Folio, zugänglich ist, so handelt es sich um die am häufigsten gelesene französische Kafka-Ausgabe, obwohl diese Übersetzung, die erste französische Übersetzung des Romanes, aus dem Jahre 1946 stammt. Bei anderen Texten Kafkas wie dem Proceß kursieren heutzutage sogar noch als gängigste, meistverkaufte Übersetzung Vialattes Übersetzungen aus den 1930erJahren (Kafka 1933). An dieser stark zeitversetzten Rezeption ändert auch die von Claude David kommentierte Ausgabe der Vialatte-Übersetzung in der stilvollen Pléiade-Ausgabe (Kafka 1976) nichts, die ohnehin nur denen, die sich die teure Reihe leisten können bzw. diese in philologischen Bibliotheken konsultieren, zugänglich ist. Eine ganz andere Perspektive eröffnet sich in der Übersetzung von Amerika durch Bernard Lortholary, die auch in einer Taschenbuchausgabe zugänglich ist, nämlich bei einem bekannten Verleger, Garnier-Flammarion, von dem man vermuten sollte, seine Bücher seien überall erhältlich.1 Der französische Durchschnittsleser bekommt also meistens nur die allererste Kafka-Übersetzung Vialattes aus den 1930er-/1940er-Jahren in die Hand. Bevor wir die zwei gängigen Taschenbuchausgaben des Amerika-Romanes einem kleinen philologischen Test unterziehen, wollen wir aber noch einmal generell auf die Geschichte dieser Übersetzungsrezeption eingehen, folgen da1 Ein kurzer Test in den zehn größten Buchhandlungen in fünf französischen Großstädten (Montpellier, Lyon, Mulhouse, Strasbourg und sogar Paris) zeigte aber, dass das Buch in dieser Ausgabe zwar lieferbar ist, aber in keiner der besuchten Buchhandlungen zum Verkauf stand.

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rin den Erkenntnissen der sehr gewissenhaften Studie Kerstin Gernigs (1999) aus Strasbourg. Was Vialattes Übersetzung angeht, so ist dessen Briefwechsel mit Jean Paulhan, dem Literaten und Verleger des angesehenen Hauses Gallimard, von Interesse, der neue Autoren wie Marcel Proust und André Gide in der N. R. F., der Nouvelle Revue Française, als Erster herausgab. So schreibt Jean Paulhan, er finde Vialattes Übersetzung sehr exakt, Vialatte habe aber sich selbst nicht genug eingebracht, so Paulhan an Vialatte am 25. November 1927: J’ai le sentiment que votre traduction est très exacte – exacte au point peut-être que Vialatte n’y figure pas assez et qu’il s’en est trop retiré. (zit. n. Gernig 1999: 72) [Ich habe das Gefühl, dass Ihre Übersetzung sehr genau ist – derart genau, dass vielleicht Vialatte darin nicht genug vorkommt und dass er sich daraus zu sehr zurückgezogen hat.]

Exakt drei Jahre später, im November 1930, schreibt der Verleger, Vialattes Stil und Denken hätten einen Grundzug an sich, der zutiefst zu Kafkas Fühlen und Denken passe: Il y a dans votre style et dans votre pensée je ne sais quel trait qui s’accorde au profond de la sensibilité et de la pensée de Kafka. (Brief vom 24.11.1930; zit. n. Gernig 1999) [Es gibt in Ihrem Stil und Denken einen – ich weiß nicht wie – gearteten Duktus, der sich perfekt dem tiefsten Inneren der Sensibilität und dem Denken Kafkas eignet.]

Zwar unterliegen Vialattes Übersetzungen seinem persönlichen Stil, aber die Tatsache, dass diese Übersetzungen aus den 1920er- und 1930er-Jahren stammen, hat den Vorteil, dass sie noch nicht durch gängige Interpretationsmuster beeinflusst waren, wenn man auch weiß, dass Alexandre Vialatte Max Brods Nachworte kannte und schließlich, 1957, seine definitive Übersetzung des Proceß mit einem stark religiösen Ansatz Brodscher Lesart in seinem Vorwort einleitete. Wir werden später noch sehen, wie sein eigener Stil sich mit dieser ersten Kafka-Rezeption vermischte. Bei Vialattes Tod 1971 wurde er nicht etwa als eigenständiger Autor, der er ja eigentlich war, sondern als KafkaÜbersetzer gefeiert – so schreibt Ivan I. Anisimov in seinem Nachruf mit dem Titel Traducteur de Kafka, Alexandre Vialatte est mort [Kafkas Übersetzer Alexandre Vialatte gestorben], erschienen in Le Monde vom 5. Mai 1971: „Kafka, grâce à lui, a été naturalisé Français.“ [Kafka wurde dank ihm als Franzose eingebürgert] – man kann sich fragen, was die Einbürgerung ins Französische impliziert. Mein Doktorvater, der Germanist Dominique Iehl aus Toulouse, sah dies kritischer: La traduction d’Alexandre Vialatte, qui, utile et efficace en son temps, répond mal aux exigences de rigueur et d’exactitude scientifique. (Iehl 1977: 331)

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[Die Übersetzung von Alexandre Vialatte, die seinerzeit nützlich und effizient war, entspricht nur in ungenügender Weise den Anforderungen wissenschaftlicher Präzision und Exaktheit.]

Die zweite große Gesamtübersetzung Kafkas ins Französische stammte von Claude David, in der ebenfalls zu Gallimard gehörenden Ausgabe der Pléiade, die im Jahre 1976 erschien. Hier gibt es ein großes Problem, denn die Erben Vialattes hatten sich gegen eine Neuübersetzung durch den Germanisten gewehrt, sodass Claude David seine Überarbeitungen bzw. seine Neuübersetzungen ausschließlich in den sehr umfangreichen Anmerkungen übernehmen konnte. Wer die auf hauchdünnem Bibelpapier gedruckte Pléiade-Ausgaben kennt, kann sich unschwer vorstellen, wie der durch den hohen Preis ohnehin beschränkte Leserkreis durch diese Verbannung der Neuübersetzung in den Anmerkungsapparat sich in Bezug auf diese neue Übersetzung noch mehr reduzierte. So entstand auch bei den wenigen Lesern der Pléiade-Ausgabe der Eindruck, es handle sich um Varianten oder philologische Feinheiten, nicht aber um eine völlig neue Übersetzung (der zweite Band dieser Pléiade-Ausgabe z. B. hatte 801 Seiten Text mit 525 Seiten Anmerkungen). Die Pléiade-Ausgabe bemühte sich aber, eine in sich logische chronologische Textedition von Kafkas Gesamtwerk zu präsentieren. Interessant ist Davids Arbeit als Kommentator insofern, als er sich mit der Rezeptionsgeschichte auseinandergesetzt hat, vor allem aber die allegorischen Ansätze in der Kafka-Interpretation zurückwies. So schreibt David in seiner Einführung zur Pléiade-Ausgabe, in Anspielung auf Albert Camus’ L’espoir et l’absurde: Le mot ‚absurde‘ a tant de sens, il est vrai, qu’on s’ engage peut-être dans des querelles stériles dès qu’on veut le combattre. Il a cependant contribué à obscurcir beaucoup la signification de Kafka. S’il est un point, en effet, qu’il n’ait jamais risqué […], c’ est la présence d’un sens, l’existence d’une Loi. (David 1976: XVI).2 [Das Wort ‚absurd‘ hat in der Tat so viele Bedeutungen, dass ein unfruchtbarer Streit entsteht, sobald man es infrage stellt. Es hat unterdessen stark dazu beigetragen, die Bedeutung Kafkas undurchsichtig zu machen. Wenn es einen Punkt gibt, den er nie riskiert hat […], so ist es die Gegenwart eines Sinns, die Existenz eines Gesetzes.]

Für Claude David war in der neuesten Interpretationsgeschichte entscheidend, dass man von der bloßen Abbildung einer Realität auf die Analyse von Bewusstseinsprozessen, die sich in Sprache kristallisieren, umgeschwenkt war. Es ließe sich aber sicherlich belegen, dass in Davids Übersetzungen religiöseschatologische Momente stärker dominieren als psychoanalytisch oder exis2 Besondere Beachtung verdient die Großschreibung des Wortes ‚Loi‘, dem David hiermit die Bedeutung eines übergeordneten Prinzips bzw. einer Weltanschauung verleiht.

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tentialistisch fundierte Deutungen, wie er es in seiner Einführung als grundlegend für Kafkas Werk stipuliert.3 Als Philologe hat Claude David Kafkas Einbettung in den Expressionismus belegt, genauso aber dargelegt, wie Kafkas Werk diesen überschreitet. Vor allem hat er auch explizit die biographischen Elemente und die literarischen Quellen der Romane erforscht. Neu ist in Davids Ansatz, dass er Kafkas Humor betont, ein Lachen, das gewissermaßen von Albträumen befreit, so wie es die Lesungen Kafkas vor Freunden belegen, bei denen Max Brod zufolge Kafka in schallendes Gelächter ausbrach.4 Doch ist dies für David bei Kafka eher ein temporärer Stil, der eben Grausamkeiten ertragen helfen soll. Was nun die Rezeption dieser französischen Kafka-Übersetzung betrifft, wie gesagt, die zweite, die erst Mitte der 1970er-Jahre erschien, 50 Jahre nach der ersten Übersetzung Vialattes, so betonen Kritiker wie Mertens zwar das späte Erscheinen einer solchen Neuübersetzung Kafkas, schweigen aber über die Qualität der Übersetzung selbst, was an der Sorbonne-Aura des Übersetzers gelegen haben mag. Die Kritiker betonen die Vielschichtigkeit der Ansätze. So schreiben die Nouvelles Littéraires voller Zweifel: „A quel Kafka se vouer?“ (Mertens 1976/1977: 6) [Welchem Kafka soll man fröhnen?] – und scheinen Davids vorsichtige Distanz zu voreingenommenen Standpunkten zu ignorieren. Dominique Iehl5 hat die Betonung dieses Perspektivismus als ein Sich-nicht-einsperren-Lassen gewürdigt und lobt den Anmerkungsapparat. Dieses Dilemma zwischen erster, quasi reliterarisierter Übersetzung Vialattes und der zweiten, streng philologischen, volksfernen Übersetzung Claude Davids, konnte erst in den 1980er-Jahren mit der Freigabe der Rechte für Kafkas Werk gelöst werden, und zwar durch Bernard Lortholarys Übersetzungen. Dieses dritte große Unternehmen, Kafka insgesamt ins Französische zu übersetzen, war insofern neu, als es begann, nicht nur wie Claude David 3 David scheint diese religiöse Perspektive als quasi unbewusst für Kafka feststellen zu wollen: „il [Kafka] semble cependant apercevoir entre cette théologie imaginaire et la tradition juive, longtemps récusée ou ignorée, plus de liens qu’il ne l’avait lui-même supposé.“ (David 1976: XVII) [Er [Kafka] scheint indessen zwischen dieser imaginären Theologie und der jüdischen Tradition, der er sich lange verweigert, bzw. die er nicht wahrgenommen hatte, mehr Verbindungen herzustellen, als er es selbst vermutet hatte]. 4 Franz Kafka habe laut Max Brod beim Vortrag des ersten Kapitels seines Proceß-Romans „so sehr gelacht, dass er weilchenweise nicht weiterlesen konnte.“ 5 „Elle [la critique de Claude David] répond à l’exigence de Kafka d’explorer l’homme et l’univers dans toutes leurs dimensions, et de ne jamais se laisser enfermer dans des catégories arrêtées.“ (Iehl 1977: 332) [Sie (die Kritik Claude Davids) entspricht der Anforderung, Kafkas Mensch und Universum in ihren vielfältigen Dimensionen zu erforschen, und sich nie in erstarrte Kategorien einsperren zu lassen.]

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die Biographie, die philosophischen und literarischen Hintergründe Kafkas zu beleuchten, sondern auch Kafkas Sprache beziehungsweise deren Übertragung in eine andere Sprache kritisch zu reflektieren. Anders gesagt: Mit Lortholary beginnt eine spezifische Reflexion über den übertragenen Text als solchen. Es ist also kein Zufall, dass Bernard Lortholary, als er 1988 seine Übersetzung des Amerika-Romans veröffentlichte, diese mit einem programmatischen Vorwort zu seiner eigenen Übersetzungsweise versah. Bevor wir aber auf dieses Vorwort zu sprechen kommen, möchten wir kurz Lortholarys (1986: 187) Bemerkungen zu den anderen französischen Kafka-Übersetzungen erwähnen. Was Vialattes Übersetzung betrifft, so sieht er zwischen sich bzw. seinen Zeitgenossen einerseits und Vialatte andererseits eine verschiedene Gewichtung zwischen Parteiname für den Autor oder für den Leser, „un équilibre différent entre ‚parti pris pour l’auteur‘ et ‚parti pris pour le lecteur‘“ (Lortholary 1986: 187) [eine unterschiedliche Gewichtung zwischen ‚Parteinahme für den Autor‘ und ‚Parteinahme für den Leser‘]. So ist für ihn Vialatte eindeutig am Geschmack des französischen Publikums seiner Zeit orientiert. Vialattes Übersetzung habe stark zu einer Auslegung Kafkas als Autor fantastischer Literatur beigetragen – (dies trifft sicherlich zu, denn Kafka ist in allen französischen Anthologien zur fantastischen Literatur vertreten) – ja, Kafka sei in die Nähe des Camus’schen Absurden geraten. Das abschließende Urteil zu Vialatte fällt Lortholary in seiner eigenen Übersetzung des Proceß: La traduction de Vialatte ne comportait pas que des erreurs ponctuelles. Elle est caractérisée par une inexactitude générale qui tient au talent même de Vialatte et sa sensibilité d’écrivain. […] Traduisant Kafka, Vialatte a donc rendu le noir par des gris, le cocasse par le bizarre, le théâtral par le psychologique. Il a allongé et assoupli pour ‚faire passer‘ et ‚faire français‘. (Lortholary 1983: 24f.) [Die Übersetzung Vialattes enthält nicht nur hie und da Irrtümer. Sie ist gekennzeichnet durch eine allgemeine Ungenauigkeit, beeinflusst durch Vialattes Talent und seine Sensibilität als Schriftsteller. [...] Beim Übersetzen Kafkas hat Vialatte das Schwarze in Grautönen wiedergegeben, Komisches als Bizarres, Theatrales als Psychologisches. Er hat [manches] erweitert und angepasst, damit es ‚rüberkommt‘ und ‚französisch klingt‘.]

Was nun die Übersetzung Claude Davids betrifft, kritisiert Lortholary daran die entstehende Orientierungslosigkeit des Lesers ob der vielen Varianten. Lortholary schreibt hierzu in den Etudes Germaniques: La simple énumération de variantes minimes […] empêche que ces traits isolés fassent système et prennent un sens. […] le simple lecteur constate que c’est sans grand profit qu’on lui inflige la longue liste de ces variantes minimales. Sous prétexte de scrupuleuse minutie et de stricte objectivité, on lui donne tout, et en vrac, l’insignifiant comme le significatif, en

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s’interdisant toute mise en perspective, toute organisation de ce matériau brut et fragmentaire, toute synthèse et, bien sûr, toute interprétation. L’édition se pare ainsi des prestiges de la scientificité tout en laissant à son lecteur potentiel le soin de faire lui-même le travail proprement scientifique qui consiste, là comme ailleurs, à comprendre les phénomènes, en dégageant de la poussière des faits quelques lois plus générales. (Lortholary 1984: 220f.) [Die bloße Aufzählung minimaler Varianten [...] verhindert, dass diese vereinzelten Charakteristika zu einem System gedeihen und so einen Sinn erlangen. [...] der einfache Leser stellt fest, dass man ihm ohne großen Gewinn diese lange Liste von Minimalvarianten auferlegt. Unter dem Vorwand gewissenhafter Akkuratheit und strikter Objektivität gibt man ihm alles, als Gesamtpaket, Unbedeutendes wie Bedeutendes, und versagt sich dabei jeglicher Perspektivierung, jeglicher Organisation dieses fragmentarischen, unverarbeiteten Materials, jeglicher Synthese und, selbstverständlich, jeglicher Interpretation. Die Ausgabe schmückt sich mit dem Prestige der Wissenschaftlichkeit, überlässt dabei aber dem potentiellen Leser die Aufgabe, selbst die eigentliche wissenschaftliche Arbeit zu machen, die darin besteht, hier und woanders, Phänomene zu verstehen, indem man aus den klitzekleinen, staubkorngroßen Einzelfakten einige größere Gesetzmäßigkeiten herausbildet.]

Auch sein Zeitgenosse Georges-Arthur Goldschmidt, der den Proceß und Das Schloss übersetzt hat, kommt nicht ganz ungeschoren davon, denn Lortholary wirft ihm ein zu enges, zu sprachetymologisches Übersetzen vor – Befremdliches sei Kafka fremd. Bernard Lortholary schreibt: L’étrangeté de Kafka ne tient pas à un allemand étrange : pourquoi lui faire écrire cet étrange français? (Lortholary 1986: 187) [Das Fremdartige Kafkas liegt nicht an einem fremdartigen Deutsch: Warum lässt man ihn dieses befremdliche Französisch schreiben?]

Wie sieht jedoch Bernard Lortholary seine eigene Arbeit? Lortholary hat gegenüber seinen Vorgängern den enormen Vorteil, die Neuausgabe des Kafkaschen Werks durch Jost Schillemeit (Kafka 1983) gekannt zu haben, weiß also um den eigentlichen Titel des Werkes, nämlich Der Verschollene. Doch ist das nicht ganz unproblematisch, wie es uns Lortholary erklärt: Wollte er – wie andere seiner Zeitgenossen – diesen im Grunde neuen Titel rein lexikalisch wiedergeben, müsste der Roman Le disparu heißen. Doch Lortholary gibt seiner Übersetzung einen höchst ungewöhnlichen Titel: Das, was bei Vialatte und David noch L’Amérique hieß, heißt auch bei Lortholary nicht einfach Le disparu, sondern Amerika ou le disparu. Zunächst erläutert Lortholary in seinem Vorwort, wie bedingt dieser Titel Amerika gültig ist und eröffnet dem französischen Leser den nunmehr als gültig belegten Titel Der Verschollene und erklärt, dieser Terminus werde z. B. für vermisste Soldaten benutzt oder ganz allgemein für Personen, von denen man die Spur verloren habe und die man für tot hält. Aber als Übersetzer könne er nicht die nunmehr 60-jährige Rezeption unter dem Titel L’Amérique außer Acht lassen, auch wenn dieser

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Titel apokryph sei. So habe er Max Brods Titel mit demjenigen Kafkas aneinanderstellen wollen. Interessant ist, dass Lortholary bewusst den deutschen Terminus ‚Amerika‘ wählt und nicht ‚L’Amérique‘, denn so Lortholary: Pour que ce titre en dise un peu plus long encore, on pouvait redonner à cette Amérique son nom allemand, afin de bien marquer d’emblée qu’il ne s’agit pas de l’Amérique réelle, mais de son image vue d’ailleurs, d’Allemagne, d’Europe centrale. (Lortholary 1988: 6) [Damit dieser Titel noch ein bisschen aussagekräftiger klingen möge, konnte man diesem Amerika seinen deutschen Titel wiedergeben, um gleich zu Beginn zu unterstreichen, dass es sich nicht um das wirkliche Amerika, sondern um sein von woanders aus gesehenes Bild handelt, von Deutschland, von Mitteleuropa aus.]

Lortholary ordnet also seine Übersetzung einer literaturästhetischen Konzeption Kafkas unter. Die Frage ist nun, welche Vorteile eine solchermaßen durchdachte Übersetzung im Gegensatz zur stilistisch legeren Version Vialattes haben mag.6 Ein kurzer Vergleich des allseits bekannten Romananfangs soll hierbei nützlich sein, wir wollen uns dabei auf drei Bereiche beschränken: Auslassungen, mangelhafte Übersetzungen und die besondere Bedeutung des Passivs im Deutschen. a) Auslassungen: Die Sätze „Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhing, […]“ und etwas weiter: „In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf […]“ werden von Vialatte mit sinnverstellenden Auslassungen übersetzt. So lässt Vialatte das in der Tat etwas seltsame „zum erstenmal“ aus „En bas, il y avait un passage qui aurait bien raccourci son chemin; malheureusement il le trouva barré; c’était sans doute une mesure nécessitée par le débarquement général“. Das besonders bedeutungsschwangere Wort „Ratlosigkeit“ im zweiten Beispiel lässt Vialatte aus, was uns als schwerer Fehler erscheint: „Il ne rencontrait personne et“. Natürlich ist auch Lortholary nicht unfehlbar, denn Karls Antwort auf die Frage, warum er nicht aussteige: „Ich bin doch fertig“ enthält eine für die deutsche Sprache so typische Modalpartikel, nämlich das „doch“. Vialatte als Autor hat vielleicht die besondere Valenz, die in dieser Partikel mitschwingt, intuitiv erfasst, jedenfalls hat er mit seiner Übersetzung („Mais si, je suis prêt“) diese Nuance besser getroffen als Lortholary („Mais je

6 Wie gesagt ist Claude Davids „Übersetzung“ die Wiederaufnahme im Haupttext der Vialattschen Übersetzung, welche mit korrigierenden Anmerkungen Davids versehen ist. Von daher privilegieren wir hier den direkten Vergleich zwischen Vialatte und Lortholary.

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suis prêt“). Gravierender als gewisse Auslassungen sind aber Übersetzungen an Stellen, die bei beiden unbefriedigend erscheinen. b) Unadäquate Übersetzungen: In der Tat mutet der Kafkasche Satz über die beobachtete Freiheitsstatue sehr seltsam an: „Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor […].“ Vialatte übersetzt dies mit „On eût dit que le bras qui brandissait l’épée s’était levé à l’instant même […]“, was rückübersetzt bedeuten würde: „Man hätte meinen mögen, es sah so aus, als ob sich der Arm, der das Schwert zückte, gerade in diesem Augenblick erhoben hätte.“ Lortholary übersetzt „Son bras armé d’un glaive semblait brandi à l’instant même […]“, was „sein mit einem Schwert ausgerüsteter Arm schien im gleichen Augenblick gezückt worden zu sein“ bedeutet. Eine andere Stelle ist noch markanter, nämlich der Satz „Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war […]“ wird bei Vialatte zu „Un jeune homme avec lequel il avait fait vaguement connaissance pendant la traversée […]“. Dies bedeutet „oberflächlich“, bezeichnet also eher die mangelnde Qualität dieser Beziehung. Bei Lortholary wird das hingegen mit „Un jeune homme dont il avait fait connaissance au cours de la traversée […]“, also mit der zeitlichen Kategorie, kurz übersetzt. Beide Übersetzungen scheinen das Wort „flüchtig“ nicht richtig zu greifen. c) Die besondere Valenz des Passivs im Deutschen: Als letzten Punkt wollen wir drei Beispiele des im Deutschen so gebräuchlichen Passivs nennen, die weit über den im Deutschen üblichen grammatikalischen Gebrauch in diesem Text eine stark sinnstiftende Bedeutung von Kafka mit auf den Weg bekommen haben: 1. […] wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Vialatte übersetzt das mit „Il en oubliait de partir et fut repoussé petit à petit jusqu’au bordage […]“. In dieser Übersetzung ist das Vergessen Roßmanns gewissermaßen eine bewusste Entscheidung, die das anfängliche Hilfsverb des Passivs („wurde“) im Deutschen ganz anders konnotiert, nämlich als das Weggeschobenwerden einer ihm auferlegten Begebenheit, die auch die Eigenständigkeit seines Denkens als wenig aktiv designiert. Lortholary übersetzt das in der gleichen Abfolge Aktiv/Passiv mit „Et comme il ne songeait pas à s’en aller, le flot sans cesse accru des porteurs de bagages qui passaient près de lui le refoula peu à peu jusque contre la rambarde.“ Auch hier ist das Verb aktiv („le flot [...] refoula“), einzig die Tatsache, dass es der Strom der Menschen ist, der Karl Roßmann wegschiebt, lässt noch einmal das Erleiden des Schicksals durchscheinen, das aber im Deutschen

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durch das Passiv des eigentlichen Subjekts Karl Roßmann sehr viel stärker betont ist. Der einleitende Temporalsatz („Als der siebzehnzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war […]“) wird von Vialatte mit einem aktiven Verb des Schickens, nämlich mit „que ses pauvres parents envoyaient en exil […]“ übersetzt, also mit einem Relativsatz: „den die armen Eltern ins Exil schickten.“ Dagegen sucht Lortholary den erlittenen Charakter dieser Reise durch ein „[…] expédié en Amérique par ses pauvres parents […]“ [von seinen armen Eltern nach Amerika verschickt] zu retten. Last but not least gibt es ein besonderes Interesse am Ursprung des Exils Karl Roßmanns im Nebensatz: „[…] weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte […]“. Auch hier wird die Passivität des Helden durch die Übersetzung bei Vialatte kaum ausgedrückt: Er schreibt „[…] parce qu’une bonne l’avait séduit et rendu père […]“ [weil ihn ein Dienstmädchen verführt und zum Vater gemacht hatte]. Lortholary scheint diesen allzu ehrenhaften Titel des Vaterwerdens („rendu père“), den Vialatte benutzt, vermeiden zu wollen, denn er übersetzt in diesem Beispiel wie auch andernorts sehr kafkatreu. Doch dies sind vielleicht nur fachliche Bedenken eines Germanisten, denn wie gesagt bestimmen materielle, und nicht rein qualitative Faktoren die Kafka-Rezeption in Frankreich – bislang erweist sich jedenfalls Bernard Lortholarys Übersetzung als die qualitativ beste von allen, die eine größere Verbreitung verdienen würde, die den internen Hierarchien des Büchermarkts entzogen werden sollte, da man sonst heutzutage, im 21. Jahrhundert, Kafka unrecht tut. Wichtig scheint mir jedoch, dass Kafka selbstverständlich zum Allgemeinwissen der kultivierten Franzosen gehört.

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Richard T. Gray

‚Un-Verschollen‘ in Amerika: Der Einfluss deutsch-jüdischer Emigranten auf die (amerikanische) Kafka-Rezeption 1. Einleitung Der Titel meines Beitrags spielt unmissverständlich auf Kafkas Erstlingsroman Der Verschollene an, denn mir geht es hier um die Parallelitäten, aber auch um die Abweichungen zwischen dem Schicksal von Kafkas Romanhelden und dem Schicksal vieler deutsch-jüdischer Emigranten nach Amerika, die dem Naziterror entfliehen mussten. Präziser gesagt: Wenn Kafkas Karl Roßmann in Amerika verschollen, also von der Heimat ganz und gar abgeschnitten blieb, suchten und fanden manche deutsch-jüdischen Emigranten in Amerika eine Verbindung zur verlorenen Heimat, die über ihre Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur verlief. Ich denke an die vielen deutsch-jüdischen Emigranten, die das Fach Germanistik in den USA in der unmittelbaren Nachkriegszeit wesentlich geprägt haben und die durch ihre maßgeblichen Arbeiten über die deutsche Literatur und Geistesgeschichte eben ‚un-verschollen‘ geblieben sind. Interessanter noch scheint es mir, dass die Mehrzahl dieser Germanisten sich auch mit dem Leben und dem Werk Franz Kafkas ausein­ andergesetzt hat, sodass auch Kafka – entgegen dem Schicksal seines Helden Roßmann – in Amerika, ja, vielleicht sogar in der Welt, aufgrund der Veröffentlichungen dieser Flüchtlinge eben nicht verschollen ist. Wenn Karl Roßmann, der siebzehnjährige Held von Kafkas Roman, aus seiner deutschsprachigen Heimat verstoßen wird, weil – wie es im Romantext heißt – „ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte“ (Kafka 1983: 7), so wird er zum Muster des Zwangsemigranten, der die Bekanntheit und Sicherheit der Heimat gegen die Orientierungslosigkeit und Fremdheit eines neuen Lebens in einem unbekannten Amerika tauschen muss. Bezeichnenderweise wird die Charakterisierung Roßmanns als Verschollener von der Perspektive der verlorenen Heimat aus gefällt:1 Kafkas 1 Diese Einsicht wurde schon relativ früh von Walter Sokel (1975: 247) geäußert.

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Held ist von der Heimat so völlig abgeschnitten, dass sie ihn vollkommen aus den Augen – aber auch aus den Ohren, um Kafkas Metapher treu zu bleiben – verliert. Zwar hält Roßmann noch an der Hoffnung fest, er möge eine Wiedervereinigung mit seiner Familie erleben, konkretisiert vor allem an der Familienfotografie, die er mit Nostalgie betrachtet und der er so viel Wert beimisst, dass ihr Verlust einem zweiten Heimatverlust gleichkommt (Kafka 1983: 134f., 166-169). Anfangs träumt Roßmann sogar noch von einer Versöhnung und Wiedergutmachung mit den Familienmitgliedern, die ihn ausdrücklich verstoßen haben, sodass, während er den Heizer auf dem Schiff gegen seine ungerechte Behandlung verteidigt, er gleichzeitig selbstreflexiv eine Fantasie darüber entwickeln kann, wie stolz seine Eltern auf ihn wären, wenn sie „ihn doch [...] sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht“ (Kafka 1983: 33). Typisch ist auch, wie Karl Roßmann seine Abgeschnittenheit von der Heimat dadurch auszugleichen versucht, dass er Surrogatverbindungen mit anderen deutschsprachigen Emigranten sucht – erstens mit dem deutschen Heizer, später mit der deutsch-böhmischen Oberköchin Grete Mitzelbach und ihrer Sekretärin Therese. Doch gehen auch diese Versuche, eine Ersatzheimat zu finden, schließlich fehl und Karl bleibt deshalb in Amerika ganz und gar verschollen. Das Schicksal Karl Roßmanns nimmt auf frappante Weise das Schicksal vieler deutsch-jüdischer Emigranten nach Amerika vorweg, die dem Terror des Nazi-Regimes entflohen sind. Wie Roßmann waren sie Zwangsvertriebene; wie er suchten sie eine Verbindung mit der verlorenen deutschen Heimat, die sie dann meistens in deutscher Kultur und Literatur fanden. Schließlich haben auch viele, wie Roßmann, „vor angesehenen Persönlichkeiten“ – das heißt, in wissenschaftlichen Kreisen – „das Gute“ verfochten (Kafka 1983: 33), indem sie sich für eine deutsche Kultur von Weltrang starkmachten, die sich nicht auf Nazismus und Nationalismus reduzieren ließ. Zwar hinkt mein Vergleich dieser späteren Emigranten mit Kafkas Roßmann insofern, als die Ursache von Roßmanns Verbannung in einem ethischen Vergehen, nicht in einer Konfrontation mit politischen Machthabern bestand; aber Kafkas Text betont trotzdem das passive Verhalten und das Ausgeliefertsein seines Helden – er ist nicht der Verführer, sondern der Verführte – und hebt von daher seine Schuldlosigkeit hervor. Dies bestätigt Kafka in einem Tagebucheintrag vom 30. September 1915, in dem er den „Schuldigen“ Josef K. mit dem „Schuldlosen“ Karl Roßmann vergleicht, wobei in seiner Analyse Letzterer „mehr zur Seite geschoben“, während Ersterer brutal „niedergeschlagen“ wird (Kafka 1990b: 757). So hat Kafka in den Schicksalen seiner Romanhelden die Ausweglosigkeit der deutsch-jüdischen Bevölkerung nach der Machtergreifung

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Hitlers und dem Anschluss Österreichs prophetisch vorhergesagt. Man hatte die Wahl, entweder wie Josef K. „verhaftet“ (Kafka 1990a: 7), ins Konzentrationslager verfrachtet und dort „niedergeschlagen“ zu werden oder aber, wie Roßmann, als Exilant „zur Seite geschoben“ oder „einfach beiseitegeschafft“ zu werden (Kafka 1983: 38). Aus der Sicht der Naziherrschaft bedeutete dies so oder so, dass diese Unterwanderung des deutschen Geistes durch fremden, jüdischen Einfluss unterbunden werden würde. Doch haben viele deutschjüdische Emigranten in Amerika dieser Nazistrategie getrotzt; sie sind eben nicht verschollen geblieben, wie Karl Roßmann, sondern haben den Nazis – sowohl figurativ als auch konkret – die Stirn geboten, indem sie gerade jene deutsch-jüdische Geistessymbiose verteidigt und heraufbeschworen haben, die die Nazis ausmerzen oder zum Schweigen bringen wollten. Nirgendwo ist diese Tendenz deutlicher zu erkennen als in der nordamerikanischen Germanistik der unmittelbaren Nachkriegszeit. Eine ungewöhnlich große Zahl jüdischer Flüchtlinge vor den Nazis haben in einer scheinbaren Paradoxie ein Studium der Germanistik gewählt und dann als Professoren an namhaften amerikanischen Universitäten gelehrt.2 Eine Liste dieser deutschjüdischen Exilgermanisten liest sich wie eine Ehrenliste der bedeutenden nordamerikanischen Germanisten in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg. In alphabetischer Anordnung: Dorrit Cohn (Harvard University); Peter Demetz (Yale University); Erich Heller (Northwestern University); Peter Heller (State University of New York-Buffalo); Ludwig Kahn (Columbia University); Ruth Klüger (Princeton University; University of California at Irvine); Herbert Lederer (University of Connecticut); Heinz Politzer (University of California, Berkeley); Egon Schwarz (Washington University, St. Louis); Oskar Seidlin (Ohio State University); Walter Sokel (Stanford University, später University of Virginia); Harry Zohn (Brandeis University). Wenn viele dieser Namen nicht nur in der nordamerikanischen, sondern auch in der deutschen und sogar in der weltweiten Germanistik bekannte Größen sind, dann ist das auch ein Beweis dafür, dass sie eben nicht verschollen sind. Vielen Lesern fällt wahrscheinlich sogar auf, dass ein Großteil dieser Germanisten sich unter anderem mit Kafka beschäftigt hat (Müller-Kampel 2000: 16). Außer Politzer und Sokel, die leitende Figuren in der Kafka-Forschung wurden und auf die ich dementsprechend im Folgenden detaillierter eingehen werde, denke man z. B. an Erich Heller, dessen früher Aufsatz The World of Franz Kafka den Begriff „negative Transzendenz“ für die 2 Beatrix Müller-Kampel weist auf die Paradoxie hin, dass diese jüdischen Exilanten ausgerechnet Germanistik, ein Fach, das seit den Zwanzigerjahren in Deutschland eine nationalistische Kulturideologie gefördert und genährt hatte, als Bereich ihrer beruflichen Verwirklichung gewählt haben (Müller-Kampel 2000: 3).

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Dichtung und das Weltbild Kafkas einführte (Heller 1952: 168), und der später der Mitherausgeber (zusammen mit Jürgen Born) von Kafkas Briefen an Felice wurde (Kafka 1967); oder an Dorrit Cohn, die maßgebliche Analysen von Kafkas Erzählstrukturen vorlegte (Cohn 1968a, b); oder an Egon Schwarz, der die Reclam-Ausgabe von Kafkas Verwandlung besorgte (Kafka 1978) und der auch über Kafkas Tiergeschichten und die Tradition der europäischen Fabel geschrieben hat (Schwarz 1986) – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Beschäftigung mit und Faszination für Kafka fungiert sogar als eine Art gemeinsamer Nenner für diese Generation von deutsch-jüdischen Exilanten, was die Vermutung nahelegt, dass Kafka und seine Literatur zu einer Art ,life-line‘, d. i. zu einer rettenden Verbindung mit einer verloren gegangenen deutsch-jüdischen Kultur, also mit ihrer verlorenen ,Heimat‘ bildete. So war die berühmte oder berüchtigte deutsch-jüdische Symbiose für diese emigrierten Intellektuellen eben keine „Täuschung“, wie oft behauptet wurde (MüllerKampel 2000: 13), sondern eine erlebte Wirklichkeit, die in der Emigration weitergelebt und auch verteidigt werden musste. In einem Interview behauptet Herbert Lederer z. B.: Ich habe immer den Standpunkt vertreten, und den vertrete ich auch noch heute, daß wir jüdischen Emigranten ein Teil der deutschsprachigen Kultur waren und daß diese Kultur ein Teil von uns war und daß man keines vom anderen trennen konnte. (Lederer 2000: 129f.)

Walter Sokel geht in seinen autobiografischen Reflexionen noch weiter und beschreibt seine Beschäftigung mit Kafka und dem Expressionismus als eine Art bewussten intellektuellen Widerstand gegen die von den Nationalsozialisten betriebene Engführung der deutschen Kultur und Literatur mit einer nationalistischen und rassistisch geprägten Einheitsperspektive. So behauptet er: Was mir auch sehr wichtig war: am Expressionismus eine enge Zusammenarbeit zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen zu zeigen. Das es das einmal gegeben hat, daß also Deutsche und Juden nicht immer gegenseitig vernichtende Feinde sein müssen, sondern auch Freunde sein können. (Sokel 2000: 55)

So sah Sokel es als seine Mission, eine Identifizierung der deutschen Kultur und Literatur als solcher mit dem von den Nazis heraufbeschworenen Zerrbild im amerikanischen Geistesleben entgegenzuwirken. Er schreibt diesbezüglich unter anderem: As a prospective teacher of German literature I considered it my primary task to present to the American public aspects of German culture that would make the popular identification of Germany with Nazism much harder to maintain and thus to help counteract that isolation of Germany which had to be the precondition of her [sic!] destruction. (Sokel 2002b: 199)

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Nun muss man sich aber vorstellen, mit welchem verzwickten psychologischen Dilemma diese deutsch-jüdischen Germanisten konfrontiert waren. Sokel bringt das grundlegende Paradoxon zur Sprache, wenn er bekennt: Als ein die deutschsprachige Literatur Studierender fühlte ich mich moralisch verdammt, pervers und absurd erscheinend, Verräter nicht nur an der jüdischen Gemeinschaft, der ich durch Familie und Geburt angehörte, sondern an der Menschheit, gegen die sich der von Deutschen und Österreichern verübte mehrfache Genozid unvergebbar versündigt hatte. [...] Wie konnte ich es rechtfertigen, die Sprache zu lehren, in der die Vernichtung meiner Tanten, meiner Kusinen, und [...] meines Vaters beschlossen und ausgeführt worden war? (Sokel 1998: 40)

In einem gewissen Sinne kämpfte diese Generation deutsch-jüdischer Germanisten in Amerika einen Dreifrontenkrieg: erstens gegen die Vereinnahmung der deutschen Kultur durch die Nazis, und parallel dazu gegen die amerikanischen Vorurteile gegen alles Deutsche; zweitens gegen das Unverständnis der amerikanischen jüdischen Gemeinschaft, die einen Einsatz für das deutsche kulturelle und literarische Erbe als Verrat an dem Judentum betrachtete; und drittens gegen einen unterschwelligen amerikanischen Antisemitismus, der vor allem in der sogenannten McCarthy-Ära der unmittelbaren Nachkriegszeit jüdische Intellektuelle häufig mit linksorientierter Politik und dem verhassten Kommunismus assoziierte (Anderson 2003: 27ff.). Aus diesem verwickelten und psychologisch ambivalenten Kontext heraus verteidigten diese deutsch-jüdischen Germanisten eine explizit deutsche Literatur als eine Literatur, die bahnbrechend, wegweisend und avantgardistisch war und die genuine Ansprüche auf Literatur von europäischem, ja von universellem, weltweitem Rang stellen konnte. Dementsprechend behauptet Sokel in seinem einflussreichen Buch Franz Kafka. Tragik und Ironie von 1964, dass die persönlichen Probleme, die Kafka in seiner Kunst reflektiert, „sich mit tiefgehenden universellen Problemen der menschlichen Existenz“ decken und somit „eine entscheidende, überpersönliche Relevanz“ erlangen (Sokel 1964: 21). Was aus heutiger Sicht besonders bewunderungswürdig an der Position dieser deutsch-jüdischen Literaturwissenschaftler erscheint, ist, dass sie trotz ihrer horrenden politischen Erfahrungen und ihres Vertriebenseins sich in ihrem Exil mehr mit ihrem Deutschtum als mit ihrem Judentum identifiziert haben. So bemerkt beispielsweise Sokel, er habe sich erst in der Emigration richtig „deutsch“ zu fühlen begonnen (Sokel 2000: 46). Herbert Lederer geht weiter mit seiner Bemerkung, dass dieses Bestehen der deutsch-jüdischen Emigranten auf ihrem Deutschtum eine Art Trotz gegen eine Nazi-Ideologie darstellte, die die Andersheit des Judentums betonen wollte (Lederer 2000: 130). Diese Identifizierung mit dem Deutschen geht sicherlich zum Teil auf eine

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Nostalgie für die verlorene Heimat zurück. Sokel z. B. meint, die Lektüre von Autoren wie Arthur Schnitzler erlaubte die Erschaffung eines intellektuellen Ersatzes für das verlorene Wien seiner Kindheit (Sokel 1991: 281). Diese enge Identifizierung mit der deutschsprachigen Literatur weist aber auch wiederum darauf hin, dass die deutsch-jüdischen Intellektuellen der Vorkriegszeit sich hauptsächlich und im Allgemeinen als deutsch und deutschsprachig betrachteten, und erst zweitrangig als vom Judentum geprägt. Dieses Selbstverständnis haben sie dann auch auf   ihre Auseinandersetzung mit deutscher Literatur übertragen, auch in solchen Fällen – wie bei Franz Kafka –, wo es sich um einen deutschsprachigen Au­tor jüdischer Abstammung handelte. Auf diese Weise haben diese deutsch-jüdi­schen Kritiker versucht, die deutsche Literatur in die Weltliteratur zu (re-)inte­grieren, und dadurch haben sie sich auch für eine weit gefasste Germanistik eingesetzt, die sich über provinziell verstandene und strikt national-kulturell eingeschränkte Grenzen hinwegsetzte (Seeba 2002: 10). Davon hat auch die Kafka-Forschung der Nachkriegszeit direkt profitiert, da diese deutsch-jüdischen Exilanten prominent zu einer Wende im Kafka-Verständnis beigetragen haben, indem sie gegen eine Einengung von Kafkas Texten und Leben auf eine religiöse und psychologisierende Thematik argumentiert haben, und stattdessen für eine Öffnung von Kafkas Werken hin zu einem universellen, existenziellen und allgemein-menschlichen Inhalt eingetreten sind. Vor allem aber haben ihre Kafka-Analysen das ausgesprochen ‚Literarische‘ an seinem Schreiben hervorgehoben und dadurch den Blick mehr auf sprachliche, strukturelle und ästhetische Komponenten seines Werkes gelenkt. Beispielhaft für diese Wende zum Schriftsteller Franz Kafka möchte ich die Forschung von zwei deutsch-jüdischen – eigentlich österreichisch-jüdischen – Exilanten kurz besprechen. Die Namen sind bezeichnenderweise allen Kafka-Forschern wohlbekannt, und sie wurden hier auch schon erwähnt: Heinz Politzer und Walter H. Sokel.

2. Heinz Politzer Geboren 1910 in Wien, studierte Heinz Politzer vor seiner Emigrierung 1938 nach Palästina und anschließend 1947 in die USA zuerst in Wien und dann in Prag, wo er unter anderem mit Max Brod an der Herausgabe von vier Bän-

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den der ersten Kafka-Gesamtausgabe mitwirkte (Kafka 1935-37).3 Er errang seinen Doktortitel erst im Exil, am Bryn Mawr College in Pennsylvania, und unterrichtete erst dort und dann am Oberlin College in Ohio, bis er einem Ruf an die University of California in Berkeley im Jahre 1960 folgte. Sein großes Kafka-Buch, Franz Kafka: Parable and Paradox erschien zuerst im Jahre 1962 in englischer Sprache, wurde dann im Jahre 1966 in einer erweiterten und revidierten Ausgabe neu aufgelegt und hatte einen bestimmenden Einfluss sowohl auf die wissenschaftliche als auch auf die populäre Rezeption Kafkas in den USA. Eine deutsche Version erschien drei Jahre nach der Erstauflage bereits 1965 unter dem bezeichnenden Titel Franz Kafka, der Künstler. Schon sehr früh aber, im Jahre 1950 – also schon sieben Jahre vor dem Erscheinen von Wilhelm Emrichs großem Kafka-Buch (Emrich 1957) –, hat Politzer einen wegweisenden Artikel über Problematik und Probleme der Kafka-Forschung in der Fachzeitschrift Monatshefte publiziert, in dem er die Marksteine seines späteren Kafka-Ansatzes legte. Hier behauptet er schon im ersten Satz, die Hauptthese von Parable and Paradox um zwölf Jahre vorwegnehmend: „Das charakteristische Stilmerkmal von Franz Kafkas Werk ist das Paradox“ und er führt diese These weiter aus mit der verallgemeinernden Behauptung: „Wo immer und von welchem Standort auch man Franz Kafkas Werk anrührt, man wird immer einem Paradox begegnen“ (Politzer 1950: 273). In seinem grundlegenden Buch versuchte Politzer dann anhand von detaillierten Analysen einzelner Werke – ausgehend von einer Musteruntersuchung der Kurzparabel Gibs auf! – zu zeigen, dass Kafkas Kunst darin bestehe, ein gedankliches Paradoxon oder einen Aphorismus mittels Hinzufügung einer Erzählstruktur in eine Anekdote oder in eine Geschichte zu erweitern (Politzer 1966: 2). Das Hervorheben des Paradoxons als Kernelement von Kafkas Texten hat für Politzers Kafka-Bild weitreichende Konsequenzen, die dann auch zu einer Wende in der Hauptströmung der Kafka-Interpretation wesentlich beigetragen haben. Vor allem insistiert Politzer als einer der ersten auf der prinzipiellen Undeutbarkeit von Kafkas Werken, weil sie einen „Charakter des Überwirklichen“ und eine „Symbollosigkeit“ aufweisen, die sich jedweder Übersetzung in eine begriffliche Sprache widersetzt (Politzer 1950: 276, 278). Dies führt Politzer zu einem außerordentlich scharfen Angriff auf seinen früheren Mitarbeiter Max Brod, dem er die Schuld für das Vorherrschen einer vereinfachenden, allegorisierenden Tendenz in der Kafka-Forschung zuschiebt. Brod sei nach Politzers Meinung verantwortlich für 3 Die ersten vier Bände dieser Ausgabe, an denen Politzer mitarbeitete, umfassten Kafkas Erzählungen und kleine Prosa und die drei Romanfragmente.

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das Ur-Übel aller Kafka-Interpretation, nämlich die unmittelbare Übersetzung der dichterischen Bilder in die Sprache der Theologie, der Philosophie oder der Psychologie und die damit zwangsläufig verbundene Verflachung ihres dichterischen Werts. (Politzer 1950: 274; Herv. RTG)

Wenn er in diesem frühen Aufsatz schon mit Nachdruck betont, dass man Kafkas Schaffen als „ein literarisches Werk erster Ordnung“ betrachten und behandeln müsse (Politzer 1950: 279), so widmet er sich der expliziten Darstellung und Exemplifizierung dieser These in seinem zwölf Jahre später erschienen Kafka-Buch. Hier stellt Politzer Kafka dar als „a writer in his own right, a littérateur if ever there was one, the creator of word images, interested in their relationships to one another [...] and to their background.“ (Politzer 1966: 14f.) Kafka ist also in Politzers Sicht vorwiegend als Sprachkünstler zu sehen, der es versteht, seine Texte durch evokative Bilder zu bereichern. Außerdem erkennt er in Kafkas Gesamtwerk einen sich wiederholenden Verweisungszusammenhang von Themen, Motiven und Bildern, der seinen Texten eine interne Konsistenz und Kohärenz verleiht. So plädiert er nicht so sehr für eine ‚textimmanente‘ Analyse von Einzelwerken Kafkas wie für eine Gesamtuntersuchung, die diese Einzelwerke im erweiterten Kontext von Kafkas Œuvre als Ganzem auffasst. In diesem Sinne wurde Politzer – und dies gilt, wie wir sehen werden, genauso für Walter Sokel – zum Vorboten einer strukturalistischen Kafka-Interpretation. Es ist auch konsistent mit diesem Insistieren auf dem literarischen Aspekt von Kafkas Texten, dass Politzer sich gegen eine vereinfachende autobiografische Auslegung seines Werkes stemmt. Als einer der Ersten hat er Vorbehalte gegen die Anwendung von Kafkas Lebensdokumenten – Briefen, Tagebüchern und mündlichen Aussagen – für eine Interpretation seiner Literatur ausgesprochen. Auch der dokumentarische Wert des für viele so aufschlussreichen Briefes an den Vater war ihm höchst suspekt, denn die literarische Selbststilisierung sei eine Tendenz der modernen Literatur im Allgemeinen, der man auch in den Lebensdokumenten eines Dostojevskji oder eines Rilke in gleicher Weise wie in denen Kafkas begegne (Politzer 1966: 17f.). Für Politzer sind Kafka und sein Werk dementsprechend repräsentativ für größere literarische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge, nicht nur für die literarische Moderne, sondern für den modernen Menschen als solchen. Kafka verwende das Paradoxon, so Politzer, um „the insoluble contradictoriness of human existence“ zum Ausdruck zu bringen (Politzer 1966: 63); seine Texte zeugen von der „Gottesfinsternis“, in der moderne Menschen leben; sie beschwören „the Waste Land as landscape of modern man, [...] fraught with horror and imbued with nonsense“ (Politzer 1966: 19). Gemäß dieser Tendenz, die Schicksale von Kafkas Charakteren

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zu verallgemeinern und sie als universalmenschlich anzusehen, zeigt sich der Jude Politzer auch skeptisch gegenüber Interpretationsversuchen, die Kafkas Judentum zum Zentrum seiner Literatur machen. Kafkas Judentum sei nach Politzer schließlich nur ein „aftereffect“, eine Nachwirkung, die ihn auf die „hidden depths of existence and powers holding sway beyond man’s life“ aufmerksam gemacht habe (Politzer 1966: 21). Interessanterweise wendet er sich auch gegen Interpretationsansätze, die Kafkas Texte als Vorwegnahme des Holocausts und der politischen Verfolgung auslegen, obwohl Politzer selber letztlich von diesem Schicksal heimgesucht wurde. Dementsprechend wirft er dem Exilanten Eduard Goldstücker vor, er versuche, weil er selber Opfer des politischen Terrors war, Kafka umzumünzen von einem „visionary of universal pain“ in einen „prophet of atrocities such as Goldstücker himself had endured“ (Politzer 1966: 366). Politzer vermeidet es also vorsichtig und gewissenhaft, Kafka und seine Literatur nach den Maßstäben seines eigenen persönlichen Schicksals als ein von der Naziherrschaft deutsch-jüdischer Vertriebener zu beurteilen. Dieses Urteil gilt auch für Walter Sokels Beschäftigung mit Kafka und seinem Werk.

3. Walter Sokel Die Laufbahn Walter Sokels ähnelt der von Heinz Politzer in vielerlei Hinsichten. Geboren 1917, also sieben Jahre nach Politzer, aber wiederum in Wien, ist Sokel 1938 kurz nach dem Anschluss Österreichs über Italien in die Schweiz geflohen. Ein Jahr später konnte er in die USA emigrieren. Er studierte erst Geschichte und Philosophie an der Rutgers University in New Jersey und wechselte in den frühen Vierzigerjahren zum Studium der Germanistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaft an die Columbia University in New York. Er promovierte dort 1953 mit einer Dissertation über den literarischen Expressionismus, lehrte zunächst an der Columbia University und folgte dann einem Ruf an die Stanford University im Jahre 1964. Schließlich lehrte er ab 1973 an der University of Virginia in Charlottesville, wo ich das Glück hatte, ihn als Lehrer und Betreuer zu erleben.4 Seine Einflussnahme auf die amerikanische Kafka-Forschung begann 1956 mit der Veröffentlichung eines englischspra4 Spätestens an dieser Stelle muss ich gestehen, dass Sokel mein Doktorvater ist und dass ich ihn nicht nur persönlich kenne, sondern auch als Forscher und Lehrer sehr hoch schätze­.

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chigen Aufsatzes im Journal Monatshefte über Die Verwandlung (Sokel 1956). In seinem bedeutenden Expressionismus-Buch, The Writer in Extremis, stellte er einem amerikanischen Publikum Kafka als wesentlichen Vertreter des deutschen Expressionismus vor (Sokel 1959),5 und diesen Ansatz verfolgte er weiter in seinem Hauptwerk, Franz Kafka. Tragik und Ironie von 1964.6 Während Politzer seine Kafka-Analyse um den Begriff des Paradoxons organisiert, spielt bei Sokels Untersuchung die Idee der Ambivalenz eine ähnliche Rolle. In beiden Fällen geht es um einen unlösbaren Konflikt, was dann letztlich beide Kritiker zur Hypothese verleitet, dass Kafkas Werke hermeneutisch resistent bleiben, da sie keine endgültige Aussage zulassen. Aber das Paradoxon bezieht sich auf eine gedankliche oder begriffliche Entgegensetzung, während Ambivalenz, ein Kernbegriff der Freudschen Psychoanalyse, unlösbare Konflikte auf der Ebene der Persönlichkeit und des Charakters bezeichnet. Der Begriff der Ambivalenz erlaubt es Sokel, sein Kafka-Bild im Bereich der Biografie zu verankern: Das Fundamentalerlebnis Kafkas sei das des Kampfes zwischen Vater und Sohn bzw. zwischen einer unantastbaren Autorität und einem sich machtlos fühlenden Ich. Aus dieser subjektiven Erfahrung heraus extrapoliert Sokel, was er als das Grundgesetz der Kafkaschen Kunst betrachtet: die Situation des Kampfes, dessen Grundstruktur sich schon in Kafkas frühem Fragment Beschreibung eines Kampfes manifestiert (Sokel 1964: 9, 28f.). Nun wäre es ein recht kleiner Sprung, von diesem Standpunkt aus eine Parallele zu ziehen zu der politischen Lage der Nazizeit und dem aussichtslosen Kampf des politisch Vertriebenen gegen einen übermächtigen, ideologisch verbrämten Staat; aber trotz seiner eingestandenen Tendenz, sich mit Kafkas Helden zu identifizieren,7 macht Sokel diesen reduktiven interpretativen Kurzschluss eben nicht. Stattdessen sieht er Kafkas Kunst begründet in einer Abstraktion von und einer Erweiterung dieser Grundstruktur des Kampfes eben ins Überpersönliche. Kafkas Schreiben verarbeitet Sokel nach dieser Grundstruktur des Kampfes „nicht in der direkten Form des Bekenntnisses“, sondern als „Projektion seines inneren Lebens“, das „in traumhafter Verfremdung und gleichnishafter Verwandlung“ in seinen literarischen Texten zum Ausdruck kam (Sokel 1964: 9). So verschiebt Sokel den Akzent von dem 5 Eine deutsche Übersetzung erschien 1964 unter dem Titel Der literarische Expressionismus bei Langen Müller in München. 6 Dieses Werk wurde im Jahre 1976 neu aufgelegt und als Fischer-Taschenbuch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. 7 In seinen autobiografischen Reflexionen bekennt Sokel, dass seine lebenslängliche Faszination von Kafka von einer Lektüre der Verwandlung im Jahre 1941 ausging, die auf einer vollkommenen Identifizierung mit der Isolation Gregor Samsas beruhte (Sokel 2002a: 9f.).

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Was der biografischen Erfahrung zu dem Wie der literarischen Selbststilisierung, sodass die künstlerischen Prozesse, die Kafkas Texte zustande bringen, ins Zentrum gerückt werden. Erst diese künstlerische Transformation erlaubt es Kafka, „das Private und bloß Persönliche“ zu transzendieren und „durch seine rigorose Subjektivität universelle Bedeutung“ zu erlangen (Sokel 1964: 9). Sokels implizite Bezugnahme auf Freud ist schon aus seiner Terminologie herauszulesen: „Projektion des inneren Lebens“; „traumhafte Verfremdung“; „gleichnishafte Verwandlung“: das sind Begriffe, die der Freudschen Traumtheorie direkt entlehnt sind. Nur geht es Sokel in seiner Kafka-Analyse eben nicht wie Freud hauptsächlich um eine Traumdeutung, sondern um eine Beschreibung und Erklärung der literarischen Techniken, die Kafkas Kunst ermöglichen und ihre unheimliche Wirkung erklären. So behauptet er ausdrücklich, es gehe ihm nicht darum, „Kafka zu deuten, sondern seine Kunst der Aussage zu erhellen“ (Sokel 1964: 27). Für Sokel ist Kafka ein Ausdruckskünstler in eben dem Sinne, wie dieser Begriff die Kunst des deutschen Expressionismus im Allgemeinen beschreibt. Genau das ist es auch, was ihm erlaubt, von Kafkas „klassischem Expressionismus“ zu sprechen (Sokel 1964: 19). So fasst Sokel seine Vorstellung von Kafkas Kunst bündig zusammen: Kafka erklärt nicht, kommentiert nicht, analysiert nicht. Er zeigt, er projiziert, er drückt aus, wie der Traum es tut. Alles ist bei ihm Ausdruck eines inneren Geschehens, das sich scheinbar als äußeres manifestiert. (Sokel 1964: 13)

Was Kafkas Texte darüber hinaus mit dem Traum im Freudschen Verständnis verbindet, ist ihre Struktur als Netzwerke, die vor allem selbstreflexiv auf sich selber verweisen: Jedes Detail in einem Kafka-Text, so Sokel, hat eine notwendige Funktion und bezieht sich auf andere Textelemente, die durch diese Bezugsfunktion assoziative Stränge bilden, genauso wie im Traum. Wie auch Politzer geht Sokel grundsätzlich auf textimmanente Weise mit Kafkas Texten um. Und wie Politzer erweitert er auch dieses intratextuelle Bezugssystem des einzelnen Werks auf die Metaebene des Kafkaschen Œuvres: So lassen sich nicht nur innerhalb eines einzelnen Werks bestimmte Bezugslinien verfolgen, sondern sie können auch zwischen verschiedenen Werken und über zeitliche Distanz verfolgt werden. Deshalb besteht für Sokel der Sinn von Kafkas Dichtung nicht in einem Verweis auf die Außenwelt – also nicht in allegorischer oder symbolischer Auslegung –, sondern in ihrer internen Verflechtung und ihrem intrinsischen Verweisungszusammenhang (Sokel 2002a: 15f.).

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4. Fazit Man könnte selbstverständlich viel mehr darüber sagen, was Politzer und Sokel Wesentliches zur Kafka-Forschung beigetragen haben. Hier geht es letztlich aber nur darum zu zeigen, dass sie sich trotz ihrer bitteren persönlichen Erlebnisse als vertriebene deutsch-österreichische Juden dagegen gewehrt haben, Kafka und seine Kunst auf die Thematik des verfolgten Juden zu reduzieren. Im Gegenteil, Sokel betont ausdrücklich: „Kafkas mythisches Werk ist nicht der Mythos eines Kulturkreises oder einer Volksgruppe“ (Sokel 1964: 24, Herv. RTG). Man kann nicht stark genug betonen, wie wichtig diese Öffnung von Kafkas Literatur zum Universalitätsanspruch des Allgemeinmenschlichen und einer übernationalen Weltliteratur war, gerade im historischen Kontext der Nachkriegszeit. Dieser Universalitätsanspruch ging bei Politzer und Sokel Hand in Hand mit einer hermeneutischen Öffnung der Werke Kafkas, die nicht nur ihre unendliche Auslegbarkeit betonte, sondern auch den Stellenwert ihrer Analyse als vorwiegend literarische und ästhetische Gebilde hervorhob. Kafka-Forschern ist es hinreichend bekannt, dass der Ansatz Politzers und Sokels nur eine von vielen Phasen in der nordamerikanischen und der weltweiten Kafka-Interpretation bildet. Gerade die US-Germanistik hat eine völlig andere, jetzt weit verbreitete Tendenz in der Kafka-Rezeption nachdrücklich gefördert: nämlich eine Perspektive, die Kafka als Juden betrachtet und seine Werke als Ausdruck jüdischen Geistes bzw. jüdischer Erfahrungen auslegt. Selbstverständlich hat Kafkas Freund und Nachlassverwalter Max Brod diese jüdisch-religiöse Ausrichtung in der Kafka-Forschung initiiert und in seinem Werk verteidigt (Brod 1948: 51-63). Wie oben ausgeführt haben sowohl Heinz Politzer als auch Walter Sokel sich gegen diese Engführung Kafkas mit seinem Judentum und mit der Religion ausgesprochen. Und diese religiöse Interpretation galt in der Kafka-Forschung als allgemein diskreditiert, bis sie Mitte der 1990er-Jahre durch Arbeiten wieder wachgerufen wurde, die Kafkas Schicksal als Juden in einer antisemitischen Gesellschaft hervorhoben und seine literarischen Werke in erster Linie auf den Ausdruck dieses verfolgten Judentums zu reduzieren versuchte. Ich denke hier hauptsächlich an die Arbeiten des amerikanisch-jüdischen Germanisten Sander Gilman, dessen einflussreiches Buch Franz Kafka, the Jewish Patient im Jahre 1995 erschien.8 In Gilmans Analyse stehen Kafka und sein Werk nicht jenseits des Judentums und jenseits der 8 Für eine ausführliche Kritik von Gilmans Buch siehe meine in der Zeitschrift Michigan Germanic Studies erschienene Rezension (Gray 1994).

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antisemitischen Vorurteile seiner Gesellschaft; im Gegenteil, sowohl Kafka als Jude und sein Werk sind verfangen in den prominenten Diskursen der Moderne, die den Juden nicht nur als rassisch minderwertig, sondern auch als wesentlich krankhaft und weiblich hinstellen (Gilman 1995: 4). Gilmans Ansicht nach partizipieren Kafka und seine Literatur in dieser Pathologisierung, Feminisierung und rassischen Herabsetzung des Juden und des Judentums, insofern als sie vergebliche Bemühungen darstellen, diesen diskursiven Bestimmungen zu entkommen. Anstelle des wegweisenden modernen Schriftstellers von europäischem, ja internationalem Rang, dem man in den Werken von Politzer und Sokel begegnet, finden wir hier ausschließlich den Juden Kafka, der als Gefangener seines eigenen Judentums bzw. des modernen Diskurses über den Juden dargestellt wird. In diesem Sinne manifestiert Kafkas Werk für Gilman eine heraufbeschwörende Vorwegnahme des Holocausts (Gilman 1995: 7f.). Hier geht es mir nicht darum, zu diesem wissenschaftlichen Streit ein kritisches Argument beizusteuern – obwohl klar sein dürfte, wo meine Sympathien liegen. Wichtig für den jetzigen Kontext ist letztlich nur die Erkenntnis dieses Wandels in der Rezeption und Interpretation der Figur Kafkas und seines Werks bei jüdisch-amerikanischen Germanisten. Dies ist mehr als nur eine Frage der Generationen – einer älteren Generation, u. a. vertreten von Politzer und Sokel, die Kafka mit der Utopie einer deutsch-jüdischen Symbiose identifiziert, und einer späteren Generation, für die der Holocaust diese mutmaßliche Symbiose nicht nur abstreitet, sondern als Täuschung entlarvt. Vielmehr geht es darum, wie man den Stellenwert des Holocausts als solchen in der Geschichte und der Entwicklung der deutschen Kultur einstuft. Für Politzer und Sokel bedeutet der Holocaust eine schreckliche Verirrung des deutschen Geistesweges, und für sie ermöglicht von daher eine Lektüre von Kafkas Werken eine nachträgliche Berichtigung dieses Irrweges. Für Gilman andererseits repräsentiert der Holocaust nicht eine Abirrung der deutschen Geschichte, sondern ihre notwendige und unabwendbare Kulminierung. So kritisiert Gilman in einer Reflexion über sein eigenes literaturwissenschaftliches Selbstverständnis die deutsch-jüdischen Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus dafür, dass sie den Nazismus als eine zufällige Abirrung, als „a vile rejection of German culture“ auffassen, während er den Holocaust als das Kernereignis der deutschen Geschichte interpretiert, auf das – in perverser Verkehrung der Hegelschen Geschichtsauffassung – die deutsche Entwicklung unausweichlich hinsteuert (Gilman 1989: 200f.). Diese frappante Wende in der Auffassung Kafkas unter amerikanischen Germanisten jüdischer Abstammung ist an sich schon bezeichnend, und sie deutet auf ein allgemeines Umdenken in der Kafka-Kritik. Der ästhetisch

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innovative und wegweisende ‚Littérateur‘ von Weltrang, der den Hochwert deutschen Geistes in Entgegensetzung zu der Verirrung des Holocausts bezeugt, wird umdefiniert in den (krankhaften) jüdischen Schriftsteller, der den Bestimmungen des antisemitischen Diskurses nicht nur nicht entkommen kann, sondern dessen Werk gerade die historische Übermacht dieses Diskurses beweist. Egal, wie man zu diesen kritischen Positionen steht, muss man schließlich zugeben, dass Interpreten wie Politzer und Sokel stellvertretend für die Generation der deutsch-jüdischen Emigranten wesentlich dazu beitrugen, dass Kafkas Name und seine Werke in Amerika, damals wie heute, unverschollen geblieben sind. Aber darüber hinaus: Wer würde daran zweifeln, dass ihre Kafka-Forschungen wesentlich eine Kafka-Renaissance nicht nur in Deutschland und Europa, sondern sogar weltweit förderten? Ob man dasselbe von den Werken Gilmans und seiner Nachfolger wird behaupten können, kann aus heutiger Sicht nicht definitiv beantwortet werden. Politzer und Sokel ist es auf jeden Fall hoch anzurechnen, dass sie als deutsch-jüdische Vertriebene den Juden Kafka und sein Werk zu einem Monument der deutschen, ja der europäischen Literatur und Kultur erklärt haben. Man könnte dies vielleicht die Rache der Vertriebenen nennen. Denn wenn es das Ziel der Nazis war, jedes jüdische Element aus dem deutschen Geistesleben auszumerzen, haben es die in Amerika lebenden deutsch-jüdischen Exilgermanisten durch ihre Kafka-Untersuchungen erwirkt, dass das jüdische Erbe in der Nachkriegszeit wieder in die deutsche Literatur und Kultur hineingeschmuggelt wurde. So konnte wieder zusammenwachsen, was in dem deutschen Kulturleben am Anfang des 20. Jahrhunderts für diese Generation der assimilierten deutschjüdischen Intellektuellen eindeutig zusammengehörte.

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Takahiro Arimura

Die frühe Kafka-Wirkung in Japan: Die Zeit um den Zweiten Weltkrieg Bevor ich auf das eigentliche Thema meines Aufsatzes näher eingehe, möchte ich betonen, dass die Kultur eines Landes nicht nur durch sich selbst, d. h., nicht nur durch die eigene Tradition geprägt wird, sondern dass sie sich auch stets unter dem Einfluss fremder Kulturen weiterentwickelt. In Japan wurde nach der sogenannten Meiji-Restauration im Jahre 1868 die europäische Kultur und Technologie besonders intensiv aufgenommen. Dieser Aufnahmeprozess fand auch im Bereich der Literatur statt und dauert bis heute an. Im Folgenden möchte ich auf Franz Kafkas Wirkung in Japan in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg eingehen.

1. Die erste Abhandlung über Franz Kafka in Japan Die erste in Japan veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung über Franz Kafka erschien im Jahre 1932 unter dem Titel Franz Kafka.1 Autor war Hiroshi Okamura, der an der Kaiserlichen Universität Tokyo tätig war. Die Abhandlung erschien im ersten Jahrgang der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Doitsubungaku Kenkyu [Germanistische Forschung] der Gesellschaft für Germanistik der Kaiserlichen Universität Tokyo. Okamura (1932) bespricht in seiner Abhandlung folgende Erzählungen und Romane Kafkas: Betrachtung, Der Heizer, Die Verwandlung, Das Urteil, In der Strafkolonie, Ein Landarzt, Ein Hungerkünstler, Der Proceß, Das Schloß und Amerika (Der Verschollene). Im Folgenden möchte ich Okamuras Ausführungen zur Verwandlung vorstellen. In dieser Erzählung verwandelt sich die Hauptfigur Gregor Samsa durch eine Metamorphose in ein Ungeziefer. Er kann danach nicht mehr seiner Arbeit nachgehen und muss schließlich völlig vereinsamt sterben. Oka1 Schreibung der Titel nach der kritischen Kafka-Ausgabe; Okamura hatte die Brod-Ausgabe zur Verfügung.

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mura kommt nun zu dem Schluss, dass in der Verwandlung die Einsamkeit des modernen Bürgers thematisiert werde. Kafka beschreibe die Angst des durch seine schwierige alltägliche Arbeit erschöpften kleinen Bürgers. Diese Einsamkeit der Hauptfigur sei das Grundwasser, das durch die moderne Literatur fließe. Okamura stellt die These auf, dass Kafka geisteswissenschaftlich als zeitgenössischer Autor anzusehen sei und in naher Zukunft großen Einfluss auf die japanischen Schriftsteller ausüben werde. Seine Voraussage wurde zwar erst nach dem Zweiten Weltkrieg Wirklichkeit, aber wir sollten uns an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass Okamuras Abhandlung nur acht Jahre nach Kafkas Tod im Jahre 1932 veröffentlicht worden war. Was den Einfluss Kafkas auf zeitgenössische japanische Schriftsteller angeht, so möchte ich einige Beispiele vorstellen. Hier ist an erster Stelle Kobo Abe zu nennen. Abe verfasste 1951 den Roman Kabe – S. Karumashi no Hanzai [Die Wand – Das Verbrechen von Herrn S. Karuma], der den renommierten Akutagawa-Preis2 erhielt. Dieser Roman war unter dem Einfluss von Kafkas Proceß entstanden. Im Jahre 1962 verfasste Abe dann den Roman Suna no Onna [Sandfrau], der in Deutschland 1981 unter dem Titel Die Frau in den Dünen erschien. Seinen großen internationalen Erfolg verdankt Abe m. E. zweifellos dem Einfluss der Werke Franz Kafkas. Neben Abe könnten auch noch Yumiko Kurahashi, Toshio Shimao, Kunio Ogawa, Kiyoteru Hanada genannt werden, die alle neben anderen japanischen Schriftstellern auch von Kafka beeinflusst wurden (Arimura/Yagi 1985). Besondere Erwähnung aber verdient Haruki Murakami. Murakami veröffentlichte im Jahre 2002 den Roman Umibe no Kafka3 [Kafka am Strand] und wurde dafür im Jahre 2006 mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis [Cena Franze Kafky] ausgezeichnet. Heutzutage ist Murakami einer der bekanntesten japanischen Schriftsteller. An dieser Stelle möchte ich auf Hiroshi Okamura zurückkommen. Im Jahre 1954 veröffentlichte Okamura, 22 Jahre nach seiner ersten, seine zweite Abhandlung über Kafka (Okamura 1954). Diesmal thematisierte Okamura die Bedeutung der Dichtung Franz Kafkas für Japan und stellte die Frage: „Ist Kafka ein so schwieriger Dichter, der sich von uns Japanern so weit distanziert hat?“ (Okamura 1954: 13)4 Okamura verneint diese Frage und betont, dass Kafka in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur für Europäer, sondern auch für Japaner als repräsentativer Dichter anzusehen wäre. Dies 2 Der Akutagawa-Preis ist der bedeutendste Literaturpreis Japans. 3 Die Hauptfigur von Murakamis Romans ähnelt stark Karl Roßmann aus Kafkas Amerika. 4  Alle Übersetzungen aus dem Japanischen vom Vf.

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gelte sowohl unter dem Gesichtspunkt des Ausdrucks als auch unter dem des Inhalts. Die von Kafka behandelten Themen seien auch für Japaner von großer Wichtigkeit. Zur Bedeutung von Kafkas Dichtung bemerkt Okamura: Ich weiß nicht, ob es recht wäre, Kafka als existentiellen Dichter zu sehen, es lässt sich aber nicht leugnen, dass seine Dichtung durch die mit dem Begriff Existentialismus bezeichnete Angst des 20. Jahrhunderts charakterisiert wird. (Okamura 1954: 16)

Okamura betont, dass Franz Kafka nie völlig verzweifle, wie man im letzten Kapitel seines Romans Amerika sehen könne, denn dort beschreibe Kafka das positive Schicksal der Hauptfigur Karl Roßmann. Die Leser dieses Romans könnten daher nicht verleugnen, dass trotz aller Verzweiflung, die in Kafkas Werken vorherrsche, bei Kafka auch Hoffnung und Träume zu finden seien. Deshalb könne man begreifen, warum Kafka in einer Zeit von Verwirrung und Angst eine besondere Anziehungskraft hatte und universalen Weltruhm errang (Okamura 1954: 16). Okamura macht hier unverkennbar die beiden Seiten von Kafkas Dichtung deutlich. Bei Kafka gibt es trotz aller Verzweiflung stets auch immer Hoffnung.

2. Die ersten japanischen Übersetzungen von Werken Kafkas Im Jahre 1933 übersetzte Yukio Hajiro, der später Professor an der Universität Hiroshima wurde, als Erster verschiedene Werke Kafkas ins Japanische. Einige dieser Übersetzungen wie Ein Brudermord oder Das nächste Dorf aus dem Sammelband Ein Landarzt wurden in Heft Nr. 2 der germanistischen Fachzeitschrift Kastanien der Universität Kyoto veröffentlicht. Andere wie Die Brücke, Kleine Fabel, Prometheus und Das Ehepaar erschienen im selben Jahr in der Zeitschrift der literarischen Gruppe Nichirin [Die Sonne]. Da diese Übersetzungen nur in literarischen Fachzeitschriften erschienen, blieb den meisten Japanern Kafka zunächst unbekannt (Hajiro 1969). Sieben Jahre später (1940) übersetzte Koichi Motono, der später Professor an der Konan Frauenhochschule wurde, den Proceß ins Japanische.5 Die Übersetzung erschien im Verlag Hakusuisha unter dem Titel Shinpan [Prozess]. Es konnten zwar nur sechs bis sieben Exemplare der Übersetzung verkauft werden, aber unter den Lesern dieser Übersetzung war auch Kobo Abe, dessen 5 Dies war die erste in Buchform publizierte japanische Übersetzung eines Werkes von Franz Kafka.

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spätere Erzählung Kabe – S. Karumashi no Hanzai [Die Wand – das Verbrechen von Herrn S. Karuma] von dieser Übersetzung stark beeinflusst werden sollte. Japan führte 1940 schon einige Jahre Krieg in Ostasien und ab 1941 sollte sich dieser Krieg zum Zweiten Weltkrieg ausweiten. Trotz dieser schwierigen politischen Lage wurde Kafkas Proceß in Japan zu einer Zeit publiziert, als Kafka in Deutschland verboten war. Im Vorwort seiner Übersetzung schildert Motono ausführlich Leben und Werk Franz Kafkas. Zum Proceß meint er, dass dieser Roman als „Dichtung der Angst“ zu sehen sei (Motono 1940: 10ff.). Die Hauptfigur Josef K. wird eines Morgens völlig unvorbereitet von Gerichtsbeamten verhaftet. Josef K. versucht beim Richter und über seinen Anwalt die Gründe seiner Verhaftung zu erfahren, aber niemand kann ihm diese mitteilen. Er schwebt in tausend Ängsten und wird schließlich von zwei Beamten getötet. Motono betont, dass Josef K. sterben musste, da er seine Angst vor dem Leben nicht überwinden konnte. Im Jahre 1948 beschäftigte sich Motono intensiv mit Kafkas Ein Bericht für eine Akademie aus dem Sammelband Ein Landarzt. Dabei legte er besonderes Augenmerk auf die folgende Äußerung der Hauptfigur, eines Affen: „Nein, Freiheit wollte ich nicht; Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; [...].“ (Kafka 1965: 189). Motono interpretiert die Äußerungen des Affen dahingehend, dass dieser nicht die Freiheit, sondern einen Ausweg, d. h. ein Entkommen aus seiner alten Welt suche, und kommt zu dem Schluss, dass Kafkas Themen die Angst vor der Welt und das Entkommen aus der Welt seien (Motono 1948: 34f.). Im Jahre 1953 veröffentlichte Motono seine Übersetzung des Proceß von 1940 noch einmal ohne jede inhaltliche Veränderung im Verlag Kadokawa. Die Übersetzung verkaufte sich diesmal viel besser, da der Zweite Weltkrieg schon seit acht Jahren beendet war. Der 1951 ins Japanische übersetzte Mythe de Sisyphe von Albert Camus übte großen Einfluss auf die japanische Germanistik aus.6 Japanische Germanisten zeigten starkes Interesse an Camus’ Die Hoffnung und das Absurde im Werk Franz Kafkas und bis zum Jahre 1974 erschienen insgesamt über 170 japanische Beiträge7 zu Franz Kafka.

6 Die japanischen Germanisten interessierte besonders der französische Existenzialismus und in der Folge hielt ein regelrechter Kafka-Enthusiasmus in die japanische Germanistik Einzug. 7 Die Beiträge sind in Nr. 53 der Zeitschrift Doitsu Bungaku [Deutsche Literatur] bibliografisch erfasst.

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3. Atsushi Nakajima: Der erste von Kafka beeinflusste japanische Schriftsteller und seine Erzählung Sangetsuki (Der Tiger im Mondlicht) 3.1. Zum Leben Nakajimas Unter den von Franz Kafka beeinflussten japanischen Schriftstellern war Atsushi Nakajima der erste. Nakajima wurde im Jahre 1909 in Tokyo geboren und lernte an der Ersten Kaiserlichen Oberschule als zweite Fremdsprache Deutsch. Im Jahre 1930 begann er an der Kaiserlichen Universität Tokyo japanische Literatur zu studieren und ab 1933 arbeitete er als Lehrer für Japanisch und Englisch an einer privaten Oberschule in Yokohama. Im Jahre 1941 reichte er dann sein Entlassungsgesuch ein und trat im Auftrag des Militärs eine Stelle auf Parao, einer mikronesischen Insel im Pazifik, an. Diese Inselgruppe war vom japanischen Militär besetzt, und Nakajima sollte für die dort lebenden Schulkinder Lehrbücher erarbeiten. Allerdings kehrte er schon im März 1942 wegen des heftiger werdenden Krieges und der Verschlimmerung seines Asthmas nach Japan zurück. Durch das Leben auf Parao entwickelte Nakajima einen Widerwillen gegen das koloniale Erziehungssystem. Er starb am 4. Dezember 1942 im Alter von 33 Jahren an Asthma. Die Ehe seiner Eltern war geschieden worden, als er noch ganz klein war. Nakajima vermisste daher schon in jungen Jahren die familiäre Wärme. Sein Vater wurde als Staatsbeamter häufig versetzt, sodass Nakajima schon sehr früh das Gefühl der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit kennenlernte. Nakajima besaß fundierte Kenntnisse über Platon, Voltaire, Goethe, Kleist, Th. Mann und Kafka. Goethes Dichtung und Wahrheit las er eifrig unter der Anleitung seines Lehrers. Daneben hatte Nakajima auch großes Interesse an der chinesischen Klassik.

3.2. Nakajimas Rezeption der Werke Kafkas Vermutlich zwischen 1934 und 1936 beschäftigte sich Nakajima sehr intensiv mit der englischen Übersetzung der Werke Kafkas The Great Wall of China and Other Pieces. Diese Übersetzung stammt vermutlich aus dem Jahre 1933 von Edwin Muir. Nakajima versuchte sogar die in diesen Band aufgenommene Aphorismenreihe Reflection on Sin, Pain, Hope and the True Way [Betrachtungen

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über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg] ins Japanische zu übersetzen, was ihm aber nur bei den ersten zehn Aphorismen gelang. Darüber hinaus beschäftigte sich Nakajima auch mit der englischen Übersetzung The Burrow (Der Bau) und verarbeitete diese Erfahrung in seiner 1936 erschienenen Erzählung Rôshitsuki [Das Wolfsleiden]. Aus dieser Erzählung möchte ich die folgenden Worte der Hauptfigur Sanzo zitieren: Ich lese jetzt die Erzählung Der Bau von einem gewissen Kafka. Dies ist sicher ein etwas merkwürdiges Arrangement für eine Novelle. Der Ich-Erzähler scheint ein Wiesel, ein Maulwurf oder etwas Ähnliches zu sein, doch wird bis zum Ende nicht ganz deutlich, was er wirklich ist. In der Erzählung legt sich der Ich-Erzähler einen unterirdischen Bau als Wohnort an und zerbricht sich dabei immerfort den Kopf, wie er mit gründlich ausgefeilten Methoden seinen Bau gegen alle denkbaren Gegner und Unfälle schützen könne. (Nakajima 2001: 423)

Sanzo kommt schließlich zu der Erkenntnis, je mehr Überlegungen die Hauptfigur von Kafkas Erzählung zur Verteidigung ihres Baues anstellt, umso mehr befürchtet sie die Unvollkommenheit der Verteidigung. Sanzo identifiziert sich mit Nakajima, dem Autor der Erzählung. Nakajima erkennt im Verhalten des merkwürdigen Tiers aus der Erzählung Der Bau die Gedanken Kafkas und seine Verzweiflung an dem Unzerstörbaren. Wie Kafka grübelt auch Nakajima über den endgültigen Sinn des Menschen im weltlichen Dasein nach. Er stellt sich die Frage, wie alles Seiende seine unvergängliche Identität begründen und wie der Mensch nach dem Unzerstörbaren streben könne. In den oben zitierten Äußerungen der Hauptfigur Sanzo dokumentiert sich „das erste Aufeinandertreffen eines japanischen Schriftstellers mit Kafka.“ (Mitani 2003: 55) In Nakajimas unvollendetem Roman Hoppôkô [Nordfahrt], an dem er von 1934 bis 1936 arbeitete, äußert sich die Hauptfigur: Seit Langem fühlte er, dass es zwischen ihm selbst und der Wirklichkeit einen dünnen Vorhang gebe. Dieser Vorhang wurde so dick, dass er nicht mehr in der Lage war, ihn zu zerreißen. (Nakajima 2001b: 109)

In der Fassung B von Kafkas Beschreibung eines Kampfes findet sich eine ähnliche Szene wie in Nakajimas Nordfahrt: Und ich hoffe von Ihnen zu erfahren, wie es sich mit den Dingen eigentlich verhält, die um mich wie ein Schneefall versinken, während von andern ein kleines Schnapsglas auf dem Tisch fest wie ein Denkmal steht. (Kafka 1969: 91)

Bei Nakajimas Arbeit an der Nordfahrt war die Fassung B der Beschreibung eines Kampfes in Japan noch nicht publiziert worden. Deshalb konnte Nakajima diese Fassung unmöglich kennen. Aus diesem Grund kann man vermuten, dass die Parallelen in der Gedankenwelt von Nakajima und Kafka in einer gemein-

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samen Weltsicht begründet liegen. Kafka und Nakajima verzweifeln daran, dass ihnen die Notwendigkeit jeder menschlichen Existenz vorenthalten wird.

3.3. Nakajimas Sangetsuki und Kafkas Die Verwandlung Im folgenden Abschnitt möchte ich Sangetsuki 8 mit der Verwandlung vergleichen. Sangetsuki verfasste Nakajima in Jahre 1942 nach seiner Rückkehr nach Japan. Die Erzählung wurde im gleichen Jahr in der Literaturzeitschrift ­Bungakkai [Die literarische Welt] veröffentlicht. Sie wurde so populär, dass sie auch in japanische Schulbücher Aufnahme fand. 3.3.1. Zum Inhalt der Erzählung Sangetsuki Die Hauptfigur der Erzählung Ri Cho ist ein Gemeindebeamter, der zugleich ein hochbegabter Dichter ist. Er gibt sein Amt früh auf und kehrt in die Heimat zurück, um sich nur noch der Dichtkunst zu widmen. Seine Dichtkunst ist jedoch wenig einträglich, und nach einigen Jahren wird seine Armut unerträglich. Um seine Familie ernähren zu können, nimmt er schließlich widerwillig die niedrigste Stelle eines Provinzialbeamten an. Mit der Zeit verliert er fast völlig den Glauben an seine dichterische Begabung. Durch sein freudloses Dasein sinkt Ri Cho in tiefe Schwermut und wird fast verrückt. Als er einmal auf einer Dienstreise in einem Hotel übernachtet, verlässt er es mitten in der Nacht und wird danach nie wieder gesehen. Ri Cho hat sich in einen Tiger verwandelt. Im folgenden Jahr begegnet ein alter Freund Ri Chos auf einer Waldwiese einem wilden Tiger, der sich als sein verwandelter Freund Ri Cho herausstellt. Ri Cho erzählt seinem Freund, warum er sich in einen Tiger verwandelt hat. Danach verlässt er den Ort, und die Erzählung endet mit dem Satz: „Er schaute zu dem schon verblassenden Mond, brüllte zwei-, dreimal, verschwand im Gebüsch und wurde nie wieder gesehen.“ (Nakajima 2001c: 29) Für diese Erzählung stützte sich Nakajima übrigens auch auf die chinesische Erzählung Der in einen Tiger verwandelte Mensch, die im 8. Jahrhundert von Li Jingliang, einem Dichter aus der Zeit der Tang-Dynastie, verfasst worden sein soll. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen Der in einen Tiger verwan8 Die Erzählung wurde 2000 von Stefan Wundt und Nobuhiro Kawauchi unter dem Titel Tiger im Mondlicht ins Deutsche übersetzt und erschien im Tokioter Verlag Kokusai Gogakusha. Zit. n. dt. Übers.

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delte Mensch und Tiger im Mondlicht. Die Hauptfigur der chinesischen Erzählung ist hochmütig und unbescheiden. Deshalb wird sie menschenfeindlich und verwandelt sich schließlich in einen Tiger. Die Hauptfigur Nakajimas aber ist mit ihrem Beamtendasein unzufrieden und versucht stattdessen, ein berühmter Dichter zu werden. Sie widmet sich dem Dichten, aber ihre Dichtung wird in der literarischen Welt nicht geschätzt. An diesem Misserfolg verzweifelnd verwandelt sie sich schließlich in einen Tiger. Nakajima schrieb die alte chinesiche Geschichte um, indem er eine neue Welt darstellte, die der absoluten Dichtkunst. 3.3.2. Vergleich der Handlungen der Erzählungen Die Verwandlung und Sangetsuki Es finden sich zwar keine deutlichen Belege dafür, dass sich Nakajima mit Kafkas Verwandlung beschäftigt hat, aber die Tatsache, dass Nakajima in Rôshitsuki [Das Wolfsleiden] Kafkas Erzählung Der Bau erwähnt, gibt uns einen Hinweis darauf, dass Nakajimas Dichtung mit der von Kafka verglichen werden kann. Während die Hauptfigur der Verwandlung Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht und sich im Bett liegend in ein abscheuliches Ungeziefer verwandelt findet, verwandelt sich Ri Cho, die Hauptfigur aus Sangetsuki, auf einer Dienstreise in einen Tiger. In Bezug auf die Metamorphose ist das traurige Schicksal der beiden Hauptfiguren gleich. Beide können danach nie mehr in die Welt der Menschen zurückkehren. Dennoch möchte ich auf einen Unterschied in der Situation zwischen Gregor und Ri Cho hinweisen. Gregor Samsa weiß nicht, warum er sich in ein Ungeziefer verwandelt hat, und er hat darüber hinaus auch nicht die Absicht, den Grund für seine Metamorphose zu erfahren. Ri Cho dagegen erzählt seinem alten Freund eingehend, warum er sich in einen Tiger verwandelte: Der Mensch ist der Dompteur seiner Eigenschaften, die er wie ein Raubtier dressiert. Das Raubtier in mir war jenes hochmütige Schamgefühl, nämlich der Tiger. (Nakajima 2001c: 27)

Nach Ri Chos Worten ist seine Verwandlung in einen Tiger also als ein Ausdruck der Scham anzusehen, die in seinem Herz wohnt. Dieses Schamgefühl entstand bei ihm als Ausdruck der Verzweiflung gegenüber der Dichtkunst. Gleichzeitig verursacht dieses Schamgefühl auch ein Gefühl tiefer Hilflosigkeit, da Ri Cho von niemandem als Dichter respektiert wird. Eine weitere Ursache für die Metamorphose liegt meines Erachtens darin, dass für Ri Cho die Dichtkunst wichtiger wurde als seine Familie, denn durch sein Verhalten

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wäre seine Familie fast vor Hunger und Kälte umgekommen. Er schämte sich seiner Unbarmherzigkeit gegenüber seiner Familie und wird durch seine Selbstbetrachtung schließlich zum Tiger. 3.3.3. Vergleich der Familienbeziehungen Gregor Samsas und Ri Chos Gregor Samsa hegt auch nach seiner Metamorphose noch liebevolle Gefühle für seine Familie, wie sie in der folgenden Stelle zum Ausdruck kommen: Was für ein stilles Leben die Familie doch führte, sagte sich Gregor und fühlte, während er starr vor sich ins Dunkle sah, einen großen Stolz darüber, daß er seinen Eltern und seiner Schwester ein solches Leben in einer so schönen Wohnung hatte verschaffen könnten. Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollten? (Kafka 1965: 95)

Aber trotz seiner Liebe für seine ihn ablehnende Familie stirbt Gregor an einer schweren Verletzung, die ihm sein Vater durch einen Apfelwurf zufügt. Nach Gregors Tod meint sein Vater erleichtert: „Jetzt können wir Gott danken.“ (Kafka 1965: 138) Danach begibt sich die Familie auf einen Ausflug. Sie sind froh darüber, dass Gregor gestorben ist. In der Verwandlung werden der grausame Tod Gregors und die glückliche Zukunft seiner Schwester Grete gegenübergestellt. Diese Situation verdeutlicht den Lesern einen tiefen Widerspruch. Die tragische Situation der Familie Gregor Samsas könnte ein Hinweis auf die Familiensituation Kafkas sein. Auch Ri Cho liebt seine Familie, er wird von ihr als Ehemann und Vater geliebt, trotzdem verlässt er seine Familie und die Menschenwelt. Während Gregor Samsa indirekt durch seinen Vater getötet wird, verwandelt sich Ri Cho durch seine Scham in einen Tiger. In der Verwandlung spiegeln sich die Familienbeziehungen Kafkas wider. Kafkas Familie betrieb eine Asbest-Fabrik und Kafka sollte, nachdem sein Schwager zum Militärdienst eingezogen wurde, neben seiner Tätigkeit bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUVA) in der Fabrik mitarbeiten. Diese Arbeit war jedoch sehr mühsam und Kafka fand keine Zeit mehr, schriftstellerisch tätig zu sein. Während der Vater mit dem Sohn oft unzufrieden war, hatte er zu den Schwestern, vor allem zu Ottla, ein gutes Verhältnis. Allerdings verurteilte auch sie seine Auflehnung gegen den Vater. Die Mutter war stets sehr liebevoll zu ihrem Sohn, konnte ihn aber nicht überzeugen, den strengen Anweisungen des Vaters Folge zu leisten. In Sangetsuki sind die Familienbeziehungen völlig anders. Ri Cho liebt seine Familie und seine Frau und Kinder vertrauen ihm. Aber das Familienleben zerbricht, da er sich in einen Tiger verwandelt hat. Ri Cho bittet seinen alten

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Freund darum, seine Familie zu retten: „Entschuldige diese unverschämte Bitte, doch erbarme dich ihrer Einsamkeit und Schwäche, damit sie nicht vor Hunger und Kälte auf der Straße umkommen.“ (Nakajima 2001c: 28) Nakajima heiratete schon als Student und hatte zwei Kinder, starb aber bereits im Alter von 33 Jahren an Asthma, nachdem er diese Erzählung fertiggestellt hatte. Seine Frau erzählte einmal einem Freund Nakajimas von dem folgenden Gespräch mit ihrem Mann: Eines Tages kam er in die Küche und sagte mir, dass er an einer Erzählung schreibe, in der sich ein Mensch in einen Tiger verwandele. Er hatte mir bisher nie eines seiner Werke gezeigt [...]. Er machte damals ein so trauriges Gesicht, dass ich es bis heute nicht vergessen kann. Später, nach seinem Tod, las ich dann Tiger im Mondlicht. Ich fühlte mich traurig, da mir war, als würde ich seine Stimme hören. (Nakajima 2002: 229)

Nakajima ahnte wohl sein Schicksal und sagte seiner Frau seinen Tod voraus. 3.3.4. Das Leben als Dichter: Kafka und Nakajima Gregor Samsa und Ri Cho waren nicht mehr in der Lage, in der wirklichen Welt zu leben. Gregor starb schließlich, und Ri Cho kann nie wieder ein Mensch werden. In diesem Sinne ist die literarische Welt beider Schriftsteller durch Nihilismus und Ausweglosigkeit geprägt. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass sowohl Kafka als auch Nakajima noch eine andere Gedankenwelt hatten. Gregors Schwester beginnt einmal, Violine zu spielen. Sie spielt dabei so schön, dass Gregor ein Stück zu ihr kriecht und denkt: „War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff ? Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung.“ (Kafka 1965: 130) Diese unbekannte Nahrung ist identisch mit dem Glanz, der aus der Türe des Gesetzes in der Parabel Vor dem Gesetz hervorbricht: „Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“ (Kafka 1990: 294) Kafka selbst bemerkte einmal: „Der Mensch kann nicht leben, ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich zu haben“ (Kafka 1966: 44). Hier zeigt sich, dass Kafka sich stets auch nach der wahren Existenz sehnte, obwohl seine Hauptfigur Gregor Samsa schließlich sterben muss. An anderer Stelle meint Kafka: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“ (Kafka 1966: 42) Gregor Samsa konnte zwar das Unzerstörbare nicht erhalten, aber sein zweites Ich, der Landvermesser K., versucht im Schloß noch intensiver das Unzerstörbare zu finden. In seinem letzten Roman Das Schloß, den Max Brod (1946: 482) als „Franz Kafkas Faust-Dichtung“ bezeichnete, unternimmt die Hauptfigur, der Landvermesser K., alles, um im Dorf des Schlosses wohnen und als Landvermesser

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arbeiten zu können. Denn dies hieße für ihn das Unzerstörbare, d. h. das Absolute zu gewinnen. Er bemüht sich den Ermahnungen der Engel in Goethes Faust zu folgen: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen: Wer immer strebend sich bemüt, Den können wir erlösen (Goethe1962: 359).

Dies ist m. E. ein Hinweis darauf, dass auch Kafka nach einer Erlösung im Sinne Goethes suchte. Im Tiger im Mondlicht erkennt Ri Cho schließlich, dass er sich in einen Tiger verwandelt hat. Er fasst dies in die Worte: Wir begreifen es nicht, was uns auch immer zustößt. Ohne den Grund zu verstehen, müssen wir still unser Los ertragen. Es ist unser Schicksal zu leben, ohne zu wissen, warum. Sogleich dachte ich, mir das Leben zu nehmen. (Nakajima 2001c: 24)

Hier wird deutlich, dass der Mensch die absolute Wahrheit niemals erkennen kann. Denn es ist sein Schicksal zu leben, ohne zu wissen, warum. Ri Cho begreift seine Umwelt als Ursache für die Grundlosigkeit des Daseins und dieses ontologische Denken führt ihn gerade in die Metamorphose. Ebenso wie Kafka sehnte sich auch Nakajima stets nach dem Unzerstörbaren und dem Absoluten. Diese Suche kommt auch in seinen Kurzgedichten zum Ausdruck, von denen ich eines vorstellen möchte.9 In der Finsternis des Universums gibt es eine helle Stelle. An dieser Stelle ist die Kultur der Menschheit. (Nakajima 2001d: 266)

Dieses Kurzgedicht gibt uns einen Eindruck von der positiven Lebensanschauung Nakajimas. In diesem Kurzgedicht bejaht er das Leben und die Dichtung. Von Nakajimas positiver Weltanschauung zeugt auch das folgende Beispiel. Als Schüler an der Ersten Kaiserlichen Oberschule las Nakajima bei seinem Deutschlehrer Goethes Dichtung und Wahrheit. In seiner Erzählung Kamereon – Nikki [Chamäleon-Tagebuch] erinnert sich die Hauptfigur Nakajima an den Anfang von Dichtung und Wahrheit. Zuletzt möchte ich noch ein weiteres Kurzgedicht Nakajimas vorstellen: Eines Tages sah ich zu Goethe empor und seufzte. Er war hochemporragend und allzu erhaben. (Nakajima 2001d: 264) 9 Die Kunstform des japanischen Kurzgedichtes wird Tanka oder Waka genannt. Diese Kurzgedichte entstanden in der sogenannten Manyo-Zeit im 7. und 8. Jahrhundert und haben 31 Silben.

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Takahiro Arimura

Nakajima erkennt zwar, dass die Welt von Absurdität beherrscht wird, er fiebert aber danach, den Menschen aufzufordern, hinter der Finsternis noch eine Helligkeit zu finden. Wie uns diese Kurzgedichte zeigen, ist Nakajimas literarische Gedankenwelt ähnlich strukturiert wie die Kafkas. Denn ebenso wie Kafka erkennt er zwar, dass diese Welt von der Grundlosigkeit des Daseins beherrscht wird, aber er ist auch der Überzeugung, dass man das Unzerstörbare suchen müsse. Ich komme nun zum Schluss meiner Ausführungen und möchte betonen, dass sich gerade in dieser Analyse Belege finden, dass Nakajima die gleiche Gedankenwelt wie Kafka hatte und dass Kafkas Dichtung auf ihn einen wichtigen Einfluss ausübte. Nakajima überzeugte sich durch intensives Studium von Kafkas Dichtung davon, dass die wirkliche Welt von Absurdität beherrscht wird. Zugleich versuchte er in Goethes Dichtung eine Erlösung zu finden, so wie Kafka in der Literatur Goethes nach dem Unzerstörbaren suchte.

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Die frühe Kafka-Wirkung in Japan

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Yoshihiko Hirano

Die Kafka-Rezeption in Japan um 1960. Partei von Kurahashi Yumiko und Die Frau in den Dünen von Abe Kobo1 1. 1960 als ein Wendepunkt in der Zeitgeschichte Japans nach dem Zweiten Weltkrieg Anstatt hier einen literarhistorischen Überblick über die Kafka-Rezeption in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg zu geben und lediglich die einzelnen einschlägigen Romane und Erzählungen namentlich aufzuführen, möchte ich die Periode um 1960 als einen Wendepunkt in der Zeitgeschichte Japans auswählen und mein Augenmerk insbesondere auf zwei Werke richten: auf die Erzählung Partei (1960) von Kurahashi Yumiko und auf den Roman Die Frau in den Dünen (1962) von Abe Kobo, dessen Kern eine Erzählung desselben Autors von 1960, Cicindela Japana, bildet. Dabei seien einige Fakten vorausgeschickt. 1960 gab es in Japan heftige Polemik gegen den Vertrag über Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika, der die Allianz der USA als einstiger Besatzungsmacht mit Japan in der Nachkriegszeit stärken sollte. Anlässlich der Ratifikation des zu erneuernden Vertrags kam es zu massiven Protesten von Demonstranten, die sich um das Parlamentsgebäude herum versammelt hatten. Das neue politische Bewusstsein, das sich inzwischen unter Intellektuellen und Studenten entwickelt hatte, begann die leicht zu Dogmatismus und Bürokratie neigenden Organisationsprinzipien der bestehenden linken Parteien und Sekten infrage zu stellen. Die eigentlich deutsche Vokabel ‚Partei‘ etwa, die Kurahashi als Fremdwort zum Titel ihrer Erzählung wählte, gehörte jenem Jargon an, der damals auf die Japanische Kommunistische Partei (JKP) hinwies, wenn die Autorin auch vermutlich deshalb eine direkte Anspielung darauf verneinte (Kurahashi 1975b: 263), weil sie es vermeiden wollte, von der 1 Im Haupttext und in den Fußnoten dieses Aufsatzes sind die japanischen Namen entsprechend der eigentlichen Reihenfolge gestellt, d. h. der ,Nachname‘ voran und der ,Vorname‘ hinten.

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realen Partei gerichtlich belangt zu werden. Abe Kobo hatte schon aus Anlass seiner Teilnahme am zweiten Kongress des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes von 1956 und der darauffolgenden Reisen in die östlichen sozialistischen Länder, welche zufällig kurz vor dem ungarischen Volksaufstand gemacht wurden, eine kritische Einstellung gegenüber der JKP entwickelt und gelegentlich geäußert, bis er 1962, als gerade Die Frau in den Dünen erschien, als Mitglied ausgeschlossen wurde. Trotzdem muss ich darauf aufmerksam machen, dass weder Partei noch Die Frau in den Dünen ein öffentliches politisches Engagement darstellten. Die beiden Prosatexte, in denen die Perspektiven auf die Ich-Situation reduziert sind, sind keineswegs als autobiographisch geprägte Werke zu lesen, sondern als neue experimentelle Versuche. Partei ist zwar eine Ich-Erzählung, aber die Narration verläuft durchaus mit der Anrede an das Du, als handle es sich dabei um einen französischen ,nouveau roman‘. Die Frau in den Dünen wird zwar in der dritten Person erzählt, aber hier wird die direkte oder die erlebte Rede häufig gebraucht, in der das Ich sich, ob nach außen, ob nach innen, immer wieder ausspricht. In beiden Fällen wirkt eine „einsinnige“ Enge der Perspektive, wie sie von Friedrich Beißner aus Kafkas Romanen herausgearbeitet wurde. Bei Kafka sei, so Beißner, alles von dem Protagonisten „gesehen und empfunden; nichts wird ohne ihn oder gegen ihn, nichts in seiner Abwesenheit erzählt, nur seine Gedanken, ganz ausschließlich“ seine „Gedanken und keines andern, weiß der Erzähler mitzuteilen“ (Beißner 1952: 28). Bei Kurahashi und Abe ist zunächst eine solche Affinität mit Kafka in Bezug auf dessen Duktus zu konstatieren.

2. Partei von Kurahashi Yumiko Die 1960 veröffentlichte Erzählung Partei stammt von Kurahashi Yumiko, einer 24-jährigen, damals noch unbekannten Romanistikstudentin. Die Handlung ist leicht zu skizzieren: Das weibliche Ich wird von dem Geliebten aufgefordert, in die Partei einzutreten. Das Ich nimmt zwar an den Aktivitäten der Partei teil, es fühlt sich in diesem Kreis aber immer fremd und entfremdet. Das Ich erlebt ferner Schwangerschaft und Verhaftung. Als die Bewerbung um Aufnahme in die Partei schließlich angenommen wird, entscheidet sie sich, gleich wieder auszutreten. Auf den ersten Blick fällt an der typischen Erzähl-

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weise auf, dass sie sowohl teilnahmslos als auch sensuell, sowohl abstrakt als auch akribisch wirkt. Einige Beispiele seien angeführt: Joining the Party, you began to explain, meant relinquishing one’s personal life, including love relationships, and subordinating oneself to the Party’s principles. I couldn’t see the expression in your eyes because your glasses were glittering too brightly. Your teeth clattered like two poorly constructed skeletons when you brought them together (Kurahashi 1982: 3).2 We were in a room. It was a dirty room with walls that were beginning to crack, deep within the maze of an extraordinarily large building. Since the time when you first brought me to this room, I had noticed that my existence had become strangely abstract. (Kurahashi 1982: 3)

Dem Ich steht eine unsichtbare, wahrscheinlich große „organization“ (Kurahashi 1982: 3) gegenüber, die „no doubt existed somewhere, functioning with its strange, complex mechanism“ (Kurahashi 1982: 16), aber sich durchaus hinter dem Du verbirgt, das ein zwar aktives, aber ebenso der Hierarchie untergeordnetes Mitglied ist, wie die Unterbeamten in Der Proceß oder in Das Schloß. Dieses namenlose System wird ebenfalls immer suggestiv nur mit dem bereits bekannt anmutenden Appellativ „Partei“ benannt, wie das „Gericht“ und das „Schloß“ bei Kafka. Die Personen- und Ortsnamen sind sogar ganz eliminiert. Zwischen Kafka und Kurahashi lässt sich dennoch ein Unterschied feststellen, der offensichtlich tiefgreifend ist. Josef K. im Proceß überlegt sich, „ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht einzureichen“, die „eine kurze Lebensbeschreibung“ enthält (Kafka 1990: 149), obgleich es, so der Advokat Fuld, manchmal geschehe, „daß die ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen werden“, ja sogar „gänzlich verloren“ gehen (Kafka 1990: 151). Josef K., der zuerst unerwartet von den Wärtern des Gerichts überfallen worden ist, will doch seinerseits mehr und mehr absichtlich an diesem sonderbaren „Prozeß“ Anteil haben, ohne dass dieser Versuch ihm allerdings gelänge. In Partei verhält es sich aber ganz umgekehrt. Das Ich beginnt, von dem Du aufgefordert, wider Willen eine „life history“ zu verfassen, die derart zum Eintritt in die „Partei“ unbedingt benötigt wird, dass sie von den Funktionären gemustert und überprüft werden kann. Das personale Dokument etwa, welches das Du einmal der Obrigkeit der „Partei“ eingereicht hat, sieht wie ein „proof“ aus, „that they had been passed around among the Party members for rigorous examination“ (Kurahashi 1982: 3): 2 Weil diese Erzählung noch nicht ins Deutsche übersetzt ist, zitiere ich aus der englischen Übersetzung.

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In any event, it was extremely difficult for me to write my life history […] because I felt almost no interest in my own past. You had advised me to pick details of my past as faithfully as possible, to summarize them, and to connect one to another in some logical order, so that everything could somehow be related to my motivation to join the Party. (Kurahashi 1982: 5; Herv. d. Vf.)

Während Josef K. seine eigene Vergangenheit von selbst aufs Neue überprüfen will, um seine Unschuld zu beweisen oder sogar um sich seiner eventuellen Schuld zu vergewissern, reagiert das Ich in Partei hingegen durchaus negativ, und auch die Veranlassung vonseiten des Du muss sie nur noch befremden. Die sich hier ergebende Differenz rührt wahrscheinlich von einer andersartigen ‚ideology‘ her: I felt nauseated at the thought of using my past to restrict and defend myself. I wanted to escape from the past and throw myself into the future. I had chosen the Party and had resolved to let the Party restrict my freedom. I had not arrived at this decision for any clear reason or through some cause-and-effect relationship. Wasn’t it enough if the Party accepted this decision? But you disagreed. You called my argument ‚intuitionalism‘ and said this is a dangerous ideology. (Kurahashi 1982: 5; Herv. d. Vf.)

Obgleich die Autorin im ersten Satz dieses Zitats das im Japanischen seltene Fremdwort aus dem Französischen ‚honte‘ verwendet hatte,3 haben die Übersetzerinnen zunächst diese eventuelle Verbindungslinie zu Kafka verwischt, die aber anderenorts aufscheint. Wollen wir die betreffende Stelle bei Kurahashi nun derjenigen aus Kafkas Proceß-Roman gegenüberstellen: Even so sometimes they all seemed to me, myself included, like a group of dogs bound together by a leash of honte. (Kurahashi 1982: 12; Herv. der Übersetzerinnen) ‚Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. (Kafka 1990: 312; Herv. d. Vf.)

Die Übersetzerinnen der Partei wählten in der oben genannten Stelle vielleicht deshalb für „honte“ das Partizip „nauseated“, weil sie dort mit Recht den Anklang an Jean-Paul Sartres La Nausée stärker wahrgenommen haben. Man könnte in dieser Intention des Ich, „to [...] throw myself into the future“, sogar einen Hinweis auf die Sartresche These „projet“ erkennen, und zwar als eine Art Parodie, da dort doch nicht postuliert ist „to escape from the past“:

3 Dieses Wort stammt von einem Gedicht des von Baudelaire beeinflussten Dichters Tominaga Taro (1901-1925) (Kurahashi 1975b: 264f.).

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C’est le futur qui décide si le passé est vivant ou mort. Le passé, en effet, est originellement projet, comme le surgissement actuel de mon être. Et, dans la mesure même où il est projet, il est anticipation; son sens lui vient de l’avenir qu’il pré-esqisse. (Sartre 1949: 580; Herv. d. Vf.)4 [Die Zukunft entscheidet, ob die Vergangenheit lebendig oder tot ist. Denn die Vergangenheit ist ursprünglich Entwurf als das aktuelle Auftauchen meines Seins. Und gerade in dem Maß, wie sie Entwurf ist, ist sie Vorwegnahme; ihr Sinn geschieht ihr durch die Zukunft, die sie vorzeichnet. (Übers. n. dt. Ausg.)]

Kurahashi äußert sich zwar in ihrem 1966 erschienenen Essay Labyrinth und Negativität in den Romanen: „Partei, die Erzählung, die ich zum ersten Mal an die Öffentlichkeit brachte, bildet zweifelsohne eine Trinität von Kafka, Camus und Sartre“ (Kurahashi 1970a: 290),5 aber diese angebliche „Trinität“ ist nicht eigentlich ausbalanciert, wie die Autorin in einem anderen Essay L’ Étranger, den ich als eine Étrangère las (1968) zugibt: bei mir blieb zuerst Camus’ L’ Étranger, und dann Sartres La Nausée (und außerdem L’Être et le Néant), erst danach kam Kafka [...]. (Kurahashi 1970b: 319).

Wiewohl ironisch formuliert, ist doch an diesen Aussagen auch ein gewissermaßen intendiertes künstlerisches Epigonentum abzulesen, in dem jede „ideology“ relativiert und suspendiert werden müsste. Auch kurz nach Partei, einer „Miniatur der kafkaesken Welt“ (Kurahashi 1975b: 263), hat Kurahashi noch weiter etliche Erzählungen, z. B. Die Schlange (1960), „eine kafkaeske und ,abeeske‘ Novelle“ (Kurahashi 1975b: 266), und Die Verlobung (1960), „eine recht merkwürdige Novelle“ (Kurahashi 1975b: 268), geschrieben, in denen sie die Personen nur mit ‚K‘, ‚H. K.‘, ‚F. B.‘ usw. benannte und Kafkas Leben und Werk auf eine groteske, ja sogar surrealistische Weise deformierte. Dort lässt sich nicht nur ihre Neigung zu Kafka, wie sie noch 1966 äußert – Übrigens ist Camus schon tot und für mich bleiben nur noch ‚Sonne‘ und ‚Meer‘. Gegen Herrn Meister Sartre hege ich nun eine Aversion. Mein literarisches Rückgrat bildet immer noch Kafka. (Kurahashi 1970a: 291)

–, sondern auch schon der Ansatz zur Distanz beobachten, die die Autorin später mehr und mehr zu Kafka wahren muss. Im Jahre 1975 verurteilt sie ihn in einer Notiz zu ihren eigenen Werken als den „Kranken, der ein Kranker bleiben möchte“, dessen „Krankheit nichts anderes als das Schreiben war“. „Der Berg von solcherlei Fragmenten“, der „weder Arbeit noch Werk“ aus-

4 Kurahashi Yumiko hat die Meiji-Universität mit einer Diplomarbeit über Sartres L’Être et le Néant absolviert. 5  Alle ff. Übers. aus dem Jap. ins Dt. vom Vf.

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mache, so Kurahashi, hätte von Max Brod so verbrannt werden müssen, wie Kafka es selber in seinem Testament gewünscht habe (Kurahashi 1976: 250).

3. Die Frau in den Dünen von Abe Kobo 3.1 Anklänge an Kafka Abe Kobo wurde 1920 in Tokyo geboren, wuchs in der Mandschurei auf und begann nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss von Rilke und Heidegger Gedichte und Prosa zu schreiben. Seine Werke zeigen bald eine surrealistische sowie marxistische Tendenz. Der 1962 erschienene Roman Die Frau in den Dünen, der in Japan von seinen Publikationen am meisten gelesen wurde, bedeutet auch einen Markstein für den Autor selbst, da es sich dabei um das erste Werk handelt, das Abe nach seinem Austritt aus der Japanischen Kommunistischen Partei veröffentlicht hat. Es wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt, auch ins Russische und ins Tschechische, und international so anerkannt und hoch geschätzt, dass dem Autor z. B. 1968 in Frankreich der Preis für die beste fremdsprachige Dichtung verliehen wurde. Die Handlung sei kurz zusammengefasst: An einem Augusttag kommt ein Lehrer und Insektensammler in eine Dünengegend. Bei Einbruch der Dunkelheit übernachtet er in einem Haus, das in einem Sandloch errichtet ist und das unaufhörlich durch die Erosion des Sandes bedroht wird. Hier wohnt eine Frau. Als der Mann am nächsten Morgen erwacht, bemerkt er, dass die Strickleiter, mit der er am Vorabend in den Grund herabgestiegen war, entfernt worden ist. Er gerät außer Fassung, als er zudem bemerkt, dass er zur Zwangsarbeit verurteilt ist, den Sand wegzuschaufeln. Während sich die Frau mit ihrer Lage längst abgefunden hat, bemüht sich der Mann, der Situation zu entfliehen, wobei sein Versuch scheitert, da er von einem Wächter entdeckt wird. Unterdessen beginnen er und die Frau eine Affäre. Dann wird es Winter. Als die Frau wegen einer extrauterinen Schwangerschaft ins Krankenhaus in die Stadt transportiert wird, kann auch der Mann nach langer Zeit endlich das Haus im Sandloch verlassen, kehrt aber freiwillig wieder dorthin zurück. Er bleibt nun in den Dünen, seinem Zuhause. Sieben Jahre später wird er öffentlich als vermisst erklärt. Die Frau in den Dünen ist auch in Bezug auf die Kafka-Rezeption des Autors sicherlich bemerkenswert. Die erste Reaktion des Protagonisten auf den

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Arrest, in den er am Anfang der Geschichte in absurder Weise gerät, lässt an diejenige von Josef K. in Kafkas Proceß-Roman denken. Wie dieser, der „eines Morgens verhaftet“ wird, „ohne daß er etwas Böses getan hätte“ (Kafka 1990: 7), obwohl er „doch in einem Rechtsstaat“ gelebt habe und „alle Gesetze“ immerhin „aufrecht“ bestanden hätten (Kafka 1990: 11), nimmt der Protagonist bei Abe, „der Mann“, der von dem Erzähler nur so genannt wird, ebenfalls die Rechtmäßigkeit dieser allem Anschein nach ungesetzlichen und unrechtmäßigen Handlungen an: Das konnte doch nicht möglich sein. Aber es stimmte. Einfach absurd! Konnte man einen ordentlichen Menschen, der ins Familienregister eingetragen war und einen Beruf ausübte, der Steuern zahlte und in einer Krankenversicherung war, wie eine Maus oder ein Insekt in eine Falle locken und dort festhalten? (Abe 1984: 26) 6

Die Strafe ohne Schuld oder ohne Schuldbewusstsein, die in Kafkas ProceßRoman oder Strafkolonie-Novelle das Leitmotiv bildet, wird auch in Die Frau in den Dünen thematisiert, allerdings eher ironisch: Oben am Rand des Sandlochs wirbelte milchiger Nebel hoch. [...] Er wandte sich der aufwallenden Masse zu und rief ihr spontan entgegen: ‚Hohes Gericht! Bitte, teilen Sie mir doch den Inhalt der Anklage mit. Lassen Sie mich die Begründung des Urteils hören. Ich, der Angeklagte, stehe hier und warte!‘ (Abe 1984: 109)

Ferner hat die einstige Beschäftigung Abes mit Kafkas Prosa seinen eigenen Texten ein anderes Gepräge verliehen. Das erste Werk, in dem sich ein Einfluss Kafkas nachweisen lässt, ist die Erzählung Dendrocacalia (1949), in der der Protagonist sich in eine Pflanze verwandelt. Dieses ,Verwandlungs‘-Motiv wird auch in den nachfolgenden Erzählungen, z. B. Der rote Kokon (1950), Die Wand – das Verbrechen von S. Karma (1951) und Sintflut (1951) weitergeführt. Sie lehnen sich unverkennbar an Die Verwandlung Kafkas an, und zwar in surrealistischer Bearbeitung. Thematisiert sind die Selbstentfremdung und der Verlust der menschlichen Identität einerseits, die avantgardisch orientierte Emanzipation von dem realen alltäglichen Dasein andererseits. In Cicindela Japana (1960) und Die Frau in den Dünen (1962) sieht es aber schon anders aus, was auf eine andere Art der Kafka-Rezeption bei Abe weist. Elias Canetti, den auch Abe später hoch schätzt, definiert in seinem Hauptwerk Masse und Macht, das gerade 1960 erschien, die Machtausübung des Herrschenden als „Verwandlungsverbot“ gegenüber den Untergeordneten (Canetti 1960: 435ff.). Bei dem Verhältnis zwischen den Dorfbewohnern und dem Mann scheint es zwar auch der Fall zu sein, denn dieser versucht, dem Bann 6 Ich zitiere im Folgenden aus der zugänglichen deutschen Übersetzung.

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der Gemeinschaft, die ihn zum Zwangsarbeiter machen will, einige Male zu entkommen, und sein Wunsch wäre bei dem einstigen Abe als surrealistische ,Verwandlung‘ realisiert worden. Nun ist aber schon in der Textur von Die Frau in den Dünen gewissermaßen ein Verwandlungsverbot erlassen worden. In welches Wesen könnte der Mann sich dann verwandeln, falls es nicht nur darum geht, in den alten Alltag zurückzukehren? Kann man denn die eventuelle umgekehrte Transformation vom Leben eines ‚Klein‘tiers (wie einer Maus oder eines Insekts) zu dem eines ‚Klein‘bürgers etwa für solch eine Verwandlung wie die von Gregor Samsa halten? Nein, der Mann ist hier durchaus ein Mann. Auch nachdem alle Fluchtversuche gescheitert sind, will er doch zu der äußeren Welt irgendwie Verbindungen knüpfen. „Eines Tages versuchte der Mann […] auf dem freien Platz hinter dem Hause eine Schlinge zu legen, um eine Krähe zu fangen“, und „diese Falle nannte er“ mit einem Anflug von Ironie „Hoffnung“ (Abe 1984: 106). Er wollte der Krähe einen Brief als SOSSignal anbinden, und sie nach ‚draußen‘ fliegen lassen. Aber selbst danach bleibt er paradoxerweise bei seinem Entschluss, in dem Sandloch weiterhin zu verweilen. Der Flugsand, in dem auch zahlreiches „Ungeziefer“ lebt, führt ihn also nicht zu einer Verwandlung, sondern im Gegenteil zu der ihm von der Dorfgemeinschaft zugewiesenen Identität, die in seiner endgültigen Niederlassung in der Dünengegend kulminiert. Er hat nämlich beim Stellen der Falle zufällig entdeckt, dass auf dem Boden des Sandlochs ein wenig Wasser hervorquillt. Hier erfolgt ein Verweis auf die Figur des namenlosen Ich in Kafkas Fragment Der Bau, in dem ein Lebewesen fleißig schaufelt und wühlt, um sich seines Lebensraumes zu versichern. Dementsprechend ist die surrealistische Verarbeitung der Verwandlung wie in den früheren Werken von Abe nicht mehr so explizit, statt ihrer rückt Das Schloß als Modell in den Vordergrund. Einerseits wird der Mann in den Dünen in seiner ehemaligen Heimat ebenso zum Verschollenen erklärt wie Karl Roßmann, andererseits ähnelt dieser Mann, der mit der Frau in den Dünen emsig Sand schaufeln soll, nunmehr dem Protagonisten im Schloß-Roman, der, im Schnee hin- und herlaufend, mit Frieda im Dorf leben will, um sich als Landvermesser anerkennen zu lassen. Abe selbst bemerkt zu seinem Roman: Die Freiheit einerseits, wie ein Vogel wegzufliegen; die Freiheit andererseits, das Nest hüten und von niemandem gestört werden zu wollen. Wie ein Mann, der in einem armen Dorf an der Küste gefangen worden ist, das vom Flugsand heimgesucht und verschüttet wird – wie er zusammen mit einer Frau aus dem Dorf der Arbeit, den Sand zu schaufeln, entkommen konnte [...]. In diesem Werk bin ich anhand des Kampfes mit dem farb- und geruchlosen Sand dem Verhältnis zwischen den beiden Freiheiten nachgegangen. Wenn man den Sand nicht leckte, könnte man auch nicht auf den Geschmack der Hoffnung kommen. (Abe 1998b: 251)

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Sowohl bei Kurahashi als auch bei Abe ist jeweils von der eigenen „Freiheit“ die Rede, die nun eine polysemantische Intention aufweist. Hier ließe sich wiederum ein Einfluss von Albert Camus feststellen, der gerade 1960 starb, nicht zuletzt von Le mythe de Sisyphe (1942) und La peste (1947). Abe hat dieses Motiv der Absurdität wie bei Camus sodann in Richtung des Absurden Theaters entwickelt, wo auch der Einfluss von Samuel Beckett zu spüren ist. Derart durch den französischen Existenzialismus als ein provisorisches Denkmodell oder gar einen bloßen Filter vermittelt, wurden Kafkas Werke in Japan um 1960 rezipiert.

3.2. Dialektik oder Absurdität Oben habe ich in Anlehnung an Beißner die kafkaeske „einsinnige“ Form bei Abe dargelegt. Dagegen sprechen aber etliche Vorbehalte. Die Frau in den Dünen beginnt wie folgt: Eines Tages im August verschwand ein Mann. Er war mit der Bahn zu einem Ausflug an die Küste aufgebrochen, kaum eine halbe Tagesreise entfernt, und seitdem fehlte jede Spur von ihm. Die Vermißtenanzeige bei der Polizei und die Berichte in den Zeitungen waren ohne Ergebnis geblieben. (Abe 1984: 3)

Der Erzähler besitzt also von Anfang an die von dem Protagonisten unabhängige Perspektive, die einer von der Polizei geregelten bürgerlichen Gesellschaft innewohnt, aber sie wird danach dem Blick des Lesers entzogen, indem er scheinbar mit dem Mann eins wird, bis die amtliche Vermisstenerklärung des Familiengerichts zum Schluss unvermittelt angezeigt wird: Antragsteller: Shino Niki Vermißt: Jumpei Niki (geboren 7. März 1924) Auf Grund der Vermißtenanzeige betreffs der obengenannten Person ist eine öffentliche Bekanntmachung erfolgt. Das Verfahren wird hiermit abgeschlossen, da weder Leben noch Tod des seit sieben Jahren (18. August 1955) Vermißten ermittelt werden konnten. Es wird folgende Entscheidung erlassen: Der verschwundene Jumpei Niki wird hiermit für verschollen erklärt. 5. Oktober 1962 Familiengericht Unterschrift des Familienrichters (Abe 1984: 121; Herv. i. O.)

Der Effekt dieser Zeilen ähnelt demjenigen der Verwandlung Kafkas, wo sich der Erzähler nach dem Tod des Protagonisten plötzlich selber ,verwandelt‘ und dessen Perspektive endgültig verliert, indem er etwa die Bezeichnungen wie „der Vater“ sowie „die Mutter“ durch „das Ehepaar Samsa“ oder „Herr und Frau Samsa“ ersetzt und sich selbst als ein Mitglied der ,gesunden‘ klein-

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bürgerlichen Schicht sieht (Kafka 1994: 194ff.). Der Schluss von der Frau in den Dünen verweist nicht nur auf ,den bürgerlichen Tod‘ des „Mannes“, sondern deutet auch auf die Möglichkeit eines physischen Todes, indem seine, so Beißner, „einsinnige“ Perspektive zumindest im Text geschlossen wird. In diesem Gefüge der Frau in den Dünen, das mit dem der Verwandlung korrespondiert, sind sowohl Immanenz als auch Transzendenz angelegt. Bei Kafka hat die transzendente Perspektive des Erzählers gezeigt, dass dieser sich mit dem Kleinbürgertum wie dem Samsas identifiziert. Was für eine Transzendenz findet man hingegen bei Abe? Schon in seinem 1953 veröffentlichten Essay Watashi no Kafuka [Mein Kafka] hatte Abe auf die Möglichkeit einer anderen Transzendenz, auf die einer Synthese, ohne die „die Analyse [...] einen zerrissenen Charakter“ tragen müsste, aufmerksam gemacht: Notwendigerweise nehmen Kafkas Werke die Form einer unendlichen Verkettung von Episoden an. Aber es bedeutet nie, so wie manche Kafka-Interpreten behaupten, einen Gedanken. Der Gedanke ist ja mehr oder weniger synthetisch. [...] Ich will aber aus Kafkas Werken nur die ungewöhnlich scharfe analytische Kraft herausheben. [...] Derjenigen gegenüberzustellen ist eine dieser gewachsenen synthetische Kraft (Abe 1997: 507).

Zu diesem Zeitpunkt spricht Abe immer noch als Marxist von einer Dialektik, mit der man die „in der kapitalistischen Gesellschaft zerrissene desperate Figur des Kleinbürgers“ (Abe 1997: 508) bei Kafka aufheben soll. Kafka müsse, so Abe, durch „eine synthetische Kraft“ schließlich „negiert und überwunden werden“ (Abe 1997: 507). In Die Frau in den Dünen ist aber das Verhältnis von Mensch und Sand als Subjekt und Objekt in der dialektischen Bewegung umgekehrt. Der als ,zweite Natur‘ verdinglichte Sand, der als Macht und Gewalt dem ebenso verdinglichten Menschen gegenübersteht, hat auch das anthropozentrische Denkmodell des Existenzialismus schon in Gefahr gebracht, während hingegen nur dessen Motiv der ,Absurdität‘ aufrechterhalten wird. In diesem Roman ist es, als spiele der Sand ununterbrochen den tatsächlichen Protagonisten: ‚Der Sand macht keine Pause ... Die Seilkörbe und der dreirädrige Wagen sind die ganze Nacht hindurch in Betrieb!‘ ‚Das mag schon sein.‘ Es war wirklich so. Der Sand hörte nie auf, herunterzurieseln. […] ‚Aber dann leben Sie ja nur, um immerfort Sand wegzuschaffen!‘ (Abe 1984: 20)

Die beiden Personen, Mann und Frau, haben denn auch keine Namen, als wären sie selber Sandkörner. Ja, sie verlieren sogar öfters ihre Personalpronomina: Kaum hielt er die Schaufel in der Hand, da klappten sich seine Knochen wie ein Stativ zusammen. Er hatte seit der letzten Nacht kein Auge zugetan. Man müßte wohl auch im voraus festlegen, wieviel Arbeit mindestens geleistet werden mußte. Aber er war zu müde,

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um das jetzt mit der Frau zu besprechen. Vielleicht hatte er seine Stimmbänder bei dem erregten Gespräch mit dem Alten überanstrengt, jedenfalls hatte er das Gefühl, als seien sie zerfetzt wie die Fasern von getrocknetem Tintenfisch. Mechanisch stellte er sich neben die Frau und begann zu schaufeln. (Abe 1984: 77f.; Herv. d. Vf.)

Es gibt im Urtext eigentlich weder ein Personalpronomen noch ein impersonales Pronomen, das in der deutschen Übersetzung nur mit ‚er‘ und ‚man‘ ergänzt werden muss, weil Sätze ohne Subjekte in der japanischen Sprache gebräuchlich sind. Es ist also nicht zu unterscheiden, ob es sich dabei eigentlich um eine deskriptive Rede durch den Erzähler in der dritten Person handelt oder gar um einen inneren Monolog des Mannes in indirekter Rede. So wird die Anonymität der beiden Personen in den Dünen ebenso gewahrt wie in der Partei von Kurahashi Yumiko. Während der Name des Mannes in der von ihm vermuteten und nachher realisierten Vermisstenerklärung bekannt gegeben wird, bleibt die Frau hingegen bis zum Ende namenlos, was schon der japanische Urtitel dieses Romans suggeriert: Suna no Onna, wörtlich übersetzt: ‚Die Frau des Sandes‘. Die japanische Hilfspartikel ‚no‘, die dem Genitiv im Deutschen entspricht, kann Besitz sowie Herrschaft oder eine Kategorie wie Identität bedeuten: „die von dem Sand heimgesuchte und dem Sand anheimgefallene Frau“ oder „die Frau, die nichts anderes als Sand ist“. Die Frau sucht also gewissermaßen als ‚der Sand‘ den Mann auf. Während Partei das Ende einer radikalen politischen Phase in der Nachkriegszeit ankündigte, ist Die Frau in den Dünen hingegen auf eine sich abzeichnende, förmlich ‚sandige‘ Massengesellschaft in Japan orientiert: Diese Vorstellung des ständig dahinfließenden Sandes versetzte ihn in unbeschreibliche Erregung. Die Unfruchtbarkeit des Sandes rührte also nicht nur, wie gewöhnlich geglaubt wird, von seiner Trockenheit her, sondern offensichtlich auch daher, daß er sich dauernd bewegte, wodurch er zum Feind alles Lebendigen wurde. Was für ein großer Unterschied besteht doch zwischen der Welt des Sandes und der trostlosen Art, in der wir Menschen uns Jahr um Jahr aneinanderklammern. (Abe 1984: 8f.)

Wenn die mit knapper Not noch dominierende Dorfgemeinschaft ein feudales Sozialsystem signalisiert, das von der modernen Industrialisierung entfremdet und nun der drohenden Umstrukturierung der Schichten und Klassen ausgesetzt ist, dann ist es kein Wunder, dass der Mann seinerseits ausgerechnet in der Mobilität des ‚ständig dahinfließenden Sandes‘ als Allegorie für die Bevölkerungsbewegung in der kapitalistischen Massengesellschaft die Vision einer Freiheit erblicken will: Gewiß, im Sand gedeiht kein Leben, aber gehört denn das Haften unbedingt zum Leben? Entsteht nicht gerade daraus, daß man unbedingt irgendwo haften will, der Kampf ums

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Dasein? Verzichtete man auf das Haftenwollen und überließe sich der Bewegung des Sandes, dann hätte dieser Kampf augenblicklich ein Ende. (Abe 1984: 9)

Ein solches Nirwana-Denken des Ich müsste man allerdings anzweifeln. Die Hoffnung darauf, dass ‚der Kampf ums Dasein‘ in der Massengesellschaft verschwindet, hat sich als Illusion erwiesen.

3.3. Ein Nachspiel Den Leser stimmt insbesondere der Schluss des Romans nachdenklich, wo der Mann als Protagonist anscheinend darauf verzichtet, aus dem Sandloch zu fliehen, obgleich er nun endlich die Gelegenheit dazu hat. Er scheint sich mit seiner erzwungenen Lage abzufinden: Eigentlich bestand keine Veranlassung, jetzt sofort von hier wegzulaufen. [...] Außerdem wurde ihm plötzlich klar, daß er darauf brannte, mit jemandem über seine Vorrichtung zur Wasserspeicherung zu sprechen, und da gab es wohl keine interessierteren Zuhörer als die Leute aus dem Dorf. Er würde es bald einem von ihnen erzählen, wenn nicht heute, dann morgen. Über die Flucht konnte er ja auch noch später nachdenken ... (Abe 1984: 120)

Dem Mann wurde von Kritikern auch eine Hoffnung zugeschrieben. Noch im September 1962, nur drei Monate nach dem Erscheinen der Frau in den Dünen, schrieb Sasaki Kiichi, ein links eingestellter Kritiker, der ebenfalls aus der Japanischen Kommunistischen Partei ausgetreten war: Dieses Werk, in dem der Sand und die Frau nicht nur als gleichartige materielle Dinge aufgefasst werden, sondern auch als gleichartige soziale Geschöpfe, ist ein epochales, das die Massengesellschaftstheorie, die die Masse als sandiges Objekt verächtlich behandelt, demonstrativ durchbricht. (Sasaki 1962: 147)

Hierbei hofft Sasaki sogar auf ‚den Kampf‘ des Helden, mit der nun gefundenen Wasserquelle „die Situation selbst zu reformieren“, auf den Helden, „der das Dilemma zwischen der Flucht aus der Wirklichkeit und der Rückkehr in die Wirklichkeit zerstreuen kann.“ (Sasaki 1962: 146) Hier ist mit Wirklichkeit zweierlei gemeint: Der Held hat sich nach Sasaki nicht nur dazu entschlossen, nie mehr in seinen einstigen Alltag in die kleinbürgerliche Gesellschaft zurückzukehren, sondern auch dazu, sich in der Dünengegend Wurzeln schlagend seiner gegenwärtigen Situation zu stellen. Sasakis Kritik wurde in der Zeitschrift Shin-Nihon-Bungaku [Neue Japanische Literatur] veröffentlicht, dem Organ einer progressiven, linken und avantgardistischen Autorengruppe. In ihr sind damals die Auseinandersetzungen zwischen den mit der JKP sympathisierenden und den ihr gegenüber kritisch eingestellten Gruppen, zu denen

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auch Abe Kobo gehörte, immer wieder eskaliert. An dem erwähnten Beitrag von Sasaki übten die Anhänger der JKP, die schon auf Die Frau in den Dünen negativ reagierten, heftige Kritik. Den Anlass dazu gab nicht zuletzt Sasakis Aussage über den Schluss des Romans: Etwas zu schaffen heißt, um es kurz zu sagen, ein ,Ding‘ zu verwandeln, indem man sich mit dem ,Ding‘ auseinandersetzt, und sich auch zu verwandeln, indem man das ,Ding‘ verwandelt. Mit solcher Tätigkeit des Schaffens wird das unveränderlich erscheinende ,Ding‘ veränderlich, und auch die unerschüttert wirkende Situation lässt sich erschüttern. Somit kann der Mensch aus der von außen aufgezwungenen Situation seine eigene Situation machen und sich in der Welt aufs Neue einen Weg bahnen. (Sasaki 1962: 144)

In dieser Dialektik, die sich auf eine ,verdinglichte‘ Welt einlässt, nennt Sasaki, der auch Georg Lukács ins Japanische übersetzte, nun als Exemplifikationen solcher entfremdeten und entfremdenden ,Dinge‘ auch „Staaten, öffentliche Körperschaften und Gewerkschaften“, die nur schwer „zu Gegenständen eines freien Schaffens [...] werden können.“ (Sasaki 1962: 144) Es war unvermeidlich, dass die Kulturfunktionäre und Sympathisanten der JKP bei Sasaki auch eine Anspielung auf die ,Partei‘, die eher auf die Erzählung von Kurahashi zugetroffen hätte, sahen. In seinem Beitrag in der Zeitschrift Bunka-Hyouron [Kulturjournal] (Dezember 1962), die von dem Zentralkomitee der JKP herausgegeben wurde, verurteilte der Kritiker Tsuda Takashi, der selber Mitglied des ZKs war, die Abe-Interpretation von Sasaki als „Opposition gegen den Marxismus“, indem er das Wort „Ding“ in der oben genannten Passage aus dem Aufsatz Sasakis demonstrativ durch das Wort „Marxismus“ ersetzte und so versuchte, dessen „Revisionismus“ nachzuweisen (Tsuda 1962: 5ff.). Die Angriffe im Bunka-Hyouron wurden noch weitergeführt. Sato Shizuo, Germanist und Thomas-Mann-Forscher, richtete im Januar 1963 seine Kritik direkt auf den Autor der Frau in den Dünen: Abe Kobo, der als der Schriftsteller beachtet wurde, der ‚den Avantgardismus als Methode und den Kommunismus als Ideologie miteinander verbinden‘ wollte, ist nun von dem ‚Kommunismus als Ideologie‘ zurückgetreten oder hat diesen selber deformiert. (Sato 1963: 37)

Shimota Seiji, ein Schriftsteller, schloss sich im Februar 1963 Tsuda und Sato an und machte darauf aufmerksam, dass „mit möglicher Flucht und Eskapismus kein Ansatz zur Reformation der Wirklichkeit“ bestehe (Shimota 1963: 101). Diese schriftlichen Auseinandersetzungen, in denen der Name Kafka zwar nie auftaucht, kann jedoch die Kafka-Rezeption in den damaligen mittel- und osteuropäischen sozialistischen Ländern assoziieren. Eduard Goldstücker, der Initiator der Kafka-Konferenz in Liblice, hat in seinem Vortrag Über Franz Kafka aus der Prager Perspektive 1963 über den Schloss-Roman gesagt:

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der Landvermesser K unterscheidet sich von allen früheren Helden Kafkas dadurch, daß er [...] sich in einen Kampf um die Änderung seines Schicksals einläßt [...]. Ich bin der Überzeugung, Kafka wollte in diesem Werk auf seine Weise sich mit dem Problem des Revolutionärs auseinandersetzen, wie er sich ihm während der ersten Nachkriegsjahre präsentierte. [...] Das Wort ‚Landvermesser‘ ermöglicht eine Assoziation mit ‚sich vermessen‘, und in der Tat legt die Tätigkeit des Landvermessers eine Gedankenverbindung mit Vorstellungen wie ‚Bodenverteilung‘, d. h. Verteilung des Eigentums, sehr nahe. Bezeichnend ist im Zusammenhang mit dem oben Gesagten, daß der Landvermesser K. seine alte Heimat, Weib und Kind verläßt, um sich ein neues Leben zu erkämpfen. (Goldstücker 1966a: 43)

Es ist erstaunlich, wie Goldstückers Interpretation des Schloss-Romans in unseren Augen derjenigen Sasakis von der Frau in den Dünen ähnelt. Sowohl Sasaki als auch Goldstücker schreiben den Romanhelden keine eventuelle Versöhnung aus Resignation mit den Dorfgemeinschaften zu, sondern sogar Ansätze zu neuen ‚Kämpfen‘. Unabhängig davon, ob ihre Interpretationen überzeugen, funktionieren die polysemantischen Texte Kafkas (und auch Abes) gewissermaßen als gedankliche und ideologische Spektren. Goldstückers Neuinterpretation des Schloss-Romans wurde denn auch von Werner Mittenzwei, Dozent und Fachrichtungsleiter für Theorie und Geschichte der Literatur am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, infrage gestellt: Goldstückers Prämisse, „daß Kafka gegen Ende seines Lebens seinen Fatalismus überwunden habe“, sei, so Mittenzwei, „sehr nachdenkenswert“. Auch das von ihm angenommene „Problem des Revolutionärs“ sei „sicherlich ein interessanter Gedanke“, aber seine „Assoziation“ sei allerdings „allzu hypothetisch“ (Mittenzwei 1966: 125). Übrigens hatte Mittenzwei dieser Kritik an Goldstücker den Satz vorausgeschickt: „Kafka, der nicht [...] Anschluß an die revolutionäre Arbeiterklasse fand“, habe „sich nicht aus den Fesseln der absoluten Entfremdung“ befreien können (Mittenzwei 1966: 125). Dieser Hinweis Mittenzweis gab den Anlass zum Problemkomplex ‚Entfremdung‘, der allmählich einen Fokus dieser Konferenz bildete.7 Ernst Fischer merkte mit Recht an: „Die Entfremdung des Menschen“ sei „aber auch in der sozialistischen Welt keineswegs überwunden.“ Dabei sei „die Lektüre von Werken wie Der Prozeß und Das Schloß“ zum „Kampfe gegen Dogmatismus und Bürokratismus“ hilfreich (Fischer 1966: 157). Zum Schluss machte Goldstücker darauf aufmerksam, dass in der „langen Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus“ sich „in manchen Etappen die Menschen noch viel stärker entfremdet fühlen als im Kapitalismus“ und folgerte: „Weil die Entfremdung existiert, ist Kafka auch bei uns aktuell.“ (Goldstücker 1966b: 282) 7 Diese Problematik wirkte auch nach der Konferenz weiter (Garaudy 1978).

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Die eventuell unvermittelt anmutende Analogie zwischen der indirekten und der direkten Kafka-Rezeption in Japan und im gesamten Ostblock um 1960 beruht aber nicht auf einer Koinzidenz. Hierin ließe sich eine synchrone (und auch vielleicht internationale) Korrespondenz konstatieren. Dabei ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Arbeiten von Abe Kobo um und nach 1960 wohl in einem zeitgeschichtlichen Umfeld standen, das ihn wahrscheinlich wegen seiner Teilnahme am zweiten Kongress des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes von 1956 geprägt hat, auf dem etwa „Jaroslav Seifert die Wahrheit über die Verbrechen des Regimes und die Rückkehr der diskriminierten Schriftsteller in die Literatur“ forderte (Chvatík 1991: 381). Es war denn auch nicht zufällig, dass Ouoka Shouhei, ein renommierter Romancier in Japan, im Januar 1963 davon sprach, dass „das kuriose Leben im Reich des Sandes sowohl wie ein Symbol für das Japan der Gegenwart als auch wie eine Allegorie auf einen kommunistischen totalitären Staat“ aussehe (Ouoka 1982: 323). Allerdings verhielt es sich doch eigentlich anders: Einerseits stand die Tschechoslowakei noch immer unter dem Einfluss eines stalinistischen Regimes; Japan war andererseits schon auf dem Weg zum Hochkapitalismus. Während die Kafka-Konferenz in Liblice, die „weit mehr als ein literarisches Kolloquium“ war – eher „ein politisches Ereignis“ (Bahr 1973: 518), das zum ,Prager Frühling‘ 1968 führte –, blieb die ebenfalls weniger literaturkritisch als vielmehr parteipolitisch orientierte Debatte um Die Frau in den Dünen in Japan hingegen unfruchtbar und wurde nicht lange darauf von der kontinuierlichen Expansion zur Massengesellschaft absorbiert.

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Wem gehört Kafka? Eine merkwürdige Frage. Merkwürdig, weil sie einem im Zusammenhang mit Kafka so normal vorkommt. Tauscht man den Namen aus, erscheint die Frage hingegen weit hergeholt: Wem gehört Rilke, wem Thomas Mann oder Hemingway? Ich muss gestehen, dass ich darüber nie nachgedacht habe. Viel vordringlicher als die Frage, wem die Handschriften eines Autors gehören, ist für den Editor, ob sie überhaupt überliefert sind, und wenn ja, wo sie aufbewahrt werden, wen er um Erlaubnis bitten muss, sie einzusehen oder – sofern die Schutzfrist noch besteht – um Druckerlaubnis. Über das Copyright verfügen die Erben eines Autors, in der Regel sind sie auch Eigentümer des Nachlasses. Die Eigentumsrechte können sich aber bereits zu Lebzeiten des Autors geändert haben, etwa durch Schenkungen oder Verkäufe. Dass ein aufbewahrendes Archiv nicht unbedingt auch Eigentümer ist, wird am Beispiel Franz Kafkas leicht deutlich: Seit 1961 wird der größte Teil seines literarischen Nachlasses in der Oxforder Bodleian Library aufbewahrt. Eigentumsrechte an diesen Handschriften erhielt die renommierte Bibliothek aber erst im Laufe von Jahrzehnten durch testamentarische Verfügungen, und bis heute gehört ein Drittel dieser Sammlung noch immer der Familie Kafkas. Womit wir uns einer ersten Antwort nähern. Als Kafka am 2. Juni 1924 unverheiratet und kinderlos starb, hinterließ er seine Eltern Julie und Hermann Kafka als Erben. Sie setzten Max Brod, den engsten Freund ihres Sohnes, als Verwalter des literarischen Nachlasses ein. Dazu legitimiert war Brod aber auch durch letztwillige Verfügungen Kafkas, mit denen die Freunde sich seit 1916 gegenseitig geradezu zu überbieten trachteten. Ein Spiel, das Brod bereits 1911 begonnen hatte, als er während der gemeinsamen Italienreise aus Angst, an Malaria zu erkranken und scheintot beerdigt zu werden, seinem Freund das Versprechen abnahm, durch einen Stich ins Herz zu gewährleisten, dass er tatsächlich tot sei (Kafka 1990: 966). Man kann sich Kafkas Begeisterung ob dieses letzten Wunsches lebhaft vorstellen. Im Dezember 1916 schreibt Brod dann dem Freund: Ich vergaß dir gestern folgendes zu sagen, was jetzt geschrieben vielleicht komisch klingt, aber ganz ernst gemeint ist. Es sind Gedanken, wie man sie vor einer Reise hat. Sie gelten aber nicht nur für den Fall dieser Reise, sondern überhaupt für jeden Fall, wenn ich vor dir sterben sollte und nichts gegenteiliges verfügt ist.

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Ich denke natürlich nur an einen Reiseunfall und nehme die Sache überhaupt zu wichtig. Aber ich wollte es dir schon lange in präziserer Form sagen und vergaß immer. Ich bitte dich also, im Falle meines Todes sofort in mein Bureau zu kommen. In der mittelsten Schublade des der Türe nächsten Schreibtisches liegen, und zwar in der linken hinteren Ecke zwei Pakete in weißem Papier mit der blauen Aufschrift ‚für Franz Kafka‘ nebst deiner genauen Adresse. Diese Schublade selbst ist unversperrt. Sie befindet sich also nicht im Schreibtisch am Fenster, sondern im Schreibtisch nebenan, an dem ich sonst nicht sitze. – Diese beiden Pakete sollst du sofort an dich nehmen und uneröffnet sofort verbrennen. – Eventuell werden dir die Kollegen das Fach zeigen, falls du es trotz meiner Beschreibung nicht findest. Was sonst in dem Fach ist, sollst du gleichfalls nehmen und nach deinem Taktgefühl vernichten oder aufheben. Das ist minder wichtig. Das dir übergebene verschlossene Paket, das du schon in deiner Wohnung hast, ist ebenfalls sofort bei der Nachricht von meinem Tode uneröffnet zu vernichten. – Die Vernichtung dieser 3 Pakete ist mir unendlich wichtig, viel wichtiger als die eventuelle Herausgabe eines literarischen und musikalischen Nachlasses, die ich gleichfalls dir in Verbindung mit den mir Nächsten anvertraue. (Brod/Kafka 1989: 256f., dort fälschlich auf 1918 datiert, Herv. i. Orig.)

Kafkas Antwort fällt recht lapidar aus: Liebster Max, es wird, nicht besorgt, aber beachtet werden. Übrigens liegt in meiner Brieftasche schon seit längerer Zeit eine an Dich adressierte Visitkarte mit ähnlicher sehr einfacher Verfügung (allerdings auch in Geldsachen) – Vorläufig aber leben wir (Brod/Kafka 1989: 257).

Es sollten einige Jahre vergehen, bis Kafka in diesem testamentarischen Wettstreit eine ähnlich detaillierte Verfügung formulierte wie Brod bereits 1916. Angesichts einer schweren Erkrankung schreibt er am 29. November 1922: alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist (die meisten Adressaten kennst Du ja, in der Hauptsache handelt es sich um Frau Felice M, Frau Julie geb. Wohryzek und Frau Milena Pollak, vergiss besonders nicht paar Hefte, die Frau Pollak hat) – alles dieses ist ausnahmslos am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) – alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich. (Brod/Kafka 1989: 421f., Herv. i. Orig.)

Natürlich hat Brod nichts verbrannt – das hatte Kafka wohl auch nicht ernstlich erwartet, sondern sich vielmehr von einer über den eigenen Tod hinausreichenden Verantwortung für seine Texte und deren Deutung befreien wollen. Den zweiten Teil der Bitte hat Brod allerdings weitgehend erfüllt und bei den genannten Damen Kafkas Manuskripte einzusammeln versucht. Milena Pollak händigte ihm die Tagebuchhefte und das Manuskript des Romans Der

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Verschollene aus, nicht aber Kafkas Briefe. Von ihnen vermochte sie sich – wie auch Felice Marasse, geborene Bauer, und Julie Werner, geborene Wohryzek – nicht zu trennen. Dora Diamant, die Gefährtin der letzten Lebensmonate, ging so weit zu behaupten, Kafka habe sie gezwungen, alles, was während der gemeinsamen Monate in Berlin entstanden war, als Heizmaterial zu verfeuern. Eine Schutzbehauptung, wie sie Brod später gestand, sie hatte sich von Kafkas Manuskripten nicht trennen können. Verloren sind sie trotzdem: Dora Diamant heiratete 1932 Ludwig Lask, einen Funktionär der KPD, der in die Sowjetunion flüchtete, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Im Rahmen einer Hausdurchsuchung bei seiner Frau nahm die Gestapo auch Kafkas Handschriften mit, und trotz zahlreicher Bemühungen, ihre Spur zu verfolgen, ist es bis heute nicht gelungen, sie ausfindig zu machen. Briefe gehen in den Besitz der jeweiligen Adressaten über, sie können sie selbst aufbewahren, in einem Archiv deponieren, verschenken, verkaufen oder vererben. All das haben die Briefempfänger und ihre Nachfolger getan. Felice Marasse hat Kafkas Briefe und den Teil der Briefe an Grete Bloch, den ihre Freundin ihr 1914 ausgehändigt hatte, 1956, in finanzieller Notlage, an den Verleger Salman Schocken verkauft. Vereinbart wurde, dass Schocken sie nach erfolgter Edition einem Archiv übergeben würde, wo sie der Forschung zugänglich sein sollten. Schockens Erben haben sich dann später nicht an diese Vereinbarung gehalten: Kafkas Briefe an seine erste Verlobte wurden 1987 versteigert und von einem bis heute unbekannten Käufer erworben. Auch Julie Werner bewahrte Kafkas Briefe offenbar auf. Aus dem Besitz ihrer Erben gelangten sie in den Handel mit philatelistischen Raritäten: Es scheint sich überwiegend um Rohrpostbriefe gehandelt zu haben, die zusätzlich zu dieser Besonderheit auch noch durch die Frankierung mit den alten Wertzeichen der Donaumonarchie in der Anfangszeit der ersten tschechoslowakischen Republik einen ausgefallenen Status haben. Nur wenige sind in den letzten Jahren im Besitz von Briefmarkensammlern wieder aufgetaucht. Milena Pollak beziehungsweise Krejcarová, wie sie zuletzt nach einer erneuten Heirat hieß, trennte sich erst von Kafkas Briefen, als sich die Besetzung der gesamten Tschechoslowakei durch deutsche Truppen abzeichnete. Das Konvolut wurde Willy Haas übergeben, einem Freund ihres Ex-Mannes Ernst Pollak, der nach London emigrierte. Milena Krejcarová wurde Ende 1939 verhaftet und starb am 17. Mai 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück. Die von ihr so lange gehüteten Briefe Kafkas verkaufte Haas 1948 dem Verleger Salman Schocken, für dessen Verlag er die 1952 erschienene erste Ausgabe der Briefe an Milena edierte. Im Jahr 1963 fragte ihn Milenas in Prag lebende Tochter Jana Černá, die eigentliche Eigentümerin, wo sich die

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Briefe befänden. Haas antwortete, sie befänden sich „in einem sicheren Safe“ in Jerusalem – gemeint war offenbar die Schocken Library. Wie Jana Černa berichtet, schrieb er: Er sei sehr froh, daß ich von mir habe wissen lassen, ihn ärgere nur, daß das aus Eigennutz geschehen sei. Er habe nie etwas für Milenas Briefe·bekommen außer einem geringen Honorar für die Herausgabe, doch er halte es nicht für nötig, es mit mir zu teilen (worum ich ihn übrigens nie gebeten habe).

Im Übrigen sei er „sehr erstaunt, daß ich aus der unglücklichen und leidenschaftlichen Liebe meiner Mutter einen Vorteil ziehen wolle.“ (Černa 1985: 167f.) Die Sprachlosigkeit von Milenas Tochter angesichts dieser Bemerkung ist wohl nachvollziehbar. Auch dieses Briefkonvolut verkauften die Erben Salman Schockens für ein Vielfaches der ursprünglich gezahlten 250 Pfund; es wurde 1981 vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erworben. So weit die Briefe an Adressaten, die Kafka in seiner Verfügung nennt. Und der literarische Nachlass, die Manuskripte? Als Max Brod am 15. März 1939 einen Sonderzug für Zionisten bestieg und in letzter Minute vor dem Einmarsch der Wehrmacht Prag in Richtung Schwarzes Meer verließ, hatte er Kafkas Manuskripte bei sich. Allerdings nicht alle, denn ein kleiner Teil verblieb bei Kafkas Familie: Die Verwandlung und die handschriftliche Fassung des Briefs an den Vater sowie die Briefe an die Eltern und die Schwestern. Mit der Familie blieb Brod auch von Palästina aus in brieflicher Verbindung, für die Dauer des Krieges war sie allerdings unterbrochen. Aber schon bald nach Kriegsende nahm Brod die Verbindung wieder auf und musste erfahren, dass Kafkas Schwestern in Vernichtungslagern umgebracht worden waren. In Prag lebten noch Ottlas nichtjüdischer Mann Josef David und die beiden Töchter, die als sogenannte Halbjüdinnen die deutsche Besetzung überlebt hatten, und bald auch Valli Pollaks Tochter Marianne, die mit ihrer Familie aus dem englischen Exil zurückkehrte und bis zur kommunistischen Machtübernahme wieder in Prag blieb. Mit ihnen allen korrespondierte Brod, berichtete über seine editorische Arbeit, aber auch über die Manuskripte, die er zu treuen Händen mitgenommen hatte. Als Mussolinis Luftwaffe im September 1940 begann, Tel Aviv zu bombardieren, entschied er sich, sie im Safe der Schocken Library in Jerusalem zu deponieren, da er glaubte, die US-amerikanische Flagge schütze das Gebäude vor italienischen Angriffen. In der schriftlichen Vereinbarung mit Gustav (Gershom) Schocken, einem Bruder des Verlegers, vom 6. Dezember 1940 heißt es dazu: Wir sind darüber einig, dass die vorhandenen Manuskripte im Laufe des nächsten Monats in Jerusalem in der Schocken-Bibliothek aufbewahrt werden sollen. Wir bestätigen Ihnen

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ausdrücklich, dass hierdurch das Eigentum der Kafkaschen Erben an den Manuskripten unberührt bleibt. Die Aufbewahrung soll unter Ihrem Mitverschluss in der Weise erfolgen, dass niemand anders als Sie selbst oder ein mit Ihrer schriftlichen Vollmacht ausgestatteter Vertreter Zugang zu den Manuskripten hat. (unveröffentlicht, Privatbesitz)

Im Briefwechsel Brods mit dem Verleger Salman Schocken wird vor allem der die Besitzverhältnisse betreffende Punkt immer wieder betont, dass die Manuskripte Eigentum der Erben Kafkas seien, mit Ausnahme jener Handschriften, die er von Kafka geschenkt bekommen habe. Eine genaue Aufstellung lag den Manuskripten bei und anlässlich einer Überprüfung schickte Brod diese ‚Bestandsaufnahme‘ am 2. April 1952 auch Kafkas Nichte Marianne Steiner zu, die inzwischen wieder in London lebte und von dort aus die Interessen der Erben wahrnahm. In einem Brief an Salman Schocken vom 1. Juli 1957 unterstreicht Brod nochmals, „dass die Kafka-Manuskripte selbstverständlich Eigentum der Erben sind, mit Ausnahme jener Stücke, die mir von Kafka persönlich geschenkt worden sind.“ (unveröffentlicht, Privatbesitz) Mit den Erben war er sich darin einig, dass die Familie die ihr gehörenden Manuskripte möglichst bald wieder in Besitz nehmen sollte. Bis es so weit war, sollten aber mehr als zehn Jahre vergehen. Salman Schocken bestätigte zwar mehrfach die Besitzrechte der Erben, fand aber immer wieder Ausflüchte, warum der Zeitpunkt für die Übergabe noch nicht gekommen sei. Im September 1956, während der Suezkrise, überführte er dann die Kafka-Sammlung von Jerusalem in einen Safe seiner schweizerischen Bank in Zürich – ohne Rücksprache mit Brod, dem Kustoden der Sammlung, oder Marianne Steiner, der Sprecherin der Erben. Beide protestierten entschieden und verlangten die Herausgabe an die Erben, aber Schocken, der eine erlesene Handschriftensammlung besaß, fiel es offenbar schwer, sich von den Kafka-Manuskripten zu trennen. Am 17. Juni 1957 schreibt er an Brod: Ohne, dass ich mich über die Frage rechtlich informiert habe, bin ich der Ansicht, dass aus dem bestehenden Verlags-Vertrag uns das Recht zusteht, die Manuskripte in Verwahrung zu halten, schon um für eine in der Zukunft zu erwartende neue Bearbeitung das Material möglichst voll beisammen zu haben. (unveröffentlicht, Privatbesitz)

Bis zu seinem Tod im August 1959 kam es zu keiner weiterführenden Verständigung, erst Schockens Erben übergaben die Manuskripte schließlich der Familie Kafkas. Am Ende der Suche nach einem geeigneten Aufbewahrungsort wurde die Sammlung dann im Frühjahr 1961 von Malcolm Pasley, den die Erben als neuen Kustoden einsetzten, in seinem Fiat von Zürich nach Oxford gebracht, wo sie in der Handschriftensammlung der Bodleian Library deponiert

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wurde. Brod antwortete auf Marianne Steiners Nachricht vom gelungenen Transfer: Ich gratuliere, Ihr Brief vom 5.4. hat mich unendlich gefreut. Daß Franzens Manuskripte jetzt in der Bodleiana ein Heim gefunden haben, das ist eine Nachricht von höchster, ich möchte fast sagen: säkularer Bedeutung. […] Die Geschichte, die Sie mir schreiben, (wie Prof. Pasley die M. aus Zürich gebracht hat), ist wirklich phantastisch und wird später einmal bestimmt als Anekdote von literarischem Kuriositätswert zitiert werden. Ihr ganzer Kampf um die Manuskripte war großartig und ich bin froh, daß alles so gut ausgefallen ist. (unveröffentlichter Brief vom 2. Mai 1961, Privatbesitz)

In den folgenden Jahren wurden nach und nach auch die meisten der in Prag aufbewahrten Manuskripte dieser Sammlung hinzugefügt. Kafkas Nichten Gertie Kaufmann, Tochter von Elli, seiner ältesten Schwester, und Marianne Steiner, Tochter von Vally, der mittleren Schwester, verfügten testamentarisch, dass ihr jeweils ein Drittel umfassender Besitzanteil nach ihrem Tod an die Bodleian Library zu fallen habe, der folglich heute zwei Drittel der Sammlung gehören. Das letzte Drittel gehört den Nachfahren von Ottla, Kafkas jüngster Schwester. Und die Manuskripte, die Brod von Kafka geschenkt worden waren? Erst nach Brods Tod am 20. Dezember 1968 wurde im Zuge der Auseinandersetzungen um sein Erbe bekannt, dass er sie bereits Jahrzehnte zuvor seiner Sekretärin und Vertrauten Ilse Ester Hoffe geschenkt hatte. Vermutlich war die Schenkung mit einer ähnlichen Vereinbarung verbunden wie Jahre später Ilse Hoffes Schenkung an ihre Töchter: Nach außen sollte zu Lebzeiten des Schenkenden der Anschein aufrecht erhaltenwerden, er sei der Besitzer. Über Brods Gründe für die Schenkung ist viel spekuliert worden, sie waren sehr wahrscheinlich pekuniärer Natur: Bis zu ihrem Tod am 20. August 1942 in Tel Aviv hatte Elsa Brod ihren Mann bei seiner weitreichenden Korrespondenz unterstützt, Abschriften seiner eigenen Manuskripte sowie Transkriptionen für seine Kafka-Edition angefertigt. Ohne diese Unterstützung vermochte Brod sein enormes Arbeitspensum kaum zu schaffen, zumal er auch noch als Dramaturg des Habimah-Theaters tätig war, um seinen Unterhalt zu sichern. Die Begegnung mit dem Ehepaar Hoffe in einem Hebräischkurs für Einwanderer führte einige Monate nach dem Tod seiner Frau dazu, dass Ilse Hoffe die Sekretariatsarbeit für ihn übernahm. Allerdings war Brod weitgehend mittellos und hätte eine Sekretärin kaum bezahlen können. In einem Brief an Kafkas Schwager Josef David vom 1. September 1951 schreibt er: Über mich selbst kann ich nur berichten, dass es mir nicht sehr gut geht. Erstens vertrage ich die Hitze schlecht, die heuer ganz schrecklich ist. Dann haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse hier sehr verschlechtert und meine finanziellen Verhältnisse sind besonders

Wem gehört Kafka?

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schlecht, besonders da mir die tschechoslowakische Regierung meine Pension, die sie mir seit vielen Jahren schuldig ist, nicht überweist. (unveröffentlicht, Privatbesitz)

Vermutlich waren es diese wirtschaftlichen Verhältnisse, die unter anderem dazu führten, dass Brod seine Kafka-Manuskripte Ilse Hoffe schenkte. Die Schenkung vollzog er in brieflicher Form: „Bereits im Jahre 1945 habe ich Dir alle Manuskripte und Briefe Kafkas, die mir gehören, geschenkt“, schreibt er am 2. April 1952 und führt, um „alle Unklarheit auszuschließen“, die Handschriften im Weiteren an. Für Brod stellten sie seinen einzigen wertvollen Besitz dar, sowohl in ideeller als auch in finanzieller Hinsicht. Allerdings waren die Preise für bereits in den 1950er-Jahren in den Handel gelangte KafkaAutographen weitaus niedriger, als schon wenige Jahre später. Nachdem aus unbekannt gebliebener Quelle ein Teil der Handschrift von Der Dorfschullehrer zur Versteigerung gekommen war, schrieb Brod am 22. Februar 1957 an Marianne Steiner: Die Manuskripte haben heute einen ungeheuren Wert, der gewiss noch steigen wird. Ich schliesse das aus Folgendem: Die Auktion, bei der das Kafka-Manuskript von 23 Seiten mit 950 Mark ausgepreist war, brachte 3.000 Mark! Erworben wurde das Manuskript vom Schiller-Nationalmuseum, befindet sich also (was ein Trost ist) in würdigen Händen! Rechnen Sie nun selbst aus, wie viel die Manuskripte wert sind. Ich glaube, eine Schätzung von 300.000 Mark ist nicht übertrieben. (unveröffentlicht, Privatbesitz)

Welche Konjunktur Kafka-Autographen später tatsächlich haben würden, hätte Brod sich wohl nie vorzustellen vermocht: Allein die Versteigerung der Handschrift des Romans Der Proceß erbrachte am 21. November 1988 bei Sotheby’s in London 3,15 Millionen DM und damit das Zehnfache dessen, was er als Wert der gesamten Oxforder Sammlung geschätzt hatte. Bis dahin hatte das Manuskript in einem schweizerischen Banksafe gelegen, in den Brod und seine Sekretärin die von Kafka geschenkten Handschriften etwa zur gleichen Zeit transferiert hatten wie Schocken die den Erben gehörende Sammlung. Die Handschrift des Romans Der Proceß gelangte ins Deutsche Literaturarchiv, die verbliebenen Manuskripte und Briefe Kafkas hat Ilse Hoffe – Brods Beispiel folgend – bereits 1970 ihren Töchtern geschenkt. Damit gehören sie nicht zum Nachlass der 2007 verstorbenen Brod-Erbin, gleichwohl sind auch sie Gegenstand des seit Jahren laufenden Erbschaftsverfahrens, in dem die Nationalbibliothek Jerusalem die Besitzrechte der Familie Hoffe bestreitet. Die Frage, wem Kafkas Handschriften gehören, lässt sich also rein faktisch einfach beantworten: Die große Oxforder Sammlung gehört zu zwei Dritteln der Bodleian Library, zu einem Drittel den Erben Kafkas; über die zweitgrößte Sammlung verfügt das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das seit den 1950erJahren immer wieder Autographen erworben hat, und schließlich ist auch das

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Tschechische Literaturarchiv in Prag zu nennen, in dem vor allem Kafkas amtliche Schriften sowie seine Berliner Korrespondenz mit der Familie aufbewahrt wird. Der Rest verteilt sich auf die Familie Hoffe, auf Nachfahren von Korrespondenzpartnern Kafkas, auf Sammler und auf Bibliotheken, die – in der Regel durch Schenkung oder Erbschaft – in den Besitz einzelner Stücke oder Konvolute gelangt sind. Und ideell? Kafkas Protagonisten sind oft auf beunruhigende Weise heimatlos, von vorhandenen Gemeinschaften sind sie ausgeschlossen, oder sie kommen gar nicht erst an. Das fasziniert an seinen Texten und fordert zur Interpretation heraus. Vielleicht ist das auch der Grund für die Obsession der Nachwelt, den Autor zuordnen oder gar vereinnahmen zu wollen. Die historischen Zusammenhänge, warum ein jüdischer Autor, der im tschechischen Prag lebte, auf Deutsch schrieb, sind heute nur wenigen geläufig, aber umso mehr versucht man sich in simplifizierenden Zuordnungen. Dabei hat Kafka selbst auf die Frage, was er eigentlich sei, wohin er gehöre, keine Antwort gefunden. „Willst Du mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin“, fragt er seine Verlobte Felice Bauer am 7. Oktober 1916. Die Zeitschrift Die Neue Rundschau hatte kurz zuvor festgestellt, seine Erzählkunst besitze „etwas Urdeutsches“, während Max Brod in der Zeitschrift Der Jude schrieb, Kafkas Erzählungen gehörten „zu den jüdischsten Dokumenten unserer Zeit.“ Er selbst schreibt dazu: „Ein schwerer Fall. Bin ich ein Cirkusreiter auf 2 Pferden?“ Ihm hätte wahrscheinlich die Liedzeile im Film Der blaue Engel gefallen, der sechs Jahre nach seinem Tod herauskam: „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre, ich glaub’ ich gehöre nur mir ganz allein.“

Literatur Brod, Max/Kafka, Franz (1989): Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer. Jana Černa (1985): Milena Jesenská. Frankfurt/M.: Neue Kritik. Kafka, Franz (1990): Tagebücher. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Kritische Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer.

Adressen Reihenherausgeber Prof. Dr. Steffen Höhne

Hochschule für Musik Franz Liszt Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected]

PhDr. Václav Petrbok, PhD.

Ústav pro českou literaturu AV ČR v.v.i. Na Florenci 3 CZ-110 00 Praha 1 [email protected]

Dr. Alice Stašková

Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Freie Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin [email protected]

Adressen Bandherausgeber Prof. Dr. Ludger Udolph

Technische Universität Dresden Institut für Slavistik Zeunerstraße 1d D-01069 Dresden [email protected]

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Adressen

Adressen Autoren Prof. Dr. Takahiro Arimura

Tashima 3-16-25 JP-814-0113 Jonan-ku Fukuoka-shi [email protected]

Prof. Dr. Richard T. Gray

Byron W. and Alice L. Lockwood Professor Professor of German Department of Germanics Box 353130 University of Washington Seattle, WA 98195-3130 [email protected]

Dr. Ekkehard W. Haring

Auhofstr. 208 / 6 A-1130 Wien [email protected]

Prof. Dr. Jörn Peter Hiekel

Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden Wettiner Platz 13 D-01067 Dresden [email protected]

Prof. em. Dr. Yoshihiro Hirano

Takadai 3-4-10 JP-617-0847 Nagaokakyo-shi [email protected]

Dr. Anne Hultsch

Technische Universität Dresden Institut für Slavistik D-01062 Dresden [email protected]

Prof. Dr. Hans-Gerd Koch

Bergische Universität Wuppertal Fachbereich A Kritische Kafka-Ausgabe D-42097 Wuppertal [email protected]

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Adressen

Prof. Dr. Marek Nekula

Institut für Slavistik Universität Regensburg Universitätsstraße 31 D-93053 Regensburg [email protected]

Prof. Dr. Paul Peters

German Studies Department of Languages, Literatures and Cultures McGill University 688 Sherbrooke West Montreal, Quebec Kanada H3A 3R1 [email protected]

Prof. Dr. Christian Prunitsch

Technische Universität Dresden Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften Dekanat Helmholtzstraße 10 D-01069 Dresden

Univ.-Prof. Dr. Michael Rohrwasser

Universität Wien Institut für Germanistik Universitäts-Ring 1 A-1010 Wien

Dr. Volker Rühle

Am Bachfeld 24 D-82335 Berg [email protected]

Prof. Dr. Karol Sauerland

ul. Bohaterów Warszawy 11m21 Pl-02-495 Warszawa [email protected]

Prof. Dr. Klaus Schenk

Institut für deutsche Sprache und Literatur Emil-Figge-Straße 50 D-44227 Dortmund

Dr. Marie-Odile Thirouin

Université Lumière Lyon 2 Faculté des Lettres 18 quai Claude Bernard F-69007 Lyon [email protected]

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Adressen

Prof. Dr. Manfred Voigts

Gasteiner Str. 9 D-10717 Berlin [email protected]

Prof. Dr. Manfred Weinberg

Ústav germánských studií Filozofická fakulta Univerzita Karlova v Praze Náměstí Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1 [email protected]

Dr. Philippe Wellnitz

Département de langues étrangères appliquées Université Paul-Valéry Montpellier III F-34199 Montpellier

Personenregister Abe, Kobo 384f., 397f., 402-411 Achmatova, Anna 165 Adler, H. G. 269 Adorno, Theodor W. 274, 312, 317 Aichinger, Ilse 141, 171, 286 Ajgi, Gennadij 165 Aksenov, Vasilij 165 Allemann, Beda 216 Alt, Peter-André 303, 308 Amery, Jean 283, 285 Anders, Günter 287, 313 Anderson, Mark M. 371 Andreev, Vadim L. 165 Anisimov, Ivan I. 176, 357 Anz, Thomas 214, 271 Aragon, Louis 286, 295 Arbib, Marina Cavarocchi 98 Arendt, Hannah 274, 281 Arimura, Takahiro 384 Auerochs, Bernd 9, 150, 259 Axen, Hermann 295ff. Azadovskij, Konstantin M. 176 Babel’, Isaak 179, 286 Babler, Otto F. 13, 16ff., 27, 62 Bachofen, Johann Jakob 131 Bachtin, Michail M. 152f. Badeni, Kasimir Felix 270 Baeck, Leo 96 Bahr, Ehrhard 411 Bahr, Hermann 272 Baier, Walter 298 Baldwin, James 310 Balzac, Honoré de 189 Barner, Wilfried 217 Bartels, Gerrit 218f. Barthes, Roland 153

Bartsch, Rudolf Hans 212 Baryli, Sebastian 292 Basil, Otto 272, 274 Baudelaire, Charles 284, 343, 400 Bauer (verh. Marasse), Felice 417, 422 Bauer, Roger 340-343 Baum, Oskar 26, 94, 139 Bayerle, Pavel 29 Beatles, The 152, 157 Becher, Johannes R. 238 Becher, Peter 209f., 259 Bechtel, Delphine 349 Beck, Evelyn Torsten 313 Becker, Jurek 152, 245 Beckett, Samuel 156, 171, 285, 289, 405 Behn, Manfred 238ff., 242, 244, 245 Beißner, Friedrich 398, 405, 406 Belonožko, Valerij 167 Belyj, Andrej 179 Benda, Oskar 275 Beneš, O. 75 Benjamin, Walter 101, 119132, 262, 305f., 309, 311f., 314f., 323 Bergmann, Hugo 98 Berman, Izydor 188ff. Bernhard, Thomas 148f. Berthomé, Jean-Pierre 303f., 306, 316, 408 Bhabha, Homi 213 Biermann, Wolf 244 Biha, Otto 288 Bílek, Petr A. 62 Binder, Hartmut 98, 237, 260, 337-342, 345 Blahak, Boris 270

Blank, Juliane 271 Bloch, Carola 204, 298f. Bloch, Ernst 298f. Bloch, Grete 417 Bloom, Harold 151, 154, 157 Blumenberg, Hans 250 Bogdanovich, Peter 303, 306, 308, 311ff., 316, 318 Böhler, Michael 351 Bolecka, Anna 195 Böll, Heinrich 140f., 166f. Bonn, Hanuš 17f., 20 Borges, Jorge Luis 152 Born, Jürgen 93f., 268, 370 Boyer, Christoph 272 Brady, Martin 303 Brand, Karl 138f., 156 Brandt, Marion 203f. Brasch, Thomas 245 Breschnew, Leonid 293 Breton, André 20, 27, 345 Breza, Tadeusz 193 Březina, Otokar 22f. Brix, Emil 274 Broch, Hermann 269 Brod, Elsa 420 Brod, Max 21f., 25f., 28, 63, 72, 94f., 108, 126, 139, 140, 149, 166, 188, 192, 212, 215, 221, 224, 260f., 263ff., 268-271, 273ff., 311, 333-337, 357, 359, 362, 372f., 378, 383, 392, 401, 415-422 Brod, Peter 219 Brook, Peter 200 Buck, Theo 221 Bulgakov, Michail 177, 179

424 Bunin, Ivan 179 Bureš, Miloslav 67 Caesar, Julius 266 Camus, Albert 20, 171, 222, 345, 355, 358, 360, 386, 401, 405 Canetti, Elias 244, 314, 403 Čapková, Kateřina 337 Caputo-Mayr, Maria Luise 64, 65, 355 Casanova, Pascale 333, 347 Celan, Paul 286, 312f., 321, 323 Čermák, Josef 13f., 16-19, 21ff., 27, 40, 44, 61f., 64, 67, 73, 75f. Černá, Jana 417f. Černý, Václav 73f. Cervantes, Miguel de 355 Chagall, Marc 29 Chalupecký, Jindřich 16 Chaplin, Charlie 317 Charms, Daniil 165, 179 Charvát, Filip 16 Chotjewitz, Peter O. 152 Chruschtschow, Nikita 202f. Chvatík, Kvĕtoslav 411 Cocron, Fritz 199, 207 Cohn, Dorrit 369, 370 Conrad, Joseph 195 Csáky, Moritz 259 Csokor, Franz Theodor 268 Čukovskaja, Lidija 178 Cvetaeva, Marina 165, 179 Daniėl‘, Julij 178 David, Claude 356, 358-362 David, Josef 76, 418, 420 Deleuze, Gilles 108f., 111116, 118f., 150, 221, 222, 247, 333-338, 340348, 351 Demetz, Peter 24f., 29, 44, 221, 369 Denham, Scott D. 237

Register Denisova, Lidija Fedorovna 172 Derrida, Jacques 102-107 Diamant, Dora 417 Diviš, Ivan 67f. Dneprov, Vladimir 172, 176f. Dohnal, Jaroslav 16 Doležel, Lubomír 16 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 12, 189, 374 Dresler, Jaroslav 176 Drews, Peter 34 Dubský, Ivan 64f. Dubský, Vladimír 32 Dümmel, Karsten 244 Ďurišin, Dionyz 15 Dymschitz, Alexander 203 Dzierzynski, Felix 200 Ebner-Eschenbach, Marie von 27 Edschmid, Kasimir 94 Ėfron, Jakov 165 Ehmer, Josef 296 Eich, Günter 286 Einstein, Albert 309 Eis, Zdeněk 62 Eisler, Hanns 293 Eisler-Fischer, Lou 284 Eisner, Pavel/Paul 13, 17, 20-28, 31ff., 64, 68, 78, 96, 226, 230, 339-345 Eisnerová, Dagmar 62, 225 Ekier, Jakub 188 Emmerich, Wolfgang 244, 246 Emrich, Wilhelm 373 Endler, Adolf 237, 241, 245 Engel, Manfred 9, 11, 150, 259, 271 Engelmann, Peter 106 Engels, Friedrich 201f., 214

Enzensberger, Hans Magnus 176 Erbe, Günter 237ff., 249f. Erlich, Victor 64 Ernst, Otto 212 Escher, Georg 25, 339ff., 343ff., 351 Etkind, Efim 172, 176ff. Ewers, Heinz H. 212, 227 Fast, Howard 33, 62 Feuchtwanger, Lion 166 Ficowski, Jerzy 190 Filippov-Čechov, Aleksandr O. 166 Fingerhut, Karlheinz 142, 152, 157, 237, 262 Fischer, Ernst 62, 66, 71, 175, 217f., 239, 281-299, 410 Fischer, Wilhelm 212 Fischl, Viktor 17 Fleischmann, Ivo 31, 62, 65, 72, 78, 219 Florian, Josef 14, 17, 19, 28 Florin, Peter 296, 298 Foucault, Michel 158 Frankl, Michal 270 Franz, Jan 17, 22, 27 Frei, Bruno 282, 284, 289, 294, 297, 298 Freud, Sigmund 376, 377 Friedberg, Maurice 168, 178 Friedländer, Saul 112 Fromm, Waldemar 9 Frýd, Norbert 62, 225 Frynta, Emanuel 64 Fuchs, Rudolf 94, 165, 228f., 268 Fučik, Julius 215 Fühmann, Franz 239, 245248, 252, 286, 288 Fuks, Rudolf (s. Fuchs, Rudolf) Fürnberg, Friedl 282 Fürnberg, Louis 67, 288

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Register Furrer, Beat 325 Gajdenko, P. 167 Galandauer, Jan 65 Galle, Roland 148 Ganan, A. 23 Gans, Eduard 93, 94 Garaudy, Roger 62, 71, 174, 175, 217f., 239, 292-295, 298f., 410 Gaspar, Elisabeth 338 Gauß, Karl Markus 293 Gebauer, Jan 350 Geist, Peter 252 Genette, Gérard 142, 154157 George, Stefan 269 Gerlach, Richard 167 German, Jurij 200 Gernig, Kerstin Gide, André 27, 94, 357 Gierek, Edward 187 Gilman, Sander 378ff. Ginzburg, Evgenija 178 Ginzkey, Franz Karl 212 Godard, Jean-Luc 303f. Goethe, Johann Wolfgang von 10, 110, 201, 231, 250, 267, 312, 336f., 355, 387, 393f. Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 64, 141, 242 Goldschmidt, Georges-Arthur 356, 361 Goldstücker, Eduard 14, 18, 61, 62, 64-74, 78f., 169, 174f., 209-212, 216-219, 223-229, 239, 259, 271, 290-293, 299, 340ff., 375, 409f. Gomułka, Władysław 187, 191ff., 202, 207 Góral, Halina 187 Gorenštejn, Fridrich 165 Gottwald, Klement 65 Götz, František 19f.

Götze, Susanne 290 Graf, Max 294 Graham, Peter 327f. Grass, Günther 141f. Gray, Richard T. 378 Grebeníčková, Růžena 64 Greene, Graham 311 Grillparzer, Franz 286 Grmela, Jan 17, 21, 23 Groethuysen, Bernard 344 Grögerová, Bohumila 17, 23, 28-31 Gromała-Rucka, Ewa 188, 190 Grossman, Jan 15, 69 Grossman, Vasilij 178 Grözinger, Karl Erich 231 Grünbein, Durs 251f. Gruša, Jiří 272ff. Grym, Pavel 65 Guattari, Félix 108f., 111116, 118, 150, 221f., 247, 333-348, 351 Gulyga, Arsenij 167, 172f. Günzel, Stephan 260 Gvozdev, Aleksej 165 Gysi, Klaus 239, 297 Haas, Georg Friedrich 324f. Haas, Willy 95, 220f., 227, 271, 417f. Hagelstange, Rudolf 167 Hager, Kurt 296f. Haines, Brigitte 151 Hájek, Jiří 62, 64, 224, 229 Hajiro, Yukio 385 Hamacher, Werner 128f. Hamazaki, Keiko 308 Hanč, Jan 17 Handke, Peter 146ff., 156f. Hanuš, Frank 78 Harkness, Margaret 214 Härtling, Peter 152 Hašek, Jaroslav 71, 170, 272 Haslinger, Peter 260ff. Hasselblatt, Dieter 172

Havemann, Robert 296 Heer, Friedrich 283 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 211, 214, 379 Heidegger, Martin 402 Hein, Christoph 245 Heine, Heinrich 189f., 203 Heinz, Jutta 336 Heise, Wolfgang 250 Heisenberg, Werner 309 Heller, Erich 369f. Heller, Peter 369 Hemingway, Ernest 166, 415 Henscheid, Eckhard 149, 156, 157 Hensel, Georg 141 Herder, Johann Gottfried 214, 335, 343, 349 Herdings, Otto 141 Herling, Gustavo (s. Herling-Grudziński, Gustaw) Herling-Grudziński, Gustaw 176, 193 Hermlin, Stephan 65, 239 Hermsdorf, Klaus 62, 199, 237f., 240, 249f., 290, 293 Herz, Julius Michael 64f., 355 Hexmann, Friedrich 296f. Heyde, Andrea 146 Hiekel, Jörn Peter 325f. Higham, Charles 311 Hilbig, Wolfgang 238, 247ff., 252f. Hildenbrandt, Franz 268 Hilsner, Leopold 270 Hiršal, Josef 15, 23, 28-31 Hitchcock, Alfred 306 Hitler, Adolf 169, 369 Hlávka, Miloš 17 Hoffe, Ilse Ester 420f. Hoffer, Klaus 149 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 141, 242f.

426 Hoffmeister, Adolf 32 Hofmannsthal, Hugo von 94, 261, 263, 266, 271 Hohlbaum, Robert 25 Höhne, Steffen 11, 72, 237, 259, 261, 263, 273, 275, 344 Holbein, Ulrich 140 Hölderlin, Friedrich 321, 323 Höllerer, Walter 142 Holthusen, Hans Egon 144 Homer 324 Honecker, Erich 241f. Hoover, Edgar 307f., 317 Höppner, Wolfgang 340 Hora, Josef 27f. Hormayr, Josef von 262 Hostovský, Egon 15f. Hrbek, Mojmír 32, 64 Huchel, Peter 238, 286 Hughes, Helen 303 Hugo, Victor 311 Hultsch, Anne 19 Huriot, Alain 338 Husák, Gustav 239 Iehl, Dominique 357, 359 Il’f, Ilja 179 Ilgenstein, Hermann 212 Illová, Milena 16 Ionesco, Eugéne 171 Iser, Wolfgang 10 Ivanovic, Christine 308 Jäger, Christian 347, 351 Jagow, Bettina von 150, 260 Jahraus, Oliver 150, 259 Janáček, Leoš 326 Janouch, Gustav 14f., 17, 39, 75, 228f. Jaspers, Karl 201 Jastrun, Miecysław 203 Jauß, Hans Robert 9, 11, 347 Jehl, Ludvík 20 Jelínková, Eva 34

Register Jens, Walter 141 Jeřábek, Čestmír 64 Jesenská, Milena 16-19, 21, 23, 78, 166, 270, 416f. Jewtuschenko, Jewgenij 286 Jílovská, Staša 19 Jindrová, Jiskra 65 Jirát, Vojtěch 19 Johnston, William M. 263, 272 Joyce, James 166, 176, 217, 245, 251, 286 Kaceva, Evgenija 166, 169f. Kafka, Elli 420 Kafka, Franz 9ff., 13-33, 39, 40, 43f., 61-79, 9398, 101-133, 137-154, 156ff., 165-179, 187196, 199, 205ff., 209213, 215-232, 237-253, 259-262, 264, 267-276, 281, 285-298, 303-309, 311-318, 321-330, 333338, 340-351, 355-364, 367-380, 383-394, 397406, 409ff., 415-422 Kafka, Hermann 70f., 75, 415 Kafka, Julie 415 Kafka, Ottla 63, 75f., 391, 418, 420 Kafka, Vally 420 Kahn, Ludwig 369 Kalinová, Agneša 65 Kalista, Zdeněk 17, 19f., 29 Kałużyński, Zygmunt 33 Kaňák, Miroslav 66 Kant, Immanuel 101-104, 110, 172 Karásek ze Lvovic, Jiří 349f. Karst, Roman 167, 172, 192, 199-207 Kasack, Hermann 171 Kastein, Josef 94

Kaszyński, Stefan H. 187, 194 Kaufmann, Gertie 420 Kautman, František 13, 15f., 29, 43, 61f., 73f., 78, 174f., 216, 223ff., 259, 290 Kautsky, Mina 214 Kawauchi, Nobuhiro 389 Kellermann, Bernhard 212 Kemper, Hans-Georg 139 Kilcher, Andreas 69 Kisch, Egon Erwin 228 Kittler, Wolf 10 Kleist, Heinrich von 387 Klüger, Ruth 369 Knipovič, Evganija 172, 175, 177 Koch, Hans-Gerd 217, 267, 269 Koeltzsch, Ines 62, 66, 260, 270 Koeppen, Wolfgang 146 Koffka, Friedrich 165 Kohout, Pavel 290 Kołakowski, Leszek 207 Kolář, Jiří 31 Kolář, Peter 219 Kolbe, Uwe 251 Kopelev, Lev 165ff., 169f., 176, 179 Koplenig, Johann 282, 284 Köppe, Tilmann 214f. Koš, Erih 168 Koschmal, Walter 26 Koselleck, Reinhart 127 Kosík, Karel 9, 78, 272 Kott, Jan 200 Kozak, Jan 297 Koževnikov, Vadim 178 Kožmín, Zdeněk 65 Krajc, Rudolf 29 Král, Josef 17 Krammer, Jenö 62 Krappmann, Jörg 209, 212f. Kraus, Karl 286

427

Register Krejcarová, Milena (s. Jesenská, Milena) Krejčí, Jan 28 Kremer, Detlef 334 Kreuder, Ernst 141 Kristeva, Julia 153f. Kroeber, Burkhart 335 Kröhnke, Karl 282f. Kroll, Thomas 283 Krolop, Kurt 219, 221, 249, 259, 261, 263, 267f. Krusche, Dietrich 147 Kubka, František 32 Kudryński, Juliusz 191 Kundera, Ludvík 17f., 28 Kundera, Milan 10, 276, 306, 343 Kunert, Günter 152, 245 Kurahashi, Yumiko 384, 397-402, 405, 407, 409, Kurella, Alfred 62, 71f., 175, 217, 239, 241, 293f. Kurpisz, Mieczysław 193 Kurtág, György 322f., 326 Kusák, Alexej 28, 44, 62, 218f., 226-229 Kusin, Vladimir V. 62 Lachenmann, Helmut 324f. Lachmann, Renate 151, 154, 156f. Lamping, Dieter 150 Lampl, Fritz 268 Langenbruch, Theodor 237 Langer, Jiří 26 Langermann, Martina 237, 241f. Lasalle, Ferdinand 214 Lask, Ludwig 417 Lauer, Gerhard 348 Lecler, Paul 75 Lederer, Herbert 369f., 370f. Lederer, Zdeněk 28 Lefèbvre, Henri 260 Lehmann, Gudrun 165

Lehmann, Hans-Thies 97, 247 Lenin (Vladimir Il’ič Ul’janov) 176, 202, 211, 215, 295 Lenz, Hermann 141 Leppin, Paul 23 Lewoń, Janusz 187, 191 Libman, Z. 172 Liehm, Antonín 176, 340 Lifschitz, Jewgeni Michailowitsch 202 Loest, Erich 245 Lortholary, Bernard 356, 359-364 Lotman, Jurij 211 Loužil, Jaromír 61, 74, 77 Löw, Rabbi 73, 223f., 228 Löwy, Jizchak 336 Ludvík, Dušan 62 Lukaćs, György (Georg) 201f., 214f., 218, 281, 285, 315, 409 Maimonides, Mose ben 98 Majerová, Marie 72f., 223 Mallac, Guy de 165 Mandel’štam, Osip 179 Mann, Klaus 96, 274, 306 Mann, Thomas 166, 202, 281, 285, 387, 409, 415 Marek, Jan 17 Marx, Karl 32, 68, 69, 71ff., 168, 172f., 175, 176, 201f., 205, 210f., 213ff., 217ff., 226, 228, 230f., 243, 246, 249, 285f., 289, 291, 295, 298, 337, 341, 343, 402, 406, 409 Marxova, Alice 25 Masaryk, Tomáš Garrigue 267, 350 Mastík, František 17 Matejka, Viktor 283ff. Mathäs, Alexander 145 Mátrai, László 175

Maurer, Stefan 283 Mauthner, Fritz 342 Mayer, Hans 284f., 289 McBride, Frank 303, 307 McCarthy, Josef 306f., 371 McLoughlin, Barry 282 Medek, Mikuláš 20 Mehring, Franz 214 Meidinger-Geise, Inge 141 Menasse, Robert 272, 274 Mereghetti, Paolo 303, 307, 316 Merežkovskij, Dmitrij 179 Mertens, Pierre 359 Měšťan, Jaromír 17 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 264 Michalski, Jakob A. J. 97 Michl, Josef B. 62 Middell, Eike 249 Miklík, Konstantin 28 Mittenzwei, Werner 62, 199, 290, 410 Moníková, Libuše 150ff., 156, 221ff., 230f. Moreau, Jeanne 310 Motono, Koichi 385f. Motyleva, Tamara L. 172, 174, 176 Moulíková, Vl. 67 Mugrauer, Manfred 296 Muir, Edwin 387 Müller, Bernd 129 Müller, Ernst 250 Müller, Georg 342 Müller, Heiner 247, 253, 292 Müller, Karl 138 Müller, Robert 93 Müller, Ulrich 321 Müller-Kampel, Beatrix 369f. Mundry, Isabel 325 Murakami, Haruki 384 Musil, Robert 286 Mussolini, Benito 418 Nabokov, Vladimir 179

428 Nadler, Josef 261, 340f. Nakajima, Atsushi 387-390, 392ff. Napoleon Bonaparte 312 Neff, Kurt 142 Nejedlý, Zdeněk 77 Nekrasov, Viktor 178 Nekula, Marek 26, 69, 71, 75-78, 259, 261, 271, 333, 337 Nĕmcová, Božena 78, 224 Neruda, Jan 73, 223 Nestroy, Johann 286 Neumann, Bernd 261, 270 Neumann, Gerhard 10 Neumann, Gert 245 Neumann, Stanislav Kostka 18 Neumann-Rieser, Doris 283 Newton, Isaac 308, 314 Niederle, Helmuth A. 298 Niehaus, Michael 142 Nietzsche, Friedrich 102f., 115f., 346 Nivelle, Armand 176 Noack, Paul 144 Nossack, Hans-Erich 141 Novák, Arne 20 Ogawa, Kunio 384 Okamura, Hiroshi 383ff. Olejnikov, Nikolaj 165 Oleša, Jurij 179 Orten, Jiří 15f. Ouoka, Shouhei 411 Palacký, František 263, 266f. Pasley, Malcolm 419f. Pasolini, Pier Paulo 303f., 311 Pastor, František 17 Paulhan, Jean 357 Penderecki, Krzysztof 313 Perec, Georges 345 Perkins, Anthony 307, 309ff. Pervomajskij, Leonid 178

Register Petr, Pavel 62 Petrbok, Václav 25 Pezold, Klaus 143 Pfoser, Alfred 283f. Pick, Otto 23, 36, 268, 342 Pil’njak, Boris 179 Pilipp, Frank 145 Pinner, Moses Ephraim 98 Pistorius, Jiří 15f. Platon 387 Platonov, Andrej 179 Poe, Edgar Allan 325f. Pohland, Vera 303 Pokorný, Jiří 65 Politzer, Heinz 269, 292, 369, 372-380 Pollak, Ernst 417 Pollak, Marianne 418 Pollak, Milena (s. Jesenská, Milena) Pollak, Oskar 260 Pollak, Valli 418 Popelová, Jiřína 62 Popov, Evgenij 165 Poppová, Vĕra 67 Portman, Josef 17 Pouzarová, Anna 78 Prędski, Artur 189 Preisner, Rio 17, 26 Projsa, Karel 17, 22f. Prokopówna, Eugenia 187, 189f. Proust, Marcel 165, 217, 245, 357

Reiman, Michal 218f. Reimann, Aribert 325 Reiman[n], Paul (Pavel) 61f., 64f., 69f., 73, 78, 174, 210f., 215-218, 223, 225, 228f., 259, 288ff. Reinerová, Lenka 139 Reiss, Ignatz 165 Remarque, Erich Maria 166 Resnais, Alain 313 Reynek, Bohuslav 19 Řezáč, Jan 17, 31 Richter, Hans Werner 176 Richter, Helmut 62, 145, 240 Riehm, Rolf 324ff., 329 Rilke, Rainer Maria 20, 24, 27, 210, 212, 275, 341ff., 374, 402, 415 Rittig, Roland 250 Rjurikov, Boris 166, 176 Robbe-Grillet, Alain 176, 345 Robert, Marthe 334f., 337, 338-345, 349, 456 Rohrwasser, Michael 261, 287, 294, 306 Rolland, Romain 27 Rosenzweig, Franz 129 Różewicz, Tadeusz 193ff. Rozner, Ján 28 Rühm, Gerhard 283 Rychlík, Jan 17 Rychnovská, Lucie 77, 78 Rzounek, Vítězslav 71

Quintilian 153

Šalda, František Xaver 20f. Salivarová, Zdena 32 Sander, Hans-Dietrich 172 Sarraute, Nathalie 176, 345 Sartre, Jean-Paul 65f., 69, 73f., 168, 176, 286, 340, 345, 400f. Sasaki, Kiichi 408ff. Sato, Shizuo 409 Sauer, August 261, 275, 340f. Schaff, Adam 205

Radax, Ferry 149 Raddatz, Fritz J. 288 Radek, Karl 140, 282 Rákos, Petr 62 Ranzmaier, Irene 261 Rathenow, Lutz 245 Redl, Alfred 270 Reich-Ranicki, Marcel 146, 202f.

429

Register Schafranek, Hans 282 Schardt, Michael 225 Scharf, Erwin 296, 297 Schedlinski, Rainer 252f. Schillemeit, Jost 361 Schiller, Friedrich 312, 421 Schlegel, Friedrich 276 Schlesinger, Klaus 243ff. Schlögel, Karl 259 Schmeling, Manfred 343ff., 347f. Schmidt, Arno 141 Schmidt, Michael 351 Schmidt-Dengler, Wendelin 284 Schmole, Angela 285 Schnackertz, Hermann Josef 11 Schneider, Romy 310 Schnitzler, Arthur 212, 372 Schocken, Gustav (Gershom) 418 Schocken, Salman 417ff. Schoeps, Hans-Joachim 96f. Scholem, Gershom 123, 126, 130 Schönberg, Arnold 328 Schor, Uwe 238 Schreiber, Eduard 293 Schulz, Bruno 188, 190f., 193 Schumacher, Ernst 62 Schwarz, Egon 369f. Schwarz, Josef 17 Schwarz, Wolfgang F. 195 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 263 Schweikert, Gabriele 142, 144f. Seeba, Hinrich C. 372 Seghers, Anna 141, 239, 242f., 246, 250, 252, 293, 297 Seidlin, Oskar 369 Seifert, Jaroslav 411 Sekal, Zbyněk 17, 20

Shakespeare, William 152, 156, 200, 313, 316, 355 Shimao, Toshio 384 Shimota, Seiji 409 Siebenschein, Hugo 71, 74f. Sindermann, Horst 294f. Sineok, Anželika 165, 168 Skaláková, Jitka 17 Skapinelli, Conte 212 Šklovskij, Viktor Bosissowitsch 173 Škvorecký, Josef 28f., 32 Slánská, Josefa 290 Slánsky, Rudolf 281, 284, 290 Šmejkal, Karel 78 Smetana, Friedrich (Bedřich) 77 Smolka, Martin 327ff. Sokel, Walter H. 368-372, 374-380 Solženicyn, Aleksandr 178 Sommerfeld, Beate 187, 188, 190-194 Sontag, Susan 220, 221 Spinoza, Baruch 189f. Spira, Leopold 294 Stach, Rainer 139 Stalin, Josef Wissarionowitsch 28, 65, 68, 70, 177, 191f., 196, 202f., 281284, 289f., 292f., 306f., 315, 411 Stašková, Alice 13, 329 Stauf von der March, Ottokar 212 Steiner, Marianne 419ff. Sternberger, Dolf 146 Stifter, Adalbert 27, 275 Štochl, Josef 16 Stocker, Peter 155 Stölzl, Christoph 270 Stoppard, Tom 152, 156 Storck, Karl 94 Storrer, Angelika 149

Straussler, Tomáš (Stoppard, Tom) 152 Strobl, Karl Hans 25, 227 Stromšík, Jiří 142, 238, 273 Struc, Roman S. 172 Struck, Karin 152 Sturmann, Manfred 94f. Štyrský, Jindřich 29 Sučkov, Boris 166, 171f., 176 Sudermann, Wilbrandt 212 Sudhoff, Dieter 225 Sus, Oleg 64 Švanda, Pavel 33 Švarc, Evgenij 165 Sviták, Ivan 62 Svoboda, Josef 67 Sysoev, P. M. 200 Szelińska, Józefina 190f. Taine, Hippolyte 227 Tamiroff, Akim 310 Tamm, Traugott 212 Tawada, Yoko 152, 156f. Terc, Abram 165, 178 Thiergen, Peter 15 Thomas, François 304, 306, 308, 316 Tischmann, Adolf 200f. Tischmann, Chaje (Bronisława) 200 Tischmann, Nafali 200 Tito, Josip Broz 285, 305 Tominaga, Taro 400 Trost, Pavel 18, 25, 62 Truffaut, Francois 303f. Trznadel, Jacek 196 Tsuda, Takashi 409 Tuckerová (Tucker), Veronika 25, 65 Tufanov, Aleksandr Vasil’evič 165 Tvrdík, Milan 26 Ulbricht, Walter 239, 241, 285 Ungar, Hermann 15

430 Urbach, Reinhard 147 Urzidil, Johannes 23f., 29, 93f., 139, 220, 222, 230, 264, 266f., 271 Vachek, Emil 21 Vachtin, Boris 165 Václavek, Ludvík E. 13 Václavík, Antonín 62 Vančura, Vladislav 32 Vápeník, Rudolf 17 Vašák, Vašek 219 Vejdle, Vladimir 165 Verlaine, Paul 284 Vialatte, Alexandre 344f., 355-364 Vietta, Silvio 69, 139 Virta, Nikolaj 200 Vízdalová, Ivana 19 Vodička, Felix 10 Vodička, Timotheus 17 Vollmer, Hartmut 138 Voltaire 387 Voskovec, Jiří 15f. Vrabec, Vlastimil 67 Vrána, P. Ludvík 17 Wagenbach, Klaus 70, 75, 338-342 Wagner, Benno 72, 270 Wagner, Michael 267 Walas, Teresa 187

Register Walser, Martin 142-145, 149, 157 Warner, Rex 33 Watrak, Jan 187 Watzlik, Hans 25 Wehrli, Max 261 Weiler, Hedwig 328 Weinberg, Manfred 212f., 221, 231, 271 Weiner, Richard 15f. Weiskopf, Franz Carl 32 Weiss, Peter 146, 156f. Weissenberger, Klaus 264 Weiß (Weiss), Ernst 95, 264 Wellek, René 29 Welles, Orson 287, 303-318 Weltsch, Felix 26, 95f. Weninger, Robert 152 Werfel, Franz 24, 27, 94, 212, 263-267, 271, 275, 343 Werner (geb. Wohryzek), Julie 416f. White, John J. 152 Wichner, Ernest 93 Widera, Stefan 16 Wieczorek, John P. 245 Wiesner, Herbert 93 Wilson, Robert 247 Winder, Ludwig 263f. Winko, Simone 214f.

Winnen, Angelika 141, 273, 239, 242f., 245, 293 Winter, Paul 23f. Wirth, Andrzej 191 Wolf, Christa 141, 243, 246, 250, 252 Wolf, Friedrich 200 Wolf, Ror 152 Wolff, Kurt 94, 137, 139 Wolle, Stefan 238ff., 253 Wundt, Stefan 389 Wyschnegradsky, Ivan 326 Yagi, Hiroshi 384 Zábrana, Jan 17, 28f., 33, 63 Zaehle, Barbara 141 Zamjatin, Evgenij 179 Zatonskij (Satonsky), Dmitrij 166, 170-176, 176 Ziegler, Ignaz 96 Zimmermann, Hans-Dieter 259, 333 Zimmermann, Ulrike 146 Zipser, Richard 242 Zischler, Hanns 303 Zohn, Harry 369 Żółkiewski, Stefan 200 Zoščenko, Michail 179 Zůna, Miroslav 17 Zunz, Leopold 96 Zweig, Stefan 94, 166

Ortsregister Auschwitz 313 Belgrad 287 Berkeley 369, 373 Berlin 77, 97, 200f., 204, 213, 238, 247, 249, 253, 263, 268, 282, 287, 293, 296f., 356, 417, 422 Brandeis 369 Brünn [Brno] 19, 322 Budapest 283, 287 Buenos Aires 313 Charlottesville 375 Czernowitz 264 Eger [Cheb] 24 Erfurt 312 Frankfurt am Main 33, 97, 146, 248, 263 Gare d’Orsay 306, 308, 311 Gera 245 Grünberg 350 Heidelberg 218 Jena 245 Jerusalem 418, 419, 421 Königinhof 350 Kyoto 385 Lemberg 188, 264, 270 Leningrad 167, 175-177 Liberec [Reichenberg] 24, 209f., 212f.

Liblice 13, 61, 62, 65-69, 72-75, 78f., 139, 145, 174-176, 192, 199, 207, 209, 210-213, 218-220, 223-226, 229-232, 237239, 242, 271, 281, 286, 288f., 290-294, 297, 340, 409, 411 London 313, 417, 419, 421 Lyon 356 Mainz 355 Matliary 269 Meran 268f. Montpellier 356 Moskau 65, 165-169, 178, 282, 285f., 289, 290, 313 Mulhouse 356 München 93, 325, 342, 376 New York 15, 149, 207, 313, 369, 375 Ohio 369, 373 Oklahama [sic!] 271 Oklahoma 149 Olmütz/Olomouc 209 Oxford 76, 415, 419, 421 Paris 168, 172, 177, 193, 213, 217, 266, 305, 308, 313, 318, 356 Posen [Poznán] 187 Prag [Praha] 9f., 17, 21, 2329, 31-33, 37, 61-63, 6568, 70-76, 78f., 93, 108f., 137-139, 141, 146,

150, 168, 172, 175, 194, 207, 209-214, 217-232, 237-240, 242f., 245, 249f., 253, 259-275, 281, 283, 287-290, 292, 297f., 306, 313, 322, 328, 329, 333, 335-347, 350f., 372, 409, 411, 417f., 420, 422 Ravensbrück 417 Rom 193, 313 Rzeszów 200 Sorbonne 177, 356, 359 Strasbourg 356f. Stuttgart 324 Svendborg 306 Tel Aviv 170, 418, 420 Terezín [Theresienstadt] 79 Tisza-Ezlár 270 Tokyo 383, 387, 402 Toulouse 357 Trutnov [Trautenau] 269 Tübingen 298 Tyczyn 200 Verdun 290 Warschau 199f., 283, 287, 336 Washington 369 Weimar 242, 288, 297 Yokohama 387 Zagreb 287, 305, 308 Zürich 419f.

INTELLEKTUELLES PR AG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT HERAUSGEGEBEN VON STEFFEN HÖHNE, ALICE STAŠKOVÁ, VÁCLAV PETRBOK BD. 3 | PETER BECHER, STEFFEN HÖHNE, MAREK NEKULA (HG.) KAFKA UND PRAG LITERATUR-, KULTUR-, SOZIAL- UND SPRACHHISTORISCHE KONTEXTE 2012. 364 S. 1 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-20777-9

BD. 1 | STEFFEN HÖHNE (HG.) AUGUST SAUER (1855–1926) EIN INTELLEKTUELLER IN PRAG ZWISCHEN KULTUR- UND WISSENSCHAFTSPOLITIK 2011. 405 S. GB. ISBN 978-3-412-20622-2 BD. 4 | STEFFEN HÖHNE, KLAUS JOHANN, MIREK NĚMEC (HG.) JOHANNES URZIDIL (1896–1970) EIN „HINTERNATIONALER“ SCHRIFTSTELLER ZWISCHEN BÖHMEN UND NEW YORK 2013. 597. 24 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-20917-9 BD. 2 | STEFFEN HÖHNE, LUDGER UDOLPH (HG.) FRANZ SPINA (1868–1938) EIN PRAGER SLAVIST ZWISCHEN UNIVERSITÄT UND POLITISCHER ÖFFENTLICHKEIT 2012. 331 S. 28 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-20747-2

BD. 5 | ANDREAS STRÖHL VILÉM FLUSSER (1920–1991) PHÄNOMENOLOGIE DER KOMMUNIKATION 2013. 254 S. GB. ISBN 978-3-412-21033-5 BD. 6 | STEFFEN HÖHNE, LUDGER UDOLPH (HG.) FRANZ KAFKA WIRKUNG UND WIRKUNGSVERHINDERUNG 2014. 436 S. GB.

RB658

ISBN 978-3-412-22336-6

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

INES KOELTZSCH, MICHAELA KUKLOVÁ, MICHAEL WÖGERBAUER (HG.)

ÜBERSETZER ZWISCHEN DEN KULTUREN DER PRAGER PUBLIZIST PAUL/PAVEL EISNER (BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE. REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN, BAND 67)

Pavel Eisner (1889–1958) gehört zu den bekanntesten Prager Intellektuellen, die sich für den kulturellen Austausch zwischen Tschechen und Deutschen engagierten. Als Sohn jüdischer Eltern avancierte er zu einem der produktivsten Publizisten und Übersetzer der Zwischenkriegszeit, der in beiden Sprachen veröffentlichte. Sein Thema blieb die Prager deutsche Literatur, seine Essays sollten die Kaf ka-Rezeption nach 1945 maßgeblich beeinflussen. Dieser Band präsentiert die vielfältigen Facetten seines Lebens und Werks. 2011. 316 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20550-8

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MÓNIKA DÓZSAI, ALFRUN KLIEMS, DARINA POLÁKOVÁ (HG.)

UNTER DER STADT SUBVERSIVE ÄSTHETIKEN IN OSTMITTELEUROPA

Subversion und Urbanität sind zentrale Topoi der Moderne, die einander bedingen. Dies gilt nicht auch, sondern gerade in Ostmitteleuropa. Von der Romantik aufgebracht, im autoritären Staatssozialismus zur Blüte getrieben und mit der Postmoderne der Nachwendezeit keineswegs verschwunden, erweist sich der »Underground« als ein ebenso vielgestaltiges wie zählebiges ästhetisches Phänomen. »Unter der Stadt« liegt eine poetologische Zentralchiffre für jede Kunst-, Kultur- und Gesellschaftsanalyse zwischen Budapest und Berlin, Bratislava und Prag. Der Band schlägt einen Bogen von E. T. A. Hoffmann und Božena Němcová über die Bestsellerautoren Jáchym Topol, Serhij Žadan und Andrzej Stasiuk

zur ungarischen Neoavantgarde. Er berücksichtigt auf den ersten Blick undergroundunverdächtige Autoren wie Péter Nádas und Wolfgang Hilbig. So spürt er auf mannigfache Weise von der romantischen Kondition über die Theorie der heterotopischen Orte bis in das Zeitalter einer nur vermeintlichen Beliebigkeit dem Skandal nach, der die Moderne grundiert: »Oben« steht gegen »Unten«.

2014. 263 S. FRANZ. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22139-3

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