Fremde Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert 9783110276732, 9783110276558

Until recently, scholars were hesitant to take the fantastic seriously. But since the 1990s, the increasing presence of

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Fremde Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert
 9783110276732, 9783110276558

Table of contents :
Vorwort
THEORETISCHE REFLEXIONEN ZUR FANTASTIK
Fantasy und Intertextualität. Methodenprobleme in der Genretypologie
Die Phantastik ist nicht phantastisch. Zum Verhältnis von Phantastik und Realität
Die Unordnung der Räume. Beitrag zur Diskussion um einen operationalisierbaren Phantastikbegriff
Begrenzte und entgrenzte wunderbare Systeme. Vom Bürgerlichen zum ,Magischen Realismus‘
GRENZGÄNGER DER FANTASTIK
Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen
Zur Rolle des Lateinischen in der Phantastik. Harry Potter, Aventurien und Lovecraft
Die Konstruktion kollektiver Imaginationsräume im Fantasy-Rollenspiel
Live-Rollenspiel und Fantasy. Ergebnisse einer qualitativen Studie auf dem Drachenfest 2009
FANTASTIK IN FILM UND TV
Visuelle Labyrinthe. Das Bild der Stadt im Kino Oshii Mamorus
Marvel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfilmen
Das blaue Wunder. Naturalisierung, Verfremdung und digitale Figuren in James Camerons Avatar
Der erste Raumschiffbruch der Geschichte. Filme metaphorologisch betrachtet
„Bright, shiny futures are overrated anyway“. Zum Wandel von Technik- und Geschichtssemantiken in Battlestar Galactica
Mythos und Religiosität in Star Trek
FANTASTISCHE LITERATUR: EINZELSTUDIEN UND ÜBERBLICKE
Wissen als Schwelle. Urban Fantasy für Kinder und Jugendliche im medialen Transfer
Materialität der Zeichen und Materialität der Welt in der Fantasy
Die Desakralisierung der Welt. ,Kryptoreligiöse Räume‘ in Der Herr der Ringe und Harry Potter
Märchenwälder. Der Topos Wald im europäischen Märchen und in seinen modernen Interpretationen
Innenblicke. Phantasmagorien in Yôko Tawadas Das nackte Auge
Formen und Funktionen des Fantastischen im Werk von Arthur Schnitzler und Leo Perutz
Fantastisches und Wunderbares. Goethes Behandlung des ,Geisterhaften‘ in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Fantastik in genregeschichtlicher Sicht. Zur Konstitutionsphase des Schauer- und Schreckensromans in der deutschsprachigen Belletristik um 1800
Schauerliche Familiengeschichten. Zur Plot-Struktur englischer Gothic Novels
Gesichter der polnischen nichtrealistischen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Fremd und doch bekannt. Das Bild des Neanderthalers in der Prehistoric Fiction
Der Wandel der deutschen Science Fiction. Vom technischen Zukunftsroman zur Darstellung alternativer Welten
Über die Autorinnen und Autoren

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Fremde Welten

Fremde Welten Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert Herausgegeben von

Lars Schmeink Hans-Harald Müller

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

ISBN 978-3-11-027655-8 e-ISBN 978-3-11-027673-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt LARS SCHMEINK, ASTRID BÖGER, HANS-HARALD MÜLLER Vorwort ................................................................................................................ 1

THEORETISCHE REFLEXIONEN ZUR FANTASTIK HELMUT W. PESCH Fantasy und Intertextualität. Methodenprobleme in der Genretypologie .................................................... 7 FRANK WEINREICH Die Phantastik ist nicht phantastisch. Zum Verhältnis von Phantastik und Realität ............................................... 19 HENNING KASBOHM Die Unordnung der Räume. Beitrag zur Diskussion um einen operationalisierbaren Phantastikbegriff ............................................................................................... 37 UWE DURST Begrenzte und entgrenzte wunderbare Systeme. Vom Bürgerlichen zum ‚Magischen Realismus‘ .......................................... 57

GRENZGÄNGER DER FANTASTIK PAMELA STEEN Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen ............................................... 77

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Inhalt

JOCHEN WALTER Zur Rolle des Lateinischen in der Phantastik. Harry Potter, Aventurien und Lovecraft ...................................................... 103 LUCIA TRAUT Die Konstruktion kollektiver Imaginationsräume im Fantasy-Rollenspiel ..................................................................................... 123 MAXIMILIAN VOGELMANN Live-Rollenspiel und Fantasy. Ergebnisse einer qualitativen Studie auf dem Drachenfest 2009 .............................................................................. 141

FANTASTIK IN FILM UND TV BENEDICT MARKO Visuelle Labyrinthe. Das Bild der Stadt im Kino Oshii Mamorus ................................................ 163 ALETA-AMIRÉE VON HOLZEN Marvel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfilmen ...................................................... 187 SIMON SPIEGEL Das blaue Wunder. Naturalisierung, Verfremdung und digitale Figuren in James Camerons Avatar .............................................................................. 203 JÖRG HARTMANN Der erste Raumschiffbruch der Geschichte. George Méliès Filme metaphorologisch betrachtet .................................... 223

Inhalt

VII

ANKE WOSCHECH „Bright, shiny futures are overrated anyway“. Zum Wandel von Technik- und Geschichtssemantiken in Battlestar Galactica .......................................................................................... 237 FRANCESCA YARDENIT ALBERTINI Mythos und Religiosität in Star Trek .............................................................. 261

FANTASTISCHE LITERATUR: EINZELSTUDIEN UND ÜBERBLICKE PETRA SCHRACKMANN Wissen als Schwelle. Urban Fantasy für Kinder und Jugendliche im medialen Transfer ....................................................................................... 271 MARTIN G. E. STERNBERG Materialität der Zeichen und Materialität der Welt in der Fantasy .................................................................................... 287 ANJA STÜRZER Die Desakralisierung der Welt. ‚Kryptoreligiöse Räume‘ in Der Herr der Ringe und Harry Potter ................................................................................................. 299 INKEN FROST Märchenwälder. Der Topos Wald im europäischen Märchen und in seinen modernen Interpretationen ............................................................ 319 JULIA BOOG Innenblicke. Phantasmagorien in Yôko Tawadas Das nackte Auge .................................. 339

VIII

Inhalt

HANS-HARALD MÜLLER Formen und Funktionen des Fantastischen im Werk von Arthur Schnitzler und Leo Perutz.......................................................... 355 EVELYNE JACQUELIN Fantastisches und Wunderbares. Goethes Behandlung des ‚Geisterhaften‘ in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten ............................................................. 363 JÖRG SCHÖNERT Fantastik in genregeschichtlicher Sicht. Zur Konstitutionsphase des Schauer- und Schreckensromans in der deutschsprachigen Belletristik um 1800 .............................. 381 PETER HÜHN Schauerliche Familiengeschichten. Zur Plot-Struktur englischer Gothic Novels................................................ 391 JACEK RZESZOTNIK Gesichter der polnischen nichtrealistischen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts ...................................................................... 407 MERET FEHLMANN Fremd und doch bekannt. Das Bild des Neanderthalers in der Prehistoric Fiction ............................. 423 HANS ESSELBORN Der Wandel der deutschen Science Fiction. Vom technischen Zukunftsroman zur Darstellung alternativer Welten ........................................................................................... 443

Über die Autorinnen und Autoren ................................................................ 457

Vorwort LARS SCHMEINK, ASTRID BÖGER, HANS-HARALD MÜLLER Es war ein weiter und beschwerlicher Weg, aber die Fantastikforschung ist endlich auch an den europäischen Universitäten angekommen. Diese Aussage mag polemisch klingen, haben doch bereits seit den 1970er Jahren immer wieder WissenschaftlerInnen die Fantastik als ein wertvolles Untersuchungsobjekt erkannt und dazu gearbeitet. So gibt es seit Jahren Veröffentlichungen im Bereich der Fantastik, kleinere Symposien, sogar eine Spezialsammlung, die sich des Themas annimmt, doch kann von einer systematischen Organisation und akademischen Strukturen, die die Fantastikforschung auf Augenhöhe mit anderen Teilgebieten der Literaturwissenschaften (in denen immer noch der größte Teil der Fantastikforschung stattfindet) bringen, nicht die Rede sein. Es ist wohl erst dem medialen Feuerwerk, insbesondere den technischen Neuerungen und dem Zauber des CGI-Kinos, aber auch den Überraschungserfolgen einzelner Autorinnen und Autoren zu verdanken, dass die Fantastik in den letzten Jahrzehnten überdeutlich aus der Genrenische heraus und in das Rampenlicht getreten ist. Folglich hat sich auch das akademische Interesse an ihr als Forschungsgegenstand wesentlich verbreitert, und sie hat mehr und mehr WissenschaftlerInnen angezogen, die für ihre Arbeiten nun auf der Suche nach Vernetzung sind, nach Austausch mit anderen ForscherInnen, auf Konferenzen, in Arbeitsgruppen. Bislang mussten europäische FantastikforscherInnen in die USA reisen, wo es bereits seit mehr als 30 Jahren solche Strukturen gibt, um einen Austausch wenigstens sporadisch zu ermöglichen. Doch dank des positiven Aufbruchsgefühls und der erkennbaren Ausweitung des akademischen Interesses an der Fantastik war es 2010 zum ersten Mal möglich, eine große internationale Konferenz in Deutschland zu veranstalten, die mehr als 150 ForscherInnen zusammenbrachte und so die Grundlage zur Schaffung einer wissenschaftlichen Gesellschaft bildete. Die Gesellschaft für Fantastikforschung e.V. (GFF) wurde am 01. Oktober 2010 in Hamburg auf der Konferenz „Fremde Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert“ von mehr als 80 Gründungsmitgliedern ins Leben gerufen und ist seither damit beschäftigt, aka-

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Lars Schmeink, Astrid Böger, Hans-Harald Müller

demische Strukturen und Netzwerke auszubilden, die es FantastikforscherInnen ermöglichen, ihre Arbeit entsprechend der zentralen Rolle der Fantastik in der Populärkultur und mit wissenschaftlichem Selbstbewusstsein in ihren Fachdisziplinen zu präsentieren. Dazu hat die Gesellschaft nicht nur regelmäßig stattfindende Jahrestagungen (zuletzt in Salzburg 2011) und die zweimal jährlich erscheinende Zeitschrift für Fantastikforschung in Auftrag gegeben, sondern sich auch zum Ziel gesetzt, die Ergebnisse der Tagungen in angemessener Form zu veröffentlichen und so für neue Publikationsmöglichkeiten zu sorgen. Die vorliegenden Bände, Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert (Hg. von Lars Schmeink und Hans-Harald Müller) und Collision of Realities. Establishing Research on the Fantastic in Europe (Hg. von Lars Schmeink und Astrid Böger), präsentieren entsprechend die Ergebnisse der Gründungskonferenz der Gesellschaft im Oktober 2010 in Hamburg und bieten so einen interdisziplinären Schnitt durch die aktuelle Forschungslandschaft der Fantastik. Aufgrund der Größe und der stark internationalen Ausrichtung der Konferenz (mit knapp der Hälfte der Beiträge in englischer Sprache) haben wir uns dafür entschieden, zwei komplementäre Bände in Englisch und auf Deutsch zu veröffentlichen und so insgesamt fast 50 Beiträge zu präsentieren, die Zeugnis einer aktiven und innovativen Forschung zur Fantastik in Europa sind. Wie auch das Herausgeberteam selbst, so besteht die Riege der BeiträgerInnen aus ForscherInnen unterschiedlicher Generationen und Disziplinen und leistet damit stellvertretend im Grundsatz eine Zusammenführung, die in den einzelnen Fachdiskursen in dieser Form nur schwerlich zu erreichen ist. Seit den Anfängen der Fantastikforschung besteht wie in so vielen geisteswissenschaftlichen Fachgebieten kein allgemeingültiger Konsens über Definitionen, Abgrenzungen und theoretische Ausrichtungen in Bezug auf den Gegenstand der Forschung. Dass Methoden, Ansätze und Ziele der Fantastikforschung maßgeblich variieren, verdeutlicht vor allem die seit Jahrzehnten vorherrschende Debatte um die In- und Exklusivität des Fantastikbegriffs, die auch in den Beiträgen der beiden Konferenzbände immer wieder anklingt. Eine Uneinigkeit über solche Grundlagen ist von einigen als Hindernis für das Voranschreiten der Forschung beschrieben worden, doch kann der Disput auch als Ausdruck einer lebendigen Auseinandersetzung mit der Fantastik gewertet werden, als Zeichen einer stetigen Verhandlung der Themen, der Begriffe und Konzepte des Fantastischen. Aus diesem Grunde haben wir uns dafür entschieden, mit der Konferenz und den nun vorliegenden Bänden einen Rahmen zu bieten, in dem möglichst viele Ansätze der Fantastikforschung Raum finden. Außerdem wollten wir in die Debatten nicht präskriptiv eingreifen. Entsprechend obliegt es den BeiträgerInnen selbst, sich zu den Fragen einer In- oder Exklusivität des Fantastikbegriffs, zu maximalen oder minimalen

Vorwort

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Definitionen, zur Schreibweise (mit ‚f‘ oder ‚ph‘) oder auch zum methodischen Ansatz und zur Zielsetzung der Forschung zu positionieren. Da eine Vielzahl unterschiedlicher Fachdisziplinen in den Bänden vertreten ist, und diese auf wiederum unterschiedliche Praktiken wissenschaftlicher Veröffentlichungen zurückgreifen, oblag es uns, den Balanceakt zwischen der Anerkennung der spezifischen Bedürfnisse der einzelnen Disziplinen und der Zusammenführung in einem interdisziplinären Band zu leisten. Der vorliegende, deutsche Band gliedert sich in vier Hauptteile, die den Schwerpunkten der aktuellen Fantastikforschung entsprechen. Der erste Teil, „Theoretische Reflexionen zur Fantastik“, greift die genretheoretischen und definitorischen Debatten literaturwissenschaftlicher Forschung auf, von denen oben schon die Rede war und die das Feld seit den 1970er Jahren und Todorovs einflussreicher Arbeit bestimmen. Der zweite Teil, „Grenzgänger der Fantastik“, kann als gegenläufiger Bereich verstanden werden, der die Fantastik als Impulsgeber für Fachdisziplinen wie die Linguistik und die Religions- und Sozialwissenschaften sieht, die im allgemeinen nicht als typische Vertreter einer Fantastikforschung verstanden werden. Im dritten Teil, „Fantastik in Film und TV“, wenden wir uns den visuell-medialen Ausformungen der Fantastik zu, die einen stark anwachsenden Teil der Forschungslandschaft darstellen. Der vierte und abschließende Teil, „Fantastische Literaturen: Einzelstudien und Überblicke“, bietet schließlich sowohl literaturwissenschaftliche Studien zur Entwicklung einzelner fantastischer Spielarten wie auch detaillierte Analysen spezifischer Werke, die zusammengenommen den größten Teil der Fantastikforschung ausmachen. Wir möchten allen Beteiligten und Förderern unseren Dank aussprechen, ohne die die Durchführung der Konferenz, die Gesellschaftsgründung sowie die Entstehung der vorliegenden Bände nicht möglich gewesen wären. Wir danken der DFG, der Universität Hamburg, der ICA und dem amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg für die großzügige Unterstützung der Konferenz. Unser persönlicher Dank gilt darüber hinaus dem Engagement von Julia Gatermann (Konferenzorganisation, Editionsarbeit), Tim Gehlert (Konferenzorganisation), Kathryn Baker (Sprachkorrekturen, Netzwerke), Steven Wosniack (Technische Hilfe, Aufzeichnungen), Johanna Bauch und Nicole Zajac (Sekretariat, Logistik) sowie den zahlreichen studentischen Hilfskräften, die für einen so reibungslosen Ablauf gesorgt haben.

THEORETISCHE REFLEXIONEN ZUR FANTASTIK

Fantasy und Intertextualität Methodenprobleme in der Genretypologie HELMUT W. PESCH Fantasy and Intertextuality. Problems of Method in Genre Typology In the 1970s, readers and critics had a relatively clear notion of the various genres of fantastic literature, such as science fiction, fantasy, and horror or supernatural fiction. These definitions were based on opposing collective worldviews, mainly reflecting conventional ideas of literary realism. Structuralist definitions, while seemingly precise, were only capable of defining properties as parameters, either marked or unmarked, which led to the methodological problem of negatively defined residual categories and, in effect, unmasked these definitions as essentially ideological, guided by the interests of the beholder. The aesthetics of reception, prevalent in poststructuralist criticism, proved helpful in identifying mechanisms of legitimation in reader response but failed at defining intrinsic genre characteristics. All these approaches were static rather than dynamic and lacked a proper theory of context. The recent development of recombinant genres such as ‘urban fantasy’, ‘romantasy’, or ‘steampunk’ points both at an instability of genre markers and at a tendency towards a dissolution of distinctions that may have been inherent in the genres of the fantastic from their beginnings. Therefore, genre in the modern sense should rather be defined by shifting clusters of motives than by prescriptive rules and may best be handled by an evolutionary approach which takes into account both intertextual and contextual relationships.

In den 1970er Jahren hatte man eine relativ genaue Vorstellung dessen, was Science Fiction, was Fantasy und was Horror (auch als die Literatur des Unheimlich-Phantastischen oder als ‚Phantastik im engeren Sinne‘ bezeichnet) war und wie sich diese verschiedenen Genres voneinander unterschieden. Als Kriterium nahm man hierfür die Beziehung der erzählten Welt zur realen Welt: Science Fiction war demnach eine Erweiterung des realistischen Ansatzes auf Bereiche, für die dieser eigentlich nicht gedacht war; aber da ein fiktionaler Text sich allenfalls auf Plausibilität überprüfen lässt, unterschieden sich diese Texte kategorial nicht von realistischen. Dass man ihnen zudem einen didaktischen Wert beimaß, erhöhte ihre Akzeptanz. Der Fantasy hingegen wurde unterstellt, dass sie mit dem realisti-

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schen Weltbild grundsätzlich gebrochen habe und unter metaphysischen Prämissen operiere, sodass eine mythische Weltordnung Bestandteil der Fiktion sei (vgl. zuletzt auch Weinreich). Damals konnte man sagen: Während die Welt der Science-Fiction, so phantastisch sie auch erscheinen mag, immer noch unsere Welt bleibt, hat die der Fantasy mit der der anderen metaphysischen Gattungen gemein, dass es sich dabei um eine Welt handelt, ‚in die man bloß durch einen Akt des Glaubens und der Phantasie hinüberwechseln kann‘. (Pesch, Fantasy 73; vgl. Suvin 28)

Beim Unheimlich-Phantastischen hingegen wird der Konflikt zwischen diesen beiden Weltordnungen thematisiert, der als ein Skandalon wirkt und am Ende nur gewaltsam gelöst werden kann, da eine friedliche Koexistenz nicht möglich ist. Diese sehr weitreichenden, strukturell-mimetischen Definitionen mögen auf den ersten Blick plausibel erscheinen, werfen jedoch erhebliche methodologische und praktische Probleme auf. Zum einen sind bei einem strukturalistischen Ansatz Eigenschaften nur als Merkmale definierbar, die als vorhanden oder nicht vorhanden markiert sind. Die damit verbundene Schwierigkeit wird etwa deutlich an dem Ansatz von Darko Suvin (1979), der mit den Parametern „Erkenntnis“ und „Verfremdung“ operiert (vgl. Pesch, Fantasy 69):

Abb. 1: Darko Suvin’s Parameter im Schema

Bei der Science Fiction sind beide Parameter positiv markiert; sie ist damit die „Literatur der erkenntnisbezogenen Verfremdung“ (Suvin 24). Bei der „realistischen“ und der „metaphysischen“ Literatur ist jeweils ein Merkmal nicht vorhanden, und wie bei jeder zweiwertigen Matrix erhält man eine Kategorie die doppelt unmarkiert ist und in diesem Fall mit dem merkwürdigen Begriff „Subliteratur des ‚Realismus‘“ belegt wird. Abgesehen von der damit verbundenen impliziten Wertung lässt sich über eine solche Restkategorie keine positive Aussage treffen, da sie sich nur durch das definiert, was sie nicht ist. Ähnliches gilt auch für eine Matrix, die nach ontologischen („fiktional“ vs. „nichtfiktional“) und epistemologischen Kriterien („realistisch“ vs. „phantastisch“) differenziert; auch hier erhalten wir eine doppelt unmarkierte Kategorie „phantastische nichtfiktionale Texte“ (Pesch, Fantasy 55), die gleichermaßen suspekt ist.

Fantasy und Intertextualität

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Zum anderen greift die Unterscheidung zwischen einem extrapolativen und einem analogischen Vorgehen, wie dies der Science Fiction und der Fantasy unterstellt wird, letztlich auf den aristotelischen Mimesis-Begriff, die Nachahmung von Wirklichkeit, zurück. Die zum Vergleich herangezogene Wirklichkeit erweist sich bei näherer Betrachtung als die Welt des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts, der bereits durch die metafiktionale Literatur der sechziger Jahre und in der Folge in der Diskussion um die Postmoderne, die überhaupt keine privilegierte Perspektive mehr gelten lässt, als ein ideologisches Konstrukt entlarvt wurde. Auch mit unserem heutigen physikalischen Weltbild, das die Prämissen der Kausalität ebenso wie die absolute Objektivität infrage stellt und bei physikalischen Zuständen mit Wahrscheinlichkeiten operiert, hat diese „gefühlte“ Realität nur wenig gemein. Man behilft sich mit der Konstruktion, dass es sich hier um die empirische Welt im Sinne einer konventionellen Vorstellung handelt. Das Phantastische wird damit zu einer rhetorischen Abweichung von einer Norm, nach den klassischen Prinzipien wie adiectio, subtractio, substitutio oder transmutatio, die bereits die antike Rhetorik lehrte, oder in allgemeinen Begriffen von Isotopie und Metabolie (vgl. Pesch, „Myth“ 22). Dabei ergeben sich zwei methodische Probleme: Zum einen ist die Frage ungeklärt, wie sich diese verschiedenen Operationen zueinander und zum Text selbst verhalten. Wie es ein Kritiker unter Bezug auf Peter S. Beagles The Last Unicorn (1968) formulierte: „Having accepted unicorns, in what sense can it be said that a poetic butterfly […] reverses the narrative ground rules?“ (Foust 8) Zum anderen ist die Frage legitim, wer entscheidet, ob eine konventionelle Norm gilt, und ob die Norm des 19. Jahrhunderts in der medial vermittelten Welt des 21. überhaupt noch Gültigkeit hat. Damit wird die Entscheidung letztlich weniger dem Text als dem Leser anheimgestellt. Die Rezeptionsästhetik, die den literaturwissenschaftlichen Diskurs der 1970er Jahre beherrschte, geht von der Annahme von Textstrategien aus, die bestimmte Aktualisierungen des Textes steuern. Dieses Konzept des im Text angelegten „impliziten“ Lesers als „Rollenangebot für seine möglichen Empfänger“ (Iser, Leser 61) ist eher auf den Einzeltext als auf Textgruppen gerichtet. Als Kommunikationskonzept ist es dazu geeignet, leserseitige Vorprogramme zu identifizieren, die als eine Art Filter vor den Text treten, um einen als problematisch empfundenen Inhalt zu legitimieren. Solche funktionalen Rahmen, die dem Erzähler ermöglichen, als bloßer Vermittler eines inhaltlich nicht selbst zu verantwortenden Textes aufzutreten, lassen sich ähnlich im frühen Roman des 18. bis 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als Fiktionalität selbst problematisch war, und in der phantastischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aufzeigen (vgl. Pesch, Fantasy 73ff.). Diese Rahmenvorgaben erweisen sich jedoch schon in der klassischen Fantasy als reine Konventionen, etwa bei

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den selbst-eingebetteten Texten eines James Branch Cabell in Figures of Earth (1921) oder E. R. Eddison in The Worm Ouroboros (1922), die sich in einem komplizierten Spiel von Zyklen und sich überschneidenden Ebenen am Ende selbst voraussetzen. In J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (1954-55) ist der Roman selbst Bestandteil der Fiktion, da nämlich sein Prototyp innerhalb des Romans als realistische Chronik geschrieben wird, die per Kopie zweiter Hand zum ‚Roten Buch‘ wird, welches wiederum auf ungenannte Art eine Art Vorlage für den Roman liefert; zudem erfolgt eine Einbettung in fingierte nichtfiktionale Texte. Bei Cornelia Funke werden sogar Ebenen der Fiktion intratextuell gegeneinander ausgespielt: Die Legitimation der phantastischen Elemente im Roman Tintenherz (2003) beruht auf einem gleichnamigen fiktiven fiktionalen Text, nämlich dem phantastischen Roman „Tintenherz“, dessen Autor Fenoglio eine von der Erzählerin geschaffene literarische Figur ist, und dessen Figuren wiederum aus der phantastischen fiktionalen Ebene zweiter Ordnung in die realistische Ebene erster Ordnung hinüberwechseln und damit deren Status im Rahmen der Fiktion verunklären. Allerdings schreibt Funke schon in einem Kontext, in dem die Notwendigkeit eines legitimierenden Rahmens bereits nicht mehr besteht. Ihr Roman legitimiert sich vielmehr durch den intertextuellen Verweis auf andere phantastische Texte, etwa durch als Mottos vorgegebene Zitate außerhalb der eigentlichen Romanhandlung – zum Beispiel aus The Lord of the Rings, woraus sie eine Passage zitiert, in der die Romanfigur Sam Gamgee sich selbst die Frage stellt, ob er nur eine Figur in einer Geschichte sei (Funke 473; Tolkien, Towers 321). Für die Genretypologie ist ein kommunikatives Modell nur bedingt brauchbar. Auch das Konzept des „Erwartungshorizonts“ (Jauß 131), das ein Vorverständnis der Gattung und der Form und Thematik zuvor bekannter Werke ins Spiel bringt, bleibt diesbezüglich unscharf und vermischt zudem Interpretation und Wertung. Gerade die Abweichung von Konventionen wird als Maß der Literarizität angesehen; je größer die Innovation, desto größer der Kunstcharakter. Zudem verfügt die Rezeptionsästhetik, auch wenn dem Leser ein „sedimentiertes Wissen“ (Iser, „Kritik“ 332) attestiert wird, das bei der Lektüre abgerufen wird, über keine Theorie des Kontexts. Im Strukturalismus ist der Text nur analysierbar, „insofern er in Elemente und Relationen zwischen diesen Elementen zerlegt werden kann“ (Titzmann 27). Bei der Analyse literarischer Gattungen wird hier auf den Begriff der „literarischen Reihe“ zurückgegriffen, der aus dem russischen Formalismus stammt (Tynjanov 449; vgl. Köppe und Winko 94). Texte werden unter diesem Aspekt in externer Relation zu anderen Texten gesehen, indem man mit den strukturalistischen Kriterien von Selektion und Kombination Entsprechungen und Unterschiede etwa zwischen Figuren,

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Figurencharakteristika oder Handlungselementen aufzeigt. Eine literarische Reihe als „System von Funktionen“ steht zudem in ständiger Korrelation zu anderen, auch außerliterarischen Funktionssystemen (Tynjanov ebd.). Ebenso wie der rezeptionsästhetische kennt auch der strukturalistische Ansatz kein abschließendes Kriterium für die Konstituierung von Textgruppen. In der Praxis wird auf einen heuristischen Mechanismus zurückgegriffen, der dem logischen Prinzip der Abduktion folgt: Von den Lesern als zusammengehörig empfundene Texte werden gruppiert, auf der Basis dieses Korpus wird eine Hypothese gebildet, die wiederum eine Neubewertung des Textkorpus nach sich zieht, wobei einzelne Werke oder Werkgruppen ausgeschlossen, andere wiederum hinzugefügt werden. Dieser rekursive Prozess schafft in seinem Verlauf eine unscharfe Menge, der Einzelwerke nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angehören, in dem Maße, in dem sie Kriterien erfüllen oder nicht. Diese Kriterien sind meist inhaltlicher Natur. Für die Fantasy sind hier im Wesentlichen die alten Merkmale von ‚Sword and Sorcery‘ maßgebend: ein heroisches Element, verbunden mit einer vorindustriellen Technologie, und ein magisches Bewusstsein, das auf einer metaphysischen Weltordnung basiert. Als drittes Kriterium wird noch das Element der imaginären Welt genannt. Das methodische Problem ist, dass keines dieser Kriterien konstitutiv zu sein scheint, sondern bei einem Einzeltext ganz oder teilweise fehlen kann, ohne dessen grundsätzliche Zugehörigkeit zum Phantastischen infrage zu stellen. Ein Musterbeispiel hierfür ist Islandia (1942) von Austin Tappan Wright (1883-1931), ein Roman, der um die Zeit des Ersten Weltkriegs auf einem fiktiven Kontinent der südlichen Hemisphäre spielt, dessen genaue Lokalisierung nicht gegeben wird. Aber das fiktive Land, so isoliert es sein mag, ist bewusst in die reale Historie eingebettet, die auch auf die Geschichte Islandias Einfluss nimmt. Es ist kein ‚Lost-Race‘-Roman; die eingebettete Welt wird am Ende nicht zerstört, und obwohl der amerikanische Held zwar letztlich seinen Wohnsitz in Islandia nimmt, heiratet er nicht die Prinzessin, sondern holt seine Jugendliebe aus den USA dorthin. Es ist auch keine Utopie; Wright übernimmt zwar gewisse literarische Motive des utopischen Romans wie das des Cicerone, des einheimischen Führers, der die Wunder des Landes erklärt, aber das Ende ist offen, sodass es nicht nur zu einer Reihe von autorisierten Pastiches von Mark Saxton, Wrights postumem Herausgeber und Lektor, sondern zu einer späteren, nicht autorisierten Fortschreibung, Islandia Revisited (1983) von Richard N. Farmer, eingeladen hat, die nach dem zweiten Weltkrieg spielt und mit einem Flug in den Weltraum endet. Was den Status des Romans als Fantasy betrifft, so benutzt Wright, ein amerikanischer Jura-Professor, zur Plausi-

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bilisierung dieselben Mittel wie sein britischer Akademikerkollege Tolkien: eine imaginäre Geografie und Geschichte, eine eigene Religion, selbst eine, wenn auch rudimentäre, erfundene Sprache. Das fingierte nichtfiktionale Material, größtenteils unveröffentlicht, bis hin zu Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung, ist offenbar immens. Bei allem ist diese Geschichte bar jeden übernatürlichen Elements und nicht das Heroische steht bei ihr im Vordergrund, sondern die verschiedenen Arten von Liebe. Wenn wir das Phantastische als eine rhetorische Strategie ansehen, als eine Abweichung von konventionellen Normen, so ist Islandia ein Fall von einem Text, der sich so weit wie irgend möglich der Norm annähert und dabei doch phantastisch bleibt. Das praktische Problem bei der Festlegung von inhaltlichen Kriterien für die verschiedenen Genres besteht darin, dass sich die Autoren offenbar nicht daran halten – und die Leser es ihnen nicht einmal übel nehmen. Dies begann schon in den 1970er Jahren mit Filmen wie Krieg der Sterne (1977), der ein metaphysisches Element – die ‚Macht‘ – mit einer märchenhaften Erzählung und einem SF-Setting verband. Darüber hinaus gab es bereits seit Ende der 1970er Jahre eine allmähliche Vermischung von Motiven auch innerhalb der Genre-Literatur. Dies ist besonders auffällig im Fall der Fantasy, die sich als wahrnehmbares Genre erst etwa ein Jahrzehnt zuvor konstituiert hatte, was zugleich ihre spezielle Heterogenität (vgl. Wolfe 31) wie auch die Instabilität der Genremerkmale der phantastischen Literatur im Allgemeinen bezeugt (23). Ein frühes Beispiel hierfür sind die Xanth-Romane von Piers Anthony, in denen sich in einer Phantasiewelt, die deckungsgleich mit Florida, dem Heimatstaat des Autors ist, Fantasy-Motive wie Drachen und Prinzessinnen mit umgewerteten Figuren wie sympathischen Zombies und satirischen Elementen mischen, die zum Teil auf Wortspielen beruhen, wie etwa in Golem in the Gears (1986), dem sechsten Band der Serie, einer Figur namens „Agent Orange“, die dort, wo sie entlanggeht, eine Spur verbrannter Erde hinterlässt. Auch in anderen Medien wie Tabletop- und in der Folge Computerspielen ist es auffällig, wie leicht sich Figuren und Motive umwerten oder umwidmen lassen. So wird etwa im Warhammer-Universum der britischen Firma Games Workshop das komplette Figurenrepertoire einer FantasyWelt – Elfen, Orks, Zwerge, Dämonen – und ein Teil des Motivkomplexes, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Ordnung und Chaos, auf ein Science Fiction-Setting, Warhammer 40.000, projiziert, beides überformt von einer typisch britischen Punk-Kultur. Ein weiteres Phänomen, das die klassische Unterscheidung von Genres aufgrund struktureller Merkmale zunehmend schwierig macht, ist das vermehrte Aufkommen von Genremischungen seit den 1980er Jahren.

Fantasy und Intertextualität

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Es hatte früher schon eine gewisse Affinität zwischen Fantasy und historischen Romanen gegeben, insbesondere aufgrund des kulturellen Hintergrunds, der es nahelegt, die Glaubensvorstellungen früherer Zeiten als metaphysisches Element in die Fiktion zu integrieren. Ein markantes Beispiel hierfür ist Marion Zimmer Bradley Roman The Mists of Avalon (1982), in dem zugleich eine revisionistisch-feministische moralische Umwertung der Geschichte betrieben wird. Quantitativ spielt die historische Fantasy heute freilich keine Rolle mehr. Dafür haben sich in den letzten Jahrzehnten andere rekombinante Mischformen herausgebildet. Die Harry-Potter-Romane (1997-2007) verwenden Stilelemente der Fantasy-Literatur, wobei die Fantasywelt, wie oft in der Kinder- und Jugendliteratur, als Parallelwelt angelegt ist, aber auch des Kriminal- und des Entwicklungsromans und dort insbesondere solche des vor allem in England verbreiteten Internatsromans. Die ‚Dark Fantasy‘ oder ‚Urban Fantasy‘ mischt Elemente des amerikanischen Kriminalromans, insbesondere der Romane der „Schwarzen Serie“ mit zynischen Helden und urbanem Setting, mit solchen des klassischen übernatürlichen Horrors. Dabei stehen weniger Fragen von Gut und Böse als sekundäre moralische Tugenden im Vordergrund – ähnlich wie in den Harry-Potter-Romanen. Zwischen Entwertung und Umwertung der Moral steht die sogenannte ‚Romantasy‘, eine Verbindung von Liebes- und Vampirroman, die insbesondere durch Stephenie Meyers Twilight (2005) populär gemacht wurde. Zu diesen neueren Entwicklungen zählen auch Regressionen mit der Wiederaufnahme bereits als erschöpft angesehener literarischer Formen, etwa der ‚Steampunk‘ mit einer romantisch-viktorianischen Technologie und Erzähltechnik. Auch die ‚Sword-and-Sorcery‘, die bereits als tot galt, nachdem ihr letzter markanter Vertreter David Gemmell (1948-2006) sich mehr und mehr dem historischen Roman zugewandt hatte, ist in jüngerer Zeit durch Autoren wie den Kanadier Steven Erickson mit Gardens of the Moon (1999), den Briten Joe Abercrombie mit The Blade Itself (2007) oder den Amerikaner Patrick Rothfuss mit The Name of the Wind (2007) unter bewusstem Verstoß gegen zahlreiche Konventionen des ursprünglichen Genres wiederbelebt worden. Das jüngste Wiederaufkommen von dystopischen Stoffen in der Jugendliteratur wie in Suzanne Collins’ Hunger Games-Trilogie (2008-10) ist gleichfalls ein solches Phänomen. Aber welchen theoretischen Status kann man solchen Mischformen und Revivals unter anderem Vorzeichen zumessen? Sind sie nur in Relation zu anderen literarischen Formen oder auch als Genres eigenen Rechts anzusehen? Mittlerweile ist es üblich, auch von Sub-Genres oder gar Mikro-Genres zu sprechen. Als Beispiel für Letzteres wären etwa die neueren

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Abwandlungen der „Horatio-Hornblower“-Romane von C. S. Forester zu nennen, einmal als Science Fiction in David Feintuchs „Nick-Seafort“Serie, beginnend mit Midshipman’s Hope (1994), und zum anderen als Fantasy in Naomi Noviks Temeraire-Serie, beginnend mit His Majesty’s Dragon (2006). Handelt es sich hierbei – möglicherweise noch unter Einschluss der Sturmwelten-Trilogie des deutschen Autors Christian Hardebusch, beginnend mit Sturmwelten (2008) – um ein eigenes Genre, oder ist diese Gruppe zu klein, zu heterogen und zu peripher, um sie sinnvoll zu einer Klasse zusammenzufassen? Gegenüber den taxonomischen Ansätzen gibt es relativ wenig theoretische Modelle, die überhaupt eine Begründung für die Dynamik von Entwicklungen liefern. Zwar erlaubt ein strukturalistischer Ansatz neben dem synchronen auch einen diachronen Vergleich, aber kann letztlich Veränderungen in der Struktur nur konstatieren, nicht jedoch begründen. Die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten liegen außerhalb seiner Reichweite. Ein einflussreiches Modell zur Entwicklungstheorie war der dialektische Materialismus, der seinem Selbstverständnis zufolge auch auf kulturelle Sachverhalte anwendbar ist, diese allerdings in einer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Entwicklungen interpretiert, die sich aus inneren Widersprüchen speisen. Er wurde insbesondere in den 1970er Jahren nutzbringend zur Trivialliteraturforschung angewendet, darunter auch für die Science Fiction. Auch wenn er in mancher Hinsicht aus der Mode geraten ist, ist das Verhältnis von gesellschaftlichen und literarischen Entwicklungen keinesfalls als banal oder trivial anzusehen. Aber bei der Betrachtung innerliterarischer Prozesse erscheint dieses Erklärungsmodell zu eindimensional. Ein möglicher produktiver Ansatz, der auch auf literarische Genres angewendet werden kann, ist der evolutionstheoretische, wie er in neuerer Zeit vor allem von Richard Dawkins in The Selfish Gene (1976) und Unweaving the Rainbow (1998) vertreten wird. Er hat zudem den Vorteil, dass er nicht Einzelphänomene, sondern Gruppen in den Fokus bringt. Zudem hat Dawkins selbst versucht, ihn auf kulturelle Sachverhalte zu übertragen. Dieser Transfer – einschließlich seiner biologistischen Begründung – ist allerdings nicht unumstritten (vgl. Blackmore; Becker et al.). Die Eigenschaften eines erfolgreichen Elements natürlicher Selektion, wie Dawkins dies versteht, sind Langlebigkeit (longevity), Fruchtbarkeit (fecundity) und Kopiertreue (copying-fidelity) (vgl. Gene 6; 10; 35). Unter Letzterem ist nicht das mechanische Replizieren von Vorlagen, sondern die Durchsetzungskraft von Replikator-Genen in einem von Wettbewerb gekennzeichneten Umfeld zu verstehen. Dawkins sieht die kulturelle Tradierung

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als Analogie zur genetischen und prägt hierfür den Begriff „Mem“ (englisch meme, analog zu gene) als elementare Einheit. Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes, fashions, ways of making posts or building arches. […] If the idea catches on, it can be said to propagate itself, spreading from brain to brain. As in the case of genes, fecundity is much more important than longevity of particular copies. […] Some memes, like some genes, achieve brilliant short-term success in spreading rapidly, but do not last long in the meme pool. Popular songs and stiletto heels are examples. Others, such as the Jewish religious laws, may continue to propagate themselves for thousands of years, usually because of the great potential permanence of written records. (Dawkins, Gene 192, 194; vgl. Orr 104)

Hier gibt Dawkins jedoch zu, auf unsicherem Boden zu stehen. An den genannten Beispielen wird auch eine Grundproblematik dieses Ansatzes deutlich. Anders als in der Biologie gibt es bei kulturellen Sachverhalten keine verbindliche Taxonomie. Zum einen ist nicht klar, was die Entsprechungen von systematischen Rängen wie Art, Gattung oder Familie sind. Setzt man, was literarische Gattungen betrifft, beim Roman an, bei der Prosa oder bei der Literatur im Allgemeinen? Zum anderen gibt es keine verlässlichen Kriterien, nach welchen sich Erscheinungsformen, auch über die Begrenzungen einzelner Medien hinaus, zu Kategorien zusammenfassen lassen, die zugleich sinnvolle Verallgemeinerungen erlauben. Dennoch ist dieses Modell bestechend, weil es sowohl eine Erklärung für die Bildung von kooperativen Kartellen kultureller Elemente gibt – Dawkins prägt hierfür den Begriff „Memplex“ (memeplexe) (Rainbow 306) –, die im kleineren Rahmen Genres, im größeren eine ganze Kultur ausmachen, als auch für die konstante Hybridisierung literarischer Formen, die sich entweder als fruchtbar oder steril erweisen. Konstituierende Texte, die ein ganzes Genre prägen, sind in dieser Terminologie als sprunghafte Mutationen anzusehen, die ebenso wie schrittweise Evolutionen die Entwicklung vorantreiben. Derselbe Ansatz bietet auch eine plausible Erklärung der Lebenszyklen von Themen und Motivkomplexen im Literaturbetrieb. Auch wenn es kein theoretisches Kriterium dafür gibt, auf welcher Ebene bei der Genretypologie anzusetzen ist, so gibt es doch vielleicht ein pragmatisches, indem man nämlich genau jene thematischen, formalen, modalen und funktionalen Elemente aufgreift, die in der Praxis verwendet werden, um Genres zu definieren und voneinander abzugrenzen. In diesem Sinne wäre etwa der Vampir oder die Queste ein erfolgreiches Mem, das selbst den Verlust des ursprünglichen Kontexts überlebt, aber dennoch fruchtbar bleibt. Ein solcher Ansatz erscheint zumindest erklärungsmächtiger als eine strukturell-mimetische Klassifikation, die zwar intellektuell befriedigt, aber dem Sachverhalt der heutigen Vielfalt literarischer Erscheinungsformen nicht Rechnung trägt.

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In einer postmodernen und multimedialen Welt kann die Interpretation von Texten nicht länger als eine private Auseinandersetzung zwischen Leser und Text und dem jeweiligen Verhältnis zu einer wie auch immer definierten Realität angesehen werden. Desgleichen ist ein Genre, auch wenn diese Ansicht immer noch weit verbreitet ist, nicht als „a rigid transhistorical class exercising control over the text which it generates“ (Frow 23) anzusehen, sondern ein Text kann an vielen Genres Anteil haben und ist nicht über ein einzelnes Genre vollständig zu definieren (ebd.). Interpretation ist somit ein Prozess, der sowohl den Leser als auch den Text in seinem synchronischen und diachronischen Kontext umfasst. In einem weiteren Sinne wäre dies auch eine Definition von Intertextualität, die über die bloße Beziehung von Texten zueinander hinausgeht. Literaturverzeichnis Anthony, Piers. Golem in the Gears. New York: Del Rey, 1986. Abercrombie, Joe. The Blade Itself. London: Gollancz, 2007. Beagle, Peter S. The Last Unicorn. New York: Viking, 1968. Becker, Alexander et al., Hg. Gene, Meme und Gehirne: Geist und Gesellschaft als Natur. Eine Debatte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Blackmore, Susan. The Meme Machine. Oxford: Oxford UP, 1999. Bradley, Marion Zimmer. The Mists of Avalon. New York: Knopf, 1982. Cabell, James Branch. Figures of Earth. New York: McBride, 1921. Collins, Suzanne. The Hunger Games. London: Scholastic, 2008. —. Catching Fire: The Second Book of The Hunger Games. London: Scholastic, 2009. —. Mockingjay: The Final Book of the Hunger Games. London: Scholastic, 2010. Dawkins, Richard. The Selfish Gene. 1976. Oxford: Oxford UP, 2006. —. Unweaving the Rainbow: Science, Delusion and the Appetite for Wonder. London: Allen Lane, 1998. Eddison, Eric R. The Worm Ouroboros: A Romance. London: Cape, 1922. Erickson, Steven. Gardens in the Moon. New York: Tor, 1999. Farmer, Richard S. Islandia Revisited. Bloomington: Cedarwood, 1983. Feintuch, David. Midshipman’s Hope. New York: Warner, 1994. Foust, R. E. „Fabulous Paradigm: Fantasy, Meta-Fantasy, and Peter S. Beagle’s The Last Unicorn“. Extrapolation 21 (1980): 5-20. Frow, John. Genre. New York: Routledge, 2006. Funke, Cornelia. Tintenherz. Hamburg: Dressler, 2003. Hardebusch, Christian. Sturmwelten. München: Heyne, 2008. Heber, Saskia. Das Buch im Buch: Selbstreferenz, Intertextualität und Mythenadaption in Cornelia Funkes Tinten-Trilogie. Kiel: Ludwig, 2010.

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Die Phantastik ist nicht phantastisch Zum Verhältnis von Phantastik und Realität FRANK WEINREICH Not Quite Fantastic. On the Relation of Fantastic and Reality The paper examines to what extent fantastic literature, movies and other art can actually be termed ‘fantastic’ in the sense of dealing with or telling of impossible events. The argument of the paper is that fantastic art rather deals foremost with real life, only applying a fantastic ‘disguise’ to the real-life stories it tells. The paper claims that the fantastic is a specific mode of storytelling which is used to enhance certain aspects of real life by clothing it in unlikely garb in order to emphasize the underlying meaning, as do metaphors in other circumstances. Thus, the paper concludes, the fantastic in general is able to reach the same level of applicability and meaning that all other art does. This in turn also means that artists of the fantastic should be aware of a certain kind of responsibility for their works, especially as the fantastic is a very successful genre holding great appeal to a younger audience.

The most rigorous historian cannot entirely dispense with the poet. (W. H. Auden: Secondary Worlds)

1. Phantastik „Fantasy is true, of course. It isn’t factual, but it’s true“, sagt Ursula K. Le Guin (44) in einer ihrer brillanten Analysen der Phantastik. Ich denke, da hat sie völlig Recht, und warum sie Recht hat, das werde ich im Folgenden erörtern. Vorab keine Definition1, sondern nur eine Eingrenzung des Aufsatzobjektes anhand seines wichtigsten inhaltlichen Merkmales: Die Phantastik, 1

Es gibt eine Vielzahl von Definitionen der Phantastik sowie eine ebenfalls nicht geringe Zahl von Stimmen, die unter Analyse der Definitionsansätze zu dem Schluss kommen, dass eine Definition der Phantastik schwierig ist und keinesfalls allgemeingültig gelöst werden kann. Die folgende Eingrenzung, anhand des wichtigsten gemeinsamen Merkmales, weist jedoch den von mir angenommenen Charakter der Phantastik präzise genug aus, um das hier behandelte Thema, warum die Phantastik nicht phantastisch ist, darstellen zu kön-

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ob nun in Form phantastischer Literatur oder Film, Comic oder anderer künstlerischer Darstellung, verstehe ich als Fiktion, in der für die zu erzählende Geschichte wichtige bis notwendige2 Inhalte dargestellt werden, die nach allgemeinem Verständnis unmöglich sind. Und zwar erzählt die Phantastik von Dingen, die entweder prinzipiell unmöglich sind, weil sie gegen die zum Entstehungszeitpunkt der Erzählung bekannten Naturgesetze3 verstoßen, oder sie erzählt von Dingen, die noch nicht möglich sind, weil entsprechende technische Errungenschaften noch nicht erfunden oder entsprechende Fähigkeiten noch nicht erworben wurden. Phantastik berichtet also beispielsweise von übernatürlichen Begebenheiten, neuartigen4 Technologien, Phänomenen oder Lebensweisen bis hin zu vollkommen abstrusen Begebenheiten, etwa da, wo Märchen oder die seit einigen Jahren beliebten Märchenparodien davon berichten, dass ganze Lämmerherden von einem Wolf gefressen werden und man sie danach unversehrt aus seinem Bauch herausschneiden kann. Jede Fiktion ist natürlich nicht real, aber Phantastik baut irreale Sachverhalte ein, die unsere menschliche Lebenswirklichkeit auf eine Weise erweitern, die die realistische Literatur nicht leisten kann. Der kleinste gemeinsame Nenner für alle phantastische Kunst und Literatur ist, mit Franz Rottensteiner gesprochen, folgender: Sie handelt „von Dingen oder Ereignissen, die es nicht gibt“ (7). Doch diese Dinge, die es nicht gibt, schweben nicht unverbunden auf einer differierenden ontologischen Ebene, sondern berühren unsere Realität, ob nun durch eine im Verhältnis zwischen Phantastik und Publikum bestehende „Abweichung von der vertrauten realen Welt“ (ebd.) oder innerfiktional wie dies Louis Vax und Roger Caillois in den Vordergrund stellen, wenn sie auf den „Einbruch eines übernatürlichen Ereignisses“ (Vax 17) oder den „Riss“ (Caillois 45) in der Realität verweisen, den die Phantastik hervorrufe. Caillois stellt die Behauptung auf: „Das Phantastische spielt sich nicht in dem Zauberwald Dornröschens ab, sondern in dem trostlosen bürokratischen Universum der heutigen Gesellschaft“ (52).

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nen. Worauf ich mich gerade nicht einlasse, ist, an dieser Stelle in die unentschiedene und in diesem Rahmen auch nicht entscheidbare Definitionsdebatte einzusteigen, die vom eigentlichen Thema ablenken würde. ‚Wichtig bis notwendig‘ weist darauf hin, dass nicht jede Fiktion, sobald in ihr irgendetwas Phantastisches auftaucht, automatisch der Phantastik zugeschlagen werden sollte. Manch phantastisches Element mag für Geschichten unwesentlich und aus verschiedensten Gründen eingefügt worden sein. Von ‚Naturgesetzen‘ spricht man erst seit der kopernikanischen Wende, phantastische Geschichten vor dieser Zeit fallen unter verschiedene Rubriken, wie Mythos oder Legende, und sind als Vorläufer der Phantastik anzusehen, fallen aber nicht selbst darunter. ‚Neuartig‘ schließt an Darko Suvins Begriff des „Novums“ an, ich beziehe das Neuartige jedoch hier auf die gesamte Phantastik, nicht nur die SF, allerdings in der gleichen Weise wie Suvin, nämlich als „von der Wirklichkeitsnorm des Autors und des implizierten Lesers abweichend“ (94).

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Doch wozu dienen diese Penetrationen, Risse und Erweiterungen der realen Lebenswelt durch die Phantastik? Der Science-Fiction-Autor und Genretheoretiker Brian Stableford schreibt über alle „major forms of fiction“: „[T]here is an element of attempted truth mingled with their fabrications, […] it is that attempt that constitutes their raison d´être, fabrication being merely a means to an end“ (xviiif.), und fährt später fort, es gebe „a fundamental dichotomy between science and fiction, although it is not nearly as simple as the apparent dichotomies between truth and untruth“ (xx). Die Aussagen sind dem Vorwort zu einer Enzyklopädie entnommen, in der Stableford auf die vielfältigen intellektuellen Verbindungen und gegenseitigen Befruchtungen von Wissenschaft und Science Fiction aufmerksam macht, mit besonderem Augenmerk auf Genrewerke, die die Entwicklung der Wissenschaften beeinflussten (vgl. xxii). Den spekulativen Wissenschaften ist eine gewisse phantastische Vorgehensweise seit alters her bekannt (Platon beispielsweise nutzte Mythen und phantastische Gleichnisse vielfach zur Erläuterung seiner Philosophie, etwa die Erzählung vom unsichtbar machenden Ring des Gyges; Politeia 359c-360c) und die Phantastik bedient sich der gleichen Methode zu Unterhaltungs- ebenso wie zu Illustrationszwecken – sie reflektiert die Realität aus ‚unmöglichen‘ Blickwinkeln, um ein erweitertes Gesamtbild zu erlangen. Alle Fiktion ist im Prinzip erlogen, doch wird eine solche Klassifikation der Literatur natürlich in keiner Weise gerecht. Was man jedoch bei längerfristiger Beobachtung der Feuilletons an Eindruck gewinnen kann, ist, dass das Feuilleton sicherlich Stablefords erster Aussage zustimmen würde, nur um dann zu behaupten, dass aber die Phantastik wohl nicht zu den „major forms“ zu rechnen sei; vielleicht hinsichtlich Auflage noch, aber kaum hinsichtlich Relevanz. Denn warum sollte es nötig sein, die Realität aus anderen, sprich ‚unmöglichen‘ Winkeln zu reflektieren, wenn man doch schon genug damit zu tun hat, sie zu verstehen zu versuchen, wenn man die ‚realen‘ Blickwinkel einnimmt? Wobei man sich über die Realität und das ‚Unmögliche‘ zunächst verständigen muss. 2. Realität und Phantastik Es gibt viele unterschiedliche Denkansätze bezüglich der Realität. Die meisten Ansätze seit Beginn des 20. Jahrhunderts besagen, dass es so etwas wie eine unverrückbar feststehende Realität nicht gibt, und generell ist zu beobachten, dass der Realitätsbegriff in der wissenschaftlichen Diskussion uneinheitlich gebraucht wird. Man kann beispielsweise darlegen, warum sich die Realität mit unserem Denk- und Sinnesapparat gar nicht erkennen lassen kann. Oder man kann ausführen, wie sich jedes Individuum die

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eigene Realität konstruiert. Diese Diskussionen sind aber für die Betrachtungen über das Verhältnis von phantastischer Kunst und unserer Lebenswirklichkeit nicht von entscheidender Bedeutung. In dem Zusammenhang genügt es nämlich, darauf hinzuweisen, dass es sehr wohl eine Realität gibt, innerhalb der wir uns auf ein zuverlässiges Wissen davon stützen, was möglich ist und was unmöglich ist. Diese Realität ist natürlich nicht objektiv darstellbar – obwohl es vermutlich eine objektiv existierende Realität gibt –, da es ja immer Individuen, also subjektiv wahrnehmende Erkennende sind, die die Realität erleben und beschreiben, selbst wenn sie einen Oszillographen, Seismographen oder andere Mess- und Erkenntnisinstrumente ablesen. Aber näherungsweise haben wir doch einen ganz guten und intersubjektiv konsensfähigen Begriff von der Realität. Ich beziehe mich damit auf einen hier vereinfacht dargestellten Realitätsbegriff von Hilary Putnam, der diese, für so gut wie alle Menschen weitestgehend zuverlässig funktionierende Realität als „internen Realismus“ bezeichnet (Putnam, „Realist“). Aussagekräftiger ist besonders die später von Putnam synonym verwendete Bezeichnung „pragmatischer Realismus“ (vgl. Putnam, „Repräsentation“ 200), denn jenseits aller philosophischen Spitzfindigkeiten bewegen sich die Denker und Autorinnen doch auch in einer Alltagswelt, in der sie den Steuerbescheid nicht als konstruktivistische Täuschung ansehen dürfen, sondern ihn bezahlen müssen und das in der Regel auch tun. Genauso, wie sie sich im täglichen Leben darauf verlassen, dass die Gravitation funktioniert und deshalb ohne Angst davor, davon geweht zu werden, auf die Straße treten. Oder wie eben so gut wie alle Menschen wissen, dass es keine Zauberdrachen gibt, dass das Beamen noch nicht funktioniert und dass wir auf Friedhöfen doch keine Angst haben müssen, dass die Gräber sich öffnen. Dieser Realitätsbegriff ist natürlich nicht statisch, sondern zeit- und kulturabhängig, so dass für uns eindeutige Phantasmen für Menschen von vor 250 Jahren durchaus glaubhaft sein können und umgekehrt.5 Es existiert eine in der Lebenspraxis eindeutige Trennung von Realität und irrealer Phantastik. Die spiegelt sich in der Regel auch in der Literatur wider und auch Filme und Computerspiele trennen relativ eindeutig. Auf der einen Seite stehen realistische Second World-Szenarien, wie in Die Sims, und auf der anderen Seite die phantastischen Universen von World of Warcraft und anderen. Was aber nicht heißt, dass Spieler nicht in beiden Welten zuhause sein können oder dass Philip Roth und Patrick Rothfuss 5

Es dürfte ertragreich sein, zu weiteren Explikationszwecken an dieser Stelle den impliziten Leser bzw. Zuschauer ins Spiel zu bringen, und dessen angenommenes Verhalten auf eine phantastische Geschichte zu untersuchen. Dass die Phantastik aber in Bezug auf ihr Verhältnis zur Realität nicht phantastisch ist, lässt sich ohne diesen, und auch besser, anhand realer Publika zeigen.

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nicht die gleichen Leser ansprechen. Und was auch nicht heißt, dass es nicht Grenzüberschreitungen gibt, in denen sich Realismus und Phantastik mischen. Das ist bei der konkreten Genrediskussion sogar ein ständig auftretendes Problem, denn die Kreativen weigern sich beharrlich, sich innerhalb der schönen, von den Theoretikern aufgestellten Leitplanken zu bewegen. Trotzdem bleibt aus der ‚ordnungspolitischen Sicht‘ der Genreeinteilung eine brauchbare Unterscheidung zwischen Phantastik und Realismus bestehen. Sowohl Urheber als auch Publikum wissen ziemlich genau, was sie unter Phantastik verstehen, denn es existiert ein lebendiges „Genrebewusstsein“ (Spiegel 29, vgl. Schweinitz), darüber, was Phantastik ausmacht. Diese Trennung gilt im Übrigen auch in voller Anerkenntnis der Tatsache, dass jeder fiktionale literarische Text genau dies natürlich ist: fiktional. Die Fiktion ist immer erfunden und im Hinblick auf die außerfiktionale Welt strenggenommen eine Unwahrheit, was sogenannte realistische und phantastische Literatur und Kunst in diesem Punkt vereint. Doch das eine ist ein Spiel in der Wirklichkeit, während das andere ein Spiel mit der Wirklichkeit ist. Einschränkend muss an dieser Stelle auf zwei verschiedene Möglichkeiten der Herangehensweise an die Phantastik hingewiesen werden. Untersucht man dieses Feld kann man Struktur oder Inhalt in den Vordergrund stellen, vielleicht in Anlehnung an Todorov besser ausgedrückt als „Poetik“ und „Interpretation“.6 Was im Folgenden untersucht werden wird, ist das Verhältnis von phantastischer Kunst zu der sie umgebenden außerfiktionalen Lebenswelt, und als solche eine interpretatorische Herangehensweise im vollen Bewusstsein der Einschränkungen, die mit nicht objektivierbaren Interpretationsleistungen verbunden ist.7 6 7

Todorov unterscheidet „Struktur“ und „Bedeutung“ und präzisiert dies dann im Folgenden zu den ausdrücklich als Gegensatzpaar bezeichneten Begriffen „Poetik“ and „Interpretation“ (126). Auf die jahrzehntelangen Diskussionen um Todorovs theoretischen Ansatz, der begrüßt, ebenso wie heftig kritisiert wurde – etwa von Stanislaw Lem, der die Theorie sogar als „schädlich“ abtut (vgl. „Todorov“ 120) – soll hier ausdrücklich nicht eingegangen werden. Poetik und Interpretation stehen sich meinem Eindruck nach in einer gewissen, so nicht gerechtfertigten Ausschließlichkeit gegenüber, deren Wurzeln wahrscheinlich im radikalen philosophischen Erklärungsanspruch des Strukturalismus zu suchen sind (vgl. Deleuzes), den ich hier nicht bewerte oder diskutiere, zumal die Diskussion über die Reichweite des philosophischen Strukturalismus wie auch dem in der Literaturtheorie nicht beendet ist. Aktuelle informierte Einschätzungen von Todorov und den Folgen finden sich beispielsweise bei Uwe Durst und Simon Spiegel. Interessant erscheint mir jedoch ein – allerdings subjektiv gewonnener – Eindruck, dass die Praktiker der Phantastik, wie ja auch Lem als Autor einer ist, wenn sie sich über ihr Genre äußern, in der Regel die interpretatorische oder inhaltliche Herangehensweise wählen und sich darüber äußern, was die Genreerzeugnisse bedeuten sollen und bewirken mögen. Beispiele dafür finden sich in den in dieser Arbeit zitierten Äußerungen von Le Guin, Funke oder Stableford, aber auch andernorts in großer Zahl.

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Begibt man sich bei der Analyse eines Textes auf den Interpretationsweg, so besteht eine Gefahr bei der unreflektierten Übernahme der Einteilung in realistische und phantastische Literatur (bzw. phantastische Kunst – Film, Musik, Spiel und andere kreative Äußerungen sind hier immer mitbedacht). Während der Realismus eben die reale Welt behandelt, aus der er erzählt und unmissverständlicherweise echte menschliche Probleme und Herausforderungen diskutiert, scheint die Phantastik sich mit dem Imaginären zu beschäftigen und als solche per definitionem wenige Berührungspunkte mit dem echten Leben aufzuweisen. Dass genau das nicht stimmt, und dass die Phantastik von immenser Relevanz für das Individuum und die Gesellschaft ist, dass sie vor allem aber gerade als Erzählung oder Film oder Spiel mit phantastischem Inhalt besonders präzise auf das außerfiktionale, reale Leben reflektieren kann, hat Ursula K. Le Guin vielleicht am besten ausgedrückt: [R]ealism is perhaps the least adequate means of understanding or portraying the incredible realities of our existence. A scientist who creates a monster in his laboratory; a librarian in the library of Babel; a wizard unable to cast a spell; a space ship having trouble in getting to Alpha Centauri: all these may be precise and profound metaphors of the human condition. The fantasist, whether he uses the ancient archetypes of myth and legend or the younger ones of science and technology, may be talking as seriously as any sociologist – and a good deal more directly – about human life as it is lived, and as it may be lived, and as it ought to be lived. („Dragons“ 58)

Und an anderer Stelle über Science Fiction (man kann es aber getrost auf die Phantastik im Allgemeinen übertragen): [T]he work of people from Zamyatin to Lem has shown that when science fiction uses its limitless range of symbol and metaphor novelistically, with the subject at the center, it can show us who we are, and where we are, and what choices face us, with unsurpassed clarity, and with a great and troubling beauty. („Mrs. Brown“ 135)

Eigentlich ist die hier beschriebene Erkenntnis, soweit sie von Le Guin in die genannten Metaphern vom Zauberer und vom Raumschiff gefasst wird, fast banal. Wenn nun die Kritik an der Phantastik kritisiert, dass sie als Beschreibung von Wolkenkuckucksheimen irrelevante Themen aufgreife und nur der Weltflucht diene, so drängt sich der Verdacht auf absichtliches Missverstehen auf. Natürlich gibt es Wolkenkuckucksheime und Belanglosigkeiten in der Phantastik; auch darin gleicht sie der realistischen Literatur. Doch es gibt genau solche ambitionierten (und erfolgreichen) Versuche, bestimmte Themen, Überzeugungen und Warnungen zu platzieren oder zur Diskussion zu stellen, wie in allen anderen kreativen Betätigungsfeldern. Jeglicher Kritik müsste klar sein, dass die Phantastik ihre Inhalte benutzt, um Fokussierungen herzustellen, die mit realweltlichen Inhalten nach Meinung des Erzählers oder der Regisseurin nicht adäquat

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darstellbar sind, dass aber das Phantastische letztlich nur als Überhöhung oder Pointierung dient, um auf die Realität zurückzuverweisen und sie genauer auszuleuchten. Spotlights entzünden zu wollen, steht im Mittelpunkt der phantastischen Erzählung. W. H. Auden sagt über Secondary Worlds „from [them] we can exclude everything except what we find sacred, important, enchanting“ (44). Und eine ausgewiesene Praktikerin wie die Fantasy-Autorin Cornelia Funke schreibt bekräftigend: Eine gute Fantasy-Erzählung spiegelt unsere Realität auf überraschende Weise wider. Ich glaube, man begreift vieles über sich selbst und die Realität leichter, wenn man diese Wahrheiten durch Bilder vermittelt bekommt. Es gibt dieses wunderbare Bild in Harry Potter: Dumbledore taucht alle Erinnerungen, mit denen er nicht mehr leben mag, in ein Bassin. So empfinden wir alle, je älter wir werden: Wir sind manchmal überfrachtet mit Erinnerungen und hätten gern einen Platz, sie abzulegen, ohne sie zu verlieren. Wenn eine Erzählerin mit solchen Bildern arbeitet, beschreibt sie menschliche Zustände – das kann man im fantastischen Erzählen wesentlich besser als im realistischen. (25)

3. Spotlights und Metaphern Egal, ob George Orwell oder Jason Dark – die Phantasten porträtieren die Realität, und alle ihre Phantasmen sind nur Metaphern, im substitutionstheoretischen Sinne, für menschliche Lebenswirklichkeiten. Diese Lebenswirklichkeit unterliegt Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die den Erzählenden inhaltliche Beschränkungen auferlegen, die diese nur abstreifen können, wenn sie eigene Welten erschaffen, die sie sich so einrichten, dass sie das am besten herausarbeiten können, was genau sie sagen und erzählen wollen. Das kann ihnen beispielsweise dann nötig erscheinen, wenn die Realität Brüche zeigt, die mit normalen, beschreibenden Mitteln nicht mehr verarbeitet werden können. Autoren der Moderne wie James Joyce oder T. S. Eliot entwickelten vor dem Hintergrund des epochalen Umbruchs im Laufe des Ersten Weltkriegs völlig neue Erzähltechniken in der realistischen Literatur, wie die Collage, die beständig wechselnde Erzählperspektive und den stream of consciousness. Margaret Hiley hat in The Loss and the Silence jüngst herausgearbeitet, dass der Moderne zeitgenössische Autoren aus dem Bereich der Phantastik, wie Charles Williams, C. S. Lewis oder Tolkien, sich ihrer phantastischen Inhalte aus genau dem gleichen Grund bedienen, nämlich, um Erfahrungen zu verarbeiten und zu vermitteln, die sich mit herkömmlich-realistischen Erzählinhalten und ohne Verfremdung nicht in gleicher Weise ausdrücken lassen. Erzählanlass und unterliegendes Thema ist bei beiden Autorengruppen aber die Realität.

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Ein Beispiel dieser unterliegenden Realität, entnommen Le Guins Zitat: „A scientist who creates a monster in his laboratory […]“, ist Mary Shelleys Frankenstein oder Der Moderne Prometheus. Im Kern ist die Geschichte von Viktor Frankenstein und der von ihm erschaffenen Kreatur eines der klassischen, ewigen Themen der menschlichen Existenz, denn es geht um die Frage nach der Verantwortung, die der Mensch als Erfinder und Erzeuger hat, wie er dieser Verantwortung nicht gerecht wird und welche desaströsen Folgen sein Tun damit nach sich zieht. Man kann und muss in Hinsicht auf die Erfindungskraft des Menschen auf wissenschaftlicher Ebene und später bei der gesellschaftspolitischen Umsetzung von Technologien, alle menschlichen Erzeugnisse, die verwirklichten wie die potentiellen, nüchterner, auf Fakten basierender Kritik unterziehen und dann fragen: Darf man das machen? Soll man das machen? Aber wirksamer als nüchterne Technologiefolgenabschätzung ist eine phantastische Geschichte, die diese Gedanken durch ihre irreale, nicht mögliche oder wenigstens noch nicht mögliche Übertreibung plastisch werden lässt: „Seht, was Viktor angerichtet hat, und nehmt euch in Acht!“ Und was die Erzählerin oder der Regisseur meist wollen, ist nicht der nüchterne Diskurs, sondern einen programmatischen Aufschrei für ihr Anliegen auszustoßen. Und selbst der wissenschaftlich denkende Mensch ist nicht frei davon, seine Überzeugungen durch phantastische Übertreibungen zu illustrieren, wie etwa die schon erwähnten Gleichnisse und Mythen bei Platon zeigen. Eine ähnliche Rolle hat auch der „Bibliothekar in der Bibliothek von Babel“. Während aber Shelley in Frankenstein eine recht klare Sprache spricht und eindeutig und vielleicht auch etwas platt über die Verantwortung und über ein paar andere Dinge wie Freundschaft, Mitgefühl und Liebe redet, so versucht das Bild vom babelschen Bibliothekar den abstrakten Begriff der Unendlichkeit zu fassen. Le Guin zitiert mit ihm die Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges. In dieser Geschichte skizziert Borges eine Welt oder ein Universum, das aus der Bibliothek aller möglichen Bücher besteht, die in allen möglichen Sprachen geschrieben sind und die deshalb ebenso unfassbar groß wie unverständlich ist und in der sich jegliches Fitzelchen verständlicher Information allenfalls mit sehr, sehr großem Glück finden lässt. Der Bibliothekar ist der Mensch, der versucht, das so gestaltete Dasein zu verstehen, und der an diesem Versuch nur scheitern kann. Denkt man an die Komplexität der Realität und die sich alle paar Jahre oder vielleicht sogar Monate verdoppelnde Informationsmenge, so stellt eine Metapher wie die der Bibliothek von Babel diese Komplexität anschaulicher dar als jedes Diagramm oder Tabelle dies vermöchten. Diagramm und Tabelle sollen durch die künstlerische Aufarbeitung nicht ersetzt werden. Die Bilder, die die Phantastik zeichnet, sind Stim-

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mungsbilder, die erstens stark vereinfachen und zweitens das Gefühl stärker ansprechen als den Kopf. In komplexen Fragestellungen ist nun die Vereinfachung selten das Mittel der Wahl zur Entscheidungsfindung, so dass Tabelle und Diagramm unbedingt ihre Berechtigung behalten. Auch das Gefühl sollte bei Entscheidungsfindungen befragt werden, denn Kalkül allein wird uns Menschen nicht gerecht, sobald es um unser Befinden geht. Aber das Gefühl sollte dem Durchdenken einer Fragestellung entspringen, und das Denken wiederum benötigt die Tabellen und Diagramme. Auch der versagende Zauberer und das sich verirrende Raumschiff sind starke Bilder, die Bewegendes oder Eigentümliches der menschlichen Existenz unter Umständen besser auf den Punkt bringen können als jegliche Vorlesung oder jedes Lehrbuch. Dabei geht es nicht unbedingt, wie Le Guin meint, um die angemessenere Darstellung, sondern darum, dass Kunst und Literatur die Welt anders, aber ebenfalls wirksam darstellen können. Man kann natürlich diskutieren, ob die Fiktion insgesamt ein angemessener Modus ist, die Welt zu betrachten und zu kommentieren. Der antike griechische Philosoph Platon etwa wollte die Dichter aus dem Staat werfen, weil ihm ihre Kreativität als zu gefährlich erschien (Politeia 394c398a).8 Aber wenn man Fiktionales zulässt, so ist die Phantastik auch nicht phantastischer als jede andere Form der kreativen Darstellung. Die Bilder der Phantastik mögen irreal sein, der Verweis dieser Metaphern gilt jedoch Umständen, die unseren realen Lebenssituationen entspringen. Realismus und Phantastik sind völlig gleichberechtigte künstlerische Ausdrucksformen; es kommt darauf an, was man sagen oder zeigen will. Für einige Dinge ist der Realismus das passende Vehikel, für andere die Phantastik: „science is bound to seem rigid and humourless […] fiction is bound to seem mercurial and perverse“ (Stableford xxi). Das Besondere an der Phantastik ist die Freiheit, die sie ihren Urhebern gewährt, sich Situationen und Welten genau so einrichten zu können, wie es für ihren Erzählzweck nötig ist. Diese Freiheit gewährt keine andere Form der Literatur bzw. Kunst in gleicher Weise. Ich habe die Fantasy vielfach als Genre der unbegrenzten Möglichkeiten bezeichnet und sie einmal ein „Reich der imaginativen Freiheit, das sich […] mit unbegrenzten Träumen und vielfältigen Wertvorstellungen füllen lässt“ genannt (Fantasy 61) – das gleiche lässt sich auch über die Phantastik als übergeordnetes Genre sagen. Es geht aber auch darum, worin sich der Künstler ausdrücken möchte; was ihm mehr Freude bereitet, Erfüllung gibt und welche Bilder ihm lieber sind. Phantastik ist nicht nur Mittel zum (Erzähl-)Zweck, sondern 8

Womit er sich nicht widerspricht, wenn er selbst Mythen zu Instruktionszwecken benutzt, denn er unterscheidet (recht despotisch) nützliche und abträgliche Dichtung.

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auch Ausdruck künstlerischer Wünsche und Bedürfnisse. Die Bücher von Nick Hornby oder Frank Goosen beispielsweise sind ganz fest in der Realität verwurzelt. Und aus diesem Grund sprühen sie vor Witz, Beobachtungsvermögen und Liebe zu den beschriebenen Dingen. Was die beiden Autoren schreiben, ließe sich in der Phantastik nicht in gleicher Weise ausdrücken. Und man merkt auch, mit welchem Spaß sie sich ihrer Geschichten annehmen und dass sie sie einfach gerne erzählen. Ebenso hat aber auch die Phantastik ihren Platz und macht bei allem Irrealismus ihren Erfindern ein ums andere Mal wohl auch nicht weniger Spaß als Goosen und Hornby ihr Realismus. Jedenfalls scheint mir das in Bezug auf den Spaß und die Freude am Fabulieren bei Terry Pratchett oder Alan Dean Foster so zu sein. Und auch George R. R. Martin scheint mit einer gewissen diebischen Freude durch den Sumpf politischer Intrigen von Westeros zu streifen. In Bezug auf Liebe und Schönheit ist eine so liebevoll erfundene Welt wie Tolkiens Mittelerde ein mindestens ebenso starker Ausdruck wie noch die prächtigsten Gedichte der Naturromantik eines Eichendorff oder Walt Whitman es waren. Und natürlich ist ein Mallorn nicht nur ein wunderschön erfundener Baum in Silber und Grün mit goldenen Früchten, sondern eigentlich die verklärende Hervorhebung der Schönheit unserer realen irdischen Bäume. 4. Möglichkeiten und Verantwortung Häufiger und eindringlicher aber dürfte der Konflikt als beherrschendes Thema in der Phantastik sein. Und auch in diesem Feld handelt es sich um Realitätsbewältigung, nur eben mit phantastischen Mitteln. Viele Regisseure oder Autorinnen arbeiten mit Mitteln des Realismus eigene oder allgemein erfahrene negative Erlebnisse auf. Es sind dies etwa die ganzen Künstlerinnen und Künstler, die den Holocaust überlebten oder die vielen Schriftsteller, die die Erfahrungen von Kriegen und Vertreibungen in ihren Werken verarbeiten. Es sind wertvolle Erfahrungen, die schon aus dem Grund wichtig sind, dass sie allen als Mahnung dienen können, die hoffentlich diese Erfahrungen nie selbst machen müssen. Was vielleicht ein bisschen dann gerade den Künstlerinnen und Künstlern zu verdanken ist, die aufgrund ihrer Erfahrungen so eindringlich zu warnen vermochten. Das meisterzählte Thema der Phantastik unterscheidet sich jedoch auch nicht von dem, was der Realismus zur Sprache bringt. Die großen Katastrophen menschlichen Fehlverhaltens – Gewalt, Krieg, Folter, Unterdrückung – lassen sich in Realismus wie Phantastik gleichermaßen behandeln. Und die Phantastik kann Dinge besonders gut auf den Punkt bringen und Fragestellungen dadurch präzisieren. Dabei bilden sich viel-

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fach bestimmte Schwerpunkte heraus: Der Horror zielt meist auf die Psyche und ihre Hoffnungen und Ängste. Fantasy hat viel mit Weltanschauungsfragen wie Theologie und Ethik zu tun. Science Fiction spekuliert besonders gerne über Entwicklungen, Hoffnungen und Befürchtungen im Bereich von Politik und Gesellschaft. Selbst die Phantastik kann dabei in ihren jeweiligen Zusammenhängen nicht überzeichnen, denn was sich auf den realen Schlachtfeldern und bei zwischenmenschlichen Übergriffen abspielt, ist nicht mehr steigerungsfähig und beinhaltet alle Tragödien und Abscheulichkeiten, die man sich nur vorstellen kann. Aber es kommt der Phantastik auch gar nicht darauf an, Bestehendes abzubilden. Die Bilder der Phantastik spitzen zu und dramatisieren in irrealer Weise. Die Phantastik nimmt Aussagen unseres Unterbewussten auf und transportiert sie ans Licht, etwa in George MacDonalds Phantastes. Die Phantastik denkt reale Sachverhalte fort und extrapoliert, wie es weitergehen könnte. Die Phantastik kann hypothetische Situationen herstellen, die so übertrieben sind, dass sie in unserer Realität nicht vorkommen können. Eventuell werden auch bloß Situationen beschrieben, die nur noch nicht vorgekommen sind, aber im Bereich des schon jetzt Möglichen liegen. So beispielsweise in Margaret Atwoods Report der Magd, der den Niedergang einer ehemals aufgeklärten Gesellschaft in die schlimmste Theokratie beschreibt. Durch den Sprung ins noch nicht-reale oder das total Irreale kann die Phantastik unpräzedierte Extremsituationen darstellen und dazu auffordern, angesichts dessen Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahmen lassen sich dann auf reale Probleme und Entscheidungssituationen anwenden oder im Falle der Science Fiction auch für die Entscheidungsfindung in praktischen politischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen heranziehen. So beruft sich beispielsweise die Medizinethik im Rahmen ihrer Debatten in relativ großem Maße auf Science Fiction oder sf-artige Spekulationen, wenn es darum geht, die Konsequenzen bestimmter medizinischer Anwendungen zu beurteilen, die machbar sind, vor denen aber zurückgeschreckt wird, oder die kurz davor stehen, machbar zu werden. Die Phantastik stellt in dieser Funktion Gedankenexperimente an, die Menschen oder Menschengruppen innerhalb der Geschichten vor außergewöhnliche Situationen stellen und/oder das Publikum auffordern mitzuspielen. Das kann bis weit in vermeintliche Absurditäten reichen, die doch nur dazu dienen, dem Menschen einen Spiegel vorzuhalten, indem er sich hinter aller erzählten Phantastik wiederentdeckt. Man denke beispielsweise an Kafkas „Die Verwandlung“. Die Verwandlung Gregor Samsas in ein Insekt ist letztlich eine symbolische Verwandlung und eine Metapher, anhand derer gezeigt wird, wie weit ein Mensch aus der sozialen Gemeinschaft herausfallen kann. Das Setting ist ein phantastisches, aber der be-

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schriebene Prozess der tödlichen Vereinsamung ist letztlich ein Vorgang, der von der Realität inspiriert wurde; die gesamte Geschichte ist die Darlegung einer „soziopsychologische[n] Situation“ (Lem, „Science Fiction“ 21). Auch in den Tiefen kafkaesker Absurditäten erweist sich die Phantastik als sehr real.9 Dieser Realitätsbezug bedeutet, dass die Phantastik große Verantwortung trägt. Zwei Dinge treffen nämlich aufeinander. Erstens erzählt die Phantastik, wie dargelegt, zwar in Wirklichkeit von den realen menschlichen Lebensumständen, aber sie tut dies mit uneingeschränkten Freiheitsgraden und kann Dinge jenseits aller realen Möglichkeiten übertreiben und damit auf den Punkt bringen. Aber sie kann sie auch hysterisieren oder propagandistisch umformen. Stellen Sie sich etwa ein Time Machine vor, in dem die Morlocks zu Morlocks wurden, weil sie es zu Recht verdient hatten, zum Untermenschen degradiert zu werden. Bei Hans Dominik finden sich derartige Ansätze in den Dreißiger Jahren. Zweitens hat die Phantastik ein riesiges Publikum – Verne und Wells waren zwei der meistgelesenen Autoren ihrer Zeit, Cameron mit Avatar ist heute der meistgesehene Regisseur und Rowling die meistgelesene Erzählerin. Wer von so vielen gelesen wird, beeinflusst seine Leser auch. Einen kleinen Eindruck liefern etwa Stephenie Meyer und das von ihr in den Biss-Romanen kolportierte Frauenbild, das auf vielfache positive Annahme bei jungen und sehr jungen Frauen trifft. Eine Vielzahl von Faktoren wirkt auf die individuelle wie gesellschaftliche Meinungsbildung ein, aber die Phantastik wirkt mit ihren starken Bildern auch auf das Gefühl ein und dringt damit leichter in tiefere psychische Schichten vor als etwa nüchterne Fakten. Die meiste zeitgenössische Phantastik betont freiheitliche Überzeugungen und solidarische, mitfühlende Werte. Aber es ist nicht gesagt, dass die Phantastik so bleibt. Gerade in jüngerer Zeit ist in der Phantastik, wie auch in anderen belletristischen Genres, eine Tendenz zum negativen Helden zu beobachten, dessen Überzeugungen und Handlungen von zunehmender Rücksichtslosigkeit gekennzeichnet sind. Als ein Beispiel sei Noise von Darin Bradley genannt, eine SF-Dystopie, die in loser Anlehnung an 9

Lem unterscheidet „vorübergehende“ und „endgültige“ Phantastik, und zählt Kafkas „Verwandlung“ zur vorübergehenden, weil sie für den Leser keine „Endstation“ bilde, sondern ihn eben nur mit phantastischen Mitteln auf eine bestimmte, kritikwürdige „soziopsychologische Situation“ hinweise („Science Fiction“ 21). Im Anschluss an meine Anmerkung in Fußnote 1, möchte ich jedoch betonen, dass die Verwandlung Gregors von wichtiger und sogar notwendiger Bedeutung für die Geschichte ist, es sich bei der „Verwandlung“ also um Phantastik handelt. Letztlich kann ich mich nämlich Lem in dem Punkt eines angenommenen Unterschieds zwischen vorübergehender und endgültiger Phantastik nicht anschließen, denn die Idee des vorliegenden Aufsatzes – die Behauptung, Phantastik ist nicht phantastisch – ist ja gerade, dass ich – mit Lems Worten gesprochen – annehme, dass alle Phantastik vorübergehend ist und auf etwas anderes, eben unsere Lebenswelt, verweist.

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William Goldings Lord of the Flies die Erlebnisse einer Gruppe junger Menschen in einer periapokalyptischen Zeit beschreibt. Die jungen Menschen trainieren einander auf rücksichtsloses Survivalverhalten, dessen Zweck alle dafür erforderlichen Maßnahmen heiligt; etwa, dass schon vor Eintritt der Katastrophe das Töten Unschuldiger geübt wird, um nicht im Ernstfall an einer etwaigen psychologischen Hemmschwelle zu scheitern. Dieses gesellschaftlich inakzeptable Verhalten wird zwar nicht regelrecht propagiert, aber zumindest als entschuldbar gerechtfertigt. In gewisser Weise passt dieses Buch zu einem materialisierten und individualisierten Zeitgeist10 und weist damit auf seine Weise ebenfalls darauf hin, wie eng Phantastik und reales Leben verbunden sind. Bradleys Noise stellt zudem ein, wenn auch kein extremes, Beispiel für eine nicht unproblematische Gewaltdarstellung in der Phantastik dar. Gewalt ist einem Genre, das zu einem sehr großen Teil davon lebt, dass es Konflikte erzählt, inhärent, doch kommt es bei der Darstellung von Gewalt auf die Art und Weise an, und die kann von abschreckend bis zu Gewalt verherrlichend reichen. Als Lektor, der breitgefächert Werke der Phantastik begutachtet und bearbeitet, kommt man11 zu der Einschätzung, dass die Gewaltdarstellung zunimmt und mit Blick auf die Explizität nichts mehr auslässt. Das Beispiel Noise lässt sich noch nicht unbedingt als Gewalt verherrlichend betrachten, aber grobe, tödliche Gewalt ist eine absolute Selbstverständlichkeit, die sehr nüchtern als zweckhaft dargestellt wird, ohne dass die Gewaltausübenden eigene psychische Deformationen davontragen. Eine herausragende Rolle von Gewalt passt zwar zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie sie postapokalyptisch zu erwarten sind, sie hinsichtlich ihrer Ergebnisse aber uneingeschränkt positiv darzustellen und die negativen Folgen für die Psyche der Gewaltausübenden schlicht nicht zu erwähnen, ist bedenklich. Ein weiteres Beispiel besonders problematischer Gewaltdarstellung findet sich aktuell in Jesse Bullingtons The Sad Tale of the Brothers Grossbart, in der exzessive Gewalt, unter anderem gegen Wehrlose, gegen Kinder, meist plakativ und wiederkehrend als humoristische Einlage erzählt wird. Dabei kann Phantastik auch ganz gut mit geringer und zurückhaltend dargestellter Gewalt auskommen. Selbst ein scheinbar von Gewalt beherrschter Klassiker wie J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings, der die Geschichte eines Krieges erzählt, kommt bei einer 10

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Eine derartige Darstellung kann natürlich in kritischer Absicht eingesetzt werden, um bestimmte Umstände, mit denen der Autor in Wirklichkeit gar nicht einverstanden ist, zu entlarven. Das scheint mir jedoch bei der Mehrzahl von Werken, die in Richtung Heroisierung des Negativen oder wenigstens moralisch Ambivalenten gehen, nicht der Fall zu sein; so auch nicht bei Bradley. Mein subjektiver Einzeleindruck deckt sich mit dem vieler Kolleginnen und Kollegen, wie man in Gesprächen erfährt. Belastbares empirisches Material und eine entsprechende Veröffentlichung stehen aber, meines Wissens nach, noch aus.

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genauen quantitativen Analyse mit geringen Gewaltanteilen von deutlich unter 10% des Textkorpus aus (Weinreich, „Violence“). Zudem besteht ein Drittel der Gewaltdarstellung aus der Erzählung der negativen Auswirkungen von Gewalt wie Schmerz, Wunden, Trauer. Es sind aber nicht nur schwer zu ermittelnde polito-soziologische Einflüsse und allenfalls unscharf verortbare psycho-emotionale Befindlichkeiten durch die Kolportation bestimmter Frauenbilder bei Meyer oder einer rückwärts gewandten Naturromantik bei Tolkien oder das noch immer ungelöste Problem der tatsächlichen Wirkung medialer Gewaltdarstellungen, die sich beim Genregenuss äußern können. Die Phantastik greift direkt in politische Diskussionen ein, wenn sie, wie Charlotte Kerner in Kopflos, über Transplantationsmedizin spekuliert oder neuartige psychophilosophische Paradigmen wie den Transhumanismus diskutiert, der etwa bei Peter F. Hamilton, aktuell im Void-Zyklus (Träumende Leere, Schwarze Welt und Im Sog der Zeit), dafür plädiert, die menschliche Evolution in die eigene Hand zu nehmen. Viele Werke zeigen dabei eine Zeitlosigkeit, die selbst dort besteht, wo konkrete phantastische Annahmen überholt sind. So würde man beispielsweise heute eher annehmen, dass die von Aldous Huxley in Brave New World entwickelten, hauptsächlich pharmazeutisch generierten Unterdrückungsinstrumente in mittlerer Zukunft durch gentechnologische Maßnahmen oder neurologische Eingriffe erreicht würden, die Diskussion des Topos der Realisation staatlicher Dys- oder Utopien durch die Abschaffung des freien Willens ist und wird aber aktuell bleiben. Das alles sind Was-wäre-wenn-Szenarien, die für sich genommen mal zeitlos, mal zeitabhängig sind. Als durchgängig zu beobachtendes Phänomen weisen sie aber spätestens seit Wells auf einen ganz handfesten Nutzwert der Phantastik für die gesellschaftspolitische Diskussion hin: Die Phantastik kann ganz immens zur Meinungsbildung beitragen. Wir haben in unserem Leben andauernd die Wahl, in abgeschwächter Form, die blaue oder die rote Pille zu nehmen. Die Phantastik malt die reale Entscheidungssituation nur in kräftigeren Farben aus, und mancher mag die Bilder deshalb besser sehen und verstehen. 5. Schluss Jegliche ethisch-politischen Forderungen an die Kunst sind schwierig, denn die Kunst ist frei und deshalb sollen hier auch gar keine Forderungen erhoben werden. Allerdings gab und gibt es natürlich Diskussionen und auch Aufrufe, aus der Kunst selbst heraus sowie von außen an sie herangetragen, dass sie ethische Anliegen nicht nur artikulieren, explizieren, exemplifizieren, illustrieren und unterstützen kann, sondern dies auch tun

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sollte. Aber ich will an dieser Stelle auf gar nicht mehr hinweisen als darauf, dass eine gewisse Beeinflussungsmacht der Phantastik besteht, und dass deshalb auch eine echte Verantwortung der Künstlerinnen und Künstler für die Wirkung ihrer Werke besteht, die nicht bestünde, wenn es sich bei der Phantastik um die Wolkenkuckucksheime handelte, als die sie immer wieder bezeichnet werden. Die Phantastik ist eine Seifenblase. Sie zeigt eine schillernde Oberfläche, auf der sich mannigfaltige, verzerrte Spiegelungen und fantastische Farben abbilden. Die Farben und die Spiegelungen wie auch die Haut der Blase entstammen aber unserer schnöden Realität. Wir können sie betrachten und darin verfremdet all die Schönheit und den Schrecken sehen, die unsere Lebenswelt bietet. Manchmal sehen wir die Realität durch diese Verfremdung auf eine neue Art und Weise und lernen sie – die Realität! – anders oder besser zu verstehen. Das ist weit mehr Chance als Risiko. Vor allem aber verleiht es der Phantastik die gleiche Relevanz wie jeder anderen künstlerisch-literarischen Äußerung. Literaturverzeichnis Atwood, Margaret. Der Report der Magd. Frankfurt/M.: Fischer, 1997. Auden, Wystan Hugh. Secondary Worlds. London: Faber, 1968. Borges, Jorge Luis. Die Bibliothek von Babel. Stuttgart: Reclam, 1984. Bradley, Darin. Noise: A Novel. New York: Spectra, 2010. Bullington, Jesse. The Sad Tale of the Brothers Grossbart. London: Little, 2009. Caillois, Roger. „Das Bild des Phantastischen: Vom Märchen bis zur Science Fiction“. Phaïcon 1. Hg. Rein A. Zondergeld. Frankfurt/M.: Insel, 1974. 44-83. Deleuze, Gilles. „Woran erkennt man den Strukturalismus?“ Geschichte der Philosophie, Band VIII. Das XX. Jahrhundert. Hg. Francois Chatelet. Berlin: Ullstein, 1975. 269-302. Durst, Uwe. Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit, 2010. Funke, Cornelia. „Der Schmerz legt dich auf den Schleifstein“ (Interview). Frankfurter Rundschau 20.11.2007. 24-25. Golding, William. Lord of the Flies. London: Penguin, 2006. Hamilton, Peter F. Träumende Leere. Köln: Bastei, 2009. —. Schwarze Welt. Köln: Bastei, 2009. —. Im Sog der Zeit. Köln: Bastei, 2010. Hiley, Margaret. The Loss and the Silence: Aspects of Modernism in the Works of C.S. Lewis, J.R.R Tolkien and Charles Williams. Zürich: Walking Tree, 2011. Huxley, Aldous. Brave New World. Harlow: Longman, 1998.

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Kafka, Franz. Das Werk: Sämtliche Romane und Erzählungen. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2004. Kerner, Charlotte. Kopflos. München: Piper, 2008. Le Guin, Ursula K. The Language of the Night: Essays on Fantasy and Science Fiction. Hg. Susan Wood. New York: Putnam, 1979. —. „Science Fiction and Mrs. Brown“. Speculations on Speculation: Theories of Science Fiction. Hg. James Gunn and Matthew Candelaria. Lanham: Scarecrow, 2005. 119-39. Lem, Stanislaw. „Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen“. Phaïcon 1. Hg. Rein A. Zondergeld. Frankfurt/M.: Insel, 1974. 92-122. —. „Science Fiction – strukturalistisch gesehen“. Quarber Merkur: Aufsätze zur Science Fiction und Phantastischen Literatur. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. 17-32. MacDonald, George. Phantastes. München: Hirmer, 1991. Platon. Sämtliche Dialoge. Band V: Der Staat. Hg. Otto Apelt. Hamburg: Meiner, 1993. Putnam, Hilary. Repräsentation und Realität. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991. ---. „Wie man zugleich interner Realist und transzendentaler Idealist sein kann“. Von einem realistischen Standpunkt: Schriften zu Sprache und Wirklichkeit. Hamburg: Rowohlt, 1993. 156-73. Rottensteiner, Franz, Hg. Die dunkle Seite der Wirklichkeit: Aufsätze zur Phantastik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. Schweinitz, Jörg. „,Genre‘ und lebendiges Genrebewusstsein: Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung in der Filmwissenschaft“. Montage/av 3.2 (1994): 99-118. Shelley, Mary. Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Übers. u. Hg. Alexander Pechmann. München: dtv, 2009. Spiegel, Simon. Theoretisch phantastisch: Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur. Murnau: p.machinery, 2010. Stableford, Brian. Science Fact and Science Fiction: An Encyclopedia. New York: Routledge, 2006. Suvin, Darko. Poetik der Science Fiction: Zur Theorie einer literarischen Gattung. Übers. Franz Rottensteiner. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979. Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. München: Ullstein, 1975. Tolkien, John Ronald Reuel. The Lord of the Rings. 3 Bände. London: HarperCollins, 1993. Vax, Louis. „Die Phantastik“. Phaïcon 1. Hg. Rein A. Zondergeld. Frankfurt/M.: Insel, 1974. 11-43. Weinreich, Frank. Fantasy: Einführung. Essen: Oldib, 2007.

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Die Unordnung der Räume Beitrag zur Diskussion um einen operationalisierbaren Phantastikbegriff HENNING KASBOHM The Disarray of Spaces. Towards an Operational Definition of the Fantastic This essay argues for a structuralist approach to the fantastic and defines it as a “conflictive encounter of two ontological levels of a different nature” (Martínez) which is generated by the narrative instance and perceived by the implied reader. The fantastic as a conflict of ontological levels corresponds with Lotman’s conception of the ‘Sjuzet’ of a narrative as a spatial phenomenon: the fantastic takes place when a) the reality immanent to the text is divided into a space of the realistic and the marvellous and b) a character remains on the limit between these two semantic spaces. Like in Todorov’s “hesitation”, it is not possible to explain the things that should not be (according to what is considered real), but still take place. Yet, Lotman’s theory is not the only possible correlation of the fantastic and space: The concept(s) of heterotopia according to Foucault are capable of amplifying the effect of the fantastic. Both spatial and linguistic heterotopias can undermine or question the order of the system of reality and its system of order underneath. Heterotopias always allude to the order’s other – simultaneously affirming and denying the order. A spatial view of the fantastic provides the possibility to interpret its literature by using narratological means and analyze both the implications of the text and the qualities that make it fantastic.

1. Warum Raum? Das Phantastische ist nicht nur verflixt, sondern auch verdammt: verdammt, eine Chimäre zu sein, will man darüber sprechen. Mir geht es darum, einen für die Literaturwissenschaft operationalisierbaren Phantastikbegriff auszumachen und zu zeigen, dass die Analogie der Strukturen von Raummodellen in diesem Zusammenhang fruchtbar sein kann. Da das Phantastische offensichtlich im Gegensatz zum wie auch immer gearteten ‚Gewöhnlichen‘ oder einer Menge des ‚Nicht-Phantastischen‘ steht, liegt es nahe, das Phantastische im Zusammenhang mit Ordnungssystemen zu betrachten, innerhalb derer es sich auf bestimmte Weise zu bestehenden Ordnungen verhält, worauf ich später (2.2) eingehen werde.

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Im nächsten Schritt setze ich mich mit der Einheit ‚Raum‘ auseinander. Diese hängt mit Ordnung nicht nur metaphorisch (Foucault spricht von Ordnung als „Raum des Zusammentreffens“; Ordnung 18) oder durch deren Begrenztheit zusammen, die sie Räumen ähnlich beschreibbar macht – wie Levinson referiert, gibt es grundsätzliche Zusammenhänge zwischen Raum und Denken: It has long been noted that spatial thinking provides us with analogies and tools for understanding other domains, as shown by the efficacy of diagrams, the pervasive spatial metaphors of everyday language, the evocativeness of place in memory, and the special role that geometry, astronomy and cartography have played in the development of science and technology. (Levinson xvii)

Räume erscheinen mir aufgrund dieser Beobachtungen als ideale Einheit einer Erzählung, um Literatur unter dem Gesichtspunkt des Phantastischen zu analysieren. Der von Foucault im Zusammenhang mit Raum und Ordnung geprägte Begriff der ‚Heterotopien‘ stellt in meinen Augen ein geeignetes Instrument zur Analyse des Phantastischen dar, weil es bei ihnen um Räume geht, die eine Ordnung gleichzeitig bestätigen und negieren und sich daher ähnlich verhalten wie der von mir verwendete Begriff des Phantastischen (Abschnitt 1). Darüber hinaus können mit phantastischer Semantik aufgeladene Räume und ihr Verhältnis zu anders semantisierten Räumen Ausgangspunkte der Interpretation von Literatur bilden. 2. Was ist phantastisch, was realistisch? Relative Einigkeit besteht in der Forschung darüber, das Phantastische als ein Moment der ontologischen Unordnung zu bestimmen – wo das Phantastische existiert, geht es „nicht mit rechten Dingen“ (Schmitz-Emans, Literatur 54) zu. Darüber, in was für eine Ordnung das Phantastische mit welchen Folgen als ein Unmögliches eindringt, gibt es annähernd so viele Auffassungen wie Autoren, die sich zu diesem Thema geäußert haben. In den meisten Texten spielt das Verhältnis von intra- und extratextueller Ebene eine Rolle, sei es, da der jeweils zugrundeliegende Begriff vom Phantastischen die Beziehung des Textes zu der ihm äußerlichen ‚Welt‘1 zum Definitionskriterium macht,2 sei es, um das Phantastische von seinem Anderen, dem Realismus abzugrenzen. Wenn ich im Folgenden vom ‚phantastischer Literatur‘ rede, dann sollte man darunter einen Begriff verstehen, welcher bestimmte literarische Phänomene mit einem bestimmten 1 2

Zur Problematik des Begriffs der ‚Welt‘, beziehungsweise der mit ihm einhergehenden „Weltsemantik“; vgl. Bunia 81-88. Dies spielt vor allem in der ‚maximalistischen‘ Traditionslinie eine Rolle, die vor allem am thematischen Material einen Genrebegriff festmachen will (vgl. Durst 26-36).

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ontologischen Ausgangspunkt bezeichnet. Sinnvoll ist es wohl, die Definition etymologisch zu fundieren, will man unter dem Zwang, einen Begriff zu konstruieren, präzise bleiben. Die Bedeutung des griechischen phantastikós, nämlich „auf Vorstellung beruhend“ (Duden Fremdwörterbuch 1052) mag zunächst tatsächlich als „zu allgemein“ erscheinen, „um sich als analytische Grundlage zu empfehlen“ (Durst 26), da das Phantastische in diesem Falle dem Herstellungsprozess zumindest aller fiktionalen Literatur innewohnte. Es wäre dies ein weit gefasster Begriff, der jegliche literarische Beschäftigung mit der Vorstellung ebenso einschlösse wie Effekte, die innerhalb eines Textes bestehen, oder aus diesem Text heraus entstehen. Näher eingrenzen lässt sich die Bedeutung durch das griechische Verb phantázesthai „sichtbar werden, erscheinen“ (Duden Herkunftswörterbuch 204). Im Deutschen bezeichnet Fantasie nicht nur „Vorstellung […]; Einfallsreichtum“, sondern auch „Trugbild“ (ebd.). Es zeigt sich in diesen Bedeutungen das Prozesshafte, das Fantasie, Phantasma und letztlich dem Phantastischen eignet. Bezogen auf das Ausfindigmachen eines Phantastischen innerhalb der Literatur bedeutet dies, nach allgemeinen Bedingungen der Prozesse eines phantázesthai zu suchen. Besonders, wenn man Phantastik in der narrativen Kunst betrachtet, kann es nur sinnvoll sein, diese Bedingungen auf der Ebene der nachweisbaren Elemente des Textes auffinden zu wollen. Im Falle der Literatur wären das jene des sprachlichen Materials und der Textstruktur. Das letztlich nicht fassbare phántasma entzieht sich „jeglicher Ordnung“ (Antonsen 238): Die Eigenschaft des Imaginären, erst in seiner jeweiligen Realisierung greifbar zu sein, kommt im Phantasma als Paradoxie eines Ereignisses, das sich nicht ereignen dürfte, zum Ausdruck und widerspiegelt damit die Unmöglichkeit einer endgültigen Festlegung des Imaginären. (236)

Bereits Caillois betont das Moment der ontologischen Unstimmigkeit: „[Das Phantastische] ist das Unmögliche, das unerwartet in der Welt auftaucht, aus der das Unmögliche vorher per definitionem verbannt worden ist“ (46). Dieses Unmögliche stellt insofern die Möglichkeit des Eindringens eines zweiten Realitätssystems in die erzählte Welt dar,3 als die bis zu seinem Auftreten geltende Ordnung keine Erklärungsmuster des respektiven Phänomens anzubieten vermag. Dieser „Bruch der ‚Ordnung der Dinge‘“ (Schmitz-Emans, Literatur 55) destabilisiert die Gesetze der erzählten Welt und „offenbart ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt“ (Caillois 45).

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Antonsen bestreitet, dass das Moment des Unmöglichen mit einem zweiten Realitätssystem einhergeht (vgl. 20f.).

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Die Unerträglichkeit des Einbruchs hängt sicherlich auch mit einer dieser Konstruktion inhärenten aporetischen Komponente zusammen: die Ordnung der Dinge einer wie auch immer gearteten „wirklichen Welt“ wird von etwas heimgesucht, das ihr zufolge nicht sein dürfte – die Unordnung dringt in die Ordnung ein. Jenes Befremden, welches Caillois angesichts des Phantastischen feststellt, lässt sich auf eine Infragestellung der ontologischen Ordnung zurückführen, was unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen kann – die Ausgangsordnung kann in eine andere überführt werden, oder bestehen bleiben. Im letzteren Falle kann sie entweder gestärkt oder geschwächt aus der Auseinandersetzung mit dem „Ärgernis“ des Unmöglichen hervorgehen (vgl. Durst 116). Geht Caillois noch von einem Eindringen des Unmöglichen in eine „wirkliche Welt“ aus, so zeugt sein Ansatz doch von der unterschiedlichen Erklärbarkeit der phantastischen Phänomene: wo das Unerklärliche, das Ausgeschlossene auftritt, so müssen mindestens zwei Erklärungsmuster vorliegen, nämlich der zugrunde gelegten Ordnung ent- oder widersprechend. Trotz des enormen Dienstes, den Uwe Durst der Phantastikforschung mit seiner präzisen Theorie erwiesen hat, möchte ich bei seiner Formulierung der zwei „gleichberechtigten Realitäten“ (Durst 13) innehalten, aus deren Widerstreit sich das Phantastische speist. Mein Vorschlag ist, stattdessen wie José Martínez von „ontologischen Ebenen“ zu sprechen. Dies hat den Vorteil, dass es in dieser Formulierung nur um die Erklärbarkeit der Phänomene geht, und somit nicht die Existenz zweier eigener Wertesysteme gegeben sein muss, diese aber doch als Möglichkeit besteht. Martínez geht aus von der phantastischen Erzählung als „a plot organized around a conflictive encounter between two ontological levels of a different nature and that cannot achieve a univocal explanation within the text“ (368). Diese Definition möchte ich in ihrer Struktur für meinen Begriff des Phantastischen übernehmen, obschon mir José Martínez’ Bestimmung dieser Ebenen zu vage erscheint: er nennt als erste, „gewöhnliche“ ontologische Ordnung die „mimetische“ oder „realistische“ Ebene,4 die begründet liege in der „cognoscitive continuity between a reality external and transcendent to the subject, and the mental processes of this subject“ (368). Diese und auch die zweite Ebene, „where cognoscitive reliability is unstable and where certainty cannot be accepted automatically“ (ebd.), erklären Repräsentation zum Maßstab für Phantastizität: „The representative function of language is also more fragile, and the analogical condition […] is also weaker, since the referents are ultimately intangible.“ (ebd.) Ich halte, wie ich im nächsten Kapitel darlege, den Gegensatz „Phantastik vs. Rea-

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„[O]ne of those ontological orders – the ordinary – is the mimetic, or realistic“ (368).

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lismus“ höchstens in poietischer Hinsicht für eine Alternative,5 bei der das eine Element das andere (u.a. als sein Anderes) benötigt. 2.1 Das Verhältnis von Phantastik, Realismus und Repräsentation Wie wir gesehen haben, rekurrieren zahlreiche Definitionen des Phantastischen auf eine textexterne Wirklichkeit, welcher dieses widerstrebt. Meine Skepsis hinsichtlich eines an der ‚Abbildung‘ von Realität festgemachten Phantastikbegriffs liegt in unterschiedlichen Punkten begründet. Zunächst stellt sich das Problem der Literarizität der Texte: die ‚Abbildung‘ der Wirklichkeit erfolgt durch ein Medium. Mit diesem Medium verbunden ist die in unterschiedlicher Hinsicht niemals objektive und mithin stets unvollständige Perspektive der Darstellung. Setzt man für das Erzählen von Phantastischem die Mimesis des Unmöglichen voraus, so muss eine Vorstellung davon bestehen, was unmöglich sei. Tatsächlich unmöglich ist es, einen Konsens des Empirischen auszumachen, wie Durst Beweis führt: die Meinungen darüber, was existiert, gehen innerhalb eines Kulturkreises stark auseinander und unterliegen diachron Schwankungen (vgl. 65-68). Des Betrachters Wahrnehmung ist nicht nur von nicht objektivierbaren Schemata beeinflusst; auch jeglicher Empirie gehen variable Muster voraus. Welche Dinge als ‚unrecht‘ oder gar unmöglich gelten, hängt also erstens vom Urteilsvermögen des Individuums ab, und zweitens von den Regeln, die jenem zugrunde liegen. Wenn Schmitz-Emans eine „Ordnung der Dinge“ (Literatur, 55) beschwört, mit der das Phantastische breche, so wird an dieser Stelle auch das gleichnamige Werk Foucaults aufgerufen, welches konstatiert: Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird. (22)

Wenn man also sagt, etwas gehe „nicht mit rechten Dingen“ (SchmitzEmans, Literatur 54) zu, so wohnt diesem Ausdruck eine wertende Komponente inne, welche vom epistemischen Horizont der bewertenden Instanz bestimmt wird. Es liegt folglich nahe, als Basis der Bestimmung der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Phänomenen innerhalb des Textes von einer „fiktionsinternen Realität“ auszugehen anstatt einer „fiktionsexternen Wirklichkeit“ (Durst 60; Hervorhebung im Original). Angesichts

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Vgl. Bunia: „Realismus und Phantastik hängen von poietischen Entscheidungen ab; sie charakterisieren Fiktion nicht (ein phantastischer Text ist nicht ‚fiktionaler‘ als ein ‚realistischer‘), sondern partizipieren schlichtweg an der Möglichkeit von Fiktion“ (90).

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dieser Umstände und der „abergläubischen“6 Eigengesetzlichkeit des literarischen Systems,7 kann man von einem literarischen Realismus nur als einem Satz von Konventionen sprechen, nicht aber einem bestimmten Modus der Übersetzung empirischer ‚Wirklichkeit‘ in Schrift. Dass der Repräsentation von Wirklichkeit nicht nur diverse Filter wie Wahrnehmungsschemata und die Perspektive des Betrachters vorgeschaltet sind, sondern auch die Wahl der sprachlichen Mittel eine Rolle spielt, zeigt bereits die aristotelische Definition von Dichtung; die Mimesis bringt immer bereits die Poiesis mit sich: „[der Dichter] ist also, auch wenn er wirklich Geschehenes dichterisch behandelt, um nichts weniger Dichter“ (Aristoteles 31). Auch aktuelle Forschung zum Thema der Fiktionalität teilt eine Auffassung, welche die Fiktionalität eines Textes nicht von der Fiktivität des in ihm Dargestellten abhängig machen will. So heißt es bei Bareis, der wie Schmitz-Emans8 von Mimesis nicht als „Nachahmung“, sondern als „Darstellung“ spricht: Geschichten können völlig frei erfunden sein, teilweise Wirkliches darstellen, oder gänzlich auf wirklichen Begebenheiten beruhen – wenn eine Darstellung als Requisite in einem Make-Believe-Spiel fungiert, schreibt es Vorstellungen vor, wodurch im Rahmen des Spiels fiktionale Wahrheiten generiert werden. […] Die Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten ist für die Erklärung des Phänomens Fiktion 9 grundsätzlich ohne Bedeutung. (61f.)

Wenn nun also „[d]ie fiktionsexterne Wirklichkeit als literarische Größe disqualifiziert“ (Durst 69) ist, muss es möglich sein, das realistische Genre auf anderer Basis zu bestimmen. In welcher mimetischen Beziehung stehen nun also literarische Fiktion und fiktionsexterne Wirklichkeit, wenn es literarisch nicht relevant ist, ob diese von jener abgebildet werden kann? Kann Phantastizität unter diesen Voraussetzungen überhaupt von einem realistischen Erzählen abhängen? Der Unterscheidung zwischen wirklicher Welt und fiktiver Welt liegt eine Weltsemantik (vgl. Bunia 81-88) zugrun6

7 8

9

„Die Literatur ist abergäubisch. Aufgrund ihres Strukturcharakters ist diese Eigenschaft nicht auf einzelne Texte beschränkt, sondern als grundsätzliche Bedingung literarischer Realität zu akzeptieren, da eine Struktur definitions-gemäß nicht zufällige, sondern stets notwendige Beziehungen zwischen ihren Elementen herstellt“ (Durst 72). Vgl.: Durst 60-80; v.a. 79: „Literarische Bedingungen sind nicht anhand fiktionsexterner naturwissenschaftlicher Fakten zu untersuchen, denn die Literatur ist ein eigengesetzliches System.“ Es sei in Aristoteles’ Poetik „der Begriff der dichterischen ‚Nachahmung‘ selbst schon auf eine so prägnante Weise gefaßt, daß er nicht mehr mit bloßer ‚Verdopplung‘ zu tun“ habe und zur Diskussion stellt, „,Mimesis‘ […] mit dem semantisch weniger belasteten Terminus ‚Darstellung‘ [zu übersetzen]“ (Vgl. Schmitz-Emans, Suche 190). Bareis zufolge drückt der Begriff des „Make-Believe“ „die Analogie zwischen implizit verstandenen Regeln, die beim Kinderspiel in Kraft treten, und der implizit verstandenen Regel beim Generieren fiktionaler Wahrheiten im Rahmen eines Make-Believe-Spiels bei der Rezeption eines darstellenden Kunstwerkes“ aus (vgl. 31).

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de, die von unterscheidbaren und konsistenten Welten innerhalb und außerhalb der Fiktion ausgeht. Im Rahmen dieser Semantik hält die wirkliche Welt Einzug in die Fiktion durch das Realitätsprinzip: Das Realitätsprinzip soll […] besagen, daß Kenntnisse über die reale Welt – und seien es solche, die mit einem Zeitindex versehen sind – in die fiktive Welt mit einfließen, wo dies not tut. (Bunia 90)

Bunia geht von Realismus aus, wenn „die Beschreibungen der realen Welt und der fiktiven Welt als identisch beobachtet werden“ (72). Um einen Text als realistisch zu charakterisieren, ist diese Definition allerdings insofern unzureichend, als, wie oben ausgeführt, eine solche, beobachterabhängige, Realismusauffassung potentiell so viele Realismen hervorzubringen vermag, wie es Beobachter gibt und sich darüber hinaus „[d]ie Auffassung darüber, was realistisch sei, […] permanent [verändert]“ (Durst 92). Ein narrativer Text, so sehr er auch mit der Wirklichkeit korrelieren mag, unterliegt stets Verfahren, welche dieser widersprechen, und die im Anschluss an Durst „wunderbar“ genannt seien. Hierzu zählen die „abergläubische“ Strukturiertheit der Texte (92) und „[d]ie manipulierbare Zeit [, welche] als eine rein innerliterarische Erscheinung im Verhältnis zur Wirklichkeit als wunderbar zu beurteilen“ (69) sei. Eine weniger vom Rezipienten abhängige Auffassung von einem realistischen Text ist es daher, wenn man ihn als einen „Text bezeichnet, der die immanente Wunderbarkeit seiner Verfahren verbirgt“ (96f.). Hierzu gehört auch auf der Handlungsebene, dass der Text vorgibt, „wunderlos“ (100) zu sein. Wenn im Folgenden also die Rede von einem literarischen Phantastischen ist, so handelt es sich um eine wunderbare Abweichung von einer „Normrealität“ (vgl. Durst 89-100), welche dem Text zugrunde liegt. Da dem Phantastischen eine ephemere Qualität eigen ist – manifest wäre ein Element nicht mehr phantastisch – muss die Bestimmung noch spezifiziert werden. Ich habe bereits analog zu Martínez die Unentscheidbarkeit bezüglich der Zugehörigkeit eines Phänomens zu einer von zwei ontologischen Ebenen zur Voraussetzung erklärt. Zu klären ist allerdings noch, welche Instanz die Bewertung hinsichtlich des ontologischen Status vornimmt. 2.2 Wer ist der Phantast? Die sich als brauchbar erwiesen habende Martínez’sche Bestimmung des Phantastischen bleibt vage hinsichtlich der Frage, in wessen Augen die eindeutige Erklärung der phantastischen Handlung nicht erlangt werden kann. Der Autor und der empirische Leser scheiden aufgrund ihres extraliterarischen Status als fassbare Bewertungsinstanzen aus. Der Autor ist schlechterdings nicht befragbar und selbst eine Befragung des empirischen

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Verfassers kann keine Bedeutung für den Text haben (da sein Zeugnis erstens nicht Teil des Textes und zweitens ein Zeugnis kein Beweis ist). Des Weiteren kann ein phantastisches Werk weder anhand „der Nervenstärke seines Lesers“ (Todorov 35) ausgemacht werden, noch ist dieser – ebenso wenig wie der empirische Autor – „Strukturelement des Textes“ (Durst 32). Auch implizierter Autor und implizierter Leser können als textstrukturelle phantasmagenetische Instanzen ausgeschlossen werden, da es beim Gebrauch ihrer Kategorien „nicht so sehr um die Beschreibung der Struktur des Textes [geht] als um die Enkodierung und Dekodierung des Textsinns“ (Korthals 432). Gleichwohl ist der implizierte Leser für den phantasmagenetischen Prozess nicht ohne Bedeutung, wie ich weiter unten zeigen werde. Zunächst jedoch sei geklärt, welche textimmanente Größe Sender der phantastischen Signale ist. Was die handelnden Figuren betrifft, so können diese zwar an der „Rechtheit“ der Dinge zweifeln, mit denen es zugeht, aber trotzdem kann es der Fall sein, dass der Erzähler oder der Leser mehr über die Zusammenhänge der respektiven Phänomene weiß als die Figur und dass der Text trotz der zweifelnden Figur(en) keine phantastische Wirkung haben muss. Wenden wir uns dem Erzähler zu. Er stellt diejenige Instanz dar, deren (fiktive) Rede sich als der literarische Text manifestiert und welche dem Leser die fiktionale Welt vor Augen führt, bzw. diese überhaupt erst entstehen lässt. Man bringt ihm jenes Vertrauen entgegen, ohne das es unmöglich wäre, fiktionale Texte überhaupt zu lesen. Man muss hierbei nicht „den ‚objektiven‘ Erzählmodus, was immer man darunter im einzelnen verstehen mag, als den literarischen Regelfall […] betrachten“ (Simonis 53), um wie Durst davon auszugehen, dass „der Erzähler traditionell eine Instanz der Objektivität darstellt, die die Ereignisse der erzählten Welt garantiert“ (Durst 158). Tatsächlich hat es nichts mit einem Erzählmodus zu tun, wenn man dem Erzähler in gewissem Maße vertraut, denn nur so ist es überhaupt möglich, fiktionale Texte zu lesen. Dass der Erzähler nur garantieren, aber nicht beweisen kann, und nichts und niemand für die Wahrhaftigkeit des Inhalts seiner Erzählung zeugen kann und dass dieser somit stets hinterfragbar bleibt, ist ein Umstand, den sich phantastisches Erzählen zunutze macht, indem die Erzählinstanz destabilisiert wird und dieserart für den Leser eine ontologische Uneindeutigkeit bezüglich der erzählten Welt entsteht. Dass destabilisierte Erzähler kein exklusives Phänomen phantastischer Literatur sind, stellt kein Problem dar: Von destabilisierten Instanzen Erzähltes kann genau dann phantastisch genannt werden, wenn aus der Erschütterung der Stabilität ein ontologischer Zweifel bezüglich der erzählten Welt entsteht. Kommen wir vom Erzähler zum implizierten Leser. Dieser ist bei Todorov „eine ‚Funktion‘ des Lesers, die im Text impliziert ist“, aus deren

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„ambivalente[r] Wahrnehmung der berichteten Ereignisse [sich das Phantastische definiert]“ (31). Eine solche Bestimmung birgt den Vorteil, das Phantastische nicht an einer unüberprüfbaren Instanz wie einem empirischen Leser festzumachen und trotzdem von einem phantastischen Effekt des gesamten Textes sprechen zu können. Diese Instanz bietet die Möglichkeit an, über die Stabilität und die Glaubwürdigkeit – auch Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit genannt10 – des Erzählers zu entscheiden und ist letztlich diejenige Position, welche zur Textrezeption besetzt werden muss.11 Es ergibt sich aus der Konstellation von Erzähler und impliziertem Leser nun also folgende Situation: der Erzähler berichtet von Ereignissen und der implizierte Leser verfügt über die Information, die ermöglicht, eine Bewertung bezüglich des ontologischen Status des Erzählten vorzunehmen – was auch die Möglichkeit impliziert, dass dieser uneindeutig ist. Todorov bezeichnet dieses Moment als „Unschlüssigkeit“ (26), bzw. „hésitation“ (29): Es gibt eine unheimliche Erscheinung, die man auf zweierlei Weise erklären kann, nämlich entweder aus natürlichen Ursachen oder aber aus übernatürlichen. Die Möglichkeit der Unschlüssigkeit angesichts dieser Alternative schafft die Wirkung des Fantastischen. (26)

Das Moment der Unschlüssigkeit, die als hésitation zugleich ein Zögern bedeutet, beinhaltet das Phantastische also genau so lange, wie der Text dem implizierten Leser nicht gestattet, eindeutig zwischen zwei Erklärungsmustern zu entscheiden. Vor allem der Erzähler ist es, der als Zeuge der ‚rechten‘ oder ‚unrechten Dinge‘, als mehr oder weniger verlässlicher Garant der Intaktheit der Ordnung der erzählten Welt, eine phantasmagorische Struktur offenbart, die aber erst als Ergebnis einer im Text angelegten ontologischen Nichtfestlegbarkeit seitens des Rezipienten als phantastischer Prozess bewertbar wird. Das Phantastische entsteht also aus der Textstruktur heraus, existiert aber nur durch die in dieser Struktur angelegte Kommunikation mit der Leserfunktion. Es entsteht somit, maßgeblich mit dem Erzählakt verbunden, zwischen Text und Leser, als Trugbild, solange dieses trügt, oder als tatsächliche Verletzung der Gesetze der erzählten Welt, solange es möglicherweise nur ein Trugbild ist. Die Vorgaben des Textes nötigen den abstrakten und naturgemäß rational angelegten implizierten Leser zur hésitation zwischen Erklärungsmustern, welche den Gesetzen der erzählten Welt ent- oder widersprechen; die Möglichkeit des Unmöglichen erscheint ihm, wird ihm sichtbar (er ist genötigt zum phantázesthai) er ist der Phantast. 10 11

Zum Konzept des unzuverlässigen Erzählens siehe: Martinez und Scheffel 100-04. So spricht Iser vom Roman als „Gattung […], in der die Sinnkonstitution des Textes zu einer unverkennbaren Aktivität des Lesers wird“ (7).

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Um zu einer prägnanten Bestimmung des Phantastischen zu kommen, möchte ich an Scheffel anknüpfen, der als seine „[e]benso notwendig[en] wie hinreichend[en]“ (9) Bedingungen nennt: 1.

2.

Mindestens ein Ereignis in der erzählten Welt, das die auf der Ebene des Erzählens und/oder des Erzählten implizit oder explizit thematisierten Basisannahmen über das zu verletzen scheinen, was in dieser Welt als möglich und unmöglich gilt. Mindestens zwei Erklärungsmuster, die in einem mehr oder weniger deutlich auf der Figuren- und/oder Erzählerebene artikulierten ambivalenten Verhältnis zueinander stehen und die aus der Sicht von Figur, Erzähler und/oder Leser eine konsistente Zuordnung des ontologischen Status’ dieses Ereignisses verhindern, indem sie es erlauben, das Erzählte wahlweise als möglich oder unmöglich zu klassifizieren (Scheffel 9f.)

Der zweite Punkt ist, setzt man ihn zu meinen Ausführungen in Beziehung, noch modifikationsbedürftig, denn wenn etwas nur einer Figur phantastisch erscheint, der Erzähler hingegen die respektiven Phänomene zu erklären vermag, ist nicht der Text an sich phantastisch, sondern nur das Urteil der Figur im phantastischen Schwebezustand der hésitation. Da im Rahmen meiner Definition beim Leser durch den Erzähler dieser Zustand erzeugt werden muss, möchte ich folgende abgewandelte Form der zweiten Scheffel’schen Minimalbedingung vorschlagen: Mindestens zwei Erklärungsmuster, die in einem mehr oder weniger deutlich auf der Erzählerebene artikulierten ambivalenten Verhältnis zueinander stehen und die aus der Sicht des implizierten Lesers eine konsistente Zuordnung des ontologischen Status’ dieses Ereignisses verhindern, indem sie es erlauben, das Erzählte wahlweise als möglich oder unmöglich zu klassifizieren. Diese Definition tilgt nicht nur den Bezug zu den handelnden Figuren, sondern auch zum Erzähler, der zwar, wie ich gezeigt habe, maßgeblich an der Phantasmagenese beteiligt ist, aber dessen Sicht nur eine Rolle spielt, wenn sie die des implizierten Lesers bestimmen muss. 2.3 Wann ist Literatur phantastisch? Angesichts der diffusen Verwendung des Begriffs der phantastischen Literatur halte ich es für geboten, zu bestimmen, wann Literatur phantastisch zu nennen sei, allerdings werde ich hier zu keiner Genrebestimmung ansetzen, da innerhalb der Forschung nicht einmal klar ist, ob es sich beim Phantastischen um ein Genre handelt, oder bloß um eine „Struktur“ (Literatur, 93), wie es Schmitz-Emans vorschlägt, und die Frage nach Räumen des Phantastischen nur am Rande mit dem Genrebegriff zusammenhängt. Literatur kann einem Genre der Phantastik zugeordnet werden, indem

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man diese „ahistorisch mit allen Texten gleich[setzt], die nach heutiger naturwissenschaftlicher Sicht übernatürliche Elemente enthalten“ (Durst 25) oder die einen Gattungsbegriff fordern, der Texte impliziert, „die man intuitiv diesem Bereich zuordnet“ (Simonis 45) – all dies sind Begriffsbestimmungen, welche das Adjektiv ‚phantastisch‘ zulässt, auch wenn die Feststellung einer kollektiven Intuition niemals möglich sein kann. Was Simonis’ Forderung allerdings offenbart, ist die Notwendigkeit der Chimäre, will man über ein Phantastisches sprechen; ein widerspruchsfreier Konsens ist unmöglich, da der Begriff des Phantastischen vielerlei Deutung zulässt. Ich habe mich um des heuristischen Nutzens willen für einen Phantastikbegriff entschieden, der erstens etymologisch herleitbar, zweitens auf eine Textstruktur anwendbar und drittens potentiell überzeitlich ist. ‚Potentiell‘, da phantastische Erzählstrukturen zwar bereits in der Antike ausmachbar sind, wie es der Sammelband von Hömke und Baumbach zeigt; von einem gehäuften Auftreten phantastischen Erzählens kann allerdings erst seit dem 18. Jahrhundert die Rede sein.12 Es wäre daher möglicherweise sinnvoll, das Aufkommen eines Genres der Phantastik erst dann zu verorten, wenn man es für sinnvoll erachtet, einer als phantastisch bestimmten Erzählweise eine Gattung zuzuweisen. Ob man von einem ‚Tod der Phantastik‘ sprechen kann, wie zum Beispiel Todorov es tut13 und den Durst für einen „angebliche[n]“ (233) hält, und wann man gegebenenfalls diesen Tod verorten kann;14 ob Phantastik noch immer existiert,15 oder man bestimmte Erzählphänomene einer Neophantastik zurechnen sollte16 – all dies sind Fragen, die an den spezifischen Genreauffassungen der Texte 12

13 14 15 16

Antonsen bietet einen kurzen Überblick der Verwendung und Rezeption des Begriffs ‚Phantasie‘ von seiner ersten Dokumentation 1638 bis ins 19. Jahrhundert (240-47); Literatur des Phantastischen muss allerdings notwendigerweise avant la lettre existiert haben. Durst verortet das Phantastische in der „Konkurrenz zweier gleichberechtigter Realitäten“ (13); als Zustand zwischen „Realismus und Wunderbarkeit […], die seit dem 18. Jahrhundert die Extremwerte des Erzählbaren bilden.“ Scheffel beschränkt sich ebenfalls „auf die Erzählliteratur der Moderne und ihre spezifischen Bedingungen“ (Scheffel 1), verortet deren Grundlagen aber in der Antike (ebd. 13). Schmitz-Emans spricht von „,Wellenberge[n]‘ des Phantastischen“ (Literatur, 105), die sowohl um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, am Ende des 19. Jahrhunderts, als auch im 20. Jahrhundert auftreten (ebd.). „[D]ie Psychoanalyse hat die fantastische Literatur ersetzt (und damit überflüssig gemacht).“ (Todorov 143) Während Todorov das Aufkommen der Psychoanalyse als Endpunkt der Phantastik setzt, gibt es auch Positionen, welche den „Tod des Genres“ (Durst 233) zu unterschiedlichen Zeitpunkten des 20. Jahrhunderts ausmachen (vgl. ebd. 233-41). Durst widerspricht der These eines spätestens mit dem Postmodernismus einsetzenden Todes der Phantastik vehement (239-41). So spricht zum Beispiel Lachmann von der Neophantastik als „Konstruktion komplexer Wissensalternativen, in denen verworfene, nicht zugelassene Gedankenmodelle mit Logophantasmen sich mischen, die irreale Systeme mit monströser Alogik zu begründen scheinen“ (11). Zu Begriff und Geschichte des Neophantastischen vgl.: Barbetta 217-21.

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hängen, welche die jeweiligen Meinungen verfechten. Sowenig wie das Wort ‚phantastisch‘ eine einheitliche literaturspezifische Definition erlaubt, sowenig kann es einen Konsens des Genrebegriffs geben. Ich erachte es daher für am sinnvollsten, nicht aus einer Genrehypothese heraus Texte als phantastisch zu bestimmen, sondern vielmehr mit einem Begriff des Phantastischen zu arbeiten, der Phänomene innerhalb literarischer Texte beschreibt und mithilfe dessen man frei von weiteren Klassifizierungen diese Texte hinsichtlich dieser Strukturelemente (und deren Zusammenhänge im Werk) zu analysieren vermag. Da eine Genrebenennung im vorliegenden Falle also immer ideologisch motiviert sein muss und nur unter Verlust seiner heuristischen Brauchbarkeit ein breites Spektrum nicht falsifizierbarer Genre- und Begriffsbestimmungen abzudecken vermochte, sei für den oben vorgenommenen Begriff vom ‚Phantastischen‘ Literatur genau dann phantastisch genannt, wenn sie von der phantastischen ontologischen Uneindeutigkeit Gebrauch macht, und zwar genau in den Momenten, in welchen dieser Zweifel besteht – hiernach wäre also nicht ein Werk phantastisch, sondern nur einzelne Bestandteile, die eine bestimmte, aus der Textstruktur hervorgehende, Rezeptionskategorie entstehen lassen.17 3. Räume mit und ohne Ort Ich bin nicht der erste, der auf die Nützlichkeit der Verwendung der Kategorie des Raumes für die Analyse phantastischer Texte hinweist.18 Als besonders dankbar erweisen sich in dieser Hinsicht die Modelle zweier Autoren: die Raumsemantik Lotmans und die Foucault’schen Heterotopien. Wie wir sehen werden, ist es bei beiden Modellen möglich, diese in jeweils zwei Unterkategorien aufzuspalten; es gibt räumliche und rein sprachliche Raumkategorien. 3.1 Jurij M. Lotmans raumsemantische Theorie Da ich meinen Phantastikbegriff an die narrative Struktur geknüpft habe, liegt es nahe, sich mit Hinblick auf die Analyse an möglichst kleine Einheiten derselben zu halten, um möglichst präzise vorgehen können. Lotmans Modell der Raumsemantik definiert die kleinste Handlungseinheit (vgl. Martinez und Scheffel 108) – das Ereignis, beziehungsweise Sujet – als 17

18

Für Durst „ist der Leser eine Funktion, die ebenso einen Teil des strukturellen Gefüges bildet wie die Funktion des Erzählers“ (106), jedoch habe ich auf die Rolle des Lesers bei der Textrezeption hingewiesen. Auch wenn die Leserposition im Text angelegt ist, tritt der Leser in Beziehung zum Text. So zum Beispiel: Wünsch 37f.; Krah 235-57, besonders: Anmerkung 1 (255); Dünne.

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räumliches Phänomen: „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ (Lotman 332). Dieses Feld ist räumlich zu begreifen, ob abstrakt oder konkret im Rahmen der erzählten Fiktion (vgl. Titzmann 3077). Nach Titzmann, an dessen Aktualisierung des Modells von Lotman ich anknüpfen möchte, ist „,Raum‘ neben ‚Zeit‘ natürlich eine der elementarsten Strukturierungen dargestellter Welten“ und ist maßgeblich für die Narrativität eines Textes, welche „(mindestens) ein Ereignis“ (ebd.) in dieser Welt erfordert, das durch eine räumlich-semantische Grenzüberschreitung zustande kommt. Einen „semantische[n] Raum“ bestimmt Titzmann als „ein semantisch-ideologisches Teilsystem einer dargestellten Welt“, das „aus einer beliebig umfänglichen Menge von (untereinander korrelierten) Merkmalen (zum Beispiel ontologischen, biologischen, sozialen, psychischen usw. Gegebenheiten) [besteht]“ (ebd.). Ein solcher Raum kann sich zu anderen hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale im Gegensatz befinden. Die Überschreitung der „klassifikatorische[n] Grenze“ (Lotman 337) zwischen den gegensätzlichen Räumen durch die – aktiv oder passiv – handelnde Figur stellt in der erzählten Welt insofern ein bedeutsames Ereignis dar als diese unerwünscht oder ungewöhnlich ist, als unmöglich gilt oder sonst irgendwie sanktioniert ist (Titzmann 3077). Es gibt Räume, die tatsächlich über räumliche Eigenschaften verfügen und solche, welche rein semantischer Natur sind. Einerseits kann also ein topographischer Raum durch bestimmte Merkmale einer Ordnung semantisiert sein und zu anderen Räumen im Gegensatz stehen (semantisierter Raum), andererseits ist es möglich, dass ein topographischer Raum Elemente unterschiedlicher abstrakter semantischer Räume beinhaltet. Letztere liegen also in beiden Fällen vor und fallen beim Auftreten ersterer mit topographischen Räumen zusammen. Unter den Ereignissen kann man daneben gewöhnlich solche, bei denen nur die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen überschritten wird, von Metaereignissen unterscheiden, durch welche sich zusätzlich die Gesetze der erzählten Welt verändern. Sowohl das erarbeitete Modell des Phantastischen als auch die raumsemantische Theorie operieren mit Schwellen als entscheidenden Kategorien: für die Raumsemantik ist das Überschreiten der Grenze zweier semantischer Räume zentral; das Phantastische markiert die Schwelle zweier ontologischer Ebenen. Ein Unterschied besteht zweifelsohne in dem Umstand, dass die Raumsemantik die Ebene der handelnden Figuren behandelt, das Phantastische hingegen ein Phänomen darstellt, welches zwischen Erzähler und impliziertem Leser entsteht. Da nun aber die Handlungsebene selbst Produkt der Erzählerrede ist, halte ich es trotzdem für möglich, das Phantastische raumsemantisch zu erklären und die raumsemantische Methode zur Analyse phantastischer Erzählstrukturen zu instrumentalisieren. Ist der Leser, wie oben erläutert, bezüglich der Schilde-

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rung der erzählten Welt auf das Zeugnis des Erzählers angewiesen, so ist die Erzählerrede naturgemäß auch Produzentin der semantischen Räume. Zwar ist ein Erzähler auch imstande, einen phantastischen Zustand zu erzeugen, ohne dass eine Figur in die Phantasmagenese involviert wäre; nichtsdestotrotz ist er es, der dem implizierten Leser überhaupt gestattet, zwischen Normrealität, Wunderbarem und somit auch Phantastischem zu unterscheiden. Als besonders praktisches ‚Handwerkszeug‘ erweist sich die raumsemantische Betrachtung phantastischer Literatur, wenn man ein Spektrumsmodell der Realitätssysteme zugrunde legt. Das Modell der Theorie Dursts zum Beispiel beruht auf der konventionsbedingten Antipolie zwischen einer Normrealität (reguläres System R) und einer Abweichungsrealität (wunderbares System W). Es bezeichnet das Spektrum narrativer Realitätssysteme und formuliert eine Deviationspolitik der erzählten Welt. Das Phantastische liegt auf der Spektrumsmitte (Nichtsystem N). (89; Hervorhebungen im Original)

Die Erklärung des Phantastischen als Zustand innerhalb des narrativen Spektrums korrespondiert mit der raumsemantischen Analysetechnik: ein Zusammenfallen von phantastischem Zustand und raumsemantischer Erklärung liegt genau dann vor, wenn eine Figur sich auf der Schwelle zweier semantischer Räume befindet, deren einer der dem Text eigenen Normrealität ent- und der andere ebendieser widerspricht und wenn zusätzlich der Erzähler zu einem Zeitpunkt keine eindeutige Erklärung für die Koexistenz beider Räume erlaubt. 3.2 Die anderen Räume – Foucaults Heterotopien Das Phantastische ist notwendigerweise stets mit dem Anderen verbunden, schließlich ist es der Schwebezustand zwischen zwei ontologischen Ebenen, und somit ein Zustand, welcher durch die Möglichkeiten dieser beiden markiert wird, und außerdem selbst nur aus dem Mangel an zuverlässiger Erklärung heraus entsteht. Dieser bringt mit sich, dass das Phantastische sich immer auf beide zur Verfügung stehenden Erklärungsmuster beruft – es gibt dem Anderen Raum. Die phantastische Nicht-Erklärung ist das, was ontologisch nicht sein darf und trotzdem ist – es ist der andere Raum. Die Eigenschaft, der Raum des Anderen und der andere Raum zu sein, teilt das Phantastische mit den Foucault’schen Heterotopien. Diese anderen Räume19 haben nicht nur eine räumliche Dimension, sondern sind immer auch Konstituenten einer abstrakten Weltordnung, bzw. „Ordnung der 19

Der französische Titel von Foucaults Aufsatz lässt nicht nur die Übersetzung „andere Orte“, sondern auch „andere Räume“ zu („Des Espaces Autres (1967), Hétérotopies“).

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Dinge.“ Im Vorwort zum gleichnamigen Buch verwendet Foucault den Ausdruck ‚Heterotopien‘ in einer anderen Bedeutung als im späteren Aufsatz Die Heterotopien. In ersterer Schrift bezeichnet der Ausdruck ein rein abstraktes Phänomen (als ihren Raum nennt Foucault „die Ortlosigkeit der Sprache“; Ordnung 19), in letzterem geht es um konkrete Orte, die mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen sind. Beide Arten von Heterotopien sind aufgrund ihrer Strukturverwandtschaft mit dem Phantastischen für die Analyse phantastischer Literatur brauchbar. 3.2.1 Die sprachlichen Heterotopien Wenn Foucault in Die Ordnung der Dinge erstmals den Begriff der Heterotopien gebraucht, so bezeichnet er damit heteroklitische Elemente innerhalb einer Ordnung:20 es handelt sich hierbei um ein in erster Linie sprachliches Phänomen, das seine Ordnung „heimlich […] unterminiert“ (20). Er charakterisiert hier Heterotopien als sprachliche Konstellationen, die verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im Voraus die ‚Syntax‘ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ‚zusammenhalten‘ läßt. (20; Hervorhebung im Original)

Heterotopien stellen also ihre Ordnungssysteme als solche bloß; die Ordnungen, welche diese hervorbringen, sind nur je eine unter vielen verschiedenartigen – Ordnung erfolgt in einem „Ordnungsraum“ (Foucault, Heterotopien 10), der einem Denken in „Ähnlichkeitsräumen“ (Defert 75) zugrunde liegt. Um räumliche Eigenschaften der Heterotopien auszumachen, bedarf es allerdings keiner Zuordnung durch dritte; schon etymologisch wohnt ihr der Ort (topos) inne, und auch die Abgrenzung von der Utopie, die Foucault (Ordnung 20) vornimmt – mit der er sie in einem Ordnungsraum koexistieren lässt und von der er sie unterscheidet – weist ihr räumliche Eigenschaften zu. Die Heterotopie beschreibt des Weiteren eine zusätzliche Schwelle, indem sie nämlich „von einer Grenze des Denkens [zeugt]“ (Defert 75). Diese Grenze kann ebenfalls im Zusammenhang des phantastischen Zweifels stehen: wo die Ordnung der Dinge infrage gestellt wird, ist die vorausgesetzte ontologische Ebene, die Grundlage der Normrealität erschüttert. Wenn nun diese Ebene, in welcher die Ordnung verankert war, an Stabilität einbüßt und so von Verankerung keine Rede mehr sein kann, so 20

Es ist die Rede von „[der] Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten läßt“ (20; Hervorhebung im Original).

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kann dies zum Effekt des Phantastischen insofern beitragen, als es die ontologische Uneindeutigkeit forciert. Denkbar wären zwei Möglichkeiten des heterotopischen Beitrags zur Phantasmagenese: erstens direkt als Verweis auf eine zweite ontologische Ordnung, der mit der Destabilisierung der ersten einher geht, und zweitens als Helfer eines phantastischen Zweifels, der auch ohne die Heterotopie bestünde, aber durch diese insofern gefördert wird, als sie die Normrealität weiter schwächt. Die „heterotopisch[e] Sprache“ bringt einen „beunruhigenden, ordnungszersetzenden Raum“ mit sich und fördert im Falle des dargestellten Übernatürlichen „einen in die Wissensordnung einer Epoche eingeschlossenen, normalerweise aber nicht sichtbar werdenden Teil derselben“ (191) zutage, wie Dünne schreibt. Er legt offenbar einen anderen Phantastikbegriff als ich zugrunde, da er auf extraliterarische Entitäten rekurriert; allerdings ist diese Ansicht im Kern auch mit meinem Modell kompatibel, denn auch, wenn man von einer rein textinternen Phantasmagenese ausgeht, so ist das Wunderbare Teil einer Wissensordnung – als ihr Anderes. Die sprachlichen Heterotopien vermögen also im Raum der Sprache die Ordnung und das aus ihr Ausgeschlossene, das durch sie für unmöglich Erklärte, zusammenkommen zu lassen – und auf diese Weise das Phantastische hervorzubringen. 3.2.2 Die Heterotopien des Raumes Foucault gebraucht den Begriff der Heterotopie in seinem Radiovortrag von 1966 anders als in Die Ordnung der Dinge. Er bezeichnet sie dort als „lokalisierte Utopien“, als „Orte, die sich allen anderen widersetzen“ und sich daher „jenseits aller Orte“ befinden (Heterotopien 9). Es sind Räume, in denen stattfindet, was Teil der Gesellschaftsordnung sein muss, obwohl es ihr widerspricht – „En- und Exklaven […], in denen eine Gesellschaftsordnung mit ihrem eigenen Anderen konfrontiert wird“ (Dünne 191), und die zum Beispiel durch phantastisches Erzählen deutlich werden. Ist das Phantastische nämlich an einen konkreten Ort mit topographischen Eigenschaften gebunden, so stellt dieser einen Raum des Phantastischen nicht nur im Sinne der Theorie Lotmans dar, sondern zeigt sich auch als Ort, an den das Wunderbare innerhalb der Weltordnung, welcher es widerspricht, suspendiert (worden) ist. Eine solche En- oder Exklave wäre ein Ort, innerhalb dessen eine eigene Normrealität besteht, die aus dem Blick der in der erzählten Welt vorherrschenden oder zumindest als Ausgangspunkt genommenen ontologischen Ordnung wunderbar zu nennen wäre, und der bei Zusammentreffen beider Ordnungen das Phantastische

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generiert. Es ist dies ein besonderer heterotopologischer21 Fall, denn an sich sind Heterotopien schlichtweg wandelbare, er- und abschaffbare (vgl. Heterotopien 13) Teile einer jeden Gesellschaft (11), die für gewöhnlich „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen[bringen], die eigentlich unvereinbar sind“ (14) und darüber hinaus über „ein System der Öffnung und Abschließung […], welches sie von der Umgebung isoliert“ (18) verfügen. Im Falle der phantastischen Heterotopien nun kommt als notwendige Eigenschaft der Umstand hinzu, dass es sich nicht um bloß juridische Normverstöße handeln darf, die dem Ort eigen sind, sondern dass es sich um Verstöße gegen das – den aus der Erzählerrede resultierenden ontologischen Annahmen über die erzählte Welt zufolge – für möglich Gehaltene handeln muss. In jedem Falle stellen die räumlichen Heterotopien die Möglichkeit der phänotypischen Homogenisierung zugunsten einer Ordnung zur Verfügung, indem sie das nicht Ordnungsgemäße offiziell auslagern und so die Unordnung in die Ordnung integrieren. Der Einschluss des Ausgeschlossenen erfolgt durch die Verlagerung der unordentlichen Prozesse und inoffizielle Ordnungen an durch die offizielle Ordnung definierte Orte. Foucault nennt als Beispiele hierfür unter anderem „Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle [und] Gefängnisse“ (Heterotopien 11). Zweifelsohne ist diesen Gegenräumen allerdings nicht bloß die passive Marginalisierung inhärent, sondern gleichfalls subversives Potential, denn wie die sprachlichen Heterotopien verweisen auch die räumlichen immer auf das innerhalb der Ordnung existente Andere derselben. Sie festigen die Ordnung durch ihren Einschluss in diese und destabilisieren sie damit sogleich, da die aporetische Konstellation der gleichzeitigen In- und Exklusion des Abweichenden jeglicher Ordnung entgegensteht. Wie Scheffel verdeutlicht, kann eine erzählte Welt heterogen gebaut sein, indem sie, an sich homogen gebaut, heterotopische Enklaven des Wunderbaren beinhaltet, welche in ihrer Wunderbarkeit die restliche fiktionale Welt nicht berühren (vgl. 3). Die Heterogenität der erzählten Welt, so Scheffel weiter, kann ihrerseits wieder instabil sein, wenn des Erzählers Zuversichtlichkeit hinsichtlich der Schilderung des Wunderbaren angezweifelt werden kann (vgl. 4) – die genannte Heterotopie erhält somit den Status des Phantastischen. So ist die Theorie der konkreten und abstrakten Räume m. E. ein geeignetes Mittel, um phantastische Literatur zu analysieren und gibt der Phantastikforschung Mittel an die Hand, eindeutig an der Textstruktur ablesbare phantastische Elemente aufzufinden und zu analysieren. Mit 21

Foucault spricht von einer noch zu begründenden Wissenschaft der „Heterotopologie“, vgl.: Heterotopien 11.

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Die Unordnung der Räume

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Begrenzte und entgrenzte wunderbare Systeme Vom Bürgerlichen zum ‚Magischen Realismus‘ UWE DURST Limited and De-limited Marvellous Systems. Of Bourgeois and ‘Magical Realism’ Realistic texts exclude the possibility of marvellous incidents; if they do occur though, the text looses its status of being realistic. Nevertheless, there is a huge number of texts in bourgeois realism, in which marvellous events take place without negating the text’s realistic character. This is due to the extensive sequential isolation of the marvellous incidents: The marvellous attains only a catalytic, but not a cardinal function, it is not consequential and therefore limited. Paradoxically, one of the effects of the limited marvellous in realistic texts is to confirm the claim of ‘reality’ in realism. Moreover, it de-automatizes the realistic system by turning the narrated world into an artistically active structure. In case of a critical accumulation of subordinate marvellous events, the text looses its realistic status despite the marvellous’ sequential isolation. This is the case in literature of the so-called magical realism; it is based on the radical prominence of structures that have already been existent in bourgeois realism.

1. Beobachtung Bekanntermaßen besteht zwischen realistischen und wunderbaren Realitätssystemen1 eine konventionsbedingte Inkompatibilität: Ein realistischer Text, in dem plötzlich ein wunderbares Ereignis sich vollzieht, sagen wir, der Auftritt eines Außerirdischen oder der Vollzug einer erfolgreichen magischen Operation, verliert seinen realistischen Status. Fortan gehört er 1

Als Realitätssystem bezeichne ich die Ordnung der Realitätsgesetze der fiktiven Welt, die aus der funktionalen Verknüpfung erzählerischer Verfahren und dem Verhältnis dieser Struktur zur literarischen Tradition hervorgeht. Dabei gilt es zu beachten, dass Realität und Wirklichkeit nicht synonym zu verstehen sind, auch nicht in Hinblick auf einen realistischen Text. Das System der Realität steht zur fiktionsexternen Wirklichkeit vielmehr in einem Verhältnis relativer Autonomie: die Literatur ist ein System von Verfahren, dem der Maßstab objektiver Wirklichkeitskriterien (etwa im Sinne naturwissenschaftlicher Fakten) unangemessen ist. Ein narrativer fiktionaler Text gehört nicht deshalb zur Literatur des Wunderbaren, weil er die Naturgesetze missachtet (zumal dies eine Arbeitsgrundlage jeder Erzählliteratur bildet), sondern weil er die Lücken seiner sequentiellen Struktur bloßlegt (während der realistische Text sie verhüllt).

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zur Literatur des Wunderbaren – oder, im Falle realitätssystemischer Unschlüssigkeit, zur phantastischen Literatur. Die kategorielle Mobilität wird durch den Umstand bedingt, dass die erzählte Welt zur Wahrung ihres Systemcharakters gezwungen ist, jedes neue Element systemisch zu integrieren. Ist das etablierte Realitätssystem unfähig, ein neues Element zu verarbeiten, wird das System überwunden und ein verarbeitungsfähiges System an seine Stelle gesetzt. Um so bemerkenswerter ist daher ein literarisches Phänomen, das der Unvereinbarkeit realistischer und wunderbarer Systeme zu widersprechen scheint, denn es gibt durchaus realistische Texte, in denen sich wunderbare Ereignisse vollziehen, ohne dass dies zu einer Überwindung des realistischen Systems führen würde. Als Beispiele nenne ich: den Auftritt des Chinesengespensts in Fontanes Effi Briest (1895), des Geists Marfa Petrownas in Dostojewskis Verbrechen und Strafe (1866) oder die Präkognitionen in Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt (1918). In Freytags Soll und Haben (1855) erscheinen, obwohl es sich um einen für den programmatischen Bürgerlichen Realismus paradigmatischen Text handelt, u.a. eine lebendige Gipskatze und diverse Hausgeister: Unterdes stand Antons Hausgeist, die lederfarbene Katze, traurig auf ihrem Postament. Ein Jahr voll Grimm und Getöse war vergangen, die Katze hatte nichts davon gemerkt. Mit gesenktem Haupte sah sie in die leere Stube. […] Wer heut nacht die gelbe Katze sehen könnte, der würde sich wohl wundern. Sie leckt sich und stählt sich, sie streckt die steifen Beinchen und hebt den Schwanz lustig in die Höhe; endlich springt sie vom Schreibtisch herunter und zur Stubentür hinaus in den Hof. Feierlich schreitet sie durch alle Gänge und Löcher des Hauses. Und wo sie hinkommt, da wird es lebendig, und alles kleine Gesindel von Hausgeistern, das in einem solchen Baue unvermeidlich ist, das rührt sich und fährt aufgeregt durcheinander. Graue, schattenhafte Kerlchen kommen aus den Ofenlöchern und unter den Pulten der Schreibstube hervorgeschlüpft. 2 (753f.)

Dass die genannten Texte auf der realistischen Seite des Spektrums verbleiben, beweist, dass die systemische Bedrohung, die vom Wunderbaren ausgeht, auf irgendeine Weise entschärft werden kann.

2

Das Wunderbare unterliegt (anders als in Fontanes und Dostojewskijs Text) bei Freytag übrigens keinem Zweifel. Die binnenfiktionale Faktizität wird durch einen stabilen, allwissenden Er-Erzähler garantiert, der explizit auf das Fehlen einer psychologischen Perspektivierung aufmerksam macht: „Wer heut nacht die gelbe Katze sehen könnte“.

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2. Forschungslage, Definition Das Phänomen wunderbarer3 Einsprengsel im realistischen Text ist bisher von der Literaturwissenschaft unzureichend beachtet worden, die hier fast ausschließlich die Perspektive der Interpretation einnimmt. Statt das Rätsel der strukturellen Organisation zu lösen, beschränkt man sich auf die Frage, was das wunderbare Element im Einzelfall bedeutet4. 2001 hat Gregor Reichelt auf die fakultative „Beiordnung“ (166, Kursiv im Original) des Wunderbaren in der realistischen Erzählliteratur hingewiesen. Zwar ist auch seine Untersuchung vor allem an Deutungsfragen interessiert und vernachlässigt die strukturale Analyse des Phänomens, das in keine umfassende Systematik integriert wird. Ich stimme ihm aber zu, wenn er konstatiert, dass sich das Wunderbare im realistischen Text „gewissermaßen zurückgenommen“ (11) um die realistischen Plotkerne gruppiere. Die deutschsprachigen Bürgerlichen Realisten, so Reichelt, hätten das Wunderbare, „was die Kausalität der Handlung betr[effe], in der Narration an eher untergeordneten Stellen ein[ge]fügt“ (93). Ich versuche dies präziser zu fassen: Als begrenzt oder subordiniert will ich wunderbare Systeme bezeichnen, die sich innerhalb einer realistischen Basisrealität etablieren, realitätssystemisch aber nur geringe Bedeutung gewinnen, weil der Eintritt des wunderbaren Ereignisses aufgrund seiner minimalen Bedeutung als Motivierungsstruktur keine (oder nur geringfügige) realitätssystemische Konsequenzen nach sich zieht. Anders ausgedrückt: Das wunderbare Ereignis bedingt keine eigenwertigen, d.h. sich aus seiner Wunderbarkeit ergebenden Weiterungen im Handlungsverlauf. Seine Funktion ist, um mit Barthes’ Begriffen zu sprechen, nicht kardinaler, sondern katalytischer Natur. Das Wunderbare gehört nicht zu den „Scharniere[n]“, den „Risikomomente[n] der Erzählung“5 (Barthes 112f.). 3 4 5

Der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden den Begriff des ‚Wunderbaren‘ unabhängig davon, ob seine binnenfiktionale Faktizität vom Text mit einem Fragezeichen versehen ist oder nicht. Beispielsweise der spukende Chinese in Effi Briest als Metapher für den deutschen Imperialismus (vgl. Durst, Wunderbare 20-29). Meine Bestimmung scheint auf den ersten Blick die Herangehensweise Ostrowskis von 1966 zu übernehmen, was aber nicht der Fall ist. Ostrowski untersucht das Element der Telepathie in Charlotte Brontës Roman Jane Eyre (1847) und fragt sich, ab welcher Menge an Wunderbarkeiten ein künstlerischer Text der Literatur des Wunderbaren sinnvoll zuzuordnen sei. Er schlägt folgende Lösung vor: „A story is fantastic [marvellous] when fantastic [marvellous] elements in it constitute or condition its imaginary world as a whole. […] The Invisible Man – paradoxically – would disappear as a novel, should the element of the invisibility be withdrawn from it. But telepathy in Jane Eyre might be replaced by a letter or a notice in newspapers without changing anything else in the story, characters and setting” (64). Aufgrund einer Austauschprobe mit Realismus-kompatiblen Motivierungen könne man Jane Eyre von der ‚phantastischen‘ (gemeint ist: wunderbaren bzw. mobilen) Literatur un-

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Ein Beispiel: In Schnitzlers Casanovas Heimfahrt wohnt der Titelheld für ein paar Tage im Haus seines Freunds Olivo. Er verliebt sich in dessen Nichte Marcolina, die aber ein Verhältnis mit Leutnant Lorenzi unterhält. Als Lorenzi in Spielschulden gerät, bietet Casanova ihm die Rettung an, im Gegenzug soll ihm der Leutnant eine Liebesnacht mit Marcolina ermöglichen. Lorenzi geht auf den Handel ein. Am Morgen nach der Liebesnacht duelliert er sich mit Casanova, der ihn niedersticht und nach Venedig zurückkehrt. Dies ist in groben Zügen die realistische Basiserzählung. In einer Szene aber, die syntagmatisch und chronologisch dem beschriebenen Geschäft vorausgeht, erzählt Olivos Frau Amalia von einem Traum, dessen wunderbarer Charakter durch folgendes Detail verdeutlicht wird: Ich sah Sie, Casanova, in einem herrlichen, mit sechs dunklen Pferden bespannten Wagen vor einem hellen Gebäude vorfahren […] und Sie trugen – wahrhaftig, die gleiche schmale Goldkette trugen Sie, die sie heute tragen, und die ich doch wahrlich niemals noch an Ihnen gesehen habe! (277f.)

Die Ereignisse, die Amalia schildert, entsprechen traumtypisch verfremdet dem weiteren Gang der Basiserzählung. Die präkognitive Aussage bildet jedoch keine kardinalfunktionale Einheit. Sie dient lediglich der proleptischen Orientierung des implizierten Lesers. Vom Standpunkt der Fabel ist das Wunderbare irrelevant.

Abb. 1: Sequentielle Struktur von Schnitzlers Casanovas Heimfahrt

terscheiden. Ich halte dies für ein ungeeignetes Verfahren, da künstlerische Erzähltexte anführbar sind, deren dominante wunderbare Elemente gleichfalls durch Realismus-kompatible Elemente ersetzt werden könnten, ohne die Erzählung hierdurch völlig zum Verschwinden zu bringen. So könnte man beispielsweise das wunderbare Element in Kafkas Verwandlung (1915), die Metamorphose eines Handlungsreisenden in ein Insekt, durch eine widerliche, jedoch Realismus-kompatible Krankheit ersetzen. Zweifellos veränderte dies den Charakter der Erzählung, entzöge der Handlung aber keineswegs die Grundlage. Auf das Element der Telepathie in Brontës Text werde ich in kürze eingehen.

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Abbildung 1 veranschaulicht die sequentielle Struktur der Erzählung. Oben sind die Handlungseinheiten der dominanten realistischen Basiserzählung eingetragen, unten die der subordinierten Erzählung des Wunderbaren. Im Gegensatz zu den Verbindungen, die die hierarchisch differenten sequentiellen Elemente der Basiserzählung miteinander in Beziehung setzen – Betrug, Beseitigung des Konkurrenten, Erpressung usw. –, ist das wunderbare Geschehen mit den dominanten Handlungseinheiten nur durch eine gestrichelte Linie verknüpft. Sie zeigt an, dass das subsystemischkatalytische Element zwar mit der Basiserzählung verbunden ist und mit deren Funktionen in einem konsekutiven Verhältnis steht, dass aber diese Verknüpfung nur eine „parasitär[e]“ Relation darstellt: Die sequentielle Funktionalität des wunderbaren Ereignisses ist „abgeschwächt“ (Barthes 113), es ist zwar konsekutiv, aber nicht konsequentiell. Diese Eigenschaft des Wunderbaren wird um so deutlicher, wenn man Casanovas Heimfahrt mit einer anderen Novelle Schnitzlers vergleicht, der Weissagung (1905), in welcher dem Helden der Augenblick und die Umstände seines Todes vorausgesagt werden, was eine spezifische Handlung in Gang setzt, die in den vergeblichen Versuchen des Helden besteht, das Eintreffen der Prophezeiung zu verhindern. In Casanovas Heimfahrt ist das Wunderbare hingegen handlungsinaktiv: Auf der Ebene der Basiserzählung wird es nicht zum Ausgangspunkt eigenwertiger Handlungseinheiten. Meine Bestimmung des begrenzten Wunderbaren möchte ich allerdings etwas erweitern und in bestimmten Fällen auch dann vom ‚begrenzten Wunderbaren‘ sprechen, wenn das wunderbare Ereignis ein Element der Basiserzählung bildet.

Abb. 2: Sequentielle Struktur von Charlotte Brontës Jane Eyre

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In Charlotte Brontës Roman Jane Eyre (1847) wird die Liebesgeschichte zwischen Edward Rochester und der Titelheldin geschildert. Rochester macht Jane einen Heiratsantrag, doch während der Trauung stellt sich heraus, dass er bereits verheiratet ist. Jane trennt sich von ihm, unternimmt eine Reise und lernt St. John kennen, der sie gleichfalls bittet, seine Frau zu werden. Da hört Jane auf telepathischem Wege, wie Edward ihren Namen ruft (vgl. 315). Das Wunderbare bringt die Heldin dazu, St. Johns Antrag abzulehnen und stattdessen zu Edward zurückzukehren. Wenngleich das Wunderbare hier ein Element der Basiserzählung ist, bleibt es doch in dem Sinne randständig (d.h. von der sequentiellen Ordnung des Basissystems weitgehend isoliert), weil Janes telepathische Fähigkeit keine spezifischen sequentiellen Folgen bzw. realitätssystemischen Konsequenzen generiert: Die Motivierungsrelevanz des Wunderbaren ist sehr gering. Ganz anders ist die Situation in Romanen, in denen die Telepathie dominante Bedeutung besitzt, etwa in Alfred Besters The Demolished Man (1953): Hier motiviert die Fähigkeit vieler Menschen, die Gedanken anderer zu lesen, einen Polizeiapparat, der in der Lage ist, jedes Verbrechen zu entdecken und aufzuklären. Der Held will dennoch einen Mord begehen und ist gezwungen, Wege zu finden, um sich vor dem Zugriff auf seine Gedanken zu schützen. Demgegenüber ist das begrenzte Wunderbare auffällig ohnmächtig und daher in gewisser Weise nicht wunderbar. 3. Konstitutive Verfahren, fakultative Verfahren Durch welche Verfahren wird das Wunderbare nun begrenzt (bzw. entschärft)? „[T]extuelle Kosmologien“ (Realitätssysteme), sagt Schröder, sind „immer tendenziell totalitär“ (202), d.h. strukturell auf Alleinherrschaft, und nicht auf Koexistenz angelegt (die phantastischen Literatur, in der die Koexistenz eines dominanten realistischen und eines dominanten wunderbaren Systems einen realitätssystemischen Skandal bedingt und die Kohärenz der erzählten Welt zerstört, ist hierfür Beweis genug). Verschiedene Verfahren sind jedoch geeignet, der beschriebenen Disposition entgegenzuwirken und wenigstens die nicht-skandalöse Koexistenz eines dominanten realistischen und eines subordinierten wunderbaren Systems zu ermöglichen. Das konstitutive Verfahren des begrenzten Wunderbaren habe ich bereits genannt, nämlich die weitgehende sequentielle Isolation. Darüber hinaus treten meist eine ganze Zahl fakultativ einsetzbarer Verfahren auf, die die sequentielle Isolation in ihrer Funktionserfüllung unterstützen. Zu diesen gehört u.a. die Hervorhebung der realistischen Basissequenz durch eine große Zahl von Pro- und Analepsen.

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Hier muss ich erwähnen, dass sich das wunderbare thematische Material nach Zimmermann und mir als sequentielle Lücke beschreiben lässt.6 Um ein Beispiel anzuführen: In Asturias’ Roman Die Maismänner (1949) wird die Sequenz ‚Rauchen‘ (Zigarette aus der Schachtel nehmen, anzünden, rauchen, ausdrücken) wunderbar verkürzt, indem die Kardinalfunktion ‚anzünden‘ ausfällt: „Sobald er eine Zigarette in den Mund steckte, begann sie von selbst zu brennen.“ (134). Demgegenüber, schreibt Zimmermann, gilt der vollständige Ablauf einer Sequenz als realistisch. Etwas vereinfacht lässt sich sagen: Sequentielle Lücken sind wunderbar, sequentielle Lückenlosigkeit ist realistisch.7 Die Demonstration der (angeblichen) sequentiellen Vollständigkeit der realistischen Basiserzählung ist daher eine geeignete Technik, das dominante realistische System zu stabilisieren. In Schnitzlers Casanovas Heimfahrt wird, abgesehen von Marcolina, die Einführung jeder wichtigen Figur, und sogar die einiger Randfiguren, mit einer detaillierten Analepse verbunden. Zu den Menschen, die in Olivos Haus verkehren, gehört ein gewisser Abbate Rossi, der von Casanova sofort als derselbe erkannt wurde, mit dem er vor siebenundzwanzig Jahren auf einem Marktschiff zusammengetroffen war, das von Venedig nach Chioggia fuhr. „Sie hatten damals ein Auge verbunden“, sagte Casanova, der selten eine Gelegenheit vorübergehen ließ, mit seinem vorzüglichen Gedächtnis zu prunken, „und ein Bauernweib mit gelbem Kopftuch empfahl Ihnen eine heilkräftige Salbe, die ein junger, sehr heiserer Apotheker zufällig mit sich führte.“ Der Abbate nickte und lächelte geschmeichelt. (244)

Das gleiche Verfahren kommt zur Anwendung, als Casanova die Bekanntschaft des Marchese Celsi macht, der sich selbst mit der biographischen Sequenz des Helden in Beziehung setzt: [I]ch will Ihnen nicht verhehlen, Herr Chevalier, daß es ein Traum meines Lebens war, mich mit Ihnen zu messen – sowohl im Spiel, als – in jüngern Jahren – auch auf andern Gebieten. Denken Sie übrigens, daß ich – wie lange mag es her sein? – daß ich in Spa genau an dem Tage, ja in der Stunde ankam, als Sie es verließen. Unsre Wagen fuhren aneinander vorüber. Und in Regensburg widerfuhr

6 7

Vgl. hierzu: Zimmermann 107f.; Durst, Phantastische Literatur 239-70. Die Vereinfachung dieser Aussage besteht in der Nichtberücksichtigung dreier Faktoren. Zum einen der Rolle der Markierung, denn auch in realistischen Texten treten in erheblichem Umfang sequentielle Lücken auf, ohne dass hierdurch ein wunderbares thematisches Material entstünde: nur eine sequentielle Lücke, auf die mit einem intra- oder intertextuellen Klassifikator der Realitätsinkompatibilität hingewiesen wird, ist realitätssystemisch aktiv. Zum anderen ist die Tatsache von Bedeutung, dass nicht jede sequentielle Lücke ein wunderbares thematisches Material generiert, sondern nur diejenigen, die durch den Ausfall einer Kardinalfunktion nicht lediglich in eine andere realismuskompatible Sequenz umgebildet werden. Zum dritten existieren neben dem in literarischen Texten wohl verbreitetsten Typ sequentieller Lücken, der syntagmatisch-subtraktiven Lücke (das Asturias-Beispiel), auch sequentiell-additive und paradigmatische Lücken (vgl. Durst, Phantastische Literatur 248-58).

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mir ein ähnliches Mißgeschick. Dort bewohnte ich sogar das Zimmer, das Sie eine Stunde vorher verlassen hatten. (257)

Eine Variante des Verfahrens wird bei der Einführung der Brüder Ricardi gebraucht: Die beiden Ricardi drückten ihr Entzücken aus, die Bekanntschaft des Chevaliers zu erneuern, mit dem sie in Paris vor Jahren zusammengetroffen waren. Casanova erinnerte sich nicht. Oder war es in Madrid? … „Das wäre möglich“, sagte Casanova, aber er wußte, daß er die beiden niemals gesehen hatte. (263)

Auch die fehlende Bekanntschaft mit Casanova verweist auf die realistische Basiserzählung. Es handelt sich lediglich um die Minusversion des Verfahrens. Jeder der zahlreichen Blicke, die in diesem Text in die Vergangenheit geworfen werden, behauptet die sequentielle Lückenlosigkeit der Basiserzählung, die hierdurch der realitätssystemischen Provokation durch die sequentiellen Lücken im subsystemischen Bereich trotzen kann. Ein anderes fakultatives Verfahren ist das der realitätssystemischen Ambivalentisierung, der phantastischen Unschlüssigkeit. In Effi Briest ist die binnenfiktionale Faktizität des subordinierten Wunderbaren mit einem Fragezeichen versehen. Vielleicht ist das Gespenst nur eine Inszenierung des hinterhältigen Ehegatten oder es entspringt einer familiären Neigung zum Alpdruck. Das subordinierte Fragezeichen zieht aber einen ganz anderen Effekt nach sich als in der phantastischen Literatur: Während eine phantastische Struktur im Bereich dominanter realitätssystemischer Strukturen die Kohärenz der erzählten Welt zerstört, schwächt sie im subordinierten Bereich das Wunderbare, indem sie es zu einer lediglich peripheren Eventualität degradiert. Die phantastische Unschlüssigkeit zeigt subsystemisch mithin einen markanten Funktionswandel: Sie stellt das dominante realistische System keineswegs in Frage, sondern stützt es sogar und trägt somit zur Immobilität des realistischen Texts bei. Ich habe hier leider nicht den Raum zur Verfügung, alle von mir untersuchten Verfahren eingehender darzustellen, etwa die realitätssystemisch relativ indifferente Erzählinstanz oder die realitätssystemische Unausformuliertheit des wunderbaren Subsystems, dessen Gesetze dem Leser weitgehend verborgen bleiben (man denke etwa an die unerzählte Geschichte des Chinesen und des schwarzen Huhns in Effi Briest 8). Auch das verbreitete Verfahren der Komisierung kann ich hier nicht beleuchten, das den Widerspruch zwischen der grundlegenden realistischen Eingestelltheit des Texts und seinem wunderbaren Subsystem bagatellisiert. Allgemein lassen sich jedoch zwei grundlegende Wirkprinzipien der Begrenzungsverfahren fest8

Auf den Zusammenhang mit dem begrenzten Wunderbaren hat bereits Reichelt aufmerksam gemacht (vgl. 212-15).

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stellen. Es handelt sich zum einen um Techniken, die auf eine Begrenzung der realitätssystemischen Konsequenzen des Wunderbaren gerichtet sind, zum anderen um Verfahren, die das Wunderbare selbst entwerten. 4. Funktionen Natürlich liegt die Frage nahe, aus welchen Gründen ein realistischer Text überhaupt auf das Wunderbare zurückgreift, wenn es für das realistische System prinzipiell eine Gefahr darstellt, die nur durch einen beachtlichen strukturellen Aufwand gebannt werden kann. Aufgrund der Existenz wunderbarer Subsysteme muss davon ausgegangen werden, dass diese vorzüglich geeignet sind, für das realistische System gewisse unverzichtbare Funktionen zu erfüllen. Eine dieser Funktionen besteht paradoxerweise darin, die konstitutive Wirklichkeitsbehauptung des Realismus zu untermauern. Die angewendete Strategie ist einem anderen, bekannteren Verfahren der Authentizitätsbehauptung analog, nämlich dem, Kunst als Kunst zu denunzieren, um die eigene Fiktion als ‚wirklich‘ auszugeben. Ebenso steigert das begrenzte Wunderbare den Realismus-Effekt der Basishandlung: Weil das Subsystem wunderbar ist, erscheint das Basis-System, das die Konventionen realistischen Erzählens wahrt, umso mehr als ‚Abbildung der Wirklichkeit‘. Eine zweite wesentliche Funktion sehe ich in der Entautomatisierung des realistischen Systems. Dem realistischen Text ist es gelungen, in solchem Maße die eigene Gemachtheit in Abrede zu stellen, dass über einen Automatisierungsprozess die Eigengesetzlichkeiten realistischer Realitätssysteme gegenüber der fiktionsexternen Wirklichkeit auf Seiten des Lesers in Vergessenheit geraten sind. Im realistischen Text bildet die erzählte Welt zudem eine tendenziell unmerkliche (künstlerisch inaktive) Struktur, da ihr, anders als etwa in der Phantastik, keine Gegenstruktur opponiert wird, was eine Nicht-Wahrnehmung (ein bloß unbewusstes Wiedererkennen) der realistischen Kunst begünstigt. Wunderbare Subsysteme stellen demgegenüber eine moderate Hervorhebung der realitätssystemischen Eigengesetzlichkeit des Textes dar, eine milde, aber gleichwohl verfremdende Bloßlegung künstlerischer Gemachtheit. Durch die Gegenüberstellung von realistischem System und wunderbarem Subsystem wird die erzählte Welt zu einer künstlerisch aktiven Struktur – ohne deren Eigengesetzlichkeit zugleich auf so drastische Weise zur Schau zu stellen, wie dies in der mobilen, vor allem aber in der phantastischen Literatur der Fall ist, wo die erzählte Welt gleichfalls eine künstlerisch aktive Struktur bildet.

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Es ließen sich noch eine ganze Zahl weiterer Funktionen des begrenzten Wunderbaren anführen, auf die ich hier nicht eingehen kann.9 5. Kritische Häufung Stattdessen komme ich zur Frage, was im Falle einer kritischen Häufung subordinierter Auftritte des Wunderbaren geschieht. Dieser Fall wird durch die Literatur des so genannten Magischen Realismus realisiert. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss ich einige Bemerkungen vorausschicken. Der Terminus ‚Magischer Realismus‘ ist vom deutschen Kunsthistoriker Franz Roh 1923 zur Beschreibung der nachexpressionistischen Malerei erfunden worden. Seither aber hat, wie Scheffel zu Recht feststellt, eine völlige Verunklärung und „Inflationierung des Begriffes“ stattgefunden: „[D]ie Häufigkeit seines Gebrauches [steht] im umgekehrten Verhältnis zur Klarheit seiner Bedeutung“ (1). Das terminologische Chaos ist, meines Eindrucks nach, sogar noch größer als in der Phantastikforschung, wo man, was die Verunklärung der Begrifflichkeiten angeht, ja schon hervorragende Leistungen vollbringt. Gleichwohl gibt es entwickelte literaturwissenschaftliche Untersuchungen, etwa die Amaryll Chanadys (1985), die zu Recht eine völlige Trennung zwischen der literaturwissenschaftlichen und kunstgeschichtlichen Begriffsverwendung befürworten. Sie beschreiben den Magischen Realismus in der Literatur als die Darstellung einer realistischen Welt, in der das Wunderbare ohne intratextuellen Klassifikator der Realitätsinkompatibilität10 erscheint. Das Wunderbare wird also (wie im Zaubermärchen) nur intertextuell als wunderbar klassifiziert, so etwa in Kafkas „Die Verwandlung“ (1915), Perutz’ Roman Die Dritte Kugel (1915) oder in verschiedenen Erzählungen Cortázars. Ich halte diese Definition für plausibel und gut verwendbar. Darüber hinaus kursieren aber sehr diffuse Vorstellungen von magischrealistischer Literatur, etwa dass in diesen Texten eine „Denkweise poetisch sichtbar [ge]macht [wird], an der die europäische Unterscheidung von Wirklichkeit und Überwirklichkeit, von Realismus und Phantastik [Wunderbarkeit], gleichsam lautlos zerschellt“ (Neumeister 372). Ja mehr noch: Zum Verständnis des Magischen Realismus sei es notwendig, sich von einer rational-wissenschaftlichen, europäisch-westlichen Denkweise zu lösen, „die ringsum […] Grenzen sieht“ (ebd. 371). Dergleichen ist schon deshalb Unsinn, weil die magisch-realistische Struktur zur Konstituierung des Wunderbaren eine intertextuelle Markierung der Realitätsinkompatibilität – und 9 10

Siehe Durst, Wunderbare 191-218. Der Begriff stammt von Marianne Wünsch (vgl. 36).

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folglich eine Beziehung zu den Konventionen des europäischen Realismus – voraussetzt. Zudem lassen sich in Texten, die gewöhnlich einem unklaren Konzept ‚magisch-realistischer Literatur‘ zugeordnet werden, etwa García Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit 11 (1967) oder Allendes Geisterhaus (1984), durchaus auch intratextuelle Klassifikatoren der Realitätsinkompatibilität nachweisen. Im Geisterhaus thematisiert der Erzähler schon auf den ersten Seiten die realitätssystemischen Probleme, die sich aus Claras telekinetischen Fähigkeiten ergeben: Bis zu jenem Tage hatten sie [die Familie del Valle] den Extravaganzen ihrer jüngsten Tochter keinen Namen gegeben, sie auch nicht mit Teufelswerk in Verbindung gebracht; sie nahmen sie hin als eine Besonderheit der Kleinen, wie das Hinken von Luís oder die Schönheit von Rosa. Claras Geisteskräfte störten niemanden und richteten keinen Schaden an, sie äußerten sich fast ausschließlich bei unwichtigen Anlässen und immer im Kreis der Familie. Manchmal, am Mittag, wenn alle im großen Eßzimmer, streng nach Rang und Würden geordnet, um den Tisch versammelt waren, begann das Salzfaß zu vibrieren und plötzlich zwischen Tellern und Gläsern über den Tisch zu wandern, ohne daß irgendeine bekannte Energiequelle oder ein Illusionistentrick im Spiel gewesen wäre. Nívea zog Clara einmal kräftig an den Zöpfen und erreichte damit, daß ihre Tochter die mondsüchtige Zerstreutheit auf- und dem Salzfaß die Normalität wiedergab, das sogleich in seine Bewegungslosigkeit zurückfand. (14)

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich, als habe eine Amalgamisierung12 wunderbarer und realistischer Systemkomponenten stattgefunden. Das Wunderbare wird als eine Eigenschaft ‚hingenommen‘, die sich kategoriell nicht von einer körperlichen Behinderung oder Schönheit unterscheidet. Es ist so normal und ‚unwichtig‘ wie die Ereignisse, bei denen es in Erscheinung tritt. In Wahrheit jedoch unterscheidet der Erzähler sehr genau zwischen der realistischen ‚Normalität‘ eines bewegungslosen Salzfasses und der Anormalität der Telekinese, und er weist auf die Wunderbarkeit des Vorgangs hin, indem er versichert, dass dieser weder auf eine ‚bekannte Energiequelle‘ noch auf ein Zauberkunststück zurückzuführen sei. Der Erzähler übernimmt somit die Funktion eines intratextuellen Klassifikators der Realitätsinkompatibilität. Die pauschale Kategorisierung des Texts als Manifestation der magisch-realistischen Struktur gibt daher die besondere 11 12

Aus Raumgründen verzichte ich im Folgenden auf den Nachweis entsprechender Strukturen in diesem Text. Siehe Durst, Wunderbare 260-314. Angel Flores beschrieb 1955 den Magischen Realismus als „amalgamation of realism and fantasy“ (112). Seitdem geistert der Begriff durch die Forschung, die ihn gern als Kurzbeschreibung magisch-realistischer Literatur gebraucht im Sinne einer ‚Vereinigung‘, einer nicht-hierarchischen, nicht-konfligierenden Koexistenz wunderbarer und realistischer Elemente. Ich werde im Folgenden zeigen, dass es eine solche Koexistenz auch im so genannten Magischen Realismus nicht gibt.

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Inszenierung einzelner wunderbarer Ereignisse ungerechtfertigterweise für den ganzen Text als typisch aus. Der Konflikt zwischen Realismus und Wunderbarkeit zeigt sich auch in den Strategien, die die Familie ersinnt, das Wunderbare zu vertuschen: Die Geschwister hatten sich dahingehend abgesprochen, daß, wenn ein Gast zugegen war, der Clara zunächst Sitzende mit raschem Zugriff festhielt, was sich etwa auf dem Tisch bewegte, ehe die Außenstehenden es bemerkten und darüber erschraken. Die Familie aß kommentarlos weiter. (14)

Das befürchtete Erschrecken vor dem Wunderbaren beruht auf dessen realitätssystemischem Skandalpotential. Dass die Familie ‚kommentarlos‘ das Mahl fortsetzt, ist ihr Versuch, den Verstoß gegen die Gesetze einer realistisch strukturierten Realität in Abrede zu stellen und systemische Weiterungen des Wunderbaren (die Generierung eigenwertiger Handlungsverläufe im Bereich der Basiserzählung) zu verhindern. Die Mutter sorgt sich zu Recht: Das Schlimme sei, daß, wenn ihre Tochter ihre Heldentaten erst einmal außer Haus vollbringe und der Pfarrer anfinge, der Sache auf den Grund zu gehen, alle Welt davon erfahre. „Die Leute werden kommen und sie angaffen, als ob sie ein Ungeheuer wäre“, sagte sie. (14f.)

Ich möchte hier nicht auf das Wechselspiel zwischen intratextueller Klassifikation und Nicht-Klassifikation des Wunderbaren eingehen und statt dessen auf die Tatsache aufmerksam machen, dass im Allendeschen Roman das Wunderbare einem realistischen Realitätssystem subordiniert ist. Die Basishandlung des Geisterhauses schildert, wie Esteban Trueba innerhalb weniger Jahre ein verwahrlostes Landgut, die Drei Marien, in einen profitablen Betrieb verwandelt, anschließend Clara del Valle heiratet und nach Santiago zieht. Seine Tochter Blanca verliebt sich in den Revolutionär Pedro Tercero García, woraufhin Trueba sie zur Ehe mit einem französischen Adligen zwingt. Trueba geht in die Politik, wird Senator und feiert den Staatsstreich Pinochets, bis Alba, Truebas Enkelin, wegen ihres Einsatzes für den Widerstand verhaftet und von einem illegitimen Enkel Truebas missbraucht wird. Trueba stirbt, nachdem er sich mit Pedro Tercero ausgesöhnt hat und es ihm gelungen ist, Alba freizubekommen. Dieser Basishandlung sind, wie in den oben angeführten Texten des Realismus und Naturalismus, wunderbare Handlungseinheiten untergeordnet, die von ihr sequentiell weitgehend isoliert werden. Sehr auffällig ist bereits, dass Claras wunderbare Fähigkeiten niemals einen Einfluss auf die Handlung der Basiserzählung ausüben. Tatsächlich ist das Wunderbare nur im Bagatellfall erfolgreich, eine Motivierungsrelevanz für die Basiserzählung bleibt dem Wunderbaren hingegen stets verwehrt. Ich führe einige Beispiele an. Zu Beginn des Romans prophezeit Clara die Ermordung

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ihrer Schwester Rosa: Es werde „im Haus abermals einen Toten geben […] ‚Aber es wird ein Tod aus Versehen sein‘“ (35). Kurz darauf erkrankt Rosa, man gibt ihr etwas von dem Likör, den der Vater anlässlich seiner Kandidatur für die Liberale Partei bekommen hat, und steckt sie ins Bett. Am nächsten Morgen ist Rosa tot. Im Likör entdeckt man ein Rattengift, das ein Attentäter offenbar dem Vater zugedacht hat. Die Undifferenziertheit der Prophezeiung (nicht einmal der Name des Opfers wird offenbart) verhindert alle Maßnahmen, die eine Rettung Rosas erreichen könnten, so dass das Wunderbare lediglich katalytischen Charakter besitzt und kein Scharnier der Handlung bildet. Dementsprechend wird auch Rosas Mörder nicht durch das wunderbare Subsystem ermittelt, sondern bleibt für immer unbekannt, wenngleich Clara in der Lage ist, hellseherisch den Mörder eines anderen Mädchens zu identifizieren: [W]er der Mörder des Schulmädchens war, wußte sie lange bevor die Polizei die zweite Leiche entdeckte, aber niemand schenkte ihr Glauben, und Severo wollte nicht, daß sich seine Tochter mit Angelegenheiten von Verbrechern befaßte, die nicht mit der Familie verwandt waren. (93)

Die realitätssystemischen Möglichkeiten des Wunderbaren bleiben konsequent ungenutzt, was an vielen Stellen durch die Machtarmut des wunderbaren Subsystems motiviert wird: Clara versucht, mit ihrer Tochter Blanca telepathisch zu kommunizieren, um die Verspätung postalisch übermittelter Nachrichten wettzumachen, aber die Telepathie funktionierte nicht immer, und auch auf den guten Empfang der Botschaften war kein Verlaß. Sie mußte feststellen, daß aufgrund unkontrollierbarer Interferenzen ihre Mitteilungen durcheinandergerieten und etwas ganz anderes suggerierten als das, was sie hatte vermitteln wollen. Überdies war Blanca für psychische Experimente wenig empfänglich, […] ihre moderne, pragmatische Art bildete ein arges Hindernis für die Telepathie. Schweren Herzens mußte sich Clara der konventionellen Methoden bedienen. (253)

‚Modernität‘ und ‚Pragmatismus‘ (d.h. die Konventionen realistischen Erzählens) begrenzen das Subsystem. Da das Wunderbare nicht kardinalfunktionell in Erscheinung tritt, besteht keine Möglichkeit, mit seiner Hilfe eine Änderung der Basiserzählung zu erreichen. „Deine Großmutter Clara […] hat mir aufgetragen, dir zu sagen, dass die Schutzgeister gegen Katastrophen größeren Ausmaßes machtlos sind“ (424), wird Alba belehrt. Das Geisterhaus ist kein Roman der Macht, sondern der Ohnmacht des Wunderbaren. Von einer nicht-hierarchischen Koexistenz realistischer und wunderbarer Ereignisse kann keine Rede sein. Die Machtarmut des wunderbaren Subsystems wird mehrfach thematisiert. Während Clara mit Trueba auf den Drei Marien lebt, sieht sie ein katastrophales Erdbeben voraus. Ihr Mann nimmt ihre Warnungen nicht ernst und wird unter den Trümmern des Hauses begraben, er überlebt

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schwer verletzt. „Der dreibeinige Tisch, ihr Geschick, aus den Teeblättern die Zukunft zu lesen, nutzten ihr nichts […], ihren Mann vor dem Tod […] zu bewahren“ (192). An einer späteren Stelle vergisst Clara, ein Erdbeben vorherzusagen, und ihr Sohn Jaime wird unter seinen herabstürzenden Büchern verschüttet: „Während Clara die Bücher abnahm, fiel ihr das Erdbeben wieder ein, und sie dachte, dass sie diesen Augenblick schon einmal erlebt hatte“ (257). Die demonstrative Gegenüberstellung der Ereignisse zeigt, dass das Wunderbare keinen Alternativpunkt in der Basiserzählung platziert: Ob eine Präkognition geäußert wird oder nicht, bleibt auf die Basishandlung ohne sequentiellen Effekt. Sind wunderbare Sequenzen aber einmal konsequentiell, sind selbst die Vertreter des Wunderbaren nicht bereit, sich seiner zu bedienen. Anstrengungen werden zwar unternommen, aber wieder eingestellt, sobald ein Erfolg sich zu zeigen beginnt. Clara und ihr Onkel Marcos versuchen beispielsweise, ihre hellseherischen Fähigkeiten zu nutzen und jedermann gegen Geld zur Verfügung zu stellen, woraus jedoch die Gefahr erwächst, dass das Wunderbare zu einer kardinalfunktionalen Einheit, zu einem Scharnier der Basiserzählung aufgewertet wird. Als sich die zwei Wahrsager darüber klar wurden, daß sie mit ihren Erfolgsrezepten Schicksale verändern konnten […], bekamen sie es mit der Angst zu tun und fanden, daß dies ein betrügerisches Geschäft sei. Sie gaben das Remisenorakel auf. (25)

Ungeachtet der Subordination wunderbarer Ereignisse hat deren kritische Häufung allerdings einen zerstörerischen Effekt auf das realistische System. Obwohl die Eindämmungsverfahren die realitätssystemischen Konsequenzen jedes einzelnen wunderbaren Ereignisses erfolgreich begrenzen, bleibt ihnen diese Wirkung in der Summe versagt. Auf diesem Wege vollzieht sich eine realitätssystemische Entgrenzung des Wunderbaren, das infolgedessen zu einer dominanten Struktur aufgewertet wird. Der dahinterliegende Mechanismus lässt sich folgendermaßen erläutern: Jedes wunderbare Ereignis basiert, wie oben dargestellt, auf einer sequentiellen Lücke, während realistische Systeme die Vollständigkeit ihrer Sequenzordnung behaupten. Je häufiger nun ein wunderbares Ereignis eintritt, desto mehr Lücken weist die sequentielle Struktur des Textes auf, was schließlich die Vollständigkeitsbehauptung des realistischen Systems widerlegt. Hierdurch wird das Wunderbare dominant, denn nur eine dominante Struktur des Wunderbaren ist fähig, eine hohe Zahl bloßgelegter sequentieller Lücken systemisch zu bewältigen. Dies wiederum bedingt eine Mobilität des Texts, er wandert von der realistischen zur wunderbaren Seite des realitätssystemischen Spektrums, was sich in Allendes Roman im finalen Entwurf einer alles integrierenden Mythologie der Prädestination manifestiert:

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Ich vermute, daß alles, was geschehen ist, kein Zufall ist, sondern zu einem Schicksal gehört, das vor meiner Geburt entworfen worden ist und daß Esteban García ein Teil dieses Entwurfs ist. Er ist ein roher, krummer Strich, aber kein Strich ist nutzlos. An dem Tag, an dem mein Großvater Esteban Garcías Großmutter Pancha in den Büschen am Fluß vergewaltigte, fügte er ein neues Glied an eine Kette von Ereignissen, die eintreffen mußten. Später wiederholte der Enkel der vergewaltigten Frau die Tat an der Enkelin des Vergewaltigers, und vielleicht wird in vierzig Jahren mein Enkel Esteban Garcías Enkelin in die Sträucher zerren, und so fort in künftigen Jahrhunderten, in einer endlosen Geschichte von Schmerz, Blut und Liebe. (500)

Der Text legt seine Poetik bloß, indem er sein realitätssystemisches Mobilitätsverfahren thematisiert. An einer Stelle wird davon erzählt, wie Trueba sein Haus in Santiago nach europäischen Vorstellungen errichten lässt: Trueba setzte sich an die Spitze einer Schwadron von Maurern, Zimmerleuten und Klempnern, um das solideste, größte und sonnigste Haus bauen zu lassen, das man sich denken konnte […]. Er beauftragte einen französischen Architekten mit den Entwürfen und ließ einen Teil der Materialien aus dem Ausland kommen: sein Haus als einziges sollte deutsches Glas haben, Säulensockel aus Österreich, englische Türgriffe, Fußböden aus italienischem Marmor, und die Sicherheitsschlösser wurden nach Katalogen in den Vereinigten Staaten bestellt und kamen mit geänderter Gebrauchsanweisung und ohne Schlüssel. Férula […] suchte ihren Bruder daran zu hindern, auch noch französische Möbel, Tränenlüster und türkische Teppiche zu kaufen, mit dem Argument, er werde sich ruinieren […], aber Esteban bewies ihr, daß er reich genug war, um sich diesen Luxus leisten zu können […]. [Trueba fand] sein Haus müsse wie die neuen Villen in Europa und Nordamerika gebaut werden, zwar im klassischen Stil, aber doch mit allen Bequemlichkeiten. Und es sollte möglichst wenig von der einheimischen Architektur haben: er wollte keine drei Patios, keine Galerien und verwitterten Brunnen, keine dunklen Zimmer, keine gekalkten Lehmwände noch staubige Ziegelmauern, sondern zwei oder drei hohe Stockwerke, dazu weiße Säulen, eine herrschaftliche, halb um die eigene Achse schwingende Treppe, einmündend in eine Halle aus weißem Marmor mit großen, lichten Fenstern, alles in allem ein Haus, das den Eindruck von Ordnung und Harmonie, Schönheit und Zivilisation vermitteln sollte, wie das in anderen Ländern üblich und seinem neuen Leben angemessen war. Es sollte ein Spiegel seiner selbst […] sein […]. Da er wünschte, daß die Pracht schon von der Straße aus zu sehen sei, ließ er einen französischen Park entwerfen, mit einer Zeltlaube à la Versailles, mächtigen Steinvasen, perfekt geschorenem Rasen, Springbrunnen und Statuen, die olympische Götter darstellen sollten […]. (110f.)

Zwei Paradigmen werden definiert und einander gegenübergestellt. Das eine enthält die chilenische Baukunst mit ihren ‚dunklen Zimmern‘, das andere die ‚lichte‘ Architektur Europas und Nordamerikas. Das zweite Paradigma integriert weitere Elemente, darunter ‚Ordnung‘, ‚Harmonie‘ und ‚Zivilisation‘. Der französische Park mit seiner einem geometrischen Muster unterworfenen Natur verweist auf jene Rationalität, die man in der Theoriegeschichte mobilen Erzählens gern realistischen Texten unterstellt

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hat.13 Dem Paradigma der chilenischen Architektur werden implizit die Gegenbegriffe zugeordnet: Chaos, Disharmonie, Irrationalität usw. Trueba ist ein Vertreter des realistischen Systems.14 Seine architektonischen Wünsche sollen die ‚Herrschaft‘ des Realismus auf ‚solideste‘ Weise manifestieren. Allerdings ist die realistische Basisrealität ein anfälliges System, dessen ‚Sicherheitsschlösser‘ ohne ‚Schlüssel‘ und ‚Gebrauchsanweisung‘ nicht in der Lage sind, die ‚rationale‘ Architektur zu schützen. Die ‚irrationale‘ Bauweise des Wunderbaren, die ‚möglichst wenig‘ in Erscheinung treten soll, vernichtet allmählich die realistische Ordnung. Trueba konnte nicht wissen, daß dieses feierliche würfelförmige Haus, das solide und selbstzufrieden wie ein Hut in der grünen Geometrie des Gartens saß, nach und nach Auswüchse und Anhängsel bekommen würde, Wendeltreppen, die nirgendwo hinführten, gewaltige Türme, riesige Fenster, die sich nicht öffnen ließen, Türen, die ins Leere mündeten, gewundene Gänge und Fensterluken zwischen den Schlafzimmern […], je nach den Einfällen Claras, die bei jedem neuen Gast, den sie unterbringen mußte, irgendwo ein Zimmer anbauen oder, wenn die Geister ihr anzeigten, daß in den Grundmauern ein Schatz oder ein unbeerdigter Leichnam lag, eine Mauer einreißen ließ, bis die Villa ein verwunschenes, unmöglich sauberzuhaltendes und gegen zahlreiche Gesetze und Bauvorschriften verstoßendes Haus wurde. (111)

Die ‚selbstzufriedene‘ Architektur des realistischen Systems wird mit wunderbaren ‚Anhängseln‘ verunstaltet, die die ‚Gesetze und Bauvorschriften‘ realistischen Erzählens verletzen und für den Realismus keinen Sinn ergeben (wohl aber für das Wunderbare, das selbst Systemcharakter besitzt). Durch die wunderbaren Wucherungen verkommt die Basisrealität schließlich zur bloßen Fassade, so dass sich das Gebäude

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Todorov spricht von rationalen Texten, wenn er die realistische Literatur meint: Das Wunderbare sei nicht „rational“ (41), es biete „der Vernunft die Stirn“ (45). Der Leser einer mobilen Erzählung, behauptet Finné, verspüre „une crispation de son rationalisme, une insulte à son bon sens, un bafouage de sa logique“ (36). Döring (1987) sieht das Kriterium der phantastischen Literatur (historisch-maximalistischer Definition) darin, „dass der Leser nach der Lektüre nicht in der Lage sein sollte, den in der Fiktion aufgetretenen Riss [den Einbruch des Wunderbaren ins individuelle, bisher realistische Realitätssystem] mit Hilfe einer kulturell sanktionierten, rationalen Erklärung zu überwinden“ (17). Die Heranziehung von Begrifflichkeiten wie ‚Rationalität‘ und ‚Empirie‘ zur Beschreibung realistischer Systeme ist in der Phantastikforschung bedauerlicherweise allgemein üblich, obschon hierdurch die Eigengesetzlichkeit des literarischen Systems negiert wird. Als solcher ist er sorgsam bemüht, das Wunderbare zu begrenzen. Zwar gestattet er seiner Frau, die spiritistischen Schwestern Mora zuhause zu empfangen, fordert aber, „[…] sie sollten diskret sein: er wünschte kein öffentliches Ärgernis“ (148); als Clara hellseherisch den bei einem Autounfall abgetrennten und verlorenen Kopf ihrer Mutter findet, befürchtet Trueba „den Skandal, wenn öffentlich bekannt wurde, auf welche Weise der Kopf, an dem die Spürhunde versagt hatten, von Clara gefunden worden war“ (146); als Clara ankündigt, sie werde nun vor den Augen zahlreicher Passanten „aufschweben“, erschrickt der Gatte bei dem Gedanken an das Aufsehen, das hierdurch erregt würde (134).

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am Ende als ein riesiges Labyrinth präsentierte. […] Die Fassade des Hauses blieb erhalten. Vorne sah man noch die edlen Säulen und den Garten à la Versailles, aber nach hinten zu verlor sich der Stil. Der rückwärtige Teil des Gartens war ein undurchdringlicher Urwald, in dem alle möglichen Pflanzen und Blumen ungehindert wucherten […]. (260f.)

‚Nach hinten zu‘ – mit zunehmender Länge des Syntagmas – wird das realistische System überwunden. 6. Schluss Die in der Forschung oft vertretene These von der nicht-konfligierenden Koexistenz wunderbarer und realistischer Elemente im so genannten Magischen Realismus ist offensichtlich genauso wenig zu halten, wie dies beim Bürgerlichen Realismus der Fall wäre. Der Aberglaube von der Fusion und Gleichwertigkeit, der ‚Amalgamisierung‘ wunderbarer und realistischer Handlungseinheiten verkennt den strukturellen Aufwand der Begrenzung und beruht auf einem falschen, oberflächlichen Eindruck, der sich aus dem gehäuften Hervortreten des wunderbaren Subsystems ergibt. Das Wunderbare, das in Texten der Bürgerlichen Realisten eine subordinierte und fakultative Struktur darstellt, entgrenzt sich zu einer dominanten strukturellen Einheit. Mithin stellt das entgrenzte Wunderbare nichts grundlegend Neues dar, sondern beruht auf dem radikalen Auftritt von Strukturen, die bereits im Bürgerlichen Realismus vorhanden gewesen sind. Literaturverzeichnis Allende, Isabel. Das Geisterhaus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989. Asturias, Miguel Angel. Die Maismänner. Berlin (Ost): Volk und Welt, 1985. Barthes, Roland. „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“. Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 102-43. Brontë, Charlotte. Jane Eyre. Novels of the Sisters Brontë. Hg. Scott Temple. Thornton Edition. Edinburgh: John Grant, 1924. Chanady, Amaryll Beatrice. Magical Realism and the Fantastic: Resolved Versus Unresolved Antinomy. New York: Garland, 1985. Cortázar, Julio. Bestiarium: Erzählungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979. Dostojewskij, Fjodor. Verbrechen und Strafe. Frankfurt/M.: Fischer, 1996. Döring, Ulrich. Reisen ans Ende der Kultur: Wahrnehmung und Sinnlichkeit in der phantastischen Literatur Frankreichs. Frankfurt/M.: Lang, 1987.

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Durst, Uwe. Das begrenzte Wunderbare: Zur Theorie wunderbarer Episoden in realistischen Erzähltexten und in Texten des ‚Magischen Realismus‘. Berlin: Lit, 2008. —. Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit, 2007. Freytag, Gustav. Soll und Haben: Roman in sechs Büchern. München: Hanser, 1977. Finné, Jacques. La littérature fantastique: Essai sur l’organisation surnaturelle. Brüssel: Editions de l’Université Bruxelles, 1980. Flores, Angel. „Magical Realism in Spanish American Fiction“. Magical Realism: Theory, History, Community. Hg. Lois Parkinson Zamora und Wendy B. Faris. Durham: Duke UP, 1997. 109-17. Fontane, Theodor. Effi Briest. München: dtv, 1995. García Márquez, Gabriel. Hundert Jahre Einsamkeit. München: dtv, 1987. Neumeister, Sebastian. „Die Auflösung der Phantastik: Epistemologische Anmerkungen zu Gabriel García Márquez’ Roman ,Cien años de soledad‘ (‚Hundert Jahre Einsamkeit‘, 1967)“. Phantastik in Literatur und Kunst. Hg. Christian W. Thomsen und Sebastian Neumeister. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980. 369-84. Ostrowski, Witold. „The Fantastic and the Realistic in Literature: Suggestions on how to define and analyse fantastic fiction“. Zagadnienia rodzajow literackich. 9.1 (1966): 54-71. Perutz, Leo. Die dritte Kugel. Wien: Zsolnay, 1994. Reichelt, Gregor. Fantastik im Realismus: Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane. Stuttgart: Metzler, 2001. Scheffel, Michael. Magischer Realismus: Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung. Tübingen: Stauffenburg, 1990. Schnitzler, Arthur. Casanovas Heimfahrt. Gesammelte Werke:Die Erzählende Schriften. Band 2. Frankfurt/M.: Fischer, 1981. 231-323. —. „Die Weissagung“ Gesammelte Werke: Die Erzählenden Schriften. Band 1. Frankfurt/M.: Fischer, 1981. 598-619. Schröder, Stephan Michael. Literarischer Spuk: Skandinavische Phantastik im Zeitalter des Nordischen Idealismus. Berlin: Freie Universität, 1994. Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt/M.: Fischer, 1992. Wünsch, Marianne. Die fantastische Literatur der frühen Moderne (1890-1930): Definition; Denkgeschichtlicher Kontext; Strukturen. München: Fink, 1991. Zimmermann, Hans Dieter. Trivialliteratur? Schema-Literatur!: Entstehung, Formen, Bewertung. Stuttgart: Kohlhammer, 1982.

GRENZGÄNGER DER FANTASTIK

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen PAMELA STEEN Fantastic Fictions in Everyday Conversations ‘Strange Worlds’ are distant and miraculous places, to which we can get by using our imagination, places built by an author in a book or a film. By traveling to them in our mind we are separating our everyday life from this world, moving from one reality space to another (cf. Berger and Luckmann). This paper, which uses the methods of conversational analysis, shows how and for which purposes people build strange worlds, i.e.: fantastic fictions in a communicative and interactive way. Therefore, the term ‘fantastic fiction’ will be distinguished from other phenomena of fictionalization in talk, and characteristics of this category will be elaborated. Furthermore, for this intent Durst’s Theorie der phantastischen Literatur will serve as a theoretical foundation for further interpretation.

1. Theoretische Vorbemerkungen 1.1 Fiktionalisierung in Alltagsgesprächen Der Mensch, so schreibt Iser, ist ein „fiktionsbedürftiges Wesen“ (21). Tatsächlich sind Erfindungen, geteilte Imaginationen in Alltagsgesprächen gar nicht so selten, obwohl soziale Interaktionen je nach Situation und Kontext einen unterschiedlichen ‚Spielraum‘ für Fiktionalisierungen lassen.1 Zwar sind die theoretischen Ansätze zur Fiktionalität in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse unterschiedlich in Hinblick auf ihre Schwerpunktsetzung,2 doch postulieren die meisten Autoren die Wesensmerkmale 1

2

So sind Fiktionalisierungen kaum in institutionellen Kontexten anzutreffen, weil dort eher eine ernsthafte Interaktionsmodalität vorherrscht. Zum Begriff der ‚Interaktionsmodalität‘ siehe Kallmeyer, der damit die Verfahren meint, „die einer Darstellung, Handlung oder Situation eine spezielle symbolische Bedeutsamkeit verleihen, und zwar mit Bezug z.B. auf eine besondere Seinswelt wie Spiel oder Traum, auf Wissen und Intention der Beteiligten oder auf eine institutionelle Situation.“ (556); Vgl. den Begriff des ‚Rahmens‘ bei Goffman. Gattung mit Spielcharakter in Verbindung mit Humor und Scherzreden (Kotthoff „Gemeinsame Herstellung“), im Kontext biografischer Alltagserzählungen (Bergmann, Stempel),

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humorvolle Interaktionsmodalität sowie Etablieren eines Spielrahmens für die konversationelle Herstellung von Fiktion. Diese Charakteristiken weisen auch die für diesen Beitrag herangezogenen Gesprächsbeispiele auf. Tritt Fiktionalität in Interaktionen auf, so modulieren die Teilnehmer den logischen Weltbezug von Sprache (vgl. Kotthoff, Spaß Verstehen 166; Streeck 579). Fiktionalisierung ist somit ein komplexer interaktiver Vorgang, mit dem ein spielerischer Kontext generiert wird, der einen alternativen Interpretationsrahmen bietet (vgl. Bange). Dass Fiktionalität überhaupt eine relevante, untersuchenswerte Kategorie nicht nur für die Literaturwissenschaft, sondern auch für die Konversationsanalyse ist, stellen Stempel sowie Bange bereits Anfang der 1980er Jahre fest, da Literatur kein prinzipiell andersartiges Kommunikationssystem als das Alltagsgespräch sei. Dieser Auffassung ist prinzipiell zuzustimmen, jedoch ergeben sich, wie später noch erläutert wird, zum Beispiel im Hinblick auf die Referenzialität von Zeichen, unterschiedliche Ausgangssituationen. Mit Bezug auf den Begriff ‚Fantastik‘ zeigt sich, dass dieser auch im 21. Jahrhundert noch nicht übereinstimmend definiert ist. So gibt es literaturwissenschaftlich noch immer Schwierigkeiten einer Abgrenzung des Genres; mit der Hinzunahme weiterer Medien bzw. Realisierungsmöglichkeiten wie Film, Computerspiele, Pen-and-Paper- oder Live-Rollenspiele wird das Phänomen komplexer, entstehen neue Herausforderungen in der wissenschaftlichen Erforschung von Fantastik. Auch an dieser Stelle soll keine allgemeingültige Definition von ‚Fantastik‘ gegeben werden, sondern es werden Kriterien für fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen anhand exemplarischer Gesprächsbeispiele mit der Methode der Konversationsanalyse emisch ermittelt. Das heißt: Fantastisch ist, was die Sprecher kommunikativ als fantastische Fiktion herstellen und sich gegenseitig als solche anzeigen. Für die späteren Gesprächsanalysen werden drei integrative Ebenen der Untersuchung bestimmt: Inhalt bzw. semantischer Gehalt, sprachliche Form sowie kommunikative Funktion der Fiktion. Die Perspektive auf den semantischen Gehalt berührt die Frage nach der Referenz. Hierfür muss zunächst erläutert werden, welche Rolle Referenzialität generell für eine konstruktivistische Auffassung von Sprache spielt und wie mit diesem Kriterium eine Abgrenzung fantastischer Fiktion von anderen Alltagsfiktionen erreicht werden kann.

in Verbindung mit Poetischem in der Alltagssprache (Schwitalla) sowie mit animierter Rede (Ehmer).

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

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1.2 Semantische Klassifikation Die Wirklichkeit, wie wir glauben, sie zu kennen, ist aus Sicht einer sich dem Konstruktivismus verpflichteten Konversationsanalyse die soziale Wirklichkeit, die die Akteure in sozialen Situationen selbst hervorbringen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird, wie fiktive Welten auch, als intersubjektiv und konstruiert, das heißt als ausgehandelt verstanden (vgl. Berger und Luckmann). Was wir als Realität wahrnehmen, ist „eine durch das menschliche Kognitionssystem konstruierte und damit intern erzeugte Welt“ (Schwarz 174). Sprache spielt in diesem Prozess eine wesentliche Rolle.3 Konstruierte Wirklichkeiten sind nun als fiktional zu bestimmen, wenn Sprecher bewusst gegen die Konvention, was als wirklich zu verstehen ist, verstoßen, diese aber innerhalb eines Spielrahmens kurzzeitig als real annehmen (vgl. Ehmer). Mit Weidacher (133), der sich in seiner textlinguistischen Fiktionalitätstheorie unter anderem auf Dietrich (29) bezieht, wird davon ausgegangen, dass Äußerungen eine fiktive Referenz haben, wenn sie sich auf eine „nicht-klassische“ Welt beziehen. Auch literaturwissenschaftliche Vertreter einer noch maximalistischen Genredefinition untersuchen literarische Elemente daraufhin, ob sie mit empirischen (zeitgenössischen) Gesetzmäßigkeiten der klassischen Welt brechen. So definiert Vax das Fantastische als „Einbruch des Übernatürlichen in die Natur“ bzw. in die „Alltagswelt“ (12). Die moderne Literaturtheorie vernachlässigt derlei „harte Referenzen“ und fokussiert stattdessen innersystemische Gesetzmäßigkeiten, da jeder literarische Text stets „Konstruktion und Spiel“4 zugleich ist. Für gesprächslinguistische Untersuchungen ist ein solcher Abgleich mit der Wirklichkeit dennoch adäquat, weil sich Alltagsfiktionen stets von der sozialen Wirklichkeit abheben, vor deren Folie sie konstruiert werden. In der alltäglichen Gesprächssituation regiert nicht die ästhetische Erfahrung, sondern es besteht im Allgemeinen die Verpflichtung zur Aufrichtigkeit und Wahrheit (vgl. Stempel) und zur Kooperation (vgl. Grice). Daher lässt sich für Alltagsfiktionen in Gesprächen durchaus bestimmen, inwiefern sie sich semantisch betrachtet von der Alltagswirklichkeit entfernen. Es kann danach gefragt werden, ob sie sich eher dem Pol einer möglichen Welt und damit einer „realistischen Fiktion“ (Searle 95) nähern oder dem Pol einer unmöglichen Welt mit gänz3

4

Die sprachliche Referenz auf außersprachliche Objekte sowie vorgestellte und erinnerte Entitäten hängt ab von ihrer Determination durch die lexikalischen, konventionellen Bedeutungen von Wörtern sowie vom Gebrauch der Sprache in bestimmten Situationen (vgl. Schwarz 175). Ejchenbaum (151; zitiert in Durst 81). Durst postuliert, dass auch nicht-fantastische Texte mit Fiktionalisierungen arbeiten, dass jede narrative Literatur Fiktion ist und koppelt fantastische Literatur von den Gesetzen der außerliterarischen Wirklichkeit ab.

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lich wunderbaren Elementen, wobei es für diese Bestimmung nicht notwendig ist, eine exakte Verortung auf dieser Skala vorzunehmen:

realistisch

absurd Abb. 1:

fantastisch

wunderbar

Skala der Alltagsfiktionen

Die Abgrenzung der Alltagsfiktionen voneinander folgt also dem Kriterium, in welcher Weise mit der Realität gebrochen wird, bzw. wie stark inkompatibel die Fiktion mit der (von den Gesprächsteilnehmern angenommenen) Realität ist. Hieraus ergibt sich das Kontinuum realistisch – absurd – fantastisch – wunderbar. Realistische Fiktionen beinhalten nur Elemente, die in der Alltagswirklichkeit möglich sind; absurde Fiktionen bewegen sich auf dem Kontinuum in Richtung mögliche Welt, enthalten Elemente, die prinzipiell noch realisierbar, nach dem gesunden Menschenverstand aber widersinnig sind; fantastische Fiktionen nähern sich dem Pol einer unmöglichen Welt, da sie neben realistischen Elementen auch wunderbare aufweisen; erzählte Märchen etwa beinhalten überwiegend wunderbare Elemente, weshalb sie als unmögliche Welt bestimmt werden. Zunächst werden nun einige exemplarisch dokumentierte5 Gesprächsausschnitte, in denen Akteure fiktionale Äußerungen realisieren, hinsichtlich ihres semantischen Gehalts geprüft und miteinander verglichen. Im Anschluss werden an drei Beispielen detaillierte Gesprächsanalysen durchgeführt, um Wesensmerkmale fantastischer Alltagsfiktionen herauszuarbeiten. Das Gesprächsmaterial hierzu stammt aus einem selbst erstellten, insgesamt 16-stündigen Korpus offener, dynamischer Videoaufnahmen. Die männlichen Akteure (ca. 28-65 Jahre) sind Nachbarn bzw. Freunde, die sich regelmäßig und zwanglos auf einem Platz in Hamburg zum Small Talk und Biertrinken treffen. 1.3 Fantastisch vs. absurd Die sechs folgenden Beispiele für Fiktionalisierungen werden zunächst unabhängig von ihrem interaktiven Kontext zur besseren Übersicht in komprimierter Form vorgestellt und anschließend auf ihren semantischen Gehalt hin untersucht. Hierbei zeigt sich, dass die Beispiele sich aufgrund 5

Die Transkription in literarischer Umschrift wurde mit dem Partitur-Editor EXMARaLDA und nach dem Partiturblockverfahren (HIAT = HalbInterpretative ArbeitsTranskription; vgl. Ehlich und Rehbein; Ehlich; Steuble) durchgeführt.

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ihrer ‚Bindung‘ an die Alltagswirklichkeit unterscheiden, nämlich darin, ob die Fiktionen möglich oder unmöglich sind. 1. „Extra Pille“ 1 2 3 4 5 6 7 8

Jg: du bereitest dich langsam aufn winterschlaf vor oder was Hn: ja ich hab doch sone sone weißt du doch sone extra pille weißt du Jg: =hm= Hn: drei monate denn ausschlaf Jg: =lacht= Hn: so geld is auf konto (weiß was) und =th= irgendwann klingelt denn der wecker wenn die pi_ wenn die wirkung zu ende is nä jo dann steh ich auf und dann geh ich zur post und hol die kohle ab

2. „Japanische Seilnerven“ 1 Hn: ich hab mir jetzt die japanischen seilnerven geholt weiß was die sind etwas dehnbarer nä die 2 andern die koreanischen sind immer so: (illustriert gestisch ein Gummiband mit den Händen) 3 strapazierfähig die andern sind da geht mehr drauf oder was

3. „Bräunungstee“ 1 2 3 4 5 6

Hn: du musst das so machen wie ich ich trink immer jeden morgen bräunungstee =lacht= ja diese aus dem glas so so ein löffel was so nä weißt heißwasser so […] Hn: ab und zu mach ich noch n bisschen milch rein damit das nicht zu krass wird weißt du Jg: heißt das du wars in urlaub oder so Hn: juhu ich war wieder auf mallorca du

4. „Bäume versetzen“ 1 2 3 4 5 6

Hn: bei klein ein einfach so langweilig nä nur hier rumzustehen mal was neues einfalln lassen […] jo watt weiß ich Jg: wolln wir hier anfang rumzubrülln Hn: die bäume n bisschen versetzen ganz normal =lacht= Jg: ich fang schon mal an die pflastersteine zu versetzen dann haben sie nächstes jahr weniger zu tun ist schon alles fertig

5. „Gulasch machen“ 1 Hn: wo du gerade sachst du kennst mich doch was sone katze isst so brekkies so so felix alles wat 2 dat gibt möcht ich mal probiern 3 Jg: die schmeckn 4 Hn: ob dat schmeckt das is ganz ohne quatsch 5 Jg: das astreine ware is das […] 6 Hn: damit ich weiß was sie überhaupt frisst bloß an dosenfutter bin ich noch nicht rangegangen 7 Jg: kannst draus gulasch machen das schmeckt auch 8 Hn: ja das schon klar is mir klar da machst du doch wieder sone weiß was knoblauchsauce zu 9 Jg: aber was hast du denn gedacht

6. „Teller essen“ 1 Rn: hab ich n teller davon gegessen 2 Hn: was ein teller hat er gegessen 3 Jg: ein teller jetzt ham die wieder ein teller weniger 4 Hn: =lacht= […] 7 Jg: deinetwegen hat die kirche jetzt wieder ein teller weniger […] 14 Hn: und nach was hat denn der teller geschmeckt

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Die Beispiele haben einige Merkmale miteinander gemeinsam. Erstens tun die Sprecher mit ihren geäußerten Redebeiträgen so, als ob es sich bei deren Inhalten um Tatsachen handelt (vgl. Ehmer), denn alle Fiktionen werden als Behauptungen im Indikativ, nicht als Wünsche im Konjunktiv geäußert: „ich trink immer jeden morgen bräunungstee“ (3/1); Hn besitzt auch eine extra Pille und Seilnerven; Hn und Jg halten sich für fähig, Bäume und Pflastersteine zu versetzen; Jg macht eine Knoblauchsauce zum Katzenfutter-Gulasch; Rn hat einen Teller gegessen. Zweitens übernehmen die Sprecher das Ideen-Material für ihre Fiktionen aus der Alltagswirklichkeit, aus ihren unmittelbar zuvor erlebten kontextualisierten Alltagserfahrungen (Ärger, Essen, Langeweile etc.), weshalb diese als Alltagsfiktionen zu charakterisieren sind. Fiktional sind alle geäußerten Vorstellungen deshalb, weil eine „Auskopplung vom Alltag“ (Bange 126) stattfindet und eine neue Welt erschaffen wird. Drittens lassen die fiktiven Dinge und Sachverhalte (mit Ausnahme des Teller-Essens) die Alltagswirklichkeit erträglicher erscheinen, wenn zum Beispiel das Geld auf dem Konto liegt und der kalte Winter verschlafen wird. Es wird nun überprüft, ob sich aus diesen Beispielen Fiktionen herauslösen lassen, die aufgrund ihrer Semantik der Kategorie ‚fantastische Fiktion‘ zugeordnet werden können. Zunächst einmal sind „Bäume versetzen“ (4), „Gulasch machen“ (5), „Teller essen“ (6) Fiktionen, die wie in Abbildung 1 auf der linken Seite einer semantischen Skala anzusiedeln sind. Sie eröffnen prinzipiell Interpretationslücken in Richtung Alltagswirklichkeit: Bäume und Pflastersteine könnten zusammen mit Freunden versetzt werden, Gulasch aus Katzenfutter verstieße lediglich gegen die Sitten des guten Geschmacks, selbst Teller ließen sich essen, wie manche ‚Varietékünstler‘ beweisen. Diese Fiktionen lassen gedanklichen Spielraum zur alltagsweltlichen Umdeutung, in denen sie als ernst gemeinte Überlegungen interpretiert werden könnten, auch wenn sie in der Situation scherzhaft gemeint sind. In diesen Fiktionen wird die Realität zwar erweitert, jedoch bleiben ihre (empirischen) Gesetze unberührt. Diese Fiktionen sind absurd, aber nicht fantastisch. „Extra Pille“ (1), „Japanische Seilnerven“ (2) und „Bräunungstee“ (3) hingegen brechen in ihrer Fiktivität mit dem Alltagswissen über das, was möglich ist. Es sind Wundermittel, keine absurden Vorstellungen. Sie sind aufgrund ihrer eigentlichen Unvorstellbarkeit bzw. Unmöglichkeit in unserem gemeinsamen Wissensvorrat konventionell als wunderbar abgespeichert und werden dadurch prinzipiell wieder vorstellbar. Mit anderen Worten: Das konventionell Unvorstellbare lässt in ihnen eine interpretative Lücke aufklaffen, die nicht durch Möglichkeiten aus der Alltagswirklichkeit, sondern nur durch das Unmögliche, Unbestimmbare, eben das Wunderbare aufgefüllt werden kann.

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Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

R

F

R

Abb.2: realistische und absurde Fiktionen

R

F

W

Abb.3: fantastische Fiktionen

Während realistische und absurde Alltagsfiktionen gleichsam eine zirkuläre Struktur aufweisen, indem sie aus dem Material der Alltagswelt (R) entspringen, und die Fiktion (F) auf eine mögliche realistische Alltagswelt (R’), die nun transformiert ist, zurückverweist (Abb. 2), verweisen fantastische Fiktionen (Abb. 3) auf eine unmögliche Welt des Wunderbaren (W).6 Auf diese Welt des Wunderbaren wird in den Beispielen, wie die Analysen zeigen werden, nicht explizit verwiesen, sondern sie zeigt sich durch narrative Leerstellen: So bleibt Hn die Erklärung schuldig, wie er an die Wundermittel gelangt ist oder wie diese wirken, obwohl gerade für Geschichten, in denen für Hörer etwas Neues eingeführt wird, derartige Informationen besonders relevant sein dürften. Es stellt sich die Frage, ob diese Leerstellen semantisch bestimmt werden können, obwohl sie gleichsam auf ein Nichts referieren, das aber ebenso sicher aus nichts Möglichem besteht. Ein Gedankenspiel: Hn könnte die Seilnerven von japanischen Händlern gekauft haben, die auch ‚große Herzen‘ und ‚Wechselbäderpackungen für Gefühle‘ vertreiben. Obwohl in der Phantasie prinzipiell auffüllbar, ist der Gehalt dieser narrativen Leerstellen gesprächslinguistisch nicht zu rekonstruieren, ja es ist nicht einmal relevant, ob Sprecher und Hörer sie in Gedanken auffüllen. Bedeutsam ist vielmehr gerade, dass die Tatsache der Leerstelle, im Grice’schen Sinne also eine Verletzung der Maxime der Quantität, nicht thematisiert oder problematisiert wird. Das Wunderbare wird vom Gesprächspartner stillschweigend inferiert. Dies liegt offenbar an den konventionalisierten wunderbaren Motiven und Strukturen, d.h. dem wunderbaren System, das sie generieren, und für dessen Rezeption wir in der Kindheit in der Begegnung mit Märchenwelten eine Kompetenz erworben haben. Wir erkennen fremde Welten und akzeptieren sie als unmögliche Parallelwelten. Und wir erkennen, dass Sprecher überhaupt fiktionalisieren.7 Wenn das Erkennen einmal nicht gelingt (siehe die Analyse zu „Bräunungstee“ unten) ist die Konstruktion dieser Parallelwelt entweder einseitig und damit 6 7

Bei Durst besteht das „narrative Spektrum“ (89) analog aus einem regulären System, das die Normrealität darstellt (R) und einem wunderbaren System (W). Das Fantastische liegt wie hier in Abb. 3 als „Nichtsystem N“ in der Mitte zwischen R und W. Wie bereits vorliegende gesprächsanalytische Arbeiten gezeigt haben, geht es in Fiktionalisierungen auch darum, in die Aktivität des Fiktionalisierens einzusteigen (Kotthoff; Ehmer). Dass dies jedoch nicht immer möglich oder erwünscht ist, zeigen die Ausführungen unten.

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gescheitert oder kann andere Funktionen erhalten, wie zum Beispiel zum Aufhänger für die Konstruktion einer In-Group werden. Welche weiteren Merkmale lassen sich neben der Referenz auf Unmögliches und die Auslassung bestimmter narrativer Elemente finden? Mit den nun folgenden exemplarischen Konversationsanalysen kann diese Frage zwar nicht erschöpfend beantwortet werden, es können jedoch im Vergleich mit der literaturwissenschaftlichen Fantastik-Theorie sowie unter Verwendung des Konzeptes der mentalen Räume aus der kognitiven Semantik einige wesentliche Aspekte der Funktions- und Wirkungsweise der Fiktionen herausgestellt werden. In Anlehnung an Uwe Dursts literaturwissenschaftliche Auffassung von Fantastik als einem „Nichtsystem“ zwischen einer „Normrealität“ und einem „wunderbaren System“ (89f.), das mit der obigen Skala der Alltagsfiktion vergleichbar ist, wird gezeigt, dass innerhalb der fantastischen Fiktion „ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätsystem in Frage“ (101) gestellt wird. Es ist nun im Folgenden interessant, mit welchen sprachlichen Mitteln Akteure fantastische Fiktionen entwerfen, das heißt, welche Strategien zu beobachten sind, mit denen interaktiv Verständigung gesichert wird und lokale kommunikative Probleme gelöst werden. 2. Gesprächslinguistische Detailanalysen 2.1 Wirklichwerden des Metaphorischen Als erstes wird das Beispiel „Japanische Seilnerven“ analysiert, wobei der Schwerpunkt auf die Technik zur Herstellung fantastischer Fiktionen gelegt wird. In der folgenden Gesprächssituation stehen Hn (58 Jahre) und sein Freund Jg (ca. 60 Jahre) auf dem Platz und beobachten Passanten. Hn erzählt Jg von einer jungen Prostituierten, deren Verhalten ihm gegenüber er kritisiert. Aus Platzgründen wird diese Ausgangssituation nur kurz paraphrasiert: Hn rekonstruiert erzählend das kommunikative Fehlverhalten dieser abwesenden Prostituierten, wobei er ihr androhte, sie „übers knie“ zu legen. Sie aber lachte darüber nur. Dieses Lachen wird von Jg als höhnisch interpretiert, er erfindet hierfür das Verb „auslächeln“ analog zu ‚auslachen‘. Jg positioniert8 Hn als jemand, den die jungen Prostituierten aufgrund seines Alters belächeln. Damit gerät Hn in die Situation, vor Jg seine interaktiv hergestellte, angeschlagene Altersidentität (vgl. Fiehler) reparieren zu müssen. Dazu flüchtet sich Hn in die Fiktion. 8

Zum Konzept der Positionierung siehe Lucius-Hoene und Deppermann.

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Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

„Japanische Seilnerven“ [17] Hn [vb] Jg [vb] Kommentar

..

22

23

nicht unterscheidenweiß was =lacht= die hat dich nicht angelächelt ((Hn entfernt sich ein Stück))

[18] ..

Hn [vb] Jg [vb] Kommentar

24

+3+ =hustet= du weißt ja (wies das) die hat dich ausgelächelt

[19] 25

Hn [mk] Hn [gs] Kommentar

26

o---bläst Wangen auf----o o-hebt beide Hände und lässt sie fallen-o ((bückt sich, hebt Bierflasche auf))

[20] 27

Hn [vb] Hn [gs] Kommentar

28

ich jetzt mit meine einundfuffzich + das reicht o-Wegwerfbewegung mit linker ((kommt zurück zu Jg))

[21] ..

Hn [vb] Hn [gs]

29

+4+ ich hab mir jetzt die japanischen seilnerven geholt Hand-o

[22] 30

Hn [vb] Hn [pr] Jg [vb]

[23] Hn [vb] Hn [gs]

[24] Hn [vb] Hn [pr] Hn [gs]

31

32

33

weiß was+ nä die sind etwas dehnbarer die andern die *-------------------------------* =lacht= ..

34

koreanischen sind immer so: o-imitiert Gummiband zwischen den Fingern, das er ..

35

36

37

strapazierfähig die andern sindda geht mehr drauf *-----------------* *----------------------* auseinanderzieht-o

[25] ..

Hn [vb] Hn [pr] Hn [gs]

38

39

oder was=lacht= o--lüftet kurz seine Kappe--o o-greift sich an die Nase-o

40

lass das sein o--betont ernst-o

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Hn signalisiert gestisch mit einer Wegwerfbewegung Gelassenheit (25). Diese Bewegung wiederholt er (28), nachdem er auf sein Alter hinweist. Er macht explizit: „das reicht“ (28) und erzählt im Indikativ/Perfekt, dass er sich „jetzt die japanischen seilnerven geholt“ (29) hat. Die weitere Gesprächsanalyse folgt nun zunächst Ehmer, indem gezeigt wird, dass die grundlegende Technik des Fiktionalisierens darin besteht, sprachlich miteinander inkompatible Wissensbestände zu überlagern. Hierfür wird die Blending-Theorie nach Fauconnier und Turner auf Gespräche angewendet. In einem weiteren Analyse-Schritt wird die Funktion von Metaphern für fantastische Fiktionen aus der Literaturtheorie Dursts auf Alltagsfiktionen übertragen und dabei auf die Rolle konventionalisierter fiktiver Elemente eingegangen. Ein Kernpunkt der Theorie der „Mentalen Räume“ ist, dass Rezipienten aufgrund von sprachlichen Äußerungen und kontextuellen Merkmalen dazu angeregt werden, mentale Räume aufzubauen: „Mental spaces are small conceptual packets constructed as we think and talk, for purposes of local understanding and action.“ (Fauconnier und Turner 307).9 Im Beispiel stellt Hn mit der Aussage „ich jetzt mit meine einundfuffzich + das reicht“ (27-28) sowie gestisch zunächst einen mentalen Raum bzw. Input Space 1 her, mit dem das emotionale Konzept Gelassenheit aufgrund eines höheren Alters vor allem gestisch-szenisch evoziert wird. Dieser mentale Raum verschmilzt nun in der Fiktionalisierung als Input Space 1 mit zwei weiteren hergestellten mentalen Räumen: Mit der Äußerung Hns „ich hab mir jetzt die japanischen Seilnerven geholt weiß was + nä die sind etwas dehnbarer die andern die koreanischen sind immer so: strapazierfähig die andern sind da geht mehr drauf oder was =lacht=“ (29-38) öffnet Hn zwei weitere Input Spaces. Space 2a besteht aus dem Hintergrundwissen über eine metaphorische10 Redensart, die ‚Nerven wie Drahtseile haben‘ lautet und die ‚Gelassenheit haben‘ bedeutet (und sich wiederum selbst aus zwei mentalen Räumen zusammensetzt: Drahtseile und Gelassenheit). Space 2b wird durch die Lexeme „japanisch“ und „koreanisch“ geöffnet, wodurch Hintergrundwissen über ungewöhnliche asiatische Produktinnovationen aktiviert wird. Aus der Verbindung dieser drei mentalen Räume entsteht ein sogenannter ‚Blend‘: „In blending, structure from at least two input spaces is projected to a third space, the ‘blend’“ (Fauconnier und Turner 314). Durch diesen Blend der Räume 1 und 2 wird Kohärenz zwi9 10

Vgl. hierzu Weidacher, der dieses Modell für die Textlinguistik verwendet. „Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können.“ (Lakoff und Johnson 13). „Nerven wie Drahtseile haben“ ist dabei genau wie „das Herz zu einer Mördergrube machen“ eine Körpermetapher, bei der Begriffe aus anderen Bereichen auf die Funktionalität von Organen übertragen wird, um damit etwas Drittes, nämlich einen Gemütszustand, eine emotionale Verhaltensweise zu beschreiben.

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

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schen Hns Redebeiträgen hergestellt, da beide mentale Räume das zentrale Moment der ‚Gelassenheit‘ beinhalten. Die Idee der Herkunft aus Asien dient jedoch nicht nur einer Ausschmückung der Fiktion, sondern ist kreativer und innovativer Angelpunkt in Hns Fiktion. Die Kombination der beiden Elemente des Alltagswissens, Redewendung und asiatische Produktneuheiten, schafft erst den Witz. Und Jgs Lachen (30) indiziert, dass er den Blend kognitiv mitvollzieht, bzw. der fiktionale Gesprächsrahmen aufgespannt ist (vgl. Bergmann) und er den Witz honoriert. Im Blend selbst ist nun gleichsam eine sprachliche Legierung aus Verweisen auf das reguläre und das wunderbare Realitätssystem auszumachen, die die Fiktion strukturell als fantastische Fiktion kennzeichnet und die mit einer Verwendung der Metapher als Versatzstück einhergeht. Für fantastische Literatur ist das „Gültigwerden des Uneigentlichen“ in der Sprache (Durst 304ff.; vgl. Todorov 75) ein zentrales Element. Das Fantastische bedient sich sprachlicher Tropen, das heißt konventionalisierter sprachlicher Figuren. Tropen sind figurativ, nicht fiktional, dennoch ist in der figurativen Rede das Wunderbare als Potenzial vorhanden und wird gleichsam vom System des Wunderbaren ausgebeutet, indem das potenziell Wunderbare aus der Rede der Alltagssprache wortwörtlich genommen, dabei herausgelöst und zu einer Geschichte verarbeitet wird.11 Die Seilnerven suggerieren „eine Wirklichkeit des nur Metaphorischen“ (Wörtche 175, zitiert nach Durst 308). Für fantastische Literatur ist die daraus entstehende Ambivalenz aus zwei Systemen kennzeichnend, da nicht deutlich wird, ob das realistische oder das wunderbare System regiert. Diese Spannung wird auch in Hns Seilnerven-Fiktion hergestellt. Der Bezug auf asiatische Länder sowie die in der Fiktion aufscheinende bekannte Metapher verweisen einerseits auf unsere Alltagserfahrung, andererseits wird die Metapher im Wörtlichnehmen so verfremdet, dass sie uns unheimlich12 wird. Einigermaßen unheimlich ist zudem das sich der Fiktion anschließende Selbstgespräch Hns, in dem er zu sich selbst betont ernst „lass das sein“ (40) sagt, also eine fremde, aber doch ihm eigene Rede animiert, als hätte die Fiktion ein fiktives Ich gesprochen. Dass dies auch in bestimmter Hinsicht der Fall ist, soll unter anderem am nächsten Beispiel „Extra Pille“ verdeutlicht werden.

11

12

Durst formuliert für die Literatur: „Das Wunderbare der Trope erobert in der Literatur des Wunderbaren die Gültigkeitsebene, in realistischer Literatur hat es nur den Status eines Realitätsvorschlags, der keine Gültigkeit erhält“ (312). Er führt unter anderem das Hauffsche Märchen „Das kalte Herz“ als Beispiel an. Für das Unheimliche in der Fantastik befindet Freud: „[der Dichter] betrügt uns, indem er uns die gemeine Wirklichkeit verspricht und dann doch über diese hinausgeht“ (82).

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2.2 Anleihe eines fantastischen Topos Auch an dem nachfolgenden Gespräch „Extra Pille“ wird der Aspekt fokussiert, dass Sprecher konventionalisierte Elemente in Fiktionen verwenden. Der Gesprächssituation im Transkript „Extra Pille“ geht die Unterhaltung Hns mit Jg voran, in der sich Hn als „Hartz-IV“-Empfänger bei Jg über die Arbeitsagentur beklagt. In diesem (Vor-) Gespräch positionieren die Gesprächspartner Hn interaktiv als überwiegend machtlos gegenüber dem Amt, da Hn auf sein Geld und auf Post warten muss. Dies ist deshalb für das Verständnis der nachfolgenden Fiktion wichtig, weil in der Fiktion die Welt, im Gegensatz zur Alltagswirklichkeit, „wieder in Ordnung ist“. „Extra Pille“ [34] ..

Hn [vb] Kommentar

42

43

=hadiejodiha=+ 2 + oh gestern du auch wieder fr Bierflasche))

[35] ..

Hn [vb] Hn [pr]

44

du (was wie wann war ich um) + 2 + sieben uhr + + wieder sp-----------------------------sp

[36] ..

Hn [vb]

45

hingelegt + fast durchgeschlafen + du + + in letzter zeit ich kann

[37] ..

Hn [vb] Jg [vb]

46

schlafen wie n blöder du + du bereitest dich langsam aufn

[38] ..

Hn [vb] Hn [pr] Jg [vb]

47

48

ja: ich hab doch sone sone weißt du doch f-f winterschlaf vor oder was

[39] ..

Hn [vb] Jg [vb]

49

sone extra pille weißt du

50

51

drei monate denn ausschlaf =hm=

=lacht=

[40] 52

Hn [vb]

so + + geld is auf konto (weiß was) und =th= irgendwann klingelt

89

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

[41] ..

Hn [vb]

denn der wecker wenn die pi_ wenn die wirkung zu ende is nä + jo

[42] ..

Hn [vb]

dann steh ich auf und dann + + geh ich zur post und + hol die

[43] ..

Hn [vb]

53

54

55

kohle ab=lacht= das wär also son ding wär du + 4 + wär ideal

[44] 56

Hn [vb] Hn [gs]

+ 2+ halbes johr schlofen weißt was hast du son ziegenbart weißt o------illustriert Bart mit Hand---o

[45] ..

Hn [vb] Jg [vb]

57

son ding=lacht= =lacht=

Hn erzählt von seinem ungewöhnlichen Schlafbedürfnis, und es lässt sich an dieser Stelle diskutieren, ob Jgs responsiver Redebeitrag „du bereitest dich langsam aufn winterschlaf vor oder was“ (46-47) als Interpretation von Hns Schlafbedürfnis bereits als Fiktionalisierung zu deuten ist. Es ließe sich argumentieren, dass Jg die Fähigkeit von zum Beispiel Murmeltieren, den Winter durchzuschlafen, die Menschen bekanntlich nicht besitzen, als Tatsache auf Hn überträgt, der sich auf einen solchen Winterschlaf vorbereitet. Dadurch bräche Jg bewusst mit der von den Beteiligten als gegeben angenommenen Wirklichkeit. Die nachgestellte Frage „oder was“ als tag question (47) schwächt eine solche Möglichkeit einer „Als-obÜberzeugung“ Jgs jedoch ab, weshalb sein Redebeitrag eher als metaphorische Umschreibung des Schlafbedürfnisses zu deuten ist. Denn die Redewendung „schlafen wie ein Murmeltier“ bleibt in diesem durch den Redebeitrag evozierten mentalen Raum nur im Hintergrund. In der bewussten Herstellung einer Fiktion machte die Übertragung der Schlafgewohnheit dieser speziellen Nager auf Hn diesen ebenfalls zu einem Nagetier. In der metaphorischen Umschreibung wird jedoch nur der lange Schlaf Hns mit dem langen Schlaf von Nagern gleichgesetzt. Hn nutzt nun das zentrale Element von Space 1, den langen Schlaf, als kognitives und kommunikatives Sprungbrett für seine Fiktionalisierung. Er bejaht (47) die Frage Jgs auffallend laut und signalisiert dadurch einen intendierten Übergang in eine andere Interaktionsmodalität. Mit „ich hab doch sone sone weißt du sone extra pille weißt du“ (48) beginnt Hn seine Fiktionalisierung. Die häufigen tag questions „weißt du“ sichern Aufmerksamkeit durch direkten Partnerbezug, steuern das Hintergrundwissen des Gesprächs-

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partners an und geben Hn zusammen mit dem wiederholten „sone“ die nötige Zeit, um seine fiktionale Idee kognitiv zu entwickeln und kommunikativ umzusetzen. Jgs Hörersignal „=hm=“ (49) signalisiert die Anwesenheit der geforderten Aufmerksamkeit, worauf Hn die Wirkung der „extra Pille“ beschreibt: „drei monate denn ausschlaf“ (50). Der Witz dieser Fiktion basiert auf einem Blend aus Space 1, dem natürlichen Winterschlaf der Tiere, und Space 2, dem künstlichen Schlaf bei Menschen mittels Schlafpillen. Bei diesem Blend ist das Element „langer Schlaf“ zentral. Obwohl Hn die wunderbare extra Pille anschließend an seinen Alltag anbindet und mit realistischen Elementen verknüpft (Geld, Konto, Wecker), erzählt der Redebeitrag schon jetzt eine ‚unerzählte‘ wunderbare Geschichte, die nicht erzählt werden muss bzw. darf. Und gerade die Kombination des wunderbaren Elements „extra Pille“ mit alltäglichen Elementen (so wie die Seilnerven mit Asien) bewirkt, dass die Fiktion nicht komplett wunderbar (märchenhaft), sondern fantastisch wird. Ein wichtiger funktionaler Aspekt dieser fantastischen Fiktion ist das kommunikativ modifizierte Alltagsleben. Diese Modifikation wird durch ein einziges wunderbares Element, das die Welt erträglicher macht, erreicht. Denn Hn kann ausschlafen und muss sich keine Sorgen um sein Geld machen. Dieser Gedanke der Überbrückung der Zeit im Schlaf ist dabei nicht neu, sondern ein konventionelles wunderbares Element, ein Topos. Der künstliche Schlaf transformiert die ‚Wirklichkeit‘ zum Beispiel in Märchen wie „Dornröschen“ und „Schneewittchen“. Im Science Fiction-Film „2001 – Odyssee im Weltall“ werden die Astronauten während ihrer Reise zu fremden Planeten ins künstliche Hibernakulum versetzt. Somit kann Hns Schlafpille als Anleihe verstanden werden, die vermutlich nicht intendiert ist und dennoch an die im gesellschaftlichen Wissensvorrat gespeicherte wunderbare Idee des künstlichen Langzeitschlafes anknüpft. Dass künstlicher Schlaf in der Medizin dazu eingesetzt wird, um die Genesung von Kranken zu fördern, macht die Fiktion aufgrund ihrer inhärenten Verschmelzung aus Wunderbarem und Realistischem nur umso fantastischer bzw. weniger wunderbar, aber darum nicht realistisch. An dieser Stelle soll kurz der Unterschied der Anleihe zum Zitat deutlich gemacht werden. Zitate können ebenso in Fiktionalisierungen auftreten, wie Ehmer zeigt: Ein Sprecher animiert in direkter Rede ein Nagetier, das den Satz äußert: „liegt hier in der nähe atlantis?“ Der Sprecher zitiert das mythische, untergegangene Inselreich, also etwas Wunderbares, nicht Existentes. Im Gegensatz zur Anleihe wird hier jedoch mit einer wörtlichen Referenz Intertextualität in intendierter und nachvollziehbarer Art hergestellt, d.h. eine „harte Referenz“ auf eine existierende kulturelle Einheit. Zitate werden dadurch prinzipiell für fantastische Fiktionen unbrauchbar, da in der Fantastik gerade die Spannung aus der Unentschie-

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

91

denheit zwischen Realität und Wunderbarem tonangebend ist. Besonders deutlich wird diese Logik in einer Äußerung wie: „ich hab den Weihnachtsmann gesehen.“ Hier ist nicht nur der Weihnachtsmann ein konventionelles wunderbares Element, sondern der gesamte Satz ist als kulturelles Zitat zu verstehen, womit diese Äußerung komplett in der realen Alltagswirklichkeit verankert bleibt. In einem weiteren Beispiel aus dem eigenen Gesprächskorpus berichtet ein Akteur davon, dass er über viel Fantasie verfüge: „ich hab unwahrscheinlich viel fantasie. wenn irgendwelche kumpels erzähln wer bist du denn sag ich ich komm von alpha 1.“ Hier zitiert der Sprecher die Science Fiction-Serie „Mondbasis Alpha 1“ aus den 1970er Jahren und verwendet gleichzeitig diese wiedergegebene Fiktionalisierung aus einem anderen Kontext in der aktuellen Situation als Beleg dafür, dass er „unwahrscheinlich viel Fantasie“ hat. Der Witz der Fiktion liegt gerade im Erkennen des Zitats, wodurch die Fiktion dann nicht als fantastisch zu bestimmen ist, sondern aufgrund ihres alltagsweltlichen Elementes (die Fernseh-Serie) als realistische Fiktion, die mit konventionellen fantastischen Elementen arbeitet und dadurch absurd wird. Grundsätzlich gilt offenbar: Je konventionalisierter die wunderbaren Elemente, desto unfantastischer die Fiktion. Somit ist die wunderbare Anleihe eine Spur, die prinzipiell auf jede wunderbare Welt verweist, aber realistische Bodenhaftung besitzt; das Zitat aber ist ein Symbol, das auf einen wirklichen kulturellen Kontext verweist.13 Ein weiteres Merkmal fantastischer Fiktionen ist offenbar die Möglichkeit der Sprecher zur Herstellung ‚autobiografischer‘ Fiktionen, in denen ein fiktives Ich, das heißt eine fiktive Identität konstruiert wird. Dass Jg Hns Fiktion als solche verstanden hat, indiziert sein honorierendes Lachen (51). In den Worten Bühlers vollzieht Jg die deiktische Verschiebung ins „Phantasma“ kognitiv mit. Mit der Einführung der Fantasiesituation ersetzt das Phantasma die primäre Gegebenheit der Wahrnehmungssituation (vgl. Bühler 133). Diesbezüglich lässt sich nun argumentieren, dass das „ich“, von dem in „ich habe sone extra Pille“ die Rede ist, bereits als fiktives Element zu bestimmen ist. Das Ich ist in Bühlers Theorie des Zeigfeldes der Sprache als „natürlicher Koordinatenausgangspunkt der ‚Weltanschauung‘“ (Bühler 133) definiert. Das Ich, das die Pille besitzt, wird damit zu einem neuen Koordinatenausgangspunkt für die Anschauung der Fiktion. Es verweist auf eine fiktive Identität. Dadurch entsteht eine doppelte Eskapismus-Situation: Zum einen flüchtet sich das fiktive Ich in den Schlaf, kann so den kalten Winter und die prekäre Lebenslage vergessen, denn wenn es aufwacht, ist das Geld da. Zum ande13

Die Anleihe ist mit Keller (182f.) auch als Symbolisierung eines Symptoms zu verstehen, das Zitat dagegen als Symbolisierung eines Symbols.

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ren flüchtet sich in der konkreten Gesprächssituation das reale Ich, also das Sprecher-Ich, in das fiktive Ich, indem es für die Dauer der Fiktion hinter diesem verschwindet. Flucht ist daher nicht nur ein fiktionales Motiv, sondern ein generelles fiktionales Verfahren in Alltagsgesprächen. Diese strukturelle Form der Flucht ist bei allen fiktionalen Aussagesätzen gegeben, in denen „ich“ Teil der Aussage ist, wobei es nicht unbedingt Subjekt sein muss. Zentral ist, dass das Ich eine wesentliche Rolle in der Fiktion spielt, ob im Satz als Agens, Patiens, Experiens, narrativ als Beobachter oder Kolporteur einer fiktiven Situation ist dabei unbedeutend. Indem Hns alltagswirkliche Identität hinter die narrative, fiktive Identität tritt, wird Hn gleichsam zum konversationellen Gestalter einer autobiografischen Fiktion. Während sich bei realistischen oder auch absurden Fiktionen, da sie auf die prinzipiell von allen geteilten Alltagswirklichkeit zurückverweisen, jeder Gesprächspartner an der interaktiven Ausgestaltung der Fiktion beteiligen kann, ist dies bei fantastischen autobiografischen Fiktionen nur begrenzt möglich. Einmal etabliert, hält der Urheber der Fiktion die Deutungshoheit.14 Dies liegt an den oben erläuterten narrativen Leerstellen, die einerseits nichts aussagen und andererseits streng logisch betrachtet nur vom Urheber selbst gefüllt werden können. Sobald ein Ich mit einer wunderbaren Erfahrung im Spiel ist, hält der Konstrukteur dieses fiktiven Ichs, der so tut, als ob seine Identität mit dieser kongruent sei, das Patent auf die Fiktion. Andere Gesprächspartner könnten hier lediglich Vermutungswissen anstellen. Die implizite Hoheit der Ausgestaltung liegt deshalb beim Erfinder als Tonangeber, so dass auch nur er das Honorar in Form „symbolischen Kapitals“ (Bourdieu) erhält, das sich wie in diesem Beispiel in einem anerkennenden Lachen (57) des Freundes ausdrückt. Fantastische Fiktionen scheinen damit für die Image-Arbeit (vgl. Goffman 1999) im Gespräch hoch effektiv zu sein, weil sie sehr raffiniert sind und in einem großen Maße Prestige über Kreativität herstellen. So wird Hn in der Clique auf dem Stadtplatz nicht ohne Grund als „Unterhaltungspoet“ bezeichnet, weil sonst kaum jemand so ausgefeilte fantastische Fiktionen entwirft. Und da dieser Gesprächssituation, wie auch in der „Seilnerven“-Situation, ein drohender Gesichtsverlust Hns vorangeht, kann gleichsam nur noch ein Wunder helfen, um sich aus dieser Lage kommunikativ hinauszumanövrieren. Halb realistisch, halb wunderbar ist das fiktive Ich mit Wundermitteln ausgestaltet. Diese Tatsache verdient in der fiktiven Welt genauso Anerkennung wie die Erfindung derselben in der Alltagswirklichkeit. 14

Es zeigt sich, dass sich in den obigen absurden Fiktionen viel deutlicher die Herstellung einer gemeinsamen Fiktion schon zu Beginn kommunikativ manifestiert, so dass es dort keine Deutungshoheit gibt, sondern der situative Witz in einem viel größeren Maße darin liegt, dass die Akteure gemeinsam die Welt umdeuten.

93

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

2.3 Funktionen der Fiktionalisierung Im nächsten Beispiel geht es um die Grenzen der Nachvollziehbarkeit von fantastischen Fiktionen. Es wird herausgearbeitet, wie Fiktionen scheitern können, aber gerade dadurch der sozialen Anerkennung des Urhebers dienlich sind. Bevor auch hier wieder Hn eine fantastische Fiktion etabliert, sprechen Jg, Rm (ca. 45 Jahre) und Ad (28 Jahre) über ihre Gewohnheiten des Kaffeetrinkens. Hierbei wird bei Ad interaktiv Verwirrung über den Begriff „latte macchiato“ hergestellt, nämlich ob dieser heller als normaler, und damit schwarzer Kaffee sei. Hn spricht sodann von „Bräunungstee“, den er immer trinke, was von Ad als wahr missverstanden wird. Es schließen sich Erklärungen und weitere Elaborierungen der Fiktion an. „Bräunungstee“ [40] 74

Hn [vb] Rm [vb]

75

+ du musst das so machen wie ich + ich trink immer + + schwarz

[41] ..

Hn [vb] Rm [vb] Ad [vb]

76

77

jeden morgen brnungstee=lacht= =lacht= + was war das =prustet=

[42] ..

Hn [vb] Hn [mk] Hn [gs] Rm [vb] Kommentar

78

79

80

=lacht= + 2 + ernst

ja: diese aus dem glas + illustriert Glas mit Händen

bräunungstee ((Hn blickt sich um))

[43] ..

Hn [vb] Hn [gs] Rm [vb] Kommentar

81

82

+ so so ein löffel + was so nä + weißt heißwasser so + und wenn illustriert löffeln =hm= =hm= ((Hn zu Rm))

94

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[44] ..

Hn [vb] Ad [vb]

83

ich jetzt was weiß ich son dingsbums + entweder trink ich ihn (..................)(in den klo

[45] ..

Hn [vb] Hn [pr] Hn [gs] Rm [mk] Ad [vb] Kommentar

[46] Hn [gs] Jg [vb] Rm [mk] Rm [gs] Ad [vb]

84

85

86

schwa:rz+ was fürn klo: f--------------f

hebt Hand vor Gesicht , o----lächelt-------------------- ----------------------------------ja weiß ich doch nich ((Hn in Richtung Ad))

tun)

..

+ 3 + =hähä=

87

88

zieht sie hin und her man sagt auch =äh= -------------------------- --------------------------------------------- -----------------------------------o-----(ich weiß nich was meint er)

[47] ..

Hn [vb] Jg [vb] Rm [mk] Rm [gs] Ad [vb] Kommentar

89

90

ja nä ja bräunungstee löslichen kaffee dazu --------------------------------- --------------------------o ----nickt----o du meinst bräunungstee ((Hn zu Ad))

[48] 91

Hn [vb] Hn [pr] Hn [gs] Rm [vb]

92

+ + ja den lös_ den löslichen kaffee + du musst dann mal den *------------------------o illustriert Löffeln mit Hand ja das is bräunungstee

[49] ..

Hn [vb] Jg [vb] Rm [vb]

[50] Hn [vb] Hn [pr]

93

dingsbums so =lacht=

94

95

=lacht= ich wusste das sofort den nestle

96

+ 1+ ja is ja ega:l weiß was so oder wat goldfix oder wie die heißen *------------------------------*

95

Fantastische Fiktionen in Alltagsgesprächen

[51] Hn [vb] Rm [vb]

..

97

da alle so

98

so jetzt zwei löffel rein weißt son dingsbums + jaja etwas von der teureren sorte

[52] 99

Hn [vb] Rm [vb] Ad [vb]

100

+ 3+ ab und zu mach ich noch n bisschen milch den trink ich auch + genauso braun

[53] ..

Hn [vb] Hn [gs] Jg [vb]

101

rein damit das nich + zu krass wird weißt du hebt beide Hände + + sonst werdn sie

[54] ..

Hn [vb] Jg [vb] Ad [vb] Kommentar

[55] Hn [vb] Jg [vb] Ad [vb] Kommentar

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= lacht= alle neidisch werden sie alle neidisch hier +2+ heißt das du warst oh ne: ((Ad und Hn gehen kurz ..

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=juhu=+ ich war wieder auf mallorca du in urlaub oder so ja + du weg))

Ohne metakommunikative Ankündigung steigt Hn mit der Fiktionalisierung (75) in das Gespräch ein und landet in einer kommunikativen Umgebung der Verwirrung über Kaffeesorten einen Überraschungseffekt. Dabei spricht er den verwirrten Ad mit dem Personalpronomen „du“ direkt an. Wieder als Aussagesatz im Indikativ realisiert, besitzt das fiktive Ich ein Wundermittel: „ich trink immer jeden morgen bräunungstee“ (75). Die Fiktion nimmt aus dem bereits interaktiv hergestellten mentalen Raum als Space 1 (Kaffeetrinkgewohnheiten) die zentralen Elemente ‚Getränk‘ und ‚Helligkeit bzw. Bräune‘ wieder auf. Es werden in der Fiktion zwei weitere Input Spaces geöffnet, die im Blend mit Space 1 gemappt, also zusammengeführt werden: Space 2a beinhaltet ‚Bräune bzw. Helligkeit von Haut‘, Space 2b das Hintergrundwissen zu künstlichen Mittelchen und Methoden, mit denen man die Haut bräunen kann (etwa Bräunungscreme oder Solarium). Im Blend entsteht etwas Neues: Tee, der die Haut bräunt. Kann nun einer der Gesprächspartner diesen Blend kognitiv nicht nachvollziehen, so wird er weder Fiktionalität, noch Kohärenz, noch

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Gesprächssinn für sich rekonstruieren können. Hns abschließendes Lachen signalisiert die eingeschränkte Validität dieser Aussage und gibt damit Interpretationshinweise. Ad zeigt mit seinem Lachen (76), dass er den Blend offenbar versteht. Rm äußert mit „was war das bräunungstee“ (77) berechtigen Zweifel an der Faktizität dieses Gebräus. Der fiktionale Rahmen ist aufgespannt und Hn beginnt mit dem Erzählen der dazugehörigen fantastischen Geschichte, bestehend aus einem wunderbaren Element (dem Tee, der bräunt) und Elementen der Alltagswirklichkeit (Glas, Löffel, Heißwasser). Hier wird ein weiterer mentaler Raum, Input Space 3, geöffnet, in dem die Zubereitung von löslichem Kaffee verbal und gestisch inszeniert wird (80/81) und der auf Space 1 zurückverweist. Hn setzt nun für den Blend aus Fiktion und Wirklichkeit eine betont ernste Miene auf und blickt um sich, als wenn er nun ein Geheimnis verrät, das sonst niemand wissen darf. Diese nonverbale Performance unterstützt eine mögliche Interpretation des Bräunungstees als Tatsache, das heißt der ‚Als-ob-Charakter‘ der Fiktion wird wieder stärker hervorgehoben, die Regierung des Wunderbaren zurückgenommen, um die Spannung zu erhöhen. Ads Kommentar „(...) in den klo tun“ (82-83), der nicht ganz verständlich ist, auch für Hn nicht, scheint an dieser Stelle kontraproduktiv für die Fiktionalisierung zu sein. In Hns narrativer fantastischen Erzählwelt hat das Alltagswissen von anderen, hat das „Klo“ keinen Platz: „was fürn klo“ (84). Diese unqualifizierte Unterbrechung sanktioniert Hn mit einer den Verstand von Ad illustrierenden, abwertenden Geste und einer dazu passenden Lautäußerung (86). An dieser Sanktionierung zeigt sich, dass ein gemeinsames Entwerfen fantastischer Fiktionen kaum möglich oder zumindest vom Urheber nicht erwünscht ist. Anschließend wird klar, dass Ad den Blend nicht verstanden hat: „ich weiß nich was meint er“ (87), noch verwirrter ist als vorher und Jg Ad daher über das Hintergrundwissen zur Fiktion aufklärt: „man sagt auch =äh= löslichen Kaffee dazu“ (88). Rm signalisiert mit einem Nicken, dass er zu denjenigen gehört, die den Witz und damit die Fiktion verstanden haben. Ads Redebeitrag „du meinst bräunungstee“ (89) zeigt, dass er das Wundermittel noch immer als Faktum nimmt. Das Erkennen dessen, das Ad ihm auf den Leim gegangen ist, lässt Hn seine Fiktion noch weiter ausgestalten (90-92), denn das Spiel mit dem Verstand Ads ist noch nicht zu Ende. Allerdings löst sich die fantastische Fiktion nun interaktiv immer weiter in Richtung realistisches System auf: Hn wiederholt das Hintergrundwissen des Input Space 3 „löslicher Kaffee“ (91), Jg macht noch einmal metafiktional deutlich, dass er von Anfang an zur In-Group derjenigen gehört, die den Witz verstehen (93), Rm nennt explizit den Namen des löslichen Kaffees „den nestle“ (95). Jetzt wird es von Hn auch geduldet, dass sich Rm an der Fiktionalisierung be-

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teiligt (97-100), denn das alltagsweltliche Wissen, das Rm einstreut „etwas von der teureren sorte“ und „den trink ich auch“ verträgt sich nicht nur mit Hns Fiktion, Hn hat auch zuvor den Claim für diese Äußerungen, die nichts neues Wunderbares in die Fiktion eingeben, abgesteckt. Das Fortführen des Themas durch Jg und Rm ist zudem vor allem ein Zeichen des Honorierens. Es ermöglicht Hn eine weitere Pointe, dass er nämlich Milch hinzu gibt, damit die Bräune im Gesicht „nicht zu krass“ wird (100). Jg spinnt daraufhin die Idee weiter, die sich ebenfalls an alltagsweltlichen Elementen sowie an Hn selbst orientiert: Er sinniert Auswirkungen, Interpretationen, die ein zu braunes Gesicht hervorrufen kann, „heißt das du warst in urlaub oder so“ (103) und die Hn mit animierter fiktionaler Rede abschließt (104-105). An Ads Reaktion „oh ne“ (103) ist zu erkennen, dass mindestens zu diesem Zeitpunkt auch bei ihm ‚der Groschen gefallen‘ ist. In diesem Beispiel zeigt sich die soziale Anerkennung für Hn und seine kreativen Ideen vor allem in der gemeinsamen Orientierung der Gesprächspartner Jg und Rm auf diese. Die Fiktionalisierung beendet die bis dahin gezollte Nichtbeachtung der Gesprächspartner und lenkt den Fokus von Ad auf Hn: Der Bräunungstee wird zum Gesprächsthema erhoben, Jg und Rm beteiligen sich in einem eingeschränkten Rahmen an der Fiktionalisierung und bereiten Hn, der bis dahin nicht am Gespräch beteiligt war, eine kommunikative Bühne, auf der er als primärer Sprecher agieren kann. Grund hierfür ist nicht zuletzt die Originalität des ad hoc erfundenen Bräunungstees. Der magische, das Erscheinungsbild transformierende Tee ist wie die Schlafpille eine Anleihe aus einem thematischen Feld des Wunderbaren, und verknüpft mit Alltagsgegenständen kann der Zaubertrank durchaus realistisch erscheinen, weil er fantastisch und nicht gänzlich wunderbar ist, weshalb Ad die Existenz eines solchen Mittels offenbar für realistisch hält (so realistisch wie Bräunungscreme). Dadurch kippt seine Interpretation in Richtung realistisches System, obwohl sie sich bei einem Verstehen der Fiktion ins wunderbare System bewegen müsste. Diese Fehlinterpretation ist nun gerade intendiert, denn so muss Hns Fiktion erklärt, kann weiter elaboriert werden. In der Mehrfachadressierung schafft sich Hn sowohl ein „Opfer“ (Ad) als auch ein Publikum (Rm und Jg), das sich selbst auf Kosten des primären Adressaten aufwertet („ich wusste das sofort“ (93)) und dem Produzenten der Fiktion Anerkennung zollt.15 Diese (antizipierte und dann auch eintretende) Fehl-Interpretation des Rezipienten in Richtung Auslegung als Faktum muss nun, wie die beiden anderen Beispiele zeigen, nicht immer auftreten. Sie dürfte sogar bei realistischen Fiktionen weitaus häufiger vorkommen. Wird jedoch eine fantasti15

Vgl. die von Günthner beschriebenen Strukturen in Frotzelsituationen.

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sche Fiktion nicht verstanden, was wiederum häufiger vorkommt als bei einer komplett wunderbaren Fiktion, so ist dies weitaus lustiger für die Gesprächspartner, ist der Erfolg für den Erfinder größer, weil die fantastische Fiktion gleichsam der ‚größere Bär‘ ist, der ‚jemandem aufgebunden‘ wird. 3. Zusammenfassung Ausgehend von einer grundlegenden Bestimmung von Fiktion als bewusstem Bruch mit dem, was konventionell als (klassisch-)wirklich gilt, wurde eine semantische Unterscheidung innerhalb des fiktionalen Systems getroffen mit Hilfe der aufgestellten Skala realistisch – absurd – fantastisch – wunderbar. Realistische Fiktionen könnten sich in der Alltagswelt abspielen, absurde Fiktionen lassen gedanklichen Spielraum zur alltagsweltlichen Umdeutung und nähern sich dem Pol „realistische Fiktion“ an. Fantastische Fiktionen enthalten wunderbare Elemente, die nur in einer „unmöglichen Welt“ des Wunderbaren zu Hause sind, jedoch ebenfalls realistische Elemente, die bewirken, dass sich die Fiktion in einer Ambivalenz aus Realistischem und Wunderbarem verliert. Wunderbare Fiktionen generieren wie Märchen eine komplett wunderbare Welt. An diese Kategorisierung anschließend wurden drei Gesprächsbeispiele, in denen Fiktionalisierungen mit wunderbaren Elementen auftreten, mit der Methode der Konversationsanalyse untersucht. Hierbei wurden für die fantastischen Fiktionen Gemeinsamkeiten ermittelt: Kombination von wunderbaren und realistischen Elementen; Wörtlichnehmen von als sprachlichen Versatzstücken fungierenden Metaphern; figurative Rede als kognitives und kommunikatives Sprungbrett; Anleihe von Topoi, Verwendung von Aussagesätzen im Indikativ; deiktisches „Ich“ als Verankerungszentrum der Fiktion mit dem Effekt einer „autobiografischen“ Fiktion; begrenzte Beteiligungsmöglichkeit durch Urheberschaft. Besonders wurde dabei der Aspekt herausgehoben, dass die Sprecher auf konventionalisierte figurative und fiktionale Elemente sowie literarische Techniken zurückgreifen, um individuelle Fiktionen herzustellen. Merkmale wie zum Beispiel die Herstellung von Blends, die interaktive Ausgestaltung von Fiktionen, die Herstellung sozialen Erfolges treffen auch auf andere Formen von Fiktionen zu. Jedoch zeigt sich, dass sich für fantastische Fiktionen innerhalb der Blends Abstufungen finden lassen: Je inkompatibler das Hintergrundwissen, das überblendet wird, desto wunderbarer ist die fantastische Fiktion. Genauso gilt umgekehrt, je kompatibler die Wissensbestände, also z.B. Winterschlaf bei Tieren und künstlicher Schlaf bei Menschen, desto realistischer ist die fantastische Fiktion. Und das letzte Beispiel hat gezeigt: Wenn im Prozess der Fiktionalisierung realis-

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tisches und wunderbares System alternieren, dann ist die Fiktion am fantastischsten. Dann wirkt die Ununterscheidbarkeit zwischen Realität und Wunder am stärksten, was zu Fehlinterpretationen führen kann. Eine deutliche Abgrenzung der Fiktionsformen kann nur über das semantische Kriterium als Ausgangspunkt erreicht werden. Dass die Ebene der Semantik jedoch nicht unabhängig von der Ebene der sprachlichen Form und der kommunikativen Funktion zu verstehen ist, haben die Beispielanalysen gezeigt. Verwendete Transkriptionskonventionen: 1) Verbales Display: - Siglen der Gesprächspartner: zwei Buchstaben vor dem Punkt als Abkürzung, zwei Buchstaben hinter dem Punkt für den Displaytyp: - Hn.vb = verbales Display Hn.mk = mimisches Display Hn.pr = prosodisches Display Hn.gs = gestisches Display - eine Kommentarzeile, Kommentare in ((doppelten Klammern)) - parallele Stellen untereinander; unklare Passagen (in einfachen Klammern), unverständliche Passagen in leeren Klammern (), Besonderheiten der Formulierung wenn möglich erfasst: Verschleifungen, Dialektismen, verkürzte Formen, Abbrüche durch Unterstrich markiert: das glaub_ 2) Prosodisches Display: - Intonationskonturen [in eckigen Klammern] - Vokaldehnung durch Doppelpunkt hinter dem Vo:kal, Pausen verschiedener Längen: 0,250 sek, längere Pausen durch Angabe der Zeit in Pluszeichen eingeschlossen + 1,3+ - Weitere prosodische Markierungen in der gesonderten Zeile der Partitur: Langsam gesprochen l-----l, schnell gesprochen s-----s, leise gesprochen p----p, laut gesprochen f-----f, lachend gesprochen *------* 3) Vokalisationen / Artikulationen / Expressionen: - gefüllte Pausen in Gleichheitszeichen eingeschlossen =ä=, =aham=, nichtmorphemisierte Expressionen =lacht= =hustet= 4) Kinesisches Display: - Gestisches Display: Anfangs- und Endpunkte der Geste durch o-------o markiert.

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Zur Rolle des Lateinischen in der Phantastik Harry Potter, Aventurien und Lovecraft1 JOCHEN WALTER On the Role of Latin in Fantastic Literature. Harry Potter, Aventuria and Lovecraft The article explores the use of the Latin language in the Harry Potter novels, the German role-playing game Das Schwarze Auge (DSA), and the stories of H.P. Lovecraft. Most common is the use of characteronyms, working on a cognitive or emotional-associative level (or both). In DSA, a broad spectrum of functionalisations of Latin can be discerned: Beside characteronyms, there is Bosporano which mimics Latin vocabulary and morphology creating a grey area between reality and the fantastic. The most complex use of Latin can be shown in works of H.P. Lovecraft which fulfil not only decorative, but also associative and legitimising functions. In “The Case of Charles Dexter Ward”, a mysterious note in medieval minuscules exemplifies the undead status of Latin in order to mirror the necromantic context. Although the Latin text – apparently produced by Lovecraft himself – conforms in fact to the standards of Classical Latin, it symbolizes here (medieval) cultural decay.

1. Latein und die Phantastik Hic, haec, hoc – der Lehrer hat ’nen Stock! Is, ea, id – was will er denn damit? Sum, fui, esse – er haut dir in die Fresse!2

Obwohl diese Verse in vielfacher Hinsicht anachronistisch sind, vermögen sie doch Assoziationen zu wecken, die auch heute noch von vielen mit dem Lateinischen verbunden werden: Als Stichworte wären etwa das Pauken von Formen zu nennen und ein gewisser Zwangscharakter. Bei der Ausgestaltung phantastischer Räume, deren Reiz ja gerade in der freien, Grenzen überschreitenden Entfaltung der Imagination liegt, dürfte man 1

2

Für Anregungen danke ich den Teilnehmern der Diskussion, die sich an meinen Vortrag auf der 1. Internationalen Konferenz der Gesellschaft für Fantastikforschung e.V. anschloss, außerdem Ronald Mayer-Opificius (Münster), Johannes Breuer (Mainz), Marion Gindhart (Mainz) und Celia Krause (Heidelberg). Merkvers, belegt bei Urban 201; in leicht veränderter Form bei Fink 57.

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eine solche für starre Regelmäßigkeit berüchtigte Sprache also höchstens in dystopischen Szenarien erwarten. Auch angesichts der Tatsache, dass Phantastik oftmals gänzlich neue Sprachen generiert,3 ist es auffällig, wie häufig das Lateinische bemüht wird. Einen besonders beeindruckenden Sonderfall stellt das von J.R.R. Tolkien erfundene Quenya dar, das nicht nur selbst in vielen Elementen dem Lateinischen nachgebildet ist, sondern von seinem Schöpfer auch explizit als „Elven-latin“ bezeichnet worden ist.4 Tatsächlich spielt das Lateinische in der Phantastik durchaus eine – sogar überwiegend positive – Rolle. Dieser Rolle soll der vorliegende Beitrag nachspüren. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf das Lateinische speziell als Sprache, nicht dagegen auf Referenzen auf die Antike allgemein.5 Vor der Darstellung und Erörterung einzelner Ausprägungen des Lateinischen innerhalb der Phantastik sollen einige grundsätzliche Überlegungen zumindest erwähnt werden: Menschen machen sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Lateinischen. Diese Erfahrungen schlagen sich einerseits in unterschiedlich großen Lateinkenntnissen nieder, welche die Voraussetzung dafür sind, dass Lateinisches oder Anspielungen darauf überhaupt verstanden werden. Andererseits – und dieser Punkt ist der wichtigere – eröffnen unterschiedliche Erfahrungen weit divergierende Assoziationsspielräume. Um nur einige zu nennen: Qualität und Eigenart 3 4

5

Man denke etwa an die von Tolkien erfundenen Sprachen oder an das Klingonische im Star Trek-Universum. Vgl. Tolkiens Brief an Naomi Mitchison vom 25. April 1954 (zitiert nach Carpenter, Nr. 144): „Two of the Elvish tongues appear in this book. They have some sort of existence, since I have composed them in some completeness, as well as their history and account of their relationship. They are intended (a) to be definitely of a European kind in style and structure (not in detail); and (b) to be specially pleasant. The former is not difficult to achieve; but the latter is more difficult, since individuals’ personal predilections, especially in the phonetic structure of languages, varies widely, even when modified by the imposed languages (including their so-called ‘native’ tongue). I have therefore pleased myself. The archaic language of lore is meant to be a kind of ‘Elven-latin’, and by transcribing it into a spelling closely resembling that of Latin (except that y is only used as a consonant, as y in E. Yes) the similarity to Latin has been increased ocularly. Actually it might be said to be composed on a Latin basis with two other (main) ingredients that happen to give me ‘phonaesthetic’ pleasure: Finnish and Greek. It is however less consonantal than any of the three. This language is High-elven or in its own terms Quenya (Elvish).” (175f.) Es ist bemerkenswert, dass Tolkien nicht nur die gesellschaftliche Funktion seines „Elvenlatin“ benennt („archaic language of lore“). Er führt vielmehr sprachhedonistische Gründe dafür an, Quenya einerseits überhaupt und andererseits so und nicht anders erfunden zu haben und weist der lateinischen Sprache selbst dabei offenbar einen hohen ästhetischen Rang zu. Auffällig ist auch das Bemühen, das Lateinische auch in der visuellen Gestalt des Textes zu markieren. Zur Rezeption der Antike überhaupt in der Phantastik (insbesondere in der Science Fiction) vgl. etwa Brown; Wenskus.

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des Lateinunterrichts wie auch des oder der Unterrichtenden; Latein als Zwang oder aber als Privileg; Latein als Sprache des Mittelalters, der Rationalität, des Marketings, der Kirche, der Naturwissenschaft, der Jurisprudenz – oder auch nur als Hilfsmittel für Quizsendungen im Fernsehen. Bei diesen Überlegungen könnte man nun noch zwischen Produzenten und Rezipienten von Phantastik unterscheiden, das Bild untersuchen, das sich die einen von den auf das Lateinische bezogenen Vorverständnissen der anderen machen, usw. 2. Harry Potter „Expelliarmus!“ – Dieser Zauberspruch ist Konsumenten der Harry Potter-Bücher und -Filme von J. K. Rowling6 gut vertraut. Wer weiß oder ahnt, dass expellere „vertreiben“ und arma „Waffen“ heißt, gewinnt zumindest einen ungefähren Eindruck von der Funktion des EntwaffnungsZauberspruchs „Expelliarmus!“7 Auch die Vornamen von Albus Dumbledore („weiß“), Severus Snape („streng“) oder Dolores Umbridge („Schmerzen“) sind für den Lateinkundigen kaum weniger sprechend als die Nachnamen für den Englischkundigen. Diese Beispiele illustrieren diejenige Funktionalisierung des Lateinischen, welche in der Phantastik die am weitesten verbreitete ist: Benennungen einerseits von Menschen, anderseits von Dingen, insbesondere Formeln, Effekten usw.8 Dabei dürfte die Affinität des Lateinischen zur phantastischen Magie nicht nur auf dem ‚magischen‘ Charakter des liturgischen Lateins beruhen, das die Imagination der abendländischen Christenheit über viele Jahrhunderte hinweg stark geprägt hat,9 sondern auch darauf, dass Magie in Umkehrung des Dritten Gesetzes von Arthur C. Clarke in vielen phantastischen Welten funktional weitgehend den Naturwissenschaften entspricht. Solcherlei Charakteronyme haben vor allem zwei Funktionen: Zum einen spielt der Produzent der Phantastik mit dem Rezipienten, der die lateinischen Anspielungen erkennen und verstehen muss und dafür gleichsam als Belohnung Zusatzinformationen erhält. Dieses Spiel setzt freilich zumindest gewisse Lateinkenntnisse voraus und hat insofern – wenn man es negativ wenden möchte – etwas Elitäres. Denn Menschen ohne oder mit nur geringen Lateinkenntnissen werden aus dem Spiel entweder gänzlich 6 7

8 9

Allgemein zum Lateinischen in den Harry Potter-Werken vgl. Schreiner. Der lateinischen Morphologie hinreichend Kundige werden möglicherweise auch daran denken, dass dasjenige lateinische Wort, dass „expelliarmus“ akustisch am meisten ähnelt, expellamus wäre (1. Pers. Pl. Konj. Präs. Aktiv, aufzufassen wohl am ehesten als Adhortativ [„Lasst uns vertreiben!“] oder erfüllbarer Wunsch der Gegenwart [„Mögen wir vertreiben!“]). Zu lateinischen Charakteronymen bei Harry Potter vgl. Randall 3-5; Schreiner 73f. Man denke etwa an die Verballhornung von „Hoc est corpus.“ zu „Hokuspokus“.

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ausgeschlossen oder sie dürften zumindest Schwierigkeiten haben, komplexere Allusionen zu erkennen oder wirklich zu verstehen. Zum anderen dienen Charakteronyme aber auch der Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre, dem Auslösen von Assoziationen oder ganzen Assoziationskaskaden. Diese Funktion ist weniger kognitiv, sondern vielmehr emotional-assoziativ. Da sie keine Lateinkenntnisse im engeren Sinne des Wortes voraussetzt, ist sie weniger elitär. Andererseits ist es wesentlich schwieriger, diese zweite Funktion zu messen, nachzuvollziehen oder gar zu steuern. Gleichwohl dürfte die emotional-assoziative Funktion die wichtigere sein. 3. Aventurien In der ursprünglich und hauptsächlich für das Tischrollenspiel10 Das Schwarze Auge11 entworfenen phantastischen Welt Aventurien finden wir das Lateinische – wie wir es inzwischen erwarten – in Form von Charakteronymen etwa für Personen, insbesondere auch für Benennungen für Magie: Als Beispiel für Charakteronyme von Personen mögen die Hauptantagonisten in Bernhard Hennens Abenteuer „Die Suche nach dem Largala’hen“ (37-49) dienen: Es handelt sich um zwei Schwarzmagier namens Vermis und Vespertilio sowie einen Dämonen namens Mactans. Vermis (lat. „Wurm“) wird als „kleiner, kolossal schmerbäuchiger Mann“ beschrieben, außerdem erwähnt der Text „den ihm eigenen, unangenehmen Körpergeruch“ (42). Ferner lässt sich eine Beziehung herstellen zu den „Scherenwürmern“, Mischkreaturen aus Hummern und Morfus (einer aventurischen Tier- beziehungsweise Monsterart), über die Vermis gebietet. Vespertilio (lat. „Fledermaus“) wird als „spindeldürrer, vom Alter gezeichneter Mann, der sich mit Vorliebe in wallende schwarze Roben kleidet“ (41), beschrieben. Er gebietet ebenfalls über zu seinem Namen passende Mischkreaturen, die sogenannten „Lederschwingen“, die aus Mensch und Fledermaus zusammengesetzt sind. Auch der Dämon Mactans (lat. „der Schlachtende, Bestrafende, Heimsuchende“) trägt seinen Namen natürlich zu Recht. Möglicherweise lässt sich auch die Bezeichnung für das Königreich Nostria zu den lateinischen Charakteronymen zählen: „Nostria“ könnte dann auf das lateinische Possessivpronomen der 1. Person Plural (noster, nostra, nostrum) anspielen, mit dem es die ersten fünf Buchstaben teilt. Nostria ist ein kleines Königreich, das an ein anderes kleines Königreich12 10 11 12

Näheres zum Tischrollenspiel im Beitrag von Traut in diesem Band sowie bei Riedel 167-70. Das Schwarze Auge ist keineswegs das einzige Rollenspiel, in welchem das Lateinische in beträchtlichem Ausmaß rezipiert wird, vgl. allein Ars Magica. Kiesow spricht von einem „Königreich Nostria“ (31), bezeichnet aber andernorts Andergast und Nostria als „unabhängige Fürstentümer“ (15).

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namens Andergast angrenzt. Beide Königreiche gelten als hinterwäldlerisch und arm, wobei ihr Entwicklungsrückstand maßgeblich mit den Kriegen, die sie über viele Jahrhunderte gegeneinander geführt haben, zusammenhängt. Zumindest teilweise dienen sie in Aventurien als comic relief, der die Lächerlichkeit eines übersteigerten Nationalismus und Chauvinismus subversiv vor Augen stellt (vgl. Kiesow 15f). Dieser blinde Chauvinismus (‚Wir‘ gegen die ‚Anderen‘) könnte sich auch in den Namen der Königreiche (Nostria gegen Andergast) widerspiegeln. Besonders reizvoll wäre es auch herauszufinden, ob der Zusammenhang zwischen dem zweiten Bestandteil des Namens Andergast, nämlich „Gast“ (althochdeutsch: Fremdling, Gast), und lat. hostis („Fremder, Fremdling, Ausländer“, viel häufiger aber „Feind“ im Sinne eines öffentlichen Feindes, eines Feindes im Kriege oder eines Staatsfeindes) bei der Benennung der Königreiche bekannt und intendiert war. In der ersten Regelversion aus dem Jahre 1984 (Abenteuer-Basis-Spiel) finden sich zwölf magische Formeln im Buch der Regeln (51-56), die alle aus zwei Elementen bestehen: Das erste Element wird zumindest teilweise von einem Kunstwort ausgefüllt (z. B. Fulminictus-Donnerkeil),13 das zweite Element besteht aus einem kurzen deutschen Satz, der die Wirkung des Zauberspruches expliziert. Der Schluss des ersten Elements reimt sich stets mit dem Schluss des zweiten Elements, so dass diese Zaubersprüche sehr stimmungsvoll wirken können, z. B. „Balsamsalabunde – Heile, Wunde!“ Zur Atmosphäre trägt auch bei, dass die ersten Elemente nach lautmalerischen Kriterien (etwa „Flim-Flam-Funkel – Bring Licht ins Dunkel!“) oder mit eindeutigen Anklängen an das Lateinische14 gewählt wurden. Schon im Buch der Regeln II von 1985 (Abenteuer-Ausbau-Spiel)15 sind jedoch unter den zahlreichen neu eingeführten Zaubern diejenigen, die nach dem oben dargestellten Muster gebildet sind, klar in der Minderzahl. Die Zaubersprüche der zur Zeit der Niederschrift dieses Beitrags aktuellen Regelversi13 14

15

Die hier kursiv gedruckten Bestandteile der Zaubernamen sind im Original in Großbuchstaben abgedruckt. Vgl. beispielsweise „Visibili-Vanitar – Zauber, mach mich unsichtbar“ zu visibilis „sichtbar“ und vanitas „Leere“ (hier wird die Wirkung des Zauberspruches im ersten Element sprachlich performativ vollzogen); „Fulminictus-Donnerkeil – Schlaget drein, Schwert und Beil“ zu fulmen „Blitz“ und ictus „Schlag“ und „Horriphobus-Schreckenspein – Fahr in deine Glieder ein!“ zu horror „Schrecken, Entsetzen“. In letzterem Zauberspruch ist auch das Altgriechische verarbeitet (φόβος [phobos]), welches das erste Element eines weiteren Zauberspruches ganz dominiert: „Paralü-Paralein – Sei starr wie Stein!“ zu παραλύειν (paraluein), das unter anderem auch „lähmen“ heißen kann. Auch einige Endungen der Kunstworte (etwa auf -or, -bor, -bus oder ibus) erinnern an die lateinische Formenlehre. Fuchs bietet neue Zauberformeln für Magier (31-34), Druidenzauber (34-36), Waldelfenzauber (36f.) und Wunder der Geweihten (37-43). Letztere entsprechen funktionell in vielerlei Hinsicht Zaubersprüchen, aber nur ein Wunder („Omnilingua“) trägt einen dem Lateinischen geschuldeten Namen (zu omnis „jede“ und lingua „Sprache“).

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on (vgl. Don-Schauen et al.) haben Namen, die aus ein bis drei oder (selten einmal) vier Wörtern bestehen, sind also nach Wort- und Silbenzahl wesentlich kürzer als in den Anfängen des DSA. Die zwei Elemente sind aber in vielen Fällen vorhanden (beispielsweise in den zahlreichen nach dem Muster von Infinitum Immerdar benannten Zaubersprüchen). Jedoch beschränkt sich die Verwendung des Lateinischen bei der Ausgestaltung Aventuriens keineswegs auf Charakteronyme. Bemerkenswert ist, dass es in Aventurien mit der Sprache „Bosporano“ ein eigenes ‚Ersatzlatein‘16 gibt, wie beispielsweise in dem einschlägigen Artikel im Lexikon des Schwarzen Auges deutlich wird: Bosporano ist „die mittlerweile außer in Kreisen des Klerus, der Magie und der Juristerei nicht mehr gebräuchliche Sprache des Alten Reiches“ (Meyhöfer et al. 46, Hervorhebung im Original). Wie das Lateinische auch ist Bosporano mit einem untergegangen Imperium verknüpft und Sprache der Wissenschaft, insbesondere der funktional weitgehend der Naturwissenschaft entsprechenden Magie. Die latinisierenden Namen von Zauberformeln oder -effekten sind damit auch inneraventurisch erklärt. Darüber hinaus wird Bosporano aber auch in anderen Zusammenhängen thematisiert. In einem Hintergrundband zum aventurischen Horasreich findet sich etwa der folgende Hinweis auf die dortige Nutzung von Visitenkarten: Die Verwendungsmöglichkeiten für diese kleinen papiernen Stellvertreter sind vielfältig und es besteht ein ausführlicher ‚Code‘, um dem anderen per Karte etwas mitzuteilen. Die entsprechenden Notizen sind selbstverständlich dem Bosporano entnommen und werden fast nur abgekürzt verwendet – eine gute Geheimschrift gegenüber dem ungebildeten Volk. (Raddatz 58)

Hier wird für Spielzwecke ein elitärer, auf Ab- und Ausgrenzung zielender Charakter des Lateinischen funktionalisiert. Aber es kommen durchaus auch über bloße Benennungen hinausgehende ‚Originalzitate‘ aus dem Bosporano vor. Ein Beispiel für solch kreativen Umgang finden wir im „Salamander“, einer aventurischen „Quartalsschrift für angewandte Magie und Alchimie“ (vgl. Wachholz): Unter der Schlagzeile „Borborad damnatus est!“ ist unter anderem der Wortlaut der Verdammung des Borborad durch die Hesinde-Kirche (Hesinde ist die aventurische Göttin der Magie) abgedruckt, die in deutscher Sprache formuliert ist, aber in einer bosporanischen Formel endet, die möglicherweise die eigentliche Verdammung darstellen soll:

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Der Name „Bosporano“ wurde möglicherweise in Anlehnung an das antike Bosporanische Reich gewählt. Ein anderes Beispiel für ein ‚Ersatzlatein‘ in der Fantastik stellt „Latatian“ auf Terry Pratchetts Discworld dar, vgl. Wenskus 59, A. 122.

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Borborad, Apostata Deorum, Multitudinem Insanctum, Damnatus Est Ab Originem In Eterniam. (ebd. 45)17

Im Abenteuerband Goldene Flügel von Michael Masberg gibt es für die Spieler unter anderem ein Rätsel zu lösen, bei dem sie darauf kommen müssen, die jeweils ersten Silben jedes Verses eines (in deutscher Sprache vorgelegten) Gedichtes zu den folgenden bosporanischen Sätzen zusammenzufügen: „Gratia occultat mendacium. Solus est sorores acceperat. Tertius geminus ferris alae falsae.“ (47)

Die Übersetzung wird im Abenteuerband beigegeben: „Gnade verbirgt (die) Lüge. Alleine ist, (was) Schwestern bekommen hat. Der dritte Zwilling trägt falsche Flügel.“18

Aus diesen Beispielen dürfte die Eigenart des Bosporano hinreichend deutlich geworden sein: Kostproben des Bosporano innerhalb des Regel- oder Hintergrundmaterials stehen dem Lateinischen außerordentlich nahe, zeigen aber eigentlich immer auf bewusste Verfremdung, bisweilen vielleicht auch Nachlässigkeit oder Unvermögen zurückgehende Abweichungen. Doch wird Bosporano nicht nur inneraventurisch, sondern auch auf einer Metaebene eingesetzt: Zahlreiche Spielhilfen tragen bosporanische Namen wie Geographia Aventurica, Zoo-Botanica Aventurica, Armorium Ardariticum oder Liber Cantiones. Durch die Bosporanisierung ihrer Titel werden diese Regelwerke und Hintergrundbücher selbst schon in die Welt des Phantastischen hineingezogen. Hier schafft das Lateinische nicht Orientie17

18

Das Gesetz der wachsenden Glieder ist hier in eindrucksvoller Weise umgesetzt. Die Übersetzung der Zeilen 2 und 4 fällt trotz des falschen Akkusativs nach der Präposition ab und des unlateinischen – aber von dem klassisch lateinischen Adjektiv aeternus abgeleiteten „Eterniam“ in Zeile 4 nicht schwer, Zeile 3 ist dagegen problematisch – problematisch freilich vor allem, wenn wir das Bosporano als zu übersetzendes Latein auffassen und die kognitive Funktion priorisieren, obwohl hier die emotional-assoziative Funktion eindeutig im Vordergrund steht. Die erste Zeile auf Bosporano entspricht genau der lateinischen Übersetzung. Die zweite Zeile müsste im Lateinischen freilich nicht „Solus est sorores acceperat“, sondern „Solum est, quod sorores accepit“ heißen. Abgesehen von den Endungen des ersten und letzten Wortes ist hier immerhin mit dem Relativpronomen quod ein wichtiger Satzteil ausgefallen. Ähnliche Differenzen zwischen Bosporano und Latein ergeben sich auch für die dritte Zeile: Statt „Tertius geminus ferris alae falsae“ müsste es im Lateinischen „Tertius geminus fert alas falsas“ heißen. Hier sind die Endungen der letzten drei Worte nicht korrekt. Es ist aber zu beachten, dass jede der ‚falschen‘ Bosporano-Formen im Lateinischen durchaus existiert, aber eben nicht die hier geforderte Funktion hat (ferris beispielsweise wäre im Lateinischen nicht die durch die Übersetzung „trägt“ nahegelegte 3. Person Aktiv, sondern die 2. Person Passiv).

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rung in der Phantastik, sondern markiert die Phantastisierung der Realität beziehungsweise eine Grauzone zwischen Phantastischem und Realem. Die komplexe Rolle des Lateinischen in Aventurien wird durchaus auch von Spielern reflektiert und diskutiert, wie sich in einem Internetforum nachvollziehen lässt: Hier geht es zunächst darum, welche Möglichkeiten es gibt, rollenspielrelevante Begriffe aus dem Deutschen ins Lateinische zu übersetzen. Die verschiedenen Möglichkeiten werden dann nach den Kriterien von Wohlklang einerseits und Korrektheit des lateinischen Sprachgebrauchs anderseits gegeneinander abgewogen. Dabei wird auch die Frage erörtert, ob es überhaupt wünschenswert wäre, Bosporano durch ‚korrektes‘ Latein wiederzugeben – eine originelle Formulierung der Gegenposition stellt der Satz „Bospherano ist kein Latein, sondern pseudolatien“ mit seinen absichtsvollen Verschreibungen dar.19 Latein wird, wie wir gesehen haben, in der Welt des Schwarzen Auges auf vielfältige Weise funktionalisiert: Nicht nur im Rahmen von teils schlicht, teils aber auch subversiv-komplex funktionierenden Charakteronymen, sondern auch mit Hilfe eines als „Bosporano“ bezeichneten Ersatzlatein. Dieses symbolisiert zwar bisweilen lediglich abstrakt soziale Distinktion und Exklusivität. Es ist aber vor allem in Form von ‚Originalzitaten‘, die eigentlich immer größere oder kleinere Abweichungen zur realen lateinischen Sprache aufweisen, atmosphärestiftend im Spiel präsent. Über die latinisierende Benennung von Regel- und Hintergrundwerken wird eine auch marketingrelevante Grauzone zwischen Realität und Fantasy geschaffen. Dieser sehr vielfältige und komplexe Umgang mit dem Lateinischen führt zumindest in einem Teil der Spielergemeinde auch zu weitergehenden kreativen Auseinandersetzungen mit dem Lateinischen und zu Reflexionen über seine Verwendung in Aventurien. 4. H.P. Lovecraft Eine gänzlich andere Ausprägung der Phantastik tritt uns in dem Œuvre von Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) entgegen. Der Schöpfer des sogenannten Cthulhu-Mythos wusste und weiß in seinen Lesern kosmisches Grauen hervorzurufen. Im Folgenden sollen zwei Funktionalisierungen des Lateinischen in seinem Werk näher in den Blick genommen werden.20

19 20

Vgl. Chat-Protokoll „Übersetzungstool Deutsch-Latein“, Druckversion vom 12.08.2010, Quelle: Alveran (www.alveran.org). Daneben findet sich das Lateinische bei Lovecraft freilich auch sonst, insbesondere in Benennungen von realen oder erfundenen Büchern okkulten beziehungsweise magischen Inhalts sowie als Bestandteil von Zaubersprüchen.

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In der Kurzgeschichte „The Festival“ gelangt der Ich-Erzähler am Weihnachtstag nach Kingsport, einem fiktiven Ort in Neuengland,21 offenbar zu einer Art Familientreffen, dem er aber bisher noch nie beigewohnt hat. Im Laufe der Geschichte macht er eine Reihe von zunehmend beunruhigenden Beobachtungen und Erfahrungen; in der Rückschau scheint er um Jahrhunderte zurückversetzt worden zu sein, und es wird impliziert, dass es sich bei seinen Familienangehörigen um untote, in unheilige Riten verwickelte Zauberer handelt. Als er in einem Krankenhaus wieder zu sich kommt, wird ihm gesagt, dass seine Erinnerungen nicht mit der Realität übereinstimmen. Doch fühlt er durch das Studium des eigentlich unter Verschluss gehaltenen Buches Necronomicon die Zuverlässigkeit seiner Erinnerungen bestätigt. Als Motto ist der Kurzgeschichte ein lateinischer, dem Autor Lactantius zugeschriebener Satz vorangestellt: „Efficiunt Daemones, ut quae non sunt, sic tamen quasi sint, conspicienda hominibus exhibeant.“ (109) Dieses Motto könnte man etwa folgendermaßen übersetzen: „Die Dämonen bewirken, dass sie der Betrachtung der Menschen, was nicht existiert, trotzdem so, als ob es existierte, präsentieren.“ Dass ein phantastischer Text mit einem Motto versehen ist, stellt keinen ungewöhnlichen Befund dar. Der häufigen Verwendung von Mottos im Genre der Gothic Novel beziehungsweise des Schauerromans am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wird sogar eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung der Verwendung dieses Paratextes zugeschrieben (vgl. Genette 143; Antonsen 32). Bedeutsam dürfte in diesem Zusammenhang die legitimatorische Funktion des Mottos gewesen sein, die intellektuellen Anspruch und kulturelle Anschlussfähigkeit hervorzuheben vermag.22 Gerade für diese Funktion ist die Verwendung der lateinischen Sprache sicherlich gut geeignet. Darüber hinaus wird man darauf hinweisen dürfen, dass Lovecraft für das 18. Jahrhundert eine außerordentliche Begeisterung an den Tag legte und die literarischen Gepflogenheiten dieses Jahrhunderts in vieler Hinsicht für sich zum Stilideal erkoren hatte.23 Und gerade im 17. und 18. Jahrhundert waren lateinische Quellentexte für Mottos weit verbreitet (vgl. Genette 142; Antonsen 33-35). Allerdings weisen Lovecrafts Erzählungen in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle überhaupt kein Motto auf, und die Mehrzahl der vorhandenen Mottos wird nicht in lateinischer, sondern in englischer Sprache 21 22 23

Eine bedeutende Rolle bei der Ausgestaltung von Kingsport dürften Lovecrafts Aufenthalte in und Eindrücke von Marblehead, MA, gehabt haben; vgl. Loucks, passim. Vgl. dazu etwa auch Genette: „Das bloße Motto ist ein Signal […] für Kultur, ein Losungswort für Intellektualität“ (156). Seine Bemühungen, den Stil des 18. Jahrhunderts genau zu imitieren, dürften in vielen Fällen etwas Übertriebenes haben; sie versetzten ihn aber auch in die Lage, beispielsweise die in die Erzählung „The Case of Charles Dexter Ward“ eingelegten Briefe aus dem 18. Jahrhundert sprachlich sehr authentisch zu gestalten.

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geboten. Lateinische Mottos stellt Lovecraft seinen Erzählungen allerdings außer in „The Festival“ auch in zwei anderen Erzählungen voran, so im Falle von „The Tree“ wo er Vergil, Aeneis 3,195 (fata viam invenient; 15), und im Falle von „The Tomb“, wo er Vergil, Aeneis 6,371 (sedibus ut saltem placidis in morte quiescam; 1) zitiert. Doch unterscheidet sich das Motto der Erzählung „The Festival“ von den beiden anderen lateinischen Mottos in verschiedenen Punkten: Zum einen wird mit Lactantius nicht ein (zumindest bei einem gebildeten Publikum) bekannter klassischer (und heidnischer) antiker Autor, sondern ein recht wenig bekannter (und christlicher) Autor der Spätantike angeführt. Zum anderen handelt es sich nicht um ein relativ kurzes, auf einen halben oder gerade einmal ganzen Hexameter beschränktes Zitat, sondern um einen längeren Satz in Prosa, der darüber hinaus auch inhaltlich weitgehend mit der Erzählung, welcher er vorangestellt ist, korrespondiert. Die Übersetzung verlangt einerseits gewisse Kenntnisse des Lateinischen, andererseits liegt die Hauptfunktion dieses Paratextes darin, den Leser auf den gruseligen Inhalt der Geschichte einzustimmen und eine entsprechende Atmosphäre zu erzeugen. Dass schon die bloße Verwendung lateinisch anmutender Worte sehr weitgehend ‚funktioniert‘, kann man vielleicht auch daran ablesen, dass in mehreren Ausgaben (vgl. z. B. Omnibus 215) das erste Wort durch einen Druckfehler zu efficiut entstellt ist. Das Motto entspricht also einerseits weitgehend dem, was Genette als romantisches Motto bezeichnet hat,24 geht aber seiner Funktion nach darüber hinaus, da es nicht nur dekorativ und affektiv, sondern auch intellektuell lohnend rezipiert werden kann. Dabei kann man vielleicht drei Ebenen des Verständnisses unterscheiden: Auf der ersten – und für die Fragestellung dieses Beitrages in gewisser Weise interessantesten – Ebene wird das Motto nicht seinem Gehalt nach, sondern lediglich als etwas Lateinisches beziehungsweise doch lateinisch Anmutendes verstanden. Und schon diese erste Ebene, die keinerlei Lateinkenntnisse, sondern nur eine vage Ahnung, wie Latein aussehen könnte, voraussetzt, ermöglicht es, eine Reihe von Funktionen zu entfalten: Neben der dekorativen Funktion ist dies die affektive, die weite Assoziationsräume eröffnet, und nicht zuletzt die legitimatorische. Letztere dürfte für den sich als Gentleman inszenierenden Lovecraft eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben – zumal angesichts der Tatsache, dass das Medium der Pulp-Fiction-Hefte, in dem „The Festival“ – wie andere Erzählungen Lovecrafts auch – erschien, nicht eben zur etablierten Hochkultur gezählt wurde. 24

Genette: „Diese ausweichende, eher affektive denn intellektuelle und mitunter eher dekorative denn affektive Funktion läßt sich bei den meisten Motti nachweisen, die wir kurzerhand als romantisch bezeichnen“ (154).

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Die zweite Ebene der Rezeption wäre dann die Übersetzung des lateinischen Mottos, die angesichts des sehr allgemein gehaltenen Titels nähere Informationen über die Erzählung bietet und die durch die Verwendung des Lateinischen evozierten Assoziationen in eine bestimmte Richtung hin verstärkt. Der Satz evoziert dämonische Mächte, welche die Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung beeinträchtigen. Dadurch spielt er auf die Unschlüssigkeit des Erzählers wie des Lesers an und damit auf ein nach Todorov konstituierendes Merkmal der phantastischen Literatur (33; vgl. Simonis 46). Der Paratext affirmiert vordergründig die Existenz des Phantastischen und stimmt den Leser so auf den Inhalt der Geschichte ein. Eine dritte Ebene der Rezeption ist schließlich erreicht, wenn der Gehalt des Mottos kritisch reflektiert wird. Soll man dem Motto Glauben schenken oder nicht? Und wenn ja, in welchem Sinne? Denn zumindest aus einer modernen Perspektive heraus wirkt das Motto paradox: Einerseits beschwichtigt es uns, indem es uns zu versichern scheint, dass übernatürliche Dinge („quae non sunt“) nicht existieren, andererseits beunruhigt es uns, da es erstens die Existenz von Dämonen und zweitens dämonischen Einfluss auf unsere Sinneswahrnehmung postuliert. Insofern bietet auch der Paratext, der Unschlüssigkeit thematisiert, selbst schon Anlass zu Unschlüssigkeit. Diese Unschlüssigkeit wird aber für Rezipienten mit bestimmten Vorkenntnissen noch durch zwei Faktoren erhöht. Da ist zum einen der Autor, dem das Motto zugeschrieben wird: Lactantius (ca. 250 bis 325 n. Chr.) ist ein frühchristlicher Apologet, Rhetorikprofessor und Zeitgenosse der so genannten Konstantinischen Wende. Sicherlich wird man nicht so weit gehen wollen, dem Autor des Mottos in unserem Fall größeres Gewicht einzuräumen als dem Gehalt des Mottos.25 Trotzdem vermag die Person des in vieler Hinsicht umstrittenen26 Lactantius bei Lesern mit entsprechenden Vorkenntnissen durchaus Assoziationen von Heteronomie (in Gestalt von Häresie oder Kryptopaganismus) und/oder verschollenem okkulten Geheimwissen zu wecken. Zum anderen wird ein allzu neugieriger Leser feststellen müssen, dass der von Lovecraft als Motto verwendete und Lactantius zugeschriebene Satz in den Schriften des Lactantius überhaupt nicht zu finden ist. Lovecraft dürfte den Satz aus den Magnalia Christi Americana von Cotton Ma25 26

Vgl. etwa Genette: „Wahl der Autoren signifikanter als die Texte der Motti als solche“ (144) und „Bei einer großen Zahl von Motti ist die Hauptsache also bloß der Name des zitierten Autors“ (154f.). Die Schriften des Lactantius stellen eine wichtige Quelle für – zumal aus moderner Perspektive – okkult anmutende Orakelliteratur wie z.B. das Corpus Hermeticum, die Oracula Sibyllina oder die Hystaspes-Orakel dar. Schon in der Spätantike selbst gehen die Meinungen über ihn weit auseinander, und im sechsten Jahrhundert geraten seine Schriften unter die im Decretum Gelasianum als apokryph gebrandmarkten (vgl. Walter 22).

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ther aus dem Jahre 1702 übernommen haben.27 Der Wortlaut des (angeblichen) Lactantius-Zitats lässt sich freilich noch etwas weiter zurückverfolgen: Cotton Mather selbst könnte ihn von seinem Vater Increase Mather übernommen haben.28 Hier, im Jahre 1693, verliert sich die Spur aber. In den Schriften des Lactantius29 findet sich der Satz in dieser Form nicht, möglicherweise handelt es sich aber um eine stark veränderte Reminiszenz an eine tatsächliche Formulierung des Lactantius.30 Darüber hinaus steht das Lateinische aber auch in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der Kurzgeschichte, und zwar insofern, als es für eine weit zurückliegende, aus dem Blick geratene identitätsstiftende Vergangenheit steht, die mit der Gewalt des Verdrängten über den Ich-Erzähler hereinbricht. Dazu passt auch, dass die Erzählung nicht nur mit einem lateinischen Motto beginnt, sondern auch mit einem längeren Zitat aus dem Necronomicon endet, das vom Erzähler zwar nur auf Englisch geboten, aber explizit als „from the Low Latin“ (117) übersetzt bezeichnet wird. Schließlich wäre auch zu fragen, inwiefern die Funktionalisierung des Lateinischen mit der Tatsache in Zusammenhang steht, dass Lovecraft mit „The Festival“ eine ‚Anti-Weihnachtsgeschichte‘ bietet.31

27

28

29 30

31

Nach Joshi Call of Cthulhu 385, Anm. 1 handelt es sich um ein Zitat aus den Divinae institutiones (2,15), das Lovecraft von Cotton Mather übernommen habe („Lovecraft derived it from Cotton Mather’s Magnalia Christi Americana (1702), where it is cited in the Appendix (‘Pietas in Patriam’) to Book II“). In dessen Cases of Conscience concerning evil SPIRITS. Personating Men, Witchcrafts, infallible Proofs of Guilt in such as are accused with that Crime. All Considered according to the Scriptures, History, Experience, and the Judgement of many Learned men (Boston 1693) ist der lateinische Satz auf der Titelseite abgedruckt und Lactantius (inst. 2,15) zugewiesen. Es steht fest, dass eine Reihe von lactanzischen Schriften nicht auf uns gekommen sind. Allerdings gibt es keine Hinweise, dass in der Neuzeit ein größerer Teil des lactanzischen Schrifttums vorlag als heute. Im Kapitel inst. 2,15, das Increase Mather und – wohl in Anlehnung an Cotton Mather – S.T. Joshi angeben, erörtert Lactantius zwar auch Dämonologisches, aber die LactantiusStelle, die inhaltlich dem von Lovecraft verwendeten Motto am nächsten kommt, findet sich mitten im unmittelbar voraufgehenden Kapitel, in inst. 2,14,10: magorum quoque ars omnis ac potentia horum aspirationibus constat, a quibus invocati visus hominum praestigiis occaecantibus fallunt, ut non videant ea quae sunt et videre se putent illa quae non sunt. („Auch der Magier gesamte Kunst und Macht beruht auf deren [das heißt: der Dämonen, J.W.] Eingebungen. Wenn sie [die Dämonen] von ihnen [den Magiern] angerufen worden sind, täuschen sie die optische Wahrnehmung der Menschen durch blendende Vorspiegelungen/Blendwerke, so dass sie das, was existiert, nicht sehen und von dem, was nicht existiert, glauben, das sie es sehen.“) Sollte diese Stelle der Ursprung für den von den Mathers und dann von Lovecraft benutzten lateinischen Satz sein, hätten wir es mit einem besonders krassen Fall eines ‚misslungenen‘ Gedächtniszitats zu tun, in dem eine sehr grobe Paraphrase als Originalzitat ausgegeben und falsch (wenn auch nur um ein Kapitel) lokalisiert wird. Vgl. 109: „It was the Yuletide, that men call Christmas though they know in their heads it is older than Bethlehem and Babylon, older than Memphis and mankind“; „The Festival“ wurde u.a. auch zur Untermauerung der These herangezogen, dass Lovecrafts Cthulhu-

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In der längeren Erzählung „The Case of Charles Dexter Ward“ ist das Lateinische dagegen in die Erzählung eingebettet und stellt dort einen wahrhaften ‚Eye-catcher‘ dar, der nicht zu Unrecht als „[t]he most extraordinary written communication in the novel“ (Cannon 152) bezeichnet worden ist. Denn für den ungeübten Betrachter weitgehend unlesbare lateinische Minuskeln sind sogar noch in preiswerten Taschenbuchausgaben abgedruckt und konfrontieren den Leser so auch rein visuell bereits mit der Fremdheit des Lateinischen. Charles Dexter Ward ist ein junger Mann mit dezidiert antiquarischen Interessen. Mit einer an Besessenheit grenzenden Begeisterung trägt er Informationen über einen geheimnisvollen Mann namens Joseph Curwen zusammen. Die von Ward gefundenen Quellen bringen ihn mit mannigfaltigen Verbrechen und magischen Tätigkeiten in Verbindung und berichten davon, dass er schließlich im Jahre 1771 im Rahmen von Selbstjustiz von aufgebrachten Bürgern getötet wurde. Über die Jahre hinweg gelangt Ward an immer beunruhigendere Informationen, scheint sich aber auch selbst so stark zu verändern, dass er schließlich in eine geschlossene Anstalt eingewiesen wird. Sein Hausarzt Marinus Bicknell Willett, der die Entwicklung Wards mit wachsender Besorgnis verfolgt hat, versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen und entdeckt im Zuge seiner Untersuchungen unter anderem ein offenbar noch aus dem 18. Jahrhundert stammendes unterirdisches System von Gängen und Räumen, in dem er Schrecken erlebt, die ihn schließlich in Ohnmacht fallen lassen. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich außerhalb des unterirdischen Gemäuers auf einem Bett innerhalb des Hauses, in dessen Keller er den Zugang zu dem Gangsystem entdeckt hatte, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist. In seiner Tasche findet sich ein Zettel, der mit den genannten lateinischen Minuskeln mit Hilfe eines Bleistifts beschrieben worden ist. Der Text wird von Willett und Mr Ward, dem Vater des Protagonisten der Erzählung, mit einiger Mühe entziffert, der lateinische Text in normalem Druckbild und dann auch in englischer Übersetzung wiedergegeben: ‚Corvinus necandus est. Cadaver aq(ua) forti dissolvendum, nec aliq(ui)d retinendum. Tace ut potes.‘ – which may roughly be translated, ‚Curwen must be killed. The body must be dissolved in aqua fortis, […]32 nor must anything be retained. Keep silence as best as you are able.‘ (192)

Dabei entpuppen sich die lateinischen Minuskeln einerseits als verstörender Beweis für die Faktizität einer von Willet unabsichtlich, aber erfolgreich

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Mythos als Parodie des Christentums gelesen werden kann (vgl. Egan passim; bes. 367, 370, 372). Hier steht in der Ausgabe eine hochgestellte Anmerkungsnummer, die auf eine Endnote verweist, in der der Herausgeber Joshi den Begriff ‚aqua fortis‘ erläutert.

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durchgeführten Totenbeschwörung.33 Die Minuskelnotiz vermittelt andererseits den Protagonisten wichtiges Wissen, um den Gegenspieler besiegen zu können, auch wenn am Ende der Geschichte ein anderer Weg gewählt wird. Die Fremdheit des Lateinischen wird nicht nur dadurch betont, dass der Text zunächst in für den gewöhnlichen Leser unentzifferbaren Minuskeln, dann auf Latein und erst zuletzt auf Englisch dargeboten wird. Der unmittelbare Kontext34 hebt die Fremdheit insbesondere der Schrift deutlich hervor und scheint die Rezeption massiv lenken zu sollen. Hier wird ganz eindeutig das Klischee vom ‚dunklen Mittelalter‘ evoziert („mediaeval darkness“; „a very dark period; the pale moon“), eines üblen Zeitalters („no script of any wholesome age“; „an uncouth time“; „strange deeds“). Die Formulierung „laboured strokes“ legt gar nahe, dass Schriftlichkeit für den mittelalterlichen Schreiber ein mühsames Geschäft ist, was

33

34

Im Laufe der Erzählung stellt sich heraus, dass Joseph Curwen eine Möglichkeit entdeckt hatte, aus den sterblichen Überresten von Menschen „essentielle Salze“ zu gewinnen, aus denen wiederum die Menschen selbst beschworen werden konnten, und zwar offenkundig nicht als substanzloser Geist, sondern in körperlicher Form. Curwen und seine Freunde nutzten diese Methode, um Wissen und Macht anzuhäufen, indem Sie sowohl lokal als auch international gezielt Gräber plündern ließen, um die dort Bestatteten zu beschwören und von ihnen Informationen zu erpressen. Der Verfasser der Minuskeln gehört offensichtlich zu diesen Gefangenen, die zu Zwecken der Vernehmung aus ihren „essential salts“ beschworen und sonst als „dry, dull-greenish efflorescent powder“ (188) aufbewahrt werden (die Behältnisse, in denen besagte Gefangene wie auch ihre Wächter in Pulverform verwahrt werden, sind ihrerseits mit den lateinischen Bezeichnungen materia beziehungsweise custodes bezeichnet, und die Erschließung der Bewandnis dieser Bezeichnungen durch Willett wird von Lovecraft ausführlich dargestellt [185f.]). Die durch die Minuskeln verbürgte Faktizität der Totenbeschwörung weist auch auf das Geheimnis des Falles Charles Dexter Ward hin: Dieser hat Joseph Curwen (seinen eigenen Urahn, wie sich herausstellt) beschworen und ist schließlich von diesem ermordet worden. Aufgrund der großen äußerlichen Ähnlichkeit kann sich Curwen fortan als Charles Dexter Ward ausgeben und erregt nur durch seine mangelnden Kenntnisse der Verhältnisse des 20. Jahrhunderts Verdacht, der zu seiner Einweisung in ein Geisteskrankenhaus führt. Vgl. den Abschnitt vor dem Abdruck der Minuskeln: „It was folded very carelessly, and beyond the faint acrid scent of the cryptic chamber bore no print or mark of any world but this. But in the text itself it did indeed reek with wonder, for here was no script of any wholesome age, but the laboured strokes of mediaeval darkness, scarcely legible to the laymen who now strained over it, yet having combinations of symbols which seemed vaguely familiar. The briefly scrawled message was this […]“ (191f.) und den Abschnitt zwischen dem Abdruck der Minuskeln und der eben im Haupttext zitierten lateinischen und englischen Wiedergabe in gewöhnlichem Druckbild: „The letters were indeed no fantastic invention, but the normal script of a very dark period. They were the pointed Saxon minuscules of the eighth or ninth century A.D., and brought with them memories of an uncouth time when under a fresh Christian veneer ancient faiths and ancient rites stirred stealthily, and the pale moon of Britain looked sometimes on strange deeds in the Roman ruins of Caerleon and Hexham, […] and by the towers along Hadrian’s crumbling wall. The words were in such Latin as a barbarous age might remember―“ (192).

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implizit das (angebliche) Ausmaß der Unbildung im Mittelalter illustriert.35 Schließlich wird auch der Grad der Beherrschung der lateinischen Sprache als gering markiert („The words were in such Latin as a barbarous age might remember“) – völlig zu Unrecht, wie eine Analyse des lateinischen Textes ergibt: Sprachfehler finden sich keine, ja abgesehen von dem Ausdruck aqua fortis für „Säure“ könnte der Text, was die Sprachgestalt oder stufe angeht, auch von Cicero persönlich formuliert worden sein.36 Sogar der Name Corvinus (bei Lovecraft für Curwen) kommt in den Schriften Ciceros vor.37 Die Verwendung des Lateinischen an dieser Stelle ist in mehrerer Hinsicht auffällig. Zum einen ist für den lateinischen Wortlaut bisher keine Vorlage ermittelt worden, ganz im Gegensatz zu anderen Kostproben des Lateinischen in Werken von Lovecraft, bei denen sich üblicherweise zeigen lässt, dass und wo Lovecraft sie abgeschrieben hat.38 Offenbar hat Lovecraft die lateinischen Sätze selbst formuliert. Auf jeden Fall scheint sich hier ein eigenständiger Umgang mit der lateinischen Sprache zu zeigen, der sowohl nennenswerte sprachliche als auch paläographische Kenntnisse voraussetzt. Bei Lovecraft finden wir eine besonders komplexe Verwendung des Lateinischen. Für das lateinische Motto in der Erzählung „The Festival“ lässt sich eine Vielzahl von Funktionen plausibel machen je nach dem, auf welcher Ebene und mit welchen Latein- und sonstigen Vorkenntnissen es rezipiert wird: Durch die bloße Anmutung des Lateinischen vermag es dekorativ zu wirken und beim Rezipienten Assoziationsspielräume (etwa des Unheimlichen) zu eröffnen. Aufgrund der Tatsache, dass es auf Latein verfasst ist und auf einen Kirchenvater zurückgeführt wird, hat es auch legitimatorische Funktionen und verleiht somit einem Beitrag zu einer Gattung Autorität, die zeitgenössisch eher als trivial denn als etabliert eingeschätzt wurde. Auf einer höheren Ebene der Reflexion vermag das Motto durch seinen Gehalt, aber auch seine problematische Zuschreibung 35

36

37 38

Freilich steht diese Charakterisierung der Minuskeln in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu dem engagierten und zielstrebigen Vorgehen des Verfassers der Minuskeln, der sich offenbar innerhalb kürzester Zeit im 20. Jahrhundert zu orientieren und gegen die Spießgesellen Curwens im fernen Europa drastische Aktionen (vgl. 195) in die Tat umsetzen kann. Vom Standpunkt einer an Cicero und Caesar ausgerichteten Sprachnorm ist die Verwendung von aliquid im Anschluss an nec auffällig. In der Regel würde nach nec nicht aliquid, sondern quicquam stehen. Allerdings kann aliquid stehen, wenn es die Bedeutung „auch nur irgend etwas“ hat, vgl. Menge § 89,6d. In allen drei Gattungen: politische Rede (In M. Antonium orationes Philippicae 5,48); philosophische Schrift (Cato maior de senectute 60) und Brief (Epistulae ad M. Iunium Brutum 1,12,1). Vgl. etwa das lateinische Zitat in der Erzählung „The Horror at Red Hook“ in Lovecraft Dreams 135 und dazu die Anmerkung von Joshi Dreams 430, Anm. 48.

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an einen nicht unumstrittenen Autor beim Leser Unschlüssigkeit hervorzurufen. Im Fall der geheimnisvollen Minuskelnachricht in der Erzählung „The Case of Charles Dexter Ward“ spielen Vorkenntnisse des Rezipienten dagegen eine geringere Rolle, da die Minuskeln in moderner Schrift wiedergegeben und sogar ins Englische übersetzt werden. Der untote Status des toten und doch nicht toten Lateins spiegelt hier den nekromantischen Kontext. Zwar ist besonders auffällig, dass Lovecraft hier weitestgehend klassisches Latein durch ausgiebige Kommentierung im Kontext als Marker von (Kultur-)Verfall inszeniert. Insgesamt wird jedoch eine beträchtliche Fähigkeit und Bereitschaft deutlich, für die sowohl visuelle als auch sprachliche Authentizität des lateinischen Textes einen beträchtlichen Aufwand zu treiben.39 5. Fazit Die vorausgegangenen Beobachtungen konnten nur einige Schlaglichter auf die Fülle des Materials werfen. Festgehalten werden kann, dass Latein bei der Strukturierung des phantastischen Raumes vielfältige Rollen wahrnimmt und dabei überwiegend positiv konnotiert ist. Demgemäß können einerseits Lateinkenntnisse bei der Erschließung phantastischer Räume helfen, andererseits auch und mehr noch aber auf das Lateinische bezogene Assoziationsdispositionen. Im Zuge der Globalisierung entsteht leicht der Eindruck, dass Normen immer schneller in Frage gestellt oder transformiert werden. Vor dem Hintergrund eines damit häufig einhergehenden Orientierungsdefizits kann Latein eine gegenweltliche Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit, ja Bindung und Beheimatung evozieren und so attraktiv erscheinen. Diese These wäre in weiteren Forschungen zu prüfen. Ebenso wäre es erstrebenswert, anhand des Lateinischen das prekäre Verhältnis zwischen Phantastik und Religion40 zu untersuchen. Einen Ausgangspunkt dafür könnte beispielsweise der kirchliche Exorzismus darstellen: Wo in der Phantastik 39

40

Die in den verschiedenen Ausgaben gebotenen Minuskeln sind keineswegs identisch. Es wäre interessant zu erfahren, ob Lovecraft selbst sich die Mühe gemacht hat, die Minuskeln nachzuempfinden (und welche der gedruckten Versionen dann der Originalversion am nächsten kommt) oder ob er nur die Anweisung gegeben hat, den lateinischen Text in Minuskeln darzubieten. Vgl. dazu allgemein Frenschkowski, der von einer paradoxen Nachbarschaft zwischen Religion und Phantastik (32f.) beziehungsweise einer „innere[n] Wesensverwandtschaft beider geistiger Tätigkeiten“ (43) spricht und postuliert: „Phantastik und Religion verhalten sich zueinander wie Spiel und Ernst, und wer wollte leugnen, dass beide zum Leben dazugehören?“ (Hervorhebung im Original).

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Dämonen oder sonstige mehr oder weniger jenseitige Ungeheuer thematisiert werden, stellt der Exorzismus ein besonders häufiges Einfallstor für das Lateinische dar. Für die weitere Beschäftigung mit der Rolle des Lateinischen in der Phantastik erscheinen insbesondere zwei Fragenkomplexe vielversprechend: 1. die Interdependenz von semantischer Polyvalenz des Lateinischen und seiner phantastischen Funktionalisierung. Inwieweit konstituieren die ambivalente Bedeutung, der ‚untote‘ Status des Lateinischen und sein im Freud’schen Sinne unheimlicher Charakter eine besondere Affinität zur Phantastik? Und umgekehrt: Wie tragen die lateinischen Anteile der Phantastik zur weiteren semantischen Diversifizierung des Lateinischen in der realen Gesellschaft bei? 2. die Interdependenz des prekären normativen Status des Lateinischen und seiner phantastischen Funktionalisierung. Ist Latein ein Fundament der westlichen – oder gar globalisierten – Kultur oder vielmehr ein Auslaufmodell? Wie steht es mit den Instanzen, die das Lateinische symbolisieren kann (z.B. Bildung, Bildungsbürgertum, Christentum, Naturwissenschaft)? Inwiefern werden normative Ambiguitäten, Transformationen oder gar Umbrüche durch die Funktionalisierung des Lateinischen in der Phantastik gespiegelt, verhandelt und – direkt oder indirekt – problematisiert? Suchen Menschen beispielsweise in einer weithin nicht mehr kirchlich geprägten Gesellschaft mit Hilfe des Lateinischen im Bereich der Phantastik Bedürfnisse zu erfüllen, die sonst in der Kirche (etwa durch das liturgische Latein und seine vielfältigen Implikationen) befriedigt werden konnten, könnten oder sollten? Wie beeinflusst umgekehrt die Phantastik den realen normativen Status des Lateinischen und der Instanzen, die durch dieses symbolisiert werden? Wie wird Latein in der Phantastik bewusst (oder unbewusst) eingesetzt, um zu bestimmten gesellschaftlichen Fragestellungen (Sinn oder Unsinn, Notwendigkeit oder Gefährlichkeit etwa von bestimmten Technologien oder Religionen) Stellung zu nehmen? Literaturverzeichnis Ars Magica. 3rd Edition. Ohne Verfasser. Ohne Ort: White Wolf, 1992. Das Buch der Regeln oder das Gesetz des Schwarzen Auges. Ohne Verfasser. Abenteuer-Basis-Spiel. München: Knaur, 1984. Antonsen, Jan Erik. Text-Inseln: Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1998.

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Die Konstruktion kollektiver Imaginationsräume im Fantasy-Rollenspiel LUCIA TRAUT The Construction of Spaces of Imagination in Fantasy Roleplaying Games In the community of pen & paper role-playing games one can observe an increased deliberate usage of sensory media during the past ten years. This development transcends the original idea of pen & paper role-playing games to create a shared imaginary space through spoken language. It indicates the players’ intention to create a highly immersive alternate reality, in which their imagination and the physical reality virtually become one. This article focuses on the performative process of creating that new reality. The main concept and important terms of pen & paper role-playing games will be introduced briefly. The term ‘shared imaginary space’ will be discussed on a theoretical level regarding theories of liminality and (ritual) performance (Victor Turner, Catherine Bell). The point of this article is to connect theories of imagination with theories of performance through the missing link of ‘sensory experience’ using an aesthetical approach: The hypothesis here is that the orally constructed shared imaginary space gains an “aura of factuality” (Clifford Geertz) by deliberate sensory stimulation during the role-playing game. This will lead to an analysis of the aesthetics of role-playing games: the actual setting and sensory media of gaming sessions, i.e. light, props, pictures and – above all – music and sound.

Die fantastischen Spielwelten von Fantasy-Rollenspielen stechen unter anderen imaginären Welten hervor, weil sie verschiedene Arten von Vorstellungswelten miteinander vereinen. Erstens: die Welten der privaten Tagträume und Fantasien, die man nach eigenen Wünschen ausstatten und steuern kann. Zweitens: Vorstellungswelten, die sich als literarischer Text oder in anderen medialen Formen manifestieren, die von anderen erschaffen wurden, in die man aber durch die Rezeption eintauchen kann, um die eigene Vorstellungskraft zu beflügeln. Und drittens: Vorstellungswelten, die man mit anderen Menschen teilt – gemeinsame Vorstellungsräume, die eine eigene Art von kollektiver Erfahrung ermöglichen1. All 1

Dies ist z.B. bei allen Religionen der Fall – insbesondere im rituellen Handeln; in abgeschwächter Version kann man von dieser Art der Vorstellungswelten auch in Bezug auf Szenen oder Publikumskulten, die sich rund um eine Fiktion formieren, sprechen.

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diesen Vorstellungswelten ist gemeinsam, dass mit ihrer Hilfe die Alltagswelt transzendiert werden kann. Die Vorstellungswelten legen sich gewissermaßen ‚über‘ die Alltagswirklichkeit. So wird die Alltagswelt durch den Akt der Vorstellungskraft verlassen – oder besser: ausgeblendet – und es entsteht (anscheinend) eine ‚neue‘, von den Vorstellungen geprägte, Wirklichkeit. Das geschieht im Fantasy-Rollenspiel intensiv durch die Verbindung der Qualitäten der unterschiedlichen Arten von Vorstellungsräumen: Die Spieler tauchen in eine medial bereitgestellte imaginäre Welt ein. Dies tun sie nicht allein, sondern gemeinschaftlich zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter. Dabei werden die Spieler aber nicht auf die Rolle von Konsumenten beschränkt, sondern können den Verlauf der Entdeckungsreise in die fantastische Welt ähnlich wie bei Tagträumen nach ihren eigenen Vorstellungen selbst aktiv beeinflussen, indem sie in die Rolle einer Person dieser Spielwelt schlüpfen und so mit der Spielwelt interagieren. Dies macht wohl die Faszination aus, die Millionen von Menschen weltweit dazu veranlasst, in Computerrollenspielen oder so genannten ‚Massively Multiplayer Online Role-Playing Games‘ (MMORPGs) in unterschiedlichste fantastische Spielwelten einzutauchen. Ein Vorläufer dieser digitalisierten Rollenspiele sind die so genannten Pen & Paper-Rollenspiele (P&P; auch Tischrollenspiele genannt). Ihre Spielwelten zeichnen sich dadurch aus, dass sie narrativ, durch gemeinschaftliches Erzählen entstehen. Auch das Bereisen dieser Rollenspielwelten, das Agieren in ihnen, geschieht mittels gesprochener Sprache im gemeinsamen, dramatischen, freien Erzählen der Spieler. Hier wird der Aspekt des ‚gemeinsamen Vorstellungsraums‘ noch deutlicher als bei digital generierten Spielwelten: Die Spieler interagieren nicht mit einer (durch ein Programm) vorgegebenen Spielwelt, sondern mit einer Spielwelt, die sie selbst durch das Spielen gemeinsam narrativ erzeugen; weil die P&P-Spielwelt während des Spielens in Form von Erzählung existiert – sprachlich performiert wird –, kann sie durch das sprachliche Handeln jedes einzelnen Spielers verändert werden. Die gemeinsame Spielwelt existiert nur dadurch, dass jeder Spieler seine eigenen Imaginationen in kommunikative Handlungen übersetzt und so die Imagination seiner Mitspieler anregt und beeinflusst. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass gerade in der theoretischen Reflexion des P&P der Begriff des Shared Imaginary Space kreiert wurde: Shared Imaginary Space ist auf der Rollenspieltheorie-Internet-Plattform The Forge definiert als „the fictional content of play as it is established among participants through roleplaying interactions“ (Edwards, k.S.). Shared Imaginary Space bezeichnet also die gemeinsame Spielrealität, die durch die Überschneidung der jeweiligen Vorstellungswelten der einzelnen Spieler im Prozess des Rollenspielens entsteht.

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Narration als Mittel zur Erzeugung des Shared Imaginary Space im P&P erscheint auf den ersten Blick angesichts der gewaltigen medialen Möglichkeiten, die heutzutage zur Erschaffung imaginärer Welten zur Verfügung stehen, merkwürdig altmodisch und eindimensional. Tatsächlich kann man das P&P auch nicht auf die Ebene des narrativ-dramatischen Sprechens beschränken, selbst wenn diese das kennzeichnende Merkmal ist. Auch andere Formen medialer Imaginationsinduktion sind beim Rollenspielen zu beobachten, z.B. Literatur, Bilder, Requisiten und – diese Entwicklung ist relativ neu – Musik und Sound. Diese Medien unterstützen den Aufbau des gemeinsamen Vorstellungsraumes in je eigener Weise, fügen dem Shared Imaginary Space neue, physisch erfahrbare, Dimensionen hinzu und machen ihn somit ‚dichter‘. Es ist zu beobachten, dass gerade die nichtsprachlichen Formen des Imaginären eine immer größere Bedeutung in der Rollenspiel-Szene bekommen: Zur sprachlichen Performanz tritt mediale Performanz als wichtiger Träger und Vermittler der Imagination hinzu. In diesem Artikel soll nach einer kurzen vertiefenden Einführung in P&P nachgezeichnet werden, wie der gemeinsame Vorstellungsraum auf verschiedenen Ebenen performativ erzeugt wird. Ziel ist es, die Imaginationskultur des P&P mehrdimensional zu beschreiben. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die Formen der medialen Imaginationsinduktion gelegt werden, welche nicht auf der sprachlichen Ebene ansetzen, jedoch nichtsdestotrotz für die Erzeugung des Shared Imaginary Space im Rollenspiel von größter Bedeutung sind. 1. Pen & Paper-Rollenspiele – eine kurze Einführung Pen & Paper-Rollenspiele können auch als interaktive Erzählspiele oder narratives Improvisationstheater bezeichnet werden. Drei bis acht Personen, die Spieler einer Gruppe, finden sich zusammen und erzählen gemeinsam eine Geschichte, ‚Abenteuer‘ genannt. Zum größten Teil funktioniert das wie Improvisationstheater, allerdings beschränkt auf das Erzählen. Die einzelnen Spieler schlüpfen dabei in vorher abgesprochene Rollen, ‚Helden‘ oder ‚Spielercharaktere‘ genannt, und verkörpern über die Zeit des Abenteuers hinweg diese Rolle, z.B. Ritter, Dieb, Magier, Elfe, Zwerg usw. ‚Verkörpern‘ heißt, dass die Spieler sich möglichst tief in die ausgewählte Rolle hineinversetzen, den fiktiven Charakter also imaginieren und sodann dramatisch ausagieren, jedoch rein narrativ: In direkter Rede wird ausgesprochen, was der Held sagt, und aus der Ich-Perspektive beschrieben, was der Held tut, denkt oder fühlt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Improvisation; einen vorgegebenen Text gibt es nicht. Die dabei entstehenden performativen Sprechakte der Spieler dienen als verbindliches

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Symbol für das Sprechen und Handeln der Helden der gemeinsam erzählten Geschichte. Damit ein spannendes Moment in das Spiel hineinkommt, kennt nur eine Person der Gruppe, der Spielleiter oder auch ‚Meister‘, den vorgesehenen Verlauf des Abenteuers – entweder hat er ihn sich selbst ausgedacht oder er benutzt eine schriftliche Abenteuer-Vorlage, die es zu kaufen gibt. Dieser Spielleiter ist der Haupterzähler der Geschichte und dafür verantwortlich, den Spielern alle wichtigen Informationen zu geben, damit sie sich in die geschilderte Situation hineindenken können. Der Spielleiter verkörpert auch alle anderen Personen in der Geschichte. Diesen narrativdramatischen Teil des Rollenspielens, die Sprechakte der Spieler und des Spielleiters, kann man ‚Erzählebene‘ oder ‚In-Character-Ebene‘ des Rollenspiels nennen. P&P übersteigt jedoch die Sphäre des Improvisationstheaters dadurch, dass die Spieler vom ‚dramatischen Modus‘ der Erzählebene immer wieder in einen anderen Modus des Spielens wechseln. Diese zweite Ebene des Rollenspiels heißt ‚Regelebene‘, ‚Spielmechanik‘ oder auch ‚Out-of-Character‘-Ebene. Hier wird in Zahlenwerten festgelegt, über welche Eigenschaften und Fähigkeiten die Helden verfügen. Diese Werte werden in einem meist recht aufwändigen Verfahren unter Berücksichtigung der Regelbücher ermittelt und auf dem so genannten ‚Heldenbogen‘ eingetragen (deswegen Pen & Paper). In bestimmten Situationen, vor allem bei Kämpfen, entscheiden dann Würfelwürfe gegen die Werte auf dem Heldenbogen, ob die Aktion des Helden gelungen ist oder nicht. Auf diese Weise kommt eine weitere spannende, zufallsbestimmte, Komponente ins Spiel. Dieses ‚Proben-Würfeln‘ erfordert einen Moduswechsel im Rollenspiel; nun ist es nicht mehr der performative Sprechakt, sondern das Rollen des Würfels und das Ergebnis der Würfelprobe, welches als Symbol für das Geschehen in der Geschichte dient. Beim Rollenspielen wechseln sich Sequenzen der Erzähl- und der Regelebene und die entsprechenden Spielmodi stets ab. Verschiedene Rollenspielsysteme unterscheiden sich in der Art und Weise der Ausgestaltung der Spielmechanik und in der Beschreibung ihrer jeweiligen fantastischen Spielwelt. In den Regelbüchern zum Rollenspiel und in anderen Begleitmedien wird die Spielwelt beschrieben, z.B. welche fantastischen Wesen es gibt, welche Arten von Waffen, Zaubern, welches Religionssystem, oder welches politische System. Beim erfolgreichsten2 2

Laut jugendszenen.com des Dortmunder Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie umfasst die deutsche Rollenspiel-Szene „etwa 480.000 aktive Spieler, wobei die Zahlen je nach Schätzung zwischen 130.000 und 655.000 schwanken“ („Rollenspieler: Facts & Trends“). Laut der bislang größten Umfrage unter Rollenspielern im Magazin des Allgemeinen Deutschen Rollenspieler-Vereins e.V. Envoyer aus dem Jahr 2004 spielen etwa 35% der deutschen Rollenspieler DSA („Die GRUMF 2004“). Weiteres statistisches Material findet man bei Peller.

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deutschen Rollenspiel Das Schwarze Auge (DSA) heißt die fantastische Spielwelt „Aventurien“. Bei den folgenden Ausführungen werde ich mich immer wieder auf dieses Rollenspielsystem und die dazugehörende Subkultur beziehen. Als Grundlage der fantastischen Welt des P&P dient geschriebene Sprache in Form von Regelbüchern, Spielweltbeschreibungen und Romanen. Diese Form der Beschreibung ist notwendig, um das ‚Produkt Rollenspiel‘, die Regeln und die Beschreibung der fiktiven Spielwelt, einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Ohne diese schriftlich fixierten Imaginationen kann eine ‚Subkultur‘ um ein bestimmtes Rollenspielsystem herum nicht entstehen. Diese Subkultur bringt wiederum neue Texte hervor, z.B. in Form von Fan-Fiction oder Internet-Lexika, die sich auf die ‚offizielle‘ Spielwelt beziehen. Wandlungen in der Imagination der Spielwelt und der Rollenspielkultur können anhand dieser Text-Rollenspielmedien leicht untersucht werden. Zum Beispiel fällt beim Schwarzen Auge auf, dass die Beschreibung der Spielwelt immer detaillierter geworden ist und für jede Region und viele Einzelfragen inzwischen ausführliche Bücher existieren – hier spielen ökonomische Interessen eine ebenso große Rolle wie die Kreativität und Motivation vieler nebenberuflicher (Fan-)Honorar-Autoren, die ‚ihren‘ Teil zur Beschreibung der offiziellen Spielwelt beitragen. Diese offizielle Spielwelt ist der gemeinsame Vorstellungsraum, der von allen Spielern des Systems geteilt wird, ganz gleich in welcher Spielgruppe sie spielen. Während des Spielens erzeugen die Spieler dann gemeinsam ihre individuelle Ausgestaltung der Spielwelt und ihren kollektiven Vorstellungsraum für das Abenteuer, das sie spielen (Shared Imaginary Space im engeren Sinne – so wie durch The Forge definiert – siehe oben). Idealerweise wird dieser Shared Imaginary Space im Spiel so dicht, dass er intensive kollektive Erlebnisse und Erfahrungen ermöglicht. Die Voraussetzungen dafür werden im nächsten Abschnitt näher beleuchtet. 2. Performanz, Imagination und Sinnlichkeit – die Erzeugung des Shared Imaginary Space Der Begriff Shared Imaginary Space erinnert an Victor Turners (Ritual-)Theorie des liminalen Raumes: Durch das Spielen wird ein Bereich aus der Alltagswelt herausgetrennt und neu interpretiert, ein neuer Vorstellungs-, Symbol-, Handlungs- und Erfahrungsraum wird geschaffen (vgl. Turner 69-87).3 Dies geschieht durch Performanz, also durch Sprechen und Han3

Die Parallelisierung von ‚Spiel‘ und ‚Ritual‘ basiert auf Johan Huizinga und wird in der Rollenspielforschung immer wieder aufgegriffen, z.B. bei Copier und bei Lehrich.

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deln, mit dem (kulturelle) Bedeutung erzeugt und so – nach kulturwissenschaftlichem bzw. performanztheoretischem Verständnis – Wirklichkeit geschaffen wird (vgl. Bachmann-Medick 104, 109). Der Rahmen des Rituals ermöglicht es, performativ die Bedeutungen der Alltagswelt zu transformieren, einen neuen „Sinnbereich“ (Goffman 191), und somit innerhalb des Ritualrahmens eine ‚neue‘ Wirklichkeit, zu erschaffen. Dies geschieht beim P&P ebenfalls – hier freilich mit spielerischer Absicht, z.B. um performativ seine Alltagsidentität hinter sich zu lassen und in die Rolle einer fantastischen Person zu schlüpfen. Performanz beinhaltet laut der Ritualforscherin Catherine Bell aber neben Sprechakten auch die Stimulation der Sinne durch den Einsatz verschiedener ästhetischer Medien, z.B. „highly visual imagery, dramatic sounds, and sometimes even tactile, olfactory, and gustatory stimulation“ (160). Die kulturanthropologische Medientheorie verknüpft ‚Medien‘ und ‚Performanz‘ ebenfalls, indem sie Medien definiert als alle ästhetisch rezipierbaren Inszenierungen mit einem performativen Potenzial, das je nach materialer Gegebenheit aktiviert werden kann. Es wird umso stärker sein, je mehr Bezüge zwischen unterschiedlichen Medien einbezogen sind. (Fauser 58)

Auch Medien, also performativ eingesetzte ästhetische Stimulationen, tragen so zur Schaffung der ‚neuen‘ Wirklichkeit bei: Durch sie wird das materiale Setting, die physische Realität, konkret neu- oder umgestaltet. Dabei wird von der Performanztheorie sowohl die „Materialität des Mediums“ (Pfister 174) an sich in den Blick genommen als auch die performative Aufladung der Materialität mit neuer Bedeutung (z.B. die Umwandlung von Wasser in Weihwasser). Es ist sinnvoll, für die Analyse von P&Ps diesen erweiterten Performanz-Begriff zu benutzen, der neben Performanz als Sprechakt und Handlung auch die Erzeugung einer multisensorischen Erfahrung durch den Einsatz sinnlicher Medien umfasst. Aber was hat Performanz mit dem Shared Imaginary Space zu tun? Ist Imagination nicht etwas, was unsichtbar, ungreifbar bleibt und sich im Kopf des einzelnen Rollenspielers abspielt? Es ist richtig, dass Imagination erst einmal ein individueller Vorgang ist, zu dem Außenstehende keinen Zugang haben. Man imaginiert etwas, stellt sich etwas vor, indem man etwas nicht Vorhandenes so behandelt, als wäre es vorhanden – es also in der Imagination sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt; hier erkennt man schon, wie eng Imagination mit Sinnlichkeit – und damit mit der Außenwelt – zusammenhängt. Imaginationen können völlig von mir selbst hervorgebracht werden, können aber auch durch äußere, symbolische und sinnliche Impulse, wie z.B. Literatur und Kunst, aber auch Gerüche und Geräusche, angeregt werden. Und meine Imaginationen können von mir wieder so in materiell oder symbolisch kommunizierbare Entitäten ‚übersetzt‘ werden – objektiviert werden –,

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dass andere an meinen Imaginationen Anteil haben können. Ich kann sie z.B. niederschreiben, aufmalen, ausspielen. Das Produkt der Vorstellungskraft kommt in der Performanz bzw. in einem Medium zum Vorschein, es vermag sich nur so zu zeigen und ist nur so kommunizierbar (Iser 483). Hier kommen Imagination, Wahrnehmung und Kommunikation bzw. Performanz wieder zusammen. Beim Rollenspielen passiert genau dies: Spielleiter und Spieler übersetzen ihre Imaginationen in sprachliche Handlungen, gehen auf die kommunizierten Imaginationen der Mitspieler ein, spinnen sie weiter, passen ihre individuellen Vorstellungsräume somit aneinander an und erzeugen dadurch performativ den Shared Imaginary Space – man kann diesen Prozess in Anlehnung an Gebauer und Wulf auch „mimetische Annäherung“ zwischen individueller und objektivierter/kommunizierter Imagination nennen (171). Wie gezeigt wurde, gehören sowohl zur Performanz als auch zur Imagination aber nicht nur Sprache, sondern auch ästhetische, sinnliche Eindrücke. Die Spielrealität, der Shared Imaginary Space, wird dementsprechend auch immer ‚dichter‘, je mehr mediale Ebenen zur sprachlichen Kommunikation hinzukommen – also wenn z.B. der Spielleiter zur sprachlichen Beschreibung des Imaginären noch Bilder, Geräusche, Gerüche usw. hinzufügt, also eine mehrdimensionale Imaginationsinduktion gestaltet. Die Medien des Rollenspiels sind mit den Worten Ludger Schwartes „imaginative Dinge“, die in der Performanz „imaginative Prozesse verstärken oder verhindern […]. Imaginative Dinge sind Versammlungen von Qualitäten, die es Akteuren erlauben, in das Unsichtbare, Unwissbare und Unvorhersehbare hinüber zu wechseln“ (94). Mittels ästhetischer Medien kann ein imaginärer Inhalt durch einen Sinneseindruck kommuniziert werden bzw. die Imagination des Rezipienten durch die Sinneswahrnehmung angeregt und gelenkt werden – in ganz anderer Art und Weise als eine sprachliche Imaginationsinduktion das vermag. So wie bei sprachlicher Performanz Sprache und neue Bedeutung miteinander verknüpft werden, werden in medialer Performanz Sinneseindruck und imaginärer Inhalt miteinander verknüpft. Bei der sensorischen Stimulation/Kommunikation gibt es meist weniger ‚Leerstellen‘, die von der individuellen Imagination ausgefüllt werden müssen, als bei einer sprachlichen Beschreibung. Die multisensorische, ästhetische, mediale Gestaltung erzeugt somit eine gesteigerte „Aura von Faktizität“ (Begriff angeregt von Clifford Geertz’ kultursemiotischer Religionsdefinition – vgl. Geertz 48). Die Spieler reden nicht nur alle ‚über dasselbe‘, sondern nehmen auch alle tatsächlich dasselbe wahr, da die medialen Angebote, die Sinnesanregungen, physikalisch existieren und somit für alle die gleichen sind. Dadurch werden die Vorgänge des je individuellen ‚Ich stelle mir das ja eigentlich nur vor‘ und des ‚Wir tun ja nur so als ob‘ verschleiert und der Spielspaß erhöht. Denn diese medialen

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Hilfsmittel erleichtern es den Spielern, in die Spielrealität so weit einzutauchen, dass die Spielrealität für den Augenblick als die einzig ‚reale‘ empfunden und die Alltagsrealität ausgeblendet wird – wie dies zum Beispiel beim Lesen eines Romans oder beim Schauen eines Films ebenso passieren kann4. Der Unterschied beim Rollenspiel ist, dass das Eintauchen in die ‚andere‘ Realität nicht solipsistisch (wie beim Lesen) oder parallel (wie beim Filmschauen), sondern interaktiv geschieht. Die Aufgabe des Spielleiters als ‚Medienmanager‘ ist in den letzten Jahren in der Entwicklung der Rollenspielkultur immer wichtiger geworden. Aus diesem Grunde konzentrieren sich die weiteren Ausführungen nicht auf die sprachliche oder symbolische, sondern auf die ästhetischmediale Seite des Rollenspiels unter der Fragestellung: Wie wird im Rollenspiel durch Manipulation der sinnlichen Erfahrung der Spieler das Imaginieren erzeugt und geleitet? Welche sinnlichen Imaginationshilfen werden zur Erzeugung des gemeinsamen Vorstellungsraums eingesetzt?5 3. Ästhetisch-mediale Gestaltung des Rollenspiels 3.1 Setting Das Imaginieren beim Rollenspielen funktioniert nicht wie beim Theaterspielen im Zusammenspiel mit ausgeprägtem Embodiment (körperliche Einprägung und Ausgestaltung der Rolle) oder Szenerie (Bühnenbild). Beim P&P wird der Körper weitgehend ruhig gestellt – alle Spieler und der Spielleiter sitzen (z.B. rund um einen Tisch). Die meisten Rollenspielgruppen bevorzugen dabei als Setting einen ruhigen Raum, der durch besondere Beleuchtung oft noch ‚atmosphärisch‘ gestaltet wird, z.B. durch Verdunkelung, gedämpfte oder spezielle farbige Beleuchtung oder auch Kerzenlicht. Wichtig ist, dass die Schaffung des gemeinsamen Vorstellungsraumes die Gestaltung des realen Spielortes zur Voraussetzung hat. Rollenspiel geschieht nicht ‚einfach so irgendwo‘, sondern es wird zumindest für ein Sitzgruppenarrangement und eine möglichst ungestörte Atmosphäre gesorgt. Visuelle und akustische Einflüsse der Alltagswelt werden durch die Wahl und Gestaltung des Rollenspielraums weitgehend ausgeschaltet. 4 5

Vgl. die Konzepte „Flow“ (Czikszentmihalyi) bzw. „Immersion“ (Grau). Als Grundlage der Analyse dienten Beobachtungen und Gespräche mit Rollenspielgruppen, DSA-Publikationen sowie Internet-Foren, die sich mit dem Thema beschäftigen. Hier kann nur eine Auswahl der Ergebnisse präsentiert werden. Eine ausführliche Version der Darstellung und Analyse der Rollenspielmedien inkl. Aufstellung des Quellen- und Analysematerials ist in meiner Magisterarbeit zu finden (vgl. Traut). Als guter Einblick ins Thema kann der DSA-Band Wege des Meisters dienen (Don-Schauen).

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Der reale Raum wird so vom Alltagsgeschehen abgetrennt und es wird durch die Raumgestaltung eine Atmosphäre geschaffen, die für Konzentration und Stimmung förderlich ist. Raumgestaltung und Ruhigstellung des Körpers sorgen dafür, dass die Aufmerksamkeit auf die ‚inneren‘, imaginativen Vorgänge, auf das Spielgeschehen und auf die gezielte sensorische Stimulation durch den Medieneinsatz gelenkt werden kann – also auf die Prozesse, welche für die Erschaffung des Shared Imaginary Space grundlegend sind. 3.2 Haptische Imaginationshilfen und Embodiment Obwohl das Rollenspiel sprachliche Handlungen als Grundlage für die Erzeugung der Spielwelt und des Spielgeschehens benutzt und es nicht erforderlich ist, dass die Spieler sich entsprechend ihrer Rolle kleiden und bewegen, kann die körperliche Seite nicht gänzlich ausgeschaltet werden. Dramatisches und beschreibendes Sprechen ist unwillkürlich von Gestik und Mimik begleitet, welche der Kommunikation weitere Inhalte hinzufügen können (Herbrik und Röhl). Manchmal werden Gestik und Mimik auch ganz bewusst eingesetzt, pantomimische Gesten gemacht oder teilweise sogar die sitzende Position verlassen, um eine Passage körperlich auszuspielen – die Spieler verlassen sich in diesen Situationen nicht mehr auf ihre Beschreibungskompetenz, sondern verleihen dem Rollenspiel durch die Körperlichkeit mehr Eindeutigkeit und Nachdruck. Hier verschwimmen die Grenzen zum Theaterspiel. Die Verkörperung der Spielercharaktere geschieht in manchen Fällen auch durch den bewussten Einsatz von einzelnen Requisiten, z.B. Tonkrügen, Schreibfedern, Pfeifen etc. – Gegenständen, die der Spielercharakter in der jeweiligen Situation auch gerade benutzt, was dann nicht mehr eigens beschrieben werden muss. Oftmals bereiten Spielleiter auch so genannte ‚Handouts‘ vor, die z.B. Landkarten oder Schriftstücke aus der Spielrealität nachbilden. Diese können recht aufwändig optisch und haptisch ansprechend gestaltet sein, indem z.B. besonderes Papier benutzt wird, kalligraphische Handschrift oder auch Siegelwachs. Der Einsatz solcher Objekte trägt einerseits zur vereinfachten und verdichteten Imaginationskommunikation bei, hat aber auch den Effekt, dass der jeweilige Spieler sich über die körperliche und perzeptive Seite seiner Rolle annähert und somit die individuelle Imagination seiner Rolle erweitert. Diese Technik ist aus der Theaterpraxis bekannt (Bahr 78). Die haptische Erfahrung, Gestik und Mimik erweitern die Imagination und Kommunikation des körperlichen Erlebens dadurch, dass das imaginierte Körpererlebnis performativ mit einem realen Körpererlebnis verbunden wird.

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3.3 Visuelle Imaginationshilfen Visuelle Imaginationshilfen, also zweidimensionale Bilder, kommen im Rollenspiel durchaus oft zum Einsatz. Vor allem dann, wenn eine mündliche Beschreibung zu kompliziert würde und das Bild viel effizienter die nötigen Informationen transportiert. Z.B. kann der Spielleiter eine Bleistiftskizze von der Umgebung anfertigen oder den Spielern ein Bild von einem Ork zeigen. Oft bringen die Spieler selbst gezeichnete oder von Vorlagen kopierte Portraits ihrer Spielercharaktere mit, die sie für die Zeit des Spielens für alle sichtbar aufhängen, um auch visuell performativ zu markieren, dass nicht sie als Spieler, sondern als Spielercharakter sprechen. Durch den Einsatz von Bildern wird die individuelle Imagination, das ‚innere Bild‘, welches der einzelne Spieler von der Situation, einem Wesen oder einer Person im Spiel hat, auf visueller Ebene effizient kommunizierbar gemacht – die individuelle Imagination wird objektivierte Imagination und die Vorstellungen der Mitspieler können sich entsprechend anpassen. Das Rollenspiel bedient sich der „mimetischen Annäherung“ (Gebauer und Wulf 171), der Beeinflussung mentaler Bilder durch äußere Bilder – und umgekehrt, der Hervorbringung materialer Bilder mittels innerer Bilder. Zu dem ‚inoffiziellen‘ Bildmaterial einer einzelnen Spielgruppe gesellen sich Bilder professioneller Illustratoren, die in den DSA-Publikationen zu finden sind, Zeichnungen von Wappen, Waffen, fantastischen Wesen, wichtigen Personen Aventuriens, Landkarten, Planzeichnungen wichtiger Gebäude usw. Meist sind diese Bilder natürlich von schon vorhandenen Bildern bzw. Vorstellungsbildern beeinflusst: von historischen Gebäuden, Kleidungen, Gegenständen oder der von den Tolkien-Illustratoren John Howe, Alan Lee und Ted Nasmith sowie Peter Jackson geprägte Herr der Ringe-Bilderwelt. Die ‚offiziellen‘ DSA-Bilder haben für viele Spieler fast dogmatischen Charakter: Ein Ork kann in Aventurien gar nicht anders aussehen als dem Bild im Regelbuch entsprechend. Die publizierten Bilder sind objektivierte Imaginationen, die in den Bereich des allgemeinen (Sub-) Kulturgutes übergegangen sind. Diese Bilder werden nicht als vage Anregung für die individuelle Imagination wahrgenommen, sondern als der ‚Realität‘ entsprechende Abbildungen – sie sind das visuelle ‚Wissen‘ des Rollenspielsystems. Dies führt auch immer wieder dazu, dass ein Illustratorenwechsel und der damit verbundene Stilwechsel oder überhaupt ein Designwechsel bei DSA-Publikationen meist erst einmal zu Irritationen und Abwehrverhalten seitens der Fans führt. Meist werden solche Wechsel relativ behutsam durchgeführt und ‚altes‘ Bildmaterial noch lange beibehalten, sodass die etablierte Aura der Faktizität des Imaginären, welches die Bilder verkörpern, nicht gefährdet wird.

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Die Bilder beim Rollenspiel haben also durchaus performativen Charakter, sie dienen „als Medium der ‚Welterzeugung‘“ (Heintz und Huber 35): Sie ‚erzeugen‘ einerseits die mentale Bilderwelt des einzelnen Spielers. Andererseits wird durch die in den Regelbüchern und Spielhilfen publizierten Bilder auch die virtuelle Spielwelt als solche erzeugt. Sie bekommt durch diese Medialisierung bzw. Objektivierung eine von der konkreten Imagination des Einzelnen unabhängige ‚Existenz‘. Gordon Calleja nennt diese Eigenschaft virtueller Welten „persistence“ (15): die (scheinbare) Unabhängigkeit virtueller Welten von ihren Bewohnern und Erschaffern. Die technisch reproduzierten und weit gestreuten Bilder des DSA-Rollenspiels sind ein wichtiger Teil der Erzeugung des kollektiven bildlichen Imaginären der gesamten DSA-Rollenspiel-Szene und ihrer scheinbaren ‚Verselbständigung‘, seiner Aura von Faktizität. 3.4 Akustische Imaginationshilfen Akustische Imaginationshilfen, also die gezielte Beschallung des Rollenspielraumes mit spezieller Musik oder Geräuschen, hat im letzten Jahrzehnt für das Rollenspielen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zuvor war diese Art von Imaginationshilfe in den Regelbüchern und Spielhilfen von DSA nie explizites Thema und es gab auch keine Rollenspielmusik als eigenständiges musikalisches Genre (Traut 113). In manchen Spielgruppen kommen inzwischen akustische Imaginationshilfen fast während der gesamten Spielzeit zum Einsatz – und übersteigen damit quantitativ und meist auch qualitativ die restliche mediale Ausgestaltung. Man kann zwischen zwei verschiedenen Arten der (technisierten6) akustischen Imaginationshilfen unterscheiden: Zum einen wird die Möglichkeit genutzt, die Imagination der Spielwelt mittels einer Geräuschkulisse zu unterstützen. Die Soundscape (angelehnt ans Englische ‚landscape‘) gibt gebündelte Informationen über den Raum, in dem sich der Hörer befindet – und dieser Vorgang kann im Rollenspiel nachgeahmt werden. Die akustische Information der Soundscape regt die Imagination der dazu passenden anderen Sinneseindrücke bei den Spielern an – durch den Klang wird eine synästhetische Imagination angeregt, eine „virtuelle akustische Realität“ (de la Motte-Haber) wird erzeugt. Dies geschieht natürlich auch im Alltag außerhalb des Rollenspiels ständig und unwillkürlich: Aus einer akustischen Information (z.B. Hupen) kann man sich auf Grund von Erinnerungen und Erfahrungen die dazugehörige Situation vorstellen (Auto hinter mir) und eine entsprechende Handlung einleiten (auswei6

Der bewusste Einsatz der Stimme ist natürlich auch eine akustische Imaginationshilfe (vgl. Traut 99-101) – diese soll hier aber nicht berücksichtigt werden.

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chen). Die akustische Imaginationsinduktion durch Geräusche funktioniert beim Rollenspiel, wenn Geräuschkulissen genutzt werden, die den Spielern z.B. aus dem Alltag oder aus Filmen bekannt sind (z.B. Regenplätschern oder Urwaldgeräusche). Die Soundscape allein und die mit ihr hervorgerufenen Erinnerungsbilder reichen allerdings nicht aus; der Spielleiter wird stets noch eine sprachliche Deutung hinzufügen, um den Zusammenhang zur Spielwelt explizit zu machen (z.B. „Ihr seid jetzt im Dschungel auf Maraskan7 und der abendliche Regen hat eingesetzt.“). Erst durch diese sprachliche Deutung wird das performative Potenzial des sinnlichen Mediums gänzlich aktiviert, weil ein neuer symbolischer Inhalt zum Sinneseindruck hinzugefügt wird. Durch die passende akustische Beschallung des Spielraumes wird die faktische Gegebenheit des imaginierten Raumes simuliert und somit die Aura der Faktizität des imaginierten Raumes erhöht. Das Einspielen von Hintergrundgeräuschen funktioniert natürlich nur mit entsprechender technischer Ausstattung. Seit ein paar Jahren ist hier eine Professionalisierung für den Rollenspielsektor zu beobachten, es gibt z.B. ein von einem Fan produziertes, kommerzielles Sound-Mixer-Programm, mit dem ganze Geräuschkulissen aus Soundeffekten und Musikstücken individuell auf die verschiedenen Abenteuersituationen zugeschnitten werden und auf Tastendruck abgespielt werden können.8 Die andere Art der akustischen Imaginationshilfe ist ein musikalischer Soundtrack. Gerade diese Form kann inzwischen fast als unverzichtbares Instrumentarium für gutes Rollenspiel-Leiten angesehen werden. Musik spielt in mehrerer Hinsicht mit Imagination zusammen. Einerseits kann durch Musik die Imagination körperlicher Ruhe oder körperlicher Aktivität ausgelöst werden. Andererseits haben Rhythmus und Lautstärke von Musikstücken auch tatsächlich physiologische Auswirkungen z.B. auf den Pulsschlag (Heimbrock 106). So kann im Rollenspiel die durch eine Musik ausgelöste Imagination durch eine tatsächliche physiologische Reaktion noch unterstützt werden – Musik, die z.B. die Aufregung und Anspannung eines Kampfes verdeutlichen soll, kann also zur Erhöhung des Pulsschlages bei allen Spielern führen: auch hier ein Mittel, eine faktische Kollektivität der imaginierten Spielrealität zu erzeugen. Darüber hinaus hat Musik natürlich eine Auswirkung auf die allgemeine Gefühlslage und Emotion. Der funktionale Einsatz bestimmter Musikstücke zur Beeinflussung der Gefühlswelt der Hörer ist in unserem Kulturraum stark ausgeprägt. Nicht nur werden öffentliche Räume wie Kauf-

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Urwaldinsel in der DSA-Spielwelt. „RPG-SoundMixer“ [letzter Zugriff am 13.12.2010].

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häuser mit gezielt ausgesuchter oder komponierter Musik beschallt9, sondern es hat sich z.B. als relativ neues Phänomen das Bewusstsein für die akustische Seite des Corporate Designs von Unternehmen entwickelt: Mittels so genanntem „Sound Branding“ versuchen Unternehmen eine auf sie zugeschnittene akustische Atmosphäre zu erzeugen (vgl. Ringe). Auch der private Raum wird zunehmend mit einem ‚persönlichen Soundtrack‘ unterlegt – und spätestens seit der Etablierung der iPod-Kultur ist dieser persönliche Klangraum nicht mehr an einen festen Ort gebunden. Auch hier ist ein funktionaler Musikgebrauch zu beobachten: Manche iPodNutzer setzen ihre gespeicherte Musik gezielt dafür ein, ihren geistigen und seelischen Zustand zu kontrollieren und ihre Gefühle und Gedanken zu ordnen – manchmal mit dem Ergebnis, dass dies ohne musikalische Beschallung nicht mehr funktioniert (Bull 92). In vielen Film- und Fernsehproduktionen und Computerspielen sind durchgängige musikalische Soundtracks inzwischen ebenfalls unverzichtbar. Visuelles und emotionales Ereignis werden dabei mit dem auditiven Ereignis untrennbar verbunden. Diese Etablierung eines funktionalen Musikgebrauchs zur akustischen Kommunikation imaginärer Atmosphäre und zum Evozieren von Stimmungen und Gefühlen kann man auch in der Rollenspielszene nachweisen. Die Suche nach dem ‚richtigen‘ Musikstück für diese oder jene Szene des Abenteuers füllt inzwischen ganze Forumsdiskussionen und in den neuesten DSA-Publikationen wird zu bestimmten Landschaftsbeschreibungen oder Abenteuersituationen die passende Musikempfehlung gleich mit abgegeben. Zum Einsatz kommen hier meist Stücke, die schon als Soundtrack für Filme oder Computerspiele komponiert worden sind, in sich also schon das synästhetische Potenzial zur Stimulierung von Emotion und visueller Imagination tragen, bzw. mit der akustischen Imagination bestimmter Genres oder Szenen kulturell verknüpft sind (Piratenmusik, Kampfmusik, Mittelaltermusik…). In manchen Spielgruppen kann es zu einer ritualisierten, leitmotivischen Verwendung bestimmter Musikstücke kommen, so dass bestimmte Imaginationen und Emotionen, die einmal an die Musik gekoppelt wurden, immer wieder hervorgerufen werden können – ein beliebtes Mittel, um bei langen Abenteuerkampagnen, die sich über mehrere Spielsitzungen hinziehen, Kontinuität herzustellen. Auch im Bereich der musikalischen Soundtracks kann man eine Professionalisierung und Kommerzialisierung der Rollenspielkultur nachweisen. Z.B. produziert die Hamburger Gruppe „Erdenstern“ gezielt Alben mit einem „symphonische(n) Soundtrack, komponiert als musikalische Kulisse für Pen & Paper und andere Rollenspiele“ (Erdenstern). Auch gibt 9

Diese Art Musik wird auch ‚Muzak‘ genannt – nach dem amerikanischen Unternehmen Muzak Holdings LLC, welches auf die Erstellung und Vermarktung funktioneller Musik z.B. für andere Unternehmen spezialisiert ist.

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es erste vereinzelte Angebote für Soundtrack-CDs, die direkt für spezielle DSA-Abenteuer produziert worden sind.10 Inwieweit sich diese offiziellen DSA-Soundtracks etablieren werden, ist noch abzuwarten; derzeit erscheint mir der Trend, dass die Spielleiter viel Ehrgeiz, Zeit und Geld investieren, um sich ihre persönlichen Soundtracks zusammenzustellen, noch stärker. Aber vielleicht wird man im Laufe der Zeit auch hier ein ‚Rollenspiel-Sound Branding‘, also eine gewisse mediale Kanonisierung – ähnlich wie bei den Bildern – feststellen können. 4. Fazit: Pen & Paper-Rollenspiele und Imaginationskultur In diesem Essay wurde skizziert, wie im Rollenspiel performativ, also durch sprachliche, aber auch durch verkörperte und multisensorische Gestaltung, ein kollektiver Imaginationsraum geschaffen wird. Es sollte gezeigt werden, wie ‚Imagination‘ und ‚Performanz‘ über einen erweiterten Performanzbegriff, der die sinnlich-mediale Gestaltung mit in den Blick nimmt, zusammen gedacht werden können. Die Analyse dieser Ebene des P&P zeigt, dass der Shared Imaginary Space nicht nur auf sprachlicher Ebene entsteht, sondern auch dadurch, dass über die sinnliche Wahrnehmung die synästhetische Imagination der Spieler aktiviert, gelenkt und parallelisiert wird. Dies hat zur Folge, dass in der Spielerwahrnehmung physische Realität und Imagination verschmelzen. Der gemeinsame Vorstellungsraum wird also durch die medial-sinnliche Ausgestaltung mit einer „Aura von Faktizität“ (Geertz 48) versehen, das Imaginieren beim Rollenspielen wird so zu einer unhinterfragten „optimal experience“, zu einer „Flow-Erfahrung“ (Czikszentmihalyi 39), was das Ausblenden der Alltagswirklichkeit und damit optimalen Spielspaß bedeutet.11 Die ‚multimediale‘, sinnliche Gestaltung des Rollenspielens hat in den letzten Jahren besonders an Bedeutung gewonnen. Die Kompetenz und das technische Know-How zur nicht-sprachlichen Imaginationskommunikation und -induktion sind deutlich gewachsen, ebenso die Reflexionsprozesse über diese neuen Methoden. Zum guten Rollenspielen bzw. Rollenspielleiten gehört nicht mehr nur ausgeprägte Fantasie und sprachliche Eloquenz, sondern zunehmend auch ästhetisch-mediale ‚Musikalität‘. Diese Entwicklung kann man in Wechselbeziehung setzen zur Entwicklung der medialen Umwelt im Alltag. Öffentliche und private Räume werden in bewussten Prozessen mehrdimensional ästhetisch gestaltet, z.B. durch 10 11

Z.B. die vom Label „rauschwerk“ produzierten DSA-Soundtracks – vgl. Homepage: DSASoundtracks: Musik für das Auge. 13.12.2010. Nicht mehr betrachtet werden konnte der Punkt des Scheiterns der Entstehung des Shared Imaginary Space, z.B. durch nicht intendierte Wirkungen der medialen Gestaltung.

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funktionellen Musikgebrauch oder personalisierte optische Gestaltung. Auch die virtuell-medialen Räume von Fernsehen, Film, Computerspiel und Internet drängen zu einer mehrdimensionalen ästhetischen Imaginationsinduktion, die möglichst eine allumfassende Illusion erzeugen soll – der derzeitige Trend zum 3D-Film spiegelt das anschaulich wider. Diese Entwicklungen haben natürlich immer die Erweiterung der entsprechenden technischen Möglichkeiten zur Voraussetzung (z.B. digitale Archivierung, Verwaltung und Abspielmöglichkeiten großer Musikdatenbanken). Die Nutzung dieser technischen Möglichkeiten bleibt nicht auf den professionellen Bereich reduziert, sondern dringt in den Bereich der privaten Freizeitkultur vor und damit auch in den Bereich der P&Ps. Dieser spiegelt somit sowohl die Techniken als auch die ästhetischen Dimensionen der allgemeinen Imaginationskultur wider. Wandlungsprozesse im Bereich von Techniken der Imaginationsanregung und -kommunikation ereignen sich also parallel auf kultureller wie auf subkultureller Ebene. Diese Prozesse umfassen einen Wandel von sprachlich kommunizierter und induzierter Imagination hin zu einem durch visuelle, haptische und vor allem akustische S(t)imulation geprägten Setting: Sprachlich erzeugte Virtualität drängt zur multisensorischen/multimedialen Erweiterung bzw. Ergänzung, zur Erzeugung der perfekten Illusion. Vor allem der akustische Kanal und die Rolle von Musik werden in diesem Zusammenhang immer wichtiger. Dieser Wandel der allgemeinen Imaginationskultur schlägt sich auch in dem durch traditionelle literarische und orale Narrativität geprägten Subkulturraum der P&Ps nieder. Eine entscheidende Frage für das Überleben dieser speziellen Gattung von Rollenspielen wird sein, wie trotz aller multimedialer Ausgestaltungsmöglichkeiten auch weiterhin die Oralität und damit die ‚Kunst der Leerstelle‘ erhalten bleibt, die es dem einzelnen Rollenspieler erlaubt, seine individuellen Imaginationen anregen zu lassen und vor allem seine individuellen Fantasien aktiv in den gemeinsamen Vorstellungsraum einzubringen. Literaturverzeichnis Bachmann-Medick, Doris. Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010. Bahr, Andreas. Imagination und Körper: Ein Beitrag zur Theorie der Imagination mit Beispielen aus der zeitgenössischen Schauspielinszenierung. Bochum: Universitätsverlag, 1990. Bell, Catherine. Ritual: Perspectives and Dimensions. Oxford: Oxford UP, 1997. Bull, Michael. „The Seamlessness of iPod Culture“. Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 16.2 (2007): 89-103.

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Live-Rollenspiel und Fantasy Ergebnisse einer qualitativen Studie auf dem Drachenfest 2009 MAXIMILIAN VOGELMANN Live Roleplay and Fantasy. Results of Qualitative Research at Drachenfest 2009 This article presents the results of a sociological investigation of Live Action Roleplay (Larp), conducted at the Drachenfest 2009, one of the largest fantasy Larp conventions in Europe with over 3,000 players and five days of duration. Thirteen qualitative interviews were analysed and interpreted using Anselm Strauss’ “Grounded Theory Methodology” (GTM), addressing two central questions: 1. From a sociological perspective, why do people play Larp? 2. What has ‘fantasy’ to do with this practice? This essay shows the following results 1. Larp can be seen as a collective experiment with everyday social roles and thus as dissociation from them. Therefore, its function is to balance out demands of everyday life, especially the work routine. Sociologically, Larp can thus be grasped as holiday. 2. The genre of fantasy firstly provides the players with a certain structure of stereotypes that give orientation during the game; it secondly is a perfect basis for experimenting, which is due to its innate flexibility; and thirdly it facilitates a contrastive distancing from everyday life through its specific medieval and magical themes. Therefore, fantasy in the context of Larp does not so much play a substantial but a crucial functional role.

1. Einleitung Dieser Artikel stellt die Ergebnisse einer soziologischen Studie vor, die im Jahr 2009 auf der Live-Rollenspiel-Veranstaltung ‚Drachenfest‘ im Rahmen einer Magisterarbeit durchgeführt wurde. Es ging dabei um zwei Fragen: 1. Warum gehen Menschen der Praxis des Larp nach? Und, damit verbunden: 2. Welche Bedeutung hat das Genre der Fantasy dabei? Zunächst wird beschrieben, was Live Action Roleplay ist und auf welchem Stand sich die deutsche und skandinavische Larpforschung zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit befand. Nach einem kurzen Überblick über die Methode der „Grounded Theory“, die bei der Akquisition der Daten und ihrer Auswertung angewendet wurde, werden die Ergebnisse der Studie präsentiert. Anschließend werden die Begriffe ‚Spiel‘, ‚soziale Rolle‘ und ‚Fantasy‘ kurz diskutiert und vor dem Hintergrund der

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empirischen Ergebnisse zusammengeführt. Am Schluss erfolgen eine Zusammenfassung sowie der Versuch ihrer Einbettung in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext. 2. ‚Live Action Roleplay‘ (Larp) Am einfachsten scheint eine erste Annäherung an das Live Action Roleplay über den bekannteren Verwandten, das Pen & Paper-Rollenspiel1. Bei diesem in den 70er Jahren in den USA entstandenen Spiel wird die Handlung nicht dargestellt, sondern narrativ imaginiert, angeleitet von einer Spielleiterin2, welche für die Strukturierung und den Handlungsablauf des Spiels eine essentielle Bedeutung hat. Die ‚Charaktere‘, also die Rollen, die gespielt werden, werden bei einem Pen & Paper primär auf ‚Charakterbögen‘ (Paper) der Spielerinnen repräsentiert, auf denen unter anderem die Fähigkeiten, Besitztümer oder die momentane physische Verfassung des Charakters schriftlich (Pen) festgehalten werden. Die Spielwelten orientieren sich stark an literarischen Genres, wobei Fantasy das bekannteste und verbreitetste ist – doch auch Science Fiction, Horror und viele andere dienen als Ideenreservoirs. Larp bedient sich im Wesentlichen derselben Genres, unterscheidet sich jedoch maßgeblich hinsichtlich ihrer Ausgestaltung im Spiel. Die Action ist hier ‚live‘ – die Handlung wird also nicht nur kommuniziert und imaginiert, sondern mit Hilfe symbolischer Mittel wie Kostümen, Requisiten und einem speziellen Idiolekt dargestellt. Die Teilnehmenden verkörpern bestimmte Charaktere, meist ohne einem vorgegebenen Skript zu folgen, ähnlich einem Improvisationstheater. Allerdings spielen sie nicht für Zuschauer; stattdessen findet die ‚Vorstellung‘ meist abgeschieden von der Alltagswelt statt; auf Campingplätzen, in Wäldern oder auf alten Schlössern. Ein solches Spielereignis wird im Jargon ‚Con‘3 oder auch ‚Larp‘ genannt. Durchschnittlich nehmen etwa zwanzig bis achtzig Menschen an einem solchen teil. Der typische Ablauf kann folgendermaßen beschrieben werden: Die häufigsten Cons sind Weekend-Veranstaltungen und folgen dem bekannten Schema: Anreise und Beginn am Freitag, Abenteuer und Höhepunkt am Samstag, Aufräumen, Plaudern, Abschiednehmen und Heimreise am Sonntag. (Habakuk 210)

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Eine fundierte ethnographische Studie von Pen & Paper-Rollenspielern bietet Gary Fine, eine kurze Zusammenfassung findet sich in diesem Band bei Traut. Mit der Nennung eines Geschlechtes sind immer auch die anderen Geschlechter gemeint. Kurz für das englische convention, also die Zusammenkunft. Sowohl ‚das Con‘ als auch ‚die Con‘ sind erlaubte grammatische Formen. In diesem Artikel wird das Neutrum verwendet.

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Einige der Teilnehmerinnen fungieren dabei als ‚Regisseurinnen‘ oder ‚Dramaturginnen‘, führen die anderen Spielerinnen narrativ durch das Spiel und werden daher ‚Spielleiter‘ (SL) genannt. Diese anderen Spielerinnen (SC für ‚Spieler-Charakter‘) verfolgen in einer Mischform aus Erzählung und Darstellung bestimmte Plots, in denen sie beispielsweise Schätze bergen, Dämonen beschwören oder den Ansturm einer Untotenhorde überleben müssen. Wieder andere Teilnehmerinnen sind sozusagen die Statisten und stellen beispielsweise ebenjene Untotenhorde dar, gegen die gekämpft wird; sie werden als ‚Nicht-Spieler-Charaktere‘ (NSCs) bezeichnet. In der etablierten deutschen Spiel-, Szene- und Freizeitsoziologie fand ich keine ‚Larp-Theorie‘4. Es gibt einige Ansätze in Form studentischer Abschlussarbeiten, welche jedoch häufig stark deskriptiver Natur sind oder sich vor allem um eine sozialpädagogische Legitimation bemühen, indem sie die therapeutischen, erzieherischen oder didaktischen Aspekte betonen (vgl. Schrickel; Balzer). Die Diplomarbeit Live-Rollenspiel: Ein touristischer Freizeittrend? von Sikka Neupert, und die Magisterarbeit Das Live-Rollenspiel: Die Kieler Szene als Beispiel jugendlicher Vergemeinschaftung auf der Suche nach Erlebnisräumen von Florian Meier sind jedoch weniger normativ/deskriptiv geprägt und haben sich für ein soziologisches Verständnis von Larp als hilfreicher erwiesen. In Skandinavien findet jährlich ein Treffen von Spielern und Forschern statt, der so genannte „Knutepunkt“5. Es handelt sich hierbei um eine Konferenz, die seit 1997 existiert und seit 2003 zunehmend internationaler wird. Seit 2003 gibt es jedes Jahr einen Sammelband, in dem es um Spielgestaltung und Theorie geht (vgl. Holter, Fatland und Even). Das generelle Problem der Knutepunkt-Bände ist jedoch, dass es sich bei vielen Beitragenden um begeisterte Larper zu handeln scheint, die zwar einen tiefen Einblick in die Szene haben, jedoch nur selten die nötige Distanz zum Untersuchungsgegenstand wahren.6 Im Gegensatz dazu möchte dieser Artikel basal auf empirischen Daten aufbauend soziologisch erklären, weshalb Menschen Larp praktizieren. Anders als in vielen anderen Arbeiten wird dabei ein distanzierter Standpunkt eingenommen, der Larp weder psychologisierend als Eskapismus abhandelt noch sozialpädagogisch in Schutz nimmt. Schon Max Weber betont, dass es in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht um objektive Deskription wie in den ‚exakten‘ Naturwissenschaften gehen kann, sondern vor allem um Verstehen: 4 5 6

Vgl. beispielsweise Gebhardt, Hitzler und Pfadenhauer; Hitzler; Stauber. Auch: „Knudepunkt“ oder „Solmukohta“, abhängig davon, ob die Konferenz in Norwegen, Schweden, Dänemark oder Finnland stattfindet. Übersetzt bedeutet es „Treffpunkt“. Von Carsten Dombrowksi wurde 2009 ein dem Knutepunkt-Sammelband ähnliches deutsches Pendant herausgegeben.

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Es gibt keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ‚sozialen Erscheinungen‘ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen‘ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. […] Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen. (170f.)

3. Datenakquisition Die „Grounded Theory Methodologie (GTM)“ (Mey und Mruck 11) existiert nun schon seit mehr als vierzig Jahren. In The Discovery of Grounded Theory schufen die US-amerikanischen Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss mit der GTM einen Forschungsstil, der die Arbeitsphasen „Planung, Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung“ (Mey und Mruck 12f.) nicht als separiert, sondern als elementar miteinander verbunden begreift. Ziel der GTM ist es, anhand von empirischen Daten zu Theorien zu gelangen, anstatt vorher aufgestellte theoretische Hypothesen an der Empirie zu überprüfen und die Daten dadurch zu verzerren. Dieses Verfahren ermöglicht eine fundierte Theoriebildung, mit der sich empirische Sachverhalte grundlegend darstellen und erklären lassen. In einem Interview formulierte Strauss dies so: „Grounded Theory ist keine Theorie, sondern eine Methodologie, um in den Daten schlummernde Theorien zu entdecken.“ (Strauss, Legewie und Schervier-Legewie 73). Glaser und Strauss verfolgten allerdings später fundamental unterschiedliche Ansätze der GTM, wobei der Ansatz von Strauss zu bevorzugen ist, weil Glasers Position nicht nur wissenschaftstheoretisch haltlos, sondern vor allem in sich inkonsistent ist, da die starke Betonung von Emergenz und die geforderte Vorwissens-Abstinenz von einem massiven Einbezug allgemein-sozialtheoretischer Konzepte konterkariert wird, mit dem Glaser sich implizit selbst widerlegt. (Strübing, „Glaser“ 159f.)

Strauss hingegen bezieht sich auf einen pragmatischen Standpunkt, der sich durch Prozessualität und Perspektivität auszeichnet. Vor dem Hintergrund dieser Theoriekonzeption […] kann empirisches Forschen weder auf theoretisches Vorwissen noch auf kreative und riskante Neuschöpfungen von Konzepten verzichten. (Strübing, Grounded Theory 62f.)

Für die Datenakquisition führte ich zunächst drei Experteninterviews und anschließend eine teilnehmende Beobachtung7 mit dreizehn qualitativen 7

Ein sehr gutes Beispiel zur teilnehmenden Beobachtung bietet Roland Girtler, dessen Arbeit mich in meiner Vorgehensweise inspirierte.

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Interviews anhand eines Leitfadens durch. Die direkte Kombination beider Methoden im Feld sollte dabei synergetisch zu drei Vorteilen führen: Erstens sollte ein guter Zugang zu potentiellen Interviewpartnern gewonnen werden, zweitens konnten die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen im Interviewleitfaden sowie bei der Beobachtung in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der empirischen Realität überprüft und gegebenenfalls im Feld neu ausgerichtet werden, und drittens sollten die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung ergänzend zu einer möglichst vollständigen Analyse und Interpretation der Daten beitragen. Als Feld bot sich ein ‚Großcon‘ an, also ein Larp mit mehreren tausend Teilnehmern, das länger als ein Wochenende dauert, und zwar aus zwei Gründen: Erstens bietet es Zugang zu vielen verschiedenen potentiellen Interviewpartnerinnen, und zweitens ist hier ein vergleichsweise langer Beobachtungszeitraum möglich. Ich entschied mich für das ‚Drachenfest 2009‘, das neben dem ‚ConQuest of Mythodea‘ und den ‚Epic Empires‘ eines der drei ‚Großcons‘ in Deutschland ist. Das seit 2001 existente Drachenfest konnte im Juli 2009 knapp 3000 Teilnehmer nach Diemelstadt bei Kassel locken. Das Spiel begann am Mittwochabend mit einer großen Versammlung, einem ‚Ritual‘8, mit der die Teilnehmer offiziell ‚In-Time‘ (IT)9 gingen. Am Samstagnachmittag fand eine ‚Endschlacht‘ mit knapp 2000 Kämpfenden statt, nach der das Spiel mit einem erneuten Ritual endete, das zum Schluss mit einem offiziellen ‚Out-Time‘ (OT)10 markiert wurde. Den thematischen Rahmen bildet die Geschichte von Drachen, die sich untereinander bekriegen, dafür aber sterbliche Stellvertreter benutzen: die Spieler. Diese sind in verschiedenen Lagern zusammengefasst, die einem bestimmten Drachen folgen. Daneben gibt es noch eine ‚Stadt‘11, die neutral ist und nicht an den Kämpfen zwischen den Lagern teilnimmt. Die zehn verschiedenen Lager waren am Rand eines großen Spielfeldes untergebracht und umfassten oft wesentlich mehr als hundert Personen. Aufwendige Kostüme, sowie Accessoires gehören zum Spiel und sorgen für Atmosphäre.

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Gespielte Kulthandlung, oft mit Magie verbunden. Markiert meist wichtige Stationen im Spiel, sehr häufig Anfang und Ende. Ohne deutsches Äquivalent. Kurzform: IT. Bezeichnet alles, was der imaginären Spielwelt zugehörig ist. Die Aussage ‚Time-In‘ bedeutet in etwa: Das Spiel hat nun begonnen. Gegenbegriff zu In-Time. Kurzform OT. Bezeichnet alles, was nicht zur Spielwelt gehört. („Ich will gerade nicht kämpfen, ich bin OT“). Time-Out bezeichnet entsprechend eine Unterbrechung oder das Ende des Spiels. ‚Stadt‘ ist sinnbildlich: es handelte sich vielmehr zum Großteil um Zelte und einige aus Holz errichtete Gebäudeattrappen.

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4. Die Auswertung Bereits während der Interviews fielen bestimmte inhaltliche Überschneidungen, Wiederholungen aber auch Abweichungen in den Aussagen der einzelnen Teilnehmer auf. Beispielsweise war es interessant festzustellen, dass so gut wie immer dann, wenn das Gespräch auf die Frage kam, weshalb die Teilnehmer Larp betrieben, die technische Metapher des ‚Abschaltens‘ verwendet wurde. In der GTM werden diese hervorstechenden Merkmale „Kodes“ genannt (vgl. Muckel 217). Sie ergeben sich sozusagen aus den Daten selbst, wobei der Forschende sie aber auch ‚entdecken‘ muss, indem er das Datenmaterial immer wieder liest und die verschiedenen Kodes miteinander vergleicht. Auch hierbei gilt Glaser und Strauss’ Aussage: „The root sources of all significant theorizing are the sensitive insights of the observer himself.“ (251). Um zu einer konsistenten Theorie zu gelangen, müssen die verschiedenen Kodes dann zunächst einmal unter verschiedenen Kategorien gesammelt werden, die sich ihrerseits wieder aus den Kodes ergeben – ein iterativ-zyklischer Prozess, der zu immer höheren Ebenen der Abstraktion führt (vgl. Muckel 217). Bei meiner Analyse kodierte ich in einem ersten Schritt offen, (vgl. Strübing Grounded Theory 20) und hielt nach Auffälligkeiten oder Häufungen von bestimmten Konzepten Ausschau. Die solcherart herauskristallisierten Kodes wurden danach axial kodiert. Dies zielt „auf das Erarbeiten eines phänomenbezogenen Zusammenhangmodells, d.h. es werden qualifizierte Beziehungen zwischen Konzepten am Material erarbeitet und im Wege kontinuierlichen Vergleichens geprüft.“ (ebd.) Hierbei bildeten sich thematische Bündelungen heraus, die ich als Kategorien bezeichne. In einem dritten Schritt folgte das selektive Kodieren, wobei das gesamte Datenmaterial anhand der nun aufgestellten Kategorien noch einmal überprüft und gegebenenfalls neu eingeordnet wird. 5. Die Ergebnisse Sowohl in den Interviews als auch in der Beobachtung spielt eine Kategorie die zentrale Rolle: Urlaub vom Alltag. Im Folgenden möchte ich nun die neben dieser Kernkategorie vier wichtigsten weiteren Kategorien vorstellen: Ästhetischer Realismus, Stereotype, Freundliche Gemeinschaft, sowie Rollenspiel und Grenzüberschreitungen. Durch ausgewählte Interviewausschnitte, die stellvertretend für die jeweilige Gesamtkategorie stehen, sollen sie beispielhaft belegt und veranschaulicht werden.

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5.1 Kernkategorie: Urlaub vom Alltag Auf den ersten Blick mutet Urlaub vom Alltag wie ein Pleonasmus an: Jeder Urlaub ist doch Urlaub vom Alltag, könnte man sagen. Allerdings scheint es sich bei Larp um eine Praxis zu handeln, die sich von einem Pauschalurlaub in der Türkei doch etwas unterscheidet. Der Vergleich von Larp und Urlaub wurde von beinahe allen Interviewpartnern genannt. Speziell der Begriff des ‚Abschaltens‘ – die Metapher einer Maschine, die für eine Zeit lang nicht benötigt wird – fiel in fast jedem Interview: Es ist halt so, dass man da komplett abschalten kann, weil die Probleme in der ganzen Welt, ob halt... der Arbeitnehmer noch irgendwas zu schreiben hat oder irgendwelche Geldsorgen und so weiter, die spielen keine Rolle, man denkt einfach nicht drüber nach, es ist einfach... es ist so ausgeblendet, dass man da ganz, ganz, ganz, gut abschalten kann. Wenn man irgendwie ’ne Woche an die Ostsee fährt, dann weiß man, dass zu Hause noch irgendwie die Telefonrechnung noch bezahlt werden muss oder noch ’ne Hausarbeit geschrieben werden muss oder bald das Examen kommt oder lauter solche Dinge, und das kann man auf ’nem Larp fantastisch für drei Tage ausblenden, weil einfach nichts da ist, was damit zu tun haben könnte. (32 Jahre alt, Gymnasiallehrer)

Dieses ‚Abschalten‘ scheint vor allem durch eine gemeinsam konstruierte psychische Distanz vom Alltag zu funktionieren: Dass man halt die zwei, drei Tage die das damals war, dass man vollkommen die Realität eigentlich hinter sich lassen konnte. Das ist wie... so extrem kenne ich das aus keinem Urlaub, also man ist zwar im Urlaub und so, in Spanien oder sonstwo und hat dann auch keinen Kontakt nach Hause und so, aber trotzdem ist das nicht nur... du bist nicht nur weg von zu Hause, du bist auch weg von aus der norma... aus der normalen, aus dem normalen Alltag. Das ist das Tolle, das hat mich fasziniert, dass man da so wirklich abtauchen kann, dass man wirklich in so einer Blase ein paar Tage ist, wo man abgeschnitten ist vom Rest der Welt und und die Gedanken sich überhaupt keine Sekunde mit mit dem normalen Leben beschäftigen. (33 Jahre alt, Softwareentwicklerin)

Trotz oder gerade wegen der zum Teil erheblichen physischen Anstrengungen – beispielsweise dem Kämpfen mit Polsterwaffen – wird Larp als erholsam empfunden: Man merkt immer mal wieder, dass so drei, vier Tage Con, wo man dann wirklich erschöpft ist, müde ist, kaputt ist, blaue Flecken hat, und man kommt zurück nach so ’nem Con, man ist aber erholt, als wenn man drei Wochen am Strand lag, und war nur drei oder vier Tage irgendwo auf ’nem Con, wo man wie gesagt zerschunden nach Hause kommt, was einfach schon einiges an Erholungswert hat … Ich denke mal, dass man da einfach mal die Sau rauslassen kann. (38 Jahre alt, Orthopädietechniker)

Ein Larp bietet Erfahrungen, die im Alltag nicht zu machen sind. Dieses Motiv deckt sich auch mit dem Aspekt des ‚Camping-Urlaubs‘, der Teil

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eines typischen Con-Erlebnisses ist: in Zelten wohnen, auf offenem Feuer kochen, auf den Komfort, aber eben auch auf die Routine des modernen Alltagslebens verzichten. Auch die Abwesenheit von Kommunikationsmedien wie Internet und Mobiltelefon – zumindest im Spiel – scheint das Gefühl der Distanzierung vom Alltag zu intensivieren. Dieses Gefühl kann als das wichtigste Ziel beim Live Action Roleplay bezeichnet werden – auch wenn Verallgemeinerungen natürlich schwierig sind, wenn es um subjektive Motivationen geht. Dennoch: In der Gesamtheit der Studie hat sich herausgestellt, dass der Urlaub vom Alltag die zentrale Funktion von Larp ist. In den folgenden Kategorien und der anschließenden Zusammenfassung sollte dies deutlicher werden. 5.2 Ästhetischer Realismus Oft sprachen die Teilnehmerinnen von ‚Ambiente‘ und ‚Ausspielen‘, also davon, dass die Kostüme und die Requisiten sozusagen möglichst ‚echt‘ aussehen und die Teilnehmer sich auch ‚echt‘ verhalten sollten, kongruent und konsistent mit ihrem Charakter und der jeweiligen Situation. So lautet eine Antwort auf die Frage danach, was ein richtig gutes Larp ausmache: Dass man richtig in die Geschichte reingezogen wird. Also, dass man überhaupt keine Zeit hat, darüber nachzudenken, dass irgendwas nicht echt ist, nur Kulisse ist, oder nur gespielt ist. Also, es muss so intensiv sein... das heißt nicht, dass die ganze Zeit Angriff oder halt Spannung sein muss, sondern es muss halt einfach alles intensiv sein, also, die Kulisse muss gut sein, es darf nicht zuviel Out-TimeZeit geben. Dann, die Leute müssen gut spielen und keine Out-Time-Blasen die ganze Zeit ständig, dann ist es ein intensives Spiel und dann ist es wirklich gut, dann ist das Abschalten perfekt. (33, Softwareentwicklerin)

Durch möglichst ‚realistische‘, zugleich aber auch ästhetische Requisiten, Kostüme, Charaktere und Spielsituationen soll eine überzeugende Fiktion erreicht werden, die es den Teilnehmern erleichtert, die Spielwelt zu ‚erleben‘. Larp soll dabei auch ästhetischen Genuss vermitteln: „Und gestern hab ich einen gesehen, den haben die gefangen und dann an der Palisade ausgepeitscht, weil er nicht reden wollte, und das ist natürlich auch schön“ (38 Jahre alt, Orthopädietechniker). Dennoch wird damit keine ‚andere Wirklichkeit‘ kreiert, da die Illusion einerseits an ästhetisch-dramaturgischen Maßstäben orientiert, andererseits von zahlreichen Brüchen mit der Alltagswirklichkeit durchzogen ist. Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass auf dem Drachenfest sehr häufig und schnell zwischen In-Time und Out-Time gewechselt wurde. Ein Beispiel: In meiner Rolle als gelehrter Mönch befand ich mich in einer Taverne, als plötzlich ein kleines Kügelchen auf dem Boden landete und blauen Rauch verströmte. Gleich darauf sagte ein Spielleiter: „Ihr seid ge-

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rade alle betäubt worden, und jeder hier in der Taverne schläft jetzt sofort ein, für fünf Minuten.“ Die Gäste ließen sich dort, wo sie gerade standen oder saßen, (vorsichtig) zu Boden fallen, einige schnarchten laut. Das Interessante daran war die Rolle der Kommunikation für das Spielgeschehen: Die Räuber taten so, als durchsuchten sie ihre Opfer, spielten also. Sie fragten die ‚Betäubten‘ jedoch, ob sie Geld dabei hätten, anstatt sie wirklich abzutasten, und nahmen damit eine für alle bequeme kommunikative Abkürzung. Darüber hinaus waren einige der Tavernengäste nicht gleich der Anweisung des Spielleiters gefolgt, sondern hatten sich erst noch leise darüber beschwert, dass sie jetzt überfallen würden. Außerdem wurde die kurze Schlaf-Episode von einigen Teilnehmern durchbrochen, die sich über eine herumschwirrende Wespe beklagten. Die Grenze zwischen In-Time und Out-Time wird also dauernd durchbrochen, sei es durch die eben dargestellte Form von Metakommunikation, sei es durch Spieler, die in ein Handtuch gewickelt von den Duschen zurückkommen und dabei direkt an einer Schlacht vorbeilaufen. Im Generellen werden diese Brüche zwischen Illusion und Realität so gut wie möglich einfach ignoriert. Dabei orientieren sich die Teilnehmerinnen vor allem an gut erkennbaren Symbolen, um einzuordnen, ob andere Teilnehmer sich gerade im Spiel befinden oder nicht: Sprache, Kleidung und Verhalten. 12 5.3 Stereotype Stereotype sind für das Live-Rollenspiel unentbehrlich. Die üblichen Klischees der Fantasy-Welt, also Charaktere wie Zwerge, Elfen oder Orks, aber auch typische Handlungen bieten den Teilnehmern durch ihre Struktur Orientierung. Durch ihre Kenntnis üblicher Fantasy-Charaktere kann die Spielerin wissen, dass die gedrungene Gestalt mit Bart, die ihr auf der Straße entgegenkommt, ein Zwerg ist. Sie weiß damit auch, wie Zwerge sich typischerweise verhalten und wie sie auf bestimmte Situationen reagieren. Auch ihren eigenen Charakter gestaltet und spielt die Teilnehmerin auf Basis von Stereotypen, an denen sie, aber auch ihre Mitspieler, sich handlungstechnisch orientieren können. Insgesamt erleichtern die Stereotypen aus der Fantasy-Welt das gemeinsame Spielen indem sie einen Handlungs- und Interaktionsrahmen vorgeben. So lautet eine weitere Antwort auf die Frage, was ein richtig gutes Larp ausmache: Wenn der Charakter stimmig ist... das Charakterkonzept stimmig ist zu dem, was man trägt, die Gewandung, die man an hat, die Requisiten, die man mit hat... dass es halt einfach zusammenpasst. Also zum Beispiel, dass man jetzt nicht irgend12

Wie z.B. das gängige Verschränken der Arme vor der Brust, um anzuzeigen, dass eine Person sich gerade nicht im Spiel befindet.

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wie, ich sag mal, ’ne Elfe spielt und wie ein Ork aussieht zum Beispiel. Also, dass man das, was man spielt, dass man das auch darstellen kann, dass man auch an dem, was derjenige anhat, erkennen kann, was will der eigentlich darstellen, was will der sein, und dass man nicht sagt, hm, der könnte das sein, der könnte das sein, der könnte das sein... ja, also dieses Stimmige, das ist echt wichtig. (30, Erzieherin)

Stereotype sind allerdings ambivalent. Sie schaffen durch ihre vereinfachenden Strukturen zwar erst die Möglichkeit, Live-Rollenspiele zu betreiben, hindern die Spieler durch ihre vorhersagbare Simplizität oft aber auch daran, tief in das Spielgeschehen, in die ‚In-Time-Blase‘, einzutauchen: Ich kenne ’ne ganze Menge Romane, ich kenne auch rein aus der Spielerfahrung ’ne ganze Menge Situationen, die immer wieder sehr absehbar enden. Das heißt also, die Räuber stürzen aus dem Wald, und sie handeln nicht logisch. Ergo, sie rennen nicht um ihr Leben, wenn sie merken, dass eine Übermacht ihnen gegenübersteht, sondern sie schmeißen sich in den Kampf und sterben heroisch. Würd’ ein Räuber nie machen. Aber es passiert immer und immer und immer wieder. In dem Moment, wo’s nicht mehr absehbar ist, fängt’s richtig an, Spaß zu machen, weil genau dann beginnt das Spiel, dann ist es kein Abarbeiten einer Situation mehr, sondern Spiel. (24, Veranstaltungskauffrau)

Während auf einer Makro-Ebene die Fantasy-Klischees also eine elementare Orientierungsfunktion erfüllen, versuchen die Spieler auf der MikroEbene oft, diese Stereotype wieder zu umgehen oder ironisch zu brechen. 5.4 Freundliche Gemeinschaft Die meisten Teilnehmer reisten in Gruppen an und spielten auch viel in ihren Gruppen, außerdem kochten und aßen sie zusammen. Viele nahmen andere in ihre Zelte mit auf, weil sie noch einen Schlafplatz frei hatten. Natürlich hat all dies auch pragmatische Gründe, doch wurde diese Freundliche Gemeinschaft wiederholt beschrieben: Das war auch für mich auf jeden Fall einer der Hauptgründe, warum Larp so was Schönes ist. Weil du halt wirklich kommst und bekommst deinen Platz, egal, wie groß der Con ist und irgendwie ist das ’ne Gemeinschaft, auch wenn man sich nicht kennt, denn man ist da, um zusammen zu spielen und klar, auch wenn Leute da sind, die man nicht kennt, in der Regel ist das ’ne Gemeinschaft, in der man sich wohl fühlt. Da ist immer in der Regel sehr, sehr viel Akzeptanz. (32, Gymnasiallehrer)

Viele Larper spielen in festen Gruppen, finden Freunde auf Larps und können dort leichter miteinander in Kontakt kommen als im Alltag. Dank der Urlaubsatmosphäre, aber auch durch das Rollenspiel, können Hemmungen wegfallen. Gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungen, die in Form von Anekdoten weitergegeben werden, tragen zu dem Gemeinschaftserlebnis bei. Eine Interviewpartnerin, die sich auf ihrem zweiten Con befand, antwortete auf die Frage, wie Larp ihr bislang gefalle:

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Größtenteils muss ich sagen, überwiegend positive Erfahrungen gemacht, viele Kontakte geknüpft... ein Freund von mir hat das gesagt, also, Larp ist das Perfekte, um irgendwie neue Leute kennen zu lernen, weil alles viel ungezwungener ist und alle viel offener aufeinander zugehen. Und du kannst einfach ganz ohne Hemmungen jemanden ansprechen, mit dem reden...du bist ja jemand anders in dem Moment, und dadurch fällt das viel einfacher... (30, Studentin der Elektrotechnik)

Hier ist auch die Bedeutung der Rollendistanz zu erkennen. Diese äußerte sich ebenfalls darin, dass die Interviewteilnehmer meist von ‚mein Charakter‘ sprachen und nicht von ‚ich‘. 5.5 Rollenspiel und Grenzüberschreitungen Innerhalb einer Rolle können Grenzen übertreten und dadurch andere Erfahrungen als im Alltag gemacht werden. Sie dient als Maske, die den Spielenden hilft, sich einerseits vom eigenen Alltags-Ich zu entfernen, und die es andererseits erlaubt, in ihrem Schutz Dinge zu tun, die man normalerweise nicht tun würde: Im echten Leben jemanden auszurauben ist ein Verbrechen, oder im echten Leben jemanden den Schädel einzuschlagen ((lacht)) ist ein noch gröberes Verbrechen. Das könnte man da jetzt auch hinein interpretieren, dass man da... also, da kann man’s machen, da stört’s keinen, es ist sogar erwünscht und macht Spaß, dass man eventuell auch unterschiedlich zum Alltagsleben da agieren kann. (22, Krankenpfleger)

Das Übertreten von Grenzen bzw. das Verletzen von Normen ist ein wichtiger Bestandteil von Larp und dessen Erholungseffekt. Die Normverletzungen betreffen aber nur das, was ‚im Spiel‘ geschieht – es ist natürlich immer noch verboten, jemanden wirklich zu verletzen oder auszurauben. Es geht vielmehr um das Verhalten in der Öffentlichkeit13. Man darf anders sein als sonst, Distanz von der eigenen Alltagsrolle haben: Es ist halt schön, dass man Dinge tun kann, die völlig untypisch sind für einen, ohne seine Authentizität zu verlieren. Weil im realen Leben könnt ich das nicht, weil dann die anderen denken würden, so ist sie gar nicht, das passt nicht zu ihr. Aber in der Rolle kann ich das machen und in der Rolle kann ich auch Facetten meines eigenen Charakters, die bei mir jetzt vielleicht ein bisschen unterrepräsentiert sind in der realen Welt... ja, was weiß ich, dass bei mir schon im Inneren schon ’ne Wildsau ist, aber die geht halt nicht so raus, weil die so schüchtern ist, ja? (Mitte 30, Sachbearbeiterin im Software-Vertrieb)

Ebenso dürfen bestimmte Verhaltensweisen ausgelebt werden, ohne dafür gesellschaftlich sanktioniert zu werden: 13

Mit Ervin Goffman könnte man hierbei wohl von einem ‚Facework‘ (vgl. Interaktionsrituale 10; in der dt. Ausgabe übersetzt mit „Imagepflege“) sprechen, in dem vom Alltag abgewandelte Regeln der ‚Ehrerbietung‘ und des ‚Guten Benehmens‘ gelten (vgl. 90f.).

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Unter anderem eben auch, dass man teilweise auch ein richtig fieses Arschloch spielen kann mit irgendwelchen Charakteren, die man sich bastelt, um halt herauszufinden, wie es ist. Ja, das kann man ja im richtigen Leben nicht machen, man kann ja nicht mal eben zu jemanden hingehen und sagen, he du Penner. Ich mein, kann man schon, sollte man aber möglichst nicht. (24, Student der Sinologie)

Rollenspiel und Grenzüberschreitungen erleichtert damit auch die anderen Kategorien, insbesondere die Kernkategorie Urlaub vom Alltag. 6. Zwischenstand Die Kernkategorie Urlaub vom Alltag gibt Antwort auf die Frage, warum Menschen Larp praktizieren: Die Antwort mutet zunächst recht schlicht an: um etwas anderes zu machen als im Alltag, Spaß zu haben und sich zu entspannen. Sie bedienen sich, indem sie zusammen Spielen, gemeinsam des Prinzips des Ästhetischen Realismus und verhalten sich an einem bestimmten Ort für eine begrenzte Zeit anders als in ihrem Alltag. Eine Orientierungs- und Handlungsstruktur wird durch leicht erkennbare Stereotype vorgegeben, die sich in den Charakteren, den Spielsituationen und auch der Sprache äußern. Viele der Teilnehmer entnehmen ihr gemeinsames Wissen über diese Klischees der Fantasy-Literatur, aber auch anderen Formen von FantasySpielen, wie Pen&Paper- und PC-Spielen. Sie spielen ‚Rollen‘ oder ‚Charaktere‘, die es ihnen erlauben, sowohl Distanz zu der Rolle selbst als auch zum Alltag und dessen Rollen zu empfinden und dadurch Erfahrungen zu machen, die sie sonst nicht machen würden, insbesondere im Bereich von Grenzüberschreitungen. Die Spieler sind dabei Teil einer offenen und freundlichen Gemeinschaft, in der sie sich wohl fühlen. Oft werden diese Gemeinschaften von Larp zu Larp und auch außerhalb von Cons weitergeführt. Um auf Basis dieser ‚Grounded Theory‘ von Larp nun eine These über die Bedeutung der Fantasy im Live-Action Roleplay aufstellen und diese anschließend in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext setzen zu können, sollen im Folgenden drei Begriffe, die für ein weiteres Verständnis essentiell scheinen, kurz vor dem Hintergrund der nun gewonnenen empirischen Erkenntnisse beleuchtet werden: Spiel, soziale Rolle und Fantasy.

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7. Spiel, soziale Rolle und Fantasy 7.1 Spiel In seinem Buch Homo Ludens untersuchte Johan Huizinga bereits 1938 den Begriff des Spiels aus historischer Perspektive und kam zu dem Ergebnis, dass es die Grundlage aller Kultur ist (vgl. 229ff.). Das Besondere am Spiel sei dabei vor allem seine Nichtalltäglichkeit: Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben. (22)

Gunter Gebauer und Christoph Wulf ergänzten diese Begriffsbestimmung fünfzig Jahre später um folgenden, für das Verständnis von Larp und dem Genre der Fantasy hochinteressanten Aspekt: Der erste Gegenbegriff des Spiels war die Arbeit; weitere Abgrenzungen wurden später hinzugefügt – dem Spiel wurde entgegengesetzt: der Ernst, die Alltagswirklichkeit, das Zweckbestimmte und das Nützliche, das instinktkodierte (tierische) Verhalten, das Notwendige und Unfreie, der Zwang, das Profane, das Gewöhnliche etc. Bei einer solchen Fülle von Oppositionen besteht das Besondere des Spiels offenkundig nicht darin, daß diesem einzig und allein ein Begriff entgegengesetzt werden kann, sondern es liegt in dem nicht-eingrenzbaren Wechsel der Aspekte: Anstelle der einen Opposition kann auch die andere gewählt werden. […] Die verschiedenen Spiele werden eher durch das Fortlaufen der Aspekte bei partieller Überlappung wechselnder Merkmale zusammengehalten als durch einen inneren Kern. (190)

Das Wesen des Spiels liegt also in seiner inhärenten Wechselhaftigkeit. Angewandt auf Larp ist diese in zwei Bereichen festzustellen: Erstens im Oszillieren zwischen Spielwelt und Alltagswelt, das sich vor allem in der Kommunikation manifestiert. Zweitens aber auch in der Freiheit, sich für das Spiel gewisser Merkmale zu bedienen, die zunächst außerhalb des Spielrahmens vorkommen, und sie in der Form von Stereotypen nutzbar zu machen, indem verschiedene Aspekte fiktionaler und realer Welten aus ihrem Kontext herausgetrennt und neu miteinander verknüpft werden.

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7.2 Soziale Rolle Der Begriff der sozialen Rolle ist schon seit längerem Bestandteil soziologischen Vokabulars. In Deutschland hat sich bei seiner Nutzbarmachung vor allem Ralf Dahrendorf mit seinem Homo Sociologicus hervorgetan, in dem er den Begriff grundsätzlich bestimmt und als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Individuum einordnet. Im angelsächsischen Raum wurde der Begriff bereits sehr praktisch angewandt, insbesondere von Ervin Goffman. Doch vor allem der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner bietet eine gelungene Metapher, die auch den Zusammenhang von Rolle und Norm betont: Eine Gesellschaft hat immer ein Normensystem als Halt ihres Gefüges und ist darauf eingespielt. Um die Gefügtheit zu begreifen, muß man das Zusammenspiel der Individuen unter dem Normenbegriff in den Griff bekommen. Hierfür bietet der Begriff der sozialen Rolle besondere Vorteile. Er bezeichnet das Gelenk, mit welchem ein Individuum gesellschaftlich relevante Bewegungen ausführt. (23)

Ein Individuum handelt also, wenn es sozial handelt, über eine bestimmte Rolle, also Verhaltensmuster, in der auch die Normen einer Gesellschaft eingeschrieben sind. Damit ist jedes Gesellschaftsmitglied gezwungen, immer die Rolle des Rollenspielers zu spielen: So stützt sich der funktionelle doch auf den anthropologischen Rollenbegriff, der das Verhältnis des Rollenträgers zu seiner Rolle im Auge hat und damit das Doppelgängertum des privaten und des öffentlichen Menschen als seine Voraussetzung festhält. Dieses Doppelgängertum erläutert sich, da Rolle hier als Maske verstanden wird, am Bilde des Schauspielers. ‚Rolle‘ und ‚Spiel‘ sind nicht mehr als Bezeichnungen für den funktionellen Beitrag zu einem Wirkungszusammenhang verwandt, sondern als Formen des Verhaltens, welche die Gesellschaft dem Menschen zumutet. Er selbst schlüpft in diese Rolle und hat dafür zu sorgen, daß er sie gut spielt. Wer aus der Rolle fällt und zum Spielverderber wird, stört die Gesellschaft und macht sich in ihr unmöglich, in den niedersten wie in den höchsten Rängen. (28, meine Hervorhebung)

Damit wird die soziale Rolle zu einer notwendigen Bedingung für sowohl die Gesellschaft als auch für das Individuum. Der funktionelle Rollenbegriff fokussiert darauf, dass mit einer bestimmten Rolle auch bestimmte Verhaltensweisen assoziiert sind, die in und für eine Gesellschaft bestimmte Funktionen haben (wie z.B. die Rollen Ehemann, Bankdirektorin oder Freundin). Der anthropologische Rollenbegriff sagt darüber hinaus, dass Menschen nur durch Rollen soziale Wesen sein können und nur durch sie eine Identität und ein privates Selbst haben können – das, was ‚übrig‘ bliebe, wenn man von einem Menschen alle Rollen subtrahieren könnte, die sie oder er tagtäglich zu spielen hat. Das Paradoxe daran ist, dass Menschen es nie vermeiden können, eine Rolle zu spielen, dass das Bewusstsein und damit die Distanz von ihren Rollen sie aber erst dazu

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befähigen, ein privates Selbst anzunehmen, das irgendwo hinter all ihren Masken verborgen ist. Auf die Frage, ob es dieses Selbst überhaupt gibt, soll hier nicht eingegangen werden. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Menschen nach Plessner immer und überall Rollen spielen. Wenn Menschen als Mitglieder der Gesellschaft aber genuine Rollen-Spieler sind – wodurch unterscheiden sie sich dann von Live-Rollenspielerinnen? Bei einem Larp stehen die Interaktionen zwischen den Mitspielerinnen im Vordergrund, die dabei immer von dem Rahmen „Dies hier ist ein Spiel und hat deswegen keine Konsequenzen auf das ‚reale‘ Leben“ umgeben sind. Dies gestattet eine Freiheit in der Ausgestaltung der Rolle und damit des Handelns, die im Alltag nicht gegeben ist. Die Teilnehmenden können innerhalb des gleich bleibenden Rahmens ‚Spiel‘ verschiedene Wirklichkeiten bzw. ‚Rollen‘ spielen. Zudem ist ein Larp durch symbolische Darstellungen – wie eben den ästhetischen Realismus – ständig als Spiel markiert. Die elementare Rolle, die Menschen auf einem Live-Rollenspiel spielen, ist damit die des Spielenden. 7.3 Fantasy Bezüglich der Definition des Genres Fantasy und seiner Ursprünge möchte ich mich in diesem Abschnitt auf Frank Weinreichs Fantasy: Einführung beschränken. Grund hierfür ist, dass es sich dabei um einen Ansatz handelt, der im Gegensatz zu beispielsweise Todorovs zum einen weniger auf das rein Literaturwissenschaftliche fokussiert, zum anderen nicht das sehr weite ‚Fantastische‘ untersucht, sondern sich auf das Genre Fantasy beschränkt, was für den Zweck dieses Artikels gewinnbringender scheint. Weinreich bietet folgende Definition: Fantasy ist […] ein literarisches (sowie mehr und mehr auch cineastisches und in weiteren Ausdrucksformen auftretendes) Genre, dessen zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins und Wirkens metaphysischer Kräfte oder Wesen ist, das als Fiktion auftritt und auch als Fiktion verstanden werden soll und muss. (37)

Dies stimmt mit den empirischen Erkenntnissen dieses Artikels überein. Bei einem Larp ist die Fantasywelt klar als Fiktion zu erkennen. Zwar ist das Ziel oftmals ein konsistentes Erleben dieser Fiktion, doch wird dies meist nur für sehr kurze Zeit erreicht. Den größten Teil eines Cons bemühen sich die Teilnehmenden um das Eintauchen in eine ‚In-TimeBlase‘, sind sich dieser Anstrengung aber bewusst und steuern sie imaginativ, kommunikativ und mimetisch. Einzeln und gemeinsam bemühen sie sich darum, die kollektive Fiktion zu errichten, dass die Fiktion Fantasywelt im begrenzten Rahmen des Spiels Fakt sei. Durch die Brüche in dieser angestrebten Illusion schimmert jedoch stets das Bewusstsein, dass es

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sich um ein Spiel handelt. Das ständige Oszillieren von Fiktion und Fakt trägt dazu bei, die Spieler in diesem Bewusstsein zu halten. Weinreich schreibt dem Genre überdies ein sinnstiftendes Element zu, dem ein „metaphysisches Bedürfnis“ (61) der Menschen entspräche: Dieser emotionale wie intellektuelle ‚Hunger‘ wird von Religion und Mythos und von Fantasy befriedigt. Fantasy hat dabei die Sonderrolle inne, offen als Spiel und Unterhaltung aufzutreten – denn gemäß der eigenen Definition von Fantasy gibt sie sich ja auch als nicht wahr zu erkennen. (121)

Damit hätte die Fantasy vor allem eine substantielle Funktion14. Dies deckt sich allerdings nicht mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung. Aus soziologischer Perspektive steht zumindest beim Larp das Spielen im Mittelpunkt und nicht das Erleben einer Fantasywelt – also bewusste Erholung statt eskapistischem Abtauchen. Diese sind keine konträren Kategorien, doch kommt dem einen eine wesentlich größere Bedeutung zu als dem anderen. Neben den definitorischen Aspekten ist auch der Ursprung des Genres von Interesse für diesen Artikel. Nach Weinreich gibt es vier miteinander verknüpfte Umstände, die zum Entstehen der Fantasy führten: Erstens das mythische Erzählerbe der letzten viertausend Jahre; zweitens die geistesgeschichtliche Entwicklung von Rationalismus, Primat der Empirie und Aufklärung zum rationalistischen Weltbild als vorherrschender Weltanschauung; drittens ein erstes Aufbegehren genau dagegen von Seiten der Romantik und mystisch orientierter Denkströmungen sowie viertens einschneidende soziale, wirtschaftliche und wissenschaftsgeschichtliche Umbrüche. (79)

Das Genre Fantasy hat sich also aus und mit der Romantik in Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Wandel entwickelt, aus dem im alltagssprachlichen Gebrauch die ‚Moderne‘ hervorgegangen ist. An diesem historischen Umbruch, nach Weinreich dem Beginn der Fantasy, verortet Huizinga interessanterweise wiederum einen Rückgang des Spielens in unserer Kultur: Zusammenfassend kann man vom neunzehnten Jahrhundert behaupten, daß in fast allen Manifestationen der Kultur der Spielfaktor stark in den Hintergrund tritt. Sowohl die geistige wie die materielle Organisation der Gesellschaft standen einem sichtbaren Wirken dieses Faktors im Wege. Die Gesellschaft war sich ihrer Interessen und ihres Strebens überbewußt geworden. Sie meinte den Kinderschuhen entwachsen zu sein. Sie arbeitete mit wissenschaftlichem Plan an ihrem eigenen irdischen Wohlergehen. Die Ideale von Arbeit, Erziehung und Demokratie ließen kaum Raum für das ewige Prinzip des Spiels. (210) 14

Die auch dem Ursprung der Religion, dem Mythos, zugeschrieben wird. Vgl. hierzu insbesondere Die Logik der Weltbilder von Günter Dux und Versuch über den Menschen von Ernst Cassirer, die den Mythos nicht nur kulturell-historisch bzw. systematisch-philosophisch untersuchen, sondern deren Betrachtungen auch den Schluss erlauben, dass der phantastische, emotionale Mythos eine ‚anthropologische Konstante‘ ist.

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8. Zusammenfassung und Schluss Larp konnte als Praxis identifiziert werden, in der das Spielen der wichtigste Bestandteil ist – besonders im Vergleich mit dem immer wieder behaupteten ‚Rollenspiel‘, das sich weniger als ein Spiel mit sozialen Rollen erwiesen hat, wie sie in unserer Gesellschaft vorkommen, sondern viel mehr als eine angenehme und intensive Abwechslung zum Alltag und seinen festen Normen, die in einem Larp auf spezifische Weise gelockert sind. Live-Rollenspieler spielen also keine Rollen im herkömmlichen Sinn, sondern verwenden auf spielerische Art und Weise stereotype Masken, um sich von ihrem Alltag zu erholen. Das Genre Fantasy erleichtert es, vom Alltag ‚abzuschalten‘. Es erfüllt dabei aber primär keine substantielle Funktion – diese erfüllt das Spiel selbst –, sondern bildet einen Hintergrund, der in seiner besonderen Synthese von spielerischer Freiheit und strukturierender Stereotype einen optimalen inhaltlichen Fundus für Spiele bietet. Durch die Mischung aus romantischmystischen Elementen (u.a. Monster, Magie und Mittelalter) bietet sie zusätzlich einen starken Kontrast zu der alltäglichen, technisierten Lebenswelt. Zum Schluss ließe sich fragen: Lässt sich vor dem Hintergrund der in diesem Artikel präsentierten Ergebnissen und Überlegungen die These Huizingas von der nicht-mehr-spielenden Gesellschaft aufrechterhalten? Zwei konträre und etwas polemische Antworten wären möglich. Die eine lautet: Nein, denn nach der von Huizinga diagnostizierten ‚Ernsthaftigkeit‘ der Industrialisierung und Aufklärung befinden wir uns nun mitten in einer Renaissance des Spiels. Larp, ‚Alternate Reality Games‘ sowie der zunehmende Erfolg von PC- und Videospielen, viele davon im Themenbereich der Fantasy, sind Indizien dafür. Die andere Antwort wäre: Ja, sie lässt sich aufrechterhalten, denn ‚Spielen‘ erscheint in unserer Zeit immer weniger als Selbstzweck, sondern immer mehr als effizientes Instrument zur Erholung oder zum Lernen. Wir werden in zunehmendem Maße zu ernsten Arbeitsmaschinen – selbst dann, wenn wir glauben, zu spielen. Literaturverzeichnis Balzer, Myriel. Live action role playing: Die Entwicklung realer Kompetenzen in virtuellen Welten. Marburg: Tectum, 2009. Beck, Ulrich. Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1986. Cassirer, Ernst. Versuch über den Menschen: Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg: Meiner, 1990.

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FANTASTIK IN FILM UND TV

Visuelle Labyrinthe Das Bild der Stadt im Kino Oshii Mamorus BENEDICT MARKO Visual Labyrinths. The Image of the City in Oshii Mamoru’s Films This essay analyses Japanese writer-director Oshii Mamoru’s visual strategies of depicting cityscapes in both animated and live action movies, tracing them back to artistic tendencies in film, photography and painting mainly within 1920s American Modernism. Building on these insights, the essay identifies a unique type of scene in Oshii’s films centred around the representation of the urban space, and tracks its development from its roots in Angel’s Egg (1985) to its most refined execution in the Ghost in the Shell movies (1995 and 2004). The essay then defines these scenes through their sudden disruption of the movie’s narrative, emphasizing a combination of distinctive yet seemingly disjointed musical cues and visuals instead, and illuminates their artistic motivation.

1. Oshii Mamoru vor dem Hintergrund japanischer Animation Oshii Mamoru ist einer der berühmtesten japanischen Filmregisseure der Gegenwart.1 Die Werke seiner nunmehr dreißigjährigen Karriere haben stilistisch und inhaltlich immensen populärkulturellen Einfluss ausgeübt – in seiner Heimat ebenso wie im Westen.2 Obwohl er Arbeiten in fast allen modernen Massenmedien veröffentlicht hat – vom Comic bis zum Radiodrama – und sein Gesamtwerk als Regisseur zahlreiche Realfilme umfasst, wird er im Westen fast ausschließlich mit dem Animationskino in Verbindung gebracht. Japanischer Animationsfilm ist in Mitteleuropa eins der Klischees für die moderne japanische Kultur schlechthin. In Deutschland richten sich nur sehr wenige animierte Filme und Serien an Erwachsene, wodurch auto1 2

Dieser Artikel folgt bei japanischen Namen der Originalschreibweise, bei der der Nachname dem Vornamen vorausgeht: Oshii ist der Familienname. Im Internet kursieren unter anderem zahlreiche Vergleiche von Screenshots und Videosequenzen, die nachweisen, dass die Parallelen zwischen Oshiis Film Ghost in the Shell (1995) und The Matrix (1999) sich nicht auf Themen und Motive beschränken, sondern dass Ghost in the Shell auch in ästhetischer Hinsicht Vorbild war.

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matisch eine Konnotation zwischen Zeichentrick und kindgerechter Unterhaltung entsteht. Wir sollten uns vor Augen halten, dass es in diesem Fall wir Mitteleuropäer sind, die kulturell voreingenommen sind. Das Medium Kinofilm ist aus Jahrmarktsattraktionen und Spielzeugen wie der Wundertrommel, dem Phenakistiskop und dem Praxinoskop entstanden, die nichts anderes als primitive Apparate zur Erzeugung von Zeichentrickfilmen darstellten. Dass man mithilfe des stroboskopischen Effekts Bildreihenfolgen lebendig machen kann, ist lange vor Entwicklung der ersten Filmkameras entdeckt worden. Es war eine Technik, die erst für Zeichentrick entwickelt und dann auf fotografische Inhalte angewendet worden ist: Der Zeichentrick ist also der Urahn des Realfilms. Darüber hinaus greift nahezu jeder Realfilm auf spezialangefertigte Kulissen, Kostüme und Ausstattungsgegenstände zurück. Gerade im fantastischen Kino ist von Anfang an oft die komplette Welt um den Schauspieler herum nur gemalt, als bemalte Kulisse errichtet oder als verkleinertes Modell gebaut und in das Bild projiziert gewesen – eins der berühmtesten und frühesten Beispiele wäre Georges Méliès’ Le voyage dans la lune (1902). Das derzeit im Kino zu beobachtende Verschmelzen von vollständig animierten Hintergründen mit real gefilmten Darstellern stellt eine Rückkehr des Kinos zu seinen Ursprüngen dar. Mit geübtem Auge sind diese Hintergründe aber immer noch leicht als künstlich zu erkennen. Ein Trend Anfang der 2000er Jahre bestand daher darin, die menschlichen Figuren in ihren künstlichen Umgebungen durch grafische Überarbeitung ähnlich artifiziell erscheinen zu lassen und damit durch Ästhetisierung der verbliebenen abfotografierten Anteile wieder einen homogenen Stil zu erreichen, oder die Hauptdarsteller direkt komplett zu digitalisieren. Oshii nutzt dieses Phänomen im Rahmen seiner Animationsfilme aus (vgl. 3.). Ausschließlich Realfilme als erwachsenengerecht zu akzeptieren ist Ergebnis einer schleichenden Entwicklung. Die seit dem Jahre 1937 produzierten abendfüllenden Kino-Zeichentrickfilme aus dem Hause Disney richteten sich bis in die 1950er Jahre hinein hauptsächlich an Erwachsene. Verglichen mit gegenwärtigen Produktionen bedienten die ersten DisneyFilme eher eine Avatar- als eine Aladdin-Klientel: eskapistische Märchenwelten für den gebeutelten Allerweltsbürger, die vollständig durch Spezialeffekte auf die Leinwand gezaubert wurden; große, seltene Spektakel, die von ähnlichem gesellschaftlichem und medialem Rummel begleitet waren wie Ben Hur (1959) oder andere Realfilm-Epen. Der gegen Ende der 1950er Jahre zu verzeichnende Umschwung der Animationsindustrie auf den Kindermarkt hat in Japan schlicht nie stattgefunden. Oshii nimmt hierbei noch eine Sonderstellung ein, da einige seiner Filme und gerade sein Spätwerk sich sogar ausschließlich an Erwachsene richten.

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2. Die Stadt als Motiv Seitdem Oshii beim zweiten Urusei yatsura-Film erstmals vollständige kreative Kontrolle über seine Projekte ausübte, hat sich bei ihm ein stetiger Kanon wiederkehrender Motive entwickelt, zu deren deutlichsten die Stadt gehört. Fast all seine nach 1984 entstandenen Geschichten spielen vor einem urbanen Hintergrund, der auch immer maßgebliche Bedeutung für die Handlung hatte. 2.1 Visuelle Einflüsse und ihre Umsetzung Oshiis Filme orientieren sich in der visuellen Ausgestaltung stark an einer Richtung des amerikanischen Modernismus, die in den 1920er Jahren in New York um den Fotografen Alfred Stieglitz herum entstand. Diese Gruppe beschäftigte sich in Film, Fotografie und Malerei mit den Möglichkeiten, das Gefühl des Großstadtlebens festzuhalten. Dabei wurden Menschen kaum als Individuen dargestellt – Porträtaufnahmen waren selten – stattdessen beschäftigten sich die Künstler vornehmlich mit Menschenmassen, Architektur, Atmosphäre und Licht. So war unter anderem die Malerin Georgia O’Keeffe, Stieglitz’ Lebensgefährtin, davon überzeugt, dass das charakteristische visuelle Merkmal der Stadt indirektes Licht sei: solches, das von anderen Medien wie etwa Nebel oder Smog gebrochen bzw. von verglasten Fensterfronten zurückgeworfen oder erst als negative space durch Schatten auf Gebäuden, Straßen oder Brücken sichtbar wird. Sie empfand diese Art von Licht als essentiell, um die schnelllebige Atmosphäre der Großstadt festzuhalten (vgl. Benke 49, 52). Daher entwickelte O’Keeffe eine Malerei der Lichteffekte, die sich durch die Darstellung von leuchtenden Fenstern vor dunklen Hintergründen, Halos, Reflexionen, Spiegelungen sowie des Schillerns metallischer und gläserner Oberflächen auszeichnete. Man kann diese Ästhetik als eine Fortentwicklung und Fusion von Techniken der romantischen Malerei (die ein ebenso starkes Interesse an Atmosphäreeffekten, leuchtenden Himmelskörpern und Lichtauren hatte3) mit solchen des seinerseits von

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Dadurch gewinnen O’Keeffes Gemälde eine Atmosphäre, die von vielen Betrachtern als ‚übernatürlich‘ charakterisiert wurde; ein Eindruck, dem O’Keeffe selbst immer widersprach. Oshii hingegen nimmt diese Bedeutungsebene bewusst in seine Werke mit auf, indem er z.B. die verschiedensten Lichtquellen wie etwa Neonröhren dazu einsetzt, um subtile ‚Heiligenscheine‘ um seine Figuren herum zu erzeugen (vgl. Ghost in the Shell: 0:36:20 und 0:44:22). Damit greift er auch auf einen Kunstgriff aus der Malerei der Hochrenaissance zurück: Vor das Problem gestellt, die Darstellung eines fantastischen Objekts mit dem naturalistischen Anspruch der Aufklärung verbinden zu müssen, ersetzten Maler wie

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Futurismus und Kubismus geprägten Präzisionismus charakterisieren (den vor allem scharfe Kontraste sowie die scherenschnittartige Geometrie industrieller Bauwerke auszeichnete). Auffällig bei O’Keeffes Ästhetik ist, dass teilweise dezidiert fotografische Effekte mit malerischen Mitteln wiedergegeben werden: Ihr berühmtes Gemälde The Shelton With Sunspots (1926) etwa ist um eine gigantische Linsenreflexion herum aufgebaut; in New York With Moon (1925) und City Night (1926) wird der in der Fotografie hoher Gebäude häufig auftretende Eindruck stürzender Linien reproduziert, und East River From the Shelton (1926) bezieht seine Komposition aus Stieglitz’ Foto City of Ambition (1910). Neben Malerei und Fotografie besaß der amerikanische Modernismus der 1920er aber auch eine filmische Komponente: Zeitgleich mit Stieglitz’ Fotografie und O’Keeffes Malerei fand die erste ‚Entfesselung‘ der Filmkamera statt. Die Geräte wurden mobil und erschwinglich. Ein Ergebnis der Experimente des Künstlerkreises um Stieglitz ist der Dokumentarfilm Manhatta [sic] (1921) von Charles Sheeler und Paul Strand, eine innovative Montage von Stadtansichten. Sheeler verwendete wie O’Keeffe die gemeinsam mit Strand produzierten Filmaufnahmen als Vorlage für seine Malerei (vgl. Benke 48). Ebenfalls in diese Zeit datiert die Geburt der City Symphony, eines kleinen Subgenres des Dokumentarfilms, das ähnlich wie der amerikanische Modernismus Stieglitzscher Prägung das Lebensgefühl der Großstadt einzufangen versucht, wenn auch mit anderen Mitteln. Als Wegbereiter der City Symphony darf der polnische Filmemacher Dziga Vertov (1896-1954) gelten. Die unzähligen Filmtechniken, die er ab 1922 während seiner Arbeit für die sowjetische Wochenschau Kino-Pravda entwickelte und die in seinem Film Chelovek s kino-apparatom (dt.: Der Mann mit der Kamera, 1929) zusammenkamen, lesen sich wie eine Bestandsaufnahme von Oshiis künstlerischem Inventar: Kamerafahrten auf Verkehrsmitteln, Stadtaufnahmen aus extrem verkanteten Frosch- und Vogelperspektiven, point of view shots, Zerrlinsen, Zeitlupe, Zeitraffer, freeze frames, eine ‚diashowartige‘ Montagetechnik, die stark durch unterlegte Musik rhythmisiert wird, sowie eine Neigung zur Selbstreflexivität (in Der Mann mit der Kamera tauchen der Kameramann und seine Kamera immer wieder selbst im Bild auf, und Oshii ist berüchtigt für seine regelmäßige Durchbrechung der vierten Wand). Die verschiedenen Ausprägungen der City Symphony haben zweifellos bei Oshii ihren Niederschlag gefunden, insbesondere Godfrey Reggios apokalyptische Interpretation des Genres in Koyaanisqatsi (1982).

Tizian den ‚massiven‘ Heiligenschein durch indirektes Licht, indem sie die Köpfe ihrer Figuren in die Nähe von Lichtquellen wie Feuerstellen oder Fackeln rückten.

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Oshiis Ästhetik ist eine aufeinander abgestimmte Kombination der oben genannten Vorbilder. Seine Bildkomposition lässt sich am ehesten als visuelle Verschachtelung charakterisieren: Einerseits entsteht durch die Flächigkeit der Gebäudefronten in seinen Stadtlandschaften immer der starke Eindruck einer aufgerichteten Kulisse oder Scheinwelt, was gerade in Ghost in the Shell durch ein Übermaß an Werbeplakaten und -tafeln unterstrichen wird, andererseits sind diese Flächen immer eng an- und ineinander gedrängt. Die Quadrate und Rechtecke der Gebäudefassaden verwandeln sich durch Einsatz einer Zwei- oder Dreipunktperspektive in einander durchstoßende Rauten. Häuserreihen, Brücken und Wolkenkratzer werden in schiefen Winkeln verkeilt und der Blick nur sehr selten für den Himmel oder eine Horizontlinie freigegeben. Neben Oshiis Vorliebe für Reflexionen, Leuchteffekte, Erzeugung von Mustern durch Lichtsetzung4 und die Nachbildung fotografischer und real-filmischer Effekte in zeichnerischen Medien und umgekehrt sind diese Techniken seine deutlichsten Anleihen am amerikanischen Modernismus. Allerdings verstärkt er das Gefühl von visueller Verschachtelung zusätzlich durch die Hinzufügung einer Bewegungsdimension.5 Beginnend mit Patlabor 1 (1989) tauchen in seinen Filmen ausgedehnte Szenen auf, die man als ‚Stadttouren‘ bezeichnen könnte. Es handelt sich hierbei um Entdeckungsreisen der Figuren durch den urbanen Raum, die deutlich den Einfluss des Genres City Symphony widerspiegeln: die Fortbewegung auf öffentlichen Verkehrsmitteln, die Kamerafahrten vorwärts und seitwärts, während derer Impressionen von den alltäglichen Verrichtungen der Einwohner und der undurchschaubar bleibenden Gebäude hintereinander geschnitten werden,

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Am stärksten im Realfilm The Red Spectacles: Hier sind die Stadtaufnahmen immer in eine low key-Beleuchtung getaucht, deren lange Schlagschatten und Lichtflecken ein Muster aus scharfen Kanten bilden. Diese Beleuchtungstechnik erinnert gleichzeitig an den Film noir und den deutschen Expressionismus und dient unter anderem dazu, die Bildkomposition stärker zu strukturieren – eine Art greebling des Filmbildes. Mithilfe der Multiplan-Kamera und optischen Printern („The Making of Ghost in the Shell“: 0:04:36) kreierte Oshii extrem aufwändige, plastische Kamerafahrten und Schärfezooms (die gezielte Fokussierung einzelner Bildebenen; eine weitere Eigenschaft realer Filmkameras, die im Animationsfilm künstlich erzeugt werden muss). Oshii gehörte auch zu den Innovatoren auf dem Gebiet des digital compositing, mit dessen Hilfe beliebig viele Ebenen geschichtet werden können. Als Kontrapunkt zu den damit möglichen komplexen Kamerafahrten dienen in seinen Filmen Autofahrten über Highways und durch Tunnel mit besonderer Aufmerksamkeit für die scheinbar unendlichen Ketten von immer gleichen Lampen und Straßenlaternen und den dabei entstehenden rhythmisch wiederkehrenden Schlaglichtern auf den Fahrgästen. Das von diesen repetitiven Mustern vermittelte Gefühl von Determinismus steht in Verbindung mit einem von Oshiis Lieblingsmotiven, dem Stillstehen der Zeit (siehe 2.3).

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sowie die weitgehende Ersetzung von Dialog und sogar der Umgebungssoundeffekte durch eine rhythmisierende musikalische Untermalung.6 Was Oshii aus der City Symphony nicht übernommen hat, ist ihre Neigung zu schnellen und raffinierten Bildabfolgen. Oshiis langsame Schnitttechnik ist die Antithese zur für Propagandazwecke entwickelten manipulativen Montagetheorie des russischen Formalismus. In dieser Hinsicht lehnt sich Oshii stärker an sein jahrzehntelanges Vorbild Andrei Tarkowski an (vgl. Yomota 78; Tarkowski 132): In seinen ‚Stadttouren‘ treten Handlung und Botschaft grundsätzlich in den Hintergrund, stattdessen wird dem Betrachter eine sehr langsame Abfolge von Einzelbildern präsentiert, die auf den ersten Blick durch nichts als die Tatsache verbunden zu sein scheinen, dass sie ihm durch die Augen des Protagonisten nahe gebracht werden. Durch starke Zeitlupeneffekte und die häufige Abwesenheit von Menschen oder ihre Verbannung in den Hintergrund erstarrt die Umwelt zu Tableaus, zu Stillleben, an denen der Betrachter gemessen vorbei schreitet wie ein Besucher im Museum. 2.2 Die subjektive Kamera Fast jede Aufnahme in Oshiis Filmen ist ein point of view shot. Die Vogelperspektive kommt bei ihm nur vor, wenn ein Charakter in einem Hochhaus, Flugzeug oder Helikopter sitzt, und selbst solche Perspektiven werden selten genutzt, um einen Überblick zu gewinnen, sondern um die Umgebung nur noch stärker in einander überlagernden Blöcken, sich kreuzenden und verschlungenen Linien zu gestalten (z.B. Ghost in the Shell: 0:51:45 – 0:53:09). Die ‚Stadttouren‘ bilden da keine Ausnahme. Oshii stellt diese Touren aber in Opposition zu einem anderen für ihn charakteristischen Szenentypus, in dem das Prinzip des point of view shots auf die Spitze getrieben wird: Szenen in der virtuellen oder erweiterten Realität (augmented reality). Die Piloten der Riesenroboter in den Patlabor-Filmen und die Cyborg-Protagonisten von Ghost in the Shell und Innocence nehmen alle ihre Umgebung nur noch durch Zielfernrohre, Mikroskope, HUDs, Statusanzeigen, Radar- und Überwachungsbildschirme wahr: „form excludes the 6

Vorläufer dieses Szenentyps finden sich schon in seinen früheren Filmen, am deutlichsten in Angel’s Egg (hauptsächlich 0:11:39 – 0:22:51, obwohl fast der ganze Film aus dialoglosen Stadtansichten besteht), inklusive seiner Realfilme The Red Spectacles (1:40:30 – 1:46:51) und insbesondere Stray Dog: Kerberos Panzer Cops (0:27:47 – 0:33:13). Der Übergang zu einer konventionalisierten Ausdrucksform ist auch in Patlabor 1 noch nicht völlig abgeschlossen. Die Abkopplung dieser Szenen vom Rest der Handlung etwa ist bereits in Angel’s Egg und Stray Dog: Kerberos Panzer Cops gegeben, aber zu der charakteristischen Aufnahme- und Schnitttechnik (gleitende Kamerafahrten vorwärts und seitwärts, lange Überblendungen statt harter Schnitte) findet Oshii erst mit Patlabor 2.

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content“ (Postman 7). Was die Figuren mit ihren erweiterten Sinnesorganen aufnehmen, sind Infrarot- und UV-Bilder, vergrößert, gefiltert, verzerrt, kommentiert und zensiert, und da all diese Wahrnehmungen durch point of view shots vermittelt und selten durch master oder establishing shots gebrochen werden, kann sich der Zuschauer ihnen nicht entziehen; er weiß nie mehr als die Figuren. Durch ihre künstlichen Sehwerkzeuge (die im Fall von Ghost in the Shell und Ghost in the Shell 2 – Innocence7 zu Implantaten und damit zum nicht mehr ablegbaren Teil des Körpers geworden sind) blicken die Menschen weiter und erhalten mehr Informationen als je zuvor, werden aber auch anfälliger für Täuschungen. In Patlabor 2 wird dieses Problem am konsequentesten verfolgt. Die Geschichte dreht sich um einen Offizier namens Tsuge, dessen komplette Einheit in einem Auslandseinsatz vernichtet wurde, weil er nicht die Freigabe zum Gegenschlag erhielt.8 Angesichts der Gleichgültigkeit in der Bevölkerung und Politik für dieses militärische Fiasko beginnt Tsuge, Tōkyō mit einer Serie von Terroranschlägen zu überziehen.9 Anders als die gegen ihn ermittelnden Beamten annehmen, besteht sein Ziel nicht in einem Staatsstreich, sondern darin, der Bevölkerung der Stadt, die diese Stellvertreterkriege nur durch mediale Vermittlung kennt, ein Gefühl für echten Krieg zurückzugeben. Dies gelingt ihm, bezeichnenderweise, indem er die Sicherheits- und Massenmedien gegen ihre Besitzer einsetzt. Der von ihm angezettelte Krieg läuft größtenteils virtuell ab: Hackangriffe, gezielte Desinformation, hit and run-Attacken auf Knotenpunkte Tōkyōs und pure Terrorakte suggerieren eine sehr viel größere Bedrohung als eigentlich vorhanden, während Militär, Polizei und Geheimdienst über die richtige Einschätzung der Situation, geeignete Gegenmaßnahmen, Schuld und Verantwortungsbereiche streiten. Seit Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1964) hat man in keinem Film mehr so viele Menschen per Telefon über militärische Angelegenheiten aneinander vorbeireden oder in an Grabgewölbe erinnernden Lagebesprechungsräumen auf überdimensionale Strategiekarten starren sehen. Kubricks Film scheint auch in weiterer Hinsicht Pate gestanden zu haben: die plötzliche Auslösung eines lange schwelenden militärischen Konflikts; der vorgetäuschte Notfall, der ihn in 7 8

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Im Folgenden abgekürzt mit Innocence. Japan darf seit dem Zweiten Weltkrieg offiziell keine Armee mehr unterhalten (Verfassungsartikel 9). Gleichzeitig ist das Land aber von den USA schnell dazu gedrängt worden, sie bei ihren Stellvertreterkriegen (etwa in Korea) zu unterstützen, woraufhin die sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte (jieitai) gegründet wurden. Hier sollte auf Oshiis generelles Interesse an Politik hingewiesen werden: In den späten 1960ern war er, ähnlich wie Miyazaki Hayao, Mitglied in linksgerichteten Studentengruppen. Im Gegensatz zu Miyazaki durchziehen politische Fragen aber Oshiis Gesamtwerk fast durch und durch.

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Gang setzt; der bewaffnete Kampf der Sicherheitsorgane eines Landes gegeneinander, um diesen Notfall abzuwenden; die apokalyptische und gleichzeitig oft absurde Stimmung. Als die Kommunikationsverbindungen zusammenbrechen, ein offener Machtkampf zwischen den Sicherheitseinrichtungen tobt und die Politik schließlich in Tōkyō das Kriegsrecht ausruft, ist Tsuges Ziel erreicht: Mithilfe einer winzigen Streitmacht ist der scheinheilige Frieden der Industriegesellschaft entzaubert. In zahlreichen Szenen beweist Oshiis Antizipation großflächiger Terroranschläge auf Städte sowie des Kriegs gegen den Terror, seine verzerrende mediale Ausschlachtung und die damit einhergehende Erosion der Bürgerrechte seinen Weitblick bei der Extrapolation der Mediengesellschaft. 2.3 Technologie als Panzer und Gefängnis Christopher Bolton erläutert in seinem Aufsatz „The Mecha’s Blind Spot: Patlabor 2 and the Phenomenology of Anime“, aufbauend auf einer These des Soziologen und Medientheoretikers Ueno Toshiya, Oshii habe in diesem Film das Problem des wahrnehmungsverfremdenden technologischen Panzers von den Riesenrobotern und Cyborgs auf die komplette Stadt übertragen (vgl. Bolton 137; Ueno 111). Hier wären es nicht mehr nur die Piloten, die in einem gigantischen Apparat medialer Filterung und Verzerrung gefangen sind, sondern die Bevölkerung Tōkyōs als Ganze. Uenos Assoziation ist sicherlich korrekt, wäre aber eventuell noch treffender, hätte er sie umgekehrt formuliert: Im Patlabor-Universum hat Oshii seinem sonst subtil eingestreuten Motiv der Stadt als wahrnehmungsverzerrenden Panzer in Form der Riesenroboter und ihrer Piloten eine konkrete, allegorische Form gegeben. Denn dieses Motiv war fast all seinen Filmen schon seit Urusei yatsura 2 neun Jahre vorher zu eigen. In diesem Film müssen die Figuren (eine Gruppe Schüler) feststellen, dass alle anderen Menschen verschwunden sind, dass jede Straße zum Ausgangspunkt – der Schule – zurückführt und zu guter Letzt, dass die komplette Stadt gar nicht auf der Erde errichtet ist, sondern auf dem Rücken einer gigantischen steinernen Schildkröte durch den Weltraum schwebt.10 Sie entpuppt sich im Verlauf der Handlung als von einem spitzbübischen Gott erschaffene Traumwelt, deren Grenzen der Protagonist durchbre10

Dieser Schauplatz sowie die Themen der stillstehenden Zeit und der Realitätsmanipulation, die Oshii in The Red Spectacles vier Jahre später noch einmal erforschte, wurden wahrscheinlich von Alex Proyas’ 1999er Film Dark City aus Urusei yatsura 2 übernommen. Auch Groundhog Day (1993) weist hinsichtlich der ständigen Wiederholung ein und desselben Tages und der Frage, wie man die dergestalt ‚gewonnene‘ Zeit denn am sinnvollsten einsetzen könnte, deutliche Parallelen auf. Die bis zum beinahen Stillstand verlangsamte Zeit ist eins von Oshiis wichtigsten Motiven (vgl. auch The Making of Ghost in the Shell 2 – Innocence: 0:11:30).

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chen muss, um wieder in seine Lebensrealität zurückfinden zu können. Ähnlich befindet sich die Protagonistin des in Struktur und Thema stark an David Cronenbergs eXistenZ (1999) erinnernden Avalon (2001) auf einer – im Subtext an die Gralssuche angelehnten – Reise aus den Abgründen eines bereits als Heimat akzeptierten Videospiels. Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Kontrasts zwischen den ‚Stadttouren‘ und den Szenen der virtuellen und erweiterten Realität festzuhalten: erstere funktionieren für den Zuschauer wie Weckrufe aus dem Schlummer, in den letztere ihn wiegen. Ironischerweise sind die Stadttouren aufgrund ihrer langsamen Kamerafahrten, gedehnten Einstellungen, der bedächtigen Musik, des Mangels an Dialog und Handlungsrelevanz oft die ersten Teile, die von Kritikern als überflüssig bemängelt werden. In Wahrheit verbirgt sich hier aber viel vom intellektuellen Nährwert dieser Filme. Die Stadttouren sind ausnahmslos Szenen, in denen die Figuren an einem Punkt in der Handlung angelangt sind, an dem sie die fundamentalen Prinzipien der Welt um sich herum in Frage stellen.11 Es sind Aufzeichnungen der Minuten, in denen sie sich aus dem Alltag herauszulösen vermögen und die Welt, in der sie leben, für eine kurze Weile von außen betrachten, um ihre Beziehung zu ihr neu zu bewerten, ehe sie wieder in den künstlichen Kosmos scheinbar bedeutungsvoller, aber in Wirklichkeit oft irreführender Symbole, Informationen und Kommunikationen zurückkehren müssen. Deshalb die Unterbringung dieser Szenen ausschließlich im mittleren Teil der Filme. Deshalb auch der introspektive Tenor der begleitenden Dialoge (Patlabor 2), sofern überhaupt Text gesprochen wird (in Patlabor 1 erst in einer Pause zur Mitte der Tour, in Ghost in the Shell und Innocence gar nicht). In Patlabor 1 ist die in zwei Szenen gesplittete Stadttour (0:34:07 – 0:36:30 und 0:53:28 – 0:55:02) in die Ermittlungsarbeit zweier Detektive eingebettet, die die Fährte einer dritten Figur zurückverfolgen. Es handelt sich dabei um den (abwesenden) Antagonisten: dieser hat seine Spur absichtlich nicht verwischt, damit die Verfolger seine Reise rekonstruieren und nacherleben können. Wie auf einer archäologischen Expedition bewegen sich die beiden Detektive bildlich in der Zeit zurück, während sie das hochmoderne Stadtzentrum Tōkyōs hinter sich lassen und die Zeugnisse eines nach rein ökonomischen Maßstäben geplanten Wiederaufbaus passieren: die Wiedererrichtung nach der Zerstörung durch das Große Kanto-Erdbeben von 1923, das Wirtschaftswunder nach Verwüstung eines Drittels der Stadt mit Brandbomben durch alliierte Luftangriffe in den letzten zehn Monaten des Pazifikkriegs und die Neuausrichtung der 11

Dies ähnelt jenen Momenten in Philip K. Dicks Werk, in denen kurzfristig die vordergründige Alltagsrealität zusammenbricht und dahinter eine ‚tiefere Wirklichkeit‘ sichtbar wird.

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Stadt- und Verkehrsplanung im Zuge der Olympischen Spiele von 1964.12 Alles einschneidende Veränderungen im Stadtbild Tōkyōs, die aber jeweils das vorhergehende Tōkyō nicht völlig zu ersetzen vermochten, so wenig, wie die massive Kanalisierung des Landes verbergen kann, dass die japanische Hauptstadt aus einem Fischerdorf im Sumpf hervorgegangen ist. Auch ohne zu graben, finden sich Spuren der vorhergehenden Inkarnation dieser Metropolregion schon an der Oberfläche – in Form von Straßen und Kanälen, der Architektur der Häuser und insbesondere in der unsäglichen Armut jener schuttdurchzogenen Gebiete, die die Politik als nicht entwicklungsrelevant betrachtete, oder die als Opfer der Blasenwirtschaft der 1980er Jahre dem Verfall anheim gegeben sind. Als die Detektive am Ende ihrer Reise in einem solchen Viertel das Geburtshaus des Antagonisten aufspüren, erheben sich in der Ferne Hochhäuser wie Monumente des Spotts über den Slum und machen das Motiv des Verbrechers deutlich: der Welt die vergessenen Opfer des Fortschritts wieder ins Gedächtnis zu bringen.13 In Patlabor 2 ist es, wie oben ausgeführt, ebenfalls die Rückkehr einer verdrängten Schuld, die als Antrieb der Handlung fungiert, und so verwundert es nicht, dass auch die Gestaltung der Stadttour davon geprägt ist. Wieder dient ein polizeilicher Ermittler als Führer durch die Szene (0:40:26 – 0:45:11), derweil er im Geist ein Gespräch mit einem Kollegen rekapituliert. Während die beiden im Off über Tsuges Motiv spekulieren, der Bevölkerung die Konsequenzen ihres ungerechten Friedens vor Augen zu führen, wird die Reise des Ermittlers von Bildern der Früchte dieses Friedens unterlegt: einer boomenden (und stellenweise doch schon wieder verfallenden) Industrie, die ihren Aufschwung nicht zuletzt der Belieferung von Stellvertreterkriegen überall in der Welt verdankt. In Ghost in the Shell scheint die Stadttour (0:33:02 – 0:36:20) überhaupt keiner handlungstragenden Funktion mehr zu dienen. Das laufende Geschehen wird einfach unterbrochen, wir sehen die Protagonistin ohne Erläuterung auf einem Passagierboot die Kanäle der fiktiven Stadt Newport City herunterfahren – die aber kaum ein futuristisches Tōkyō sein kann, da alle Schilder und Plakate in Chinesisch gehalten sind. So unvermittelt die Szene in die Handlung eingebrochen ist, so unvermittelt wechselt der Film dorthin zurück. Den Kontext muss der Zuschauer selber herstellen. 12

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Vgl. hierzu auch Yomota 79. Diese historische mehrmalige Vernichtung und Wiedererrichtung der Hauptstadt ist neben der Notwendigkeit der Verarbeitung des Atombombentraumas vielleicht einer der Gründe dafür, dass Tōkyō in futuristischen Comics so oft zerstört wird und dann als Neo Tōkyō wiederaufersteht. Dass die Szene mit Hochhäusern beginnt und immer wieder zu ihnen zurückkehrt, steht auch in Verbindung mit der religiösen Symbolik, die den Film durchzieht: Der Antagonist betrachtet die Stadt und ihre Mega-Bauprojekte als eine Art modernen Turmbau zu Babel, der eine entsprechende moderne Strafe nach sich ziehen müsse.

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In der vorhergehenden Szene hatte die Protagonistin mit einem Arbeitskollegen ihr Dilemma besprochen, als militärischer Cyborg aus einer Anzahl austauschbarer und nicht einmal ihr selbst gehörender Einzelteile zu bestehen und sich nur innerhalb festgelegter Grenzen entwickeln zu können. Die Stadttour führt ihr dieses Problem anschaulicher vor Augen: Sie erblickt ihr Ebenbild als Tee trinkende Zivilistin in einem vorbeiziehenden Café sowie als Schaufensterpuppe in einem Modegeschäft. Die Szene endet mit einem Blick auf ein weiteres Schaufenster, nun mit unbekleideten und nahezu androgynen Puppen, die Austauschbarkeit des künstlichen Körpers herausstellend.14 In Innocence wird die Behandlung der in Ghost in the Shell angeschnittenen Themen vertieft. Der Film dreht sich um die Frage, weswegen Menschen davon besessen sind, Maschinen und Puppen nach ihrem eigenen Ebenbild zu erschaffen. Roboter-Puppen sind hier (neben Tieren und Kindern) die Träger der titelgebenden Unschuld, aber sobald man versucht, ihnen echte menschliche Charakteristika aufzuzwingen – wie gegen Ende des Films entdeckt wird –, verlieren sie diese Unschuld; das verbrecherische Experiment endet in ihrem Amoklauf.15 In ‚unschuldigen‘ Gegenständen menschliche Eigenschaften erwecken zu wollen, wird als Äußerung der menschlichen Eitelkeit interpretiert, was im Film durch ein Zitat des Meiji-zeitlichen Literaten und Literaturkritikers Saitō Ryokuu (18681904) gestützt wird: „Manche Leute blicken in den Spiegel und sehen kein Böses. [Der Spiegel] reflektiert [das Böse] nicht, sondern erschafft es. Daher soll man auf den Spiegel herabblicken und nicht in ihn hineinsehen.“16 Anders als Menschen weisen Puppen dadurch, dass sie nicht evolutionär entstandene, sondern mit Vorsatz geschaffene Wesen sind, eine natürliche Perfektion auf: The problem with the anthropomorphic constructs ideated by humans to perpetuate to infinity their self-image and hence keep temporarily at the bay their aware14

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In einem cleveren Beispiel von Vorausdeutung besitzen diese Schaufensterpuppen zwar die unter 2.1 erwähnten angedeuteten Heiligenscheine, aber keine Arme. Gegen Ende des Films reißt sich die Protagonistin im Gefecht ihre eigenen Arme aus, als sie ihre mechanischen Gelenke überstrapaziert. Hierbei handelt es sich gleichzeitig um eine Weiterführung des Motivs der Rachegeister (onryō) aus der japanischen Folklore in ein Science Fiction-Umfeld. Zu onryō werden hauptsächlich vernachlässigte, misshandelte oder ermordete Frauen, die aus dem Jenseits zurückkehren, um sich durch bis hin zu Mord führende Heimsuchungen für das ihnen zugefügte Unrecht zu rächen – ähnlich wie die Kinder, deren Geist in Innocence in Puppen kopiert wird. Auffällig ist auch, dass in beiden Fällen die Opfer der Racheakte nicht unbedingt die ursprünglich Schuldigen sind, sondern einfach jeder, dessen der onryō bzw. die Roboterpuppe während seines/ihres Amoklaufs habhaft wird. Im Original (Übersetzung d. Verf.): 5 2-$%,. .42 ,&,.4"( +'%-3 )+'&,46 (Innocence: 1:24:12)

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ness of ineluctable finitude and puniness in the face of the crushing vastness of the cosmos at large is that they are designed to be perfect. To this extent, they are bound to disappoint, in their presumed role as satisfying copies of living people, simply insofar as they fail to capture the ultimately most distinctive attribute of not only humanity but also aliveness in general. (Cavallaro 207f.)

Konsequenterweise geht die Stadttour in Innocence (0:49:46 – 0:54:50) durch eine Parade von Menschenpuppen, Tierpuppen und Dämonenpuppen jeder Größenordnung bis hin zu Dutzende Meter hohen Riesenpuppen: Eine Parade, die an visueller Pracht wahrscheinlich alles übertrifft, was vorher weltweit im Animationskino zu sehen war – und doch landen die Figuren allesamt in einem das Fest beschließenden Feuer. Obwohl die Stadttouren in allen vier Filmen den starken metaphorischen Unterton einer Reise in die seelischen Konflikte einer der handelnden Figuren haben, dient die Stadt in den Ghost in the Shell-Filmen als eher passiver Schauplatz, während sie in den Patlabor-Filmen deutlich in den Vordergrund gerückt wird. Die Patlabor-Filme machen ihre Bezüge zum rapiden und teuer erkauften wirtschaftlichen Aufstieg Japans überdeutlich. Ghost in the Shell und Innocence deuten mit ihren Schauplätzen eine zukünftige Verschmelzung der chinesischen Inselkulturen Hongkong und Taiwan mit Japan an.17 Die dort präsentierten Städte sind kosmopolitischer als das Tōkyō der Gegenwart, aber dies hat keine unmittelbare Bedeutung für die Handlung. Die Stadttouren werden hier auch nicht mehr durch Dialogpassagen erläutert. 2.4 Die Stadt als Raum der Erinnerung Dies ist aber auch nicht entscheidend, denn die Rolle der Stadttouren bestand schon in Patlabor 1 nicht darin, den Plot voranzutreiben (die vermittelte Recherchearbeit der Detektive hätte in wenigen Sätzen zusammengefasst werden können). Wichtiger als die Intention des Regisseurs bei der Erschaffung der Bilder sind die Assoziationen, die sie im Publikum wecken. Oshii folgt seinem Vorbild Tarkowski dahingehend, dass ihm Kommunikation durch Bilder wichtiger ist als Kommunikation durch Worte (vgl. Tarkowski 13), und dass Kunst seine Aufgabe weniger in der Vermittlung von Ideen zum Betrachter, sondern als Katalysator der Entwicklung von Ideen im Betrachter habe: Wenn über einen Gegenstand nicht gleich alles gesagt wird, dann besteht die Möglichkeit, selbst noch etwas hinzuzudenken. Denn sonst wird die Schlussfol17

Das visuelle Vorbild für Newport City war Hongkong (vgl. Lamarre 65). Außerdem sind die Werbetafeln in der Stadt in chinesischen Langzeichen geschrieben, die zwar nach wie vor in den Inselstaaten, in Festlandchina jedoch kaum noch benutzt werden.

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gerung dem Zuschauer ohne jede Denkarbeit präsentiert. Da er sie so mühelos serviert bekommt, kann er mit dieser Folgerung gar nichts anfangen. [… Das Leben ist eben] erheblich poetischer organisiert […], als sich das die Anhänger eines absoluten Naturalismus zuweilen vorstellen. (Tarkowski 21-23)

Von daher nimmt Oshii es billigend in Kauf, dass jeder Betrachter der Stadttouren zu seiner eigenen Interpretation dieser Szenen gelangen wird. Die Stadttouren sind präzise darauf ausgelegt, ein möglichst starkes Gefühl von Nostalgie zu erzeugen, ohne der damit oft einhergehenden Idealisierung der Vergangenheit zu erliegen. Nostalgie hat zwar zwangsläufig mit Erinnerungen zu tun, aber diese Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig an bessere Zeiten gemahnen. Im fantastischen Kino wird Nostalgie häufig über eine Reise durch Räume vermittelt, die deutliche Spuren einer verfallenden oder übertünchten Vergangenheit aufweisen – das gilt für die von der Natur zurückeroberte ‚Zone‘ in Tarkowskis Stalker ebenso wie für das retrofuturistische Design von ‚Los Angeles – November, 2019‘ in Blade Runner (1982) oder die von beidem inspirierten Stadttouren bei Oshii. Die Verbindung von Raum mit Erinnerung ist keine neuzeitliche Erfindung. Die dem griechischen Poeten Simonides von Keos (ca. 557 – 468 v. Chr.) zugeschriebene Mnemotechnik des ‚Gedächtnispalasts‘, die von zahlreichen späteren Gelehrten von Aristoteles über Giordano Bruno bis hin zu René Descartes neu- und weiterentwickelt bzw. systematisiert wurde und heute als Loci-Methode bekannt ist, stellt letzten Endes nichts anderes als ein System dar, Erinnerungen gesteuert mit einer festgelegten räumlichen Verteilung von Orten zu verknüpfen und so jederzeit abrufbar zu machen. Entscheidend für das Verständnis von Erinnerung ist, dass sie sich in einer automatisch entstehenden, aber vom Individuum auch gezielt entwickelbaren räumlichen Hierarchie organisiert (Parasuraman und Rizzo 139; auch Carruthers 27-92). Diese räumlich geordneten Erinnerungen können und sollen synästhetischer Art sein: Je mehr unterschiedliche Assoziationen mit einer Erinnerung verbunden sind, desto leichter ist sie wieder abrufbar, denn Ideen sind keine isolierten Objekte in Schubladen, sondern Knotenpunkte in weit verzweigten Netzen. Auch Gefühle spielen eine bedeutende Rolle: Die, die man beim Aufnehmen der Erinnerungen empfindet, verankern sie (als zusätzliche Assoziation) im Gedächtnis; die, die beim Abrufen erzeugt werden, treiben diesen Anker tiefer hinein. Dieser Mechanismus funktioniert natürlich nicht nur beim Erinnern von Gelerntem, sondern auch hinsichtlich selbst geschaffener Erinnerungen. Oshiis Leistung in den Stadttouren besteht darin, gerade durch das Beiseitestellen der Handlung inmitten seiner Filme einen Raum zu eröffnen, der durch Schnitte von Ort zu Ort wie eine Reise durch einen Gedächtnispalast organisiert ist und den der Zuschauer mit seinen eigenen Gedanken zu den der Szene vorausgehenden oder unterlegten kontempla-

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tiven Dialogen füllen kann. Das Gefühl der Nostalgie sowie die weiteren Emotionen, die diese Szenen je nach Zuschauer hervorrufen, helfen dabei, diese Gedanken in seinem Gedächtnis festzuschreiben. Entscheidend ist dabei, dass die präsentierten Bilder detailreich und einzigartig sind, da die Loci-Methode die Unterscheidbarkeit der Erinnerungen gerade an der Unverwechselbarkeit der besuchten Orte festmacht: Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein, wenn wir ausnehmend bemerkenswerte Ähnlichkeiten festlegen; wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen; wenn wir ihnen herausragende Schönheit oder einzigartige Schändlichkeit zuweisen. (Rhetorica, III. xxii; Übers. Nüßlein 177)

Erinnerung ist also auch abhängig von Ästhetik, was vielleicht unser menschliches Interesse an Kunst miterklärt: Ästhetischere Bilder graben sich tiefer ins Gedächtnis ein und helfen beim Prozess des Erinnerns.18 Im Falle Oshiis funktioniert diese Ästhetik durch einen enormen Detailreichtum und Naturalismus seiner Schauplätze, die oft nahezu fotorealistisch gestaltet sind. Die besondere Emotionalität fotorealistischer Abbildungen erklärt Susan Sontag in ihrem Essay „In Platos Höhle“ folgendermaßen: Fotos fördern die Nostalgie. Die Fotografie ist eine elegische Kunst, eine von Untergangsstimmung überschattete Kunst. […] Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit. Kameras begannen die Welt in dem Augenblick abzubilden, als die menschliche Landschaft sich rapide zu verändern begann. Während unzählige Formen biologischen und gesellschaftlichen Lebens in einer kurzen Zeitspanne vernichtet wurden, ermöglichte eine Erfindung die Aufzeichnung dessen, was dahinschwand. […] Wie die toten Angehörigen und Freunde im Familienalbum, deren fotografische Präsenz ein wenig von der Angst und Reue vertreibt, die ihr Hinscheiden ausgelöst hat, verschaffen uns Fotos von abgerissenen Stadtvierteln, von entstellten und unfruchtbar gemachten ländlichen Gegenden eine auf Taschenformat geschrumpfte Beziehung zur Vergangenheit. Ein Foto ist zugleich Pseudo-Präsenz und Zeichen der Abwesenheit. Wie ein gemütliches Kaminfeuer regen Fotografien – namentlich solche von Menschen, fernen Ländern, fremden Städten und längst vergangenen Tagen – zu Träumereien an. (21f.; Hervorhebungen im Original) 18

Es wäre denkbar, dass dies einer der Gründe für den langfristigen Erfolg von Filmen ist, die Handlung, Charaktere und Dialog in den Hintergrund stellen und sich stärker auf die Entwicklung von Themen und Atmosphäre stützen. Die ‚Erinnerungswürdigkeit‘ der einzelnen ‚loci‘ (Sequenzen, Szenen und Einstellungen) wird dort durch extremen Detailreichtum, charakteristische audiovisuelle Gestaltung und synästhetische Effekte erzeugt. Synästhetische Effekte können auch durch Bild und Ton alleine hervorgerufen werden (van Campen 148). Unverwechselbarkeit (in Verbindung mit Rhythmus) war auch für Tarkowski entscheidend für die Wirkung eines Kunstwerks (82).

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Sie führt die Beziehung von Fotografie und Bauwerken in Objekte der Melancholie näher aus: Der Fotograf ist wohl oder übel damit befasst, die Realität zu antiquieren, und jede Fotografie wird sofort zur Antiquität. Das Foto ist ein modernes Gegenstück zu einem typisch romantischen Genre der Baukunst: der künstlichen Ruine, die den historischen Charakter einer Landschaft unterstreichen und der Natur Suggestionskraft verleihen soll – die Suggestion der Vergangenheit. (81)

Man könnte Sontags Gedankengang vielleicht dahingehend ausweiten, dass jede stark naturalistische Aufnahme oder Repräsentation der Wirklichkeit gerade durch den Kontrast mit den ausgefilterten, nicht wiedergegebenen Teilen ein solches Gefühl von Nostalgie erzeugt.19 Darko Suvin verbindet in seiner Poetik der Science Fiction die Romantik der Ruinen mit dem Scheitern der Heilsversprechen der Aufklärung (so wie Oshiis Ruinen das Scheitern der Heilsversprechen des 20. Jahrhunderts anzukündigen scheinen): Mary Shelleys Roman [The Last Man] kanonisiert eine Tradition, die in mehreren Werken skizziert wird, die dem Debakel aller Hoffnungen des 18. Jahrhunderts folgten und oft eine neue Eiszeit postulierten […] indem sie deren topoi verödeter Regionen und gespenstischer Städte eine realistische Glaubwürdigkeit verlieh. Das macht The Last Man zum Vorläufer der Biophysik der Verfremdung in der SF, von Poe und Flammarion bis zur Zeitmaschine und darüber hinaus. (Suvin 180; Hervorhebungen im Original)

Eine neue Eiszeit postuliert Oshii zwar nicht, aber auch belebte Metropolen werden durch Zeitlupen, Lichteffekte, Kameraperspektiven und Schnitt bei ihm effektiv zu Geisterstädten. Die „künstlichen Ruinen“ in Oshiis Stadttouren sind die verfallenden Bauwerke der Gegenwart, die dadurch schon im Moment des Betrachtens zur „Suggestion der Vergangenheit“ werden. Interessanterweise überträgt Oshii diese „Suggestion der Vergangenheit“ sogar auf noch gar nicht fertig gestellte Gebäude, denn genauso groß wie sein Interesse für Ruinen ist sein Interesse für Baustellen, für Gebäude im Entstehen. Dem Betrachter erschließt sich der Unterschied zwischen Ruine und Baustelle nicht auf den ersten Blick; es sind beides zunächst einmal bloße Gebäudefragmente, die gerade dadurch, dass ihnen entscheidende Teile fehlen, besser im visuellen Gedächtnis haften bleiben. Gleichzeitig lässt diese Verwendung von Baustellen als visuelles Motiv anklingen, dass die großen Projekte von heute gleichzeitig schon die Ruinen von morgen sind. 19

Für Tarkowski stand die Erzeugung solcher nostalgischer Effekte im Zentrum seines filmischen Schaffens. Begeistert notiert er das japanische ästhetische Ideal des wabi-sabi, wie es sich etwa in den unmittelbaren, scharfen Beobachtungen der haiku-Dichtung ausdrückt, als „ausgesprochen kinematographisch“ (66) und als Verwendung der „Zeit als eine Art Kunstmaterial“ (65). Was Oshii also in Form von Tarkowskis Ästhetik einer „versiegelten Zeit“ (110) übernimmt, ist seinerseits bereits von japanischer Ästhetik geprägt gewesen.

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Nicht zuletzt wird mit den Stadttouren noch ein weiteres romantisches Motiv in die Sprache des Films übersetzt, das Motiv der Wanderung. In der Romantik diente es der Abgrenzung von der spießbürgerlichen Lebenswelt, der die freie und oft mit unerfüllbaren, träumerischen Sehnsüchten verknüpfte Reise entgegengestellt wurde. Das Bild des einsamen Wanderers betonte seine Isolation und die ihm entgegenschlagende soziale Kälte; gleichzeitig fungierte die Landschaft als Spiegel des Inneren. 3. Animation ohne Bewegung Die emotionale Wirkung der Schauplätze erzeugt Oshii seit den PatlaborFilmen durch immer stärkere Kontrastierung mit dem Figurendesign. Wo die Hintergründe extrem plastisch, detailliert und stellenweise kaum von einem Foto zu unterscheiden sind, da sind die Figuren grundsätzlich viel flächiger und stark vereinfacht gehalten. Abgesehen von der Betonung der Hintergründe verwendet Oshii dieses vereinfachende Figurendesign dazu, Fragen über die Natur des Lebendigen aufzuwerfen: Insbesondere in Ghost in the Shell und Innocence hat die ‚tote Materie‘ in Form von Technologie den menschlichen Körper erobert und größtenteils ersetzt, und dementsprechend inszeniert Oshii diese Gestalten, ähnlich wie Kubrick seine technologieabhängigen Astronauten in 2001 – A Space Odyssey (1968), als eine Art lebender Leichname. Gestik und Mimik sind auf ein Minimum reduziert, die Farben (in einer geschickten Ausnutzung der low key-Beleuchtung des Film noir) desaturiert, so dass die vorzugsweise von unten angestrahlten Gesichter totenbleich erscheinen. Oshii betätigt sich hier als Dekonstrukteur der kami-Idee,20 die die japanische Kulturgeschichte (und damit auch die des Animationsfilms) durchzieht: Während etwa in den Filmen Miyazaki Hayaos die komplette Welt vom Rußfleck bis zum Türknauf so lebendig und anthropomorph sein kann wie die menschlichen Figuren, werden bei Oshii die Figuren zunächst einmal so unbewegt, unbelebt und undurchschaubar dargestellt wie die Hintergründe, vor denen sie stehen und wie die Technologie, die sie umrankt. Tatsächlich verstärken komplexe Kamerafahrten, die durch Verschiebung der Hintergrund- und Vordergrundelemente gegeneinander 20

In Japan nimmt eine synkretistische, nicht systematisch organisierte Verbindung aus Buddhismus und Shintō einen ähnlichen Stellenwert ein, den bei uns das Christentum besitzt: als eine der Triebfedern des kulturellen Gedächtnisses. Zentral für diesen Synkretismus ist die shintōistische Vorstellung, dass die Welt von einer unzählbaren Menge von Geisterwesen (kami) mit eigenen Verantwortungsbereichen ‚beseelt‘ sei. Kami können Teile der Natur darstellen (Bäume, Felsen, Flüsse, Tiere), Menschen, Menschengemachtes oder auch Abstrakta wie z.B. Glück und Schicksal (vgl. Ono 6-8).

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entstehen (und für deren realistische Umsetzung Oshii in seinen späteren Filmen Computer einsetzte) sowie präzise getimte Hintergrunddetails wie Lichter, die in regelmäßigen Abständen durch Gitter fallen, flackernde Bildschirme oder Wettereffekte wie Regen, Nebel und Wind das Gefühl einer zumindest andeutungsweise lebendigen Umgebung, während die Figuren unbewegt bleiben. Es handelt sich um eine Deflationierung des Lebendigen im Animationsfilm und damit um eine Umkehrung dessen, was von den meisten Animatoren (im Westen wie in Japan) als Grundlage des Mediums angesehen wird: Oshii schält erst durch eine Betonung des ‚Nicht-Animierten‘ das wenige ‚Animierte‘ (im doppelten Wortsinne: ‚das Belebte‘) in seinem Universum heraus. Lebendig zu sein ist in Oshiis Welt ein Attribut, das man sich verdienen muss. Indem Oshii alles, selbst die Lebewesen, im Rahmen seiner filmischen Mittel wie tote Materie behandelt, kann er genau untersuchen, worin das ‚Lebendige‘ in den Dingen denn eigentlich besteht – und ähnlich wie bei Philip K. Dick lautet ein entscheidender Teil der Antwort ‚Mitgefühl‘. Die technische Umsetzung geschieht vor allem mittels einer Minimalisierung der Bewegung, bis die Bilder zu nur noch leicht changierenden Momentaufnahmen erstarren,21 die ohne Eile am Betrachter vorbeiziehen, so dass er ihre reichhaltige Gestaltung ungehindert in sich einsaugen kann. Schon als Student war Oshii von Chris Markers Experimentalfilm La jetée (1962; 1995 neu verfilmt von Terry Gilliam als Twelve Monkeys) fasziniert, der seine Geschichte als Abfolge von Schwarzweißfotografien erzählte, weswegen er seinen eigenen Abschlussfilm in einem ähnlichen Stil hielt (vgl. Yomota 78). In den Stadttouren kehrt Oshii zu dieser Erzählweise zurück. Uenos Modell von der Stadt als ‚Medienanzug‘ – obwohl es Oshiis Medien- und Technologiekritik hervorragend zusammenfasst – lässt daher außer Acht, dass die Stadt bei diesem Regisseur schon von Anfang an Teil seines grundlegenden Interesses an der dialektischen Beziehung zwischen Individuum und Umwelt war. Oshiis Figuren sind stets in Stadtlabyrinthen eingesperrt, so wie sie oft in Robotern eingesperrt sind (Patlabor 1 und 2) oder in ihrem eigenen Körper (Ghost in the Shell; Innocence), und alle drei Aspekte sind nur Variationen ein und derselben Frage: Wo hört das Individuum auf und wo fängt die Umwelt an? Es gibt keine endgültige Antwort auf diese Frage und keine Auswege aus Oshiis Stadtlabyrinthen, weil äußere und innere Welt in seinen Filmen untrennbar ineinander greifen 21

Ohne dabei völlig still zu stehen – im Gegenteil, es geht um eine Verringerung der vordergründigen Bewegung bei gleichzeitiger Betonung hintergründigerer Bewegungsdetails: sich drehende Ventilatoren, fallender Schnee, Luftspiegelungen, Vogelschwärme, schillernde Wellen im Meer. Dadurch entsteht eine Art von lebendiger Hintergrundtextur, auch und gerade in den ruhigsten Einstellungen.

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und die Stadt nur deren äußerste Begrenzung markiert. Die Figuren können ihren Platz im Weltgebilde finden, ihm aber nicht entkommen. Selbst die Protagonistin von Ghost in the Shell, die am Ende des Films die Schranken ihres Körpers durchbricht, macht sich in der letzten Einstellung auf den Weg zurück in das leuchtende Straßennetz der Stadt – das hier gleichzeitig als Sinnbild für das Internet wie für die unzähligen Abzweigungen und Chancen eines selbstbestimmten Lebens gelesen werden kann. 4. Narrative Labyrinthe Dass Oshii schon 1985 mit Angel’s Egg einen Vorstoß in die Welt des Absurden wagte, zeigt, dass die Zergliederung von narrativen und ästhetischen Strukturen in seinen späteren Filmen eher eine verfeinerte Rückkehr zu seinen Wurzeln als eine Neuentwicklung ist. In Angel’s Egg reisen ein Ritter und ein Mädchen, welches das titelgebende Engelsei beschützt, durch eine surreale, gotisch anmutende Stadtlandschaft, deren Bewohner die lebendigen Schatten gigantischer Fische in ihren Straßen mit Harpunen zu erjagen versuchen. Angel’s Egg war ein finanzielles Desaster, aber der Film zeigt bereits alle Charakteristika von Oshiis Kino der späten 1990er und frühen 2000er: wenig Handlung, der sparsame Dialog ungeschliffen und anspielungsreich, atemberaubende visuelle Gestaltung, christliche Symbolik, Faszination für Technologie, eine Reise durch den ausufernden und undurchschaubaren urbanen Raum, die Distanzierung von den geisterhaft erscheinenden Bewohnern, Selbstzweifel der Protagonistin und die letztendliche Enthüllung der Stadt als ‚Insel im Ozean‘ (was durch eine Kamerafahrt rück- und aufwärts enthüllt wird – eine Hommage an die letzte Einstellung von Tarkowskis Solaris [1972]). Das Fiasko des ambitionierten und kaum in ein Genre einsortierbaren Angel’s Egg hat Oshii gelehrt, seine Kunst nicht in purer Form auf den Markt zu bringen, zumindest nicht dann, wenn viel Geld auf dem Spiel steht. Bis er sich seine Position als gewinnbringender Regisseur zurückerkämpft hatte, unterwarf er sich wieder populären Genremodellen und brachte seine Gedankenspiele auf subtilere Weise darin unter. Das hinderte ihn aber nicht daran, in der Zwischenzeit mit günstigeren Realfilmproduktionen seine Experimente mit dem Abwegigen weiterzuverfolgen. In The Red Spectacles (1987, einem Ableger der Kerberos-Saga) kehrt der Protagonist Kōichi, ehemaliges Mitglied einer aufgelösten, fanatischen Elite-Polizeitruppe, nach Jahren des Exils in die Heimat zurück. Dort muss er feststellen, dass seine ehemaligen Freunde für die neue Regierung arbeiten. Er wird von Agenten durch die Stadt gejagt, deren Gesichter weiß angemalt sind wie die von Pantomimen oder Clowns; er wird

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gefangengenommen und verhört, aber sein Gefängnis erweist sich genauso als Kulisse wie das Taxi, in dem er durch die Stadt gefahren wird; Personen, mit denen er geredet hat, werden als leblose Puppen enthüllt (sogar der Taxifahrer). Ähnlich dem Protagonisten aus David Lynchs Lost Highway (1997) findet sich Kōichi gewissermaßen in einem Film noir gefangen und gezwungen, den Regeln des Genres zu folgen. Dazu gehören die typischen Accessoires wie Trenchcoat und Sonnenbrille, die er sogar bei Nacht und im Kino trägt (und die auf die Sepiafärbung und low key-Beleuchtung des Filmbilds in den Stadtszenen zurückverweist, im Gegensatz zum Naturalismus der Anfangsszenen), sowie eine gänzlich chiffrenhafte femme fatale, die ihn als Kinofilmbild, als Foto auf Plakaten und letzten Endes sogar als reale Person durch die Stadt verfolgt, ein weibliches Pendant zu Orwells Großem Bruder. Die steife und deklarative Art, in der die Figuren ihren Text vortragen, der nur aus Zitaten, Philosophie und AgentenfilmKlischees zu bestehen scheint, erzeugt absichtlich den Eindruck, dass hier ein vorgefertigtes Drehbuch durchgegangen wird – aber ein Drehbuch, wie es Tom Stoppard hätte schreiben können. Es ist eine Vision von Japan als Polizeistaat, die stark Orwells Extrapolation totalitärer Systeme entspricht, nur noch stärker ins Absurde gewendet. Orwells Alptraum von einer gefälschten Welt, in der die Realität schlichtweg das ist, was die herrschende Macht als Realität definiert, wird bei Oshii manifest durch die ständige Demaskierung der Schauplätze als Teil eines Films, der Akteure als Schauspieler, der Dialoge als Skript: der Polizeistaat ist eine Farce, die sich selbst kaum ernst zu nehmen vermag. Auch die damit verbundene Stagnation des menschlichen Fortschritts vermittelt The Red Spectacles durch eine ewige Wiederkehr der gleichen Schauplätze und Gesprächsthemen: „Die Zeit steht still, nur wir sind es, die sich verändern“,22 fasst es Kōichi in einer telefonischen Unterhaltung mit seiner Nemesis Bunmei Muroto zusammen, dem gleichzeitig an Orwells O’Brien und an Mao Zedong erinnernden Polizeibonzen. Oshii verfügt über ein enzyklopädisches Filmwissen, gerade was europäisches Kino angeht. Zu seinen Vorbildern zählen – neben Tarkowski – Luis Buñuel, Ingmar Bergman, Michelangelo Antonioni und insbesondere Jean-Luc Godard (vgl. Ruh; Yomota 78), von dem er das Interesse an der Dekonstruktion von Genres übernommen hat. The Red Spectacles verweist mit seinem Protagonisten auf der Flucht aus einem Kriminalfilm auf Godards 1965er Noir-Science Fiction Alphaville (1965) (der auch in der Darstellung des Gangstersyndikats in Innocence seine Spuren hinterlassen hat), mit den absurden Folterszenen auf Le petit soldat (1960) und mit seiner stetigen Entlarvung der Kulisse als Kulisse auf Le gai savoir (1968). Eben22

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falls auf Godard zurückzuführen ist die verfremdete Dialoggestaltung in Oshiis Filmen ab Patlabor 2, in der die Figuren in ellenlangen und mit Zitaten aus der internationalen Literatur überladenen Monologen ihre Weltanschauungen kundtun. Aber auch wenn Oshii Genrekonventionen folgt, instrumentalisiert er sie eher, als dass er sich ihnen unterwirft. Es ist kein Zufall, dass der Zuschauer in der Regel durch die Augen eines Ermittlers oder Detektivs auf die Stadttouren mitgenommen wird: deren Suche nach Tätern, Motiven und Beweismaterial dient als dramaturgischer Angelhaken für eine viel grundlegendere Suche, eine Suche nach Antworten auf soziologische, geschichts- und existenzphilosophische sowie ontologische Fragen. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Oshii sich als massenmarktkompatible ‚Tarnung‘ für seine Geschichten den Polizeifilm ausgesucht hat – die genremäßig festgelegten Typen des Polizisten oder Detektivs stehen bei ihm für den ‚geworfenen‘ Menschen an sich. Oshii verhindert eine Versteifung auf eine bestimmte intellektuelle Ausrichtung durch zahlreiche einander auch durchaus widersprechende Querbezüge in seinen Werken, durch die Wiederaufnahme und Re-Evaluierung von Themen aus anderen Perspektiven. Seine verschiedenen Abstecher in ein und dasselbe Universum fallen völlig unterschiedlich aus: Stray Dog: Kerberos Panzer Cops, The Red Spectacles, Jin-roh und Tachigui: The Amazing Lives of the Fast Food Grifters, alles Vertreter seines Kerberos-Universums, teilen nur eine lose abgesteckte Welt und einen Teil des Ensembles miteinander. Stilistisch könnten diese Filme kaum weiter voneinander entfernt sein. Oshii nimmt sich auch gern selber auf die Schippe, etwa wenn er in seiner Kurzfilmserie Minipato (2001) die Figuren seines Patlabor-Universums überstilisiert und mit gigantischen Köpfen auftreten lässt. Innerhalb seiner einzelnen Filme zerfällt die Narrative in den Stadttouren kurzfristig: diese Werke wollen Fragment sein, damit der Zuschauer sie unbegrenzt vervollständigen kann. Stilbrüche und mangelnde Kontinuität zwischen den Arbeiten, selbst wenn sie im gleichen Universum spielen, forciert er sogar. Ein an Querbezügen reiches, aber letzten Endes zum Anecken und Infragestellen einladendes Gesamtwerk ist es, was ihn neben seinem Spiel mit den Konventionen der Kriminal- und Detektivgeschichte mit Autoren wie Jorge Luis Borges, G. K. Chesterton und Philip K. Dick verbindet, die alle geschickt Detektivgeschichten mit komplexen Gedankenexperimenten und Reflexionen über die Natur der Welt verschmolzen haben.

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5. Ausblick Die Stadt bei Oshii ist auf allen Ebenen labyrinthisch: architektonisch, bildkompositorisch, akustisch und erzähltechnisch. Seine Touren durch diese Städte sind eine brillante Methode, Reisen durch den Raum mit Reisen durch Zeit und Erinnerung zu verbinden. Die vorher und hinterher den Blick des Zuschauers kanalisierenden narrativen Strukturen werden dort gelockert, um einem möglichst breiten und frei wandernden stream of consciousness den Weg zu bereiten, wodurch sie (im wahrsten Sinne des Wortes) zu den denkwürdigsten Momenten seiner Filme werden. Daneben stechen Oshiis Arbeiten besonders durch ihre Fähigkeit hervor, Querverbindungen, Parallelen und Paradoxien unterschiedlichster Subtexte aufzuzeigen, darunter des Fortschritts ins Informationszeitalter, der Dichotomien Mensch/Tier und belebt/unbelebt sowie von Fragen der Psychologie, Wirtschaft und Politik. Oshii erliegt nicht der Versuchung, einzelne Diskurse zu isolieren, sondern ordnet die Themen seiner Geschichten immer in einen sehr umfangreichen größeren Kontext ein. Die Bereitschaft, mit der Oshii Genregrenzen dehnt, seine Geringschätzung traditionellen, dramatischen Geschichtenerzählens (vgl. Ruh) und seine Vorliebe für Zitate, Identitätskonstruktionen und ontologische Fragen haben dazu geführt, dass ihn oft die poststrukturalistische Philosophie und ihre diversen Ausprägungen für sich beanspruchten, insbesondere Gender Theory, Postkolonialismus und Posthumanismus. So sehr sich Oshiis Texte auch als Corpus für diese Disziplinen eignen,23 so lassen viele ihrer Ansätze außer Acht, mit welch großer Lust auch an der Befolgung von Konventionen Oshii seine filmischen Experimente durchführt. Trotz unkonventioneller Dramaturgie mit Verzicht auf Schockmomente funktionieren die Patlabor- und Ghost in the Shell-Filme auch als Thriller und Actionkino, und selbst seine absurderen Werke wie The Red Spectacles sind noch unschwer als Satire erkennbar. Oshii scheint davon auszugehen, dass man im Fall der Genrefrage den Kuchen gleichzeitig aufsparen und essen kann. In Innocence trägt ein Charakter den Namen der Zoologin und Philosophin Donna Haraway, Autorin des richtungsweisenden feministischen „Cyborg Manifesto“ (1985), und Oshii hat erklärt, dass er ihre Schriften für „sehr interessant“ hält (vgl. Ruh). Ihr Auftritt in diesem Film ist Teil einer Kette von gehaltvollen literarischen Zitaten, die sich von Buddha und Konfuzius über Descartes und die Brüder Grimm bis zu Max Weber 23

Beispielsweise hat Susan Napier Oshii erfolgreich in ihr gendertheoretisches Modell des japanischen Animationsfilm eingebaut (111f.; 229f.) während Sharalyn Orbaugh sich in einem umfangreichen Abschnitt ihres exzellenten Artikels „Frankenstein and the Cyborg Metropolis“ mit der Verschiebung der Grenze zwischen Individuum und Umgebung bei Oshii beschäftigt und sie posthumanistisch deutet (92-103).

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erstreckt: Oshii nimmt das postmoderne Label, das man ihm aufgeklebt hat, und reiht es ein in die lange Liste seiner Inspirationen – nicht mehr und nicht weniger wertvoll als frühere Denker. Für einen Künstler, der mit jedem einzelnen seiner Werke deutlich macht, wie sehr ihm daran gelegen ist, ‚outside the box‘ zu denken, ist es ironisch, wie viele Leute ihn in ihre private ‚box‘ packen möchten. Es wäre ein Gewinn, Oshiis Arbeit hierzulande intensiver zu untersuchen. Sein Œuvre ist vielfältig, aussagekräftig und relevant, trotzdem nimmt die deutschsprachige Fachliteratur ihn bisher eher in Form einer Fußnote als ‚den Mann, der Matrix inspiriert hat‘ zur Kenntnis. Aber wenn Oshii für uns eine didaktische Botschaft bereithält, dann besteht sie darin, die Dinge nicht aus der Ferne und medial vermittelt zu beobachten, sondern in direkten Kontakt mit ihnen zu kommen. Wenn Oshii uns in seinen Filmen etwas abfordert, dann ist es die Schärfung der Sinne. Literaturverzeichnis Benke, Britta. O’Keeffe. Köln: Taschen, 1994. Bolton, Christopher. „The Mecha’s Blind Spot: Patlabor 2 and the Phenomenology of Anime“. Robot Ghosts and Wired Dreams: Japanese Science Fiction From Origins to Anime. Hg. Christopher Bolton. Minneapolis: U of Minnesota P, 2007. 123-47. Carruthers, Mary. The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge: Cambridge UP, 1990. Cavallaro, Dani. The Cinema of Mamoru Oshii: Fantasy, Technology, and Politics. Jefferson: McFarland, 2006. Haraway, Donna. „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century“. Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature. New York: Routledge, 1991. 149-81. Lamarre, Thomas. The Anime Machine: A Media Theory of Animation. Minneapolis: U of Minnesota P, 2009. Napier, Susan Jolliffe. Anime from Akira to Howl’s Moving Castle: Experiencing Contemporary Japanese Animation. New York: Palgrave Macmillan, 2005. Nüßlein, Theodor, Hg. und Übers. Rhetorica ad Herennium. München: Artemis & Winkler, 1994. Ono Sokyo. Shinto: The Kami Way. Tōkyō: Tuttle, 1962. Orbaugh, Sharalyn. „Frankenstein and the Cyborg Metropolis: The Evolution of Body and City in Science Fiction Narratives“. Cinema Anime: Critical Engagements with Japanese Animation. Hg. Steven T. Brown. New York: Palgrave Macmillan, 2006. 81-111.

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Patlabor 1 (Kidō keisatsu patoreibā: Gekijō-ban). Reg. Oshii Mamoru. 1989. Bandai, 2008. BluRay. Patlabor 2 – The Movie (Kidō keisatsu patoreibā 2: The Movie). Reg. Oshii Mamoru. 1993. Bandai, 2008. BluRay. The Red Spectacles (Jigoku no banken: akai megane). Reg. Oshii Mamoru. 1987. Bandai, 2010. DVD. Stray Dog: Kerberos Panzer Cops (Jigoku no banken: keruberosu). Reg. Oshii Mamoru. 1991. Bandai, 2010. DVD. Tachigui: The Amazing Lives of the Fast Food Grifters (Tachiguishi retsuden). Reg. Oshii Mamoru. 2006. Bandai, 2006. DVD. Urusei Yatsura 2: Beautiful Dreamer (Urusei yatsura 2: Byūtifuru dorimā). Reg. Oshii Mamoru. 1984. Tōhō, 2002. DVD.

Marvel-lous Masked Men Doppelidentitäten in Superheldenfilmen1 ALETA-AMIRÉE VON HOLZEN Marvel-lous Masked Men. Double Identities in Super Hero Films This article focuses on recent film adaptations of Marvel comics’ superheroes SpiderMan (2002, 2004, 2007), Daredevil (2003) and Iron Man (2008). By wearing a mask while acting as heroes in the public, these characters establish a double identity and thereby embody the figure of the ‘masked hero’, which is considered a narrative prototype. In a first part, the role of the superpowers as precondition for the heroism of the characters is illuminated, in relation to their classic comic versions. The double identity (which is not purely a superhero trait) is considered to be a vital part of the hero figuration leading up to typical plot elements in the narrative. How these unfold around matters of masquerade is explored in this article. Powers and mask provide their bearer with the means of an identity enhancement. Thus, this paper will further argue that this mask-based double identity not only dwells in questions of identity but mirrors modern identity concepts. As portrayed in these movies, the three superheroes combine in their identity a constant change (switching from heroic to ‘secret’ identity) as well as steadiness, since the double-identity, no matter how seriously questioned in the story, eventually remains as first established.

Seit Stan Lee 1962, 1963 und 1964 Spider-Man, Iron Man und Daredevil ersonnen hat, haben die drei Superhelden unzählige Abenteuer in gezeichneter Form bestanden, hauptsächlich in Comic-Heften, aber auch in Trickfilmserien.2 Doch während ihre Konkurrenten aus dem Comic-Universum von DC, allen voran Superman und Batman, den Sprung auf die Kinoleinwand schon im 20. Jahrhundert geschafft haben, schien für die Marvel-Superhelden ein Durchbruch im Kino-Realspielfilm aus verschiedenen 1

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Für den englischen Teil des Titels danke ich Petra Schrackmann. Dieser Beitrag steht in Zusammenhang mit dem Dissertationsprojekt der Verfasserin, das sich jedoch nicht auf Filme fokussieren wird. Das Dissertationsprojekt wird für zwei Jahre als Teil des Projekts „Übergänge und Entgrenzungen. Welt, Wissen und Identität in fantastischer (Kinder- und Jugend-)Literatur und ihren Verfilmungen“ unterstützt durch den SNF (Schweizerischer Nationalfonds). 1978-79 gab es zudem eine 15-teilige Live-Action-Fernsehserie mit Spider-Man (Booker 110).

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Gründen lange eher unwahrscheinlich (vgl. Booker). Erst nachdem der Erfolg des Films X-Men im Jahr 2000 das Vertrauen in die Möglichkeiten der fotorealistischen Computeranimation gestärkt und den Weg beim Publikum gebahnt hatte, gelangten die drei berühmtesten maskierten Einzelgänger aus dem Hause Marvel zu ihren ersten Umsetzungen auf der großen Leinwand. Die Titel der Kino-Adaptionen sind dabei ebenso zweckmäßig wie simpel: Spider-Man (2002), Spider-Man 2 (2004), Spider-Man 3 (2007)3, Daredevil (2003) sowie Iron Man (2008) und Iron Man 2 (2010). Den ersten fünf dieser sechs Filme widmet sich dieser Beitrag, wobei das Hauptaugenmerk Spider-Man und Daredevil gilt. Im Mittelpunkt steht dabei die Doppelidentität des maskierten Superhelden, die besondere ‚Identitätsform‘ der Protagonisten, deren Thematisierung in diesen Filmen unter die Lupe genommen wird. Sie wird darüber hinaus in Bezug zu (post-)modernen Identitätskonzeptionen gesetzt. Da es sich bei diesen Filmen um Adaptionen handelt, wird immer wieder auf die klassischen4 Comicversionen dieser Charaktere verwiesen, ein Vergleich zwischen Comics und Film ist jedoch nicht das hauptsächliche Ziel dieses Beitrags. Analog zu den klassischen Comics beginnen die Geschichten von Spider-Man, Iron Man und Daredevil auch bei ihrer Neuauflage im Film mit der sogenannten Origin Story, die erklärt, wie aus dem Protagonisten ein Superheld wird. Das Geschehen wurde dabei konsequenterweise in die Gegenwart versetzt, da Superheldencomics im Allgemeinen in der jeweiligen Gegenwart ihrer Entstehungszeit situiert sind. Jede der in diesen filmischen Adaptionen erzählten Origin Storys lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nach dem Erhalt oder der Erlangung bzw. Erschaffung übernatürlicher Kräfte macht der Protagonist eine Verlusterfahrung, wenn eine väterliche Figur gewaltsam stirbt. Das dabei erlittene Ohnmachtsgefühl veranlasst ihn dazu, seine Superfähigkeiten für die Allgemeinheit einzusetzen, besonders aber gegen Superschurken, die bei Superhelden selten lange auf sich warten lassen. Die Superschurken verfügen in der Regel ähnlich wie die Helden über eine Origin Story, und es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass sie häufig eine ins Negative gewendete Spiegelung des Helden, einen bösen Zwilling oder, wie Tyree formuliert, „an identical – but evil – version of himself“ (28), darstellen (sollen). Obwohl sich diesbe3

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Ein geplanter vierter Teil der Spider-Man-Reihe wurde inzwischen zu einem sogenannten ‚Reboot‘, also einer eigenständigen, nicht mit der bisherigen Trilogie verknüpften Umsetzung, umgeschrieben; dieser Film soll 2012 in die Kinos kommen (vgl. dazu , letzter Abruf 12. 01. 2012). Als solche verstanden werden hier insbesondere die ersten Jahrgänge jener Comic-Hefte, in denen die drei Charaktere namengebend oder fester Bestandteil waren (das sind Amazing Spider-Man, Daredevil und Tales of Suspense des Marvel-Verlags), spätere Neuerzählungen und Sonderreihen wurden hier nicht berücksichtigt.

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züglich von einer Doppelung des Helden (und einem ‚maskierten Schurken‘) sprechen ließe, beschränkt sich dieser Beitrag auf die den Heldenfiguren eigenen Doppelidentitäten. Spider-Man, Iron Man und Daredevil sind nicht nur Superhelden – ihre Gestalten entsprechen auch dem maskierten Helden.5 Diesen verstehe ich als Figurentypus, der das Grundmodell für diverse populäre Heldengestalten darstellt und der nicht notwendigerweise in fantastischen Genres auftreten muss (wohl prominentestes nicht-fantastisches Beispiel ist Johnston McCulleys Zorro). Helden und Heldinnen6 nach diesem Modell erschaffen sich mit Hilfe einer Maske, und oft eines Kostüms, eine zweite Identität7, in der sie ihre Heldentaten vollbringen, während sie ihre heldischen Fähigkeiten in ihrem sozialen Umfeld verbergen und so gleichwohl ihre zivile Identität (im Superhelden-Fanjargon als Secret Identity bekannt) aufrechterhalten. Die Superhelden stellen weitaus die zahlreichsten Manifestationen des maskierten Helden. Bei ihnen wird die Doppelidentität mit Superkräften8 kombiniert. Im Folgenden wird zunächst geklärt, welche Rolle die fantastischen Elemente für die Doppelidentität des Helden – auch im Vergleich zu den Comics – spielen. 1. Fantastische Fähigkeiten als Voraussetzung für das Heldendasein Für Superhelden sind ihre fantastischen Fähigkeiten die Voraussetzung, um als Held agieren zu können; diese sind denn auch ein Definitionskriterium des Superhelden (Coogan 30-61). Der Erhalt der Kräfte durch den schicksalhaften Spinnenbiss (Peter Parker/Spider-Man), den Unfall mit einem Chemielaster (Matt Murdock/Daredevil) oder die Fertigung einer Superrüstung (Tony Stark/Iron Man) bedeutet für die Protagonisten den Einbruch des Fantastischen in ihr bis anhin nicht-fantastisches Dasein. Sowohl für die Protagonisten als auch für die Rezipierenden manifestiert sich in den Superkräften das Fantastische als Novum bzw. mehrere Nova – wunderbare Elemente, die in der Realität des Publikums nicht existieren, 5 6 7 8

Superhelden sind nicht gleichbedeutend mit maskierten Helden; es gibt durchaus Superhelden wie die Fantastic Four und viele der X-Men, die keine Maske und keine Doppelidentität haben. Im Folgenden wird nur die männliche Bezeichnung verwendet; selbstverständlich bezieht sich der Begriff des maskierten Helden ebenso auf weibliche Figuren, die diese Eigenschaften aufweisen, die aber leider stark in der Unterzahl sind. Die Begriffe Identität, Ich und Selbst werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Als Superhelden gelten auch Figuren wie Batman, die keine körperliche Superkraft haben, sondern sich mit fantastischen Gadgets, also technischen Mitteln (z. B. Batcar, Batarang), behelfen (Coogan 41). Dazu zählt auch Tony Stark alias Iron Man mit seiner transhumanistisch anmutenden Superrüstung.

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also realitätsinkompatibel sind (Spiegel 42f.; unter Berufung auf Darko Suvin). Für den „fiktional-ästhetischen Modus“ (ebd. 39) der Science Fiction, zu dem Superheldengeschichten gemeinhin gezählt werden, ist charakteristisch, dass stets „eine prinzipielle Vereinbarkeit ihrer Nova mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft“ (ebd. 48) suggeriert wird. Dies zeigt sich auch in den hier betrachteten Filmen: So wird Peter Parker im Film, anders als bei seinem ersten Auftritt im Comic, nicht von einer radioaktiven, sondern von einer genmanipulierten Spinne gebissen – obwohl der Film neben den futuristischen Gleitern des Green Goblin, des Antagonisten, eine von einer unspezifizierten, idealisierten Nostalgie geprägte ‚Alltagswelt‘ präsentiert, in welcher etwa Handys nicht zu existieren scheinen (vgl. Koh 736-39). Ebenso beruht Tony Starks geniale Rüstung, die sein Überleben nach einer unheilbaren Verwundung sichert, auf Reaktoren- statt Generatorentechnik. Da die Filme ihre Nova stark auf Superkräfte zentrieren, lässt sich behaupten, dass das Fantastische hier stark figurgebunden ist. Alle auf menschlichen Erfindungen beruhenden Nova führen in den Filmen zur fantastischen Veränderung eines Menschen oder unterstützen diese zumindest. Sogar der außerirdische Symbiont in SpiderMan 3 entfaltet seine Wirkung erst auf einem menschlichen Träger. Stellenweise bieten die Filme kleine, aber nicht unbedeutende Verschiebungen in der Ausgestaltung der Fähigkeiten. So wird Peter Parker zwar als Wissenschaftsgenie beschrieben, aber nie als solches ‚bei der Arbeit‘ gezeigt. Insbesondere ist Spider-Mans Netzflüssigkeit nicht das geniale Produkt seines Erfindergeistes, sondern eine der Wirkungen, die der Spinnenbiss auf seinen Körper hatte. Im Film Daredevil bleiben die Superkräfte des Helden das einzige Novum: Zum einen fehlt der Wissenschaftsnimbus, der Spider-Man und Iron Man umgibt, zum andern gibt es keine Antagonistenfiguren, die durch fantastische Elemente erklärte Superkräfte besitzen.9 Der Erhalt ihrer Kräfte bedeutet für Tony Stark, Peter Parker und Matt Murdock eine Erweiterung der Welt. Mit seinen Fähigkeiten kann sich der Held in der urbanen Situierung besondere Räume erschließen. Für Iron Man mit seinen Flugstabilisatoren ist es der freie Himmel, für Spider-Man und Daredevil sind es die Dächer New Yorks und die Häuserschluchten zwischen den Wolkenkratzern. Hier eröffnet sich ein dem Helden eigener Aktionsraum: Wo der Aufenthalt für Normalsterbliche 9

Der Kingpin als Drahtzieher und der Auftragskiller Bullseye als dessen Mittelsmann sind in Daredevil zwar überhöhte Gestalten, insbesondere die Agilität und Zielsicherheit Bullseyes bleiben aber unerklärt. (In den Comics zählt Bullseye ebenfalls zu jenen Figuren, die keine ‚eigentlichen‘ Superkräfte haben, sondern ihre Talente durch Training zu übermenschlichen Ausmaßen geformt haben.) Elektras Kampfkraft wird explizit mit jahrelangem Training begründet. Allerdings werden auch Matt Murdocks Kräfte etwas zurückgenommen: Im Film ist er auf Blindenschrift angewiesen, derweil er in den Comics mit seinen hochsensitiven Fingerspitzen die Druckerschwärze auf dem Papier erfühlen kann.

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ohne Hilfsmittel tödliche Folgen hätte, kann der Held seine ganze Agilität unter Beweis stellen. Peaslee betont die Bedeutung der Großstadt als Schauplatz der Geschichte und ihre sozialen Implikationen für Spider-Man 1, seine Ausführungen können jedoch auch für die Spider-Man-Sequels, Daredevil und teilweise Iron Man Gültigkeit beanspruchen: the setting […] is one of extreme urbanity. [… T]he geography of skyscrapers, subways, sewers, and compartmentalizing spaces play a constitutive role in not only the mood but also the action of the story. […] Only when he [Peter Parker] is Spider Man [sic], is he capable of transcending the maze of urban structure, as he leaps from building to building with the aid of his webs. (39)

Ihre spezielle Fortbewegungsart ist für Spider-Man und Daredevil fester Bestandteil ihrer Ikonographie geworden; im mühelosen Schwingen zwischen den Hochhäusern wird die Freude des Helden am Heldsein, an seinen Fähigkeiten, sichtbar. Matt Murdock/Daredevil, dessen Chemielaster-Unfall im Ausgleich zu Blindheit zu überscharfen restlichen Sinnen führte, formuliert dies explizit: „An acute sense of touch gave me both strength and balance until the city itself became my playground“ (00:12:20; meine Hervorhebung). Wie stark die Fähigkeit, durch Körperbeherrschung ungewohnte Räume durchqueren zu können, mit der Vorstellung des Superhelden verbunden ist, zeigt die komische Szene in Spider-Man 2, in der Spider-Man plötzlich seine Kräfte verliert und den Lift nehmen muss: Sein Mitfahrer hält ihn für irgendwen in einem Spider-Man-Kostüm, kommt aber nicht auf die Idee, dass das Original vor ihm steht. Freilich werden solche Räume meist schon bald auch von Superschurken beansprucht, etwa dem Green Goblin auf seinem Gleiter (Spider-Man 1) oder Doctor Octopus mit seinen überdimensionalen Metallarmen (Spider-Man 2). Durch die Superkräfte wird der im Spektrum der Stadt sonst eng begrenzte Freiraum für den Helden nahezu maximiert. Im Vergleich mit den Comics wirkt die räumliche Erweiterung in den hier besprochenen Filmen allerdings ziemlich eingeschränkt. Für Iron Man und seine flugfähige Rüstung wäre theoretisch der gesamte Globus ein potentielles Aktionsfeld – der Showdown mit dem Iron Monger findet jedoch vor seiner Haustür statt. In den Comics regelmäßig erscheinende Elemente wie versunkene Welten, abgelegene Kleinreiche mit seltsamer Bevölkerung oder Eroberer aus dem Weltall übernehmen die Adaptionen sehr zögerlich. Erst in Spider-Man 3 gibt es mit dem außerirdischen Symbionten einen fantastischen Gegner, der nicht von der Erde stammt. Dies ist wohl im Anspruch der Filme begründet, die fantastischen Elemente so real wie möglich wirken zu lassen und die dargestellte Welt so nah wie möglich an jener des Kinopublikums zu orientieren (vgl. Booker 111).

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2. Identitätserweiterung mittels Maske Diesen entgrenzten Raum nutzen die hier betrachteten drei Superhelden gewöhnlich jedoch nur mit einer besonderen Bedingung: Zwar sind seine fantastischen Fähigkeiten die Voraussetzung für das Heldentum des jeweiligen Protagonisten, dieser erlegt sich jedoch auf, seine Kräfte in der Öffentlichkeit nur dann aktiv einzusetzen, wenn er maskiert ist, d. h. wenn seine zivile Existenz aufgrund seiner äußeren Erscheinung nicht identifizierbar ist. Das Fantastische bedeutet daher nicht nur eine Erweiterung der Welt, sondern auch eine Erweiterung der Identität, die jedoch nur durch das Tragen einer Maske öffentlich sichtbar wird, der Maske, die seine Doppelidentität ermöglicht und zu seinem Markenzeichen wird. Auffallenderweise vermeiden es die Filme – anders als die klassischen Comics –, einen konkreten Grund für die Maskierung zu nennen; die Maskierung und damit die Doppelidentität wird so als gegebener Bestandteil des Heldenlebens präsentiert, was hauptsächlich damit zusammenhängen dürfte, dass das ‚Schema Superheld‘ als bekannt vorausgesetzt wird.10 Allerdings hebt ein farbintensives Kostüm bzw. eine Rüstung deutlich von der Allgemeinheit ab, derweil die Superkräfte in der zivilen Identität problemlos verborgen werden können. Alle drei Superhelden erwähnen in den Filmen mindestens einmal mehr oder weniger explizit, dass der Grund, weshalb sie sich zum Heldenleben berufen bzw. verpflichtet fühlen, schlicht darin liegt, weil sie dazu in der Lage sind. Wenn Matt Murdock auf die Frage, warum gerade er derjenige ist, der ‚etwas unternehmen‘ muss, knapp antwortet: „Because I can. Because I’m not afraid“ (Daredevil 00:30:23), bezieht er sich in erster Linie klar auf sein übermenschliches Können, doch stellt sich die Frage, ob dieses ‚Können‘ nicht auch von seiner Maske – und damit der Doppelidentität – abhängt. Bei Iron Man wird die Maske als Visier der Rüstung sogar selbst zum fantastischen Element. Die Filmversion von Iron Man, ein gekonntes Spiel mit den Genrekonventionen, ist jedoch ein Spezialfall, da der Film die typische Doppelidentität – die in den Comics allen drei Helden gemeinsam ist –, verwirft.11 Ein mögliches Doppelleben wird zwar angesprochen, aber konsequent sabotiert, wenn Tony Stark schon beim ersten richtigen Ausflug als Iron Man erst seinen besten Freund Rhodey einweihen muss, um 10 11

Ein Indiz hierfür ist eine Anspielung auf den ersten aller Superhelden, wenn Tante May Peter fürsorglich ermahnt: „You do too much. […] You’re not Superman, you know“ (Spider-Man 01:33:45). Fingeroth (59f.) weist darauf hin, dass die Secret Identity in den Comics im Lauf der Jahre immer mehr an Bedeutung verloren habe, aber in den Verfilmungen als wichtiges Thema vorhanden sei.

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nicht von dessen Kampfflugzeugen abgeschossen zu werden, und bei der Rückkehr dann von seiner Sekretärin Pepper Potts ertappt wird. Als Tony Stark die Doppelidentität am Schluss des Films tatsächlich etablieren soll, gesteht er vor versammelter Presse: „I am Iron Man“ (Iron Man 01:52:20).12 Ein entsprechendes Bekenntnis ist auch der Schlusssatz in Spider-Man, und ein vergleichbares Statement macht Matt Murdock in Daredevil („This is who I am“; 01:17:30), bevor er sich noch einmal aufrappelt, um sich dem auf ihn angesetzten Killer Bullseye zu stellen. Diese Deklarationen deuten eine Tendenz an, die den Geschichten um maskierte Helden inhärent ist: Die besondere Konzeption der Heldenfigur fordert die Thematisierung von Identität heraus und bietet die Möglichkeit einer narrativen Problematisierung. Die Doppelidentität des maskierten Helden, die äußerliche Trennung in zwei Identitäten, die nur alternierend auftreten können, gewinnt ihren erzählerischen Reiz insbesondere dadurch, dass das zivile und das HeldenIch in Kontrast stehen: Der maskierte Held spielt in seiner zivilen Identität den Unscheinbaren oder Helden-Untauglichen, im Fall von Daredevil sogar den Behinderten.13 Die Kontrastierung der beiden Helden-Ichs geschieht in den Geschichten unter anderem durch die unterschiedliche Bewertung, die das Umfeld des Protagonisten seinen beiden Ichs zukommen lässt, was sowohl komische als auch tragische Effekte haben kann. Eine dramatisch zugespitzte Repräsentation dieses Kontrasts verkörpert in der Regel eine Frauenfigur als love interest des Helden. Dies ist auch in den Filmhandlungen der Fall: Spider-Man 1 referiert die ‚romantische‘ Variante, wenn Mary Jane für Spider-Man schwärmt, aber Peter als Partner nicht bzw. noch nicht in Betracht zieht. Daredevil präsentiert indes eine Variante der extremen Polarisation: Elektra verliebt sich in Matt Murdock, dessen heldisches Alter Ego Daredevil dagegen soll von ihrer Hand sterben, da sie den gewaltsamen Tod ihres Vaters an dessen vermeintlichem Mörder rächen will. Doch nicht nur Frauenfiguren können die Gegensätzlichkeit der beiden äußerlichen Helden-Ichs herausstreichen, meist gibt es mehrere Figuren, die diesem Zweck dienen: In der Spider-Man-Trilogie möchte Peters bester Freund Harry Osborne Spider-Man tot sehen, da er ihn ebenfalls für den Tod seines Vaters Norman, der als Superbösewicht Green Goblin sein Unwesen getrieben hatte, verantwortlich macht. Zeitungsverleger J. Jonah Jameson sorgt für (eher komische) Kontraste, wenn er eine mediale 12 13

Die Aufhebung der Doppelidentität erklärt den Ausschluss von Iron Man 2 (2010, Regie: Jon Favreau) aus dem Korpus dieses Beitrags, und aus diesem Grund beziehen sich die folgenden Ausführungen nur noch sporadisch auf Iron Man. Der blinde Matt Murdock hat zwar eine Behinderung, doch kann er diese derart kompensieren, dass er wie ein Nichtbehinderter auftreten könnte – dennoch verschweigt er seinem Umfeld seine kompensatorischen Fähigkeiten weitgehend.

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Hetzkampagne gegen Spider-Man veranstaltet, ohne zu wissen, dass dieser ihm als Pressefotograf Peter Parker selbst die Fotos dazu liefert. Die mittels der Maske für den Blick von außen scheinbar getrennten Identitäten des Helden sind für diesen selbst und die Rezipierenden, die ja in das Geheimnis der Doppelidentität eingeweiht sind, durch ein Netz von Bezügen verbunden. In den hier betrachteten Filmen stoßen die Heldenfiguren auffallend oft mit ihrer zivilen Identität auf ihre nächste Aufgabe: Iron Man hat von Anfang an vor allem den Zweck, die Verfehlungen Tony Starks als Waffenproduzent zu korrigieren, Matt Murdock verfolgt als Daredevil nachts jene Unholde, die er tagsüber als Anwalt ungestraft davonkommen sah.14 Peter Parker ist praktischerweise meist als Fotograf vor Ort, wenn ein neuer Superschurken-Charakter seinen ersten Angriff auf die Stadt und ihre Bewohner startet. Auch in eher unspektakuläreren Situationen nimmt Peter gelegentlich sein Helden-Ich zu Hilfe, beispielsweise zu Beginn von Spider-Man 2: Zur Erfüllung seines Pizzakurier-Jobs verwandelt er sich in Spider-Man, weil er aber unterwegs Kinder retten muss, kommt er trotzdem zu spät an seine Zieldestination und verliert so auch diesen Job. Das heldische Alter Ego kann hier das Problem nicht lösen. Typischerweise werden Bedrohungen, die den Einsatz des Helden erfordern, ausgerechnet dann akut, wenn es für das soziale Leben des zivilen Ichs äußerst ungünstig ist, z. B. bei einem wichtigen Gespräch mit der Geliebten. 3. Vom ‚wahren‘ Ich zum Protean Self Nach Tseëlon (3) bedeutet das Tragen einer Maske stets die Infragestellung der Identität. Sie führt weiter aus, dass es zwei mögliche Herangehensweisen gibt, um die Maskerade in Bezug auf die Identität zu verorten, abhängig davon, welcher der beiden Identitäts-Grundvorstellungen des 20. Jahrhunderts man folgen möchte, ob man Identität als eine feste Einheit versteht oder die Vorstellung einer grundsätzlich multiplen Identität vorzieht (ebd. 4). Geht man von Identität als einer festen Einheit aus, würde die Maske ein authentisches Ich verbergen. Hieraus erklärt sich die tendenziell negative Konnotation der Maske als Schein und Betrug, deren geistesgeschichtliche Entstehung Weihe umfassend erläutert. In den hier betrachteten Filmen referieren Jonah Jameson (Spider-Man) und der King14

Zum „A lawyer during the day […] and then judge and jury at night“-Motto in Daredevil, das sein Beichtvater Matt einmal vorhält (00:30:13) vgl. Rauscher (67). In Daredevil zieht auch der Journalist Ben Urich die Verbindung zwischen den beiden Identitäten des Helden; tatsächlich versucht er zu beweisen, dass das Gerücht um Daredevil wahr ist und sich hinter dessen Maske Matt verbirgt – zugleich aber gibt er Matt Informationen, in der Hoffnung, Daredevil zum Eingreifen zu bewegen (vgl. ebd. 66f.).

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pin (Daredevil) diese negative Konnotierung beiläufig, wenn sie fragen, was der Held wohl zu verbergen hat, wenn er Angst hat, sein (‚wahres‘) Gesicht zu präsentieren. Hier wird deutlich, dass die Maske eben nicht nur verbirgt, sondern auch zeigt, dass sie etwas verhüllt (Weihe 17). Da die maskierten Helden ihre Superfähigkeiten nur unter der gegenständlichen Maske einsetzen, lässt sich argumentieren, dass ihr ‚wahres Ich‘ erst beim Tragen der Maske enthüllt wird, die zivile Identität aber eine metaphorische, soziale Maske bedeutet. Dieses Spiel um die Frage nach dem wahren Ich beschreibt Kniep mit anschließendem Bezug auf Batman und Superman für die Comics folgendermaßen: Sein wahres Ich ist somit das heldische Ich, das vor dem Hintergrund wechselnder Erscheinungen die Einheit und Dauer eines geschlossenen Subjekts verbürgt. Daraus folgt, dass es nicht der Mensch (Clark Kent, Bruce Wayne usw.) ist, der seine eigentliche Identität hinter der Maske eines Superhelden verbirgt, sondern umgekehrt der Held selbst, der mit Hilfe der Konstruktion einer Alltagspersona unentdeckt zu hoffen bleibt. Der zu der Aufnahme eines Doppellebens dazugehörige Vorgang der Kostümierung stellt sich dem Comic-Leser dann auch folgerichtig als ein paradoxes Wechselspiel zwischen Enthüllung und Verschleierung dar: Legt der Held die Maske ab, bleibt er als solcher unerkannt, setzt er sie aber auf, tritt er als derjenige in Erscheinung, der er in Wahrheit ist. (32f.)

Kniep scheint die ‚Umkehrung‘ von authentischem und vorgegebenem Ich durch die Maskierung als Beantwortung der Frage nach der ‚wahren Identität‘ als gegeben anzusehen – Fingeroth (57-60) betont demgegenüber eher, dass die Comics vor allem immer wieder Fragen wie ‚Wer bin ich? ‘ stellen. Die Umkehr zwischen gegenständlicher und metaphorischer Maske wird in den klassischen Comics durchaus explizit angesprochen. Der Wechsel zwischen den Identitäten bedeutet hier den Wechsel zwischen authentischem und vorgegebenem Ich (z. B. Lee und Everett [Daredevil 17, Juni 1966, 4; Daredevil 25, Februar 1967, 7]). Matt Murdocks Behindertenattribut, sein Blindenstock, der in Daredevils Hand zur Waffe wird, illustriert dies auch im Film. Im Vergleich zu den Comics ist in den Filmen jedoch eine relativ subtile Verschiebung zu beobachten. Obwohl sich der Plot in den ersten beiden Spider-Man-Filmen auch darum dreht, dass sich Peter für eine seiner beiden Identitäten entscheiden muss, fehlt in allen Filmen die Komponente der ‚Maskenhaftigkeit‘ der zivilen Identität. Dass das ZivilIch ein Meister der Verstellung ist und daher manchmal für den Helden nicht mehr als eine zwingende Rolle ist, die er zu erfüllen hat, die seinem Ich aber nicht entspricht, wird so gut wie gar nicht angesprochen. Wenn die Helden hier ihre fantastischen Fähigkeiten vor aller Öffentlichkeit einsetzen, bedeutet die Maskerade daher nicht die ‚Umkehrung‘ von wahrem Selbst und vorgespielter sozialer Rolle, sondern stellt ‚nur‘ eine Erweiterung der Identität dar, ohne aber das ‚angestammte‘ Ich in Frage zu stellen. Aufgrund dieser Umwertung ist es nicht mehr so erstaunlich, dass

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sich die drei Heldenfiguren in ihren Filmversionen nicht übermäßig bemühen, in ihrer zivilen Identität ihre Spezialfähigkeiten nur im Geheimen zu benutzen, um niemandem Anlass zu geben, auf die Verbindung mit der Heldengestalt zu schließen. So entdeckt Peter Parker seine Spinnenkräfte im öffentlichen Raum der Schule, was für ziemlichen Aufruhr sorgt, und der blinde Matt Murdock verblüfft sein Umfeld regelmäßig mit seinen Wahrnehmungsfähigkeiten15, bis Elektra direkt fragt: „Sure you’re blind?“ (Daredevil 00:35:00). Diese ‚Konstellation‘ der Doppelidentität des maskierten Helden bietet sich geradezu an, sie als Widerspiegelung jener Identitätskonzeptionen zu deuten, die Identität als von Multiplizität und Prozesshaftigkeit geprägt zu verstehen. Diese scheinen in Soziologie und Psychologie weitgehend anerkannt zu sein und die Vorstellung von Identität als einer fixen Entität abgelöst zu haben (vgl. Renn und Straub; Kaufmann). Insbesondere im Blick auf Liftons Protean Self entfalten sich auffällige Parallelen zu den Superhelden, wie sie in den hier betrachteten Filmadaptionen porträtiert werden. Lifton entwirft sein metaphorisch gelungen benanntes Identitätskonzept als vielseitiges Selbst (5), das durch Variation geprägt ist, aber dennoch konstante, stabile Züge hat. Grundlage für die Konstituierung des Protean Self sind unter anderem Gefühle der Vater- und Heimatlosigkeit (ebd. 74). Zumindest Erstere sind bei Peter Parker, Matt Murdock und Tony Stark nicht von der Hand zu weisen. Bedeutender ist jedoch die folgende Eigenschaft: „Central to its function is a capacity for bringing together disparate and seemingly incompatible elements of identity and involvement in […] ‘odd combinations,’ and for continuous transformation of these elements“ (ebd. 5). Die von Lifton erwähnte ‚continuous transformation‘ kann für die maskierten Helden nicht nachgewiesen werden, sodass die Anwendung des Konzepts des Protean Self hier an ihre Grenzen stößt. Doch lassen sich die beiden Ichs des maskierten Helden – wenn auch in sehr plakativer, schematisierter Form – als solch scheinbar inkompatible Elemente verstehen; die Aufrechterhaltung zweier Identitäten ist schließlich eine Grundkompetenz für einen maskierten Helden. Obgleich die ständige Aufrechterhaltung zweier Identitäten für den maskierten Helden oft kleine und große Probleme nach sich zieht, kann die Doppelidentität auch eine Stärke sein. Es gibt immer wieder Situationen, in denen die Helden keinen Erfolg verbuchen könnten, wenn sie nicht auf die Verbindung zwischen ihren beiden Identitäten und ihre zivile Identität zurückgreifen könnten. In Spider-Man 2 beispielsweise kann angesichts der drohenden Explosion nicht Spider-Man, sondern nur Peter Dr. 15

Zur Umsetzung von Matts spezieller Raumwahrnehmung durch seinen Radarsinn im Film vgl. Kuppers.

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Octopus zur Vernunft bringen und so die Katastrophe abwenden (vgl. Booker 119). In den klassischen Comics haben Spider-Man, Daredevil und Iron Man jahrelang größte Anstrengungen unternommen, um einer Entlarvung zu entgehen. In den Filmen fällt dagegen eine hohe Zahl an Demaskierungen auf.16 Matt Murdock wird im Film insgesamt genauso oft entlarvt, wie er als Daredevil unterwegs ist. Die relative Häufigkeit der Demaskierungen in den Filmen ist in erster Linie sicher darin begründet, dass die Schauspieler ohne Maske ihr Mienenspiel besser entfalten können. Davon abgesehen bedeutet die Demaskierung die Sichtbarmachung der ‚Einheit in der Zweiheit‘17 und damit die (temporäre) Aufhebung der vorgegebenen Trennung in zwei Identitäten. Dies kann zusätzliche Gefahr bedeuten, wenn ein Antagonist die Identität des Helden entdeckt und so erkennt, wie er z. B. Spider-Man mit der Bedrohung von Peter Parkers Familie erpressen bzw. in ein Dilemma stürzen kann. Die Maske bietet darüberhinaus im Prinzip nicht nur Schutz vor Superschurken, sondern auch vor der meinungsmäßig oft wankelmütigen Öffentlichkeit, die bei Daredevil und in der Spider-Man-Trilogie stark durch die Presse repräsentiert wird. Eine unfreiwillige Demaskierung vor einem beschränkten Kreis der Öffentlichkeit gibt es nur Spider-Man 2: Peter verliert im Laufe eines Kampfes mit Doctor Octopus vor einigen Stadtbahnbenutzern seine Maske, was jedoch keine negativen Folgen hat – da die New Yorker ihrem Helden dankbar sind, versprechen sie, sein Geheimnis zu wahren. In Liebesdingen führt die Demaskierung dagegen meist zur Problemlösung – so bringt Elektra Daredevil dann doch nicht um, als sie sieht, dass Matt Murdock unter dessen Maske steckt. In den Spider-Man-Filmen ist es eine halb zerrissene Maske, die vor allem in den Endkämpfen der drei Spider-Man-Filme – wenn Peter Parker als Spider-Man seine große Liebe Mary Jane retten muss – sichtbar macht, dass Spider-Man Peter Parker ist, und immer dann, wenn die Doppelidentität bei der Kulmination handlungsbedeutsam ist, die Verbindung der beiden Identitäten eindrücklich visualisiert. Dies ist freilich auch eine Hommage an ein typisches Gestaltungselement der Spider-Man-Comics, dort ‚enthüllt‘ eine über Peters Gesicht gezeichnete Halbmaske, dass Peter gerade als Spider-Man denkt (vgl. etwa Lee und Ditko [z. B. The Amazing Spider-Man 4, September 1963, 20; 5, Oktober 1963, 2, 10, 11]). 16 17

Iron Man, der am Ende die unumkehrbare Demaskierung gegenüber der Öffentlichkeit vornimmt, kann von Demaskierungen ‚den Zuschauenden zuliebe‘ absehen, da in einer speziellen Kameraeinstellung Tony Starks Gesicht hinter der Maske mehrmals gezeigt wird. Diese Formulierung verwende ich in Anlehnung an Weihes Auseinandersetzung mit der Denkfigur des homo duplex, deren Bezügen zum maskierten Helden hier nicht nachgegangen werden kann (vgl. 329-54).

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4. Wer die Wahl (nicht) hat … Anders als bei einer Demaskierung, die in den Filmen in der Regel unfreiwillig oder zumindest ungeplant erfolgt, können Spider-Man und Daredevil in der Regel selbst bestimmen, wann sie in welcher Identität auftreten wollen (das gilt auch für Iron Man, solange er nicht in seiner Rüstung feststeckt). Die äußerliche Trennung in zwei Identitäten stellt die Protagonisten so in gewisser Weise dauernd vor die Wahl, da sie gegen außen jeweils nur in einer ihrer Identitäten auftreten können, nicht aber in beiden gleichzeitig. Auch eine Doppelidentität ist keineswegs vor Krisen gefeit. Immer wieder ein effektvolles Mittel, den Protagonisten in ein Dilemma zu stürzen, ist, ihn vor die sprichwörtliche Qual der Wahl zu stellen, sich für eine seiner beiden Identitäten entscheiden zu müssen, wie Spider-Man und Spider-Man 2 zeigen. Im ersten Film stellt der Green Goblin Spider-Man vor das Dilemma, entweder Mary Jane oder eine Gondel voller Schulkinder zu retten. Mit den Worten „We are who we choose to be. Now choose!“ (01: 38:02), fordert er Spider-Man auf, sich dergestalt zwischen seinen Identitäten zu entscheiden. Selbstverständlich gelingt es Peter, sowohl die Frau seines Herzens als auch die Schulkinder zu retten. Er beschließt im Anschluss jedoch, wegen der potentiellen Gefahren auf eine Beziehung mit Mary Jane zu verzichten, um Spider-Man bleiben zu können. Das finale „Who am I? I am Spider-Man“ (01:50:33) lässt sich dennoch nicht nur als Bekenntnis zum Heldentum lesen, sondern auch als Entscheidung zur Erhaltung der Doppelidentität.18 Und damit startet denn auch der zweite Film, wenn der erste Satz von Peters Erzählerstimme lautet: „Who am I? I am Spider-Man, given a job to do. And I’m Peter Parker, and I, too, have a job“ (00:03:10). Nach diesem Statement ist es unvermeidlich, dass die Doppelidentität im zweiten Film in die Krise gerät, bis Peter entnervt seine Kräfte nicht mehr abrufen kann und den Helden-Bettel hinschmeißt, was scheinbar den Verzicht auf sein heldisches Alter Ego bedeutet. Da er jedoch seine Heldenqualitäten nicht begraben kann (wie sich zeigt, ist er nicht aus dem Holz geschnitzt, das bei Unglücken seelenruhig zuschauen kann) und diese auch dringend gebraucht werden, als der Superschurke Dr. Octopus seine große Liebe Mary Jane entführt, wird die Doppelidentität am Ende, wie zu erwarten war, wieder bestätigt. Beim Happy-End wird deutlich, dass die Ausgestaltung der Identität auch vom sozialen Umfeld und den Interaktionen mit anderen abhängig ist: Peter zieht sich nämlich erneut 18

Laut Kirby und Gaithner (280) unterscheidet sich Peter Parker in Spider-Man in diesem Punkt als relativ singuläres Beispiel von anderen, etwa zur gleichen Zeit produzierten Filmen, in denen Individuen durch genetische Experimente vor die Identitätsfrage gestellt werden.

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von Mary Jane zurück, da diese aber inzwischen sein Geheimnis kennt, entscheidet sie, dass sie trotzdem mit Peter zusammen sein will. Flanagan weist darauf hin, dass die Doppelidentität dem Helden (und implizit dem Kinopublikum, das sich mit diesem identifiziert) die Möglichkeit gibt, verschiedene Rollen – er nennt jene des Verfolgten, des Retters und der Bedrohung – erfüllen zu können. Dieses Potenzial erkläre zum einen die Langlebigkeit der Secret Identity und diene zum andern der Rechtfertigung verschiedener „narratives that deal with the assumption of new identities, heroic guises, or the temporary rejection of the hero identity“ (145). Dementsprechend kann Peters Identität in Spider-Man 3 ebenfalls nicht unhinterfragt bleiben, die Doppelidentität als solche steht nun aber nicht mehr zur Debatte. Insbesondere als ‘Spider-Man in Black’ – unter dem Einfluss des außerirdischen Symbionten – kann Peter Parker eine vermeintlich coolere, selbstsicherere und frechere Variante seiner selbst testen, die er zunächst begrüßt, letztlich aber wieder verwerfen muss, als er erkennt, dass dieses eine gnadenlose, gewalttätige Dimension an den Tag legt, die ihm nicht geheuer ist. Peters Fazit am Schluss von Spider-Man 3 betont erneut, mit schon fast didaktischem Unterton und in fast denselben Worten wie der Goblin im ersten Teil, die Wahl: „We always have a choice. […] It’s the choices that make us who we are. And we can always choose to do what’s right“ (02:06:25). Der Aspekt der Wahl des Protagonisten, wer er sein will, wird vor allem in der Spider-Man-Trilogie betont. Die starke Gewichtung lässt sich dadurch erklären, dass Peter Parkers Transformation zu Spider-Man – er erhält seine Spinnenkräfte noch als Teenager – oft als Metapher für die Entwicklungen in der Pubertät gelesen wird (z. B. Flanagan 139-50; Booker 109). Dementsprechend versteht etwa Flanagan das Dilemma der Wahl zwischen zwei Identitäten in Spider-Man hauptsächlich als Form, in die das Problem der Heldwerdung bzw. der Akzeptanz des Heldenschicksals („rising to a heroic destiny“ 148) erzählerisch eingekleidet ist. Mit dem drohenden Verzicht auf eine der beiden Identitäten geht es jeweils auch um die Frage, ob Peter ein Held mit aller Verantwortung und Entbehrungen für seine Zivilidentität sein will oder nicht. Daran schließt sich – namentlich in Gesprächen von Peter Parker mit seiner nicht eingeweihten Tante May über Spider-Man – die Frage an, was einen Helden und seine Vorbildfunktion ausmacht.19 Aber während ein Leben ohne Heldenidentität durchaus denkbar wäre – was in Spider-Man 2 temporär auch durchgespielt wird, als Peter seine Spinnenkräfte verliert –, scheint die Beibehal19

Im Film Daredevil schwingt die ‚Heldenfrage‘ in einer anderen Schattierung mit, hier befindet sich Matt im Zwiespalt, ob der stark vergeltungsorientierte Daredevil noch ein Held ist oder ob er zu weit geht und so selbst zum Problem wird – er kann dieser ‚Versuchung‘ aber widerstehen und bleibt selbst ernannter „guardian devil“ (01:32:38) seines Viertels.

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tung der zivilen Identität des Protagonisten unumstößlich. Auch wenn das zivile Ich durch die Heldenaktivitäten eingeschränkt wird (z. B. wenn Peter Parker auf privates Liebesglück verzichtet), scheint eine reine Heldenidentität keine Option. Die Entscheidung, wer er sein will, muss Peter Parker in den SpiderMan-Sequels immer wieder neu treffen. Das Fantastische, das die Doppelidentität erst ermöglicht hat, dient dabei meist als Anstoß, die gewählte Identität zu hinterfragen. Namentlich in Form des außerirdischen Symbionten im dritten Teil zwingt es Peter dazu, eine andere Schattierung seiner Identität auszuprobieren, wobei Peter schließlich, wenn auch in einem Kraftakt, die etablierte Doppelidentität bestätigt. Abschließend sei ein kurzer Blick auf die Superschurken der SpiderMan-Filme geworfen, denn in Bezug auf die Wahlmöglichkeit zwischen den Identitäten ergibt sich ein wichtiger Unterschied zu den Superhelden. Wie erwähnt, verfügen Superschurken über vergleichbare Origin Storys wie die Helden (meistens erhalten sie ebenfalls durch einen Unfall in wissenschaftlichem Umfeld Superkräfte). Doch haben sowohl Norman Osborn alias Green Goblin20 als auch Otto Octavius alias Doctor Octopus keine Wahl, wann sie was (respektive wer) sind, da es der Wahnsinn ist, der ihre Sinne vernebelt. In gewissem Sinn gilt das auch für Venom und Sandman in Spider-Man 3: Da Venom von dem außerirdischen Symbionten in Besitz genommen wurde, ist nicht klar, wie frei er seine Entscheidungen trifft. Der Sandman könnte theoretisch zwar wählen, da er bei Verstand ist, doch weil ihm als Kriminellen eine Rückkehr zu seiner Familie verwehrt wird, verfügt er nicht wirklich über eine zivile Identität, in die er sich zurückziehen könnte. Harry Osborn als New Green Goblin in Spider-Man 3 ist der einzige Superschurke, der in diesem Punkt eine Wahl hat, die auch eine ist; er trifft zuerst die falsche, korrigiert sie aber und darf bzw. muss schließlich den Heldentod sterben. Die Doppelidentität von Spider-Man, Daredevil und Iron Man (soweit sich das für letzteren filmischen Spezialfall bestimmen lässt) zeichnet sich dagegen in den hier betrachteten Filmen dadurch aus, dass frei zwischen zwei durchaus kontrastreichen, äußerlich getrennten Identitäten hin- und hergewechselt werden kann. Die Doppelidentität vereinigt also ständigen Wechsel, auf der einen Seite und Konstanz auf der andern Seite; denn falls sie einmal etabliert ist, bleibt die Doppelidentität als solche letztlich (bei Filmende) stets intakt, was außertextuell im seriellen Charakter dieser Heldenreihen begründet ist. 20

Laut Flanagan, der sich auf den Green Goblin in Spider-Man bezieht, macht dieser Umstand deutlich, dass die emotionale Reife, mit der die Rolle eines Helden zu erfüllen sei, nicht von der physischen Veränderung durch den Erhalt der Kräfte abhängig ist (156). Zur ‚gespaltenen Identität‘ des Green Goblin vgl. Meyer.

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Das blaue Wunder Naturalisierung, Verfremdung und digitale Figuren in James Camerons Avatar 1 SIMON SPIEGEL Marvellous Blue. Naturalization, Estrangement, and Digital Characters in James Cameron’s Avatar Although it has been extremely successful at the box office, James Cameron’s sf epic Avatar has also been criticized for its lack of originality and its predictable story. In my paper I argue that this kind of disappointment is not so much a consequence of the movie’s plot but of formal aspects. Like in all sf, Avatar’s impact relies heavily on the interaction between naturalization and estrangement. On a formal level sf always naturalizes its nova, it makes the alien look ordinary by employing an aesthetics of technology. Estrangement, on the other hand, happens on a diegetic level, inside the story world, when a (naturalized) marvelous element is introduced into an apparently realistic world and causes frictions between the orders of these two worlds. This mechanism is partly suspended when it comes to Avatar’s most important novum: the digitally created Na’vi. Relying on the research by Barbara Flückiger, I show how Avatar is so concerned with properly naturalizing the Na’vi and not letting them appear as too strange, that most of its potential for estranging effects goes unused.

1. Einleitung Mit Avatar hat James Cameron einen der erfolgreichsten Filme aller Zeiten gedreht,2 einen Blockbuster, der die filmische SF wohl auf Jahre hinaus prägen dürfte. So erfolgreich das SF-Epos aber an der Kinokasse war, von Seiten der Kritik wurden teilweise auch gravierende Mängel ausgemacht. Hauptkritikpunkt war, dass der Film trotz des immensen technischen Aufwands und all seiner visuellen Pracht erstaunlich unoriginell sei. Während 1 2

Eine frühere Fassung dieses Artikels ist erschienen als Spiegel „Ein blaues Wunder“. Mittlerweile hat Avatar weltweit über 2 Milliarden Dollar eingespielt; damit ist er derzeit gemessen am Einspielergebnis der erfolgreichste Kinofilm aller Zeiten. Allerdings ist diese Aussage insofern irreführend, als die verglichenen Einspielergebnisse nicht inflationsbereinigt sind und bei den Einnahmen von Avatar der Aufpreis enthalten ist, den die Zuschauer für die 3D-Brillen bezahlen müssen.

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die meisten Kritiker die technisch-formale Ausführung lobten, wurde die Handlung vielerorts kritisiert: Avatar erzähle im Grunde bloß eine „NeuVersion des Pocahontas-Mythos – nur dass Cameron den Indianerkontinent auf einen fernen Planeten namens Pandora verlegt hat“ (Theweleit 132), die Story sei „ein abenteuerliches Blendwerk“ (Knorr) und Cameron „einfach außerstande, wirklich berührende Geschichten zu erzählen“ (Egger), mit anderen Worten: „Technik top, Inhalt Flop“ (Mani 54). Von SF-Fans wiederum wurde schon früh moniert, dass Cameron relativ schamlos bestehendes Material in seinem Drehbuch verarbeitet habe. In diesem Zusammenhang wird vor allem Poul Andersons Kurzgeschichte „Call Me Joe“ genannt, aus der Cameron die Idee ‚ferngesteuerter‘ künstlich gezüchteter Wesen zur Besiedelung eines unwirtlichen Planeten übernommen habe, sowie Ursula K. Le Guins Kurzroman The Word for World is Forest, dessen Plot in weiten Teilen demjenigen von Avatar entspreche (vgl. Westfahl). Dass Hollywood-Blockbuster in der Regel keine besonders komplizierten Plots aufweisen, ist hinlänglich bekannt. Auch das Phänomen, dass bestehende Motive von Autoren aufgenommen und weiter verarbeitet werden, ist für die SF keineswegs neu, sondern hat vielmehr eine lange Tradition. Tatsächlich dürfte die Enttäuschung über Avatar, die mancherorts spürbar wurde ihre Ursache in erster Linie auch nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – in den genannten inhaltlichen Aspekten haben. Mindestens so wichtig ist meines Erachtens die formale Seite, die Frage, wie Avatar mit den für die SF zentralen Momenten der Naturalisierung und der Verfremdung umgeht und welche Rolle die digital erzeugten Na’vi hierbei spielen. Um diese Punkte soll es denn in diesem Artikel auch gehen; den Plot und die 3D-Technik werde ich dagegen nicht weiter ansprechen. 2. Naturalisierung In meiner Studie Die Konstitution des Wunderbaren habe ich die SF als das technizistisch Wunderbare definiert; in ihr erhalten wunderbare3 Elemente im 3

Um die heiklen Begriffe ‚realistisch‘ bzw. ‚nicht-realistisch‘ zu vermeiden, verwende ich hier den von Tzvetan Todorov geprägten Begriff ‚wunderbar‘. Todorov unterscheidet zwischen drei Gattungen, dem Unheimlichen, dem Phantastischen und dem Wunderbaren, wobei Letzteres fiktionale Welten beschreibt, die sich nicht mit unserer empirischen decken. Allerdings ist Todorov nicht eindeutig in der Frage, ob er formale oder fiktionale Aspekte beschreibt. Zwar versteht er seine Gattungen als formale Kategorien, in erster Linie beschreibt er damit aber die Ontologie fiktionaler Welten (siehe dazu auch Spiegel Theoretisch phantastisch). In diesem Artikel soll ‚wunderbar‘ aber ausschließlich das Verhältnis der Handlungswelt zu unserer empirischen Realität beschreiben.

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Gegensatz zum Märchen oder zur Fantasy ein (pseudo-)realistisches Gewand. Denn der Unterschied zwischen Fantasy und SF liegt nicht etwa darin, dass Letztere grundsätzlich realistischer wäre. Gerade das Beispiel von Avatar mit seinen schwebenden Felsen, seinen Lebewesen mit ‚Universalschnittstelle‘ und der Möglichkeit des Bewusstseinslinks schert sich wenig um wissenschaftliche Plausibilität. Dennoch wird wohl kaum jemand bestreiten, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen typischen Vertretern der Fantasy wie Lord of the Rings oder der Harry PotterReihe und einem Film wie Avatar gibt, obwohl Letzterer kaum ‚realistischer‘ ist. Worin liegt dieser Unterschied? Folgendes Gedankenexperiment: Man stelle sich einen Film vor, der auf dem Planeten Pandora spielt, vor der Ankunft der menschlichen Kolonisatoren. Einen Film mit blauen Wesen, ‚sprechenden Bäumen‘, ohne Raumschiffe und Erklärungen zum Funktionieren biologischer Netzwerke. Diesen Film würden wohl die meisten Zuschauer – vorausgesetzt, dass sie Avatar nicht kennen – spontan zur Fantasy zählen. Vergleichen wir diesen hypothetischen Film Pandora vor Avatar mit dem Film, den Cameron tatsächlich gedreht hat: Warum ordnen wir die beiden Filme, die ja in der gleichen Welt spielen, jeweils unterschiedlichen Modi4 zu? Die Welt der Na’vi ist eine nicht-industrialisierte Jäger-undSammler-Gesellschaft, in der schamanenartige Priesterinnen das Sagen haben und in der man Kontakt zu den Geistern der Toten aufnehmen kann. Dies ist eine Welt, wie wir sie aus mythischen Erzählungen – und eben aus der Fantasy – kennen. In dieser Welt sind Tiere und Pflanzen beseelt, Kontakt mit dem Reich der Toten ist möglich. Es ist eine Welt, in der das Wunderbare normal ist. In dem Moment aber, da Pandora als Teil unseres Universums dargestellt wird, als Planet, den man mittels Raumschiffen – also mit technischen Geräten – erreichen kann, verschiebt sich das Ganze deutlich Richtung SF. Das ‚Wäldernetzwerk‘ Pandoras ist von Anfang an keine rein magisch-religiöse Angelegenheit, sondern ein beobachtbares Phänomen, das von Grace Augustine (Sigourney Weaver) wissenschaftlich erforscht wird. Auch der endgültige Körpertausch Jake Sullys (Sam Worthington) am Ende des Films erscheint nicht als etwas Übernatürliches, wird hier 4

Ich halte es für sinnvoller, von SF als Modus und nicht als Genre zu sprechen. Unter Genre verstehe ich im Sinne von Altman eine Gruppe von Texten (oder Filmen), die nicht nur semantisch und syntaktisch Gemeinsamkeiten aufweisen, sondern auch pragmatisch eine Einheit bilden. Also eine Textsorte, die historisch auch als solche wahrgenommen wurde, wobei das Konzept umso nützlicher wird, je kleiner diese Gruppe ist. SF dagegen bezeichnet ein weitaus größeres Ensemble von Texten, das sich weder über inhaltliche (semantische) Aspekte noch über den Plot (Syntax) und schon gar nicht über die pragmatische Seite bestimmen lassen. SF beschreibt vielmehr einen bestimmten Typus fiktionaler Welten und deren Darstellungsform (siehe dazu Spiegel, Konstitution; speziell zur Unterscheidung von Genre und Modus 22-29 sowie 39-41).

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doch nur mit ‚natürlichen‘ Mitteln reproduziert, was zuvor mittels AvatarTechnologie bewerkstelligt wurde. Was im hypothetischen Pandora vor Avatar noch als übernatürlich-magisch erscheinen würde, ist für die menschlichen Protagonisten von Avatar zwar ungewöhnlich, neuartig und fremd, aber dennoch grundsätzlich beobacht- und erklärbar. Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen Fantasy und Science Fiction liegt nicht im Phänomen, im wunderbaren Ereignis, an sich, sondern in dessen Darstellung, in der Ästhetik. Ob Wurzelnetzwerk oder Fluxkompensator – ausschlaggebend ist nicht, dass das Novum wissenschaftlich plausibel ist, sondern dass in seiner Darstellungsweise, seiner Bezeichnung, dem ganzen erzählerischen Zusammenhang, an ein wissenschaftlich-technisches Weltbild angeknüpft wird. Wenn Jake in Avatar in einen metallenen Sarkophag steigt, der an einen Computertomographen erinnert, weiß jeder, dass hier eine technische Maschine zum Einsatz kommt und nicht Magie – weil diese Apparatur technisch aussieht. Anders bei den Na’vi: Für sich genommen würden phosphoreszierende Kabel und Blüten wohl als Fantasy eingestuft; zur SF werden sie durch den Kontext und die Benennung durch Grace. Sie, die dank des weißen Laborkittels klar als Wissenschaftlerin erkennbar ist, hat das richtige Vokabular, das die Rituale der Na’vi der Fantasy enthebt. Diesen Vorgang, dieser gezielte Bezug auf ein wissenschaftlich-technisches Weltbild, bezeichne ich als Naturalisierung5, er unterscheidet die SF von anderen wunderbaren Erzählformen. Naturalisierung ist in erster Linie ein ästhetisches Phänomen; wir erkennen ein Raumschiff, weil es wie ein Raumschiff, also wie eine Maschine, aussieht. Wie diese Maschine genau funktioniert, wissen wir nicht – es ist auch gar nicht relevant. Die Einordnung in die SF ist schon lange erfolgt, bevor wir uns Gedanken über die genaue Funktionsweise machen können. 3. Verfremdung Der Begriff der Verfremdung gehört zum festen Vokabular der SF-Forschung, seit Darko Suvin den Modus in seiner Poetik der Science Fiction als „kognitive Verfremdung“ – im Original „cognitive estrangement“ (Suvin, Metamorphoses 4) – definiert hat. Fast alle Autoren sind sich darin einig, dass SF die von ihr dargestellten Dinge in irgendeiner Weise verfremdet. Darüber hinaus herrscht aber wenig Einigkeit; wie so oft bei scheinbar allseits akzeptierten Begriffen versteht jeder etwas anderes unter Verfrem5

Ich verstehe Naturalisierung hier als rein formale Operation und nicht im ideologiekritischen Sinne von Roland Barthes.

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dung. Dies ist auch nicht weiter erstaunlich, denn zum einen verwendet Suvin den Terminus auf sehr widersprüchliche Weise, andererseits war und ist Verfremdung auch außerhalb der SF-Theorie ein alles andere als einheitliches Konzept. Suvin stützt sich in seinen Ausführungen auf die beiden wichtigen Theorietraditionen zum Thema Verfremdung – auf Bertolt Brechts Theorie des V-Effekts sowie auf den Russischen Formalisten Viktor Šklovskij und dessen ostranenie-Konzept.6 Sowohl Šklovskij als auch Brecht verstehen unter Verfremdung das Aufbrechen etablierter Sehgewohnheiten: In unserem Alltag nehmen wir die Dinge nur oberflächlich wahr, sehen sie aber nicht als das, was sie wirklich sind. Damit wir die Welt wieder richtig sehen können, müssen wir unsere automatisierte, ‚blinde‘ Wahrnehmung überwinden, und dies kann nur gelingen, wenn die Dinge zuerst wieder fremd gemacht werden. Brechts und Šklovskijs Ansätze unterscheiden sich zwar in vielen Punkten, die hier nicht von Bedeutung sind,7 bei beiden ist Verfremdung aber ein im weitesten Sinne stilistisch-rhetorisches Verfahren, das die Art und Weise beschreibt, wie bestimmte fiktionale Inhalte vermittelt werden. Šklovskij spricht unter anderem von ungewohnten Sprachbildern und Erzählstrategien, Brecht in Bezug auf das Theater von eher handwerklichtechnischen Elementen wie einer distanzierten Spielweise oder Spruchbändern, die alle das Ziel haben, die realistische Illusion zu unterlaufen. Suvin führt den Begriff der Verfremdung nun in ein gänzlich neues Gebiet ein, indem er ihn als Gattungsmerkmal versteht: „In der SF ist die Haltung der Verfremdung – die von Brecht anders verwendet wird, nämlich innerhalb eines noch immer vorwiegend ‚realistischen‘ Parabelkontextes – zum formalen Rahmen des Genres geworden“ (Suvin, Poetik 26). Was bei Šklovskij und Brecht noch ein stilistisches Mittel ist, das an bestimmten Stellen eines an sich ‚realistischen‘ Textes auftreten kann, wird gemäß Suvin in den verfremdeten Gattungen – zu denen er neben der SF auch Märchen und Mythos zählt – zum formalen Rahmen. Die Bestimmung der SF als verfremdete Gattung steht in direktem Widerspruch zu meinem Ansatz, der in der Naturalisierung das zentrale formale Mittel des Modus sieht. Aber auch sonst weist die zitierte Passage der Poetik einige Ungereimtheiten auf: Eine wesentliche Erkenntnis der Russischen Formalisten ist ja gerade, dass sich auch vorderhand ‚realistische‘ Texte fortlaufend Verfremdungseffekte bedienen (Parrinder 37), die

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Obwohl Suvin Šklovskijs berühmten Aufsatz Die Kunst als Verfahren zitiert, spielt das formalistische ostranenie-Konzept für ihn insgesamt aber eine untergeordnete Rolle; Suvins wichtigste Referenzen sind Brecht und Ernst Bloch. Vgl. Spiegel Konstitution, 201-9, „Begriff der Verfremdung“ und „Things Made Strange“.

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Gegenüberstellung von verfremdeten und – in Suvins Terminologie – naturalistischen Gattungen ist aus dieser Perspektive äußerst fragwürdig. Suvin verbindet in seinem Konzept ein ganzes Bündel von Aspekten, scheint sich dessen aber nicht recht bewusst zu sein: Verfremdung bezeichnet bei ihm nicht nur die formalen Mittel, die ein Text verwendet, sondern auch die Beschaffenheit der fiktionalen Welt. Suvin spricht zwar vom „formalen Rahmen“ und zitiert in diesem Zusammenhang auch Brecht – „Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber gleichzeitig fremd erscheinen lässt“ (Brecht 132) –, aus seinen Ausführungen geht aber deutlich hervor, dass Verfremdung bei ihm keineswegs nur formale Aspekte umfasst. Würde Verfremdung tatsächlich den formalen Rahmen bilden, würde das ja bedeuten, dass SF, Märchen und Fantasy ihre wunderbaren Elemente permanent verfremdeten. Dies trifft freilich nicht zu; im Märchen treten zwar wunderbare Figuren auf, diese sind aber nicht ‚fremd‘ in dem Sinne, dass sie den Rezipienten überraschen und das Gelesene oder Gesehene entautomatisieren würden. Verfremdung beruht sowohl bei Šklovskij als auch bei Brecht darauf, dass etwas Alltägliches seiner Gewöhnlichkeit enthoben wird. Eine Fee oder ein sprechender Frosch sind aber keine alltäglichen Gegenstände, besitzen keinen Referenten in der empirischen Realität und können deshalb schwerlich eine verfremdete Abbildung eines existierenden Gegenstandes sein. Interessanterweise spricht Suvin an anderer Stelle denn auch von „faktische[n] Darstellungen von Fiktionen““ (Poetik 25), was im Grunde das genaue Gegenteil von Verfremdung ist, sich aber weitgehend mit meinem Verständnis von Naturalisierung deckt. Denn wie bereits dargelegt, bildet Naturalisierung und nicht Verfremdung den formalen Rahmen der SF: Auf formaler Ebene macht die SF nicht das Vertraute fremd, sondern das Fremde vertraut.8 4. Diegetische Verfremdung Die Feststellung, dass SF auf formaler Ebene nicht verfremdet, bedeutet aber nicht, dass Verfremdung dem Modus völlig fremd wäre. In der Tat geht von der SF eine der Verfremdung zumindest analoge Wirkung aus: Wenn in einer SF-Erzählung Menschen zu unbekannten Planeten fliegen oder durch die Zeit reisen, wenn neuartige Erfindungen die bekannte Welt umkrempeln, Monster die Erde verwüsten, kurz: Wenn in einer vorder8

Suvin definiert die SF als kognitive respektive erkenntnisbezogene Verfremdung, versieht aber auch den Begriff der Kognition mit unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Bedeutungen, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde; siehe dazu Spiegel Konstitution; „Begriff der Verfremdung“.

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gründig realitätskompatiblen Welt wunderbare Elemente auftreten, dann führt der Zusammenprall der beiden Realitätssysteme zu einer verfremdenden Wirkung: Das Bekannte erscheint in einem neuen Umfeld, wird rekontextualisiert. Als Beispiel hierfür möchte ich eine Szene aus Soylent Green von Richard Fleischer anführen, die auch Vivian Sobchack in ihrem Standardwerk Screening Space analysiert: Im New York des Jahres 2022 ist Überbevölkerung zum Hauptproblem geworden; die Stadt platzt aus allen Nähten. Die Menschen ernähren sich von synthetischen Energieriegeln, natürliche Nahrung ist ein Luxusgut geworden. Die Hauptfigur Thorn (Charlton Heston) muss in einem Mordfall ermitteln und kommt bei dieser Gelegenheit in ein Luxusappartement. Mit fast schon an Ekstase grenzender Begeisterung dreht er den Wasserhahn auf, lässt sich das Wasser über die Hände fließen und riecht an der Seife. „[He] is so entranced with the taken-for-granted sensual pleasures of a middle class bathroom that it is impossible to look at the bathroom in the film as a familiar place“ (Sobchack 132). Ein prosaischer und für den Zuschauer alles andere als ungewöhnlicher Ort wird in Soylent Green zur Quelle der Freude verfremdet; dem Zuschauer wird auf diese Weise bewusst gemacht, dass auch sein ganz alltäglicher Luxus keineswegs selbstverständlich ist. Dies ist wohl die Form von Verfremdung, die Suvin im Auge hat, allerdings beruht sie auf einem anderen Prinzip als Verfremdung im Sinne Brechts oder Šklovskijs, denn das Badezimmer in Soylent Green wird nicht formal verfremdet. Der Zuschauer wird in dieser Szene nicht mittels unerwarteter Schnitte oder außergewöhnlicher Kamerawinkel aus seiner automatisierten Wahrnehmung gerissen; die Szene ist vielmehr funktional und unauffällig in einer Einstellung gedreht. Die Verfremdungswirkung wird alleine durch Thorns Verhalten erzeugt: Ohne seine überschwängliche Freude wäre an der Szene nichts Ungewöhnliches. Die Verfremdung ist somit auf der Ebene der Diegese, der Fiktion, anzusiedeln; sie entsteht, weil sich Thorn in einem scheinbar realistischen Rahmen ungewöhnlich verhält. Wenn Suvin im Zusammenhang mit SF von Verfremdung spricht, meint er in den meisten Fällen nicht formale Verfremdung, sondern diegetische Verfremdung, das Zusammenprallen widersprüchlicher Elemente auf der Handlungsebene. Tatsächlich beschreibt er die SF-typische Verfremdung an einer Stelle als „Konfrontation eines gegebenen normativen Systems […] mit einem Standpunkt oder Blick, der ein neues System von Normen impliziert“ (Poetik 25). Mit einem „neuen Set von Normen“ können aber

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offensichtlich nicht formale Aspekte – wie die Geschichte erzählt wird – gemeint sein, sondern fiktionale – die Regeln der fiktionalen Welt.9 Verfremdung kann durch ungewöhnliches Verhalten der Figuren zustande kommen wie in Soylent Green, aber auch durch ungewohnte oder ‚unmögliche‘ Bilder wie in The Incredible Shrinking Man. In Jack Arnolds Film schrumpft der Körper des Protagonisten nach einer radioaktiven Kontamination unaufhörlich. Die dramatische Veränderung der Körpergröße führt dazu, dass vertraute Alltagsgegenstände in völlig neuem Licht erscheinen: Ein gewöhnliches Wohnhaus wird zur lebensgefährlichen Falle, eine Katze und später eine Spinne erweisen sich als tödliche Bedrohung. Das einstige Heim ist unbewohnbar und feindlich, ein Puppenhaus wird zum einzigen sicheren Ort. – Lauter gewöhnliche, normalerweise nicht weiter spektakuläre Objekte erhalten auf einmal eine vollkommene neue Bedeutung. Sie sehen aus der Perspektive des Protagonisten nicht nur ungewohnt riesig aus, sie ändern ihren Charakter grundlegend, werden verfremdet. Die Verfremdungswirkung ist hier eine direkte Folge der Naturalisierung: Die ungewöhnliche Perspektive des Däumlings kann nur deshalb eingenommen werden, weil der Film zuvor eine Naturalisierung vorgenommen hat, weil wir als Zuschauer das Novum – den schrumpfenden Menschen – akzeptiert haben; dieser Vorgang lässt sich als Teil der gesamten Strategie der SF verstehen: Der Film ‚tut so‘, als sei das dargestellte Novum normal und plausibel. Die Narration des Films akzeptiert das Novum ebenfalls, sie nimmt dessen Perspektive ein und vollzieht auf diese Weise eine narrative Naturalisierung.10 5. Digitale Figuren In der formalen Operation der Naturalisierung wird ein Prinzip sichtbar, das als eigentliches Grundmoment jeder Form von Fiktion bezeichnet werden kann: Der Widerspruch, dass ich als Zuschauer etwas ‚glaube‘, von 9

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Die Widersprüche in Suvins Konzept haben – wie bei Todorov – ihre Ursache in einer grundlegenden theoretischen Blindstelle: Die formalistischen und strukturalistischen Modelle, von denen Suvin ausgeht, kennen das Konzept der ‚fiktionalen Welt‘ im Grunde nicht. Sie können nur beschreiben, wie erzählt wird, stellen aber keine Terminologie bereit, um die Ontologie der Handlungswelt zu beschreiben – genau in dieser Hinsicht unterscheiden sich wunderbare Gattungen aber von nicht-wunderbaren. In Konstitution unterscheide ich zusätzlich noch zwischen diegetischer Verfremdung wie im Beispiel von Soylent Green und formaler Verfremdung zweiter Ordnung, wie sie in Incredible Shrinking Man zu sehen ist. Die Verfremdung in Incredible Shrinking Man ist durchaus eine formale – normale Gegenstände werden auf ungewöhnliche Weise gezeigt –, sie ist aber eine Folge der Naturalisierung und wird erst durch diese möglich (209-16). Für meine Argumentation in diesem Artikel ist diese Unterscheidung aber unerheblich.

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dem ich weiß, dass es nicht wahr ist, jenes Paradox, das Samuel Coleridge einst als „willing suspension of disbelief“ bezeichnet hat (6). Streng genommen geht es dabei freilich nicht um Glauben oder Zweifel, denn kaum ein Zuschauer ‚glaubt‘ tatsächlich, dass die Ereignisse auf der Leinwand ‚wahr‘ sind.11 Was der Begriff „willing suspension of disbelief“ eigentlich bezeichnet, ist nicht Glaube, sondern emotionale Anteilnahme, das Einfühlen und Mitgehen, die Partizipation des Zuschauers (vgl. auch Cuddon 1044).12 Ob diese Anteilnahme gelingt, hängt von zahlreichen Faktoren ab; das individuelle Wissen und die Vorlieben des jeweiligen Zuschauers kommen dabei ebenso zum Tragen wie mediale und erzählerische Konventionen. Jedes Medium und jedes Genre kennt seine eigenen Regeln, an denen der Zuschauer die ‚Wahrheit‘ des Gezeigten misst. Dabei ist innere Konsistenz eines der wichtigsten Kriterien: Wenn die Figuren eines Films immer wieder spontan zu singen beginnen, weiß ich, dass ich ein Musical sehe, und passe meine Erwartungen entsprechend an. Wenn aber im Western der einsame Cowboy erstmals vor dem großen Schlussduell zum Singen ansetzt, wirkt das als Irritation. Ein wichtiger – wenn nicht sogar der wichtigste – Faktor für die Publikumspartizipation und der zentrale emotionale Anknüpfungspunkt sind die Figuren. Sie sind die primären Orientierungspunkte des Zuschauers, das Ein- und Mitfühlen in einen Film vollzieht sich ganz wesentlich über dessen Personal (Smith 17-39.) Und gerade in diesem Bereich wagt sich Avatar besonders weit vor, denn ein großer Teil seiner Figuren ist digital gestaltet. Schon in der Frühphase der Computergraphik wurden Versuche unternommen, digitalen Figuren menschliche Züge zu verleihen; die Filmwissenschaftlerin Barbara Flückiger spricht von einer eigentlichen Obsession (422).13 Dies obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – der menschliche Körper aufgrund seiner organischen Struktur eigentlich ungeeignet ist für die digitale Technik; besonders Haare und Haut sind äußerst schwierig zu erzeugen. Zudem ist die Wahrnehmung von menschlichen Körpern 11

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Man könnte sogar argumentieren, dass ein Zuschauer, der einen Spielfilm für wahr hält, nicht verstanden hat, was das Wesen von Fiktion ausmacht. Für Fiktion ist es konstitutiv, dass sie nicht dem Wahrheitsgebot – verstanden als Deckungsgleichheit mit den Ereignissen in der realen Welt – unterliegt. Zum Thema der emotionalen Anteilnahme in Filmen vgl. Smith. Smith wehrt sich entschieden gegen den oft verwendeten Begriff der ‚Identifikation‘, denn beim Sehen eines Films findet nicht eine einseitige und ausschließliche Identifikation mit einer Figur statt; vielmehr sind mehrere Ebenen des Mitfühlens involviert – Smith spricht von einer „Structure of Sympathy“ –, die unterschiedliche Figuren betreffen können und miteinander interagieren. Die folgenden Ausführungen zu digitalen Figuren basieren wesentlich auf Flückigers Überlegungen in Visual Effects; siehe dazu vor allem das Kapitel „Körper“ (417-67; englische Fassung des Kapitels unter ); speziell zu den digitalen Figuren in Avatar siehe Flückiger „Zur digitalen Konstruktion“.

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und Bewegungen besonders heikel, denn das Erkennen und Deuten von Mimik und übriger Körpersprache ist etwas, das wir von klein auf trainieren. Darüber hinaus ist das bereits angesprochene Problem der Konsistenz bei der Bewertung von Figuren gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits erwarten wir als Zuschauer eine gewisse Gleichförmigkeit innerhalb eines Films: Wenn ein Teil der Figuren von realen Schauspielern verkörpert wird, stellen digitale Figuren, die als solche erkennbar sind, einen Bruch dar; dieser Effekt lässt sich beispielsweise an Enki Bilals missglückter Comicverfilmung Immortel (ad vitam) beobachten, die menschliche und offensichtlich digitale Akteure mischt. Es ist deshalb kein Zufall, dass bei fast allen digitalen Figuren im Kino der 90er, die heute als gelungen gelten, das Un- beziehungsweise Nichtmenschliche betont wird. In Filmen wie Terminator 2, The Lawnmower Man oder The Mask, aber auch in neueren Beispielen wie dem Lord of the Rings oder Hulk wird die Schwäche gewissermaßen zur Stärke gemacht und das Fremdartige der digitalen Figur hervorgehoben. Konsistenz – wenn auch auf einer anderen Ebene – ist auch für einen Effekt ausschlaggebend, der sich an dem Film Final Fantasy besonders gut illustrieren lässt: Obwohl dessen Figuren oberflächlich photorealistisch echt wirken, fehlen ihnen typische menschliche Merkmale: „Sie atmen nicht und verfügen über ein sehr beschränktes Ausdrucksrepertoire, kurz: Sie wirken irgendwie tot“ (Flückiger, Visual Effects 456). Der Eindruck der Leblosigkeit und Distanz ergibt sich gerade aus der Differenz zwischen scheinbar realistischer Oberfläche und stilisiertem Verhalten. Flückiger vermutet, dass für die Bewertung einer Figur zentral ist, wie weit Verhalten und Erscheinungsbild auseinander liegen: Ist das Aussehen stilisiert oder übertrieben, muss dies auch für das Verhalten gelten; und umgekehrt bedingt ein organisches oder natürliches Aussehen entsprechende Bewegungen. Flückiger spricht von einer essenziellen Linie, die zwischen photorealistischen und stilisierten Darstellungen verläuft und die nicht überschritten werden darf: Erscheinungsbild und Verhalten müssen beide auf der einen oder anderen Seite dieser Linie zu liegen kommen; andernfalls entsteht ein unheimlicher Distanzierungseffekt, der auch als Uncanny Valley bezeichnet wird (ebd. 451-61). Wie Flückiger betont, sind aber keineswegs nur technische Faktoren für das Gelingen einer digitalen Figur ausschlaggebend, sondern auch und gerade die Frage, wie diese erzählerisch eingebunden werden. Flückiger schreibt zu Gollum aus Lord of the Rings, der allgemein als gelungenes Beispiel einer digitalen Figur gilt: Wichtigstes Verbindungsglied zwischen Verhalten und Erscheinungsbild ist […] weder die technische Konsistenz noch eine einheitliche Referenz, sondern die

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narrative Konstruktion der Figur, die auf einer starken Back-Story und einer intelligent konstruierten Persönlichkeitsstruktur gründet. (ebd. 452)

Ein weiterer ‚nicht-technischer‘ Aspekt, der in die Wahrnehmung einer Figur einfließt, ist ihre außerfilmische Präsenz. Denn Gollum wurde nicht rein digital, sondern mit einer Mischung aus Motion Capture und digitaler Animation erzeugt: Zuerst spielte der Schauspieler Andy Serkis alle Szenen und seine Bewegungen wurden mit einer ganzen Batterie von Kameras gefilmt und digital erfasst. Die digitalen Daten der Bewegungsabläufe dienten dann als Basis für die Animatoren. In der Vermarktung des Films wurde Serkis Anteil an der Figur betont, die Leistung der Animatoren dagegen eher vernachlässigt. Aus rezeptionspsychologischer Sicht jedoch war das ein cleverer Schachzug, denn indem diese Leistung einer Person attribuiert wird, erlangt die digitale Figur so etwas wie eine physische Präsenz, die weitaus konkreter ist als die abstrakte und unverständliche Tätigkeit eines Heers von Animatoren. (ebd. 460)

Gollum wurde so weniger als künstliche digitale Kreatur, sondern als Rolle des Schauspielers Serkis wahrgenommen – eine Strategie, die auch für Avatar wichtig ist. Bei der Produktion von Avatar ging man gegenüber dem Verfahren, das bei Lord of the Rings zum Einsatz kam, einige Schritte weiter. Zum einen hatten die Schauspieler von Avatar neben den bislang üblichen Motion-Capture-Kameras, die das Geschehen aus der Distanz aufzeichneten, noch jeweils eine kleine Kamera vor den Kopf montiert, die die Gesichtszüge filmte. Außerdem wurden die Motion-Capture-Daten bei Avatar im Gegensatz zu Lord of the Rings in Echtzeit weiter verarbeitet: Die Bewegungen der Schauspieler wurden direkt in die digitalen Körper der Na’vi überführt. Auf diese Weise wurde es möglich, dass Cameron in seiner ‚virtuellen Kamera‘ nicht die menschlichen Schauspieler sah, sondern eine digital erzeugte rohe Form der Na’vi samt digitaler Landschaft. Und wenn ein Schauspieler lächelte, erkannte die Software dies und erzeugte ‚in der Kamera‘ ein lächelndes Na’vi-Gesicht. Aus den Beschreibungen in den Medien und im Avatar-Presseheft konnte man leicht den Eindruck gewinnen, Cameron hätte in der Kamera – die eigentlich gar keine Kamera ist, sondern ein bewegungsempfindlicher Monitor, der die verzögerungsfrei berechneten Bilder anzeigt – bereits den fertigen Film gesehen. Das war aber keineswegs der Fall. Die Fachzeitschrift Cinefex zitiert den Koproduzenten Jon Landau folgendermaßen: „When Jim [Cameron] pointed the camera at Sigourney Weaver and looked into the camera, he wouldn’t see Sigourney Weaver – he would see a 1990s videogame version of Weaver’s Avatar character, in real time“ (Duncan 75). Im Making-of „Capturing Avatar“, das Teil der ‚Extended Collectorʼs Edition‘ ist, lassen sich die verschiedenen Stufen des

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Entstehungsprozesses genau nachverfolgen. Vergleicht man die frühe „Videospiel-Version“ einer Szene mit dem Endprodukt, wird schnell deutlich, wie groß der Unterschied zwischen den Motion-Capture-Daten und den fertigen Filmbildern ist. In den frühen Stufen sind die Gesichtszüge der Na’vi weitgehend unbeweglich, direkt umgesetzt werden vor allem die Bewegungen der Mundpartie. Nach dem eigentlichen Dreh wurden die Bewegungsdaten deshalb von einem Heer von Spezialisten noch einmal kräftig nachbearbeitet, letztlich wurden die Gesichtszüge der Na’vi dann doch größtenteils von Hand animiert. Hierbei dienten die erfassten Bewegungen und Gesichtszüge zwar als wichtigste Referenz, von einem automatischen Überführen der Bewegungen menschlicher Schauspieler in glaubhafte digitale Figuren sind wir aber noch immer weit entfernt. Dass eine Schauspielerin wie Zoe Saldana nicht einfach automatisch in die Na’vi Neytiri umgewandelt werden kann, kann nicht wirklich überraschen, wenn man die unterschiedlich geformten Gesichter im Detail vergleicht. Schon alleine die Augen unterscheiden sich in Größe, Abstand und Farbe markant, aber auch die gesamte Gesichtsgeometrie weist deutliche Unterschiede auf; ganz zu schweigen von Körperteilen wie den Spitzohren oder dem Schwanz, die dem Menschen gänzlich fehlen und die auf jeden Fall nachträglich animiert werden müssen. Dennoch spricht Cameron wohl nicht ohne Grund bevorzugt von ‚Performance Capture‘ anstatt von ‚Motion Capture‘;14 der Begriff betont, dass die Schauspieler nicht bloß als Lieferanten der Bewegungsdaten dienen, sondern dass wirklich ihr ganzes Spiel erfasst wird.15 Auch die Presse wurde 14

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Der Begriff ‚Performance Capture‘ wurde erstmals im Zusammenhang mit dem Film The Polar Express (2004) verwendet und bezeichnet ein Verfahren, bei dem die Mimik gleichzeitig mit den übrigen Körperbewegungen erfasst wird (Flückiger, Visual Effects 449). Der Ansatz geht von der Überlegung aus, dass die übrigen Bewegungen des Körpers Einfluss auf die Mimik haben und dass die verschiedenen Bewegungen deshalb nicht getrennt erfasst werden sollten. Dieser integrierte Ansatz konnte bei Avatar schließlich nicht konsequent umgesetzt werden: Da die Aufnahmen der kleinen Gesichtskamera wegen der Nähe einen verzerrten Fischaugenlook aufwiesen und nur eine Perspektive zeigten, waren sie für die Animatoren als Anhaltspunkt weitgehend unbrauchbar. Stattdessen wurden dann doch gesonderte Nahaufnahmen des Gesichts gemacht, bei denen die Schauspieler den gesamten Dialog noch einmal sprachen (Duncan 135), womit die Grundidee hinter der Performance Capture wieder aufgegeben wurde. Zusätzlich standen den Animatoren noch HD-Aufnahmen der Szenen zur Verfügung, die parallel zur Performance Capture aufgenommen wurden. Diese Aufnahmen waren als Referenz für die Gestaltung der Gesichter essenziell. Wie die Filmwissenschaftlerin Kristin Thompson in einem Blogeintrag feststellt, lässt sich bei den Na’vi keine klare Grenze mehr ziehen zwischen Schauspiel und Spezialeffekt. Deshalb ist es für Thompson auch nachvollziehbar, dass Schauspieler wie Saldana und Serkis nicht für den Oscar nominiert werden können: „With all the kinds of changes that I’ve pointed out, how would Academy members be supposed to judge these performances were they to be nominated in the traditional acting categories? Where is the boundary between acting and special effects? Despite actors’ and directors’ claims to the contrary, the movements and expressions caught by performance capture are changed in many obvious

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gezielt mit entsprechenden Informationen gefüttert: So gibt Cameron in einem kurzen Film, der Teil des Pressematerials war, folgendes Statement ab: „Every nuance, every tiny bit of the performance that you see on the screen was created by the actors.“ Sam Worthington bläst ins gleiche Horn: „The most exciting thing is: It is my performance. This thing walks and talks and acts like me. It’s my interpretation“ („Performance Capture Featurette“). Wie schon bei Gollum dürfte es dem Zuschauer durch das Hervorheben der schauspielerischen Leistung auch bei Avatar leichter fallen, die Figur zu akzeptieren. Deshalb ist es auch von großer Wichtigkeit, dass die Na’vi die Gesichtszüge der jeweiligen Schauspieler tragen. Gerade im Fall der Avatare ist ja eigentlich nicht recht einzusehen, warum diese künstlich erzeugten Geschöpfe die gleichen Gesichter wie ihre ‚Piloten‘ aufweisen sollen, denn der übrige Körperbau unterscheidet sich ja teilweise markant. Die Kontinuität zwischen Schauspielern wie Worthington und Weaver und ihren jeweiligen Avataren erleichtert es uns aber, Letztere als Figuren zu akzeptieren. Zugleich sind die Na’vi vom Körperbau her doch genug anders, dass wir nicht menschliche Maßstäbe ansetzen.16 Dass diese Kontinuität von den Filmemachern gezielt angestrebt wurde, zeigt sich an der von Weaver gespielten Figur Grace respektive an deren Avatar besonders deutlich. Im Gegensatz zu Worthington und Saldana ist Weavers Nase klein und spitz und unterscheidet sich somit deutlich von der typischen Na’vi-Nase, die breit und flach ist. Cameron wird dazu in Cinefex folgendermaßen zitiert: But [Weaver] has a very narrow, patrician nose; and the second we tried to put that wide Na’vi nose on her, you lost her. You couldn’t tell it was Sigourney Weaver anymore. So we had to go through many iterations […]. We just gave Grace’s avatar Sigourney’s nose, and it worked fine because the character still had the big eyes and other features. (Duncan 110)

Gerade im Falle von Weaver wäre ein sichtbarer Bruch zwischen Darstellerin und digitaler Figur besonders problematisch gewesen: Einerseits ist sie in Avatar – im Gegensatz etwa zu Saldana – sowohl als menschliche Figur als auch als Avatar zu sehen; die Kontinuität musste also auch innerhalb des Films gewahrt werden. Zudem ist Weaver eine bekannte Schau-

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and not so obvious ways.“ Der Entertainment-Weekly-Journalist Mark Harris geht in einem Kommentar sogar noch weiter und meint: „Neytiri is a superb visual effect enhanced by an actor“. In der Entwurfsphase entstanden auch Versionen der Na’vi, deren Körperbau stark vom menschlichen abwich, beispielsweise wurde die Anzahl der Augen variiert. Am Ende entschied man sich für eine gemäßigte Variante, da man befürchtete, den Zuschauern würde dadurch eine emotionale Bindung erschwert. Im Laufe der Produktion wurden die Gesichter der Na’vi allmählich noch stärker vermenschlicht, da sonst der Unterschied zur Mimik der Schauspieler zu groß gewesen wäre und man die Performance-Capture-Daten nicht mehr in die Na’vi-Gesichter hätte überführen können (Duncan 75-137).

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spielerin und als Hauptdarstellerin der Alien-Reihe eine Ikone des SF-Kinos; sie digital unkenntlich zu machen, wäre eine regelrechte Verschwendung gewesen. 6. Verfremdung in Avatar Das Prinzip der Naturalisierung ließ sich an Avatar sehr anschaulich vorführen – wie steht es nun mit der Verfremdung? Betrachtet man die Konstellation des Plots, scheint Camerons Film zahlreiche Gelegenheiten für starke Verfremdungsmomente zu bieten: Er spielt in einer unbekannten Welt, die von fremdartigen Wesen bewohnt wird – für das Zusammenprallen zweier Realitätssysteme scheint es hier reichlich Gelegenheit zu geben. Interessanterweise nutzt Avatar sein zweifellos vorhandenes Verfremdungspotenzial aber kaum; insgesamt wirken die Na’vi erstaunlich vertraut. Was wir von der sozialen Organisation und den sonstigen Bräuchen mitkriegen, wirkt kaum fremdartiger als ein durchschnittlicher Indianerstamm in einem Western. Der Film zelebriert zwar die Exotik von Pandora, scheint aber zugleich darauf bedacht, die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Na’vi zu betonen und Unterschiede abzuschwächen. So führt der Film den Zuschauer sehr behutsam an die Na’vi heran. Die erste ‚Blauhaut‘, die wir zu Gesicht kriegen, ist kein Eingeborener Pandoras, sondern Jakes Avatar, der zu Beginn noch in einer Glasröhre schwimmt. Anschließend entdecken wir gemeinsam mit Jake den neuen Körper; die Handlung baut auf diese Weise eine ideale Brücke, die den Übergang so reibungslos wie möglich macht. Es dauert gut eine halbe Stunde, bis mit Neytiri die echte ‚reine‘ Na’vi auftritt; zu diesem Zeitpunkt haben wir uns längst an die ungewohnten Figuren gewöhnt. Die Tendenz, die Unterschiede zwischen Menschen und Na’vi herunterzuspielen, zeigt sich schon bei ganz banalen Dingen: So verzichtet der Film weitgehend darauf, den Größenunterschied zwischen den Menschen und den rund zweieinhalb Meter großen Na’vi effektvoll in Szene zu setzen. Während ein Film wie The Incredible Shrinking Man seine Wirkung gerade aus dieser Gegenüberstellung zieht, nutzt Avatar diese Differenz kaum aus. Zwar gibt es einige Szenen, in denen Menschen und Na’vi gemeinsam auftreten, aber wirklich zum Tragen kommt der Größenunterschied meiner Meinung nach einzig in der Schlusssequenz, als die Menschen unter Aufsicht der Na’vi abziehen und in der die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Spezies bewusst betont wird. Während der ausführlichen Kampfsequenz zuvor nimmt man den Größenunterschied dagegen nur an wenigen Stellen wahr, denn der Kampf findet fast nie von Mann zu Mann – respektive von Mann zu Na’vi – statt. Vielmehr sind die

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Na’vi reitend oder fliegend unterwegs und die Menschen in Helikoptern oder Kampfrobotern, was dem Zuschauer das Einschätzen der Größenverhältnisse erschwert. Ein weiteres potenzielles Verfremdungsmoment, das kaum ausgereizt wird, ist die Situation der Hauptfigur. Jake wäre als Figur zwischen den Welten eigentlich dazu prädestiniert, die Andersartigkeit der Na’vi am eigenen Leibe zu erfahren. Der neue Körper, der mit Schwanz und Haarfühlern doch ziemlich ungewohnt sein muss, passt aber von Anfang an wie angegossen, echte Adaptionsschwierigkeiten hat Jake nach ersten unsicheren Schritten keine. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass der Avatar ursprünglich ja gar nicht für ihn, sondern für seinen Zwillingsbruder entworfen wurde, und dass Jake auch kein Avatar-Training absolvieren konnte. In dieser Hinsicht sind die Unterschiede zu Poul Andersons eingangs erwähnter Kurzgeschichte „Call Me Joe“ frappant: Auch bei Anderson steuert ein Paraplegiker ein künstlich gezüchtetes Wesen auf einem fremden Planeten. Anders als Avatar dreht sich „Call Me Joe“ aber fast ausschließlich um die Adaptationsprobleme des Protagonisten. Während wir bei Avatar nur kurz mitkriegen, dass sich Jake kaum mehr wäscht und sehr hastig isst, um möglichst schnell wieder in seinen Na’vi-Körper zurückkehren zu können, findet in „Call Me Joe“ ein eigentlicher Verdrängungskampf zwischen den beiden Identitäten der Figur statt, und entsprechend werden auch Fragen zum Wesen von Persönlichkeit aufgeworfen. Für Jake dagegen sind die unterschiedlichen Körper im Grunde nur Hüllen, zwischen denen er fast nahtlos hin- und hergleiten kann. Der einzige Konflikt, den Jake austrägt, ist moralischer Natur: Er weiß, dass er in den Augen der Na’vi als Verräter erscheinen muss. Selbst dieses Problem wird aber in ein einigen wenigen Szenen abgehandelt, alles, was darüber hinaus geht, wird nur angedeutet. Jakes ‚Na’vifizierung‘ vollzieht sich insgesamt erstaunlich flüssig, sogar Sex mit einem nicht-menschlichen Wesen scheint ihn nicht weiter zu irritieren; von Nervosität vor seinem ersten Mal als Na’vi ist auf jeden Fall nichts zu merken.17 Ebenso konfliktfrei verläuft die Szene nach dem großen Schlusskampf, als Neytiri den – menschlichen – Jake in ihren Armen hält. Dass Neytiri ihren Geliebten zum ersten Mal in Menschengestalt sieht, scheint sie keinen Moment lang zu beschäftigen. Durch ihre kniende Pietà-Haltung scheint der Größenunterschied zudem weniger ausgeprägt als in der unmittelbar folgenden Szene, in der die Menschen abziehen. 17

In der ‚Extended Collector’s Edition‘ wurde die Liebesszene geringfügig verlängert. Neu verbindet Neytiri nun zu Beginn des Liebesakts ihre Haarfühler mit denen Jakes, was dieser mit einem Stöhnen quittiert. Auch diese für Menschen doch sehr ungewohnte Spielart des Geschlechtsaktes wirkt nicht sonderlich verstörend – weder für Jake noch für den Zuschauer –, sondern ist wie ein ‚normales‘ Vorspiel inszeniert.

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Kleine Verfremdungsmomente gibt es in Avatar sehr wohl, beispielsweise wenn Jake die Pflanzenwelt erforscht oder auf furchteinflößende Tiere stößt, doch die großen Reibungspunkte werden gemieden. Cameron und sein Team mögen noch so viel Energie in die Erschaffung der außerirdischen Tier- und Pflanzenwelt investiert haben, Pandora wirkt auf Jake dennoch nie fremder als eine Urlaubsreise in ein exotisches Land. Das ist keineswegs zufällig: Die Macher von Avatar vermieden auch bei der Gestaltung des Waldes zu viel Fremdheit. Beispielsweise hatte Cameron ursprünglich vorgesehen, das Licht im Wald türkis zu tönen, was zu einem sehr ungewohnten Look und zu Problemen mit den traditionellen Beleuchtungstechniken geführt hätte. Deshalb näherte sich das Design des Waldes im Laufe der Produktion wieder dem vertrauten Grün an. 7. Fazit James Cameron hat mit Avatar mal wieder einen Standard gesetzt. So avanciert die eingesetzte Technik aber auch sein mag, für einen Film, der seine ganze Energie darauf verwendet, eine fremde Welt zu entwerfen, erzeugt Avatar erstaunlich wenig Verfremdung, denn er verzichtet weitgehend auf eine Konfrontation wirklich fremder Elemente. Die Sphären der Na’vi und der Menschen sind die meiste Zeit getrennt und ein echtes Zusammentreffen, das über den Kampf auf Leben und Tod hinausginge und somit auch Raum für Verfremdung bieten würde, findet so gut wie nie statt. Dass die Verfremdungswirkung so moderat ausfällt, liegt vor allem daran, dass der Protagonist fast immer den ‚passenden Körper‘ für das jeweilige Umfeld hat: Im Basislager ist er Mensch, im Urwald Na’vi. Auf diese Weise können seine Anpassungsschwierigkeiten auf ein Minimum reduziert werden. Man stelle sich nur mal vor, mit welchen Problemen ein Mensch an der Stelle von Jakes Avatar zu kämpfen hätte … Dass Avatar so wenig verfremdende Momente aufweist, ist letztlich ein Nebeneffekt des behutsamen Einsatzes der digitalen Figuren. Möglicherweise schwingt hier auch die Angst mit, dass die Na’vi, die für sich als Figuren zwar überzeugend wirken, in Kombination mit echten Schauspielern für Irritationen sorgen könnten – dass also die Verfremdungswirkung, die aus dem Zusammentreffen entstehen würde, die digitalen Figuren weniger überzeugend erscheinen lassen könnte. Cameron scheint sich des Risikos, das eine zu starke Verfremdungsstrategie mit sich gebracht hätte, durchaus bewusst gewesen zu sein. Vielleicht war es sogar seine Absicht, die Reibungsflächen zu minimieren – besonders bei den digital erzeugten Na’vi. Schließlich musste Avatar seine enormen Produk-

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tionskosten auch wieder einspielen, und dies gelingt mit Filmen, die zu große Irritationen vermeiden, in der Regel besser. Literaturverzeichnis Altman, Rick. Film/Genre. BFI: London, 2000. Anderson, Poul. „Call Me Joe“. Masterpieces: The Best Science Fiction of the Twentieth Century. Hg. Orson Scott Card. New York: Ace, 2004. 7-35. Barthes, Roland. Mythen des Alltags. Übers. Helmut Scheffel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1964. Bloch, Ernst. „Entfremdung, Verfremdung“. Verfremdungen I. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1962. 81-90. Brecht, Bertolt. „Kleines Organon für das Theater“. Gesammelte Werke. Bd. 16. Schriften zum Theater 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1967. 659-700. Cameron, James. Avatar: Scriptment. Web. 20.12.2010. . Coleridge, Samuel Taylor. The Collected Works of Samuel Taylor Colerdige. Bd. 7.2: Biographia Literaria, or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions. Hg. James Engell und W. Jackson Bate. New York: Routlegde, 1983. Cuddon, J.A., Hg. A Dictionary of Literary Terms and Literary Theory. Oxford: Blackwell, 1992. Duncan, Jody „The Seduction of Reality“. Cinefex 120 (2010): 68-146. Egger, Christoph „In den Labyrinthen des Virtuellen“. Neue Zürcher Zeitung. 17.12.2009: 51. Faraci, Devin. „Project 880: The Avatar That Almost Was“. Chud.com. 27. 12.2009. Web. 25.02.2011. . Flückiger, Barbara. Visual Effects: Filmbilder aus dem Computer. Schüren: Marburg, 2008. —. „Zur digitalen Konstruktion und Animation von Körpern in Benjamin Button und Avatar“. Film im Zeitalter Neuer Medien II: Digitalität und Kino. Hg. Harro Segeberg. München: Fink. [Im Druck]. Harris, Mark. „Mark Harris on the ‚Acting‘ in Avatar“. Entertainment Weekly. 22.01.2010. Web. 02.03.2010. . Knorr, Wolfram. „Rhapsody in Blue“. Weltwoche 51 (2009): 71. Landon, Brooks. The Aesthetics of Ambivalence: Rethinking Science Fiction Film in the Age of (Re)Production. Westport: Greenwood, 1992. Le Guin, Ursula K. The Word for World is Forest. New York: Tor, 2010.

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Der erste Raumschiffbruch der Geschichte George Méliès Filme metaphorologisch betrachtet JÖRG HARTMANN History’s First Space Wreck. George Méliès’ Films from a Metaphorological Perspective Fantasies of man travelling into space form a main part of the popular movie genre ‘Science Fiction’. These celluloid visions are not only fantasies of improving transportation; they also convey a meaning in a figurative sense. They can be seen as a modern adoption of one of humanity’s oldest metaphors, ‘life as a sea voyage’. The meaning which was once expressed by this ‘nautical metaphor’ has been transferred and can nowadays be found in films which show astronauts crossing the frontier from the known into the unknown space. In order to examine their attitude towards technological progress in the early 20th century, the two oldest space travel movies, Le Voyage dans la Lune (F 1902) and Le Voyage a Travers L’Impossible (F 1904) will be analyzed.

1. Weltraum und Fiktion Lange vor der Realisierung der Raumfahrt im 20. Jahrhundert wird der Topos des Aufbruchs des Menschen ins All in literarischen, später auch filmischen Werken fiktional vorweggenommen. Die Geschichte der Raumfahrtfiktion erstreckt sich von den Beschreibungen kosmischer Reisen der griechischen Antike über die von christlicher Geozentrik geprägten Himmelsreisen des Mittelalters bis in die Neuzeit, die das Weltall nach der kopernikanischen Wende als zu erforschendes Infinitum entdeckt. In diesen künstlerischen Bearbeitungen spiegeln sich die jeweils aktuellen Selbstbilder, die der Mensch von sich und seiner vermuteten Stellung in (Welt-)Raum und Zeit entwirft. Unmittelbar mit diesen Spekulationen verbunden sind die Diskursbereiche Religion und Wissenschaft sowie Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik. So kommt es mit der Durchsetzung eines eher rational geprägten Weltbildes im Zuge der Renaissance auch zu einer Öffnung des bis zum Ausklingen des Mittelalters von heilsgeschichtlicher Teleologie geprägten Geschichtsdenkens. Fiktionale Entwürfe einer Vielzahl mögli-

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cher Zukünfte, in denen Wissenschaft und Technik eine zentrale Rolle spielen, werden häufiger. Ausgehend von den Planetenromanen der Renaissance und der Aufklärung sowie den Ballonflugvisionen der Romantik verdichten sich diese Erzählkomplexe bis zu den an der Schwelle zum 20. Jahrhundert stehenden, mit technischer Extrapolation und (Pseudo-)Wissenschaftlichkeit argumentierenden ‚Voyages extraordinaires‘ Jules Vernes und den ‚Scientific Romances‘ H.G. Wells’. Hier wird das Motiv der phantastischen Reise adaptiert und an eine Leserschaft, die weniger an Magie als an technischen Fortschritt glaubt, angepasst. Verne und Wells liefern als Vertreter einer frühen literarischen Science Fiction in ihren Romanen auch das Ausgangsmaterial erster filmischer Raumreisedarstellungen. Der Filmpionier George Méliès vermengt zu Beginn des 20. Jahrhunderts Motive aus Vernes De la Terre à la Lune und Wells’ First Men in the Moon und erschafft daraus den 1902 uraufgeführten Film Le Voyage dans la Lune. Zwei Jahre später greift Méliès das Erzählmuster der phantastischen Reise erneut auf und präsentiert mit Le Voyage à travers l’Impossible einen weiteren Film, in dem die für unmöglich gehaltene astronautische Evasion vor den Augen der Zuschauer Wirklichkeit zu werden scheint. Die filmisch dargestellten Ausbrüche des Menschen aus seiner unverschuldeten Erdansässigkeit gelingen in diesen Werken aber nicht reibungslos. Die gezeigten Fahrten gestalten sich vielmehr, besonders in Bezug auf belebte Räume (Haus, Auto, Zugwaggon, U-Boot, Strand), so destruktiv, dass sich die Frage stellt, ob sich hinter den gezeigten Fragmentierungen auch ein metaphorischer Sinngehalt verbirgt. 2. Nautische und astronautische Metaphorik Generell imaginieren Erzählungen vom Aufbruch ins All nicht einfach nur Verbesserungen des Verkehrswesens. Sie stehen mit den in ihnen vollbrachten Raumerschließungen in gleich mehrfacher Weise in kulturgeschichtlichen Traditionen: Das Motiv der Raumschifffahrt erhält seine enorme Bedeutungsaufladung aus dem Umstand heraus, dass der Raum, in und durch den sich ihre Vehikel bewegen, bereits in archaischen Zeiten Projektionsfläche mythologischer Sinnzuschreibungen wurde; die Erkundung des Kosmos gehört zu den ältesten Bedürfnissen des Menschen. Die astronomische Erforschung des Sternenhimmels durch Thales steht auch am Anfang der Philosophie und bildet damit den Ausgangspunkt für das heute in viele Einzeldisziplinen ausdifferenzierte Welterklärungssystem ‚Wissenschaft‘. Neben der Sternenschau trägt die der Weltraumbefahrung vorausgehende Befahrung des Meeres per Schiff und deren Verwendung

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als Metapher zur Semantisierung kosmischer Exkursionen bei. Das Artefakt Schiff ermöglicht die Konfrontation des Bekannten mit dem Unbekannten und Motive aus dem Bereich der Seefahrt werden seit der griechischen Antike zur Illustration der wagnisreichen ‚Lebensreise‘ des Menschen verwendet. Auch noch früher, in einer der ältesten der Weltliteratur überlieferten Schriften, im Gilgamesch-Epos, lässt sich diese Verquickung der Konstituenten Meer-Leben-Schiff finden. Sie zieht sich durch die gesamte Geschichte des westlichen Kulturkreises und setzt sich bis in die Bild gewordenen Zukunftsträume im Science Fiction-Film des 21. Jahrhunderts fort. Die Frage, ob der mit dem Artefakt Schiff technisch ermöglichte Aufbruch positiv oder negativ bewertet wird, wird im historischen Verlauf unterschiedlich beantwortet. Den Sinnbesetzungen, die der raumgreifende Grenzübertritt vom sicheren Festland in die schwankende Sphäre des Meeres erfährt, geht Hans Blumenberg in seiner Schrift Schiffbruch mit Zuschauer nach. Er verfolgt darin die Tradierung der titelgebenden Metapher in einem diachronen Zugriff, sammelt ihre unterschiedlichen Ausprägungen und unterzieht diese dann einer vergleichenden Analyse. Die zu erkennenden Bedeutungsverschiebungen bringt er anschließend mit kulturgeschichtlichen Entwicklungen in Zusammenhang. Mit dieser von ihm als ‚Metaphorologie‘ bezeichneten Methode versucht Blumenberg „an die Substruktur des Denkens heranzukommen“ (Paradigmen 23). Für die Metaphorik der Schifffahrt arbeitet Blumenberg drei historische Bedeutungsgehalte heraus. In griechisch-römischer Antike sowie im europäischen Mittelalter stellt die Schifffahrt demnach ein Eindringen in die dämonisierte Sphäre des Meeres und somit eine unzulässige Grenzverletzung dar. Der Schiffbruch erscheint deshalb als „die ‚legitime‘ Konsequenz der Seefahrt“ (Schiffbruch 13). Im Zuge der Aufklärung erfährt die nautische Metapher jedoch die entgegengesetzte Wertung: Der Aufbruch ins Unbekannte ist nun positiv konnotiert und dient als Bild für die Legitimation der wiederentdeckten und fortschrittsorientierten ‚curiositas‘. In dieser Hinsicht erscheint das Risiko, Schiffbruch zu erleiden und unterzugehen, als der der Neugier zu entrichtende Preis. Noch eine dritte Variante dieser Daseinsmetapher entdeckt Blumenberg. Mit Pascals Dictum vom ‚vous êtes embarqués‘ lässt er ihre Tradierung im 17. Jahrhundert beginnen. Das Bild des Seit-jeher-eingeschifft-seins ohne die Aussicht, jemals feste Ufer erreichen zu können, dient in seiner Verabsolutierung zum „postkolumbianischen Ontologikum“ (Timm 63) als Ausdruck der ‚condition moderne‘ aus metaphysischem Ordnungsschwund und humaner Selbstbehauptung. Die Herausforderung der Moderne, die derjenigen der Nautik am ehesten vergleichbar ist, führt über die Aero- zur Astro-Nautik. Auch in den Reisen, die in Raumschiff-Filmen gezeigt werden, gelangen die Prota-

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gonisten mit Hilfe eines ‚Schiffs‘, dem ‚Raumschiff‘, vom bekannten in den unbekannten Raum. Ähnlich wie der ‚okeanos‘ der griechischen Antike, stellt auch der atmosphärische Himmel, bzw. das Universum den die Erde ‚umfließenden‘ Raum dar und wurde lange Zeit als Sitz der Götter angesehen. Das Auslaufen des Schiffes in die Weite der offenen See findet sich, in die Vertikale verlagert, als Abheben des Raumschiffes ins unbegrenzte All wieder. Dort findet die Reise ihren räumlich nicht zu überbietenden, astronautischen Höhepunkt. In der Rezeptionsgeschichte dieser Denkbilder spiegeln sich nicht nur technikgeschichtliche Entwicklungen. Die Redefiguren, Bildmotive und Zukunftsvisionen der Raumfahrt verleihen als „Symptom kognitiver Modelle mit allgemeinem Orientierungscharakter, welche dem einzelnen Sprecher in der Regel unbewusst bleiben“ (Jäkel 129) auch den mit den jeweils aktuellen Innovationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verbundenen Hoffnungen und Befürchtungen Ausdruck. 3. Kino und Raumerschließung Die Frühphase der Kinematographie fällt in das Ende des 19. Jahrhunderts. Damit entsteht diese neue Form der populären Unterhaltung in einem technikgeschichtlichen Kontext, der sich durch radikale Umbrüche im Verkehrswesen (Eisenbahn, Automobil, Flugzeug) und der Kommunikation (Telegraf, Kamera) auszeichnet. Innerhalb dieses Modernisierungsschubes bilden sich auch neue ästhetische Perspektiven auf die Welt heraus. Die neuartigen Sichtweisen finden in Méliès’ Filmen ihre visuelle Entsprechung. Er nimmt das Sprachbild des technischen ‚Aufbruchs‘ beim Wort und setzt ihn auf vielfache Weise als intradiegetische Fragmentierungsvorgänge ins Bild. Wie die Gebrüder Lumière greift auch Méliès die Faszination seiner Epoche für das Reisen und die Errungenschaften im Verkehrswesen auf. Doch während sich die Lumières auf eher dokumentarische Momentaufnahmen der Gegenwart beschränken, verzaubert Bühnenmagier Méliès sein Publikum mit wunderbaren Geschichten, die die Grenzen der Realität weit hinter sich lassen. Es ist das Motiv der Weltraumreise dem Méliès seine noch heute bestehende Popularität zu großen Teilen verdankt. In seinem bekanntesten Werk Le Voyage dans la Lune zeigt er eine Gruppe von Wissenschaftlern, die zum Mond aufbricht. Als Protoraumschiff kommt dabei ein überdimensioniertes, bemanntes Kanonenprojektil zum Einsatz. Das ‚Raumschiff‘ schießt ins Auge des durch Anthropomorphisierung in die Lebenswelt des Menschen eingemeindeten ‚Mondgesichts‘ und bleibt dort

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stecken. In diesem „zur Ikone der Filmgeschichte gewordenen Stil“ (Brons 8) lunarer Penetration kehrt sich die traditionelle, nach der Einführung des Teleskops durch Galilei zwar erweiterte, aber noch immer erdbasierte Sichtweise um. Zur kosmologischen (Kopernikus) und philosophischen (Kant) Sichtweise gesellt sich die durch die Kinematographie ermöglichte visuelle ‚kopernikanische Wende‘; im Medium Film sieht der potentielle Rezipient und kann er sich sehen, wie Brons erläutert: Die Bilder der Le Voyage dans la Lune und ihr Nachleben veranschaulichen in paradigmatischer Weise, dass Darstellungen des Weltalls und der Himmelskörper einen weiten kunst- und kulturgeschichtlichen, wissenschafts- wie medienhistorischen Horizont haben, der nicht nur den engeren Bereich der Science Fiction umfasst, sondern sämtliche Darstellungen des Himmels und seiner Strukturen bestimmt. (8)

In Le Voyage à travers l’Impossible dient ein Zug als raumschiffähnliches Transportmedium. Dieser schießt mit einer solchen Geschwindigkeit das alpine Jungfraujoch hinauf, dass ihm der Bergrücken zur Startrampe ins All gerät. Hinter der vordergründigen Komik und Trickbesessenheit finden in diesen Filmen sowohl die ambivalent bewerteten technologischen Neuerungen des Verkehrswesens, wie auch die sozialen Umbrüche der französischen Gesellschaft am Übergang von traditionsorientierter ‚Belle Epoque‘ in die fortschrittsaffine Moderne ihre Verbildlichung. Der ‚bahnbrechende‘ Aspekt dieser Innovationen zeigt sich einerseits als bis ins Kosmische reichende Erweiterung des bekannten Raums, andererseits als zunehmende Zerstörung gewohnter Räumlichkeiten. So übertrifft Le Voyage à travers l’Impossible seinen Vorgänger nicht nur in der damals ‚epischen‘ Länge von 20 Minuten, auch in der Zahl der gezeigten Zusammenstöße, Kollisionen und Frakturen findet eine enorme Steigerung statt. Das Tableau der Eingangsszene zeigt ähnlich wie Le Voyage dans la Lune eine wissenschaftliche Gesellschaft, die den Entschluss fasst, zu einer Expedition aufzubrechen. Es sind die Mitglieder der ‚Gesellschaft für inkohärente Geographie‘, die die Erde umrunden wollen. Dies soll ihnen mit Hilfe einer Kombination modernster Fortbewegungsmaschinen, deren Planung der Ingenieur Mabuloff übernommen hat, gelingen. Am Bahnhof treffen sich die Expeditionsteilnehmer, gekleidet in Gehrock und Pelz und ‚ausgerüstet‘ mit voluminösen Koffern zur Abfahrt. Es scheint nicht die Aussicht auf handfeste Feldforschung zu sein, mit der die Männer und Frauen in den Zug steigen, sondern eine Abenteuerlust, die bis zum Tourismus abgeschwächt ist. „Die Reise in eine mit der Eisenbahn erreichbare Gegend erscheint als nichts anderes denn der Besuch eines Theaters oder einer Bibliothek [...] Die Landschaft, die man mit dem Billet erwirbt, wird zur Vorstellung“ (Schivelbusch 40).

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Dem Filmpublikum bietet sich das Reiseschauspiel aus der Perspektive eines Theaterbesuchers. Méliès positionierte die Kamera für seine Filmaufnahmen an der Stelle im Raum, die dem besten Sitzplatz im TheaterParkett entsprach. Da die Kamera nicht bewegt wird und weder Ortswechsel noch Schwenks oder Kamerafahrten stattfinden, bleibt der gezeigte Ausschnitt immer der der Guckkastenbühne. Trotzdem wird das gefilmte Schauspiel zum Schauspiel-Film, denn Méliès arbeitet mit Tricks, die nur im Filmmedium möglich sind: Die Zeit, die das Theater für den Umbau zwischen den Szenen benötigt hatte, entfällt für den Filmzuschauer, da die Kamera währenddessen nicht aufzeichnet. Die Unterbrechung und spätere Fortführung der Aufnahmen täuscht bei der Projektion eine Kontinuität vor, die innerhalb eines gewöhnlichen Raum-Zeit-Kontinuums unmöglich wäre. Das Kino selbst wird zur ‚Zeitmaschine‘, indem es die im späteren Filmprodukt dargestellte Zeit von der realen Chronologie seines Produktionsprozesses abkoppelt. In dieser Irritation des als fest geglaubten Raum-Zeit-Verhältnisses, ähnelt die Filmvorführung wiederum der Erfahrung des Zugreisenden. Sowohl durch die jeweils neue Generation von Bewegungsmaschinen von der Eisenbahn bis zur Rakete als auch durch die jeweils neue Mediengeneration von der Fotografie bis zum Computer werden die jeweils gültigen Parameter von Raum und Zeit, von raumzeitlicher Nähe und Ferne revolutioniert und neue Zusammenhänge in Raum und Zeit gestiftet. (Großklaus 120)

Eine der Folgen vehikularer Beschleunigungstendenzen im 19. Jahrhundert wurde als die ‚Schrumpfung des Raums‘ bezeichnet: In kürzerer Zeit konnte nun mehr Strecke zurückgelegt werden. Entsprechend befindet sich der Zug, den die Filmreisenden bestiegen haben, schon im nächsten Tableau in einer Gebirgslandschaft. Dort bewegt sich der Zug über eine Brücke. Die zur Infrastruktur des Eisenbahnnetzes gehörende Brücke ist, ähnlich wie die Eisenbahn selbst, Stahlkonstrukt und Produkt der technischen Moderne. Sowohl Vehikel als auch Trasse dienen dazu, Raum zu überwinden. Die zu sehende Brücke weist eine Stahlfachwerk-Architektur auf, die an die Konstruktionen Eiffels erinnert. Stahl erlangte für den Brückenbau Bedeutung, da mit diesem Werkstoff größere und höhere Querungen gebaut und so zwei sich gegenüberliegende Orte effektiver miteinander verbunden werden konnten. Ein Zug, der sich auf einer Brücke befindet, hat den festen Grund bereits ansatzweise verlassen und die Sicherheit der Ebenerdigkeit gegen den Zeitgewinn der kürzeren Strecke eingetauscht. Das ikarische Moment im Höhenerlebnis der Brückenüberquerung rückt die Zugfahrt an den Grenzübertritt der Lufteroberung heran. Der Brückenbau, der die vorgefundenen geografischen Bedingungen nicht anerkennt und die Abkürzung per ‚Luftlinie‘ sucht, ist ein ständig vom Scheitern bedrohter Versuch des Menschen, sich über die Vorgaben

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der Natur zu erheben. Er kann verglichen werden „mit dem Verstoß gegen die Unverletzlichkeit der Erde […], das Gesetz der terra inviolata, das etwa den Durchstich durch Landengen, […] die einschneidende Veränderung also des Verhältnisses von Land und Meer, zu verbieten schien“ (Schiffbruch 72). Das 19. Jahrhundert war nicht nur die Epoche der Schiffbrüche, es kam auch immer wieder zu Aufsehen erregenden Katastrophen der Zugfahrt und des Brückenbaus. So kostete der Einsturz der schottischen Tay Bridge, die die Mündung des Tay Rivers in die Nordsee überbrückt, im Jahr 1879 mehrere hundert Menschen das Leben. Auf drastische Weise zeigte sich in diesem Unfall eine Grenze technischen Fortschritts. In Le Voyage à travers l’Impossible gelingt die Überfahrt. Eine Dampflok zieht das Personenabteil, auf Anhängern befinden sich ein Auto, eine Kühlkammer sowie ein U-Boot; zudem sind zwei Ballons am Zug befestigt. Das Überschreiten der Grenze vom städtischen Zentrum in die Peripherie der Alpenwelt gelingt in Le Voyage à travers l’Impossible mit einer Kombination dieser, zur damaligen Zeit hyper-modernen Vehikel. Die Reisenden erreichen die Bahnstation Jungfraujoch, wo die traditionell gekleideten Ortsansässigen die Ankunft der Expeditionsteilnehmer und ihres Gefährts als Sensation bestaunen. Rasch wird das mitgeführte Auto abgeladen, die Gesellschaft steigt ein und fährt in ihrem Bemühen, den unbekannten Raum zu erfahren, fort. Die ‚veloziferische Akzeleration‘ der Eisenbahn, die die Reisenden in die Alpen brachte, findet ihr Pendant in der Geschwindigkeitsmaschine Automobil. Dieses gewährt zusätzliche Freiheit, indem es ohne Rücksicht auf Fahrpläne und befreit vom Richtungsdiktat der Schiene bewegt werden kann. Noch mehr als der Zug, der ein Medium des Massentransports ist, individualisiert und aristokratisiert das Automobil die Reise. Das Auto ist nicht nur ein Fortbewegungsmittel, es steht auch für die Herrschaft über Raum und Zeit. Autofahren ist eine königliche Tätigkeit und heißt Selbstfahren und Regieren. Man gewinnt den Eindruck, das Thronen der Könige und das Sitzen der Bürger wurde erfunden, um ihre Sitze eines Tages mit fahrbaren Gestellen zu verbinden, um die natürlichen, mobilen Fähigkeiten des Menschen, seine Füße, überflüssig zu machen. (Eickhoff 108)

Lokomotive und Automobil sind in ihrer technischen Selbstbewegung Erfindungen der Moderne, die die industrielle Revolution angetrieben und die Erfahrungsräume erweitert haben. Die Dialektik dieses Prozesses, zeitliche Verkürzung bei räumlicher Ausdehnung, wurde zur damaligen Zeit größtenteils als Fortschritt begrüßt, aber auch als Irritation erfahren. So spricht Heinrich Heine 1843 anlässlich der Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris von der „Tötung des Raums“ (vgl. Gall und Pohl 17), die die neue Verkehrstechnik mit sich brächte. Zugleich, so Heine, erfasse den Denker

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ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfänden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschehe. Der Bildgehalt des Lexems ‚unheimlich‘, das Heine in Bezug auf den technischen Fortschritt verwendet, erfährt in Le Voyage à travers l’Impossible Veranschaulichung. Als der im Auto fahrenden Forschergesellschaft ein Haus im Weg steht, lässt sie sich von diesem Hindernis nicht dazu nötigen, Zeit zu ‚verschwenden‘, indem sie dem Objekt in einer Kurvenbewegung auswiche. Das Tal als räumliches Hindernis der Tiefe wurde mit Hilfe einer Brücke auf die Zweidimensionalität reduziert. Dieses ‚zur Strecke bringen‘ des Raums wiederholt sich im Fall des in die Höhe ragenden Hauses; wieder wird der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten realisiert: Der Linearität vektorieller Bewegung folgend durchbricht das Auto die vordere und hintere Wand des Hauses und durchtunnelt das Gebäude. Die traditionelle Gemeinschaft, die sich in der Lokalität beim Essen befindet, wird von der über sie jäh hereinbrechenden Technik überrascht. Glaubte Heine aufgrund der ‚schrumpfenden Räume‘ schon in Paris ‚die Nordsee branden zu hören‘, so kehrt sich für die Peripheriebewohner das Nah-Fern-Verhältnis um: Die, die fernab des städtischen Zentrums leben, vernehmen das Schnauben der Lok und das Knattern des Autos. Es ist der Schock der Moderne, der das Heim zerstört und das gewohnte Traditionsgehäuse zu Bruch gehen lässt. Unversehens werden die bis dahin distanziert lebenden Alpenbewohner zu Leidtragenden des Geschehens. Die Verkehrsrevolution bindet auch die bukolische Idylle, die Méliès im verschneiten Gebirge lokalisiert, in ihre zentrifugale Ausdehnung mit ein. Das bahnbrechende Moment der verkehrstechnischen Revolution vollzieht sich für beide Seiten als Bruch: Die Einordnung von Aufbruch, Einbruch, Durchbruch in ein positiv/negativ Schema ist dabei relativ zum Standpunkt. Für die ausfahrende Forschungsgesellschaft bedeutet der Hausdurchbruch die erfolgreiche Überwindung eines Hindernisses, aus Sicht der traditionellen Gemeinschaft zeigt sich darin die zerstörerische Wirkung des Fortschritts auf lokale Identität. Ohne auf das zerstörte Mauerwerk und die irritierten Bewohner zurück zu schauen, wird die Expedition im Auto, das unbeschädigt (!) geblieben ist, fortgesetzt. Die Gesellschaft bewegt sich mit der rasenden Kiste durch die Alpenlandschaft, der fremde Raum wird in Höchstgeschwindigkeit erschlossen. In der Automobilität rücken jedoch nicht nur Raum und Zeit näher zusammen, auch die Faktoren ‚Gefahr‘ und ‚Kontrolle der Geschwindigkeit‘ potenzieren sich. Ein leichtes Antippen des Gaspedals genügt, um bis dahin nicht gekannte Beschleunigungsprozesse auszulösen. Der Chauffeur der Gesellschaft unterschätzt die übermäßig proportionale Kopplung von Steuerung und Kraft und lässt sich von der vermeintlichen Souveränität seiner Kontrolle täuschen. Auf die Unbekümmertheit, mit

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der der technische Fortschritt auf Seiten der Wissenschaftler aufgenommen wird, folgt das Unglück. Die Auge-Fuß-Motorik, die die Bedienung der Bremsen gewährleistet, kann mit der Geschwindigkeit nicht Schritt halten. Die Beschleunigung gerät außer Kontrolle, das Auto stürzt einen Abhang hinunter und zerbricht, die Reisegesellschaft im Auto hat sich als Besatzung eines Narrenschiffs erwiesen. Nach dem erfolgreichen Überqueren des Tals und dem Durchqueren des Hauses, deutet sich in diesem Bruch erstmals eine Begrenzung des Fortschrittsvermögens in und durch Technik an. Die Forscher überstehen den Unfall zwar ohne schwerwiegende Verletzungen, doch nur mit Hilfe einer Gruppe von Bergsteigern, die zufällig im selben Gebiet unterwegs ist, kann auch ihr Überleben gesichert werden. Die Seilschaft ist praktisch, das heißt: für die Bewegung im unwegsamen Gebiet besser ausgerüstet. Sie bringt die havarierten Expeditionsteilnehmer in das örtliche Krankenhaus. Im nächsten Tableau wird erneut der Zug bestiegen und die Reise fortgesetzt. Es wird gezeigt, wie die Lok mitsamt Waggons das Jungfraujoch hinauf schießt und die Erdanziehungskraft überwindet. Dass spätestens an dieser Stelle der Erzählung der Übertritt in den Erzählmodus des Wunderbaren geschieht, ist konsequent. Wo das reale Zugfahrt-Erlebnis zum „Wirklichkeitsverlust der Wahrnehmung“ (Schivelbusch 38) führt, kann die gemachte Erfahrung nicht mehr mit ‚realistischer‘ Weltbeschreibung erfasst werden. Was unbegreiflich ist, muss mit Hilfe metaphorischer Konzepte umschrieben werden. Der Ungebundenheit von Zeit und Raum wird im Konzept ‚Zugreise ist Flugreise‘ gefasst. Die Zugfahrt, die zur Raumfahrt geworden ist, kann auch als Raumschifffahrt gesehen werden. Wo im veloziferischen Geschwindigkeitserlebnis die bestimmten Umrisse des Nahraums zu einer unbestimmbaren Abfolge von Eindrücken ‚verschwimmen‘, wird die Umgebung zum ‚Meer‘, durch das sich der Zug wie ein Schiff bewegt. In Le Voyage à travers l’Impossible verschränkt sich das nautische Konzept ‚Luftfahrt ist Schifffahrt‘ mit dem aeronautischen Konzept ‚Zugreise ist Flugreise‘– und bringt das astronautische Vehikel hervor. Die frühen Filme entstehen um 1900, zu einer Zeit, in der die Erforschung der Welt fast gänzlich abgeschlossen ist. In Le Voyage à travers l’Impossible hat sich der ‚Rand der Welt‘ bereits in die Höhenregion der Alpen verlagert, auch dort ist sie jedoch schon durch Brücken an die Infrastruktur angebunden. Die ‚Gesellschaft für inkohärente Geographie‘ muss, um ihrem Namen noch gerecht zu werden, die Richtung ihrer Reise extremer in die Vertikale verlagern. Dies gelingt ihr mit dem von Mabuloff entworfenen Raumschiffzug, den Méliès durch den Filmhimmel fliegen lässt.

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Die neuen Bewegungsmaschinen – von der Eisenbahn bis zur Rakete – lösen uns aus der Gebundenheit an die natürliche Zeit und den natürlichen Umraum […] die neuen Kommunikationsmaschinen […] öffnen die natürliche zeiträumliche Begrenztheit unseres Wahrnehmungs- und Mitteilungsfeldes ins Unermessliche. (Großklaus 13)

Unermessliche Dimensionen werden spätestens seit Galileis Blick durch das Fernrohr, der eine bis dahin ungeahnte Raumtiefe sichtbar machte, häufig mit Metaphern, die dem Bereich der Astronomie entstammen, beschrieben. Diente in Le Voyage dans la Lune noch der nah gelegene Mond als Reiseziel, wird in Le Voyage à travers l’Impossible die um hundertfünfzig Millionen Kilometer weiter entfernte Sonne angeflogen. Ein Teil der filmischen Erzählung widmet sich der Ausgestaltung der Reise dorthin. „Das Weltall hat in diesen Satiren auf die ‚Geschwindigkeitsräusche‘ der Zeitgenossen noch etwas anheimelnd Überschaubares; es ist nichts weiter als die Fortsetzung unserer Atmosphäre, in der dieselben Gesetze gelten wie auf der Erde“ (Seeßlen und Jung 83). Der Zug, getragen von den Ballons, fliegt vorbei an Planetenmodellen, Sternen und Kometen. Ein Meteoritenschauer vervollständigt das Bild. Die ‚Landschaft‘, die der Filmzuschauer mit dem Kauf der Kinokarte erworben hat, ist kosmisch, der Flug hindurch ein ästhetisches Erlebnis. Das Erscheinen der Sonne wird als Epiphanie inszeniert. Hinter den sich lichtenden Wolken und vor einem schwarzen Hintergrund taucht die Sonne mittig, als strahlendes Antlitz auf. Wie in Le Voyage dans la Lune wird der Himmelskörper mythisch-anthropomorph und als Ziel einer Reise präsentiert. In beiden Filmen ist der Mensch Planetenbewohner, er sucht nicht den unendlichen Raum, sondern den festen Boden. ‚Das Fremde‘ findet er auf seiner Reise zu Planeten, die er vermenschlicht. Die Sonne wird in erzählökonomischer Verkürzung nach kurzer Zeit erreicht. Der Zug fliegt durch ihren geöffneten Mund, der lebende Stern ‚wehrt sich‘ mit menschlichem Ausdrucksvermögen gegen seine bevorstehende Erforschung und spuckt Feuer. Das metaphorische Konzept ‚Wut ist Hitze‘ wurde auf die Sonnenscheibe übertragen. Das Vorhaben der ‚Gesellschaft für inkohärente Geographie‘, die Sonne in den Bereich des Bekannten einzubinden, kohärent zu machen, bildet den Höhe- und Wendepunkt der Filmerzählung. Das nächste Tableau zeigt, wie der Raumzug in die Szenerie der Sonnenoberfläche stürzt und beim Aufprall zu Bruch geht. Betrachtet man das Zugmodell als Raumschiffmodell, so ist hier der erste Raumschiffbruch der Filmgeschichte zu sehen. Die Wissenschaftler können die Sonne kurz erkunden, die lebensbedrohlich steigenden Temperaturen lassen sie aber schnell spüren, dass sie sich in einem Gebiet befinden, das für den Menschen nicht vorgesehen ist.

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Auf dem fernen Planeten sind die Wissenschaftler zur Sicherung ihres Überlebens auf sich gestellt, doch Mabuloff hat vorgedacht: Er weist die Mitglieder an, sich in die Sicherheit der mitgeführten Kühlkammer zu begeben. Dort gefrieren die Eingeschlossenen allerdings sofort zu Eisklötzen. Um sie wieder aufzutauen, bringt Mabuloff das Stroh, das er auf der Sonne vorfindet, zum Brennen, indem er mit Steinen Funken schlägt und kräftig bläst. Erst der Rückgriff auf diese archaische Kulturtechnik kann die Reiseteilnehmer retten. Die Anwendung komplexerer Technik, wie sie Auto, Zug und Kühlkammer darstellen, wurde der Expedition bisher jedes mal gefährlich. Die mühsam beherrschte Kunst, Naturkräfte für menschliche Zwecke zu instrumentalisieren, konnte im Verlauf der bisherigen Filmhandlung nur bedingt zur weiteren Erschließung unbekannter Gebiete genutzt werden. Im U-Boot, dem letzten noch nicht zerstörten Vehikel, flüchtet die Gesellschaft aus der Gefahrenzone. Vom Rand der Sonnenscheibe lässt sie sich in Richtung Erde fallen, die sich im anthropomorphen und geozentrisch gedachten Universum ‚unten‘ befindet. Das U-Boot wird so für kurze Zeit tatsächlich Raumschiff. Nach einer ‚Splash-Down‘ Landung auf dem Meer, sinkt es zum Grund des Ozeans. Méliès bedient sich der dramaturgischen Darstellungstechnik der ‚vierten Wand‘, um dem Filmpublikum Einblick in das Geschehen im Inneren des U-Boots bieten zu können. Wie eine Vorwegnahme des filmischen Stilmittels ‚Split-Screen‘ wirkt dabei die vertikale Teilung des Boot-Innenraums. Es wird ersichtlich, dass sich die Trennung zwischen Wissenschaft und Arbeiterschaft im ‚Mikrokosmos U-Boot‘ fortgesetzt hat. Während die Wissenschaftler im vorderen Raumteil über Pläne gebeugt diskutieren, bedienen zwei Arbeiter im Kesselraum die Dampfmaschine. Die Forschungsgesellschaft betrachtet die Exotik der submarinen Sphäre mit Fernrohren, sichere Distanz vom bedrohlichen Außen gewährt die feste Hülle des U-Boots. Als ein riesiger Oktopus, zoomorphisiertes Misstrauen gegenüber dem Ozean, sich dem Boot nähert, wird optische Distanzierung durch das Verriegeln des Aussichtsfensters gewonnen. Eilig kehren die Wissenschaftler zur Ausarbeitung ihrer Pläne zurück und schaffen sich in der Wissenschaft Entlastung vom Schrecken der Tiefsee; parallel dazu bricht im Maschinenraum ein Feuer aus, das selbst die Löschbemühungen beider sozialer Klassen nicht löschen können. Der Versuch, die Naturkräfte ‚Feuer‘ und ‚Wasser‘ als Dampfmaschinen-Antrieb praktisch zu nutzen, hat sich als eine Gefährdung erwiesen, die nicht mehr aufzuhalten ist. Die folgende Explosion zerreißt das U-Boot. Zu den irdischen Brüchen des Hausbruchs und des Autobruchs, sowie dem kosmischen ‚Raumzugbruch‘ kommt ein vierter, submariner Schiffbruch.

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Der vordere Teil des U-Boots schießt aus dem Wasser und fällt auf den Strand. Von dem herabstürzenden Wrackteil werden die Fischer, die dort ihrer gewohnten Arbeit nachgehen, fast getroffen. Wie schon im Durchbruch des Alpen-Hauses, werden unbeteiligte Vertreter einer traditionellen Lebensweise, ohne darauf vorbereitet zu sein, in den Gefahrenradius der technischen Moderne mit einbezogen. Diese Konstellation, ‚Schiffbruch-mit-unfreiwilligem-Teilnehmer‘, kann als Ausdruck des Unbehagens gegenüber der rasanten Technisierung und Modernisierung der Lebenswelt verstanden werden. Als Metapher für technisiertes Weltempfinden, als spezifisch moderne Version der ‚Schiffbruch mit Zuschauer‘-Konstellation kann sie den drei von Blumenberg ausgemachten Metapher-Varianten hinzugefügt werden. Der Mensch begibt sich nicht auf See, er ist aber auch nicht schon immer eingeschifft. Es ist die Flut aus technischen Neuerungen, die ihn zu Beginn des Maschinenzeitalters in Form hereinbrechender Wellen einholt. Aus der Darstellung der Wissenschaftler, deren theoretisch durchdachtes Vorhaben in der praktischen Umsetzung immer wieder scheitert, entsteht ein komischer Effekt, der die realen Konflikte satirisch mildert. Mabuloff wird sogar, nachdem er und die Mitglieder der Gesellschaft dem Wrackteil entstiegen sind, von den Fischern auf Schultern getragen. Méliès lässt die Filmerzählung versöhnlich ausklingen. Die traditionelle Gesellschaft, repräsentiert in den Fischern, trägt die Wissenschaft, die mit Mabuloff repräsentiert ist, auf Schultern. Dieser wiederum trägt die Schiffschraube des U-Boots, das die Arbeiter in der Anfangssequenz des Films herstellten. Im letzten Tableau werden die an den Ausgangsort ihrer Reise zurückgekehrten Expeditionsteilnehmer feierlich empfangen. Die Befahrung des Weltalls hat sich als möglich, aber nicht als lohnend erwiesen. Die Beurteilung der eigenen Lebenswelt und das Akzeptieren ihrer Zustände kann dadurch umso positiver ausfallen. 4. Rückblick und Ausblick Durch die Übertragung des philosophisch-textbasierten Ansatzes der Metaphorologie Hans Blumenbergs auf das damals neue Medium Film konnte gezeigt werden, dass sich neben die von Blumenberg konstatierten drei ‚klassischen‘ Semantiken der Schiffbruch-Metapher eine neue, spezifisch moderne Sinngebung als vierte Variante stellt. In Le Voyage à travers l’Impossible werden die Konflikte, die aus den Umbrüchen im sozialen, räumlichen und technischen Erleben während des frühen 20. Jahrhunderts entstanden sind, in Vehikel- und Gebäude-Frakturen konzeptualisiert. Werden die im Film verwendeten Transportmittel Raumschiff/Zug, Auto,

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U-Boot unter dem Prinzip Schiff subsumiert, so lässt sich für die VehikelFrakturen in Le Voyage à travers l’Impossible das Konzept ‚Umbruch ist Schiffbruch‘ formulieren. Literaturverzeichnis Blumenberg, Hans. Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. ---. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. Brons, Franziska. „Editorial“. Imagination des Himmels. Hg. Franziska Brons. Berlin: Akademieverlag, 2007. 7-8. Eickhoff, Hajo. „Welt erfahren“. Kunstforum International 136 (1997): 10234. Gall, Lothar und Manfred Pohl, Hg. Die Eisenbahn in Deutschland: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: Beck, 1999. Großklaus, Götz. Medien-Zeit, Medien-Raum: Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Jäkel, Olaf. Wie Metaphern Wissen schaffen: Die kognitive Metapherntheorie und ihre Anwendung in Modell-Analysen der Diskursbereiche Geistestätigkeit, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion. Hamburg: Novac, 2003. Schivelbusch, Wolfgang. Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München: Hanser, 1977. Seeßlen, Georg und Fernand Jung. Science Fiction: Geschichte und Mythologie des Science-Fiction-Films. Marburg. Schüren, 2003. Timm, Herrmann „Nostrozentrische Kosmologie – nautozentrische Metaphorik“. Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg. Hg. Franz Josef Wetz und Herrmann Timm. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999. Verne, Jules. De la Terre à la Lune: Trajet direct en 97 heures 20 minutes. Genf: Vernoy, 1979. Wells, Herbert G. The First Men in the Moon. London: Collins, 1901.

„Bright, shiny futures are overrated anyway“ Zum Wandel von Technik- und Geschichtssemantiken in Battlestar Galactica ANKE WOSCHECH “Bright, shiny futures are overrated anyway.” Changing Semantics of Technology and History in Battlestar Galactica Science fiction today is mostly associated with popular American mass media products, more precisely with the Star Trek and Star Wars franchise. These figureheads in turn are part of the space opera subgenre which is usually well known for its technological optimism as well as its belief in progress. Only since the last decade, space opera-TV has been providing a vastly dark and pessimistic scope which is accompanied by the surrender of futuristic gadgets or nova and, instead, by the deployment of contemporary or even antiquated artifacts. The radical change in the use of technology has been widely discussed as a significant sign for an upcoming expiration of the science fiction genre as a whole. Using the TV-series Battlestar Galactica (2004-2009) as example, this article will object to the assumption of genre-decline by considering the specific use of contemporary and antiquated technology as a central indication for the abandonment of a specific conception of history connected with linearity and progress.

1. Einleitung „All this has happened before, and all of it will happen again.“ Dieser Satz von der ewigen Wiederkehr, der in seiner beständigen Zitierung in der Science Fiction TV-Serie Battlestar Galactica (2004-2009) zu ihrem zentralen Leitmotiv gerinnt, wurde innerhalb der Forschungsdiskussion auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert: als Aufbereitung des Karma-Konzepts und der Wiedergeburtslehre des Zen (McRae 205, 211), als Anspielung auf Motive des Hinduismus, Buddhismus sowie der Maya-Religion (Goulart 184), als aus der Urknalltheorie, wonach das Universum in einem beständigen Wechsel von Ausdehnung und Schrumpfung einem ewig währenden Zyklus gehorcht, abgeleiteter theologischer Determinismus (Johnson 182ff.), oder auch als Verweis auf die gleichnamige Originalserie von 1978 bzw. zum Serienformat als solches, das die Geschehnisse jede Woche

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aufs Neue entstehen lässt (Casey 237f.). Abgesehen von der letzten Auslegung, die den Satz auf seine außerfiktionalen Referenzen hin deutet, fällt bei der Varianz an Lesarten doch die ihnen gemeinsame Anbindung an vorzugsweise religiöse und mythische Bezüge auf. Die Diskussion der in Battlestar Galactica diesbezüglich ohne Zweifel zahlreich gegebenen Anspielungen entspricht dann auch (neben der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Fragen zur US-amerikanischen Gesellschaft und Politik) dem geläufigsten Zugang zu dieser Serie. Weitaus weniger betrachtet wird die Darstellung von und der Umgang mit Technik. Dieser Aspekt wird meist entweder mit Verweis auf die Intention des Serienproduzenten Ronald D. Moore, das Science Fiction-TV in Richtung einer „Naturalistic Science Fiction“ revolutionieren und dafür auf jeglichen Technikfuturismus verzichten zu wollen (Bassom 19), beiseite gelegt, oder aber er wird ebenfalls innerhalb eines religiösen Kontextes ausgedeutet – so getan bei der Interpretation der Auferstehungstechnologie der Cylons, die qua eingangs zitiertem Leitmotiv mit der buddhistischen und hinduistischen Ideenlehre verknüpft wird (Thrall 143). Entgegen dieser Vorgehensweise folgt dieser Artikel der These, dass das hinter dem Satz von der ewigen Wiederkehr steckende zyklische Geschichtsbild weniger einem etwaigen religiösen Kontext zuzuordnen ist, sondern vorrangig über den in der Serie verhandelten Technikdiskurs transportiert wird. Dieser postulierte Zusammenhang soll zunächst, bevor er konkret an Battlestar Galactica aufgezeigt wird, anhand einiger einführender Bemerkungen zum Verhältnis von Technik- und Geschichtssemantiken in der Science Fiction verdeutlicht werden. 2. Technik- und Geschichtssemantiken in der Science Fiction Die Entstehung der Science Fiction steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen europäischen Wissenschaften und Technik. Literarische Vorläufer finden sich demzufolge bereits in der Frühen Neuzeit (Roberts 36-87); die Bildung einer eigenständigen Gattung erfolgte jedoch im 19. Jahrhundert als kreative Antwort auf die radikalen Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse dieser Zeit, die den als stetig und sich dabei beständig beschleunigend wahrgenommenen Fortschritt in Wissenschaft und Technik sowie dessen gesellschaftliche Folgen auf fiktional-spekulativer Ebene reflektierte. Zentral, da konstitutiv für das Genre ist hierbei das Begreifen von ‚Fortschritt‘ als eine geschichtsphilosophische Kategorie, wobei die von Reinhart Koselleck aufgefächerten Begriffsdimensionen als Hintergrundfolie dienen mögen: Fortschritt umfasst demnach ein „ganzes Bündel neuzeitlicher Bewegungsstrukturen“ (352), von denen mehrere auch auf die Science Fiction bezogen werden können:

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Zunächst in seiner Bedeutung als Aktionsbegriff, der auf einzelne Sektoren oder auf konkrete Handlungseinheiten angewandt wird – hier also auf den so genannten „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“. Zum zweiten bezeichnet der Terminus einen (zeitlich) linearen Richtungsbegriff in Abgrenzung zu einer zirkulären Verlaufsform; zum dritten einen quasireligiösen Hoffnungsbegriff, wenn er eine Bewegung hin zu etwas Besseren beschreibt. Des Weiteren indiziert der Ausdruck „häufig eine Beschleunigung, die […] nur von geschichtlichen Kräften ausgelöst und bewirkt werden kann“, und die wiederum von eben diesen Kräften als „progressiv“ bewertet wird (also Fortschritt als geschichtlicher Legitimationsbegriff); und schließlich existiert Fortschritt als geschichtsphilosophischer Universalbegriff, der sich „auf die eine Menschheit, die als Subjekt ihrer eigenen Geschichte angesprochen wurde“ bezieht (ebd.). Für die Science Fiction ist der auf den konkreten Sektor bezogene „wissenschaftlich-technische Fortschritt“ ausschlaggebend. Alle weiteren Begriffsdimensionen, besonders diejenigen mit geschichtsphilosophischer Bedeutung, definieren durch ihre An- oder Abwesenheit das Spektrum von utopischen zu dystopischen Entwürfen. Wo nun die Geschichtsphilosophie1 die Absicht verfolgt, wahre Aussagen über die Zukunft zu formulieren, beschreibt die Science Fiction, insofern sie sich auf die Zukunft bezieht, mögliche Szenarien für diese. Angeführt sei hier zunächst Agnes Heller zum Vorgehen der Geschichtsphilosophie aus wissenssoziologischer Perspektive: Zuerst wird das Bild einer glorreichen (oder düsteren) Zukunft konstruiert (gemäß der Bewertung der Gegenwart), als nächstes werden die Indikatoren (oder ein Indikator) des Fortschritts oder Rückschritts entworfen, und dann wird einer der Indikatoren als die unabhängige Variable des Fortschritts oder Rückschritts der ‚Universalgeschichte‘ ausgesondert. ‚Universalgeschichte‘, so konstruiert, führt genau zu der Zukunft, die zu Anbeginn postuliert worden ist. (148)

Was Heller beschreibt, lässt sich in einigen Aspekten auch für die Science Fiction formulieren. In ihr wird als unabhängige Variable der Indikator „Wissenschaft und Technik“ eingesetzt, über dessen mögliche Weiterentwicklung spekuliert, und je nach Bewertung dieser Extrapolation ein Zukunftsbild entwickelt, das irgendwo zwischen den Polen eines Paradiesund eines Schreckensszenarios zu verorten ist. Im Gegensatz zur Geschichtsphilosophie handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein Sein-Sollen (bzw. Sein-Werden), sondern Sein-Können der Zukunft, also gewissermaßen 1

Gemeint ist die spekulative (auch: „substantielle“ oder „materiale“) Geschichtsphilosophie, die „die historischen Einzeluntersuchungen überschreitende Deutung der Geschichte im Sinne der Universalgeschichte oder der ‚Geschichte überhaupt‘ auf ihren Sinn hin oder ihre Erklärung durch allgemeine Gesetze“ zu ihrem Inhalt hat, in Abgrenzung zur sogenannten kritischen, analytischen oder auch formalen Geschichtsphilosophie (Schwemmer 752).

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um die Abbildung des gesamten Kontingenz(spiel)raums, der sowohl die im technischen Fortschritt angelegten Möglichkeiten und Chancen als auch die entsprechenden Gefahren und Risiken appräsentiert. Dabei werden in den jeweilig entworfenen Zukunftsbildern Geschichts- und Zeitmodelle kreiert, die oft denen geschichtsphilosophischer Konzepte entsprechen und von Fortschrittskonzeptionen nach Art der Aufklärung bis hin zu zyklischen Geschichtsmodellen reichen. Geschichts- und Zeitsemantiken werden in der Science Fiction demnach vorrangig über den Technikdiskurs transportiert, wobei ihr fiktional-spekulativer Charakter sie erklärtermaßen auf jeden Wahrheitsanspruch verzichten lässt. 3. Space Opera-Renaissance: Von Star Trek zu Battlestar Galactica Das Primat der Technik respektive der Technikentwicklung führte in der Science Fiction – ihrem geläufigsten Erkennungsmerkmal entsprechend – oft zur vordergründigen Darstellung und Beschreibung von futuristischer Technik. Dies gilt insbesondere für das Subgenre der Space Opera, die als eine Abwandlung romantischer Abenteuergeschichten im Weltraum-Maßstab definiert werden kann, was einerseits ihren hohen Unterhaltungswert erklären mag, andererseits auch den Makel des Trivialen, der ihr durchaus bis in die Gegenwart anhaftet.2 Nach ersten Romanen Ende der 1920er Jahre erhielt dieses Format durch Comic-Helden wie Buck Rogers und Flash Gordon umgehend Einzug in den visuellen Medien (Westfahl 198-201). Im Zuge des durch die Erfolge der Raumfahrt begründeten Weltraumfiebers in den 1950er und 1960er Jahren eroberten Space Operas auch das neue Massenmedium Fernsehen. Bereits die Originalserie Star Trek (1966-1969), spätestens aber deren Nachfolger Star Trek – The Next Generation (1987-1994) stellten den Versuch dar, der geächteten Ecke der trivialen Unterhaltung zu entkommen und eine anspruchsvolle Space Opera zu entwickeln, die komplexere Geschichten, Handlungsbögen und Konfliktkonstellationen kreiert und dabei zudem aktuelle gesellschaftliche und politische Konflikte verarbeitet. Pikanterweise wurde in der Umsetzung dessen jedoch mit keinem der oben angegebenen Versatzstücke einer Space Opera gebrochen – im Gegenteil: Es mag wohl kaum eine Serie mit einer noch größeren Artenvielfalt bezüglich der vorgestellten Alienspezies gegeben haben; jedes noch so kleine Element des Alltags, und sei es Nahrungsaufnahme, Spiel oder Schlaf, wurde mit futuristischem Dekor unterlegt, gleiches trifft 2

Schon allein der Begriff beinhaltet einen pejorativen Beiklang, der von dessen Erfinder Wilson Tucker durchaus intendiert war: „Westerns are called ‘horse operas’, the morning housewife tear-jerkers are called ‘soap operas’. For the hacky, grinding, stinking, outworn spaceship-yarn, or world-saving for that matter, we offer ‘space opera’” (9).

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auf das Technikinventar zu. Im US-amerikanischen Science Fiction-TV der letzten Dekade wie eben Battlestar Galactica oder auch Firefly (2002), die beide diesem Subgenre zuzuordnen sind, scheint diese Konvention jedoch teilweise zu kippen. Neben dem weitgehenden Verzicht auf futuristische Elemente in Ausstattung und Ästhetik im Allgemeinen wird insbesondere der Einsatz von eindeutig als futuristisch identifizierbarer Technik auf das Nötigste, also in diesem Falle hauptsächlich auf die Möglichkeit der Weltraumflüge, reduziert; auffallend ist, vor allem im Vergleich zu Star Trek, die Aufwendung gegenwärtiger oder – vom Standpunkt des heutigen frühen 21. Jahrhunderts – sogar antiquiert wirkender Technik des 20. Jahrhunderts. Diese erste Diagnose wird ergänzt durch eine zweite: Die in Battlestar Galactica verhandelten Geschichtsbilder weisen einen deutlichen Bruch zu jeglichen fortschrittstheoretischen Entwürfen auf. Diese beiden Spezifika der Serie – Technikdarstellung und Geschichtsauslegung – sollen im Folgenden näher untersucht werden, wobei besonders interessiert, ob und inwieweit der spezifische Technikdiskurs bereits als Hinweis auf die präsentierten Geschichtssemantiken agiert. 4. Technik und Geschichtsbild in Battlestar Galactica Bei Battlestar Galactica handelt es sich um die Neuauflage der gleichnamigen Science Fiction-Fernsehserie von 1978. Sie wurde von 2004 bis 2008 im Auftrag des US-amerikanischen Fernsehsenders SciFi-Channel produziert, auf dessen Sendeplätzen auch die Erstaustrahlung der vier Staffeln und, bereits im Dezember 2003, des zweiteiligen (als Miniserie konzipierten) Pilotfilms erfolgte.3 Ihr Auftakt ist noch deutlich an die Konzeption des Originals angelehnt: Eine hoch entwickelte menschliche Kultur, die in einem fernen Sonnensystem auf zwölf Planeten, den so genannten Kolonien lebt, entwickelte zur Arbeitserleichterung und -abnahme eine intelligente kybernetische Lebensform („Cybernetic Lifeform Node“): die Cylons. Diese Maschinen erhoben sich eines Tages gegen ihre Schöpfer, so dass es zu einem ersten Krieg kam, der in einem Waffenstillstand endete. Nach einigen Jahrzehnten – dies markiert den Beginn der Serie – greifen die Cylons erneut an. Sie haben sich inzwischen selbständig weiterentwickelt und konnten neben neuen Roboter- und Hybridmodellen vor allem auch zwölf organische Modelle herstellen, die von Menschen nicht zu unterscheiden sind und nun als Spionagewaffe eingesetzt werden. Durch einen 3

Inzwischen sind zwei TV-Spielfilme, mehrere Online-Serien (sogenannte Webisodes) und mit Caprica ein Prequel hinzugekommen, mit Blood and Chrome ist derzeit ein weiteres in Planung; (vgl. Gorman).

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massiven nuklearen Erstschlag werden die zwölf Kolonien vernichtet. Der Mannschaft der Galactica, ein altes Schlachtschiff noch aus der Zeit des ersten Krieges, gelingt es zusammen mit einer kleinen Zahl ziviler Transporter und Frachter zu fliehen. Die überlebenden Menschen beschließen, nach der sagenumwobenen 13. Kolonie – der in ihren religiösen Schriften erwähnte Planet ‚Erde‘ – zu suchen, um dort den Aufbau einer neuen Kolonie zu beginnen. Wo im Original das postapokalyptische Szenario nur als Hintergrundfolie dient, um in einem ansonsten recht bunten und futuristischen Äußeren zu einer gewohnt actionzentrierten Handlung zu gelangen, wird in der reimaginierten Serie Battlestar Galactica der düstere Auftakt in Plot und Ästhetik konsequent weiter verfolgt. So wird auch im kompletten Verzicht auf Aliens jegliche vordergründige Exotik vermieden. Die sicherlich wichtigste Neuerung betrifft das umgestaltete Verhältnis zwischen Menschen und Cylons, das im Gegensatz zur Originalserie, in der die Maschinen die unversöhnlichen Feinde der Menschheit sind und bleiben, von einer allmählichen Annäherung gezeichnet ist. Dem folgend wird auch der Technikdiskurs innerhalb zweier vorab zueinander konträr gesetzter Akteure – den Menschen und den Cylons – verhandelt, und soll daher zunächst für diese beiden Gegenspieler getrennt vorgestellt werden. Dabei sollen folgende Fragestellungen das Vorgehen leiten: Welche Artefakte, welches technische Inventar wird präsentiert? Wie erfolgt dessen visuelle Umsetzung? In welchem Verhältnis stehen Artefakte und agierende Figuren zueinander; was lässt sich also hinsichtlich des Umgangs der Figuren mit diesem Inventar aussagen? Und nicht zuletzt: Was wird von den Figuren selbst bezüglich der ihnen zur Verfügung stehenden Technik ausgesagt? 4.1 Die Technik von heute: Menschen In Battlestar Galactica spielen sich die meisten Szenen in bester Space OperaTradition auf dem namengebenden Schlachtschiff ab. Die Beschreibung der dargestellten Technik konzentriert sich somit auf diesen Ort. Einiges an der Ausstattung der Galactica ist der Originalserie entliehen, angefangen bei der Konzeption des Schiffes als Mischung aus Schlachtschiff und Flugzeugträger bis hin zum Design der zentralen Kommandostation. Doch wo im Original noch zusätzlich Sichtbildschirme verwendet werden und automatische Ansagen über eine Computerstimme erfolgen, ist im Remake die Innen- und Außenkommunikation auf Sprechfunk beschränkt, der per Headset oder Telefonverbindung hergestellt wird. Beibehalten wurden die Radaranzeigen, automatische Türen wurden hingegen durch einen manuellen Schließmechanismus ersetzt. Das Angriffs- und

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Verteidigungssystem ist nicht mehr mit Photonen- oder Laserwaffen, sondern neben mehreren nuklearen Sprengköpfen mit Artilleriegeschütz und konventionellen Raketen bestückt, ebenso wie die Soldaten nicht mehr mit Laserkanonen, sondern mit Handfeuerwaffen ausgestattet sind. Die sich bereits hier abzeichnende Hinwendung zu gegenwärtig gebräuchlicher Technik zeigt sich in nahezu allen gezeigten Funktionsbereichen: in den Privaträumen, in der Büroausstattung, auf der Krankenstation, bis hin zu Dingen des alltäglichen Bedarfs. Auf überflüssige Gadgets wie etwa den Spielzeug-Roboterhund der Originalserie wurde konsequent verzichtet. Manche der gezeigten Artefakte – wie die Schnurtelefone oder auch die Nadeldrucker – wirken aus Sicht des frühen 21. Jahrhunderts sogar leicht antiquiert. Das Innere wie Äußere der Galactica verweist auf eine an Fabrik- und Industriehallen angelehnten Ästhetik: In den in einem düsteren Grau gehaltenen, klaustrophobisch engen Räumlichkeiten bleibt das Beton und Stahl nachempfundene Baumaterial sichtbar; im Maschinenraum sind einzelne Bestandteile wie Kessel, Rohrleitungen und Absperrventile deutlich zu erkennen. Desgleichen bietet die Außenansicht des Schiffes nichts von der nahtlosen Glätte und Makellosigkeit, wie sie beispielsweise die Föderationsraumschiffe von Star Trek zeigen, sondern ähnelt vielmehr einem schweren, zerfurchten und fensterlosen Klotz, der an jeder Stelle „die technische und menschliche Operation der Bearbeitung verrät“ (Barthes 77).4 Auch die Herstellung und Verwendung der technischen Artefakte ist von einer gewissen Mühsal und Fehlerhaftigkeit gekennzeichnet. Im Maschinenraum und auf dem Hangardeck finden sich bekannte Werkzeuge wie Schlagbohrer, Schweißgerät, Lötkolben, Säge, Hammer und Schraubenzieher; die Arbeiten werden von einem entsprechend hohen Lärmpegel begleitet, die Mechaniker tragen Schutzvorrichtungen, ihre Funktionskleidung und Gesichter sind häufig von Ruß verschmiert und schweißüberzogen, was auf eine körperlich anstrengende und beschwerliche Tätigkeit verweist. Alltägliche Grenzen und Nebenwirkungen der gehandhabten Technik spielen eine wichtige Rolle. So kann der Überlichtantrieb des Schlachtschiffes nicht ständig über einen längeren Zeitraum benutzt werden, da er bei mehrfachem, intensivem Gebrauch für Störungen anfällig wird oder völlig ausfallen kann. Bei manchen Menschen lösen die Überlichtsprünge 4

Roland Barthes beschreibt Glattheit als Ausdruck von Perfektion: „Christi Gewand war ohne Naht, wie die Weltraumschiffe der Science-Fiction aus fugenlosem Metall sind“ (76f.). Andrea zur Nieden weist darauf hin, dass in Star Trek nicht nur das Raumschiffdesign, sondern auch die nahtlosen Uniformen der Mannschaft und sogar die sauberen und glatten Babys, die nach schmerz- und blutfreien Geburten auf die Welt kommen, auf dieses Perfektionsideal hindeuten (68).

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Unwohlsein oder Übelkeit aus, zudem scheint es nicht möglich zu sein, während eines Sprunges zu schlafen (P.01; P.02; sowie 1.01: 33).5 Von einer völligen Souveränität im Umgang mit dieser Technik ist selbst im alltäglichen Normalfall nicht auszugehen. Zudem bilden Verschleißerscheinungen und die der Ausnahmesituation geschuldeten begrenzten Ressourcen ein zentrales Thema: Die Flotte wird wiederholt mit Wasser- und Nahrungsmittelknappheit konfrontiert (1.02: Water sowie 3.10: The Passage); vor der finalen Schlacht mit den Cylons wird dem erfolgreichsten Kampfpiloten als besondere Auszeichnung gar die letzte noch verbliebene Zahnpasta des Universums in Aussicht gestellt (4.17: Someone to Watch Over Me). Die zunehmend prekäre Verfassung des Schiffes, die zum einen den bei Kampfeinsätzen entstandenen und nur zum Teil reparablen Schäden, zum anderen aber auch dem fortschreitenden Materialverschleiß zugeschrieben wird, lässt die Galactica am Ende der Serie kurz vor dem totalen Zusammenbruch stehen (4.15: No Exit). Zentrale Ausrüstungsgegenstände wirken nicht nur auf den Zuschauer antiquiert, sie werden auch von den Serienfiguren als solches bezeichnet. Den Anfang der Serie markiert das eigentlich vorgesehene Ende der Galactica: Dieses Schiff, das zu Zeiten des ersten Cylonkrieges im Einsatz war, ist im Begriff zu einem Museum umfunktioniert zu werden. Während einer touristischen Führung wird der Stand der Technik erläutert und begründet: You’ll see things here that look odd or even antiquated […] to modern eyes. Phones with cords, awkward manual valves, computers that barely deserve the name. It was all designed to operate against an enemy who could infiltrate and disrupt even the most basic computer systems. Galactica is a reminder of a time when we were so frightened by our enemies that we literally looked backward for protection. (P.01)

Bei den veralteten Kommunikationssystemen handelt es sich also um vertraute und als bewährt geltende Technik, die Beherrschbarkeit und Sicherheit suggerieren soll. Sie gilt an und für sich längst als Traditionsbestand alltäglichen Handelns und damit als entproblematisiert: „Das Vertrauen in die Technik wächst mit ihrem Alter. […] Was die ‚alte‘ Technik trägt und bestärkt, ist der Glaube an die technische Zuverlässigkeit“ (Hörning 84). Die technische Ausstattung der Galactica kann auch dem Zuschauer ohne weiteres als domestizierte, handhabbare Technik vorgestellt werden, da es sich um die gleichen Artefakte und den gleichen Standard handelt, den er aufgrund seiner eigenen Biographie als vertraut empfindet. 5

Die direkte oder indirekte Zitation aus einzelnen Episoden wird wie folgt angegeben: Der zweiteilige Pilotfilm – P.01; P.02; jede weitere Episode – Staffel. Episode: Episodentitel; Beispiel: 1.02: Water.

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Im Pilotfilm erfährt man, dass jegliche KI-Forschung mit Beginn des ersten Cylonkrieges aufgrund der gemachten Erfahrung einer Verselbständigung der damaligen Resultate eingestellt wurde. Nach einem vierzig Jahre währenden Waffenstillstand, in denen die Kolonisten nichts über den weiteren Verbleib der Cylons erfahren, wollen Vertreter der jüngeren Wissenschaftsgeneration, die den ersten Krieg bereits nur noch aus Überlieferungen kennen, endgültig mit diesem Tabu brechen. Hingegen zeigen sich Veteranen des ersten Krieges weiterhin skeptisch, wie die Ansprache des kommandierenden Offiziers William Adama, die er anlässlich der Museumseröffnung hält, beweist: You know, when we fought the Cylons, we did it to save ourselves from extinction. But we never answered the question, why? Why are we as a people worth saving? We still commit murder because of greed, spite, jealousy. And we still visit all of our sins upon our children. We refuse to accept the responsibility for anything that we’ve done. Like we did with the Cylons. We decided to play God, create life. When that life turned against us, we comforted ourselves in the knowledge, that it really wasn’t our fault, not really. You cannot play God then wash your hands of the things you’ve created. Sooner or later, the day comes when you can’t hide from the things that you’ve done anymore. (P.01)

Auf der Suche nach den Ursachen für die nicht-intendierten Folgen der Schöpfungsexperimente wird von Adama die eigene Hybris angemahnt; die zugrundegelegte Kritik richtet sich also nicht gegen die Wissenschaft und Technik als solche, sondern gegen die Unzulänglichkeit des Menschen im Umgang mit ihr. Die Rede folgt gewissermaßen dem von William F. Ogburn geprägten Konzept des „cultural lag“ (zu deutsch: „kulturelle Phasenverschiebung“): Eine kulturelle Phasenverschiebung findet statt, wenn von zwei miteinander in Beziehung stehenden Kulturelementen das eine sich eher oder in größerem Maße verändert als das andere, so daß der Grad der Anpassung zwischen den beiden Elementen geringer wird als zuvor. (134)6

In Ogburns Modell können die in Frage kommenden Kulturelemente jeglichem Bereich, so z. B. dem ökonomischen oder ideologischen, entstammen, doch betont er explizit die technische Variable als die in den modernen Industriegesellschaften ausschlaggebende, da „die Erfindungen und 6

Freilich ist die dahinter stehende Idee bedeutend älteren Ursprungs. Sie lässt sich bis in die Anfänge der neuzeitlichen Fortschrittserfahrung zurückverfolgen und bestimmt diese zentral. Bereits für das 16. und 17. Jahrhundert lässt sich ein Bewusstsein eines nur partiellen Fortschritts der Wissenschaften und der Künste ausmachen; im 18. Jahrhundert wird diese Wahrnehmung eines Vorauseilens und Zurücklassens zur zeitlichen Grundstruktur aller Geschichte: „Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der gesamten menschlichen Bildung, besonders die große Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der moralischen Bildung“ (Schlegel, zit. in: Koselleck 391).

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die gesamte Technik überhaupt an Umfang und an Entwicklungsgeschwindigkeit rascher zunehmen, als wir uns an sie anpassen können“ (145). In der Science Fiction wird diese Phasenverschiebung bevorzugt anhand der Variablen des sich rasant beschleunigenden technischen Fortschritts sowie einer diesem nachhinkenden menschlich-moralischen Entwicklung beschrieben. Die Technik an sich wird als neutrale Variable gesetzt, entscheidend ist nicht ein ihr etwaig innewohnender Charakter, sondern der Gebrauch respektive Missbrauch in Umgang und Verwendungsweise. Diesem Begründungsmuster gleichsam diametral entgegengesetzt ist das einer Dämonisierung von Technik, die über ein personifiziertes Bild der seelenlos-teuflischen – und zumeist weiblichen – Maschine transportiert wird (vgl. Baureithel). Auch wenn im Laufe der Serie im konkreten Umgang mit den Cylons deren Dämonisierung durchaus eine Rolle spielt und damit der in Adamas Rede genannte Ausgangspunkt des Konflikts zurückgedrängt wird, finden sich auch immer wieder Momente der Selbstzuschreibung im Sinne des cultural lag.7 Passend dazu ist der für postapokalyptische Szenarien übliche Umschwung in ein generell technophobes Klima der grundsätzlichen Ablehnung alles Wissenschaftlichen und Technischen (Graaf 56) kaum auszumachen – eine derartige Einstellung beschränkt sich zuvorderst auf die Kommunikationstechnologie und den Umgang mit dem zentralen Widersacher, den Cylons. Dieser Umstand lässt sich nicht ohne Weiteres, wie man meinen könnte, aus der gegebenen Rahmenhandlung der Weltraumreise, nach der man auf ein Höchstmaß an moderner Technologie angewiesen ist, erklären. Die Science FictionLiteratur bietet genug Beispiele für das Einhergehen futuristischer und nostalgischer Elemente in Space Operas. In Robert R. Heinleins Tunnel in the Sky (1955), eine Robinsonade auf einem fremden und fernen Planeten, will die Gruppe von Menschen, als sie endlich gefunden wird, nicht mehr in die Zivilisation zurück. Ein freiwilliger Verzicht auf technische Hilfsmittel, sobald die Menschen auf dem Planeten ihrer Träume angekommen sind, wird auch in Clark Daltons Der Sprung nach Luna (1973) beschrieben (Broich 361f.). Solcherlei nostalgische Elemente sind in Battlestar Galactica kaum zu entdecken. Selbst bei dem vorübergehenden Versuch, auf einem durch Zufall entdeckten bewohnbaren Planeten neu zu siedeln, werden die damit verbundenen Entbehrungen als zu überwindender Mangel und nicht als wünschenswerter Status Quo dargestellt (2.20: Lay Down Your Burdens: Part 2). Die eher nüchtern-pragmatisch zu bezeichnende Einstellung ver7

So im Dialog des Wissenschaftlers Gaius Baltar mit einer aufgebrachten Zivilistin: Frau: „I feel rage.“; Gaius Baltar: „Against the Cylons.“ Frau: „Not just the machines, anyone involved. The engineers who designed them. The corporations, the politicians who provoked this war and then did nothing to protect us.“ (4.05: The Road Less Traveled)

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weist wiederum auf die cultural lag-Begründung: Nicht der Technik an sich, sondern dem menschlichen Umgang mit ihr ist die momentane Misere geschuldet. 4.2 Die Technik von morgen: Cylons Von einer Cylontechnik zu sprechen, mag insofern widersprüchlich scheinen, als die Cylons, auch die organischen Modelle, genau genommen technische Artefakte sind, als solche aber auch Technik gebrauchen und damit gleichsam als Akteure in Erscheinung treten. Die scheinbar hochgradige Überlegenheit ihrer Technologie, wie sie sich zunächst aus der Perspektive der Menschen präsentiert, resultiert nicht zuletzt aus der Evolution der Maschinen zu insgesamt zwölf organischen Modellen. Der Verbleib der letzten fünf, die sich ihrer wahren Identität erst spät bewusst werden (3.20: Crossroads: Part 2), ist den Cylons selbst nicht bekannt. Bei diesen Modellen, den ‚Final Five‘, handelt es sich natürlich um wichtige Mitglieder der kolonialen Flotte. Das Bedrohungspotenzial der organischen Modelle setzt sich aus mehreren Aspekten zusammen: Sie sind erstens äußerlich und auch innerlich nicht von Menschen zu unterscheiden. Zum zweiten, dies als klassischer Topos jeglicher Horror-Fiktion, kann jeder Cylon auf doppelte Weise ewig wiederkehren: zum einen in Form seines direkten Nachfolgers, per Bewusstseinstransfer in einem neuen, identischen Körper, zum anderen in Form des Doppelgängers, durch unendlich duplizierbare, voneinander nicht unterscheidbare Kopien (Peirse 125). Wenn auch zwischen den jeweiligen Kopien eines Modells (von denen kein Original zu existieren scheint, es handelt sich also genau genommen um Simulakren) eine besonders enge Bindung besteht – sie haben wesentliche Charaktereigenschaften gemein und sind bei Abstimmungen prinzipiell einer Meinung – so besitzen sie jedoch ein je individuelles Bewusstsein, dass sich aufgrund der persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen ausprägt. Das Design der übrigen Modelle, wie die roboterhaften „Zenturios“, die „Raider“ genannten Kampfjäger und die Basisschiffe, wurde an das der 1978er Serie angelehnt. Im Vergleich mit dem Original fällt jedoch auf, dass die Oberflächenstruktur der jeweiligen Modelle weitaus fließender und nahtloser gestaltet, und somit – entgegen der zerfurchten Oberfläche der Galactica – die Vollkommenheit und Perfektion dieser Technologie versinnbildlicht wurde. Diese Makellosigkeit zeigt sich auch im Interieur der Basisschiffe: Die Wände in den Gängen sind ohne Brüche und Kanten, ihr einheitlich scheinendes Blau von regelmäßig angeordneten Lichtspots durchflutet. In den Räumen wird dieses Blau von horizontal

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verlaufenden, pulsierenden roten Lichtstreifen durchbrochen, die den organischen Anteil der ansonsten metallen wirkenden Schiffswand anzeigen. Die im gleichen Rot gehaltenen zentralen Steuerungseinheiten auf der ebenfalls lichtdurchwirkten Kommandozentrale ähneln kleinen Wasserfällen und -kanälen, die miteinander zu verschmelzen scheinen. Der Eindruck von Harmonie und Übereinstimmung wird durch die gezeigte Interaktion der einzelnen sich auf der Brücke befindlichen Elemente gestützt: Durch Eintauchen der Handoberflächen in das Fluid kommunizieren die organischen Modelle mit den Systemen des Schiffes, die wiederum durch einen Hybriden gesteuert werden. Dessen biomechanische Verfassung und allumfassende Einheit wird insgesamt nicht als grauenhaftbedrohlich, sondern als angenehm harmonisch dargestellt (Dzialo 178). Von den Cylons selbst wird es als ein großes, einheitliches, lebendiges Ökosystem beschrieben, dessen Teil sie sind (3.06: Torn). Die eigenständige Evolution der Cylons zu Formen, die äußerlich wie innerlich von Menschen nicht mehr zu unterscheiden sind, kann als mithin vorläufig letzter Schritt der von Karsten Weber beschriebenen Entwicklung, die er in der Darstellung von Robotern und Künstlichen Intelligenzen in Science Fiction-Film und Fernsehen ausmacht, interpretiert werden. Anhand prägnanter Beispiele, die in einer chronologischen Abfolge gehalten sind, beschreibt Weber deren Wandel vom Werkzeug zum Akteur, den er als Emanzipation der Technik vom Menschen deutet, wobei diese Befreiung nicht in jedem Fall – wie die zunehmende Selbstbestimmung des Androiden Data in Star Trek zeigt – mit dem gewaltsamen Aufstand der Maschine gegen ihren Schöpfer verbunden sein muss (34f.). In der Originalserie von Battlestar Galactica waren es noch die Zenturios, die als zentrale Akteure auftreten. Im Remake hingegen gelten die organischen Modelle als die eigentliche Cylon-Spezies, der sämtliche weiteren (zumindest potenziell bewusstseinsfähigen) KI-Einheiten untergeordnet sind. Die Maschine, die sich ehemals gegen ihren eigenen Werkzeug- und Objektstatus auflehnte, beginnt wiederum Technik als Werkzeug zu nutzen. Die Zenturios werden weiterhin als Arbeits- und Kampfmaschinen, die Raider als Kampfjäger und die Hybride als Schiffsmotoren eingesetzt; Entscheidungs- oder Mitspracherecht in einer ansonsten als basisdemokratisch vorgestellten Cylongesellschaft haben sie nicht. Schließlich sind es gerade die Modelle, die den ursprünglichen Aufstand initiierten, die von ihrer eigenen Spezies zu den gleichen Arbeiten eingesetzt werden wie zuvorderst von den Menschen. Als Commander Adama erstmals von der zusätzlich programmierten Einschränkung der kognitiven Funktionen der Zenturio-Modelle erfährt, erklärt er seinem Sohn: „The Cylons didn’t want them becoming self-aware and suddenly resisting orders. They didn’t want their own robotic rebellion on their hands. You can appreciate the irony.“

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(3.02: Precipice) Der gefürchtete Aufstand findet schließlich dennoch statt – die Raider folgen bei einem Kampfeinsatz plötzlich nicht mehr ihren Befehlen, da sie in der gegnerischen Flotte die letzten fünf verschollenen Cylons erspüren und mit einem Angriff nicht gefährden wollen, was unter den organischen Modellen einen heftigen Disput auslöst: Number One: “The Raiders changed. That’s where all this started, with them. Somehow they exceeded their programming, and unlike us they can’t correct themselves, so we’re gonna have to do it for them. […] We’ll reconfigure their neural architecture, and shave down their heuristic responses.” Number Two: “Dumb them down, lobotomize them?” Number One: “They’re tools, not pets. […] The raiders are simple machines.” (4.02: Six of One)

Der Eindruck einer an Allmächtigkeit grenzenden Überlegenheit und Perfektion, welche die Cylon-Technologie zunächst hinterlässt, bekommt im Laufe der Serie zunehmend Brüche. Die hybriden Formen, die sämtliche Steuerungs- und Antriebsfunktionen der Cylon-Schiffe in sich vereinigen, reagieren sehr sensibel auf sämtliche Umwelteinflüsse und können in prekären Situationen in Panik geraten, was zu unkontrollierbaren (also von den organischen Modellen unerwünschten) Überlichtsprüngen führen kann (4.09: The Hub). Der Kontrollverlust, den die Maschinen-Akteure hinnehmen müssen, bezieht sich jedoch nicht alleinig auf das Motiv des Aufstands der Maschine. Als die Cylons von einem Virus befallen werden, wird ihnen die allseitige Verbundenheit, die totale Vernetztheit jedes Elements ihrer Technologie, in der die Harmonie ihrer Gesellschaft begründet lag, zum Verhängnis. Ihnen ergeht es ähnlich wie der Galactica zum Zeitpunkt des atomaren Vernichtungsschlags: Schutz bietet einzig die Isolation (3.07: A Measure of Salvation). Als es den Menschen gelingt, die „Auferstehungszentrale“ („resurrection hub“) zu zerstören, ist der damit verbundene Verlust an Unsterblichkeit für die Cylons endgültig, da das Wissen um die wissenschaftstheoretischen Grundlagen dieser Technologie längst verloren gegangen ist – auch die Cylons haben mit den Folgen der „Trennung von Sachverstand und Sachbeherrschung“ (Blumenberg 13) zu kämpfen (4.09: The Hub). 8 8

In seinen Ausführungen zum Charakter der neuzeitlichen Technisierung bestimmt Hans Blumenberg die bereits in der griechischen Sophistik postulierte Trennung von Sachverstand und Sachbeherrschung, dass „man sich auf die Sache verstehen konnte, ohne die Sache selbst zu verstehen“, also die Unterscheidung des „technische[n] sich-Verstehen-auf von dem theoretisch-wissenschaftlichen Verhältnis zum Gegenstand“ (12) als deren zentrales Merkmal und Ziel. In Star Trek wird qua Technobabble diese Trennung überwunden: Nicht nur die Verständigung über, sondern auch die Einsicht in die verschiedenen technischen Funktionsbereiche scheint sogar über die eigentlichen Experten hinaus gesichert. Das Gegenteil ist in Battlestar Galactica der Fall: weder Menschen noch Cylons beherrschen ihre Technologie souverän, geschweige denn dass sie ihre theoretischen Grundlagen verstehen würden.

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4.3 „A Story that is told again and again and again“:9 Zum Geschichtsbild Am Anfang steht der atomare Vernichtungsschlag der Cylons gegen die zwölf Kolonien. Kurz bevor dieser erfolgt, werden die Gründe für die antiquierte Technikausstattung auf der Galactica und das KI-Forschungsverbot angegeben, die letztendlich auf einer aus vergangenen Erfahrungen herrührenden Technikskepsis basieren. Die Vernichtung der kolonialen Welt und die anschließende Flucht in die unbekannten Weiten des Weltraums auf der Suche nach einem neuen Zuhause, der in dieser Erzählung gewendete Frontier-Mythos (Strain 52f.), stellen bereits eine deutliche Abkehr von jeglichem Fortschrittsoptimismus dar. Selbst der Leitsektor neuzeitlich-modernen Fortschrittsdenkens, der gleichzeitig eine Kernkomponente der Science Fiction bildet – wissenschaftlich-technischer Fortschritt – ist in seiner bildnerischen Umsetzung wie auch in seiner innerseriellen Thematisierung zumindest teilweise in Frage gestellt. Die Suche nach einer sagenhaften dreizehnten Kolonie, der Erde, erfolgt nun auf der Grundlage der Heiligen Schriften der Menschen, speziell des Buches der „Pythia“. Der Verweis auf die griechische Mythologie ist recht konkret und ungebrochen: Auch in Battlestar Galactica war die Pythia einstmals ein menschliches Orakel, dessen Visionen und Prophezeiungen schriftlich überliefert wurden. Die Texte enthalten Angaben zum Ursprung der Menschheit auf dem Planeten Kobol, ihrem Exodus zu den zwölf Kolonien sowie dem Auszug eines legendären dreizehnten Stammes zur Erde. Eine Priesterin zitiert die entsprechende Schlüsselstelle: „And the lords anointed a [dying] leader to guide the Caravan of the Heavens to their new homeland. […] And unto the leader, they gave a vision of serpents, numbering two and ten, as a sign of things to come“ (1.10: The Hand of God). Als die ehedem nicht sonderlich religiöse Präsidentin unter dem Einfluss ihrer den Krebs bekämpfenden Medikamente zwölf Schlangen halluziniert, daraufhin die Priesterin aufsucht und von der Legende erfährt, beginnt sie, die Verweise der Pythia nicht nur als Allegorie auf vergangene Geschehnisse, sondern als Prophetie für zukünftige Ereignisse zu betrachten. Eine weitere zentrale Passage aus der Schrift, die im Laufe der Serie wieder und wieder zitiert wird, lässt sie schließlich an eine Wiederholung der Geschichte glauben: „All this has happened before, and all of it will happen again“ (zuerst 1.07: Flesh and Bone). Auch und gerade die (religiösen) Cylons glauben an ein bereits geschriebenes Schicksal, in dem jeder und jede eine Rolle innehat, an eine sich wiederholende Geschichte, die längst geschrieben steht. Das Motiv einer ewigen Wiederkehr des Immergleichen bestimmt aufgrund der ihnen 9

Zit. nach Johnson 181.

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zur Verfügung stehenden Replikationstechnologie zudem die Grundlage ihrer Existenz, aus einem sich beständig wiederholenden Kreis von Geburt, Tod und Wiederauferstehung (McRae 211). Aus vielerlei mythischen Motiven und ebensolchen Erfahrungen einiger (menschlicher wie cylonischer) Hauptfiguren, die immer wieder auf den Schrifteninhalt verweisen und dessen prophetischen Charakter bestätigen, wird nun Stück für Stück der gesuchte Weg zur Erde konstruiert. Dieses Vorgehen veranlasste Lorna Jowett zu der Annahme, dass die der Serie offensichtlich zugrundegelegte zyklische Geschichtsauffassung nicht nur lineare Zeitenmodelle untergrabe, sondern damit auch die Rolle von Wissenschaft und Technik als der spirituellen Frage untergeordnet zu betrachten sei (73). Je mehr im Laufe der Handlung jedoch die historischen Hintergründe rekonstruiert werden, desto deutlicher wird, dass als zentrale treibende Kraft dieser Zyklen – passend zum Sujet der Science Fiction – wissenschaftlicher und technischer Fortschritt belangt wird: Bereits auf Kobol hatten Menschen intelligente Maschinen entwickelt, die sich eines Tages gegen ihre Herren auflehnten. Dieser Krieg endete im Exodus der Menschen zu den zwölf Planeten, während die Maschinen, die bereits zu organischen Modellen entwickelt worden waren, sich auf einem fernen Planeten – der „Erde“ – ansiedelten. Dort entwarfen sie wiederum ihre eigenen mechanischen Modelle mit den bekannten Intentionen und schließlich auch Folgen: ein Aufstand der Maschinen gegen – Maschinen. Die fünf Cylons, die diesen Krieg als Einzige überlebten, reisten zurück zu den zwölf Kolonien, um diese zu warnen, kamen jedoch zu spät: Die Menschen hatten dort bereits ihre eigenen mechanischen Modelle gebaut, mit denen sie sich bereits im Krieg befanden. Je mehr von den Ursachen dieser bisherigen drei Zyklen bekannt wird, desto weniger nehmen Menschen wie auch Cylons diese als für die Zukunft notwendige und unvermeidliche Tatsache in Kauf. Der Weg aus dem ewigen Kreislauf wird im kooperierenden Miteinander beider Spezies gesucht. Von Seiten der Cylons sind es dabei vor allem die weiblichen Modelle, die zunehmend für eine Zusammenarbeit votieren, wobei als auslösendes Moment die Liebesbeziehung zu einem Mann fungiert. Es sind ebenfalls ausschließlich die weiblichen Modelle, die der Existenz des aus der Verbindung von Mensch und Cylon entstandenen Hybriden Hera eine transzendente Bedeutung zumessen und, damit verbunden, der Möglichkeit der biologischen Reproduktion der eigenen Replikationstechnologie den Vorzug geben. Als Donna Haraway meinte, sie „würde vermuten, daß Cyborgs stärker mit Regeneration verbunden sind und der reproduktiven Matrix und dem Gebären als solchem eher skeptisch gegenüberstehen“ (71), hat sie sich bezüglich der Cylon-Cyborgs gründlich geirrt. Die ihnen zur Ver-

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fügung stehende „Auferstehungs-Technologie“ wird offenbar als defizitär empfunden. Die Suche nach Annäherung an die Menschen wird nach und nach durch eine auf mehreren Ebenen fortschreitende Humanisierung der Cyborg-Konstitution begleitet, die von den weiblichen Modellen ausdrücklich gewünscht und als Vervollkommnung der eigenen conditio begriffen wird. Dazu zählen die Entwicklung moralischer Standards, das bereits angesprochene Bemühen um die Möglichkeit biologischer Reproduktion sowie letztendlich auch die freiwillige Aufgabe der Replikationstechnologie, mithin also der Verlust an Unsterblichkeit – beziehungsweise wohl eher der Gewinn an Sterblichkeit, wie eine „Sechs“ dem skeptischen Regierungsrat der Kolonialflotte erläutert: In our civil war, we’ve seen death. We’ve watched our people die. Gone forever. As terrible as it was beyond the reach of the resurrection ships, something began to change. We could feel a sense of time, as if each moment held its own significance. We began to realize that for our existence to hold any value, it must end. To live meaningful lives, we must die and not return. The one human flaw that you spend your lifetimes distressing over, mortality, is the one thing, … Well, it’s the one thing that makes you whole. (4.07: Guess What’s Coming to Dinner)

Die Bedeutung des Gesagten wird durch die gewählten Umstände – die erste vor dem Regierungsrat gehaltene Rede eines Cylons – noch unterstrichen. Schließlich geht es um die Anerkennung der Cylons als gleichwertige Verhandlungspartner, um das Zugeständnis ihres Subjektstatus. Dass für diese Anerkennung die Vermenschlichung der Maschine im Sinne einer Imperfektionierung – und damit zugleich auch Domestizierung – vorausgesetzt wird, hat in der Science Fiction Tradition. Karsten Weber führt Isaac Asimovs Kurzgeschichte „The Bicentennial Man“ (1976) an, in der Robotern Bürgerrechte erst in dem Moment zugesprochen werden, in dem sie sich durch technische Eingriffe selbst sterblich gemacht haben und nur noch wenige Stunden existieren: Menschen können Perfektion nicht ertragen, so die Botschaft Asimovs, weil sie sich unterlegen fühlen – und sie es objektiv auch sind. Das perfekte Wesen muss einen Makel bekommen, bevor es von den Menschen akzeptiert werden kann. (45)

Aber auch die entgegengesetzte Richtung findet in Vertretung des Modells „Number One“ ihren Ausdruck. Verschiedene „Einser“, die als John Cavil bekannt werden, treten zunächst als Priester getarnt in Erscheinung, wobei sich bald herausstellt, dass sie innerhalb der als prinzipiell monotheistisch geltenden Cylon-Gesellschaft durchweg atheistische und nihilistische Positionen vertreten. Dementsprechend sind es die Cavils, die das Perfektionsideal in Richtung einer Überwindung der den organischen Modellen zugrunde liegenden menschlichen Konstitution verstehen und ihren Subjektstatus nicht an eine weitere Vermenschlichung koppeln: „We’re ma-

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chines. We should be true of that. Be the best machines the universe has ever seen.“ (2.20: Lay Down Your Burdens: Part 2) Die Cavils hadern mit den menschlichen Anteilen ihrer Körper, deren Begrenzungen und als Schwäche empfundene Merkmale sie durch gezieltes Training auszuschalten suchen. Doch diese Bemühungen zeitigen nur begrenzten Erfolg, wie folgender Monolog eines verbitterten Cavils zeigt: I don’t want to be human! I want to see gamma rays. I want to hear x-rays, and I want to… I want to smell dark matter. Do you see the absurdity of what I am? I can’t even express these things properly, because I have to… I have to conceptualize complex ideas in this stupid limiting spoken language. But I know I want to reach out with something other than these prehensile paws, and feel the solar wind of a supernova flowing over me. I’m a machine. And I could know much more. I could experience so much more, but I’m trapped in this absurd body. (4.15: No Exit)

Die angesprochenen Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers finden ihre Entsprechung konsequenterweise auch über die ästhetische Umsetzung des Cavil-Modells: Es ist das mit Abstand älteste und wirkt dementsprechend als das physisch schwächste. Das Versprechen ewiger Jugend, dass Susan A. George in der Replikationstechnologie der Cylons verwirklicht sieht (174), müsste in dem Falle wohl eher das Versprechen ewigen Alters lauten. Das Bemühen um die Überwindung der menschlichen Konstitution wird in der Figur des Cavil an Charaktereigenschaften wie Sadismus, Zynismus und Skrupellosigkeit gekoppelt, die wiederum aus seinem dezidiert a- und antireligiösen Standpunkt abgeleitet werden: Cavil rebellierte gegen seine ursprüngliche Glaubens-Programmierung, schaltete sie aus und damit buchstäblich jeglichen Sinn für Moral ab (4.15: No Exit). Dieses Vorgehen folgt bzw. entspricht einer nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Religionssoziologie und -philosophie bis heute beliebten Auffassung, Religion und Religiosität als conditio sine qua non für ethische Urteilskraft zu setzen.10 Wenn auch die Rolle von Religion in Battlestar Galactica durchaus ambivalent behandelt wird – der Monotheismus der Cylons wird zunächst vorrangig in seinen fundamentalistischen Ausprägungen dargestellt – so bleibt deutlich, dass die in der Serie dargelegte Moralkonzeption der Idee einer sich aus immanenten Philosophien begründeten Ethik regelrecht entgegenarbeitet. Die im Laufe der Serie auszumachende Annäherung zwischen Menschen und Cylons erfolgt durchaus bilateral. Zunächst wird besonders zentral über die Figur des Karl Agathon, der über seine Liebesbeziehung zu einer „Acht“ ein nahezu bedingungsloses Verständnis für ihre Spezies entwickelt, die Akzeptanz und Annahme einer ansonsten als fremd und unkontrollierbar erscheinenden Cylon-Technologie vermittelt. Schließlich 10

Als ein prominentes Beispiel für diese These vgl. die Ausführungen von Lübbe (54 f.).

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ist er auch der Vater des ersten Nachkommens von Cylons und Menschen, dem Hybriden Hera. Die zweite Person, die auf eine ganz andere Weise eine Annäherung erfährt, ist der Wissenschaftler Gaius Baltar. Über seine Liebe zu einer „Sechs“ und in permanenter innerer Auseinandersetzung mit ihr (bzw. mit ihrem virtuellen Abbild, dessen Ursprung – Halluzination oder Gehirnwäsche – nie geklärt wird) wendet er sich schließlich dem monotheistischen Glauben der Cylons zu und begibt sich innerhalb der Flotte auf Mission (4.01: He That Believeth in Me). Die Unterschiede zwischen Menschen und Cylons verschwimmen jedoch noch auf eine weitere, recht ungewöhnliche Weise: Die Galactica droht aufgrund von Materialermüdung und Verschleißerscheinungen auseinander zu brechen, der Schaden gilt als weitestgehend irreparabel. Chefingenieur Tyrol, mittlerweile als eines der ominösen letzten fünf Cylonmodelle enttarnt, schlägt dem Commander vor, zur Stabilisierung der Metallwände Cylon-Technologie von einem der der Flotte beigetretenen Basisschiffe, namentlich eine Art organisches Granulat, zu integrieren. Die darauf folgende Hybridisierung des Schiffes beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Stärkung der Metallwände. Der Kampfpilot Samuel Anders, ein weiterer der letzten fünf Cylons, erhält während einer Meuterei auf der Galactica eine Kugel in den Kopf, nach der Operation fällt er ins Koma. Die Cylons des Basisschiffs bringen ihre Medizintechnik an Bord der Galactica – einen Hybridtank, durch den Anders mit dem Datenstrom des Basisschiffs vernetzt und dadurch geheilt werden soll. Bedingt durch das in die Metallwände der Galactica transferierte organische Granulat wird das Gehirn von Anders jedoch stattdessen versehentlich mit dem Energieversorgungsnetz des Schiffes verbunden – die Galactica bekommt ungewollt einen eigenen Hybridantrieb (4.18: Islanded in a Stream of Stars). Die weltanschaulichen Annäherungen der ehemaligen Widersacher sowie das buchstäbliche Ineinanderfließen von menschlicher und cylonischer Technik, die Hybridisierung sowohl der Schiffe als auch der Humanoide verweisen auf den konstruktiven Charakter des Mensch-Maschine-Dualismus und stellen die diesbezüglich zugrunde gelegten Grenzziehungen zunehmend in Frage. Die Verbindung und Verquickung beider Spezies kulminiert schließlich zum Ende der Serie: Hera, halb Mensch, halb Maschine, wird als die erste Vorfahrin der gesamten heutigen Menschheit vorgestellt, was sich gewissermaßen als Versinnbildlichung der Aussage, „die Künstlichkeit war für den Menschen immer schon natürlich“ (Fohler 310), auffassen lässt.

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4.4 A Story that is told again and again and again? Bei der Frage, inwieweit die Technikdarstellung der Serie auf das in ihr verhandelte Geschichtsbild verweist, wurde zunächst besonderes Augenmerk auf die die Ästhetik der Serie zunächst deutlich dominierende RetroTechnik gelegt. Mit der sukzessiven Einführung der Cylontechnologie sowie – analog dazu – der Entschlüsselung der geschichtlichen Hintergründe der Erzählung ergibt sich nun, was den Zusammenhang von Technik- und Geschichtssemantik anbelangt, ein differenzierteres Bild. Die Retro-Technik verweist nur indirekt auf das zyklische Geschichtsbild, indem sie in ihrer symbolischen Funktion einer domestizierten und vertrauenswürdigen Technik als Reaktion auf den ungehemmten und unkontrollierbaren technischen Fortschritt zu verstehen ist. Dieser Topos einer entfesselten Technik, der über den Aufstand der Maschine im Allgemeinen und der im Laufe der Serie vorgestellten Cylontechnologie im Besonderen symbolisiert wird, tritt dabei als zentraler Agens des zyklischen Geschichtsbildes auf. Der Ausweg aus diesem bildet dementsprechend zum einen deren Domestizierung, zum anderen eine bilaterale Annäherung beider Spezies, die dabei zunehmend technisch pointiert wird. In der letzten Szene der Serie kommentieren Caprica Six und Gaius Baltar im New York der Gegenwart den sie umgebenden Zustand der heutigen Menschheit: Number Six: “Commercialism, decadence, technology run amok. Remind you of anything?” Baltar: “Take your pick. Kobol, Earth – the real Earth before this one – Caprica before the fall.” Number Six: “All of this has happened before…” Baltar: “But the question remains…does all of this have to happen again?” Number Six: “This time I bet no.” Baltar: “You know, I’ve never known you to play the optimist. Why the change of heart?” Number Six: “Mathematics, law of averages. Let a complex system repeat itself long enough, eventually something surprising might occur.” (4.20: Daybreak: Part 2)

Abgesehen davon, dass dieser Dialog die warnende Botschaft per Holzhammermethode präsentiert, erstaunt doch der Wechsel von jedweder mystischen Begründung zum ewigen Kreislauf der Geschichte hin zu einem kybernetischen Modell, in dem auf jegliche Prädestination verzichtet und die Ausbruchmöglichkeit aus dem bisherigen Geschichtsverlauf recht profan begründet wird. Die universalgeschichtliche Ebene wird zugunsten eines möglichkeitsoffenen, wenn auch nicht optimistischen Modells aufgegeben. Bemerkenswert an diesem Schlusswort ist die ihm inhärente Umkehrung der in der Science Fiction normalerweise üblichen Vorgehensweise,

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in der, wie Dierk Spreen treffend formulierte, die Science Fiction in den durch die das moderne Bewusstsein prägende Differenz von Erfahrung und Erwartung geöffneten Möglichkeitsraum ‚hineinspringt‘ und „Individuum, Gesellschaft und Außenwelt permanent auf andere Möglichkeiten, das heißt gewissermaßen auf Parallelwelten“, verweist (27). In diesem Sinne handelt es sich bei jedem Science Fiction-Text um ein Angebot, mit Kontingenz umzugehen, im Sinne einer Kontingenzschließung im fiktionalen Raum. In Battlestar Galactica erfolgt diese Schließung zunächst durch das vordergründig verhandelte zyklische Geschichtsbild. Am Serienende wird jedoch gerade durch den fabulierenden Charakter aus der Gegenwartsperspektive heraus die Erfahrung von Kontingenz wieder hereingeholt, deren Ambivalenz, „sowohl Zufalls- und Unsicherheitsbereich als auch Handlungs- und Freiheitsbereich zu sein“ (Makropoulos 40), durch ein mathematisches Wahrscheinlichkeits- und Wettmodell passend ausgedrückt wird. Der Schluss bündelt das dezent vorhandene zukunftsoptimistische Potenzial einer Serie, die in einem dystopischen Szenario anfängt, in ihrem Verlauf die ihr innewohnenden utopischen Elemente permanent zur Disposition stellt und schließlich mit der Betonung der Möglichkeit einer Utopie abschließt. 5. Fazit Die Abkehr von den gerade in Space Operas üblicherweise omnipräsenten futuristischen Nova und Gadgets und der Einsatz von teils zeitgenössischer, teils sogar antiquiert wirkender Technik wurde und wird oft im Kontext eines möglichen Endes der Science Fiction diskutiert. Schließlich ist damit der Kerngehalt sowohl der Science Fiction als auch des Fortschrittbegriffs – wissenschaftlich-technischer Fortschritt – betroffen. Durch eine diesbezügliche Untersuchung der Fernsehserie Battlestar Galactica konnte jedoch aufgezeigt werden, dass die Darstellung zeitgenössischer und antiquierter Technik in der Science Fiction vor allem als zentraler Indikator einer Abkehr von Geschichtssemantiken, die auf fortschrittstheoretischen Modellen aufbauen, zu werten ist. Mit der Verabschiedung der technik- und fortschrittsgläubigen Variante aus Science Fiction-Fernsehserien der Marke Space Opera scheinen nun dystopische Modelle endgültig ihren Platz in der unterhaltsamen Massenkultur gefunden zu haben. Was zu Beginn des Genres als Ausnahme galt, stellt nun die Regel dar. Diese Diagnose lässt wiederum Rückschlüsse auf die aktuellen gesellschaftlichen Wissensbestände zu Geschichtsbildern und Zeitsemantiken zu. Das fortschrittstheoretische Paradigma ist als solches zwar nicht verschwunden, nimmt jedoch innerhalb des zeitgenössischen

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Geschichtsbewusstseins offensichtlich keinen zentralen Stellenwert mehr ein. Wenn auch an dieser Stelle nicht weiter über den weiteren Werdegang der Science Fiction spekuliert werden soll, muss zumindest angemerkt werden, dass die Befürchtung, ihr könnten aufgrund der real stattgefundenen und weiterhin in permanenter Beschleunigung stattfindenden Entwicklungen auf naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet demnächst ihre Themen und Motive ausgehen, eine ihrer zentralen Eigenschaften verkennt: das Anbieten von von der Wirklichkeit divergierenden Möglichkeiten im Sinne von Parallelwelten. Mit diesem Möglichkeitssinn, der sowohl auf die der Gegenwart inhärenten potenziellen Chancen wie auch Risiken verweist, stellt die Science Fiction eine wichtige Handhabe im Umgang mit Kontingenz dar. Sie wird solange relevant bleiben, wie Pluralismus und Wandel als zentrale Parameter moderner Gesellschaften gelten, da sie auf diesen gleichzeitig aufbauen wie sie auf diese auch antworten. Literaturverzeichnis Barthes, Roland. Mythen des Alltags. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970. Bassom, David. Battlestar Galactica: The Official Companion. London: Titan, 2005. Baureithel, Ulrike. „Verbrannt im Eis ihrer Seele: Die ‚Kälte-Frau‘ als angsterzeugende und faszinierende Männerphantasie der Moderne“. Das Böse ist immer und überall. Hg. Dieter Gerburg Treusch. Berlin: Elefanten, 1993. 116-21. Blumenberg, Hans. „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“. Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam, 1993. 7-54. Broich, Ulrich. „Nostalgie und Science Fiction“ Alternative Welten. Hg. Manfred Pfister. München: Fink, 1982. 353-69. Casey, Jim. „‘All This Has Happened Before’: Repetition, Reimagination, and Eternal Return“. Potter und Marshall 237-50. Dzialo, Chris. „When Balance goes Bad: How Battlestar Galactica Says Everything and Nothing“. Potter und Marshall 171-85. Eberl, Jason T., Hg. Battlestar Galactica and Philosophy. Malden: Blackwell, 2008. Fohler, Susanne. „Mensch-Maschine/Maschine-Mensch: Die imaginäre Grenze zwischen Mensch und Technik“. Vernunft – Entwicklung – Leben: Schlüsselbegriffe der Moderne. Hg. Ulrich Bröckling, Axel T. Paul und Stefan Kaufmann. München: Fink, 2004. 305-15.

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Mythos und Religiosität in Star Trek FRANCESCA YARDENIT ALBERTINI Vorbemerkung der Herausgeber Prof. Dr. Francesca Yardenit Albertini war, laut eigenen Aussagen, neu in der Fantastikforschung und sich nicht immer sicher, wie die konservativeren Kollegen auf ihr persönliches Interesse an so außergewöhnlichen Themen reagieren würden. Sie hatte sich aber sowohl auf der Konferenz in Gesprächen mit anderen Teilnehmern als auch später bei ihren Mitarbeitern erfreut über die Veranstaltung und ihren Erfahrungen in Hamburg geäußert. Sie hätte großes Interesse gehabt, ihre Forschungen diesbezüglich auszudehnen. Prof. Dr. Albertini verstarb am 27.03.2011 überraschend und hinterlässt ihre Familie, Freunde, Studenten und Kollegen in tiefer Trauer. Wir, die neu gewonnenen Kollegen der Fantastikforschung, haben uns deshalb entschieden, in Anerkennung und Ehrung einer verstorbenen Kollegin ihren Konferenzvortrag in diesem Band abzudrucken. Leider blieb Frau Prof. Dr. Albertini keine Gelegenheit mehr, den Beitrag für die Veröffentlichung zu bearbeiten und zu ergänzen. Er bleibt daher in seiner Vortragsform, als ein erster Schritt zu neuen Forschungswelten, erhalten und wurde von den Herausgebern einzig in formalen Punkten angepasst. Wir danken Prof. Dr. ClausSteffen Mahnkopf, Prof. Albertinis Ehemann, für die Bereitstellung des Vortrags zur Veröffentlichung, sowie den Mitarbeiterinnen Sarah Pohl und Janina Wurbs für ihr Engagement und die Hilfe bei der Bearbeitung des Manuskripts. Mythos and Religiosity in Star Trek The article takes an open-minded approach towards Star Trek and religion, analyzing the representation of mythology, religious doctrine and religious practices within the Star Trek universe from the outside perspective of theology. In the overview, Roddenberry’s political and social openness is contrasted with his rather conservative view of monotheistic belief in the first series, while the other installments tried to implement a greater religious variety in their depiction of alien belief systems.

1. Einführung Mit der Erfindung der Fernsehserie Star Trek (US 1966-1969) hat der Filmproduzent und Drehbuchautor Gene Roddenberry (1921-1991) zahlreiche politische, gesellschaftliche und rassistische Vorurteile der damaligen west-

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lichen Gesellschaft durchbrochen. Star Trek ist die erste Fernsehserie, in der man einen Kuss zwischen einer schwarzen Frau (Leutnant Nyota Uhura; Nichelle Nichols) und einem weißen Mann (Kapitän James T. Kirk; William Shatner) erlebt, obwohl die Protagonisten nicht freiwillig, sondern unter dem Einfluss außerirdischer Kräfte zu diesem Kuss gezwungen wurden. Auch der Nachname von Leutnant Uhura enthält eine indirekte Botschaft an die schwarze Bevölkerung der USA, da Uhuru ‚Freiheit‘ auf Swahili bedeutet. In der ersten Crew des Schiffs Enterprise findet man einen Russen als Offizier, Pavel Andreievich Checov (Walter Koenig; man bedenke, was für eine Wirkung die Einbeziehung eines russischen Offiziers unter den ‚guten Charakteren‘ inmitten des Kalten Krieges hatte), sowie einen japanischen Offizier, Leutnant Hikaru Sulu (George Takei; man denke an die Spannungen zwischen USA und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg). Noch bahnbrechender ist das Vorhandensein eines halb-außerirdischen Wesens als Wissenschaftsoffizier, des Vulkaniers Spock (Leonard Nimoy). Zum ersten Mal in der Geschichte der Science Fiction taucht in der ersten Star Trek-Serie eine außerirdische Kultur auf, die nicht gewalttätig ist und nicht auf die Eroberung bzw. Ausrottung anderer Zivilisationen zielt. Natürlich findet man in derselben Serie auch aggressive außerirdische Bevölkerungen, wie z. B. die Romulaner und die Klingonen, jedoch ist in den weiteren Star Trek-Serien eine progressive Verbesserung der Darstellung der Klingonen zu beobachten, bis zum Punkt, dass sie Alliierte der ‚Vereinigten Föderation der Planeten‘ werden. Das Raumschiff Enterprise ist nicht unterwegs, um neue Gebiete zu erobern oder die Erde gegen irgendwelche außerirdischen Bedrohungen zu verteidigen, sondern verfolgt einen wissenschaftlichen Zweck: das Weltall zu erforschen und neue Zivilisationen zu entdecken. Gene Roddenberry hat eine utopische Vision durch Star Trek belebt, die er für keine Fantasie hielt: vielmehr handelt es sich bei der Serie um die Darstellung eines möglichen Universums ohne Verzicht auf Andersheit und Vielschichtigkeit des Kosmos. Bei diesem visionären Projekt werde ich mich auf ein innerhalb der Kultur von Star Trek beschränktes Gebiet konzentrieren: Mythos und Religiosität außerhalb des Sonnensystems. 2. Mythos und Religion Ich möchte den Ausdruck ‚Kultur von Star Trek‘ verwenden, weil Gene Roddenberry eine neue Kultur, ein neues und sehr vielschichtiges Wertesystem, mit Star Trek erfunden hat, das auch die Dimension der Religiosität – wenn nicht der Religion schlechthin – einschließt.

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In der ersten Star Trek-Serie gibt es eine deutliche Trennungslinie zwischen Religion als Privatsphäre des Einzelnen und dem kollektiven Dienst auf der Enterprise. Die Zuschauer erhalten so gut wie keine Information über die einzelnen Religionen oder Glaubensformen der jeweiligen (menschlichen) Besatzungsmitglieder: Beispielsweise weiß man nicht, ob Kapitän Kirk irgendeiner Religion angehört; ebenso wenig sind öffentliche Gebetsräume auf der Enterprise bekannt. Spock ist das einzige Crewmitglied, bei dem man einen tatsächlichen Blick auf eine außerirdische Glaubensform gewinnt, während Sulu das einzige menschliche Mitglied ist, bei welchem eine Verbindung zur Religion seiner Ahnen – dem Schintoismus – gezeigt wird. Der Ausdruck ‚Science Fiction‘ bedeutet ‚Erzählbarkeit und Darstellbarkeit der Wissenschaft‘, und in der Antike hatte die griechische und die römische Religion genau diese Funktion: den Aufbau einer kollektiven Identität durch Erzählen und damit Erinnern. In einer Episode der ersten Star Trek-Serie, die am 22. September 1967 erstmals ausgestrahlt wurde und die den aussagekräftigen Titel „Who mourns for Adonais?“ („Wer trauert um Gott?“; Adonay ist eine der Anredeformen Gottes in der hebräischen Bibel) trägt, wird die Enterprise von einer kräftigen Energie festgehalten, die aus einem bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten Planeten stammt. Kapitän Kirk setzt ein Untersuchungsteam zusammen, das auf den Planeten gebeamt wird, und entdeckt, dass diese Energieform ein außerirdisches Wesen ist, das wie der Gott Apollon aussieht (der griechische und römische Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung sowie der Weissagung und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs; zudem war Apollon der Gott der Bogenschützen). Fünfzig Jahrhunderte früher kam Apollon auf die Erde und beeindruckte die Menschen mit seiner Kraft und Schönheit. Als Tauschgeschenk für die Liebe und Verehrung der Menschen bot Apollon den Menschen die Künste und die Philosophie an. Als Folge der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, die auch aus diesen Disziplinen entstand, wurde Apollon zusammen mit seinen gleichartigen Wesen (nämlich den anderen griechischen und römischen Göttern) durch die Menschen verbannt. Nach Jahrhunderten, die Apollon ohne Liebe und ohne Verehrung verbrachte, sieht er jetzt die Möglichkeit, sich selbst und seine Gleichartigen wieder verehren zu lassen. Sehr interessant ist die Erwiderung von Kapitän Kirk, die die beiden Drehbuchautoren dieser Episode – Gilbert Ralston und Gene L. Coon – erdacht haben: „If you wanna play god and call yourself Apollo, that’s your business, but you’re no god to us, mister“. Noch interessanter wirkt der Versuch Kapitän Kirks, Apollon zu reizen: „Mankind has no need for gods; we find the One quite adequate“. Durch diese Aussagen zeigt Kapitän Kirk, dass Religion auch im 24. Jahrhundert existiert, obwohl diese Aussagen auf das Vorhandensein nur eines einzi-

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gen religiösen Modells – das monotheistische – schließen lassen. Von der geschichtlichen Entwicklung des Menschengeschlechts scheint Kirk alle heidnischen Religionen auszuschließen, als ob sie niemals Teil der menschlichen Kultur gewesen wären. In diesem Zusammenhang suggeriert Kirk, dass auch der biblische Gott Teil dieser Gruppe außerirdischer Wesen war: Anders als die Götter des Olymps fand das Menschengeschlecht Adonay ‚angemessener‘ als die heidnischen Gottheiten für die Verwirklichung der menschlichen Bedürfnisse. Leider vertieft sich das Gespräch von Kapitän Kirk mit Apollon nicht bis zum Punkt, den Zuschauern zu erklären, was man unter ‚angemessen‘ („quite adequate“) verstehen sollte. Eine ‚versteckte‘ Form von Monotheismus erscheint noch einmal mit dem Charakter von Q (John de Lancie) in den Serien Star Trek: The Next Generation (US 1987-1994), Star Trek: Deep Space Nine (US 1993-1999), Star Trek: Voyager (US 1995-2001) und Star Trek: Enterprise (US 2001-2005); der Name Q ist eine Huldigung Gene Roddenberrys an Janet Quarton, die im Jahr 1968 zusammen mit Sheila Clark den ersten Star Trek-Club (die Star Trek Action Group) gründete. Q stammt aus dem „Q-Continuum“, eine raum- und zeitlose Dimension, die eigentlich von den Menschen sowie von allen anderen außerirdischen Wesen nur in einer ‚vermittelnden Form‘ wahrgenommen werden darf. Q ist allmächtig und unsterblich, kann Leben schaffen wie auch vernichten und ist zudem gebärfähig, da die Geburt eines neuen Q das ganze Continuum vitalisieren und noch stärker machen kann. Bei Q fehlt aber die individuelle Freiheit, denn seine Handlungen können vom Q-Continuum bestraft werden, wenn sie sich als ‚Bedrohung‘ für das Q-Continuum erweisen (die Drehbuchautoren erklären leider nicht, inwieweit allmächtige Wesen von gleichartigen Wesen überhaupt bedroht werden können). Q sucht ein Verhältnis zu den Menschen aufzubauen – im Besonderen zu Kapitän Jean-Luc Picard –, offenbart sich dabei aber keineswegs als ein freundliches und liebevolles Wesen. Wie die antiken Götter der Episode „Who mourns for Adonais?“ scheint Q von seiner ewigen und überraschungslosen Existenz gelangweilt zu sein. Die ‚Unvollkommenheiten‘ des Menschengeschlechts sind für Q eine Quelle von Faszination und Herausforderung, und seine egoistischen Spiele mit der Enterprise führen zum ersten Kontakt des Menschengeschlechts mit den Borg. In den Serien ab The Next Generation stellen die Borg das Böse schlechthin dar, das darauf zielt, die Individualität und die Entscheidungsfreiheit der Menschen sowie aller anderen außerirdischen Lebewesen zu vernichten (eigentlich stellen die Borg den Stereotyp aller Diktaturen sowie aller in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Kulturen dar). Eine religiöse Dimension besitzt auch der in The Next Generation und im Film Star Trek: Generations (Regie David Carson, US 1984) vorgestellte Nexus, ein temporaler energetischer Fluss, in dem man das eigene Leben

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nach seinen Wünschen ausgestalten und die vorherigen Fehler korrigieren kann. Der Nexus bietet auch die Möglichkeit, die von einem Menschen verursachten Ungerechtigkeiten auszugleichen, so dass man mit Hilfe des Nexus nicht mehr um Vergebung bitten bzw. an Schuldgefühlen leiden muss. Der Nexus lässt die Strafe aus dem menschlichen Leben verschwinden, weil man durch einen unmittelbaren Übergang von der Gegenwart zur Vergangenheit und von der Gegenwart in die Zukunft (obwohl alle drei zeitlichen Dimensionen im Nexus zugleich vorhanden sind) die Notwendigkeit der Strafe verschwinden lassen kann. Eine Grundsäule der Religion ist die Strafe und die Strafbarkeit. 3. Die religiösen Glaubensformen der außerirdischen Wesen Wie oben angedeutet, vermittelt Star Trek – im Allgemeinen – nicht viel über die Religion bzw. die Religiosität einzelner menschlicher oder außerirdischer Lebewesen, sondern vielmehr über die Religion bzw. die Religiosität ganzer außerirdischer Bevölkerungen. Zum Beispiel sind die Vulkanier Verstandeswesen und Meister meditativer Methoden einer mystischspirituellen Kultform. Mit den Meditationsübungen sind alle Lebensphasen dieser außerirdischen Rasse verbunden: Ein Vulkanier erlebt alle sieben Jahre das ‚Pon Farr‘, eine Art Brunftzeit, in der allerdings auch die wirksamsten Meditationsübungen den Vulkaniern nicht helfen können. Durch eine Technik, welche der tibetischen Dzongchen-Meditation sehr nahe ist, versucht ein Vulkanier während des ‚Pon Farr‘ sich zu beherrschen und zu einer tieferen Weisheit- und Selbsterkenntnisdimension zu gelangen. Es scheint, als sei diese vulkanische Meditationstechnik durch das Aufblühen von Yoga, Tai-Chi und jedweder Art von Meditationstechnik in den sechziger und siebziger Jahren in den USA deutlich beeinflusst. Ein anderes menschliches religiöses Element findet man in der Vorstellung der vulkanischen Grußform, wobei die rechte Hand zum Gruß erhoben wird und die Finger nur zwischen Ring- und Mittelfinger gespreizt werden (häufig werden zur Geste die Worte „Live long and prosper“ gesprochen). Leonard Nimoy erfand den vulkanischen Gruß für die Episode „Amok Time“ der Originalserie. Diese Geste ist an einen jüdischen Segen (oder genauer an den aaronitische Segen der jüdischen Kohanim) angelehnt, bei dem ein Rabbi diese Handhaltung mit beiden Händen einnimmt, während sich ihm die Gemeinde mit dem Rücken zuwendet. Die Geste symbolisiert den hebräischen Buchstaben Shin (‫ )ש‬welcher der erste des Wortes Shaddai (‫שדי‬, Allmächtig, einer der Namen Gottes) ist. Auch die Klingonen zeigen religiöse Praktiken zusammen mit einer engen Verbindung zur Tradition ihrer Ahnen: Sie unterstellen sich Riten,

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welche diese Verbindung verstärken können, jedoch wird kein deutlicher Glaube an ein spezifisches transzendentales Wesen gezeigt. Die Bajoraner sind das einzige Volk, über deren Religion die Zuschauer im Detail informiert werden. Die bajoranische Religion ist die einende Kraft dieses Volkes, was sich in beinahe jedem Aspekt des täglichen Lebens widerspiegelt. So trägt zum Beispiel fast jeder Bajoraner einen religiösen Ohrschmuck, da dieser Körperteil von den Bajoranern als der Ort angesehen wird, der das ‚Pah‘ (in etwa das bajoranische Analogon zur Seele) beherbergt. Der geistliche Führer, auch ‚Kai‘ genannt, hat große moralische und politische Autorität, obwohl der eigentliche politische Führer der Premierminister ist. Die bajoranische Religion basiert auf dem ‚Glauben‘ an die Bajoranischen Propheten, die als zeitlose Wesen das Wurmloch in der Nähe von Bajor bewohnen, das daher auch ‚Himmelstempel‘ genannt wird. Da Kapitän Benjamin Sisko (Avery Brooks) der erste war, der aus dem Wurmloch zurückkam, wurde er von den Bajoranern fortan als Abgesandter der Propheten betrachtet. Ein weiteres wichtiges Element dieser Religion sind die als ‚Tränen der Propheten‘ bezeichneten ‚Drehkörper‘, die eine ähnliche Bedeutung wie Reliquien haben und erstaunliche Dinge vermögen. Jeder Drehkörper hat einen bestimmten Zweck; so gibt es zum Beispiel den Drehkörper der Zeit oder den Drehkörper der Prophezeiung. Sie stammen direkt von den Propheten. Einige dieser Drehkörper wurden während der Besetzung von den Cardassianern gestohlen und erst später teilweise wieder zurückgegeben. 4. Schluss Trotz des innovativen und bahnbrechenden Charakters von Star Trek, den ich bereits in der Einführung zu meinem Vortrag unterstrich, muss man auch einräumen, dass Star Trek – abgesehen von einigen lobenswerten Versuchen – die kulturellen Lebensdimensionen von Religion und Religiosität weitgehend unbeachtet lässt. Wenn Religion und Religiosität angesprochen werden, so spiegeln sie eine menschliche Form und Grundstruktur bei allen außerirdischen Wesen und Rassen, mit denen das Raumschiff Enterprise in Kontakt kommt (in der Originalserie gibt es sogar eine Episode, die sich auf die Suche nach dem verlorenen Paradies bezieht). Die Erkundung von Fremdkulturen – welche das ausgesprochene Ziel der Enterprise ist – untersucht alle möglichen Aspekte der jeweiligen außerirdischen Lebensformen von den existentiellen Reifeprüfungen bis zur Todesangst, jedoch wird das Wort ‚Gott‘ als transzendentales Schöpfungswesen nicht einmal angesprochen – und wenn doch, dann nur in einem negativen Kontext; je deutlicher eine außerirdische Kultur ein religiöses

Mythos und Religiosität in Star Trek

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System aufweist, desto rückständiger erscheint das entsprechende Volk. „Wir haben diese Art von Glauben seit Jahrhunderten überwunden“, diese überhebliche Haltung vom Kapitän Jean-Luc Picard (Patrick Stewart), die er einem Volk mit einer ausgeprägt rituellen Religionsform in der Folge „Who Watches The Watchers“ entgegenbringt, ist meiner Ansicht nach exemplarisch für die Beurteilung von Religion in allen Serien des Star Trek-Universums. So haben die Cardassianer sogar eine Religion, die häufig einen inquisitorischen Charakter und inquisitorische Foltermethoden zeigt (z.B. in der Next Generation-Episode „Chain of Command“). Unter den menschlichen Lebewesen, von deren Religion die Zuschauenden etwas Tieferes erfahren, ist das indianische Crewmitglied Chakotay (Robert Beltran) auf dem Raumschiff Voyager zu erwähnen (in seinem Fall ist es möglich, wie einige Drehbuchautoren zugegeben haben, dass der amerikanische Wille zur Wiedergutmachung eine wichtige Rolle bei der Erfindung dieses Charakters gespielt hat und dessen Widersprüche oder sogar inhaltlichen Fehler auch eine Widerspiegelung dieser Wiedergutmachung sind). Obwohl die Fantastikforschung mitnichten mein Forschungsgebiet ist, ist mir keine Ausnahme bekannt, in welcher die Figur Gottes als Untersuchungsobjekt in der Science Fiction auch nur oberflächlich erwähnt wird. Da die Welt der Science Fiction den wirtschaftlichen Massen- und Werbungsstrategien des Film- und des Buchmarktes untersteht, ist es begreiflich, dass man weder theologische noch religionsphilosophische Debatten in einer solchen Welt erwarten kann. Die Religion bzw. die Religiosität ist trotzdem kein Thema allein für uralte konservative Damen, sondern es handelt sich um ein allgemeines kulturelles Phänomen (Atheismus eingeschlossen!), mit dem auch die Nichtgläubigen alltäglich konfrontiert werden. Für die allgemeine ‚Glaubwürdigkeit‘ der Science Fiction bleibt es aus diesem Grund wünschenswert, dass die Existenz von neuen, anderen Lebewesen und Kulturformen die Protagonisten der jeweiligen Filme und Romane zukünftig dazu anleiten wird, auch nach den eigenen sowie nach den ‚Gottvorstellungen des Anderen‘ zu fragen. Das ist mein Wunsch und mein Ratschlag für die Fantastikforschung im 21. Jahrhundert.

FANTASTISCHE LITERATUR: EINZELSTUDIEN UND ÜBERBLICKE

Wissen als Schwelle Urban Fantasy für Kinder und Jugendliche im medialen Transfer1 PETRA SCHRACKMANN Liminal Knowledge. Urban Fantasy for Children and Adolescents in Media Transfer Urban fantasy fiction (or modern/contemporary fantasy fiction) is defined by its (sub-) urban settings as well as by the way it explicitly employs contemporary concepts of the reader’s reality. Rather than constituting a distinctly separate realm, the fantastic turns out to be an inherent but previously hidden part of a seemingly realistic world. Thus, getting in contact with the fantastic can be understood as a form of ‘waking up’, i.e. a newly developed form of seeing things that had previously been concealed. Accordingly, crossing into a fantasy world is not a mere crossing of geographic borders or a confrontation with intruding supernatural forces but denotes an irreversible transition which is only made possible through the acquisition of knowledge about the existence of the fantastic. Through the transposition of a literary text to the film screen, this complex interlacing of the realistic and the fantastic is submitted to remarkable change. Focusing on the films The Spiderwick Chronicles (2008) and Percy Jackson & the Olympians: The Lightning Thief (2010), this paper analyzes the ways in which the media transposition significantly changes the depiction of the fantastic and how this reassessment has vital influence on concepts such as world, knowledge and identity in these works.

1. Einleitung Der 12-jährige Percy Jackson hätte sich nicht träumen lassen, dass ein einfacher Schulausflug seine Welt völlig auf den Kopf stellen würde. Anstatt im Metropolitan Museum of Art in Manhattan etwas über die alten Griechen und Römer zu lernen, wird er dort nämlich angegriffen – und das ausgerechnet von seiner Mathelehrerin Mrs. Dodds, die sich vor seinen Augen in ein geflügeltes Monster verwandelt. Abwehren kann er den 1

Der vorliegende Beitrag steht in engem Zusammenhang mit dem Dissertationsprojekt der Verfasserin, welches Verfilmungen fantastischer Kinder- und Jugendliteratur seit 2001 im Fokus hat. Das Dissertationsprojekt wird als Teil des Projekts Übergänge und Entgrenzungen: Welt, Wissen und Identität in fantastischer (Kinder- und Jugend-)Literatur und ihren Verfilmungen unterstützt durch den SNF (Schweizerischer Nationalfonds).

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Angriff mit dem Kugelschreiber seines Lateinlehrers, der sich in seiner Hand plötzlich in ein Schwert verwandelt. Noch viel seltsamer ist allerdings, dass sich danach offenbar niemand mehr an die mürrische Dame erinnern kann. Es scheint, als hätte Percy sich die Existenz der Lehrerin und ihre übernatürliche Verwandlung bloß eingebildet. Fast gelingt es ihm sogar, das Erlebte als Halluzination abzutun. Erst Wochen später erhält er schliesslich doch Gewissheit darüber, dass das seltsame Ereignis tatsächlich stattgefunden hat und wird in das Geheimnis eingeweiht, welches sich dahinter verbirgt: Dass nämlich die Götter und Kreaturen der griechischen Mythologie wirklich existieren und in den heutigen USA noch immer anzutreffen sind. Sein bester Freund Grover Underwood, der sich als Satyr und Percys Beschützer entpuppt, erklärt Percys anfängliche Ungewissheit folgendermaßen: „We put Mist over the humans’ eyes. We hoped you’d think the Kindly One2 was a hallucination. But it was no good. You started to realize who you are.“ (Riordan, Thief 45). Hinter dieser Aussage, die zu Beginn der fünfbändigen Jugendbuchreihe Percy Jackson and the Olympians von US-Autor Rick Riordan geäußert wird, steht mehr als bloß die Bestätigung der Existenz des Fantastischen. Vermittelt wird die Idee einer scheinbar realitätskonformen fiktionalen Welt, welche das Fantastische durch einen magisch erzeugten Nebel vor Normalsterblichen verborgen hält. Entsprechend sind fantastische Elemente nicht in einem eigenen fantastischen Raum verortbar, sondern stellen sich vielmehr als der angeblich realistischen3 Alltagswelt schon immer inhärent heraus. Diese Haltung findet sich nicht nur in Riordans Percy Jackson-Reihe, sondern ist eine gerade im Subgenre der urban fantasy sehr verbreitete Prämisse. Insbesondere in Werken der Kinder- und Jugendliteratur werden dabei häufig Protagonisten gezeigt, welche die Existenz fantastischer Wesen und Begebenheiten in ihrer Alltagswelt entdecken, sozusagen plötzlich die Realität hinter der Realität wahrnehmen können und im Laufe ihrer Abenteuer lernen, in dieser schlagartig erweiterten Welt zu agieren.4 2 3

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Gemeint ist eine der drei Furien respektive Erinnyen, die Rachegöttinnen der griechischen Mythologie. Ich gehe von einem weiten Begriff des Fantastischen aus, da bei einer zu engen Bestimmung (vgl. die „minimalistischen Definitionen“ von Todorov und Durst) gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur viele Texte unbestimmbar würden. Die Bezeichnung ‚realistisch‘ bezieht sich im Folgenden stets auf eine „fiktionsinterne Normrealität realistischer Konventionsprägung“ (Durst 100); in Fällen, in denen auf ein fiktionsexternes Realitätsbild verwiesen wird, wird hingegen das Wort ‚real‘ verwendet werden. Urban fantasy-Texte, die sich eher an eine erwachsene Leserschaft richten, setzen tendenziell erst später ein, beispielsweise zu einem Zeitpunkt, an dem die Existenz des Fantastischen (etwa Vampire, Feenwesen oder Werwölfe) bereits der breiteren Öffentlichkeit bekannt ist, oder sie zeigen Protagonisten, die schon von Anfang an Teil dieser geheimen fantastischen

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John Clute weist in seiner Definition von urban fantasy darauf hin, dass sich das Subgenre neben der namensgebenden städtischen (oder zumindest vorstädtischen) Situierung vor allem durch die Verflechtung von realistischer und fantastischer Ebene sowie durch das Erleben dieser komplexen Verbindung auszeichnet. So definiert er: A city is a place; urban fantasy is a mode. A city may be an icon or a geography; the UF recounts an experience. A city may be seen from afar, and is generally seen clear; the UF is told from within, and from the perspective of characters acting out their roles, it may be difficult to determine the extent and nature of the surrounding reality. UF are usually texts where fantasy and the mundane world intersect and interweave. (975)

Dass solche Erzählungen in der Tat „aus dem Inneren“ erzählt werden und dabei insbesondere das Erleben einer hybriden Welt einen zentralen Aspekt der urban fantasy ausmacht, zeigt sich wohl auch in der Tatsache, dass eine bemerkenswert hohe Anzahl dieser Texte in der ersten Person Singular verfasst ist. Erstaunen wird dies kaum, erlaubt eine solche erzählerische Form doch, den Rezipienten das Erleben einer eigentlich vertrauten und gleichzeitig völlig fremden Welt unmittelbar nahezubringen. Ein solches Erleben der bisher verborgenen fantastischen Ebene wird nicht selten überhaupt erst durch die Initiation in diese Welt möglich, konkret durch die Erlangung des Wissens über deren Existenz. Diese Einweihung kann entsprechend als Übergang, als Schwelle ins Fantastische gelesen werden. Auch in der Percy Jackson-Reihe gibt es konkret lokalisierbare Schwellen, wie sie etwa Helmut Müller als für fantastische Erzählungen bestimmend beschreibt (38). Der Eingang zum Olymp, dem Göttersitz des griechischen Pantheons, befindet sich etwa nicht mehr auf der Spitze des gleichnamigen Berges in Griechenland, sondern in den USA, genauer im 600. Stock des Empire State Buildings, und die Pforte zur Unterwelt findet man inzwischen in einem Plattenstudio in Los Angeles. Fantastische Orte sind so in vielfacher Weise mit der modernen Alltagswelt verflochten. Der Zugang zu diesen mythologischen Orten ist allerdings ausschliesslich jenen möglich, die über das nötige Wissen dazu verfügen. Wissen respektive Geheimwissen erweist sich in mehrfacher Hinsicht als zentral in fantastischen Werken – insbesondere wenn man bedenkt, dass in fantastischer Literatur die Naturgesetzlichkeiten einer fiktionalen Welt nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden können und deshalb grundsätzlich erst eingeführt und erklärt werden müssen. Wenn Fantastisches mit einer realistischen Alltagswelt in Kontakt tritt, wird nicht selten implizit Kritik am unbegrenzten Glauben an Technik und WissenEbene sind. Beispiele wären etwa Jim Butchers Dresden Files-Reihe oder Patricia Briggs’’ Mercy Thompson-Bücher.

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schaft ausgedrückt, welche die Welt und die Menschen vermeintlich durchschaubar und vorhersehbar machen. Das neu erlangte Wissen über die Gesetzlichkeiten des Fantastischen ermöglicht entsprechend neue Sichtweisen und hat so nach Renate Lachmann einen gegenaufklärerischen Charakter (vgl. 8). Das explizite Problematisieren des Fantastischen bzw. dessen Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten eröffnet schließlich auch Diskurse um Realität und das ‚Mögliche‘ in der Welt. Im Folgenden möchte ich am Beispiel zweier neuerer Buchreihen und ihrer jeweiligen Verfilmungen auf die Thematisierung von Welt und Wissen in fantastischen Kinder- und Jugendmedien eingehen: Dies wäre zum einen die bereits genannte Percy Jackson-Reihe von Rick Riordan (erschienen 2005-2009), zum anderen die fünfbändige Kinderbuchreihe The Spiderwick Chronicles von Autorin Holly Black und Illustrator Tony DiTerlizzi (erschienen 2003-2004). Mit dem Vergleich von Buchvorlage und Filmadaption möchte ich aufzeigen, wie der Transformationsprozess5, der sich beim Wechsel von der Buchseite auf die Leinwand ergibt, entscheidende Veränderungen in der dargestellten fiktionalen Welt mit sich ziehen, und wie diese beiden Verfilmungen das Fantastische auffallend unterschiedlich medial umsetzen. 2. Sehfähigkeit als erlernbarer Übergang ins Fantastische: The Spiderwick Chronicles In der urban fantasy zeigt sich das besagte neue Wissen nicht selten als eine Art ‚neue Form des Sehens‘. Die Spiderwick Chronicles-Reihe präsentiert das plötzliche Auftauchen fantastischer Wesen (unter anderem Elfen, Trolle, Feen) ausdrücklich nicht als Bruch mit den Naturgesetzlichkeiten einer realistischen Welt, denn auch hier ist das Fantastische von Beginn an in die angeblich realitätskonforme Alltagswelt eingebettet.6 Mithilfe eines Buches, das die Grace-Kinder im Haus ihrer Großtante Lucinda finden, erkennen die Geschwister Jared, Simon und Mallory, dass fantastische Wesen die unwissenden Menschen schon immer umgeben haben. Bereits der Titel des Buches im Buch, „Arthur Spiderwick’s Field Guide to the Fantastical World Around You“, macht deutlich, wie die angebliche ‚Realität‘ und 5 6

Zu Adaption und medialem Transfer siehe unter anderem Gast, Kreuzer sowie Schaudig. Farah Mendlesohn bezeichnet das Auftreten des Fantastischen in einem ansonsten naturgesetzlich funktionierenden Realitätssystem als intrusion fantasy, worunter sie weitgehend Horrorliteratur versteht. Urban fantasy-Texte wären ihr zufolge als modern intrusion fantasy bzw. in Anlehnung an Attebery als indigenous fantasies (147) zu verstehen. Ihr zufolge können diese auch stark immersiven Charakter haben; gerade weil die fremden fantastischen Elemente sich letztlich aber als integralen Teil der gezeigten Alltagswelt herausstellen, scheint mir urban fantasy eher eine Mischform aus intrusion und immersive fantasy zu sein.

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die fantastische andere Welt ineinander verflochten sind. Voraussetzung, um diese andere Welt überhaupt bemerken und darin erfolgreich agieren zu können, ist entsprechend nicht der Übergang in einen anderen Realitätsbereich (etwa eine von der nicht-fantastischen Primärwelt getrennte, offene fantastische Sekundärwelt [vgl. Nikolajeva 37] wie z. B. die Welt von Narnia), sondern das Wissen über deren Existenz. Dies impliziert, wie in der Percy Jackson-Reihe, eine Art ‚geistigen‘ Übergang. Dabei präsentiert sich das Wissen um die Existenz des Fantastischen als erlernbares Geheimwissen, das durch die korrekten Methoden zugänglich ist. Die Feenwesen, welche im Verborgenen um die Menschen herum leben, können durch Verwendung gewisser Instrumente, beispielsweise mit Hilfe des „Seeing Stone“ (so der Titel des zweiten Bandes), sichtbar gemacht werden. Dieses Konzept des ‚richtigen Sehens‘ als erlernbares, besonderes Wissen weist unverkennbare Parallelen auf zu Argumentationsmustern, welche insbesondere für die Esoterik typisch sind.7 Entscheidend ist nun, dass dieses geheime Wissen nicht vergänglich ist, sondern ein Leben lang anhält. Entsprechend stellt ein Übergang ins Fantastische durch Wissen eine lineare, nicht mehr umkehrbare Reise dar; eine Rückkehr ins Nicht-Fantastische respektive ins Nicht-Wissen ist folglich nicht möglich. In der Verfilmung The Spiderwick Chronicles aus dem Jahr 2008, welche die fünf Bände der Buchreihe zusammenfasst, nimmt dieses Wissen um die Existenz des Fantastischen gegenüber der Vorlage einen veränderten Stellenwert ein, denn im Film sind die fantastischen Geschehnisse verstärkt kausal verknüpft. Im gleichnamigen ersten Band der Buchreihe wird Jared Grace durch das Lesen des „Field Guides“ langsam in die ‚unsichtbare‘ Welt eingeführt, kann so die Gefahr, die von ihr ausgeht, erkennen und lernt durch das Wissen im Buch, sich in der neu entdecken ‚Gefahrenwelt‘ zu behaupten. Im Film ist der Übergang in die fantastische ‚Welt‘ hingegen als konkreter Tabubruch umgesetzt, als Jared trotz des Warnhinweises auf dem Buchumschlag den Field Guide öffnet. Die augenblicklichen Konsequenzen in Form von sich konzentrisch ausbreitendem Licht, plötzlichem Wind im Schlafzimmer und drohendem Grollen aus der Ferne lassen erahnen, dass dieser – in der Buchreihe nicht enthaltene – Siegelbruch ernste Folgen mit sich ziehen wird. Jared hat deutlich erkennbar eine Art Grenze übertreten, was die bösen Wesen auf ihn aufmerksam macht. Dementsprechend ist im Film nicht die Erlangung des Wissens an sich 7

Den Aspekt des Geheimwissens enthält der Begriff der Esoterik bereits im Namen (aus dem Griechischen: „nach innen gerichtet“); „Gemeint sind damit Riten und Gebräuche von ‚Insidern‘ eines in sich geschlossenen Kultverbandes […], die Außenstehenden unbekannt und geheim sind. Esoteriker sind also Mitglieder geheimer Bünde und studieren Lehren, die sich rein rationaler Mittelbarkeit entziehen, sich also nicht als Teil der Schulwissenschaften verstehen“ (Eberlein 49).

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Auslöser der Geschehnisse, sondern allein das verbotene Öffnen des Buches – eine Kausalverknüpfung, die so in der Buchreihe nicht vorkommt. Dank der Möglichkeiten des Mediums kommt das neu erlernte Sehen respektive das Nichtsehen im Film allerdings eindeutiger zum Ausdruck, da die ‚Sehfähigkeit‘ der einzelnen Figuren, also deren unterschiedlicher ‚Wissensstand‘, etwa durch die Kameraführung visuell dargestellt werden kann. Im so ersichtlichen Perspektivenwechsel lässt sich der Gegensatz von ‚Nicht-Sehen‘ und ‚Sehen‘ plastischer zeigen, was in den Büchern durch die personale Erzählung in der dritten Person Singular weniger deutlich wird. Wissen als Schwelle, also die Einweihung in die ‚wahre Beschaffenheit‘ der Welt, verändert die Sicht auf diese und erzeugt auf mehreren Ebenen Verunsicherung für die Protagonisten. Zum einen präsentiert sich die vertraute Welt durch das neu erlangte Wissen ganz anders oder zumindest als nicht so komplett, wie man bisher angenommen hatte. Zum anderen wirkt das neue Weltverständnis potenziell identitätsverändernd. Besonders gut erkennbar ist dies in Arthur Spiderwicks Anrede an die Leserschaft in seinem (wiederum nur im Film vorkommenden) Vorwort des Field Guides, die gleichzeitig Einweihung in die fantastische Welt wie auch Warnung vor deren weitreichenden Konsequenzen ist. So schreibt er: Dear Reader. What you now hold in your hands is the culmination of a life’s work. And you will soon see, as I have, that there are fantastical creatures living among us hidden through mimicry and magic. This book will give you the tools and techniques needed to lift the veil and see the unseen. Once you have this sight, you will never see things the same way again. (The Spiderwick Chronicles, 0:16:47-0:17:14)

Als Verbildlichung des Lesevorgangs wird diese kurze Passage im Film übrigens mit Illustrationen aus dem Buch und Rückblenden zu Arthur Spiderwicks Erlebnissen eindrücklich bildlich dargestellt.8 Wie unschwer zu erkennen ist, ergeben sich hier schon durch die Wortwahl Parallelen zur Percy Jackson-Reihe, denn auch hier wird mit dem erwähnten Schleier ein verbergendes Element thematisiert, welches die ‚wahre‘ Sehfähigkeit der Menschen verhindert. Interessanterweise betont der Film die Idee, dass diese neue Sehfähigkeit nicht nur Aktivität ermöglicht, sondern auch Gefahren mit sich zieht (die freilich überhaupt erst ein Aktivwerden erfordern). Dies wird besonders deutlich, wenn Arthur Spiderwick eindringlich warnt: „I deeply fear that the more I learn, the more I place everyone around me in grave danger. 8

Durch die Verwendung der Originalillustrationen aus den Spiderwick-Romanen und den Begleitbüchern ergeben sich durch diese filmische Visualisierung zusätzliche Rückbezüge auf die literarische Vorlage, da jene ZuschauerInnen, welche die Bücher gelesen haben, die Bilder aus den Romanen auf den im Film gezeigten Buchseiten – wenn auch in anderem Zusammenhang – zweifellos wiedererkennen werden.

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So, reader, beware. I beseech you, beware“ (The Spiderwick Chronicles, 0:18:150:18:28). Auch im Film wird also explizit Wissen, insbesondere ein Übermaß davon, als negativ, als gefährlich präsentiert. In den Büchern wird hingegen unmissverständlich klar, dass auch Unwissenden Gefahr droht, ohne dass eine Art Tabubruch die fantastischen Wesen auf sie aufmerksam macht. Damit dürfte die in der Buchvorlage gezeigte Welt doch um einiges unheimlicher wirken als die Filmwelt, in der erst ein explizites Fehlverhalten der Protagonisten zum Auslöser bedrohlicher Ereignisse wird. 3. Vom Sehen durch den Nebel zur räumlichen Zugehörigkeit: Percy Jackson & the Olympians Auch bei der Percy Jackson-Reihe ist in der Buchvorlage eine Art neue Sehfähigkeit zu erkennen. Diese ist allerdings nur Angehörigen der mythischfantastischen Ebene vorbehalten. Percys Mutter Sally Jackson beispielsweise weiß von der Existenz des Fantastischen, kann jedoch nicht durch den verbergenden Nebel sehen. Percy ist dies möglich, weil er, wie sich herausstellt, der Sohn des olympischen Meergottes Poseidon und damit von Geburt an selbst Teil der fantastischen Welt ist. Als Halbgott kann Percy die menschliche und die göttliche Welt wahrnehmen. Diese Sehfähigkeit entwickelt er allerdings erst, als er das nötige Wissen hat, um das Gesehene einordnen zu können. Das eingangs erwähnte Erlebnis mit der Monsterlehrerin kann deshalb als eine Art ‚Erwachen‘ gesehen werden: Erst mit der Einweihung ins Fantastische erkennt er, dass er bereits früher Übernatürliches erlebt hat. Das neu erlangte Wissen erklärt so Ereignisse der Vergangenheit, schafft Ordnung in einer bisher uneindeutigen Welt und verortet ihn so zwischen den Welten. Im Vergleich zum Spiderwick-Film, welcher insgesamt recht nahe an der Vorlage bleibt, weicht der Film Percy Jackson & the Olympians: The Lightning Thief von 2010 viel stärker von der Vorlage ab.9 Die auffälligste Änderung im Film ist wohl, dass der Aspekt des besonderen Sehens gänzlich weggelassen wurde. Im Grunde genommen könnten alle Menschen die griechisch-fantastische Ebene sehen – durch den Verzicht auf den verber9

Abweichungen von der Vorlage werden im Folgenden dezidiert nicht als ‚Fehlinterpretation‘ verstanden, sondern auf ihre Konsequenzen in Bezug auf die dargestellte Welt und das Fantastische untersucht. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Adaptionsthematik wird der Aspekt der ‚Werktreue‘ schon länger kritisch betrachtet: „Fidelity criticism depends on a notion of the text as having and rendering up to the (intelligent) reader a single, correct ‘meaning’ which the filmmaker has either adhered to or in some sense violated or tampered with. There will often be a distinction between being faithful to the ‘letter’, an approach which the more sophisticated writer may suggest is no way to ensure a ‘successful’ adaptation, and to the ‘spirit’ or ‘essence’ of the work“ (McFarlane 8f.).

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genden Nebel im Film fehlt damit allerdings auch die Erklärung, warum gewöhnliche Menschen nichts von deren Existenz wissen. Anstatt ein Erklärungsmodell für die komplexe Verflechtung von realitätskonformer und fantastischer Welt zu liefern, ist im Film stattdessen eine weitgehende Trennung der beiden Ebenen erkennbar. Dies wird am Beispiel von Percys Mutter deutlich: Im Film weiß sie vom Fantastischen, kann es auch sehen, als gewöhnlicher Mensch hält sie eine unsichtbare Barriere jedoch davon ab, fantastische Orte wie das „Camp Half-Blood“ oder den Olymp zu betreten. Beide Orte hat sie in der Buchvorlage gar nie erreicht – die Inszenierung einer solchen Barriere wurde also für den Film explizit verdeutlicht. In der Buchreihe ist Wissen, also ‚richtiges‘ Sehen, Segen und Bürde zugleich. Als Wissensträger ist es Percy möglich, aktiv zu werden und das eigene Schicksal zu meistern. Jedoch impliziert Sehen auch ein GesehenWerden, weshalb Wissen auch Gefahren mit sich bringt, wie Grover Underwood erklärt: „The less you knew, the fewer monsters you’d attract“ (Riordan, Thief 45). Die in den Büchern dargestellte Welt ist entsprechend gefährlich für Halbgötter, und Nichtglauben stellt prinzipiell keine Option dar. Gewöhnliche Menschen haben immerhin noch eine Wahl, ob sie das Übernatürliche, Fantastische akzeptieren oder als Halluzination abtun wollen. Hier lässt sich vielleicht auch eine Kritik am durchrationalisierten Realitätsbild der Menschen erkennen, etwa wenn Zentaur Chiron das Verhalten gewöhnlicher Menschen folgendermaßen kommentiert: „Remarkable, really, the lengths to which humans will go to fit things into their version of reality“ (ebd. 155). Indem die Verflechtung der beiden Welten stark reduziert und meist kausal begründet wurde, präsentiert sich die nicht-fantastische Alltagswelt im Film stark entproblematisiert, was die Einbindung des Fantastischen und damit implizit auch die dargestellte Welt völlig verändert. Der Film zeigt so eine deutliche Tendenz zur Abschwächung von Mehrdeutigkeiten und zur Vereinfachung. Bereits die ersten Filmminuten lassen dies erkennen: So beginnt der Film nicht etwa mit der Hauptfigur Percy – in der Buchvorlage immerhin die einzige Erzählerstimme –, sondern mit den Götterbrüdern Zeus und Poseidon, die auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings aufeinandertreffen. Ihr kurzes Gespräch fungiert dabei als Expositions-Prolog, der sämtliche Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten bezüglich der Beschaffenheit der fiktionalen Welt von Anfang an beseitigt. Das Erzählte zeigt sich so von Beginn an als nicht-realitätskonform und nimmt dem Film mit der Vorwegnahme wichtiger Informationen auch einiges an Spannungspotential. Fantastisches geschieht zudem fast ausschliesslich in eigenen, von der Alltagswelt getrennten Bereichen. Wenn etwa Zeus bei Filmbeginn zum

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Olymp zurückkehrt, wirkt der Lift des Empire State Buildings bereits durch das gleißende Licht als förmliches Portal in eine andere Welt. Sämtliche fantastischen Erlebnisse ließen sich als Einbruch in die Realität, als eine Art Fremdkörper in der Welt wie auch in Percys Leben verstehen.10 Wie im Spiderwick-Film tritt das Fantastische auch hier erst von dem Moment an merklich in der realistischen Welt auf, als eine explizite Übertretung fester Grenzen geschieht – denn erst, als der Blitz des Zeus gestohlen wird, heften sich Monster im Auftrag des Unterweltgottes Hades auf Percys Fersen.11 Gerade in Bezug auf Percys Position zwischen den beiden Welten ist der Film zudem etwas widersprüchlich: In der Buchreihe ist Percy wohl gerade deshalb erfolgreich, weil er sich in beiden Welten bewegen kann. Dies wird auch im Film angedeutet, wo er einer der wenigen Halbgötter ist, die beide Welten kennen. Insbesondere der finale Kampf gegen den Verräter Luke – ein Sohn des Hermes – scheint diese doppelte Zugehörigkeit auch zu bestätigen, da dieser über den Dächern New Yorks stattfindet. In seiner Heimatstadt, und damit unzweifelhaft in der Welt der Menschen, nimmt Percy scheinbar die Zugehörigkeit zu beiden Welten an und kann mit seinen wasserbändigenden Kräften den Verräter besiegen. Seltsamerweise wird diese Zugehörigkeit zu beiden Welten am Ende des Filmes jedoch wieder komplett verworfen, als er sich – im Gegensatz zur Buchvorlage – zumindest vorerst für ein Leben in der fantastischen Welt entscheidet. Verabschiedet wird er, im Film, von seiner Mutter schließlich vor der Barriere zu Camp Half-Blood mit den Worten: „This is where you belong.“ (The Lightning Thief, 01:48:20). Eine vereinfachende, respektive popularisierende (Gast 51) Tendenz des Filmes lässt sich auch daran erkennen, dass der eigentliche Drahtzieher des Bösen, der Titan Kronos, komplett weggelassen wurde. Stattdessen müssen Hades12 und der Halbgott Luke als Bösewichte herhalten, die restlichen Götter werden dafür tendenziell positiver dargestellt als in der Vorlage. Grund für das Nichtbeachten ihrer Kinder ist nämlich nicht ein generelles Desinteresse an deren Schicksal, sondern ein Verbot des Zeus, 10 11

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Maria Nikolajevas Kategorisierung zufolge liessen sich die fantastischen Elemente im Film als einer implied secondary world entstammend verstehen (36). In den Büchern zeigt sich diese Ausgangslage um einiges zugespitzer: Bereits der Geruch von Halbgöttern lockt Monster an, weshalb viele Kinder der Götter einen frühen Tod finden. Einer der wenigen Zufluchtsorte ist das Camp Half-Blood, ein Sommercamp, in dem junge Halbgötter ihre Kampfkünste trainieren und sich auf Questen vorbereiten können. Auch in anderen Verfilmungen griechischer Mythen wird die eigentlich neutrale Figur Hades zum Bösewicht, etwa in Disneys Hercules (1997, Reg. Ron Clements und John Musker) und im Remake von Clash of the Titans (2010, Reg. Louis Leterrier). Auch beim Percy JacksonFilm ist die christlich beeinflusste Ikonographie unverkennbar: Hades tritt u. a. als Teufel, als geflügelter Dämon auf, während Percys Bootsfahrt auf dem Fluss Styx eher einer Fahrt durchs Fegefeuer gleicht.

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der jeglichen Kontakt mit Sterblichen verbietet, weil die Götter sonst ihre Aufgaben aus Liebe zu ihren Kindern vernachlässigen könnten. Sowohl in den Büchern als auch im Film wird ein Konflikt zwischen den göttlichen Machthabern und deren vernachlässigten Kindern thematisiert; dieser manifestiert sich allerdings in der Verfilmung bedeutend anders. Während in den Büchern klar ersichtlich ist, dass Kronos als Ersatz der griechischen Götter keine Alternative ist, sondern nur Chaos und Zerstörung mit sich bringen würde, ergeben sich im Film gerade aufgrund der Auslassungen Widersprüche. Durch den fehlenden Drahtzieher Kronos hätten Lukes Vorwürfe an die veraltete Ordnung der Welt nämlich durchaus ihre Berechtigung. Sein Verrat erklärt sich als Aufbegehren einer neueren Generation gegen eine veraltete, starre Ordnung: „Control! They’ve been in power for too long! I say it’s time for our generation to take over. Remold the world in our image. A world of new heroes“ (The Lightning Thief, 01:36:00-01:36:12). Weil aber die Einbindung der Götter in die Ordnung der Welt und insbesondere ihre Rolle zur Erhaltung der westlichen Zivilisation im Film gar nicht thematisiert wird, wirkt Percys Engagement zur Rettung der Götter kaum motiviert; schliesslich hat er – im Gegensatz zum Buch – keine Gelegenheit, sich in seine ‚neue‘ Welt einzuleben und deren Wertvorstellungen anzunehmen. Wohl auch deswegen wurde sein Antrieb im Film fast völlig auf die Rettung seiner Mutter aus der Unterwelt gerichtet. Nicht zuletzt aufgrund der Auslassung der reihenumspannenden Handlung um Kronos fehlt dem Film letztlich auch ein expliziter Anknüpfungspunkt für eine allfällige Fortsetzung der Reihe. Die Filmabenteuer von Percy wirken somit weit episodischer und lassen den epischen Aspekt der Vorlage etwas vermissen. Damit wird das Fantastische nicht nur stark entproblematisiert, sondern ist auch weit abenteuerlicher und damit positiver konnotiert als in der Buchreihe. 4. „It’s all true!“ Medial (nicht-)inszenierte Authentizitätsfiktion Abschließend möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen, den beide Filme nicht von der Vorlage übernehmen: Wie viele Werke der urban fantasy drücken die beiden Buchreihen explizit den Anspruch aus, tatsächlich geschehene Ereignisse zu berichten. Der erste Band der Percy JacksonReihe beginnt etwa mit einer Warnung: Look, I didn’t want to be a half-blood. If you’re reading this because you think you might be one, my advice is: close this book right now. Believe whatever lie your mom or dad told you about your birth, and try to lead a normal life. Being a half-blood is dangerous. It’s scary. Most of the time, it gets you killed in painful, nasty ways.

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If you’re a normal kid, reading this because you think it’s fiction, great. Read on. I envy you for being able to believe that none of this ever happened. But if you recognize yourself in these pages – if you feel something stirring inside – stop reading immediately. You might be one of us. And once you know that, it’s only a matter of time before they sense it too, and they’ll come for you. Don’t say I didn’t warn you. (Riordan, Thief 1)

Bevor Percy der Leserschaft seine fantastischen Abenteuer erzählt, spricht er sie also explizit an und wirft die Frage auf, ob etwas wie die folgenden Ereignisse vielleicht auch einigen der jugendlichen Rezipienten zustoßen könnte. Auch die fünf Bände der Spiderwick Chronicles beginnen mit einer direkten Ansprache an die Leserschaft, die sich sogar in doppelter Form zeigt: Jeder Band beginnt jeweils mit einem einleitenden Brief der drei Hauptfiguren an die Autorin Holly Black und den Illustrator Tony DiTerlizzi. In diesem beteuern die Kinder – deren ‚wahre‘ Namen zu ihrem eigenen Schutz geändert wurden – die Wahrhaftigkeit ihrer Erlebnisse um das Buch von Arthur Spiderwick und wollen mit den Fantasy-Profis in Kontakt treten, damit ihre Geschichte veröffentlicht werden kann. Ihr Anliegen ist es, den Menschen die Augen zu öffnen und sie vor den ungeahnten fantastischen Gefahren in unserer Welt zu warnen: „We just want people to know about this. The stuff that has happened to us could happen to anyone“ (DiTerlizzi und Black, Book 1; k. Pag.). Die Autorin bekräftigt diese Authentizitätsfiktion, indem sie in jedem Buch gleich neben dem Brief der Kinder die Existenz solcher Wesen ebenfalls persönlich beteuert und sich explizit an die Leserschaft wendet, um ihre neue Sicht der Welt seit ihrer Initiation durch die Grace-Kinder zu erklären: What has happened since is hard to describe. Tony and I have been plunged into a world we never quite believed in. We now see that faeries are far more than childhood stories. There is an invisible world around us and we hope that you, dear reader, will open your eyes to it. (ebd.)

Indem die Bücher postulieren, auf die reale, außertextliche Welt, in der die Rezipienten leben, zu referieren und wahre Ereignisse zu erzählen, weitet sich die Verunsicherung darüber, ob die Welt wirklich mehr enthalten könnte, als wir alle ahnen, potenziell auch auf die Ebene der Leserschaft aus. Dies wird zusätzlich durch die vielen Begleitbücher zur Buchreihe unterstützt – so kann man etwa einen ‚Nachdruck‘ des Original Field Guides kaufen und alles über die Feenwesen lernen; dieses Buch wird notabene nicht als Werk von Holly Black und Tony DiTerlizzi vermarktet, sondern wurde laut Titelblatt von ihnen lediglich „accurately restored and described“ (DiTerlizzi und Black, Arthur Spiderwick’s Field Guide; k. Pag.). Dieser Wahrheitsanspruch fällt in den behandelten Verfilmungen (wie auch in weiteren Medialisierungen von Werken der urban fantasy) fast ausnahmslos weg. Beachtenswerterweise ermöglicht nun aber der Medienver-

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bund, insbesondere in Form der Sonderausstattung auf DVDs und Blurays, Anknüpfungspunkte an die literarischen Vorlagen, auf die in der Kinoversion der Filme noch verzichtet werden musste. Im Falle von The Lightning Thief bietet das DVD-Bonusmaterial zusätzliches Wissen zu den Göttern, welches mythische Hintergrundinformationen vermittelt und ansatzweise die Authentizitätsbekundung der Buchvorlage erkennen lässt. Im interaktiven Feature „Geheimnisse der Götter“ können beispielsweise einzelne Götter und Monster nachgeschlagen werden; in einer kurzen Einleitung bekräftigt der Erzähler die tatsächliche Existenz der im Film gezeigten Wesen: Willkommen bei den ‚Geheimnissen der Götter‘. Die griechische Mythologie ist voll von Geschichten über Götter, Monster und Helden. Doch die meisten Menschen wissen nicht, dass diese Geschichten keine Märchen sind. Sie sind wahr. Das stimmt. Die Götter und ihre Kinder leben seit vielen, vielen Jahren gemeinsam mit einigen freundlichen und nicht ganz so freundlichen Kreaturen und Monstern unerkannt mitten unter uns. Also passt gut auf, was ihr bald erfahren werdet. Denn ihr wisst ja nicht, wer oder was euch demnächst über den Weg läuft. (k.A.)

Die DVD zum Spiderwick-Film akzentuiert diese Wahrheitsbekundung noch weiter, indem die Authentizitätsfiktion in den DVD-Extras fast durchgehend aufrechterhalten wird. Illustrator DiTerlizzi spricht als Einziger von einer fiktionalen Geschichte, während Regisseur Mark Waters und Autorin Holly Black von dem Erzählten sprechen, als sei alles ohne jeden Zweifel tatsächlich geschehen. Dieses Beharren auf der Wahrhaftigkeit der dargestellten Ereignisse bedeutet auch eine Erweiterung und Entgrenzung des Films, wie dies Margaret Mackey als allgemeine Tendenz heutigen (multimedialen) Erzählens sieht: „In our contemporary era of major technological change, we can see stories shifting and altering their borders even as the world of make-believe expands beyond anything our ancestors might have imagined“ (16). Diese Entgrenzung ist freilich nicht nur auf die technischen Möglichkeiten von Darstellung und Vertrieb solcher Filme zu beziehen, sondern auch auf die Umsetzung des Fantastischen. In den besprochenen Beispielen etwa kann das DVD-Bonusmaterial als multimediale Form eines Paratextes verstanden werden, der nun auch die Rezipienten zu Eingeweihten macht, die so ihrerseits die angebliche ‚Wahrheit‘ über die Existenz des Fantastischen erfahren und zudem noch Strategien erlernen können, um sich böse Feenwesen und Monster vom Leib zu halten.

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5. Fazit Werke der urban fantasy charakterisieren sich nicht selten durch komplexe Verflechtungen fiktionsinterner Ebenen, welche sich durch Hybridität, Uneindeutigkeiten und Überlagerungen auszeichnen. Insbesondere der Aspekt des besonderen Sehens und der Anspruch, wahrhaft Geschehenes zu erzählen, lässt sich in vielen Erzählungen des Subgenres erkennen. Trotz Kürzungen lässt sich sagen, dass der Film The Spiderwick Chronicles weitgehend versucht, die Verbindung von Wissen und Sehen aus der Buchvorlage beizubehalten und diese durch mediale Mittel umzusetzen. Der Film um Percy Jackson nimmt hingegen vor allem Änderungen auf der Handlungsebene vor, wodurch sich umfassendere Umdeutungen in der Weltkonzeption ergeben. Wie ein Großteil fantastischer Filme der letzten Jahre, neigen beide Verfilmungen in unterschiedlichem Maß zur Komplexitätsreduktion, insbesondere durch das Hinzufügen expliziter Kausalverknüpfungen im Kontakt mit dem Fantastischen. Gerade in Bezug auf die in den Buchvorlagen ausgedrückte Authentizitätsfiktion lassen sich bei den Beispielfilmen ähnliche Ansätze erkennen. Während für die im Kino gezeigten Versionen der Anspruch auf Wahrhaftigkeit gänzlich weggelassen wurde, nehmen beide Filme in der Zweitauswertung für den Kaufmarkt einige gestrichene Aspekte der Vorlage wieder auf; Zusatzinformationen und weiteres Bild- und Filmmaterial ergänzen als fakultatives Medienangebot die kanonisierte Version des Filmes. Indem dieses Bonusmaterial auf den DVDs und Blu-rays eben gerade nicht verbindlich zur Filmadaption gehört und wohl nur von einem Teil des Filmpublikums rezipiert wird, ergeben sich dadurch potenziell mehrere Lesarten der Filme. Betrachtet man das Bonusmaterial als „fictional add-ons“ (Mackey 18), wird das Filmerlebnis potenziell pluralisiert, vielleicht sogar individualisiert, da die Rezipienten der dargestellten Welt nicht mehr zwingend dieselben Informationen erhalten. Damit wäre die ‚gesamte Wahrheit‘ um einen Text, insbesondere bei der Berücksichtigung verschiedener medialer Formen, ebenfalls als eine Art ‚Geheimwissen‘ für die Rezipienten zu verstehen – die aber zum Glück, anders als die Helden der Filme respektive der Buchvorlagen, selbst entscheiden können, ob sie zu den ‚Eingeweihten‘ gehören wollen oder nicht. Literaturverzeichnis Clute, John. „Urban Fantasy“. Encyclopedia of Fantasy. Hg. John Clute und John Grant. London: Orbit, 1997. 975.

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DiTerlizzi, Tony und Black, Holly. The Spiderwick Chronicles. Book 1: The Field Guide. London: Simon & Schuster, 2003. —. The Spiderwick Chronicles. Book 2: The Seeing Stone. London: Simon & Schuster, 2003. —. The Spiderwick Chronicles. Book 3: Lucinda’s Secrets. London: Simon & Schuster, 2003. —. The Spiderwick Chronicles. Book 4: The Ironwood Tree. London: Simon & Schuster, 2004. —. The Spiderwick Chronicles. Book 5: The Wrath of Mulgarath. London: Simon & Schuster, 2004. —. Arthur Spiderwick’s Field Guide to the Fantastical World Around You. New York: Simon & Schuster, 2005. Durst, Uwe. Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit, 2007. Eberlein, Gerald L. „Esoterik“. Kleines Lexikon der Parawissenschaften. München: Beck, 1995: 49-53. Gast, Wolfgang. Grundbuch Film und Literatur: Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt/M.: Diesterweg, 1993. Kreuzer, Helmut. „Medienwissenschaftliche Überlegungen zur Umsetzung fiktionaler Literatur: Motive und Arten der filmischen Adaption“. Medien und Deutschunterricht: Vorträge des Germanistentags. Hg. Eduard Schaefer. Tübingen: Niemeyer, 1981. 23-46. Lachmann, Renate. Erzählte Phantastik: Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002. Mackey, Margaret. „Playing in the Phase Space: Contemporary Forms of Fictional Pleasure“. Signal 88 (1999): 16-33. McFarlane, Brian. Novel to Film: An Introduction to the Theory of Adaptation. Oxford: Clarendon, 1996. Mendlesohn, Farah. Rhetorics of Fantasy. Middletown: Wesleyan UP, 2008. Müller, Helmut. „Phantastische Erzählung“. Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur: Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 3. Hg. Klaus Doderer. Weinheim: Beltz, 1979. 37-40. Nikolajeva, Maria. The Magic Code: The Use of Magical Patterns in Fantasy for Children. Stockholm: Almquist & Wiksell, 1988. Riordan, Rick. Percy Jackson and the Battle of the Labyrinth. London: Puffin, 2008. —. Percy Jackson and the Last Olympian. London: Puffin, 2009. —. Percy Jackson and the Lightning Thief. London: Puffin, 2005. —. Percy Jackson and the Sea of Monsters. London: Puffin, 2006. —. Percy Jackson and the Titan’s Curse. London: Puffin, 2007. Schaudig, Michael. Literatur im Medienwechsel: Gerhart Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“ und ihre Adaptionen für Kino, Hörfunk, Fernsehen. Prolegomena zu einer Medienkomparatistik. München: Schaudig, 1992.

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Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt/M.: Fischer, 1992. Filme „Geheimnisse der Götter“. Bonus Feature. Percy Jackson & the Olympians: The Lightning Thief. DVD. „It’s A Spiderwick World!“. Bonus Feature. The Spiderwick Chronicles. DVD. Percy Jackson & the Olympians: The Lightning Thief. (dt. Percy Jackson – Diebe im Olymp). Reg. Chris Columbus. Darst. Logan Lerman, Sean Bean, Pierce Brosnan. 2010. Twentieth Century Fox, 2010. DVD. „Spiderwick: It’s All True!“ Bonus Feature. The Spiderwick Chronicles. DVD. The Spiderwick Chronicles (dt. Die Geheimnisse der Spiderwicks). Reg. Mark Waters. Darst. Freddie Highmore, Mary-Louise Parker, Nick Nolte. 2008. Paramount, 2008. DVD.

Materialität der Zeichen und Materialität der Welt in der Fantasy MARTIN G. E. STERNBERG Materiality of Signs and Materiality of World in Fantasy In many cultures exists the idea that underlying our world is a fabric of words, of true names that were uttered in the divine act of creation and guarantee its existence. Knowing these words is often the basis of magic. Many authors like Ursula Le Guin and Patrick Rothfuss have upheld the idea of true names in their fictions, and even as authors maintain the importance of finding the right name, which may effectively generate its own story. The most famous case of this is J.R.R. Tolkien who attributed this effect to the “phonetic fitness” of a word, a similarity between the emotions raised by the sound of a word and its meaning. This attention for what Aleida Assmann calls the materiality of the sign is suppressed in our normal mode of reading, because it would interfere with the conventional relation between sign and meaning. The convention that establishes a sign as a sign makes it thus disappear as a thing and, if this transcending mode of reading shapes our encounter with the world at large, may make the world disappear altogether. Assmann contrasts reading with gazing, a long and contemplative look entranced by materiality in which things and human beings can unfold themselves. This is exemplified in Cornelia Funke’s Inkheart trilogy where a specific kind of “gazing” reading, attentive to the materiality of words, has the power to move characters between worlds seen as texts, and to change these worlds. Ultimately, there is a suggestion in Funke that what is real is not what is read and transcended towards meaning, but what is beheld by gazing.

Es ist eine alte Vorstellung, dass die Welt durch ein Gerüst aus Worten, aus wahren Namen, getragen und garantiert wird: Im Alten Ägypten war die Zeit vor der Schöpfung die Zeit, als „nicht der Name irgendeines Dinges verkündet war“ (Hornung 169f.), und zur Schöpfung gehörte der Ausspruch des Namens des zu erschaffenden Dinges durch den Schöpfergott, das mit dem Ausgespochenwerden durch die Macht (hike) des Gottes Wirklichkeit wurde (ebd. 204). Für die jüdische Kabbala hat Umberto Eco dies wie folgt zusammengefasst: Wenn Gott die Welt durch die Emission von sprachlichen Lauten oder alphabetischen Lettern geschaffen hat, dann sind diese semiotischen Elemente nicht Re-

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präsentationen von etwas, dem gegenüber sie präexistent waren, sondern Modellformen, an welchen sich die Elemente bilden, aus denen die Welt besteht. […] Hier zeichnet sich eine Sprache ab, die insofern vollkommen ist, als sie nicht nur exemplarisch die Struktur des Universums widerspiegelt, sondern diese hervorbringt und zugleich mit ihr zusammenfällt wie die Gussform mit dem geformten Objekt. (44)

So entsteht die Idee von wahren Namen, deren Kenntnis es erlaubt, das Benannte zu beherrschen, indem man es bei seinem Namen ruft. Für dieses Lesen der Welt auf der Grundlage wahrer Namen ist Voraussetzung, dass die Verbindung zwischen Name und Benanntem nicht willkürlich ist. Sie beruht entweder auf Ähnlichkeit – wie bei Tierhuf und Abdruck – oder göttlicher Schöpfungsordnung. Beides kommt zusammen in der Signaturenlehre des Paracelsus, für den die äußere Gestalt einer Pflanze in von Gott beabsichtigter Weise Aufschluss über ihre Heilwirkung gibt. Die Ähnlichkeit beispielsweise zwischen der Walnuss und ihrem Kern einerseits und menschlichem Schädel und Hirn andererseits kennzeichnet sie als ein Heilmittel gegen Kopfkrankheiten (vgl. Assmann 245). 1. Wahre Namen, Schöpfung und Magie in der Fantasy Solche Vorstellungen sind in der Wissenschaft schon lange obsolet. Viele Autoren der Fantasy wie Ursula K. Le Guin, Patrick Rothfuss und J.R.R. Tolkien haben aber in unterschiedlichen Formen an der Idee ‚wahrer Namen‘ festgehalten, die objektiv zum Bezeichneten gehören oder zumindest durch ihren Klang seine Assoziation erwecken. Bei Rothfuss wie Le Guin sind die wahren Namen der Dinge und ihre Kenntnis die Grundlage der Magie: He saw that in this dusty and fathomless matter of learning the true name of each place, thing, and being, the power he wanted lay like a jewel at the bottom of a dry well. For magic consists in this, the true naming of a thing. (Le Guin Wizard 50)

Der wahre Name eines Dinges ist als seine Anrufung Teil jeder Zauberformel. Diese Namen entstammen der Ursprache, die die Sprache des Schöpfergottes Segoy und der Drachen ist (ebd. 50f.). Die göttliche Schöpfungsordnung garantiert also in Earthsea die Bindung zwischen Namen und Benanntem. Bei Patrick Rothfuss gibt es neben der Auffassung, dass der Schöpfergott Aleph den Dingen der Welt ihren Namen gab, eine andere, nach der er nur die Namen erkannte, die alle Dinge bereits besaßen (vgl. Rothfuss 52): Die Bindung zwischen Ding und Namen ist hier so eng, dass sie von der Gottheit nicht gestiftet, sondern nur erkannt werden kann. Diese Idee findet sich zumindest für die Aufdeckung wahrer Namen auch bei Le Guin: „When you know the fourfoil in all its seasons root and leaf and

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flower, by sight and scent and seed, you may learn its true name, knowing its being: which is more than use“ (Wizard 26). Für Le Guin hat dieses enge Verhältnis zwischen Namen und Benanntem eine Entsprechung in ihrer Erfahrung als Autorin: People often ask how I think of names in fantasies, and again I have to answer that I find them, that I hear them. This is an important subject in this context. From that first story on, naming has been the essence of the art-magic practiced in Earthsea. For me, as for the wizards, to know the name of an island or a character is to know the island or the character. Usually the name comes of itself, but sometimes one must be very careful: as I was with the protagonist, whose true name is Ged. I worked (in collaboration with a wizard named Ogion) a long time to listen for his name, and making certain it really was his name. This all sounds very mystical and indeed there are aspects of it that I do not understand, but it is a pragmatic business too, since if the name had been wrong, the character would have been wrong – misbegotten, misunderstood. (Dreams 41f.)

Der Klang eines Wortes kann dabei seinen Inhalt selbst hervorbringen oder weiter ausgestalten. Le Guin sagt vom Wort „rushwash tea“: If you press me, I will explain that it comes from the rushwash bush, which grows both wild and cultivated everywhere south of Enlad, and bears a small round leaf which when dried and steeped yields a pleasant brownish tea. I did not know this when I wrote the foregoing sentence. Or did I know it, and never really thought about it? What’s in a name? A lot, that’s what (Language 42).

2. Tolkiens phonetische Passgerechtigkeit Auch wenn diese Namen für Le Guin notwendige Namen sind, so ist doch ihre Verbindlichkeit auf ihre eigene Person beschränkt: es sind keine wahren, sondern klanglich passende Namen. Und damit kommen wir zu Tolkiens Idee von „phonetic fitness“ (Tolkien, Monsters 211), der phonetischen Passgerechtigkeit zwischen Wort und Bedeutung. Laut Tolkien ist das Erfinden von Privatsprachen ein heimliches, aber verbreitetes Laster. Sein Antrieb sei, dass der reine Klang von Worten eine emotionale Reaktion auslösen könne wie Musik. Und so wie nebenher gehörte Musik das Verständnis eines Textes beeinflussen könne, den man gerade liest, so könne der Klang eines Wortes das Verständnis seines Inhalts beeinflussen (ebd. 218f.). Ziel persönlicher Sprachschöpfungen sei es, eine möglichst große Übereinstimmung zwischen der Reaktion auf das Wort und derjenigen auf seinen Sinn zu erzielen (ebd. 205-8). Leitend für sprachschöpferische Aktivitäten sei dabei ein „individual linguistic character“ (ebd. 211), ein individueller Lautgeschmack. Und wegen dieses persönlichen Lautgeschmacks kann nach Tolkien jeder Sprachschöpfer zwar theoretisch viele Sprachen (zumindest in Rudimenten) erschaffen,

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wird aber schließlich zu einer Form finden, die seinem Lautgeschmack am besten entspricht und ihn fixiert, in Tolkiens Fall die Elbensprache Quenya: It expresses, and at the same time has fixed, my personal taste. Just as the construction of a mythology initially expresses one’s taste, and later conditions one’s imagination, and becomes inescapable, so with this language. I can conceive, even sketch, other radically different forms, but always insensibly and inevitably now come back to this one, which must therefore be or have become peculiarly mine. (Tolkien, Monsters 212f.)

Diese Sprache wird dann zwar nicht objektiv die Weltordnung garantieren, aber die subjektive Weltbindung ihres Schöpfers verkörpern. Der enge Zusammenhang zwischen Wahrnehmen und Aussprechen zeigt sich in Frodos gesteigerter Weltwahrnehmung auf Cerin Amroth in Lorien: „He saw no colour but those he knew, gold and white and blue and green, but they were fresh and poignant, as if at that moment he had first perceived them and made for them names new and wonderful“ (Tolkien, Lord I 455f.). Es ist aufschlussreich, dass ausgerechnet im Werk des Sprachschöpfers und -wissenschaftlers Tolkien das Konzept des wahren Namens nicht betont wird. Zwar hat Helmut W. Pesch gezeigt, dass die von Tolkien erfundenen Sprachen in ihrer phonetischen Struktur, in Wort- und Satzbau Eigenschaften aufweisen, welche die ihrer Sprecher widerspiegeln. So entspricht das Entische mit seinen permanent wachsenden Worten dem pflanzlich-baumartigen Charakter der Ents (vgl. Pesch 155f.). Diese Sprachen repräsentieren diese Eigenschaften zudem nicht nur, sondern haben auf ihre Sprecher eine echte Wirkung: Im Falle der Ents führt ihre langsame, bedächtige Sprache auch zu einer schwerfälligeren Denkweise und einer geringen Gewaltfähigkeit, und man kann gute Gründe dafür anführen, dass ein wesentlicher Beitrag Merrys und Pippins zum Marsch der Ents auf Isengard darin liegt, dass sie Treebeard dazu zwingen, seine Lage in der oberflächlicheren, gröberen, aber auch schnelleren und aggressiveren Gemeinsamen Sprache (also dem Englisch des Buches) zu reflektieren (Sternberg 158f.). Dies bedeutet aber nur, dass diese Sprachen die Weltsicht ihrer Sprecher verkörpern und auf diese selbst dadurch zurückwirken können. Was diese Worte aber nicht verleihen ist Macht über die Außenwelt. Die Zwerge haben zwar geheime Namen, über deren tatsächliche magische Wirksamkeit aber wird nichts gesagt (Lord III 522). Was der Ent Treebeard als wahre Namen bezeichnet sind die Geschichten der benannten Gegenstände, zu denen sich Namen im Entischen auswachsen (Lord II 80). Selbst Zauberformeln wie die des Barrow-wights bestehen aus Worten der normalen Kommunikationssprache (Lord I 193). Nicht näher spezifiziert werden die „spells for the bane of Mordor“ (Lord II 14), mit denen die Schwerter aus dem Hügelgrab versehen sind, und über die „words of power“ (Lord III 120) des Hexenkönigs, mit denen er die Tore von

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Minas Tirith zersplittern lässt, wird nur gesagt, dass sie einer alten vergessenen Sprache entstammen. Das Konzept des Zauberspruchs wird von Tolkien zwar fortgeführt, aber nicht ausgearbeitet. Denn nicht die Worte alleine, sondern die Melodie, mit der sie gesungen werden, ist entscheidend. Tom Bombadil hat Macht über den Old Man Willow, weil er die Melodie (tune) für ihn kennt (Lord I 166). Erst die musikalische Ausgestaltung der Worte im Lied gibt ihnen weltverändernde Kraft. Das dürfte daran liegen, dass Arda nicht durch einen Akt des Sprechens, sondern durch die Große Musik geschaffen wurde, die die Ainur unter Illuvatars Leitung aufführten (Silmarillion 3-6). So bleibt also auch bei Tolkien die Entsprechung zwischen den lautlichen Bedingungen der Weltschöpfung und der magischen Weltveränderung letztlich gewahrt. Vergleicht man nun diese programmatischen und theoretischen Aussagen Tolkiens mit der tatsächlichen Funktion erfundener bzw. gefundener Worte für die Entstehung seiner Werke und die Entwicklung der Namen in ihnen selbst, wie sie mittlerweile durch die History of Middle Earth nachvollziehbar ist, ergeben sich aufschlussreiche Differenzierungen, die allerdings hier nur kursorisch angesprochen werden können: nur in einigen Fällen bleibt die Wortgestalt durchgehend völlig konstant, diese Fälle sind aber im wörtlichen Sinne fundamental: etwa das angelsächsische Wort Earendel, der wohl wichtigste Keim des Silmarillion, und das Wort Hobbit, grundlegend für The Hobbit und The Lord of the Rings. Der größte Teil des Namenmaterials ist aber zahlreichen Wandlungen unterworfen (auch wenn er oft um ein bestimmtes Klangbild schwingt), ebenso wie die erfundenen Sprachen selbst. Tolkien schrieb, dass er zwischen den Polen des reinen Erzählens und der Philologie immer hin- und herwechselte (Letters 145). Das ist bei seinem Verhältnis zu seinen erfundenen Sprachen nicht verwunderlich, weil mit der erzählerischen Ausgestaltung des Benannten dessen Bild auch für den Sprachschöpfer differenziert oder verändert wird und dementsprechend auch der Name angepasst werden muss, gerade um das Postulat der phonetischen Passgerechtigkeit weiterhin zu erfüllen. Diese permanenten Rückkopplungen zeigen weiter, dass die Namen nicht nur Antworten, sondern immer auch Fragen sind, weil sie ihren Schöpfer immer wieder an seinen eigenen Anspruch der phonetischen Passgerechtigkeit erinnern und damit jene „lauschende Zuwendung“ zum Benannten einfordern, von der Le Guin sprach und die, was immer sie sein mag, keiner diskursiven Rationalität entspricht. Vor diesem Hintergrund wird auch die auf den ersten Blick merkwürdige Aussage Tolkiens verständlicher, dass ein Sprachschöpfer immer auch eine persönliche Mythologie entwickeln müsse, dass seine Kunstsprache eine Mythologie gebären werde (Monsters 210f.), und dass er selbst Mittelerde nur erdacht habe, um seinen Kunstsprachen einen Raum zu geben, in

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dem sie existieren konnten (Letters 219f.). Denn wenn in einer Kunstsprache die Weltsicht und Weltbindung ihres Schöpfers verkörpert sind, dann sind sie durch die nichtdiskursive Art dieser Verkörperung darin auch genauso sehr verborgen – und können sich erst durch das Erdenken von Geschichten ausdifferenzieren und zeigen. Das Wort will Fleisch werden. Auch wenn Tolkien auf eine sprachliche Grundlage seiner Welt innerhalb seiner Geschichte verzichtet, bleibt sie aus der Außenperspektive des Autors vorhanden. 3. Materialität des Zeichens und materialisierendes Lesen bei Cornelia Funke Tolkiens Idee des phonetisch passgerechten Wortes hat große Ähnlichkeit mit Aleida Assmanns Verständnis dessen, was sie die Materialität des Zeichens nennt. Nach Aleida Assmann ist es für das Lesen des Zeichens als Bedeutungsträger konstitutiv, dass seine Wahrnehmung so schnell wie möglich zu seiner Bedeutung hin überschritten wird. Jedes Verharren vor dem Zeichen an sich würde den Lesefluss stören, jede sinnliche Aufmerksamkeit für die Gestalt des Zeichens selbst würde Assoziationen wecken, die mit dem konventionell festgelegten Inhalt in Konflikt geraten könnten.1 Das Lesen bringt darum das Zeichen als Ding zum Verschwinden: „Wo die Dinge gegenwärtig sind, gibt es keine Zeichen, und umgekehrt“ (Assmann 239). Dieses Lesen ruhe daher „auf den Pfeilern der Immaterialisierung und Weltdistanz“ (ebd.). Die Welt zu lesen heißt also in letzter Konsequenz, sie zum Verschwinden zu bringen, wenn der Leseprozess nur lange genug anhält. Diesem schnellen Blick des Lesens setzt Assmann den langen Blick des Starrens gegenüber (ebd. 240-42). Es ist ein von seinem Objekt faszinierter Blick, der die herkömmliche Zeichenlogik sprengt, indem er das Zeichen als Ding wahrnimmt. Indem er sich der Materialität des Zeichens zuwendet und der Weltdistanz des Lesens verweigert, stellt er die Präsenz der Welt wieder her. Nach Assmann führt das Aufbrechen der konventionellen Zeichenlogik auch zum Aufbrechen konventionellen Sinns, zu einer „wilden Semiose“ (ebd. 239), die neue, unmittelbare Bedeutungen herstellt.

1

Um das mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Unser Buchstabe A leitet sich von einem Buchstaben des Semitischen Alphabets her, der ursprünglich einen Stierkopf darstellte. Wäre diese Herkunft noch erkennbar, dann würde bei allen mit A beginnenden Worten eine entsprechende Assoziation mitschwingen, die beim Wort Auto vielleicht passt, beim Namen Angela eher nicht.

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Die Beispiele Tolkiens und Le Guins zeigen aber, dass diese Semiose so wild nicht sein muss und nicht in die Beliebigkeit führt. Denn hinter dem anfangs inhaltsleeren Klangobjekt sammelt sich eine ganze Geschichte, im Falle Tolkiens hinter den Worten ‚Earendel‘ und ‚Hobbit‘ eine ganze Mythologie. Hinter dem Widerstand, den die Materialität des Zeichens dem potentiell endlosen Strom der Deutungen entgegensetzt, lagern sich so Inhalte ab wie Sand hinter einem Stein in der Strömung. Zentral ist dabei wieder das Rufen: „To me a name comes first and the story follows“, schrieb Tolkien (Letters 219) Aber wer ruft hier eigentlich wen? Tolkiens und Le Guins Berichte über die Bedeutung des Wortklangs für ihre Schöpfungen sind gekennzeichnet von Kontrollverlust und Passivität: Namen wie ‚Earendel‘ nehmen Tolkien gefangen oder stellen sich ungebeten ein wie das Wort ‚Hobbit‘. LeGuin sagt, dass sie die Namen „erlauscht“, dass sie sie findet – also nicht: konstruiert, bewusst erschafft. Bei Tolkien führte dies schließlich zu dem Eindruck, nur etwas aufzuzeichnen, was schon da war, aber nicht zu erfinden (Letters 145). Worte wie Dinge zu behandeln begünstigt es also, das Benannte für real zu halten. Bei Le Guin und Tolkien wird die Materialität der Klangzeichen dabei wirksam an Worten, die sich von der Alltagssprache unterscheiden, vor allem Namen. In Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie gilt dies nicht mehr. Das Lesen, das hier Wesen und Dinge aus Textwelten heraus- und hineinliest, hat die übliche Kommunikationssprache zum Gegenstand. Entscheidend ist die Art des Lesens selbst: „Die Worte werden erst lebendig, wenn du sie auf der Zunge schmeckst“, sagt Mo, und sie können „lange und kurze, spitznasige und weiche, schnurrende, gurrende Wörter“ sein (Tintenherz 268). Wenn gelesen wird, indem die Worte geschmeckt werden, dann verschwindet alles, „und es gab nur noch Mos Stimme und die Bilder, die er aus den Buchstaben formte wie Bilder auf einem Webstuhl“ (ebd. 193). Man kann den modrigen Geruch riechen, der über der Schatzinsel hängt – und die Goldstücke auflesen, die aus dieser Geschichte kullern. Indem dieses Lesen die Worte schmeckt, behandelt es Worte wie Dinge, es hebt die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf. Noch eine weitere Grenze scheint dieses Lesen aufzuheben: diejenige zwischen Zeichen und Bezeichnendem, zwischen Zeichen und Körper. Für den Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Hans Belting entstehen Bilder immer erst diesseits des Medium in Blick und Kopf des Betrachters und damit auch in dessen Körper. In der alphabetischen Lautschrift verschwinde diese Komplizenschaft zwischen Körper und Bild, weil diese Schrift noch nicht einmal den körperlichen Sprechakt evoziere. Zwischen Zeichen und Körper gebe es eine Sperrzone, die nicht überwunden werden könne. Auch die ostasiatische Kalligraphie mit ihrem Schwerpunkt auf dem individuellen Schreibakt leiste dies nicht, weil die Schrift hier kein

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Abbild eines Körpers, sondern nur eines körperlichen Aktes sei, mit dem ein Schreiber sein Selbst in einem Schriftzug ausdrücke. Erst mit dem Aussprechen des geschriebenen Wortes werde wieder eine Verbindung zwischen Sprache und Körper hergestellt (vgl. Belting 59; 71f.). Bei Funke nun beseitigt das die Worte schmeckende Lesen diese Grenze nicht nur dadurch, dass der Körper die Worte formt und aus der Stummheit der Schriftsprache in die Welt entlässt und seinerseits von den Worten geformt wird, die seine Haltung und Muskelanspannung beim Aussprechen bestimmen. Die Worte selbst werden beim Aussprechen zum Teil wie Körper im Mund wahrgenommen, als spitznasig oder weich, und Meggie mag den Namen der Fee Tinker Bell wegen der Art und Weise, wie er im Mund artikuliert wird: „Meggie flüsterte den Namen gleich zweimal, sie hatte es immer schon geliebt, ihn auszusprechen, mit diesem kleinen Stubs der Zunge gegen die Zähne und dem weichen B, das wie ein Kuss von den Lippen rutschte“ (Funke, Tintenherz 387). Das Vorlesen als Schmecken der Worte hebt so die Grenzen zwischen Zeichen, Bezeichnetem und Bezeichnenden auf, zwischen der Welt des Lesers und der Welt des Textes – und darum wird die Grenze zwischen beiden durchlässig. Die Achtung der Materialität der Zeichen ist hierfür zwar ausschlaggebend, aber nicht ausreichend. Man darf sich dem Geschmack der Worte nicht einfach nur überlassen, wie Meggie erkennen muss: Sie formte jedes Wort mit den Lippen, so wie sie es bei Mo gesehen hatte, fast zärtlich, als wäre jeder Buchstabe eine Note und jeder lieblos ausgesprochene ein Missklang in der Melodie. Doch bald merkte sie, dass, wenn sie jedem Wort Aufmerksamkeit schenkte, der Satz nicht mehr klang, und dass die Bilder dahinter verloren gingen, wenn sie nur auf den Klang und nicht auf den Sinn achtete. (ebd. 307)

Die bewusste Vergegenwärtigung des Sinns ist einmal notwendig, weil hier weder durch eine Schöpfungsordnung noch durch einen individuellen Sprachgeschmack eine feste Bindung zwischen Klangzeichen und Bezeichnetem besteht. Zweitens soll ein Inhalt sich hier nicht erst hinter einer Klanggestalt sammeln, soll hier gerade keine wilde Semiose erfolgen, sondern ein schon Beschriebenes sichtbare Gestalt erhalten und aus einem Text herausgerufen werden. Legt man Assmanns Konzeption zugrunde, dann ist das materiell-materialisierende Lesen in der Tintenwelt-Trilogie als „Schmecken der Worte“ gleichzeitig ein Lesen als ein Fortschreiten zum hinter dem Zeichen liegenden Sinn, und ein Nicht-Lesen als Vergegenwärtigung der im Zeichen beschlossenen Körperlichkeit des Bezeichneten, die sich durch die sinnliche Aufmerksamkeit für die lautliche Gestalt des Zeichens erschließt. Die Materialität des Zeichens scheint hier wieder im Dienst des Rufens und damit der Machtausübung zu stehen, aber dieser Eindruck täuscht.

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Denn Mo hat als Vorleser keinen Einfluss darauf, was aus der Welt des Textes in seine eigene überwechselt – und was dafür verloren geht (Funke, Tintenherz 188). Die Ambiguität dieses Machtverhältnisses zeigt sich im Schmecken der Worte selbst: Einerseits ist das Schmecken mit dem Verzehren verbunden und damit mit der intensivsten Form der Bemächtigung (vgl. Canetti 230f.). Die in der Einverleibung liegende Aufhebung jeglicher Distanz zum verzehrten Objekt bedeutet aber auch, dass dieses Objekt den Verzehrenden verwandeln und sogar vergiften kann. Aus gutem Grund stellt darum am Anfang der Geschichte das Schild über Mos Werkstatt das Lesen von Büchern als ein Essen dar, und nur wenige Bücher kaue man sorgfältig und verdaue sie ganz (Funke, Tintenherz 16). Am Ende aber wird das Buch „Tintenherz“ seine Leser verdaut und in seine Welt aufgenommen haben. Die Materialität des Zeichens führt also bei Funke zu einem Kontrollverlust, zu einer Selbstentmächtigung bei dem, der sich für sie öffnet. Das Starren auf die Materialität des Zeichens „ist ein medialer Akt. Er schlägt auf den Beobachter zurück, er affiziert das Subjekt und verändert es im Zuge der Kontemplation“ (Assmann 242). Dieser Kontrollverlust wird aber akzeptiert, weil Lesen vom Begehren bestimmt ist und das Begehren von Meggie, Mo und den anderen (Orpheus und Fenoglio sind teilweise Ausnahmen) darauf gerichtet ist, die Tintenwelt nicht zu analysieren oder zu interpretieren, sondern sinnlich zu erfahren, sie zu sehen, schmecken, riechen und zu fühlen (Funke, Tintenblut 113). Das faszinierte Schmecken der Worte setzt sich im faszinierten Blick auf die Tintenwelt fort. Letztlich führt die zentrale Bedeutung der Materialität des Zeichens und ihrer Beachtung dazu, dass Realität und Materialität bei Funke keine physikalischen oder metaphysischen Eigenschaften sind, sondern prozesshaft bestimmt werden: Real ist das, was nicht mehr gelesen wird, was nicht mehr auf einen dahinter liegenden Inhalt hin transzendiert wird. Denn das Lesen bringt, legt man Assmanns Thesen von der Materialität des Zeichens zugrunde, wie oben dargelegt den gelesenen Bedeutungsträger zum Verschwinden. Dies kann die Beziehung erklären, die in Tintentod zwischen Sprache und Tod hergestellt wird, wenn der Tod über Orpheus sagt: „Glaubt mich mit Worten fesseln zu können, mich, die das Land regiert, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte kommen. Nichts kann mich fesseln, nur das Leere Buch, weil du seine Seiten mit weißem Schweigen gefüllt hast“ (Funke Tintentod 260). Wenn die Abwesenheit des Dinges die Vorbedingung für die Anwesenheit des Zeichens ist, dann wohnt der Tod tatsächlich in der Sprache. Nun predigt Funke weder das Verstummen noch eine erstarrte Unsterblichkeit: der Tod ist auch bei ihr „die große Wandlerin“ (ebd. 259), aber eben auch der Tod als Vernichtung und Ende: man verliert, was man

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liebt (Tintenblut 359). Funke stellt aber die Frage nach den Kosten des Weltzugangs eines rein transzendierenden Lesens, dem sie ihr materialisierendes Lesen an die Seite stellt, das neben der Gewinnung der Bedeutung dem Schmecken der Worte und letztlich der Dinge Raum und Zeit gibt. Zum Abschluss kann man im Überblick über die vier untersuchten Autoren und Autorinnen noch so etwas wie eine Entwicklungslinie zur Bedeutung wahrer Namen als Grundlage fiktiver Welten auszumachen versuchen, und dazu ist zwischen der Binnenperspektive der erfundenen Welt und der Außenperspektive des Autors zu unterscheiden. In der Binnenperspektive, das zeigt Patrick Rothfuss, gehört das Konzept von wahren Namen als Grundlage einer Welt weiterhin zu den Wegen, die die Phantastik am Beginn des 21. Jahrhunderts beschreitet, und auf denen sie über Sprache und ihre Beziehung zur Welt reflektiert – was immer die moderne Sprachwissenschaft von diesen Überlegungen halten mag. In der Außensicht des Autors dagegen ist Tolkien wie Le Guin zwar bewusst, dass es wahre Namen in der wirklichen Welt nicht gibt, aber beide beschreiben eigene Reaktionen auf den Klang von Worten und seine Beziehung zu ihrem Inhalt, die zumindest für sie persönlich ganz ähnliche Effekte wie wahre Namen haben: Namen werden als klanglich passend erlebt, oder ein bestimmter Inhalt scheint einen bestimmten Klang des ihn bezeichnenden Wortes zu fordern, der nur in einer nicht weiter beschreibbaren Weise erlauscht werden kann. Und so wie das vom Schöpfergott ausgesprochene Wort etwas Wirklichkeit werden lässt, kann der Klang eines Wortes zumindest in der Selbstbeschreibung dieser Autoren seinen Inhalt hervorbringen. Diese Außenperspektive der Autoren lässt sich gut mit Aleida Assmanns Überlegungen zur Materialität des Zeichens beschreiben. Bei Cornelia Funke und, soweit das nach erst einem Band beurteilt werden kann, Patrick Rothfuss tritt diese Autorenperspektive nun in den erzählenden Text selbst ein. Wenn bei Rothfuss der Schöpfergott Aleph den wahren Namen eines Dinges nicht mehr selbst setzt, sondern nur erkennt, dann verhält er sich wie die Autorin Ursula K. Le Guin, wenn sie einen Namen zu erlauschen versucht. Bei Funke schließlich rückt mit dem Lesen als Schmecken der Worte die Materialität des Zeichens ins Zentrum. Das konventionelle Lesen eines Textes alleine reicht nicht, um etwas aus ihm in die eigene Welt herauszurufen, oder um in den Text als Welt einzutreten. Das erlaubt erst ein Lesen, das die Materialität der Zeichen mit erfasst. Nimmt man das Lesen als Modell für einen Zugang des Menschen zur Welt (Assmann 240), dann bedeutet dies, dass Welt nur dann entstehen kann, wenn man über das konventionelle Lesen hinausgeht. Auch beim Eingangsbeispiel der ägyptischen Schöpfungsvorstellung bedarf der Ausspruch des Namens zusätzlich der göttlichen Macht, um

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das Geschaffene Wirklichkeit werden zu lassen, und bei Le Guin, Tolkien und Rothfuss ist ebenfalls für Magie neben der Kenntnis der richtigen Worte eine bestimmte Macht erforderlich. So wichtig wahre Namen sind, zur Weltschöpfung und Weltbeeinflussung reichen sie alleine nicht aus. Die Stelle der göttlichen bzw. magischen Macht nimmt bei Funke die Fähigkeit zum materialisierenden Lesen ein. Durch die große Rolle, die die Achtung für die Materialität der Zeichen bei Le Guin, Tolkien und Funke spielt, wird darum immer auch die Frage nach dem Anderen des Lesens und der Sprache gestellt. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida. „Die Sprache der Dinge: Der lange Blick und die wilde Semiose“. Materialität der Kommunikation. Hg. Hans Gumprecht und Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 237-51. Belting, Hans. „Blickwechsel mit Bildern: Die Bildfrage als Körperfrage“. Bildfragen. München: Fink, 2007. 49-75. Canetti, Elias. Masse und Macht. Frankfurt/M.: Fischer, 1985. Eco, Umberto. Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München: Beck, 1994. Funke, Cornelia. Tintenherz. Hamburg: Dressler, 2003. —. Tintenblut. Hamburg: Dressler, 2005. —. Tintentod. Hamburg: Dressler, 2007. Hornung, Erich. Der Eine und die Vielen: ägyptische Gottesvorstellungen. Darmstadt: WBG, 1990. Le Guin, Ursula K. A Wizard of Earthsea. The Earthsea Quartet. London: Penguin, 1993. 9-167. —. The Language of the Night. London: Woman’s Press, 1989. Pesch, Helmut W. „J.R.R. Tolkiens linguistische Ästhetik“. J.R.R. Tolkien – der Mythenschöpfer. Hg. Helmut W. Pesch. Meitingen: Corian, 1984. 143-60. Rothfuss, Patrick. The Name of the Wind. London: Gollancz, 2008. Sternberg, Martin. „Language and Violence“. Hither Shore 6 (2009). 152-66. Tolkien, John Ronald Reuel. The Monsters and the Critics. Hg. Christopher Tolkien. Oxford: Clarendon, 1959. —. The Lord of the Rings. 4. Aufl. London: Unwin Hyman, 1988. —. The Silmarillion. Hg. Christopher Tolkien. New York: Houghton Mifflin, 2004.

Die Desakralisierung der Welt ‚Kryptoreligiöse‘ Räume in Der Herr der Ringe und Harry Potter ANJA STÜRZER Desacrilization of the World: ‘Cryptoreligious’ Space in Lord of the Rings and Harry Potter Based upon Mircea Eliade’s concept of ‘hierophany’, this paper examines how the crosscultural symbolism of the ‘sacred place’ is used and varied in Tolkien’s and Rowling’s novels. In many traditional cultures, mountains, trees, towers or dwellings are regarded as sacred places where ‘religious man’ ritually experiences a renewing connection to the divine. The concept endures in secularized, ‘profane’ culture in the form of ‘cryptoreligious’ places such as ‘home’ or the locales of first love. Corresponding locations in the novels have a comparable function both as the heroes’ central point of orientation in the fictional ‘cosmos’ and a place of transcendence where the ‘sacred’ and ‘chaos’ touch the world. However, while the concepts of structured and sanctified ‘cosmos’ and surrounding ‘chaos’ are traditionally opposed (a polarity that in modern fantasy is often simplified as ‘good vs. evil’), in Tolkien’s and Rowling’s novels this dichotomy is exposed as problematic. Evil appears not only as external ‘chaos’, but as part of the ‘cosmos’ and thus of human society and existence as portrayed in the narrated world. This is evidenced by the way traditional spatial symbols are used, not in order to underline the mythical, divine victory over ‘chaos’, but in order to show how man can deal with the fact that the ‘un-holy’ keeps intruding into the world, and how he himself has a share in it.

1. Die Vorstellung des heiligen Raums 1.1 Mircea Eliade und die Abwesenheit des „Heiligen“ In seinem einflussreichen Werk Das Heilige beschrieb Rudolf Otto 1917 das ‚Numinose‘ als wesentliches Kennzeichen religiösen Erlebens. In der Folge definierte der Religionswissenschaftler Mircea Eliade „das Heilige“ als ahistorischen Kern aller Religionen, der diesen einen übergeschichtlichen Sinn und damit „dem gläubigen Menschen Halt und Orientierung“ biete („Mircea Eliade“, k.S.). Obwohl Eliades phänomenologischer Ansatz vielfach kritisiert worden ist (vgl. Guilford), erweist sich seine Definition und Terminologie gerade

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aufgrund des „theologischen Zugangsschemas“ und der „latenten ‚monotheistischen‘ Option“ (Gladigow 7f.) als fruchtbar für die Beschäftigung mit dem Phänomen der Fantasy. So lässt sich zeigen, dass die von Eliade beschriebenen mythisch-religiösen Symbole in den untersuchten Romanen fortwirken, während gleichzeitig die Abwesenheit des ‚Heiligen‘, das ‚profane‘ Erleben des säkularisierten Menschen thematisiert wird: Das ‚Unheilige‘ erscheint nicht (nur) als Chaos von außen, von dem es sich abzugrenzen gilt, sondern als Teil des Kosmos beziehungsweise der als Bild der menschlichen Gesellschaft und Existenz angelegten erzählten Welt. Darüber hinaus stellt Eliade die These auf, dass Literatur und Film in einer säkularen Gesellschaft eine mythologische und damit eine pseudoreligiöse Funktion haben: Die Lektüre „bietet vor allem dem modernen Menschen die Möglichkeit ‚aus der Zeit herauszutreten‘, ähnlich wie die Mythen es früher taten“ (150). Diese pseudoreligiöse Funktion der Literatur und insbesondere der Fantasy lässt sich besonders gut am Beispiel von Eliades Definition und Beschreibung des heiligen Raums nachvollziehen: So wie der religiöse heilige Raum ein Abbild des Kosmos ist, so spiegeln auch die Räume im Roman die fiktive Kosmogonie und die nunmehr säkularisierte ‚Weltordnung‘ wieder. 1.2 Hierophanie und heiliger Raum Im ersten Kapitel seines Buches Das Heilige und das Profane beschreibt Mircea Eliade die kulturübergreifende Vorstellung des heiligen Raums (15ff.). Für den religiösen Menschen besteht an einem solchen Ort eine „Inhomogenität des Raums“ (15), eine Verbindung zum Übernatürlichen, zum Heiligen sowie zur Unterwelt. Diesen Einbruch des Übernatürlichen, der im religiösen Sinne eigentlich „absoluten Wirklichkeit“ (15) in die Welt belegt Eliade mit dem Begriff Hierophanie. Ein bekanntes Beispiel ist die alttestamentarische Episode von Moses, der auf dem Berg Sinai Gott begegnet und die Zehn Gebote empfängt. Hierophanien gibt es in allen traditionellen Gesellschaften. Sie manifestieren sich in der Regel in bestimmten rituell geweihten und daher heiligen Räumen bzw. die Räume sind heilig, weil sie denjenigen nachempfunden sind, an denen eine Hierophanie dem Mythos nach stattgefunden hat. Heilige Räume können Kirchen, Bäume oder Berge sein, Zelte, Häuser, Dörfer, Städte oder ganze Länder – man denke an „das himmlische Jerusalem“ oder Palästina –, Paläste wie die Hauptstadt des chinesischen Herrschers oder turmartige Sakralbauten wie die babylonische Zikkurat. Gemeinsam ist ihnen der Aufbau:

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Alle haben eine Schwelle als Grenze zwischen Heiligem und Profanem. • Alle haben ein Zentrum, eine Orientierung gebende Mitte, wo eine symbolische oder tatsächliche Öffnung nach oben eine Verbindung mit dem Übernatürlichen herstellt, wo man den Göttern nahe ist. • Alle symbolisieren die Welt bzw. das Universum, wobei das Zentrum als „Mitte“ der Welt erscheint (Eliade 27). • Häufig befindet sich in dieser Mitte eine tatsächliche oder gedachte Weltachse, z.B. ein Pfahl oder eine kosmische Weltsäule, welche die Welt im Chaos bzw. in der Unterwelt gründet und „den Weg zur Welt der Götter“ darstellt. Um diese zentrale Weltachse herum erstreckt sich und wächst die Welt, weshalb das Zentrum auch „Nabel der Erde“ (ebd. 33) heißt. Oft wird die Milchstraße als sichtbares Bild der Weltsäule verstanden. • Hierhin gehört das in vielen Kulturen verbreitete Bild des Weltenbaums, z.B. die nordischen Weltenesche Yggdrasil mit dem göttlichen Adler in den Zweigen und der Schlange an den Wurzeln. Aus dieser Vorstellungswelt stammt die besonders bei Tolkien vorhandene Äquivalenz von Sternen und Blättern: Der Kosmos wird als lebender Organismus gesehen, der entsteht und vergeht und periodisch erneuert wird. Die Struktur des heiligen Raums liegt, wie Eliade zeigt (31ff.), auch menschlichen Siedlungen zugrunde. Ein Dorf z.B. ist traditionell „der Welt“ nachempfunden – „ein mikrokosmisches Abbild des Universums“ (32), aufgebaut um eine Kreuzung, so dass sich ein um einen Mittelpunkt herum konstruiertes, viergeteiltes Quadrat ergibt. Die Zahl vier symbolisiert die Welt, wobei die vier Sektoren des Dorfes die Gesamtheit der Gesellschaft ebenso wie die vier Horizonte des Universums repräsentieren. In der Mitte befindet sich oft ein runder Platz, das Zentrum, wo in der Regel ein Pfahl, ein Baum, eine Säule, eine Kirche oder ein sonstiges Kultgebäude steht, dessen Dach bzw. Krone den Himmel und damit die Öffnung zum Heiligen symbolisiert. In diesem Zentrum kann der religiöse Mensch rituell Verbindung mit dem Übernatürlichen, mit der die Welt gründenden Realität aufnehmen und Transzendenz erfahren. Ähnliches gilt für die Wohnstatt: Der Zeltpfahl fungiert als Weltachse, das Kaminloch dient als Verbindung zum Übernatürlichen und sei es auch nur Santa Claus, der auf magische Weise Geschenke bringt. Es besteht also eine Analogie zwischen dem Gebiet, das der Mensch bewohnt, und demjenigen, das ihm heilig ist. Eliade erläutert dies an vielen Beispielen, die hier nicht zitiert werden können. Wesentlich für die weitere Argumentation ist aber, dass sowohl die Behausung als auch der heilige •

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Raum ein Bild des Kosmos ist, ein geordnetes, geschaffenes Gebiet, das vom uranfänglichen oder umgebenden Chaos abgegrenzt ist. 1.3 Kosmos und Chaos Die gegensätzlichen Begriffe ‚Kosmos‘ und ‚Chaos‘ sind zentral für Eliades Denken und bedürfen hier der kurzen Definition, weil sie sich vom allgemeinen Sprachgebrauch teilweise unterscheiden. Eliade schildert in Das Heilige und das Profane die Evolution der Begriffe (21ff.) und stellt eine Reihe von Oppositionen auf, die alle auf dem Gegensatz von OrdnungVertrautheit-Reinheit vs. Auflösung-Fremdheit-Korruption beruhen. So kann der Kosmos sowohl das bewohnte Gebiet im Gegensatz zum unbekannten, von Fremden oder Dämonen besiedelten Raum bezeichnen als auch die aus dem Nichts von den Göttern erschaffene Welt oder den Sakralbau als Abbild dieser Welt, sowohl den von Krankheit und Tod bedrohten Körper als Ebenbild Gottes als auch die von Feinden bedrohte Stadt. Selbst grundlegende Oppositionen wie ‚Licht – Finsternis‘, ‚Tag – Nacht‘ oder ‚Leben – Tod‘ lassen sich als Bilder des Gegensatzes ‚Kosmos – Chaos‘ deuten (vgl. Eliade 21; 35f.; 114). Der Begriff Kosmos kann also geografisch oder metaphysisch, konkret oder abstrakt verstanden werden – immer bezeichnet er „unsere Welt“ (ebd. 21), sei es nun der Mikrokosmos des Körpers oder das Haus, der Tempel, das Dorf oder der Staat. Diese „unsere Welt“ ist im traditionellen Denken heilig, weil sie das Werk der Götter oder der mythischen Vorfahren ist, eine geschaffene, gestaltete Ordnung, die in einem exemplarischen Schöpfungsakt dem uranfänglichen Chaos entrissen wurde.1 Das Chaos dagegen ist die Vernichtung dieser Ordnung, das Ergebnis eines Angriffs von außen, sei es ein Dämon, ein Feind oder eine lebensbedrohliche Krankheit. Auch aufgrund dieser Analogie sind im Lord of the Rings „The hands of a king […] the hands of a healer“ (869, Kursiv im Original) – besonders wenn es sich um metaphysisch verursachte Verletzungen wie den ‚Schwarzen Atem‘ handelt. Die öffentliche Ordnung spiegelt sich in der Ordnung des Körpers ebenso wie in der metaphysischen Ordnung: „In gewissem Sinn“, sagt Eliade, „sind die unterweltlichen Regionen [der Metaphysik] den wüsten und unbekannten Gegenden, die das bewohnte Gebiet umgeben, verwandt: die untere Welt, über der unser ‚Kosmos‘ steht, entspricht dem ‚Chaos‘, das jenseits der Grenzen unseres Kosmos herrscht“ (Eliade 31).

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Ein bekanntes Beispiel für diesen exemplarischen Schöpfungsakt ist die Geschichte von Marduk und Tiâmat im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch.

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Entsprechend ist der heilige Raum zugleich Abbild des Universums und Abbild eines metaphysischen Modells.2 Hier kann der religiöse Mensch eine erneuernde Verbindung mit dem Übernatürlichen eingehen; hier wird die Kosmogonie, die Schöpfungsgeschichte der Welt nachvollzogen. Rituell wird das Chaos besiegt und der Kosmos, die Welt und die ‚Mensch-Zeit‘, wie die Übersetzung des indogermanischen Wortes Wer-ald lautet, immer wieder neu begründet. Diese Vorstellung einer rituellen Welterneuerung liegt religiösen Zyklen und Festen überall auf der Welt zugrunde. Um die Wirkung bis in die Neuzeit zu illustrieren denke man an die christliche Taufe, das Untertauchen des Täuflings ins auflösende Wasser, das die alte Existenz auslöscht und „alles neu“ macht (2. Kor. 5, 17), oder an das christliche Osterfest, das den Sieg über den Tod feiert. 1.4. Kryptoreligiöse Räume und Literatur als ‚Bauwerk‘ Aber auch im modernen ‚profanen‘ Denken wirken die Konzepte des heiligen Raums, der Hierophanie und der rituellen Welterneuerung in säkularisierter Form fort (vgl. Eliade 146ff.). Darum soll man traditionell ein Haus bauen, ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen und neuerdings auch ein Buch schreiben; darum beginnen wir das neue Jahr mit guten Vorsätzen und feiern im Karneval die Auflösung und Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Aus diesem Grund schließlich wünschen wir uns eine Begegnung mit ‚angehimmelten‘ Stars oder ‚Sternen‘, die aus der Sphäre der Berühmtheit herabsteigen und unseren Alltag berühren.3 Eliade nennt dieses Verhalten des modernen, säkularisierten Menschen „kryptoreligiös“ (17). Beispiele für kryptoreligiöse Räume sind nach Eliade die Heimat, Gegenden der Kindheit oder der Ort der ersten Liebe – „qualitativ verschiedene“ Räume, die für den einzelnen eine besondere, sinnstiftende Bedeutung haben (ebd.). Eine vergleichbare kryptoreligiöse Funktion haben nun, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch entsprechende Räume im Herrn der Ringe bzw. in der Harry Potter-Reihe. Zunächst gilt es jedoch kurz zu begründen, warum religiöse Räume und Literatur überhaupt grundsätzlich vergleichbar sind. So wie alle Bauwerke bis zum heutigen Tag der traditionellen Vorstellung des Kosmos verbunden sind – sei es, dass sie der ‚Welt‘ nachempfunden sind oder dass es sich von diesem Konzept abzugrenzen suchen –, so lässt sich auch die Kunst als eine Art „Sub-creation“ beschrei2 3

Als Beispiel nennt Eliade die Byzantinische Kathedrale, bei der die vier Teile des Kirchenschiffes die vier Weltrichtungen, das Innere der Kirche das Weltall mit der Erde in der Mitte, der Altar das Paradies und der Westen das Gebiet des Todes darstellen. (43ff.). Fan-Veranstaltungen wie Fantasy-Conventions beispielsweise lassen sich als ‚Events‘ erklären, die dem Bedürfnis nach einem Erleben des ‚Heiligen‘ im Alltag entspringen.

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ben, um Tolkiens Begriff zu borgen („Fairy Stories“ 49). Nach Eliade wird die Kosmogonie, die Erschaffung der Welt zum Archetypus für jedes menschliche Schöpfungswerk (54): Am Anfang nicht nur der Schöpfung, sondern auch der Kunst steht das biblische ‚Wort‘. Man muss aber keine religiöse Weltauffassung zu Grunde legen, um Kunst, Musik, Architektur oder eben Literatur im weitesten Sinne als Nachschöpfung des Lebens, der Gesellschaft, der ‚Welt‘ zu deuten. Der Gegensatz von Chaos und Kosmos lässt sich auch definieren als Opposition von Zeichen und Text: Aus dem Chaos der Zeichen formt der Autor den Kosmos des Textes; je nach Weltanschauung baut er seinen Roman auf wie ein mittelalterlicher Baumeister eine Kathedrale, wie Le Corbusier seine Flachdachbauten und zweckdienlichen ‚Wohnmaschinen‘ oder wie Libeskind seine dekonstruktivistischen Gebäude. „Die Wohnung ist […] das Universum, das der Mensch sich baut, indem er die beispielhafte Schöpfung der Götter, die Kosmogonie, nachbildet“ (42), schreibt Eliade, und das gilt nicht nur für die traditionelle, sondern auch für die moderne Architektur und den säkularen Menschen bzw. die Literatur, die dessen profanes Weltbild nachzeichnet. Jeder Roman ist auf der Ebene des Lesevorganges Kosmos in dem Maße, als er gestalteter Text ist und im Gegensatz zur chaotischen Zeichenvielfalt des unstrukturierten Alltagslebens steht. Gleichzeitig wird aber in der Fantasy der Gegensatz Kosmos/Chaos in der Regel auch ganz konkret inhaltlich und strukturell thematisiert. So ist Mittelerde als Ganzes ein vom Autor erdachter und dem – bei Tolkien im Sinne von ‚unvollendet‘ sprichwörtlichen – ‚Chaos‘ seiner Gedanken entrissener ‚Kosmos‘, eine Nachschöpfung komplett mit Mythos, Geographie und Geschichte. Zugleich wird jedoch der Gegensatz von Kosmos und Chaos in Form der Gegenüberstellung von Númenor, Gondor und Rohan sowie dem Auenland mit Morgoth und Sauron sowohl thematisch als auch formal im Roman behandelt. „Mittelerde ist unsere Welt“, wie Tolkien sagte (Carpenter 111), ein Bild unseres Kosmos, der moralische Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ beinhaltet – und gleichzeitig auf der Textebene ein eigenständiger, fremder Kosmos, in den das Heilige und das Dämonische eindringen und wo sie erlebbar werden. Ebenso bei der Harry Potter-Reihe: Der Kosmos der Romane an sich, die von der Autorin erdachte und strukturierte und mit vielen Verweisen auf die Realität gespickte Parallelwelt der Zauberer beinhaltet zugleich den Gegensatz von Kosmos und Chaos in Form der grundlegenden Opposition Hogwarts/ Voldemort.

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2. Kryptoreligiöse Räume im Herrn der Ringe und Harry Potter 2.1 Das Auenland bzw. Hogwarts als Zentrum Dass das Auenland, Gondor und Hogwarts im Kosmos der Romane als kryptoreligiöse Zentren fungieren, wird anhand der Kriterien des heiligen Raums deutlich. So besteht das Auenland, die paradiesische, wohlgeordnete Heimat der Hobbits, aus vier Vierteln, die nach den Himmelsrichtungen benannt sind. Es ist ein eigener kleiner Kosmos, der von den Rangern, den Nachkommen der alten Könige, bewacht und behütet wird. Wenn Sam das vertraute Auenland verlässt, übertritt er eine unsichtbare Schwelle, einen point of no return. Als Frodo erfährt, dass er das Auenland verlassen und sich der chaotischen Außenwelt stellen muss, tröstet er sich mit dem Gedanken, dass seine Heimat als mentales Rückzugsgebiet sicher ist, selbst wenn er nicht dorthin zurückkehren kann: I feel that as long as the Shire lies behind, safe and comfortable, I shall find wandering more bearable: I shall know that somewhere there is a firm foothold, even if my feet cannot stand there again (Lord of the Rings 61).

Am Ende des Romans schließlich bestimmt der König, dass kein Mensch die Grenzen des Auenlandes ungefragt übertreten darf. Im Auenland setzt Bilbo den Ring zum ersten Mal öffentlich unter einem geschmückten großen Baum auf, den Sam später als „Party Tree“ bezeichnet (ebd. 1029). Allerdings ist der klassische mythische Baum eher in Gondor zu finden, wo der verdorrte „white tree“ (ebd. 761) die Abwesenheit des Königs symbolisiert. Das eigentliche Zentrum im Kosmos der Hobbit-Protagonisten ist der neben dem Festbaum gelegene Hügel Beutelsend, in dem sich Bilbos Wohnhöhle mit dem idyllischen Garten befindet. Hier findet der Einbruch des Übernatürlichen statt; hier erscheint aus dem Nichts Gandalf der Zauberer, der, wie wir aus dem Silmarillion wissen, eine Art Engel ist; hier tauchen auch die schwarzen Reiter zuerst auf, körperlose Geister, unheimliche Repräsentanten des Bösen. Hier schließlich erlangt Frodo Kenntnis von Dingen, die seine alltägliche Realität transzendieren und die dazu führen, dass er sich dem Chaos der Außenwelt stellen muss, das in Form von Saurons wachsendem „Shadow“ (Lord of the Rings 50) den Kosmos des Auenlandes bedroht. In der Harry Potter-Reihe fungiert vor allem Hogwarts als kryptoreligiöses Zentrum, und zwar auf mehreren Ebenen. Hogwarts wird von Zaubersprüchen bewacht und von einer unsichtbaren Mauer umgeben, die eine Schwelle, eine Aufhebung der räumlichen Kontinuität einerseits zwischen der Welt der Muggel und derjenigen der Zauberer und andererseits zwischen der Sicherheit des Zaubererinternats und dessen Bedrohung durch das Böse Voldemorts darstellen.

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Auf der ersten Ebene der Romane besteht somit ein Gegensatz zwischen der Welt der Dursleys, in die vom ersten Band an immer wieder die Magie einbricht, und der magischen Welt von Hogwarts, die über die unsichtbare Schwelle des Gleises 9¾ zu erreichen ist – „this world that [Vernon Dursley] despised and mistrusted“ (Deathly Hallows 33), die übernatürliche Welt der Zauberei, in der Harry eigentlich heimisch ist. Auch das Haus der Dursleys ist eine Art Kosmos, nämlich ein Abbild der säkularisierten, im Eliade’schen Sinne ‚profanen‘ Welt seiner Bewohner, die trotz aller Zeichen und Hinweise stur die Existenz einer anderen, magischen Welt verneinen und keine Ahnung haben von dem Kampf ‚Gut gegen Böse‘, der sich darin abspielt. Für die Dursleys ist das Eindringen der Magie in ihren spießigen Alltag der Einbruch des Chaos in ihre geordnete Welt – für Harry dagegen ist es vergleichbar mit dem Einbruch des Heiligen, der Erlösung von einem nicht lebenswerten Dasein in einer Welt, der er nicht angehört. Sein eigentlicher Kosmos ist die magische Welt und insbesondere das Internat Hogwarts, wo er infolge der ‚Hierophanie‘ der Schulbriefe ein neues Leben beginnt. Bezeichnend ist aber, dass auch das Haus der Dursleys für Harry eine kryptoreligiöse Funktion hat, und zwar infolge der Verbindung zur magischen, übernatürlichen Welt: Solange er es sein ‚Zuhause‘ nennen kann, ist Harry hier vor dem bösen Zauberer Voldemort sicher.4 Sobald Harry nun in den Romanen die Welt der Muggel verlässt und nach Hogwarts kommt, wird die zweite Ebene des Gegensatzes Kosmos/ Chaos deutlich. Im Kosmos der magischen Welt ist Hogwarts das kryptoreligiöse, von der umgebenden, oft gefährlichen oder korrupten Welt durch eine magische Schwelle getrennte Zentrum. Das Internat selbst ist ein kosmisch viergeteiltes Bauwerk mit etlichen Türmen sowie einer zentralen Halle, deren Decke den Himmel, die Sonne und die Sterne widerspiegelt. In dieser Halle findet im letzten Band die finale Konfrontation mit dem Bösen statt. Die vier Häuser Hogwarts, die sich laut J. K. Rowling an der „idea of harmony and balance“ der klassischen Vier-ElementeLehre orientieren, repräsentieren sowohl die Welt als auch die ‚fragmentierte‘ menschliche Gesellschaft („mugglenet, part 3“). Hogwarts wird Harrys Heimat, es bietet ihm Orientierung, und hier erlangt er Erkenntnis. Hier begegnet er allerdings auch dem einbrechenden Bösen in Form der diversen Manifestationen von Lord Voldemort.

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Auch andere Häuser in der Harry Potter-Reihe sind mit einem Schutzzauber gegen das Böse versehen: etwa das Haus von Tonks Eltern oder das Hauptquartier des Ordens. Das Haus fungiert generell als kryptoreligiöser Ort, als ‚heiliger Raum‘.

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2.2 Das Übernatürliche als Teil der erzählten Welt Dieser Einbruch des Bösen in beiden Romanen verweist auf einen entscheidenden Unterschied zwischen dem religiösen Konzept des heiligen Raums und dem kryptoreligiösen Raum des Romans: Ersterer ist ein Abbild des Kosmos, ein Ort, der eine ‚tatsächliche‘ oder symbolische Verbindung zum Übernatürlichen, zu den Göttern und der Unterwelt herstellt (vgl. Eliade 32); letzterer ist der Kosmos, hier ist das Übernatürliche, die Magie und insbesondere das Dämonische, das Böse manifestiert. Die Hierophanie ist gewissermaßen der Dauerzustand. Dementsprechend ist der Himmel in der zentralen Halle von Hogwarts keine Öffnung in die Welt der Götter mehr, sondern nur noch Abbild des physischen Himmels. Wir befinden uns innerhalb der Dimension des Übernatürlichen, oder vielmehr, das Übernatürliche ist natürlich und die Magie alltäglich. Die Decke der großen Halle ist keine symbolische Pforte ins Heilige, weil es das ‚Heilige‘ in der säkularisierten Welt nicht mehr gibt – aber doch ein Symbol für die Gleichsetzung Hogwarts mit einem gewissermaßen profanen ‚Kosmos‘, ein kryptoreligiöser Ort, der die „ursprüngliche Heiligkeit“ (ebd. 54) der Welt widerspiegelt. Auch aus diesem Grund kann Rowling zugleich die Wahrsage-Lehrerin Sybill Trelawney in ihrem Turmgemach veralbern, ihre Prophezeiungen aber dennoch wahr werden lassen. Das Schicksal steht, wie Firenze erklärt, in den Sternen, doch die Sterne, ein traditionelles Symbol der Weltsäule und der Verbindung mit der übernatürlichen Realität, sind in der Zaubererwelt nur Abbilder des astronomischen Kosmos, der hier eben die ‚natürliche‘ Magie beinhaltet.5 Ebenso im Herrn der Ringe: Auch hier ist das Übernatürliche Teil der profanen Welt. Zwar symbolisieren die ‚elbischen‘ Sterne noch die Weltsäule und damit eine überzeitliche, nicht aber die übernatürliche, transzendente Dimension. Sie werden von den Elben als Verkörperungen der Valar bzw. der Licht spendenden Bäume in Valinor geliebt und von Sam im Orkturm als ewig und dem Übel der Welt Trost spendend entrückt besungen. Wenn Sauron seine Nazgûl oder unnatürlichen Wolken aussendet, dann verdunkelt er die Sterne, was symbolisch dem Ende der Welt und dem Rückfall ins Chaos gleichkommt; in traditionellen Gesellschaften blieb den Menschen in diesem Fall nur das Warten auf den Tod (vgl. Eliade 24), was genau die Reaktion ist, die Denethor zeigt. Gleichzeitig aber kann das Sternenlicht Eärendils in einer Phiole dingfest gemacht und vom Helden gegen das 5

Zwar werden sie zum Zweck der Magie studiert, doch verraten sie nur das, was der Leser und die handelnden Figuren eigentlich ohnehin wissen, aber nicht verstehen. Insofern ist es passend, dass Dumbledore gerade auf dem Astronomieturm scheinbar von Snape ermordet wird: Der Held sieht etwas, begreift aber die Bedeutung des Gesehenen nicht. Die Differenz von ‚Sein‘ und ‚Schein‘ ist ein wesentliches Thema in der Harry Potter-Reihe.

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Böse in Form von Kankra oder der Schwellenwächter des Orkturms eingesetzt werden. Dass der Erdenwanderer Gandalf ein unsterblicher Maia, also eigentlich ein göttliches Wesen ist, wird im Roman nirgendwo thematisiert, ebenso wenig wie die Existenz des deus absconditus Ilúvatar; allenfalls wird vage vom Schicksal gesprochen. Valinor, die unsterblichen Lande, die als gebirgige, schwer erreichbare Inseln der Seligen ihrerseits der Definition des heiligen Ortes entsprechen (ebd. 112), sind geographisch in Mittelerde verortet, für Auserwählte auch nach der großen Flut erreichbar mit den Elbenschiffen. Auch Tom Bombadils Reich, das Reich der ursprünglichen Natur, in dem Begriffe wie ‚Gut‘ oder ‚Böse‘ keine Bedeutung bzw. Macht haben, Bruchtal oder Lothlorien, wo ein symbolischer Weltbaum als „heart of Elvendom on earth“ (Lord of the Rings 354) wächst, sind kryptoreligiöse Orte hinter magischen Grenzen, der profanen Zeit des Werdens und Vergehens und damit der Welt entrückt. Dennoch sind sie auf der Karte Mittelerdes verzeichnet und für die Helden physisch betretbar. Wie im religiösen heiligen Raum befinden sich die Gefährten in Lothlorien gleichzeitig in dieser und in einer anderen, übernatürlichen, gewissermaßen heiligen Welt. Diese heilige Welt ist jedoch ihrerseits Bestandteil des natürlichen, geschaffenen Kosmos: Die Götter wandeln sozusagen auf Erden. 2.3 Das Chaos als integrativer Bestandteil des Kosmos Aus eben diesem Grund sind alle kryptoreligiösen Räume im Roman bedroht vom Einbruch des Chaos in Gestalt des Bösen: Voldemort infiltriert Körper, Häuser, das Internat und den Kopf des Helden; Sauron, der vor Frodos innerem Auge seinerseits als Auge erscheint, braucht nur den Einen Ring, um die Welt mit einer amorphen „second darkness“ (Lord of the Rings 50) zu überziehen. Auch der Teufel ist Teil der erzählten Welt, er erscheint paradoxerweise nicht nur als Chaos von außen, von dem es sich abzugrenzen gilt, sondern als immanenter Teil des ‚gefallenen‘ Kosmos. Dementsprechend haben die Protagonisten sich direkt mit dem Bösen auseinanderzusetzen, seien sie nun ‚auserwählt‘ oder nicht. Während im religiösen heiligen Raum die Kosmogonie, das traditionell gegensätzliche Verhältnis von Kosmos und Chaos rituell nachvollzogen wird, erleben die Protagonisten der Romane diesen Gegensatz nicht rituell, sondern existenziell am eigenen Leib – es geht buchstäblich um Leben und Tod. Nun wird in der Fantasy wie im Unterhaltungsgenre überhaupt der Gegensatz Kosmos – Chaos häufig vereinfacht als ‚Gut gegen Böse‘, ‚Weiß gegen Schwarz‘, ‚Ordnung/Einheit gegen Auflösung/Kampf‘ dargestellt. Dieser Oppositionen bedienen sich auch Tolkien und Rowling: Gandalf der Weiße kämpft gegen den bösen Schatten Saurons um den Erhalt des

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Guten und die Errungenschaften der Zivilisation in Mittelerde; Albus (‚der Weiße‘) Dumbledore duelliert sich mit dem schwarzbeumhangten Lord Voldemort und verteidigt Hogwarts gegen die Todesser. In diesen Kontext gehören die in beiden Romanen zentrale Symbolik der von Mächten des Chaos angegriffenen Stadt oder Burg6 und diejenige der von Feinden eroberten, todbringenden Türme, die verschiedenen Bilder der symbolischen Zerstörung der Weltsäule (sei es in Form von Waldvernichtung, der Zerstörung der Mühle oder des Brunnens) oder die Wertung des Baumes bzw. in der Harry Potter-Reihe die Taufmetaphorik als Symbol für die Erneuerung des Kosmos aus dem Chaos, als Sinnbild für Weisheit, Unsterblichkeit und den Sieg über den Drachen (vgl. Eliade 97; 109). Hierhin gehören auch die zentralen, zugleich in der Erzählform verwirklichten Bilder der Straße bzw. des Labyrinths als Lebens(irr)weg in den Romanen, die der Symbolisierung des grundlegenden Themas der Wahl zwischen Gut und Böse dienen. Gleichzeitig problematisieren die Romane jedoch das traditionelle Verhältnis von Kosmos und Chaos, indem sie das Böse nicht nur als Gegensatz des Guten, sondern auf allen Ebenen als integrativen Teil des Kosmos darstellen. Anders gesagt: Das Chaos bzw. das Böse ist Bestandteil der als Bild der menschlichen Gesellschaft und Existenz angelegten erzählten Welt. 2.3.1 Das Auenland, Gondor und Hogwarts Deutlich wird dies, wenn man die Entwicklung der kryptoreligiösen Räume im Erzählkosmos betrachtet. Sowohl in Gondor und im Auenland als auch in Hogwarts bricht im Verlauf der Romanhandlung das Böse ein, korrumpiert die Bewohner, zerstört die Ordnung und schändet den kryptoreligiösen Raum. Im Zentrum selbst löst sich der Kosmos auf und das Chaos herrscht. Symbolisiert wird dies nicht nur durch das Fällen des Festbaumes im Auenland bzw. die Zerstörung des Schlosses in der Schlacht von Hogwarts, sondern auch durch die Schlange. Im Herrn der Ringe wird das Auenland zerstört durch Gríma Schlangenzunge und den gefallenen Maia Saruman, der die Bewohner auf teuflische Art zum Bösen verführt. Minas Tirith wird von schwarzen Reitern auf fliegenden Schlangen heimgesucht, und in Hogwarts haust eine Riesenschlange als zentrum-immanentes Chaos in den Untergewölben. Zudem ist das Haus Slytherin, dessen Wahrzeichen die Schlange ist, wesentlicher Bestandteil des Internats. Voldemort, der die Schlangensprache spricht und einer Schlange ein Stück seiner Seele anver6

„Die Feinde gehören zu den Mächten des Chaos. Jede Zerstörung einer Stadt ist ein Rückfall ins Chaos. Jeder Sieg über den Angreifer wiederholt den exemplarischen Sieg Gottes über den Drachen (d.h. das Chaos)“ (Eliade 35).

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traut hat, bringt Hogwarts im letzten Band unter seine chaotische Kontrolle. Ein Zeichen davon ist auch hier seine Stimme, die auf magische Weise überall zu hören ist. Nun erscheint die Schlange in vielen Mythologien und Religionen als Symbol des uranfänglichen Chaos, das im Zuge der Weltgründung von den Göttern besiegt wird.7 Nach Eliade „ist die Schlange ein Symbol für das Chaos, das Amorphe, Nichtmanifestierte. Ihre Enthauptung kommt einem Schöpfungsakt gleich, einem Übergang vom Virtuellen und Amorphen zum Gestalteten“ (40). Im Christentum wird das Chaos bzw. die Schlange mit dem gefallenen, die Menschen verführenden Engel Luzifer gleichgesetzt und steht in Opposition zur ursprünglichen Heiligkeit des Paradieses. Vergleicht man diese kosmogonischen Vorstellungen mit dem Bild in den Romanen, so wird die Verbindung mit den Mythen ebenso deutlich wie der Unterschied: Die Schlange des Bösen wurde in Hogwarts eben nicht beim Bau des Schlosses von den mythischen Gründungs-Magiern getötet, sondern als Basilisk darin versteckt. Darum kann sie wiederkehren, um die Menschen zu versuchen, und muss immer wieder8 bekämpft werden, bevor sie in einem symbolischen Neuschöpfungsakt vom ‚Auserwählten‘ überwunden wird, indem dieser am Ende das Böse in sich selbst tötet. Das ‚Böse‘ im Menschen verursacht denn in den Romanen auch mehr Probleme als der böse Feind. Das eigentliche Problem in Gondor und im Auenland ist die Zersetzung im Inneren, ebenso wie in Hogwarts, wo der sprechende Hut regelmäßig zur Einigkeit mahnt. Während der traditionelle heilige Raum als Nachbildung eines jenseitigen, in aeternum vorhandenen Modells zwar geschändet werden kann, seine Heiligkeit jedoch „jeder irdischen Verderbnis entzogen ist“ (Eliade 43), ist der kryptoreligiöse Raum des Romans der diesseitigen Verderbnis ständig ausgesetzt. Die Schlange, das Chaos, das Böse und der Tod erscheinen nicht nur als Eindringling, sondern als Teil der menschlichen Gesellschaft und Existenz. Darum finden die Romanhelden Hogwarts bzw. das Auenland am Ende zerstört vor, 7

8

Eliade beschreibt ein indisches Bauritual, bei dem ein Pfahl in den Boden gerammt wird, der den Kopf der Schlange trifft und festhält. So wird das Haus „im Zentrum der Welt“ (40) gegründet, indem man die Kosmogonie wiederholt, nach der einst ein Gott die UrSchlange „in ihrem Schlupfwinkel erschlagen hat“ (Eliade zitiert die Rigveda, IV, 19, 9). In anderen Kosmogonien ist die Schlange ein Urwesen, das die Welt trägt oder hervorbringt, eine Erdgottheit oder ‚Naga‘ bzw. eine Unterwelt- oder Schutzgottheit. Überhaupt ist die Schlange bzw. der Drache ein äußerst komplexes Symbol mit einer Vielfalt heterogener Bedeutungen (vgl. Cooper 160f.). So kann sie Symbol für den Gegensatz von Gut und Böse sein, Symbol der Heilkunst, Wissen und Medizin, Hüterin der Weisheit, aber auch Symbol für Erneuerung, Versuchung oder Wandel. Alle diese Bedeutungen fließen in das Motiv des schlangenzüngigen Totenschädels als Symbol des ewigen Lebens ein, das in Harry Potter von Voldemort pervertiert wird. Genauer gesagt sieben Mal, wobei die Zahl Sieben die Vollkommenheit bzw. das Universum symbolisiert.

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darum muss Lothlórien untergehen, auch wenn der Ring zerstört wird, darum kann Frodo am Ende nicht in Mittelerde bleiben. Mittelerde ist wie Hogwarts eine Welt, in der das Heilige und das Transzendente keinen Platz mehr hat, oder vielmehr: ein desakralisierter Kosmos, in dem das Transzendente, das Heilige ebenso wie das Chaos und das Böse immanent sind. Diese Aufhebung der traditionellen Schwelle zwischen dem Heiligen und dem Profanen kennzeichnet nicht nur das Christentum,9 sondern auch den modernen, säkularisierten Menschen. Für ihn, der in einer desakralisierten Welt lebt, sind ‚Gut‘ und ‚Böse‘ immer noch unmittelbar erfahrbar. Allerdings kann diese Erfahrung nicht mehr, wie im Raum der Fantasy oder des mittelalterlichen Christentums, auf das weltimmanente Wirken ‚höherer‘ Mächte zurückgeführt werden: Wir glauben zwar noch an das ‚Gute‘, aber nicht mehr an die Dimension des Heiligen. 2.3.2 Der Turm Der Turm symbolisiert als Nachbildung des kosmischen Berges traditionell das Band zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Heiligen und der Welt. Auf dem Turm erlebte der Priester Transzendenz und wurde eins mit der Gottheit. Im Herrn der Ringe wie in den Harry Potter-Romanen dagegen muss sich der Mensch auf dem Turm dem weltimmanenten Bösen stellen, dass ihn ganz konkret bedroht oder in Versuchung führt. Insbesondere die verfallenen, auf Bergen errichteten Wachtürme der semigöttlichen ‚Menschen des Westens‘ in Mittelerde erscheinen als desakralisierte Orte des Schreckens, wo der Held vergeblich gegen die Versuchung kämpft. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Fundamente der als Türme konzipierten Tempel tief in der Unterwelt gegründet sind (Eliade 29). Aus diesem Grund kann Sauron im Herrn der Ringe seine alten Festungen wiederbesiedeln, die nach seiner Niederlage nicht geschleift worden waren; aus diesem Grund überdauert der Basilisk in Hogwarts Kellergewölben: Solange die Grundmauern der Türme in der Unterwelt fortbestehen, d.h. solange die Unterwelt an sich fortbesteht, hat das Böse Zugang zur Welt. Insofern ist es kein Wunder, dass Saruman in einem Turm, nämlich im Turm von Orthanc Verbindung mit Sauron aufnimmt, und dass eben dort die Konfrontation Gandalfs und Sarumans stattfindet, aufgrund derer Gandalf Erkenntnis über das Böse in Saruman erlangt. Im höchsten Turm von Gondor ringt Denethor mit Sauron und verliert den Verstand. 9

Die Hierophanie der Inkarnation Christi impliziert eine Aufhebung der traditionellen Schwelle zwischen der heiligen, überzeitlichen und außerortlichen und der diesseitigen Dimension. Ebenso wie Judentum und Islam hat das Christentum als Religion mit historisch verorteter Hierophanie daher eine Sonderstellung inne. Laut Eliade ist „in diesem Komplex Mensch – Gott – Geschichte ... für den Kosmos kein Platz“ (129). Vgl. Pkt.3.

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Und unterhalb der ringförmigen10 Ruinen des Wachtturms auf der Wetterspitze gibt Frodo der Versuchung nach, setzt den Ring auf und berührt damit die Welt der dem Bösen verfallenen Ringgeister. In der Folge stirbt er einen quasi rituellen Tod, nur um in Bruchtal gewissermaßen wiedergeboren zu werden. Dies ist eine Umdeutung der traditionellen Übergangsriten, mithilfe derer sich der Mensch in traditionellen Gesellschaften in Verbindung mit dem Heiligen setzt: „Wer Zugang zum geistigen Leben erlangen will, muss der profanen Seinsweise absterben und neu geboren werden“ (Eliade 146). Dasselbe weit verbreitete Bild liegt auch Gandalfs Kampf mit dem Balrog auf der Silberzinne zugrunde, in dessen Folge er als ‚Gandalf der Weiße‘ reinkarniert wird. Auf Amon Hen schließlich spürt Frodo Saurons suchenden Blick ebenso wie Gandalfs körperlose Gegenwart. Wie der Priester auf dem Turm den Sieg der Götter über das Chaos rituell nachvollzieht, so ist auch Frodo auf dem Turm Zeuge des geistigen Duells der beiden Maia, und zwar auf einem Turm, der einst gebaut wurde von den Númenorern, die ihrerseits Sauron besiegt hatten. Die Númenorer wiederum blickten zurück auf den Sieg der Valar über Morgoth. Frodo selbst realisiert im Dunkel von Cirith Ungol, als er die Phiole mit dem Licht Eärendils hochhält, dass er sich in einem zeitlichen und räumlichen Kontinuum mit der Welt des ersten Zeitalters, der Welt der Legenden, Mythen und Lieder befindet – wie Eliades religiöser Mensch der traditionellen Gesellschaften folgt er einem mythischen Modell, nur dass der Mythos in Mittelerde weltimmanent ist und sich als ewiger Kampf gegen das Böse darstellt: Wie Beren mit Morgoth kämpfen auch Frodo und Sam gegen das Böse, das sich in ihrer Zeit u.a. in Form von Kankra manifestiert, einer direkten Nachfahrin der Licht fressenden Ur-Spinne Ungoliant, Verkörperung des Chaos. Es verwundert nicht mehr, dass Frodo am Ende gemeinsam mit Sam den ‚Schicksalsberg‘ erklimmt und dort der Versuchung erliegt. Der Berg im Zentrum ist in Mittelerde eben kein Bergtempel, wo ein Priester nach einer „ekstatischen Reise ins Zentrum der Welt“ (Eliade 30) Zugang zum Heiligen hat, kein Danteskes Paradies, sondern vielmehr ein Herz der Finsternis, eine Öffnung in die Unterwelt, ein Zugang zum un-heiligen Zentrum des Bösen. Hier setzt Frodo schlussendlich den Ring auf, dieses an die Welt von Mittelerde gebundene Symbol des Chaos und der Herrschaft des Bösen. Zeitgleich wird bekanntlich das vor den Toren lagernde Heer von Gondor von der feindlichen Streitmacht überrannt: Wir befinden uns am Tief- oder Wendepunkt des Romans, alles scheint verloren.

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Auch der Ring ist ein Symbol für die Welt; vgl. das Welten-‚O‘ des Shakespear’schen Theaters.

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Doch das Chaos herrscht, wie im Karneval oder in der Osterzeit, nur kurz. Die Queste wird durch die Macht des Mitleids und das selbstaufopfernde Verhalten der Helden gerettet, Gollum stürzt in die feurige Tiefe und die Adler – Lieblingsvögel der Götter und christliches Symbol – kommen und retten Frodo und Sam. Die öffentliche Ordnung wird aus dem Chaos neu geschaffen, der Baum in Gondor trägt neue Blüten und der König kehrt zurück. All dies sind Bilder der Erneuerung des Kosmos aus dem Chaos, ebenso wie die Tatsache, dass in der Gondorianischen Zeitrechnung von nun an ein neues Jahr beginnt, dass Sam sich fühlt „like spring after winter“ (Lord of the Rings 963) oder dass Aragorn ein rechtmäßiger Nachfahre der mythischen Ahnen ist, die als einzige die Vernichtung der Menschheit durch die Sintflut überlebt hatten (vgl. Eliade 56f, 95). Diese Entwicklung entspricht in ihrer Symbolik von Tod und Auferstehung, von neuer kosmischer Ordnung nach der karnevalesken Herrschaft des Chaos dem Endkampf um Hogwarts und der Nahtoderfahrung des Helden im letzten Band der Harry-Potter-Septologie. Zwar findet dort der Showdown auf dem Turm bereits am Ende des sechsten Bandes statt, wenn Harry gelähmt und verständnislos zusehen muss, wie Dumbledore sich vor den versammelten Todessern stellvertretend töten lässt. Doch auch in Rowlings Werk muss der Held sich zuletzt dem personifizierten Bösen stellen, und zwar im Wald, wo bei Dante das Tor zur Hölle liegt. Auch im Harry-Potter-Zyklus verfolgt es Harry in Form des Narben-Horcruxes bis in sein Innerstes, ohne dass sich ihm ein metaphysischer Ausweg böte. Und auch hier wird parallel zum Opfergang des Helden ein aussichtslos scheinender Kampf um den kryptoreligiösen Ort ausgefochten, auch hier gibt es – im Kapitel „King’s Cross“ des letzten Bandes – einen Moment der Zeitlosigkeit, des Aus-der-Welt-und-aus-dem-Körperseins, des symbolischen Todes, bevor alles sich zum Guten wendet. In diesem Moment erkennt der Held im Gespräch mit seinem verstorbenen Mentor, dass die Wirklichkeit und seine Gedanken austauschbar sind: Geistige Welt und reale Welt, das Übernatürliche und das Natürliche sind ein und dasselbe, ein Kosmos, in dem Gut und Böse sich gegenüberstehen. Realität im Sinne von wirklicher Wahrheit, Erkenntnis, Weisheit oder auch Transzendenz liegt in unserem Kopf verborgen, diesem „Dach“ über dem Gebäude des Körpers (Eliade 124f.) oder ‚verrückten Globus‘, der, wie schon Shakespeare wusste, die ganze Welt beinhaltet. 11

11

Vgl. die Metapher „distracted globe“ in Hamlet, I, 5, die sich zugleich auf den Kopf, das Theater und die Welt bezieht.

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3. Schlussfolgerungen 3.1 Mythische und religiöse Motive in den Romanen Die Romane benutzen, wie oben dargelegt, die Symbolik traditionsgebundener Gesellschaften, um die Erneuerung des Kosmos nach der Herrschaft des Chaos zu schildern. Jedoch geht es nicht mehr, wie im Mythos, um den rituell nachvollzogenen Sieg der Götter über das uranfängliche Chaos, sondern darum, wie der Mensch damit umgehen kann, dass das ‚Unheilige‘ immer wieder in die Welt einbricht. Der Kosmos der untersuchten Romane entspricht dabei zum Teil christlichen Vorstellungen, denn auch die historische Geburt Jesu verlegt das Übernatürliche ‚in die Welt‘ und postuliert so die Präsenz des Heiligen auf Erden. Genau dieses Heilige aber fehlt in den Romanen ebenso wie in der desakralisierten modernen Welt: Das mythische Zeitalter der Elben ist vorbei, der Mensch muss sich allein mit dem Bösen herumschlagen, ohne dass ihm ein metaphysischer Ausweg zur Verfügung steht. Trotz der Präsenz des Übernatürlichen in Form von Schicksal, Prophezeiungen, Monstern und Magie befinden wir uns in beiden Romanen in einem desakralisierten Kosmos, sprich in einer modernen, säkularisierten Welt, in der Gut und Böse nicht nur immanent, sondern Teil der menschlichen Natur sind. Beide Werke zeigen auf, dass der Mensch von Anbeginn am Chaos, am Unheiligen, am Bösen teilhat, und beide geben Antworten auf die Frage, wie er das Böse in sich selbst besiegen kann. Diese Antworten fallen naturgemäß unterschiedlich und komplex aus und sind Thema vieler Interpretationen, die hier ausführlich darzustellen kein Platz ist.12 Bei Tolkien geht es, vereinfacht gesagt, darum, wie man sich richtig entscheidet und richtig handelt, wenn man das mitunter verführerische, aber immer offensichtliche Böse erkannt hat; bei Rowling darum, wie man das Böse in der konkreten Lebenswelt überhaupt erkennen und unter welchen Voraussetzungen man sich richtig entscheiden und in der komplexer gewordenen Welt richtig handeln kann. In diesem Kontext müssen die gemeinsamen Themen Liebe, Selbstlosigkeit, Freundschaft, Pflichtbewusstsein, Loyalität und Selbstaufopferung gesehen werden, ebenso wie die zentrale Thematik des Todes bzw. die Darstellung, wie aus Tod und Zerstörung neues Leben entsteht. Gemeinsam ist beiden Werken jedoch, dass diese zentralen Themen ebenso wie die von Eliade beschriebenen traditionellen Symbole im Kontext der christlichen Interpretation benutzt, weiterentwickelt und umge-

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Vgl. z.B. Granger, Kern, Honegger und Zimbardo.

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deutet werden.13 Dies heißt allerdings nicht, dass die Romane die Heilsgeschichte allegorisch abbilden. Der Schicksalsberg entspricht zwar insofern dem christlichen Golgatha, als Frodo sich wie der menschgewordene Gott dem Bösen ausliefert, die Sünde auf sich nimmt und einen symbolischen Stellvertretertod stirbt, um anschließend nach einem kurzen Aufenthalt in der Welt in die unsterblichen Lande zu entschwinden. Zugleich ist der Schicksalsberg aber ein Ort, wo das zutiefst menschliche Scheitern auch des Christus nachfolgenden Menschen im Angesicht des Bösen deutlich wird – ebenso wie die Tatsache, dass die Erlösung und Erneuerung der Welt einzig und allein dem Schicksal obliegt. Dieses Schicksal, der letztlich vom deus absconditus Ilúvater vorherbestimmte Lauf der Welt, erscheint dabei paradoxerweise als weltimmanente Macht. Denn das Schicksal ist im Herrn der Ringe abhängig von den Entscheidungen einzelner Figuren, seien es Menschen, Hobbits oder Orcs – es erscheint nicht als übernatürlich teleologisches Geschehen, das sich auf der Erzählebene als deus ex machina darstellt, sondern als kausal im Plot verankerte, gewissermaßen menschengemachte Handlung. Gleiches gilt für den Harry Potter-Zyklus: Auch hier ist die Prophezeiung eine sich selbst Erfüllende, das Schicksal menschengemacht. Selbst der ‚göttliche Plan‘, nach dem Harry im Kampf gegen das Böse den Stellvertretertod stirbt, ist am Ende von Dumbledore manipuliert. Insofern entstammen die Antworten, die die Romane auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen geben, zwar dem christlichen Denken, sind aber zugleich dem profanen Erleben des modernen, säkularen Menschen verhaftet. Letztlich geht es in beiden Romanen, ohne dass religiöse Inhalte explizit zur Sprache kommen, um die Theodizee, die Rechtfertigung einer im weitesten Sinne ‚göttlichen‘ Gerechtigkeit angesichts des Leids in der Welt. So wie jede Kosmogonie, jede sinnstiftende Weltentstehungsgeschichte, jede rituelle Neuschöpfung des Kosmos aus dem Chaos laut Eliade der Versuch einer Umwertung der Todeserfahrung ist (143), so setzen sich auch diese beiden ‚kosmogonischen‘ Romane mit der Erfahrung von Leid und Tod auseinander. 3.2 Mythische und religiöse Motive als Schlüssel für den Erfolg von Fantasy Warum haben nun gerade diese beiden Romane einen derartigen Erfolg? Und lässt sich daraus etwas ableiten, was den Erfolg von Fantasy überhaupt erklärt?

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Wenn Scrimgeour Harry im letzten Band vorwirft, er trüge seine Narbe „like a crown“ (Rowling 110) ist dies nur ein Beispiel für die den gesamten Zyklus durchziehende Christussymbolik. Vgl. Granger und zu religiösen Symbolik bei Tolkien Meyer.

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Mircea Eliade schildert am Ende von Das Heilige und das Profane die „Desakralisierung“ (148) der modernen Welt, die Verflachung der „Erfahrung der kosmischen Heiligkeit“ hin zur „menschlichen Emotion“ (113) und stellt die These auf, dass in einer säkularen Gesellschaft Literatur und Film nicht nur zahllose mythische Motive beinhalten, sondern dass sie eine mythologische Funktion haben. Literatur bietet, so Eliade, „dem modernen Menschen die Möglichkeit, ‚aus der Zeit herauszutreten‘ […] und lässt ihn in einer anderen Geschichte leben“ (150). Frank Weinreich vertritt die These, dass es ein in der menschlichen Psyche angelegtes „Bedürfnis nach Metaphysik und die Erfahrungsgrenzen überschreitenden Erklärungsmustern“ gibt (38), das auf spielerische Weise von der Fantasy befriedigt wird. Dem könnte man nun hinzufügen, dass Fantasy viele Menschen in säkularen Gesellschaften fasziniert, weil in diesem Genre der Konflikt bzw. die Problematik von ‚Gut und Böse‘ ganz konkret in der erzählten Welt behandelt werden können. In den untersuchten Romanen und in der Fantasy allgemein erscheinen ‚Gut und Böse‘ nicht mehr wie im Mythos als absolute, übernatürliche bzw. außerweltliche und von außen auf den Menschen einwirkende Kräfte. Sie erscheinen aber auch nicht, wie im modernen ‚realistischen‘ Roman, als abstrakte, relative, psychologisch oder gesellschaftlich motivierte Phänomene, sondern als greifbare, weltimmanente, gewissermaßen ‚natürliche‘ Kräfte. In der Fantasy agieren Engel und Teufel (vor allem natürlich letztere) personifiziert in der und als Teil der erzählten Welt. Das spricht Menschen an, die mit der Vorstellung einer ‚realen‘ Metaphysik, eines in der Hölle sitzenden Satans oder der Jungfrauengeburt nichts mehr anfangen können, sich aber gleichzeitig mit dem Problem des Bösen in der Welt konfrontiert sehen. Entsprechend sind die Orte in den Romanen, vom Baum über den Turm bis hin zur großen Halle in Hogwarts den bei Eliade geschilderten heiligen Orten nachempfunden, ohne jedoch die traditionelle Verbindung zum Übernatürlichen bzw. der heiligen, „allein wirklichen, wirklich existierenden“ Welt herzustellen (15). Die ‚wirkliche Welt‘ der Fantasy ist nicht die außerzeitliche und außerortliche Dimension, die „absolute Wirklichkeit“ die Eliade als typisch für das Heilige beschreibt (15), sondern ganz konkret die erzählte, letztlich profane und im Grunde trotz der vielen Mittelalter-Topoi moderne Welt, die aber, anders als unsere Alltagswelt, das Wunder ebenso beinhaltet wie das personifizierte Böse und Monströse. Selbst das Jenseits in den Harry Potter-Romanen, wo Harry Dumbledore und Voldemort wieder begegnet, bleibt Teil der Psyche des Helden, ist ‚in seinem Kopf‘ und gleichzeitig auf der Ebene der erzählten Welt real. Man könnte das als ‚weltimmanente Religiosität‘ oder mit Eliade als Kryptoreligiosität bezeichnen: die Vorstellungswelt eines dem Chaos entrissenen Kosmos ohne Gott und Religion.

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3.3 Vier Thesen 1. Fantasy ist, wie Weinreich definiert, Metaphysik „mit einem Augenzwinkern“ (12). Ihr Nutzen besteht darin, „das in der Psyche wurzelnde Bedürfnis nach Realitätsüberschreitung zu befriedigen“ (39). Anders als Religion und Mythos erhebt sie jedoch nicht den Anspruch, ‚real‘ zu sein. Während die Religion sich als Glaube und Überzeugung darstellt, ist die Fantasy ein Spiel, dessen Voraussetzung die Aussetzung des Nicht-Glaubens, die Coleridge’sche suspension of disbelief ist. 2. Fantasy verwendet dieselben Bilder, Chiffren und Themen wie Mythos und Religion. Anhand traditioneller Symbole behandelt sie die Kosmogonie, den Status des Menschen, den Freien Willen, Tod und Wiedergeburt und die Macht der Liebe. So wie der heilige Raum ein Bild des Kosmos ist, so spiegeln auch die Räume im Roman die fiktive Kosmogonie und Weltordnung – oft mit Bezug zum modernen, profanen Dasein. Dies beinhaltet die Selbstbezüglichkeit: Der am Mythos zweifelnde Leser erlebt in der spielerischen Mythenwelt der Fantasy den zweifelnden, ja angesichts der Präsenz des Bösen verzweifelnden Menschen. 3. Fantasy kann im Gegensatz zum ‚realistischen‘ Roman das Übernatürliche, das Heilige und Transzendente ebenso wie absolute ethische Werte in der erzählten Welt auftreten lassen und darüber den Gegensatz Kosmos – Chaos thematisieren. Wie im religiösen Denken, aber anders als in der profanen, kontingenten und relativen Wirklichkeit ‚existieren‘ Gut und Böse im Kosmos der erzählten Welt ‚real‘ und absolut, sie sind Teil der Wirklichkeit der Romanhelden, mit denen sich der Leser identifiziert. 4. Insofern ermöglicht Fantasy kryptoreligiöse Erlebnisse der Transzendenz. Der Akt des Lesens ist der religiösen Versenkung vergleichbar: Wir lesen etwas und erleben es gleichzeitig; wir sind an zwei Orten zugleich, dem Sessel im Wohnzimmer und dem Ort der Handlung, ebenso wie der Gläubige zugleich in der Kirche und in Gegenwart der Gottheit ist. In beiden Fällen wird das Individuum in den Zustand des Flow versetzt, in die völlige Versenkung in ein Hier-und-Jetzt, das nicht demjenigen der profanen Realität entspricht. In beiden Fällen transzendiert der Leser die Realität und seine egozentrische Perspektive und erlangt Zugang zu einer anderen Welt. Dies gilt natürlich für alle Romane, besonders aber für das Genre der Fantasy, das per definitionem mit imaginären ‚anderen Welten‘ arbeitet. Durch den Flow des Leseprozesses und die Versenkung in den Kosmos des Buches stillt Fantasy das metaphysische Bedürfnis des Lesers.

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Literaturverzeichnis Carpenter, Humphrey. J. R. R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: KlettCotta, 2001. Cooper, J. C. Illustriertes Lexikon der Symbole. Wiesbaden: Drei Lilien, 1986. Eliade, Mircea. Das Heilige und das Profane. Köln: Anaconda, 2008. Gladigow, Burkhard. „Mögliche Gegenstände und notwendige Quellen einer Religionsgeschichte.“ Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme. Hrsg. Heinrich Beck. Berlin: De Gruyter 1992. 3–26. Granger, John. Unlocking Harry Potter: Five Keys for the Serious Reader. Wayne: Zossima, 2007. Guilford, Dudley. Religion on Trial: Mircea Eliade & His Critics. Philadelphia: Temple University Press, 1977. Honegger, Thomas und Weinreich, Frank. Eine Grammatik der Ethik. Saarbrücken: Villa Fledermaus, 2005. Kern, Edmund M. The Wisdom of Harry Potter: What Our Favourite Hero Teaches Us About Moral Choices. New York: Prometheus, 2003. Meyer, Martin J. Tolkien als religiöser Sub-Creator. Münster: Lit, 2003. „MuggleNet and The Leaky Cauldron interview J. K. Rowling“. Mugglenet. Edinburgh 16.07.2005. Web. 9.12.2010. . „Mircea Eliade“. Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. Web. 26.3. 2011. Rowling, Joanne K. Harry Potter and the Deathly Hallows. London: Bloomsbury 2007. Tolkien, J.R.R. „On Fairy Stories“. Tree and Leaf. Smith of Wootton Major. The Homecoming of Beorthnoth. London: Unwin, 1975. 11-79. —. The Lord of the Rings. 3 Bde. Boston: Houghton Mifflin, 2002. —. The Silmarillion. London: Harper-Collins, 2007. Weinreich, Frank: Fantasy: Einführung. Essen: Oldib, 2007. Zimbardo, Rose A. und Neil D. Isaacs. Understanding The Lord of the Rings: The Best of Tolkien Criticism. Boston: Houghton Mifflin, 2004.

Märchenwälder Der Topos Wald im europäischen Märchen und in seinen modernen Interpretationen INKEN FROST Fairy Tale Forests: The Topos 'Forest' in European Fairy Tales and in their Modern Interpretations The article explores the possibilities of the topos of the forest in fairy tales and links the insights won out of the analysis of two exemplary tales to the wider field of the studies of the fantastic. The fairy tale forest lies at the periphery of culture, it can be culture’s border or even the space beyond and thus the space in which liminality can be explored or deviant forms of behaviour tested. Space in fairy tales is conventionalised, but the realisation of motifs and structures in the actual telling of the story can play with the semantics of the fairy realm and, to some extend, even deal with the construction of that space as a topic in itself by inserting a meta-level into the tale. Fairy tales reflect cultural conventions not only in their content, but also in their structure; while fairy tale content mostly confirms conventions, they can reflect and deconstruct those conventions on a structural level. This is fully realized in the bricolages of presentday authors, who play not only with the content of fairy tales, but also with their structural elements – in fantastic retellings as well as in more realistic stories – to unmask the nature of the construct.

1. Voraussetzungen einer literaturwissenschaftlichen Märchenanalyse Märchenforschung war in den letzten Jahrzehnten vor allem Erzählforschung: Ausgehend von dem Ansatz der Finnischen Schule, Erzähltypen und -motive zu untersuchen, weitete sich das Forschungsfeld dahingehend, dass heute neben Märchenbiologie und -soziologie auch der (mündliche) Erzähler selbst im Mittelpunkt steht. Verschiedene Disziplinen – von der Anthropologie über die Psychologie bis hin zur Rechtswissenschaft – tragen ihre Standpunkte zur Erzählforschung bei, während die (philologische) Literaturwissenschaft vor allem die Gattungsformen untersucht bzw. den historischen Kontext von niedergeschriebenen Märchen betrachtet. Dieser Artikel befasst sich mit dem Märchen aus literaturwissenschaftlicher Sicht, wobei die Erkenntnisse der Gattungsforschung als Grundlage

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dienen, das Augenmerk aber auf den Texten selbst liegt, genauer auf der Topologie der Diegese, die sie entwerfen. Methodischer Fokus ist die Theorie der Raumsemantik des Semiotikers Jurij Lotman, die davon ausgeht, dass die von einem literarischen Text entworfene Topologie sowohl als Teil der vom Erzähler beschriebenen Welt als auch als Strukturelement des Textes Bedeutung trägt, wobei die sich an die Räume anlagernden Semantiken aus dem Text heraus zu erschließen sind. Im Vordergrund stehen hier, stellvertretend für die Gattung, zwei Zaubermärchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, „Rotkäppchen“ und „Allerleirauh“, anhand derer sich die wesentlichen Eigenschaften des Märchenraumes ‚Wald‘ zeigen lassen, dessen Analyse die Möglichkeit eröffnet, die literaturwissenschaftliche Betrachtung an den größeren Rahmen der Fantastikforschung anzuschließen. Die Entschlüsselung der Signifikanz der Märchenräume – hier vertreten durch den Märchenwald – geht mit einer Interpretation der Märchen einher, die hier aber nicht im Vordergrund steht: Es geht weniger darum, was Märchen ‚bedeuten‘, sondern vielmehr darum, wie Märchen, aus Sicht der Literaturwissenschaft, ‚funktionieren‘: Im Zentrum steht dabei die Analyse der topologischen Struktur des jeweils untersuchten Märchens. Bislang ist die inhaltliche Analyse von Märchentexten vor allem die Domäne der Psychoanalyse, die Märchen – wie auch andere literarische Texte – auf der Grundlage ihrer Traumtheorie analysiert und die Erzählungen für die psychoanalytische Psychotherapie nutzbar macht. Sowohl Psychoanalyse als auch Märchen bieten eine in sich schlüssige Erzählung, die krisenhafte Momente und Brüche in eine Gesamtstruktur integriert; daher ist die Attraktivität des Märchens für die Psychoanalyse leicht erklärbar. Verdienst der Psychoanalyse ist es, den Chronotopos des ‚Prüfungsweges‘ (wenngleich nicht in den Termini Bachtins) herausgearbeitet zu haben, der insbesondere die Struktur des Zaubermärchens bestimmt: Ihren Ausgang nehmen die Märchen in der Alltagswelt, in der sich eine wie immer geartete Mangelsituation1 einstellt. Oft muss der Held oder die Heldin2 zur Behebung des Mangels das angestammte Heim verlassen; Propp 1

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Der von Propp geprägte Begriff der Mangelsituation ist sehr weit zu fassen: Es kann sich um einen tatsächlichen Mangel handeln, etwa, wenn etwas gestohlen wird oder ein Heilmittel fehlt, um eine Notlage, wenn etwa die Prinzessin dem Drachen ausgeliefert werden soll, aber auch um ein aufkommendes Bedürfnis, wie dem Wunsch zu heiraten oder Ruhm zu ernten, oder Schwierigkeiten anderer Art (vgl. Lüthi, Märchen 25). Auch wenn im Folgenden aus Gründen der eleganteren Formulierung meist nur von (männlichen) Helden die Rede sein wird, sind die Heldinnen des Märchens immer mitgemeint. Tatsächlich treten gerade im Waldmärchen erstaunlich viele starke Frauen auf – auch in der Bearbeitung durch männliche Autoren zu Zeiten, als die Frau in der Gesellschaft auf den heimischen, privaten Raum beschränkt war. Im Märchen ziehen sie aus, um ihre Brüder zu retten, die Hexe zu besiegen oder einfach, um sich aus unerträglichen Umständen zu befreien.

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markiert diesen Aufbruch mit einem nach oben weisenden Pfeil, also einem deiktischen Zeichen (vgl. 43). Der Teil, den Lüthi als Kern des Zaubermärchens ausmacht, „Schwierigkeiten und deren Bewältigung[,] Kampf/Sieg, Aufgabe/Lösung“ (Märchen 25) spielt sich dann in der Sphäre des Wunderbaren, dem Alltag Entrückten ab; der Held überschreitet hierbei eine abstrakte Grenze, etwa zwischen Kindheit und Erwachsenendasein und kehrt, bewehrt mit dem Mittel, dem Mangel abzuhelfen, mit seiner Braut und um eine entscheidende Lebenserfahrung reicher in das alltägliche Leben zurück. Seit Beginn der Neuzeit werden Märchen schriftlich fixiert. Im Gegensatz zu den Aufzeichnungen der modernen Erzählforschung, die sich um ein möglichst getreues Abbild des individuellen Erzählvorgangs bemüht, sind die Märchensammlungen von Straparola bis zu der Ausgabe letzter Hand der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm redaktionell stark bearbeitet: Es handelt sich um Literatur und nicht um die schriftliche Erfassung von oral poetry – daher ist es durchaus gerechtfertigt, in der Betrachtung der sogenannten ‚Buchmärchen‘ ein literaturwissenschaftliches Interesse in den Vordergrund zu stellen: „Schon die grimmschen Märchen sind ein Konglomerat aus mündlich zugetragenen Stoffen, Textteilen und Abschriften […]. Aus den Texten selber ist eine Rekonstruktion oraler Tradition und Performanz nicht möglich“ (Pöge-Alder 62) – aber die Texte gehören so, wie wir sie in den Kinder- und Hausmärchen, in anderen vormodernen Märchensammlungen und in modernen Anthologien, teilweise auch in anderen Medien – man denke an die Verfilmungen der Disney Studios – vorfinden, zum Kanon unserer zeitgenössischen Kultur, und nicht zuletzt ist die Märchenforschung selbst von diesen Schriftfassungen beeinflusst. Die Erkenntnisse der Erzählforschung sind unbestreitbar wertvoll, aber hier soll ein anderes Problem im Vordergrund stehen – wie die Texte, die fast jeder in Europa kennt und die ein fester Bestandteil des kulturellen Gutes sind, funktionieren. 2. Raumsemantik, Raum im Märchen und die Möglichkeiten des Raumes Wald Jurij Lotman betont in seinen Überlegungen zum künstlerischen Raum die Wichtigkeit räumlich-relationaler Begriffe für das Weltverständnis des Menschen, wobei er beobachtet, dass diese räumlichen Begriffe Kulturmodelle erschaffen, in denen sich abstrakte Begriffe (wie etwa fremd/eigen) an räumliche Vorstellungen anlagern; er überträgt dieses Prinzip dann auf das System der Kunst, das Modelle des menschlichen Weltmodells herstellt (Struktur 312ff.)

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Lotman entwickelt aus diesen Überlegungen heraus einen speziellen Sujetbegriff, der als Ereignis eines Textes die Überschreitung einer im Text dargestellten räumlichen Grenze versteht. Dabei teilt er die Diegese literarischer Texte grundsätzlich in zwei durch eine eigentlich unüberschreitbare Grenze getrennte Räume auf, die mit gegensätzlichen Semantiken (arm/ reich, heimisch/fremd, usw.) versehen sind. Dabei versteht Lotman den Raum nicht als ‚Behälter‘ für die in ihm befindlichen Dinge, sondern ganz im Sinne Cassirers als System von Relationen. Die grundsätzliche Zweiteilung des Raumes, die zudem eine gewisse Starrheit besitzt, ist dem strukturalistischen Hintergrund des Semiotikers und seiner Nähe zu den russischen Formalisten geschuldet; bei der Betrachtung eines größeren als dem von Lotman ausgewählten Textkorpus ist festzuhalten, dass grundsätzlich auch kompliziertere und zum Teil dynamische Raummodelle anzunehmen sind. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Lotman oft das (Zauber-)Märchen als Beispiel für seine Theorie heranzieht: Zum einen besitzt das Märchen eine Konkretheit, die, wie schon Lüthi beobachtet, sowohl räumliche als auch interpersonelle Relationen benutzt, um abstrakte, auch intrapersonelle Relationen greifbar zu machen; zum anderen lässt sich in vielen Märchen eine Zweiteilung beobachten, die eine Grenze zwischen einem alltäglichen und einem wunderbaren Raum zieht, wobei die Entfernung zwischen Alltag und Wunder nicht im inneren Erleben des Helden dargestellt wird, sondern durch räumliche Entfernung (vgl. Lüthi, Volksmärchen 8ff.). Ein Raum, der in den Märchen der Brüder Grimm sofort ins Auge springt, ist der Wald: Fast die Hälfte der Erzählungen in den Kinder- und Hausmärchen erwähnen ihn zumindest, in einer großen Zahl von ihnen spielt er eine wichtige Rolle. Trotzdem bleibt dieser Topos – ungeachtet des spatial turn in den Kulturwissenschaften – nahezu ohne Beachtung (was wohl zum Teil der erzähltheoretischen Ausrichtung der Märchenforschung geschuldet ist); wo er erwähnt wird, wird der Wald im Märchen viel zu pauschal als dunkler, geheimnisvoller Ort abgetan, in dem schreckliche Fabelwesen hausen, der „lichte Laubholz-Vorwald in der Nähe von Siedlungen“ – so der Forstwissenschaftler Mantel – sei „eine Ausnahme und selten der Gegenstand eines Waldmärchens“ (131). Weder wird das „Geheimnis“ des Waldes (Gehrts) differenziert, noch werden andere Formen des Waldes im Märchen aufgezeigt. Dabei ist der Wald vielleicht der vielseitigste Ort im Märchen, schon weil an ihn so viele – literarische wie außerliterarische – Vorstellungen herangetragen werden. Der Wald im Märchen kann der Ort des Übernatürlichen, Jenseitigen sein, in dem der Held abseits des Alltäglichen auf die Probe gestellt wird, er kann die Ausgestaltung einer Grenze (etwa zwischen zwei Königreichen, wie in „Allerleirauh“) darstellen oder aber auch Teil des Alltagslebens

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der Menschen sein – man denke an die zahlreichen waldbezogenen Berufe, die im Märchen häufig vorkommen, wie Holzfäller, Köhler und Jäger. Das Besondere am Wald ist, dass er in seiner Bedeutung nicht festgelegt sein muss, diese im Laufe des Märchens verändern kann: So wird etwa in „Hänsel und Gretel“ der Wald zunächst als Arbeitsplatz des Vaters, eines Holzfällers, eingeführt, später dann – mit dem Extrempunkt des Knusperhäuschens der Hexe – stellt er sich als Ort abseits des Alltäglichen dar, in dem Gretel den Übertritt ins Erwachsenenleben vollzieht, am Ende beherrscht die nunmehr erwachsene Gretel diesen vormals feindlichen Raum und führt ihren Bruder sicher und ohne Zögern nach Hause. Die verschiedenen Ausgestaltungen des Waldes gehen natürlich auch in die literarischen Neuinterpretationen von Märchen ein: Der Märchenwald zieht seine Gestalt aus literarischer wie außerliterarischer Tradition und generiert selbst neue Vorstellungen vom Wald; die moderne Interpretation greift diese auf, verändert sie und bringt eigene, moderne Waldvorstellungen in den Text mit ein. Der Wald im Märchen ist aber mehr als ein Bild unserer Vorstellung vom Wald; er ist, im Sinne Lotmans, ein semantisierter Ort und erfüllt im Märchen eine genuin literarische Funktion. Oft überträgt eine Neuinterpretation die im Märchen enthaltene Semantik des Waldes auf einen anderen Ort, oft einen aus unserer alltäglichen, urbanen Lebenswelt – so wie umgekehrt die Brüder Grimm oft, unter Beibehaltung der Semantik, den Wald als Ort der Handlung gewählt haben, wenn ursprünglich von einem Zauberreich, dem Meer oder schlicht der ‚Wildnis‘ die Rede war. Die Hinzufügung des Waldes dient auch dazu, das Auftreten des Jenseitigen handhabbar zu machen – so enthalten ältere italienische Fassungen des in Deutschland als „Rotkäppchen“ bekannten Märchens keinen Wald, es wird nicht erklärt, wie der Fressdämon (eine Art Oger) – lange vor Beginn der Erzählung – in das dörfliche Umfeld einbrechen konnte; der sprechende Wolf der grimmschen Fassung ist als Waldtier gekennzeichnet, seine Herkunft aus dem kulturfernen Wald markiert den Abstand des Schrecklichen zur geordneten Welt des dörflichen Lebens. 3. „Rotkäppchen“: Der dynamische Raum Im Vorwort zu der zweiten, überarbeiteten Auflage seiner kontrovers diskutierten „Trials and Tribulations of Little Red Riding Hood“ bezeichnet Jack Zipes das Märchen vom „Rotkäppchen“ als „the most widespread and notorious fairy tale in the Western world, if not in the entire world“ (xi). Schon im 18. und 19. Jahrhundert entstehen zahlreiche Nach- und Neuerzählungen des Märchens, das zuerst von Charles Perrault aufge-

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zeichnet wurde und dessen Ursprung als mündliche Form meist in Südost-Frankreich und dem nördlichen Italien angesiedelt wird – wenngleich unklar ist, inwieweit Perrault sich tatsächlich auf mündliche Erzählungen stützt. In der grimmschen Fassung führt der Weg Rotkäppchen durch den Wald, wo sie den Wolf trifft; der Wolf fragt Rotkäppchen aus und bringt sie dann dazu, das Verbot der Mutter zu missachten und vom Weg abzugehen, um Blumen zu pflücken, derweil er zum Haus der Großmutter geht und die alte Frau frisst. Als Rotkäppchen endlich kommt, entspinnt sich zwischen ihr und dem Wolf das bekannte Zwiegespräch: „Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!“ (KHM 26), das damit endet, dass der Wolf auch Rotkäppchen verschlingt. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, und bei Perrault ist sie das auch, aber die Brüder Grimm lassen eine Figur auftreten, die Ludwig Tieck dem Märchen hinzugefügt hat: Der Jäger kommt vorbei, merkt am Schnarchen des Wolfes, dass etwas nicht stimmt, und schneidet Rotkäppchen und die Großmutter lebendig aus dem Leib des schlafenden Tieres. Die Brüder Grimm fügen dem Märchen auch noch eine zweite Sequenz an, in der Rotkäppchen wiederum einen Wolf trifft, diesmal aber auf dem Weg – auf „offener Straße“ – bleibt. Zwar folgt dieser Wolf Rotkäppchen, erhält aber keinen Einlass und wird schließlich von der Großmutter überlistet und zur Strecke gebracht. Das – gleich doppelte – glückliche Ende ist aber nicht der einzige Unterschied der grimmschen Fassungen zu der ersten Niederschrift von Perrault. Für uns sind zwei scheinbar kleine Details von Bedeutung. Die Brüder Grimm setzen das Haus der Großmutter mitten in den Wald: „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken“ (KHM 26) beschreibt in der grimmschen Fassung Rotkäppchen dem Wolf den Weg. Bei Perrault hingegen wohnt die Großmutter hinter dem Wald, am Rande des nächsten Dorfes. Auch scheinen die Grimms eine Schneise der Zivilisation durch den Wald geschlagen zu haben – bei Perrault ist es noch die Anwesenheit einiger Holzfäller, die den Wolf Rotkäppchen zunächst verschonen lassen, in der grimmschen Fassung ist sie allein dadurch schon sicher, dass sie sich auf dem Weg befindet; in der zweiten Sequenz heißt es: Es wird auch erzählt, dass einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging gerade fort seines Wegs und sagte der Großmutter, dass es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: „Wenn’s nicht auf offener Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.“ (KHM 26)

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Beiden Fassungen gemeinsam ist hingegen, dass das Mädchen den Wald als einen schönen Ort erlebt, mehr wie einen Garten als einen Ort, an dem Gefahr durch hungrige Wölfe droht: Bei Perrault führt der ihr vom Wolf angewiesene Pfad vorbei an Haselnusssträuchern, Blumen und Schmetterlingen; bei den Brüdern Grimm weist der Wolf explizit auf die Schönheiten des Waldes hin, die singenden Vögel und die blühenden Blumen, und animiert Rotkäppchen so, vom Weg abzuweichen. Und tatsächlich geschieht ihr im Wald ja auch nichts: Es ist das Haus der Großmutter, das sich in einen bedrohlichen Ort verwandelt. „Die Holzfäller arbeiteten im Wald“ oder „Der Jäger ging in den Wald um zu jagen“ sind Sätze, die uns keine Geschichte erzählen – es gehört zum Begriff des Jägers oder Holzfällers, dass diese Personen ihren Arbeitsplatz im Wald haben, die Sätze sind somit redundant, ihr Informationsgehalt äußerst gering. Sie haben klassifikatorischen Charakter, sie sagen aus, dass Jäger und Holzfäller zur Klasse der Waldarbeiter gehören und bestätigen somit eine Ordnung, in der eben dies der Fall ist. Lotman bezeichnet solche Texte als sujetlos. Sujethaft sind dagegen Texte, in denen eine Norm verletzt wird: Rotkäppchens Ungehorsam, das Eindringen des Wolfes in die menschliche Behausung. Sujethafte Texte negieren die Ordnung eines sujetlosen Textes. Rotkäppchen überschreitet mit ihrem Ungehorsam eine von ihrer Mutter gesetzte Grenze; zwischen Gehorsam und Normverletzung entscheidet sie sich dafür, nicht zu gehorchen. Rotkäppchens Ungehorsam ist an eine räumliche Transgression geknüpft – sie verlässt den Weg; genauso ist der normverletzende Akt des Wolfes, der die Großmutter verschlingt, an sein Eindringen in ihr Haus gebunden. Die Grenze, die hier überschritten wird, ist nicht nur eine metaphorische, sondern auch ganz wörtlich eine räumliche Grenze. Lotman schreibt über die Grenze am Beispiel des Zaubermärchens: Hier wird nun zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes die Grenze. Sie teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Unüberschreitbarkeit. Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist einer seiner wesentlichen Charakteristika. Ob es sich dabei um eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere handelt, ist an sich gleich. Wichtig ist etwas anderes: die Grenze, die den Raum teilt, muss unüberwindlich sein und die innere Struktur der beiden Teile verschieden. So gliedert sich z. B. der Raum im Zaubermärchen deutlich in „Haus“ und „Wald“. Die Grenze zwischen ihnen ist klar – der Rand des Waldes, manchmal auch ein Fluss [...] Die Helden des Waldes können nicht ins Haus eindringen – sie sind einem bestimmten Raum fest zugeordnet. Nur im Wald können sich schreckliche und wunderbare Geschehnisse ereignen. (Struktur 327)

Allerdings geht die Organisation des Raumes in „Rotkäppchen“ über Lotmans starres, binäres Schema hinaus. Wir haben schon gesehen, dass

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Holzfäller im Wald kein Ereignis sind – die Holzfäller, die bei Perrault unweit der Stelle arbeiten, an der Rotkäppchen auf den Wolf trifft, haben keine Grenze überschritten, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Für Holzfäller und Jäger ist der Wald Teil derselben Ordnung wie das Dorf, in dem sie ihren Feierabend verbringen; die Holzfäller nutzen die Ressource Wald für das dörfliche Leben, der Jäger hegt seinen Forst nach den Regeln seiner Kultur. Man ist geneigt, von einem extratextuellen Standpunkt schnell die Begriffe ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ an ‚Wald‘ und ‚Dorf‘ heranzutragen, aber vom Standpunkt der Holzfäller und Jäger ist der Wald eine Ressource für das tägliche Leben, ein nutzbar gemachter – gewissermaßen kolonisierter – Raum, dem die menschliche Zivilisation ihren Stempel aufgedrückt hat. Dass sich Waldarbeiter im Wald aufhalten, bestätigt die Ordnung, die der Jäger forciert. „Rotkäppchen“ bietet also zwei Weltmodelle an: Zum einen haben wir einen ungeteilten Raum, in dem der Wald Ressource des Dorfes ist und zur selben Ordnung gehört, zum anderen einen geteilten Raum, in dem sich Dorf und Wald als semantisierte topographische Räume gegenüberstehen, was durch die Grenzüberschreitung Rotkäppchens und des Wolfes deutlich gemacht wird. An die semantisierte Topographie sind semantische Räume gebunden, die wir zunächst einmal durch Adjektive kennzeichnen können: Für Rotkäppchen stellt sich der Wald als ‚schön‘ und ‚lieblich‘ dar, er ist durch den Wolf aber auch als ‚böse‘ - nämlich gierig, hungrig, gefährlich, wild – charakterisiert. Über das dörfliche Leben erfahren wir bei Perrault und den Brüdern Grimm wenig, es ist vor allem durch das Verbot der Mutter gekennzeichnet – wir können es also als normiert bezeichnen – und zudem durch die Arbeit von Frauen, dem Backen von Brot und, in der zweiten Episode bei den Grimms, durch das Kochen von Würsten, es ist demnach häuslich. Da bei den Brüdern Grimm sowohl auf die Mutter als auch auf die Großmutter dasselbe Attribut entfällt, sind wir geneigt, beide demselben topographischen Raum zuzuschlagen, nämlich dem Dorf, auch wenn das Haus der Großmutter in diesen Fassungen mitten im Wald steht. Wir haben dafür aber noch ein anderes Argument, nämlich Rotkäppchens Angst, als sie das Haus der Großmutter endlich erreicht: „[U]nd wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, daß es dachte: ‚Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter!‘“ (KHM 26). Rotkäppchen wird der vertraute Raum unheimlich, etwas Fremdes ist eingedrungen, das dort nicht hingehört, und hat durch seine Anwesenheit das Heimische subtil verändert – im Wald fürchtete sich Rotkäppchen

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nicht vor dem Wolf. Dies ist ein Hinweis darauf, dass das Haus der Großmutter nicht Teil des Waldes ist, in dem es steht, denn sonst könnte das Eindringen des Waldtieres Wolf allein durch seine Anwesenheit eine solche Veränderung der Atmosphäre nicht hervorrufen. Vor diesem Hintergrund erscheint es seltsam, dass in der grimmschen Fassung das Haus der alten und gebrechlichen Frau mitten im Wald steht, doch erinnern wir uns daran, dass „Rotkäppchen“ zwei Weltordnungen anbietet – eine uniforme und eine geteilte. In der ersten ist der Wald längst durch den Menschen kolonisiert, womit das Haus der Großmutter in die Peripherie des Zivilisationsraumes verlagert, aber immer noch Teil des dörflichen Lebens ist; in der zweiten bilden Dorf und Wald einen Gegensatz, die schutzlose Insellage des Hauses macht es offen für das mühelose Eindringen des Wolfes. Es ist der Wolf, der Rotkäppchen zur Missachtung des mütterlichen Gebotes verführt: Er weist sie auf die Schönheiten des Waldes hin und instigiert die Grenzüberschreitung, die die Geschichte in Gang bringt. Er macht ihr den Wald als sinnlich erfahrbaren Ort bewusst, der im Gegensatz zum Alltagstrott steht: „Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig draußen im Wald.“ Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: „Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zur rechten Zeit ankomme“, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. (KHM 26)

Das Gebot der Mutter lässt eine Grenze aufscheinen, mit dem Auftauchen des Wolfes zerfällt die geordnete dörfliche Welt in zwei Räume, das Dorf und den Wald, deren Grenze der Wegsaum ist. Die feministische Interpretation belegt den Wald mit dem Attribut der Sinnlichkeit, und tatsächlich lassen sich unter diesem Begriff am besten die unterschiedlichen, teils konträr erscheinenden Adjektive fassen, die wir für den Wald gesammelt haben: lieblich, schön ebenso wie hungrig, gefährlich. Rotkäppchens Erfahrung des Waldes ist eine sinnliche, aber ebenso das gierige Schlingen des Wolfes, egal, ob man das grausige Mahl wörtlich nimmt oder im übertragenen Sinne als sexuellen Akt versteht. In Tiecks Rothkäppchen leben alle Dörfler, einschließlich des kleinen Mädchens, in einem uniformen Raum, der den Wald einschließt; der Wolf hingegen lebt in einem zweigeteilten Raum, der die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung beinhaltet. Hier animiert nicht der Wolf das Mädchen zum Verlassen des Weges, sondern es ermöglicht allein in Gegenrichtung das Mädchen dem Tier das Eindringen in den menschlichen Raum: Sie lässt das Tor der Großmutter offen stehen und gibt dem Wolf

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so die Gelegenheit, die ihm errichtete Grenze zwischen Wald und Dorf zu überschreiten. In Tiecks Drama ist die Struktur nochmals kompliziert – quer zu der Aufteilung in Dorf und Wald liegen die semantischen Räume ‚Lasterhaftigkeit‘ (mit dem Extrem ‚Atheismus‘) und ‚Gottesfürchtigkeit‘. Die Achse läuft sowohl durch den Raum Dorf – hier stehen sich die gottesfürchtige Großmutter und der lasterhafte Vater Rotkäppchens gegenüber – als auch durch den Raum Wald, wo Jäger und Wolf ein Gegensatzpaar bilden. Diese semantischen Räume sind nicht an die Topographie gebunden, denn während der Vater die Kirche besucht, bleibt die Großmutter zuhause, wenngleich der eine extreme Pol mit der Großmutter im Dorf liegt, der andere mit dem Wolf im Wald. Solche die topographische Ordnung überlagernden Räume können wir mit Karl Nikolaus Renner abstrakt semantische Räume nennen. Der Wolf überschreitet in Tiecks Drama sowohl die Grenze zwischen den semantisierten topographischen Räumen, als auch – in der Vorgeschichte – die Grenze zwischen den abstrakt semantischen Räumen: Er wandelt sich von einer gottesfürchtigen Person in einen Atheisten und damit erst zum wilden Tier. Rotkäppchen ist die Möglichkeit der Überschreitung einer topographischen Grenze nicht gegeben, für sie existiert bei Tieck keine Grenze zwischen Dorf und Wald. Aber sie kommt der Grenze zum Atheismus gefährlich nahe – die Themenwechsel im Gespräch mit der Großmutter zeigen an, dass sie bei allem kindlichen Gottvertrauen doch von den als lasterhaft angesehenen Leidenschaften (etwa der Neugier) leicht verführt wird. Die eigentliche Grenzüberschreitung findet nur metaphorisch statt: Indem der Wolf sich Rotkäppchen einverleibt, stellt Tieck die Verführung der Jugend durch die Revolution, und damit den wenn schon nicht physischen, so doch zumindest moralischen Ruin dar. Unter diesem Aspekt wirkt allerdings die Wiederherstellung der Ordnung durch den Jäger bei Tieck, anders als bei den Brüdern Grimm, trügerisch: Zwar ist die Gefahr ‚von außen‘ eliminiert, aber die Grenze des abstrakt semantischen Raumes verläuft nach wie vor mitten durch das Dorfleben – kein Revolutionär, aber ihre eigenen Leidenschaften werden die Dörfler nach wie vor verführen. 4. „Allerleirauh“: Die Thematisierung der Grenze In der Ölenberger Handschrift von 1810 notieren die Brüder Grimm nur kurz einen inhaltlichen Abriss eines „Allerlei Rauch“ betitelten Märchens (vgl. Rölleke 52); hier fehlen sämtliche Merkmale des ersten Teils des Märchens, insbesondere der Kern der Allerleirauh-Geschichten, nämlich die

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inzestuösen Begierden des Vaters – stattdessen ist es hier die böse Stiefmutter, die die Tochter ihres Mannes vertreibt. In der Erstausgabe von 1812 erscheint „Allerleirauh“ als KHM 65 und enthält schon alle Elemente der endgültigen Fassung von 1857, wenngleich die Brüder bis zur endgültigen Form noch einige, teils auch inhaltliche, Veränderungen vornahmen. Die Fassung von 1812 erscheint etwas verwirrend, als hier der Vater, der die Tochter begehrt, leicht mit dem zweiten Mann in der Geschichte, der die Heldin heiratet, verwechselt werden kann; D. L. Ashliman weist in seinem Aufsatz „Incest in Indo-European Folktales“ darauf hin, dass diese Möglichkeit der Verwechslung vielen Märchen des Typs 510 B inhärent und vielleicht sogar gewollt ist – er verweist hier auf den Elektra-Komplex. In der Ausgabe letzter Hand beginnt das Märchen von Allerleirauh, als die Mutter der Heldin stirbt; auf dem Sterbebett nimmt sie ihrem Mann, dem König, das Versprechen ab, keine neue Frau zu heiraten, die nicht so schön ist wie sie selbst. Es zeigt sich, dass nur die Tochter an die Schönheit der Mutter heranreicht; um der Hochzeit zu entkommen, stellt sie ihrem Vater scheinbar unlösbare Aufgaben: Er soll ihr drei himmlische Kleider und eines aus dem Pelz aller Tiere im Reich herstellen lassen. Als die Aufgabe erfüllt ist, flieht sie, bekleidet mit dem Pelzgewand, und nachdem sie sich das Gesicht mit Asche geschwärzt hat; die schönen Kleider nimmt sie in einer Nuss mit, dazu drei goldene Gegenstände. Auf ihrer Flucht gelangt sie in einen Wald und sucht Schutz in einem hohlen Baum: Sie ist ihrem Vater entkommen. Am nächsten Tag findet sie der König eines fremden Reiches, zu dessen Jagdgebiet der Wald gehört; als Allerleirauh findet sie Unterschlupf in seinem Palast, wo sie niedere Tätigkeiten ausübt. An dieser Stelle gleicht das Märchen „Aschenputtel“, ein Bezug, den schon die Brüder Grimm feststellen und der sich heute in der Einordnung der Märchen in Typen wiederspiegelt: „Aschenputtel“ wird als AT 510 A, „Allerleirauh“ als AT 510 B geführt. Allerleirauh erbettelt sich Zugang zu drei königlichen Bällen, wo sie in ihren schönen Kleidern tanzt und die Zuneigung des Königs erwirbt. Dreimal kocht sie ihm anschließend eine Suppe, in die sie je einen ihrer drei goldenen Gegenstände hineintut. Befragt nach der Herkunft dieser Gegenstände stellt sie sich unwissend; nach dem dritten Ball hat sie aber nicht genug Zeit, um sich gänzlich mit Asche zu schwärzen und muss ihren Pelzmantel über dem schönen Kleid anziehen – so wird sie endlich enttarnt und der König heiratet sie. Ein Märchen mit einer Allerleirauh ähnlichen Hauptfigur gibt es schon bei Straparola (PN 1, 4), allerdings fehlen hier die Motive der drei himmlischen Kleider, die Periode erniedrigender Tätigkeiten, die das Märchen in die Nähe von Aschenputtel rücken, und die anonyme Teilnahme an Fes-

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ten, auf der das Mädchen schließlich von ihrem wahren Bräutigam entdeckt wird. Auch das Ende ist eher untypisch: Bei Straparola wird der Vater des Mädchens bestraft.3 Auch in Basiles „Bärin“ (CdC 2, 6) fehlen die meisten dieser Elemente; zudem trägt die Heldin hier ein ‚Pelzkleid‘ eher im metaphorischen Sinne, denn sie erhält einen Kienspan, mit dessen Hilfe sie sich in eine Bärin verwandeln kann. In der Hochzeitsnacht, die ihr Vater von ihr verlangt, verwandelt sie sich in das wilde Tier, und jagt ihm solche Angst ein, dass sie in den Wald entkommen kann, wo sie auf den Prinzen eines anderen Königreiches trifft. Perraults „Eselshaut“ (HCTP 10) ist wohl von Basile, andererseits auch von mündlichen Überlieferungen beeinflusst; er erzählt das Märchen in einem ironischen Tonfall, der auch die Gattung des Märchens selbst nicht schont und sich mehrfach auf „Aschenputtel“ als Folie bezieht; die Erzählung endet in einer Ringprobe, in der explizit auf Aschenputtels Schuhprobe verwiesen wird. In HCTP 10 ist es kein Kleid aus allerlei Pelz, sondern eine Eselshaut, in der die Heldin sich einschließt und unerkannt entkommt; das Fell stammt vom Goldesel ihres Vaters, dessen Schlachtung sie als unmögliche Forderung verlangt. Der Primat der Handlung vor den Figuren wird in ironischer Doppelung immer wieder verhandelt; so versichert die helfende Fee der Heldin den glücklichen Ausgang ihrer ‚Geschichte‘, das Mädchen selber tröstet sich mit Aschenputtels am Ende glücklichen Schicksal. Im Russischen gibt es das Märchen von der „Schweinehaut“ (NRS 290); hier näht das Mädchen sich in eine Schweinehaut ein, um sich hässlich zu machen, damit ihr Vater sie nicht länger begehre. Wie im grimmschen „Allerleirauh“ findet sie der Prinz eines fremden Königreiches in einem Baum und nimmt das ‚Wundertier‘ mit in seinen Palast, wo sie auf drei Bällen in ihren schönen Kleidern tanzt; hier ist es eine Schuhprobe, die Schweinehaut als die schöne Tänzerin enttarnt. Terry Windlings Erzählung „Donkeyskin“ bezieht sich auf die Märchenfassung von Perrault, die im englischsprachigen Raum die bekannteste Variante des Märchens darstellt. Perraults ironischer Tonfall stellt, trotz eines einfühlsamen Mottos, eine große Distanz zum Schicksal des Mädchens her; kaum ist sie ihrem Vater entkommen, schreibt der französische Dichter ihr alle möglichen weiblichen Schliche und den eisernen Willen, den Prinzen ins Hochzeitsbett zu locken, zu. Die Stärke des Märchens, die Darstellung ihrer Entwicklung vom missbrauchten Kind hin zur erwachsenen, selbstbestimmten und beziehungsfähigen Frau als zwar schwieri3

Die Bestrafung des Vaters findet sich in einigen modernen Bearbeitungen des Stoffes, etwa in Richard Friesens Kurzgeschichte „Dancing in the Ashes“.

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gem, aber gangbaren Weg, verschwindet fast hinter dem saloppen Tonfall, mit dem Perrault erzählt – allein die ‚Aschenputtelzeit‘ des Mädchens in der Küche ihres Zukünftigen zeigt noch, dass das Mädchen nicht einfach das Bett des Vaters mit dem des ersten passenden Mannes tauscht. Einfühlsamer ist hier die Erzählung in der Ausgabe letzter Hand der Kinder- und Hausmärchen, die auch auf topologischer Ebene eine Änderung gegenüber dem früheren (und dem grimmschen Märchen zugrundeliegenden) Text von Perrault einführt: Während der Übergang zwischen dem Königreichs des Vaters und dem Königreich des Prinzen bei Perrault überhaupt nicht thematisiert wird – so dass auch hier die beiden Reiche, und damit die beiden hochherrschaftlichen Männer, fast austauschbar erscheinen – markieren die Brüder Grimm die Grenze durch einen Wald, in dem die Prinzessin eine Nacht zubringt und in dem sie am nächsten Morgen von Jägern ihres zukünftigen Gemahls gefunden wird. Die Zeit, die zwischen dem Missbrauch und der Heirat vergeht, die Verarbeitung des Geschehenen, die in der Chronologie des Märchens durch die ‚Aschenputtelzeit‘ in der Küche dargestellt wird, bekommt hier also auch noch einen topologischen Marker: Die Grenze zwischen den beiden Königreichen ist ein dichter Wald, das Überschreiten kein einfacher Schritt, sondern ein mühsamer Weg durchs Unterholz; das Mädchen ist dem Vater entflohen, aber noch längst nicht – geographisch nicht, und damit auch nicht innerlich – an dem Ort ihres zukünftigen Lebens angelangt. Genau diese Grenzsituation thematisiert Terry Windling in „Donkeyskin“. Ihre Heldin, Donna Maria Alvarez, ist vor ihrem Vater geflohen, ihm aber noch längst nicht entkommen; sobald ein Mann den Raum betritt, der ihm ähnlich sieht, bekommt sie es mit der Angst zu tun, sie ist nicht frei, sie selbst zu sein, sondern muss sich hinter der Maske eines unverbindlichen Lächelns und einer geduckten Haltung verstecken – ihrer ‚Eselshaut‘. Der Ort, an dem sie die Zeit ihrer langsamen inneren Heilung verbringt, ist eine Küche, aber nicht die Küche im Hause ihres Zukünftigen – von diesem Haus ist sie, innerlich wie auch geographisch, noch weit entfernt – sondern die Küche einer Raststätte an einem Highway. Diese Raststätte hat mehr Ähnlichkeit mit dem Grenzwald der Brüder Grimm als mit Perraults Palastküche: Sie ist ein Ort an der Peripherie der Kultur, ein Grenzort zwischen Ausgangspunkt und Ziel. Im grimmschen Märchen jagen die Untertanen des Königs im Grenzwald, aber sie leben nicht dort; er wird kulturell genutzt, ist aber weit vom Zentrum des Lebens entfernt. Das Mädchen im Tierpelz, das die Jäger dort finden, wird zunächst gar nicht als menschliches Wesen erkannt, im Zentrum des Reiches – im Palast des Prinzen – wird ihm folgerichtig ein Ort am Rande der Gesellschaft zugewiesen.

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Die Autobahnraststätte ist ein Ort des Durchgangs, eine Station auf der Reise von hier nach dort: man isst dort, erleichtert sich und fährt weiter. Die wiederkehrenden Gäste, die Windling beschreibt, stammen von der Peripherie der Gesellschaft: lateinamerikanische Gastarbeiter, vielleicht Illegale. Windlings gesamte Erzählung spielt an diesem Ort: Am Schluss wird angedeutet, dass ein glückliches Ende möglich ist, aber es wird nicht ausgeführt. Gegenstand ist die Zeit auf der Grenze, zwischen Flucht und doch noch nicht Entkommen-Sein. Dass die Möglichkeit besteht, dass Maria ihren Job als Kellnerin hinter sich lassen kann, dass sie nicht zu einem Leben an der Peripherie der Gesellschaft, ohne Schulabschluss und ohne Aussicht auf eine angemessen bezahlte Arbeit verdammt ist, zeigt Windling in den letzten drei Abschnitten ihrer Erzählung: Ein Student kommt auf der Durchreise vorbei, schafft es, Maria ein Lächeln zu entlocken und kann sich kaum von ihrer Gesellschaft losreißen. Im nächsten Abschnitt heißt es, aus der Perspektive von Maria: She pulls the donkeyskin back around her shoulders, taking comfort in the soft, familiar fur. She knows one day she will have to learn to live without it. She knows one day the prince will return, the one who can see beneath the fur. The highway will bring him back to her; next week, next month, or maybe next year. She knows he will come because he’s lost his heart; it’s there on the counter, beside the tip. (299, Kursiv im Original)

Jeder Absatz der realistischen Erzählung um das Mädchen Maria wechselt mit einem Absatz aus dem Märchen; bezeichnenderweise handelt es sich nicht um die Fassung von Perrault, sondern um eine Nacherzählung, die vor allem auf die ironische Distanz der perraultschen Erzählung verzichtet; auch hier fehlt das Ende. Es wird angedeutet, dass das Mädchen sich in die Märchenerzählung flüchtet, um ihrem inneren Schmerz zu entkommen; die Andeutung der Möglichkeit einer Heilung fällt damit zusammen, dass nicht mehr das Märchen in die Wirklichkeit der Heldin, sondern die Wirklichkeit in das Märchen eingreift. Der letzte Abschnitt der Erzählung endet, wie die Erzählung begann, mit dem Absatz des Märchens, in dem die gute Fee die Prinzessin weinend vorfindet, weil der Plan, den Vater vor unmögliche Aufgaben zu stellen, gescheitert ist. Doch die Wirklichkeit holt hier das Märchen ein: Die Prinzessin wickelt sich in ihre Eselshaut und geht los, aber sie gelangt nicht in einen Wald und nicht in die Küche des Palastes, sondern an die Grenze zu New Mexico. Letztendlich ist es Marias Leben, das in den Vordergrund gestellt wird, und der Text endet mit einer Innensicht des Mädchens: „The past stretched out behind her. The future stretched out before her. And she knew which way she had to go“ (299, Kursiv im Original). Die Märchenparodie Windlings ist also nicht nur ein Dialog mit dem zugrundeliegenden Text, sie thematisiert auch den Umgang mit ihm. Das Märchen erscheint hier ambivalent: Es kann als Krücke dienen, als Hilfe,

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das Unaussprechliche zu verbalisieren, als Fluchtmöglichkeit, als Hoffnungsspender; wirkliche Heilung aber wird nur erreicht, wenn die Wirklichkeit im Vordergrund steht. Windling nimmt ein Märchen als Vorlage, bestätigt damit dessen Bedeutung, verwendet eine moderne Fassung des Märchens als Codezitat; gleichzeitig zweifelt sie das Märchen an: Das glückliche Ende erscheint unglaubwürdig und allzu schnell. In seinem Aufsatz „Incest in Indo-European Fairytales“ schreibt D. L. Ashliman: The last sentence of the Grimm brothers’ “All-Kinds-of-Fur” tells us that this story, like most fairy tales, has a happy ending. But the assurance that “they lived happily until they died,” tacked onto a long account of abuse and suffering, is not convincing. The final sentence notwithstanding, this tale is a tragedy, a story that symbolically – but lucidly – portrays the unhappy life of a sexually abused child. (k.Pag.)

Windlings Fassung schließt sich dieser Meinung an: Das Märchen sei eine Möglichkeit, den Missbrauch zu verbalisieren, könne somit die Heilung ein stückweit begleiten, aber werde unglaubwürdig in seinem glücklichen Ende, weil der Weg der Heilung fehle. Nach Hutcheons Ausführungen in „A Theory of Parody“ ist Bricolage eine parodistische Form, ein Dialog zwischen zwei Texten, daher können wir das Märchen auf diese Vorwürfe antworten lassen – seine Funktionsweise bedingt, dass der Leidensweg Allerleirauhs nicht mit modernen, psychologischen Termini, sondern ganz bildhaft als abzuschreitender Weg dargestellt wird; die Scham als Tragen einer hässlichen Tierhaut, das Leiden als ‚Aschenputtelzeit‘, der Ort zwischen Flucht und Ankommen in Form des Grenzwaldes. 5. Zusammenfassung Der Wald im Märchen ist ein äußerst vielseitiger Topos – er kann als Teil der Alltagswelt menschlicher Kultur schon zu Beginn des Märchens Erwähnung finden, wo er die Peripherie des dörflichen Lebens bildet; zugleich kann der Wald als kulturferner Ort fungieren: Besonders im deutschen Märchen ist er ein beliebter Schauplatz für die Erprobung der Heldinnen und Helden. Darüber hinaus kann der Wald – wie ein Fluss oder Gebirge – eine Grenze markieren. Peripherie/Grenze/Ort des Anderen sind (neben einer bloß dekorativen Funktion) die wesentlichen Möglichkeiten des Waldes im Märchen, wobei die Semantik des konkret erzählten Waldes im einzelnen Märchen sich aus dem Text erschließt. Der Wald exemplifiziert, was das Märchen in den größeren Rahmen der Fantastikforschung einordnet.

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Dabei ist die Raumordnung des Märchens nicht notwendig starr; einzelne Märchen spielen gerade mit der Möglichkeit der Grenze und einer Aufhebung der kulturellen Ordnung jenseits dieser Grenze. So scheint in „Rotkäppchen“ gerade im Verbot der Mutter – in einem normativen Akt – die Möglichkeit der Überschreitung auf, ziehen die Reden des Wolfes eine Grenze durch den zuvor als einheitliche Ordnung gedachten Raum, bis der Jäger den ungeteilten Raum wiederherstellt. Cassirer führt aus, dass die Darstellung der Welt in der Kunst „keineswegs ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt [ist]; sondern sie ist ein neues ‚Verhältnis‘, in das sich der Mensch zur Welt setzt“ (497). Mit Chestertons berühmten Worten: „Fairy Tales don’t tell children that dragons exist […] but that they can be defeated.“4 Darüber hinaus kann die Kunst auch das Verhältnis, in das sie den Menschen zur Welt setzt, reflektieren: „Rotkäppchen“ handelt nicht nur vom Überschreiten einer moralischen wie geografischen Grenze, der Text reflektiert im Angebot zweier Raumordnungen auch die Möglichkeiten dieser Grenze. Wo der Wald als Ort des Anderen, als Sphäre des Wunderbaren fungiert, ist er oft der Schauplatz der Überschreitung einer Grenze im abstrakten semantisierten Raum – es ist kein Zufall, dass Zaubermärchen oft mit rites de passage in Zusammenhang gebracht werden: Transgression und Liminalität sind Kennzeichen des Märchens, wobei die Überschreitung einer sozialen, kulturellen oder symbolischen Grenze dinghaft, oft durch Überschreitung einer geografischen Grenze dargestellt wird, auf deren anderer Seite sich im Reich des Fantastischen die Bewältigung der Krise in dem den Märchen eigenen, formalisierten Motivkreisen dargestellt wird, worauf entweder die alte Ordnung wiederhergestellt wird („Rotkäppchen“ in den KHM), die Rückkehr in die alte Ordnung unter veränderten Vorzeichen erfolgt, indem die Relationen zu den altbekannten Menschen sich ändern und somit der soziale Raum eine Änderung erfährt („Hänsel und Gretel“, 4

Tatsächlich wird Chesterton hier falsch zitiert, aber das Zitat in dieser Form hat anscheinend sowohl unter Autoren fantastischer Literatur als auch unter den Wissenschaftlern, die darüber schreiben, die Qualität eines geflügelten Wortes erhalten, der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der es wiedergegeben wird (eine Google-Suche nach dem Zitat in dieser Form ergibt ca. 330.000 Ergebnisse). Chesterton hat in seiner Aufsatzsammlung Tremendous Trifles über Kinder und Märchen geschrieben, die originale Textstelle lautet so: „Fairy tales, then, are not responsible for producing in children fear, or any of the shapes of fear; fairy tales do not give the child the idea of the evil or the ugly; that is in the child already, because it is in the world already. Fairy tales do not give the child his first idea of bogey. What fairy tales give the child is his first clear idea of the possible defeat of bogey. The baby has known the dragon intimately ever since he had an imagination. What the fairy tale provides for him is a St. George to kill the dragon.“ (49f.) Wer das Zitat in seiner bekannten Form geprägt hat, bleibt unklar, aber da es sich um eine eingängige Formel handelt, sei es hier (mit einer Verneigung Richtung Jorge Luis Borges) in seiner populären Form wiedergegeben.

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KHM 15) oder der Protagonist in die Ordnung eines anderen Alltagsraumes eintritt („Allerleirauh“). Oft befindet der Held selbst sich in einer Grenzsituation, etwa an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenendasein oder vor dem Übertritt in den Stand der Ehe. Die Prüfungen, die im fantastischen Raum des Märchens stattfinden, die Schwierigkeiten, die der Held dort überwinden muss, dienen dazu, einen inneren Reifungsprozess anzustoßen. Es ist nicht weiter schwierig, hier Turners Modell des sozialen Dramas wiederzuerkennen, das Clemens Ruthner in seinem Aufsatz „Zur Theorie der Liminalität oder die Grenzwertigkeit der Fantastik“ folgendermaßen zusammenfasst: • • • •

Bruch mit der sozialen Norm Krise/Konflikt Versuch der Konfliktlösung (Ritual) Wiedereingliederung oder Abspaltung (82)

Im Märchen wird das Schema dadurch kompliziert, dass die inneren Vorgänge des Helden auf der Diegese ausgebreitet werden, also sich innere Konflikte auch in Figurenkonstellationen widerspiegeln können und so einzelne Funktionen des Turnerschen Schemas sich auf verschiedene Figuren verteilen können – etwa, wenn (ein im russischen Zaubermärchen beliebtes Motiv) der Bruch mit der sozialen Norm durch die Entführung eines Verwandten der Heldin durch einen Gegenspieler wie die Baba Yaga markiert wird. Dass der Ausbruch aus der ursprünglichen Ordnung nicht unbedingt vom Helden selbst initiiert werden muss, sondern aufgrund äußerer Zwänge erfolgen kann, und dass das Märchen in der Lage ist, unterschiedlichste Grenzüberschreitungen in einer plastischen Erzählung zu thematisieren, zeigt „Allerleirauh“: Der Vater überschreitet eine Grenze kultureller Norm; die ihm auferlegten Proben (Anfertigung der Kleider) überschreiten die Grenze des Machbaren (wobei hier gezeigt wird, dass für den Vater, nachdem er einmal eine als ‚heilig‘ konnotierte Grenze überschritten hat, nichts mehr unmöglich ist), Allerleirauh wird dadurch gezwungen, eine geografische Grenze (Wald) und soziale Grenzen (Schloss des Vaters → Existenz als Waldtier/in der Küche des Schlosses des Zukünftigen → rechtmäßiger Platz an der Seite des königlichen Gemahls) zu überschreiten. Am Wald lässt sich, abschließend, auch das schwierige Verhältnis spekulativer Fiktion zum Imaginären einerseits und zur Realität der Leser andererseits aufzeigen. So ist der Wald – im Gegensatz zum Glasberg, zum Zauberreich und ähnlichen Märchenkonventionen – ein Raum, der der realen Lebensumwelt des Lesers entnommen ist. Die Vorstellungen, die in die Gestaltung des Märchenwaldes eingehen, stammen aus der Weltkonstruktion der Kultur, der das Märchen entnom-

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men ist – hier handelt es sich aber nicht um empirische Fakten, sondern um Zuschreibungen, die mit dem ‚Faktum‘ Wald in seiner historischen Entwicklung und seinem gegenwärtigen Zustand sogar teilweise in Widerspruch stehen – dennoch handelt es sich natürlich um Konstruktionen, die der Lebenswirklichkeit einer Kultur entnommen sind. Tatsächlich kann das fiktionale Konstrukt Märchenwald – ebenso wie spezifisch romantische Waldvorstellungen, die in ihm zum Ausdruck kommen – wieder auf die Realitätskonstruktion einer Kultur zurückwirken und etwa esoterische oder romantisch-verklärte Zuschreibungen in den Waldbegriff einer Kultur einschreiben. Der Märchenwald ist also kein imaginäres Konstrukt im Gegensatz zu einem ‚realistischen‘ Waldbegriff in der Alltagswelt der Leser. Dennoch hat der Wald im Märchen immer eine spezifisch literarische Funktion, die ihn als Teil einer Fiktion ausweist, innerhalb derer er Raum für die spekulative Entfaltung und Auflösung wiederum sehr realistischer – hier sei noch einmal an das geflügelte Wort von Chesterton erinnert – Konflikte und Krisen dienen kann. Dabei wäre es verkürzt, das Märchen als Erzählung fantastischer Begebenheiten mit weitgehend realistischen Mitteln und mit Bezug auf ‚innere Realitäten‘ zu betrachten, da Märchenhandlung und Märchenwelt, genauso wie die dargestellten Konflikte, in starkem Maße von den literarischen Konventionen der Gattung bestimmt sind – eine Beobachtung, die zumindest teilweise auch auf die sogenannte ‚realistische‘ Literatur zutrifft. Das Märchen verhandelt kulturelle Konventionen und ihre Transgression in einem stark formalisierten Rahmen – was allerdings, wie am Beispiel „Rotkäppchen“ gezeigt, die Möglichkeit bietet, eine Metaebene einzuziehen, in dem die Konstruktion dieser Welt selbst verhandelt wird. Gerade moderne Bearbeitungen von Märchenstoffen wie fractured fairy tales machen sich diese Möglichkeit des Märchens zunutze, indem sie anhand des Spiels mit der Konvention des Märchens die Konventionen der Alltagswirklichkeit aufzeigen – sowohl im Medium fantastischer Erzählungen als auch in realistischen Neu-Erzählungen. Literaturverzeichnis Ashliman, D. L. „Incest in Indo-European Fairy Tales“. University of Pittsburgh. 30.04.2008. Web. 13.12.2010. . Bachtin, Michail M. Chronotopos. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Cassirer, Ernst. „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“. Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. 485-500.

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Innenblicke Phantasmagorien in Yôko Tawadas Das nackte Auge JULIA BOOG Internal Viewpoints. Phantasmagoria in Yôko Tawada’s Das nackte Auge Current German literary criticism has recognized a specialized section of literature in German that can be understood as ‘intercultural literature’, written by authors that are situated within two (sometimes more) cultural backgrounds and that write from the margins of those cultures, often discussing questions of identity. The following article tries to identify the motifs and modifications of the fantastic element in ‘intercultural literature’ by employing contemporary theories of the “Neo-Phantastik” as it has surfaced in recent years in German studies. In order to provide a recent example and to analyze these motifs and modifications, the article examines the narrative levels of JapaneseGerman author Yôko Tawada’s work Das nackte Auge and her exploration of intermediality and the relation between reality concepts of the modern world and the use of the fantastic in literature.

Ein einzelnes Auge blickt uns vom Buchumschlag aus an. Es ist das Auge einer Frau, das dem Betrachter direkt entgegen sieht, und so schon im Paratext von Yôko Tawadas Erzählung Das nackte Auge einen Bezug zu einer Filmsequenz herstellt: Salvadore Dalí und Luis Buñuel zoomten 1929 in ihrem surrealistischen Skandalfilm Un Chien Andalou1 ganz nah an das Sehorgan einer Frau heran, um an ihm, in Referenz auf den ‚ImageSchock‘ filmisch-phantastischer Einbrüche, einen tatsächlichen ‚Schnitt durch das Auge‘ (vgl. Brandt 61) zu vollziehen: In der häufig zitierten Eröffnungsszene wird gezeigt, wie ein Mann sein Messer wetzt, um danach mit ruhiger Hand das weit geöffnete Auge einer jungen Frau zu zerschneiden.2 Doch es ist kein Blut, das aus diesem fließt, sondern eine Wolke, die 1

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Der deutsche Titel lautet: Ein andalusischer Hund. Buñuel wurde aufgrund seiner ‚obszönen und grausamen‘ Machart ganze 50 Mal angezeigt; es kursierte sogar das Gerücht, dass es während des Filmes zu zwei Fehlgeburten kam (vgl. Buñuel 98), was die Unheimlichkeit dieser Szenerie um ein Weiteres verstärkte. Maria Cecilia Barbetta führt über diesen Film in die Charakteristika einer von ihr als Neophantastik bezeichneten modernen Version des phantastischen Elements ein: Der Plot des Films geht aus zwei Träumen hervor, – der Augenszene und der durchlöcherten Hand, aus

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sich langsam vor den vollen Mond schiebt, und den Schnitt im Ungewissen lässt. Laut Luis Buñuel wurde dieser vieldeutige Symbolakt zu einer Handlung der absoluten Befreiung von jeglicher Sehgewohnheit. Er habe „keine Idee, kein Bild zu[gelassen], zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe[, um] die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zu[ge]lassen, die sich aufdrängten [...]“ (94f.). Nehmen wir dieses surrealistisch-filmische Motiv also in die Diskussion um die Phantastik auf und fragen nach der Funktion des phantastischen Elementes, so finden wir mit Buñuel die Antwort in seinem subversiven, gegen die Norm operierenden Gehalt. Doch wohin gelangt man, wenn man einen solch phantastischen ‚Schnitt durchs Auge‘ in der Gegenwartsliteratur nachvollzieht? Mit der japanisch-deutschen Schriftstellerin Yôko Tawada gesprochen, stoßen wir hier auf ‚das nackte Auge‘, das, wie ihre gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 2004 deutlich macht, die Welt auf eine ganz neue Art und Weise wahrzunehmen vermag. Wie Kristina Festring betont, deutet schon der Titel über das mit dem Auge im deutschen Sprachgebrauch in ungewohntem Zusammenhang stehende Adjektiv ‚nackt‘ dabei nicht nur auf eine außergewöhnlich bedrohlich wirkende Schutzlosigkeit des offen liegenden Organs hin, sondern hält auch Assoziationen mit der ‚nackten Wahrheit‘ und damit der Unmittelbarkeit von Erfahrung bereit (Vgl. Festring) – eine Assoziation, die gerade innerhalb der Phantastikforschung immer wieder als eine Kernproblematik des Phantastischen rezipiert wurde und dadurch nicht nur als eine Herausforderung an die Möglichkeiten der Literatur und den in ihr agierenden Protagonisten gilt, sondern auch als eine Aufforderung an die Literaturwissenschaft, die sich innerhalb dieses Mediums mit grundlegend veränderten Vermittlungs- wie Rezeptionsformen auseinandersetzen muss (Ivanovic 7). Das ‚nackte Auge‘ ist dabei nicht nur eine Metapher für die auf der Erzählebene stattfindenden Einschnitte in den Fokus der Geschichte, sondern auch für die gespenstische Wandlung der Erzählerin selbst, die nicht nur immer schutzloser, sondern auch immer mehr nur ‚Auge‘ zu sein scheint. Im Folgenden möchte ich anhand Yôko Tawadas Das nackte Auge diesen veränderten Modi nachgehen und fragen, inwiefern die Titelmetaphorik in der Erzählung zu einem Spiel mit authentischer Wahrnehmung und gleichzeitig der Gefahr illusionärer Verstrickung transponiert wird und sich dadurch ein phantastischer Modus entwickelt, der den Leser in einem unlösbaren Rätsel belässt. Es gilt dabei die Figur und das Motiv des Geder Ameisen kriechen – (vgl. 209) beide versinnbildlichen den Kontrollverlust des Subjekts in der Moderne.

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spenstischen in Tawadas Erzählhaltung zu befragen und damit nicht nur eine Antwort auf ihren Text zu finden, sondern die Aufmerksamkeit auch auf „die Spuren [der] eigenen (szientifischen) Heimsuchungen“ (Fuest 13) zu lenken. Wie schon durch den Buchumschlag deutlich wird, finden wir bei Tawada eine besonders starke Berücksichtigung der medialen Komponente, die innerhalb der Diskussion um eine als Neophantastik bezeichnete, moderne Form der phantastischen Literatur als konstitutives Merkmal3 gilt. So ist die Erzählung nicht nur gekennzeichnet durch stete Reminiszenzen und gar detaillierte Bildwiedergaben von Filmen, sondern auch die einzelnen Buchkapitel sind nach populären Filmtiteln benannt. Wie Dünne konstatiert, führt auch bei Tawada damit die in der Gegenwart vorherrschende „mediale Konkurrenz“ zu einer verstärkten „metaphorischen Übertragung und damit unheimlichen Fremdheit der Bilder auf die Semantik phantastischer Räume [sowie] zu einer Verschärfung textimmanenter Verfahren“ (207f.). Er überträgt dies auf einen allgemeinen Modus der neuen phantastischen Literatur und betont, dass man die These wagen könne, „dass in der literarischen Neophantastik der Medialität eine umso zentralere Rolle zukommt“ (208) – ein Wagnis, das auch ich hier eingehen möchte, scheint mir doch gerade Tawadas phantastische Erzählweise ein fruchtbarer Boden für eine solche Überlegung zu sein. Wird in der traditionellen Analyse zumeist nach einem Konflikt zwischen Möglichem und Unmöglichem auf der Inhaltsebene gefragt, der zumindest einem Helden der Erzählung inhärent sein muss, scheint dagegen die neue Art der phantastischen Literatur mittels ihrer subtilen Erzählstrategie die Suche nach einer authentischen Wirklichkeit von vornherein auszuschließen: Das phantastische Moment wird hier nicht über den Einbruch des Irrealen in das reale Geschehen der Erzählhandlung geschaffen, wie, ausgehend von Todorovs grundlegender Zwei-Welten-Diktion,4 von der einschlägigen Phantastikforschung gefordert, sondern vielmehr als ein „ästhetisches Konstrukt“ (Barbetta 221) in Anspruch genommen. Das Phantastische ergibt sich daher zwangsweise auch bei Tawada nicht über die altbewährten übernatürlichen Motivgestalten wie Vampire, Werwölfe oder Drachen, die dem Helden unheimlich werden, sondern über die Schnittstelle von Film und Literatur, die vor allem dem Leser das Werk unheimlich macht. Die intermedialen Bezüge erzeugen bei der Autorin demgemäß jenen „Bewegungsraum“ (Berg 34), der das 3

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Besonders Barbetta betont, dass es nicht nur auf der Inhaltsebene um ein neues ironischspielerisches Umgehen mit phantastischen Existenzen geht, sondern Einbrüche auch auf der strukturellen Ebene über das Einmontieren von Referenzen auf Film, TV-Serien, Comics und Science Fiction hergestellt werden (vgl. 225). Vgl. hierzu vor allem den umfänglichen Abriss über die Phantastikforschung von Uwe Durst: 1-150.

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Phantastische in die Erzählung einbringt und einen neuen Umgang mit den Schreckens- und Horrorbildern dieser phantastischen Sequenzen möglich macht. Dabei bleibt aber festzustellen, dass sich die Schockbilder gerade da herausbilden, wo der Schrecken auf der Handlungsebene nur allzu real ist, wie sich in der Geschichte der namenlosen Ich-Erzählerin im Folgenden zeigen wird. Natürlich steht auch hier am Anfang der Erzählung das Auge. Allerdings nicht allein das menschliche, sondern auch das Kameraauge, das im Sinne eines filmischen Tableaus den ersten Blick auf den Inhalt des Werkes gewährt: Ein gefilmtes Auge, angeheftet an einem bewusstlosen Körper. Es sieht nichts, denn die Kamera hat ihm schon die Sehkraft geraubt. Der Blick der namenlosen Linse leckt den Fußboden wie ein Detektiv ohne Grammatik ab. Eine Puppe, eine weitere Puppe, ein Stofftier, eine Vase, Kakteen, ein Fernseher, Kabel, ein Korb, die Ecke eines Sofas, ein Stück Teppich, Krümel von Keksen, Würfelzucker, ein altes Familienfoto. Darauf steht ein Mädchen, das schräg nach oben starrt, wo es nichts gibt. Das eine Auge des Mädchens wird immer größer, als es fokussiert wird, immer verschwommener, es ähnelt jetzt einem Fleck auf einem Blatt Papier. Wer kann später wissen, dass es einmal ein Auge war? Die Kamera tritt langsam zurück. Neben einem umgekippten Sofa steht ein Schrank auf dem Kopf, man kann keine Geschichte aus dieser Ruinenlandschaft rekonstruieren.5 (Tawada 7)

Die zitierte Anfangsszene des mit „Repulsion“ betitelten Eingangskapitels erzählt die Schlussszene von Roman Polanskis Film Ekel (1965) nach, der die Geschichte auch im weiteren Verlauf leitmotivisch durchziehen wird. Der Film bildete 1968 den Auftakt der Mieter-Trilogie, die später mit Rosemary’s Baby (1968), einem Klassiker des phantastischen Films, und Der Mieter (1976) fortgesetzt wurde. In allen drei Filmen wird eine Wohnung zum Schauplatz der Horrorgeschichte; so auch in Tawadas Bericht, in dem die Ich-Erzählerin eine zur Filmfigur Carole analoge Ekelerfahrung macht. Während Polanskis Protagonistin Carole Ledoux, gespielt von Catherine Deneuve, wahrscheinlich aufgrund eines Missbrauchs in der Kindheit vor den Männern ihrer Umgebung immer mehr Abscheu zu empfinden beginnt, gerät Tawadas Ich-Erzählerin aufgrund einer Zwangsmigration und anschließenden Vergewaltigung (vgl. Festring) ebenso in den Taumel gespenstischer Schauererfahrungen. 5

Schon an dieser Stelle scheint ein Bezug zu Simmels Ruinentheorie als Zeichen des Gedächtnisses möglich; denn gerade die Ruine steht für ein aktives Gedächtnis, indem sie „die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens“ (128) schafft: Tawada scheint mit diesem Bild also auch auf die nachträgliche Produziertheit der Vergangenheit ihrer Protagonistin zu verweisen, die in einer Art „Nostalgia“ ihre Geschichte wiedergibt und damit eine imaginäre Flucht aus den Zwängen der aktuellen Existenz vollzieht (vgl. Turner 204f.) – hier sogar aus den Grenzen der realen Welt in eine filmische.

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Yôko Tawada nutzt also neben dem Einfügen filmischer Sequenzen ebenso wie ihr Vorbild Polanski die Evokation eines Ekelgefühls, um eine unheimliche Atmosphäre zu schaffen – wobei der Ekel neben der Angst als eine elementare Sinnesempfindung des Phantastischen gilt.6 Wie Menninghaus betont, stellt der Ekel einen „unassimilierbaren Grenzwert“ (33) dar, der ihn, anders als das Schreckliche oder das Hässliche, nicht in eine analoge ästhetische Kategorie übersetzbar sein lässt. Dies scheint das Ekelgefühl gerade für die phantastischen ‚Anderswelten‘ paradigmatisch zu machen, in denen, wie eingangs erwähnt, besonders die Übersetzbarkeit, die Grenze des Wahrnehmbaren problematisiert wird – ein Gestus, den auch Tawadas Erzählung stets bereit hält. Denn bei dem Versuch, die Erfahrungen der Erzählerin nachzuzeichnen, ergibt sich schnell die Schwierigkeit, aus der bereits zitierten „Ruinenlandschaft“ eine stringente Handlung zu erschließen (vgl. Festring). Der Leser wird gleich im Anschluss an das Filmtableau mit IHR – in Majuskeln geschrieben –, und damit einem doppelten Ich der Erzählung, konfrontiert: ihr, der Ich-Erzählerin, und IHR, Catherine Deneuve, die wie eine rätselhafte Doppelgängerfigur das Leben der Protagonistin von nun an begleiten wird. Dabei führt schon die Hervorhebung in Großbuchstaben zu einer (grammatikalischen) Verwirrung des Lesers; das „SIE“ kann sowohl als 3. Pers. Sg. als auch als Anrede in der dritten Pers. Pl. verstanden werden. Ganz im Sinne eines unzuverlässigen Erzählers also wird das sprechende Ich zu einem „Dividuum“ (Schmitz-Emans, „Gespenstische Rede“ 236), das, wie sich zeigen wird, nicht nur sprachlich immer mehr von sich selbst abgleitet, sondern auch durch die stete Präsenz einer filmischen Doppelgängerin geteilt zu sein scheint. Der Rezipient wird nach diesem ‚Opening‘ jedoch mit dieser Information und einer ersten Begegnung mit IHR im Kinosaal wieder alleine gelassen und erfährt, gleich einem filmischen Sequenzwechsel, in einer Analepse die Vorgeschichte dieses Zusammentreffens: Die Erzählerin stellt sich selbst als Mädchen aus Ho Chi Minh City vor, die bei den Erwachsenen wohl „den Eindruck [machte], nicht leicht verführbar zu sein“ (Tawada 8). Dies lässt sie im Sinne Todorovs nicht nur als Garantin einer realistischen Perspektive erscheinen, sondern führt inhaltlich auch dazu, dass sie nach Deutschland geschickt wird, um in der DDR zum internationalen Jugendtreffen eine Rede zum Thema „Vietnam 6

Anette Simonis benennt diese Gefühle vor allem auch als Wahrnehmungsmodi gegenüber einem in der phantastischen Literatur verhandelten sexuellen Tabubruch (vgl. 163ff.). Im Rahmen meiner Arbeit ist allerdings besonders der Ansatz Stephan Bergs, der die Ekelerfahrung ganz explizit in Verbindung mit einem Subjekt setzt, das sich „nicht mehr als Gegenüber des bedrohlich gewordenen Raumes [erfährt], sondern […] von ihm geschluckt [wird]“, interessant; denn der Gräuel sowohl Polanskis als auch Tawadas Heldin speist sich aus einem derlei „bedrohlich anthropomorphisierte[n] Raum“ (Berg 254).

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als Opfer des amerikanischen Imperialismus“ (7) zu halten. Diese Vorgeschichte bereitet einen Modus der Erzählung vor, der sich mit Simonis als Parallellauf des „Einbruchs in die Fremde und dem Einbruch des Fremden“ (vgl. Simonis 88) kennzeichnen lässt. In Berlin angekommen, erscheint der Erzählerin die Stadt, den aufmerksamen Leser dabei an das Anfangstableau der Erzählung erinnernd, wie eine „Inflation der Ruine“, eine „Messeaustellung alter Paläste“ (Tawada 9), in deren abgründigem Ambiente die Protagonistin nun eine unheimliche Erfahrung machen soll. Der deutsche Student Jörg macht sie in einem Berliner Restaurant betrunken und entführt sie nach Bochum, um sie dort in seiner Wohnung über einen langen Zeitraum festzuhalten. Im Sinne Simmels verweist damit auch bei Tawada die Ruine auf die „Unausgeglichenheit, das ewige Werden der gegen sich selbst ringenden Seele“ (Simmel 127) und scheint damit allegorisch für ein nun kommendes Verlustgefühl zu stehen, mit dem die Erzählerin durch den an ihr vollzogenen Tabubruch konfrontiert wird.7 Das Schlüsselereignis der Begegnung mit ihrem Peiniger wird dabei wieder wie durch ein Kameraauge eingeleitet. Die Erzählerin sieht plötzlich „ein Rentier vor [ihren] Augen [erscheinen]“, aus dem sozusagen das eigentliche Biest entwächst, denn „[d]as Tier war eingeflochten in den Pullover eines jungen Mannes, dessen Haare bis zu den Schultern wuchsen“ (Tawada 12f.). Der Mann ist eben jener Student, der sie ironischer Weise mit den Worten „Möchtest du keine Freiheit?“ (13) gegen ihren Willen in seine Wohnung verschleppt. Schon diese fragmentierte Art der Inszenierung zielt dabei auf die destruktive Kraft und Bedrohlichkeit, die von Jörg ausgeht, und trägt Polanskis filmästhetischem Mittel der „subtilen Vorausdeutung“ Rechnung (Fischer 156). Denn augenscheinlich wird über Slow Motion und unmotivierte Großaufnahmen auf struktureller Ebene das Vordringen des Schreckens in den Alltag der Erzählerin evoziert. Dann, in Jörgs Zimmer, nach „Tagen, Wochen oder war es sogar länger her?“ (16) erwachend, tut sich für Tawadas Ich-Erzählerin an Stelle eines erinnerten Zusammenhangs nur eine Leerstelle auf: „Die verlorenen Zeiten waren mir nur als Erschöpfung im Körper spürbar“ (16). Die sich hier 7

Auch Anette Simonis betont, dass die Ruine als elementares Motiv in der traditionellen phantastischen Literatur ein Indiz für einen innerhalb dieses ‚Genres‘ verstärkt abgearbeiteten psychischen Konflikt steht. Sie sieht aber gerade über diese „Zeichen des Verfalls“ eine Kraft entwickelt, die den Ausdruck eines neuen Stilideals verkörpert: Die Ruine ist mit ihren Brüchen und Gebrochenem ein Ort der „Leerstelle“, der schon Borges ein „Minimum an sichtbarer Welt“ garantierte, an dem er sich bedingungslos kreativ entfalten kann (89f.). Die Ruine löse das Gleichgewicht zwischen Entwurf und Wirklichkeit auf und erweise sich damit als „lebendiges Gedächtnis“ (Turner 206), da hier die historische Zeit sich in der Gegenwart materialisiert (vgl. Simmel 127f.). Auch bei Tawada scheint dieser Standort den Eingang in einen künstlerischen Prozess zu markieren, nimmt doch eigentlich erst in Berlin die erzählte Handlung ihren Anfang, während der Leser davor nur über Rückblenden eingewiesen wurde.

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anbahnende Unklarheit des Geschehens, die im Verlauf der Erzählung immer mehr ins Phantastische abgleitet, erweist sich als ein deutliches Moment einer Identitätskrise, die an einen sexuellen Tabubruch gekoppelt ist. Schnell wird klar, dass Jörg die Heldin nicht nur entführt, sondern auch vergewaltigt hat; er offenbart ihr sogar, dass sich in ihrem Bauch ein Baby befinden würde und sie nun eine glückliche Familie gründen müssten. Über die Unheimlichkeit dieses Geschehens verwandeln sich im Folgenden, wie schon in Polanskis Mieter-Trilogie, die Gegenstände in Jörgs Wohnung in geheimnisvolle Indizien eines gewaltsamen Verbrechens, die beim Leser ein ungewisses Gefühl des Grauens hervorrufen. Die Erzählerin sieht „auf dem Schreibtisch […] eine spitze Schere“ und fragt sich: „Was schnitt Jörg mit so einer großen Schere?“ (17) – Assoziationen des Durchschneidens von Grenzen, des blutigen Aufbrechens eines geschützten Bereiches werden dem Leser nicht erspart. Die fortschreitende Verunsicherung der Protagonistin verlegt sich, wie in Polanskis Filmwerk, immer mehr in den äußeren Lebensraum der Heldin. Doch während die Filmhauptfigur Carole in ihrer Wohnung plötzlich auftretende Risse und aus den Wänden kommende Hände sieht8, werden der hinter einer schweren Metalltür eingesperrten Erzählerin von Tawadas Roman die Unebenheiten der Wand zu „unzähligen, winzigen Bläschen, [die] sich lauwarm anfühlen wie eine menschliche Haut“ (Tawada 19). Wie Stephan Berg betont, tritt hier an die Stelle eines Raumes, „der den Menschen in seine Ordnung einbegreift“, ein der Phantastik inhärentes Phänomen „der Verwischung von Innen und Außen“, die eine „Unbewohnbarkeit der Lebenswelt“ (Berg 258) der Heldin deutlich macht. Dem Medium des Films angenähert, erscheint auch in Tawadas Werk der Raum als durch die Handlung definiert, der über verschiedene Teilansichten narrativ in Szene gesetzt wird (vgl. Hickethier 81f.). Die Umgebung wird der Erzählerin und damit auch dem Leser unheimlich, da sie sich nur noch als Addition verschiedener Einstellungen ergibt und nicht mehr als ein unbrüchiges Ganzes. So wird, wie im Film, die Figur über den Raum gedeutet und die Dingwelt zu einem Mithandelnden, der sich der Kontrolle des Subjektes entzieht: „Die Geschichte, die dem Subjekt bedrohlich geworden ist, inkarniert sich im Raum, der ‚infiziert‘ von der bösen Vergangenheit“ (Berg 258) ein kohärentes Raum-Zeit-Gefüge auflöst. Irreales und Reales verschwimmen sogar so weit, dass die Erzählerin sich von seltsamen Körpertransformationen bedroht sieht: „Aus meinem Unterleib wuchsen drei Beine. Zwei von ihnen kannte ich schon, das dritte 8

Wie bereits anfangs erwähnt, beschreibt die „abgetrennte Hand“ neben dem Augenmotiv ein weiteres Filmelement des Un Chien Andalou – hier allerdings noch mit aus ihr kräuchenden Ameisen verfeinert –, das Barbetta in ihrem Beitrag gar als Wendemotiv zur Neophantastik aufgreift.

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war muskulös und behaart“ (Tawada 20) – wobei abermals diese Form des body horrors über das In-Eins-Gehen von Film und Buch evoziert wird. Die Ich-Erzählerin beschreibt, wie Jörg ihr verschiedene Dinge in die Vagina steckt, die wiederum Requisiten aus Ekel sind und dort schon der Filmheldin Carole zu unheimlichen Signifikanten männlicher Präsenz wurden (vgl. Festring): Jörg griff nach meinem Fußgelenk, hob es einfach hoch und hielt mich kopfüber. Dann öffnete er mit den Fingern meine Schamlippen und steckte alles hinein, was er gerade fand: die Zahnbürste, den Rasierapparat, das Fläschchen mit den Augentropfen und den Kamm. (Tawada 25)

Gleich ihrem Alter Ego Carole Ledoux, die im Film ihren Verehrer Colin mittels eines Kerzenständers umbringt, berichtet Tawadas Ich-Erzählerin weiter, wie sie Jörg mit der schon erwähnten langen Schere (auch hier also wieder Polanski’sche ‚subtile Vorausdeutung‘) „sein Fleisch durchstach“ und ihn mit einem eisernen Kerzenständer auf den Kopf schlägt – doch im Gegensatz zu Colin ist Jörg keinesfalls tot, sondern lebt den comichaft verzerrten, zum Alltag gewordenen sexuellen Missbrauch weiterhin mit der Ich-Erzählerin aus: „Zuerst gab es kalte Lippen, dann brennende Zunge. Meine Brüste wurden zu Brotteig, der geknetet werden sollte, und dann überkam mich eine bestimmte Empfindung, als wollte ich sofort Wasser lassen. Zwischendurch wendete er meinen Körper einmal um wie beim Fischbraten.“ (32) Der Austritt aus diesem Trauma erfolgt schließlich über den ‚realen‘ Einbruch der filmischen Wirklichkeit in die Welt der Erzählerin und damit einmal mehr durch den Einbruch des Phantastischen: Denn es ist, wenn auch nicht namentlich benannt, so doch offensichtlich die Schauspielerin Catherine Deneuve, die der Ich-Erzählerin die Flucht ermöglicht. Bei einem ihrer erlaubten Streifzüge durch die Stadt erscheint der Erzählerin wie aus dem Nichts eine Frau, „deren Körper [sich immer wieder] Sekunden lang in farbige Mikrokörner auf[löst]“ (36). Gleich einer Phantomgestalt also, einem Gespenst, erscheint die Schauspielerin in einem „langen Mantel, der wie Kiemen eines tropischen Fisches aussah. Mit einer außerirdischen Dekoration auf dem Kopf“ und weist die Erzählerin zu einem Schienenweg, der „seit langer Zeit nur noch Rost und Unkraut, aber keine Räder mehr [kannte]“ (ebd.). Die Erscheinung Deneuves legt sich sodann auf diese „verrosteten Schienen“, um den aus dem Nichts auftauchenden Zug „mit einem ohrenzerreißenden Wiehern“ (ebd.) zu bremsen. Das Motiv des Gespenstes der Deneuve erweist sich hierbei in seiner Funktion als Störelement – als „Bruch mit der vorangegangenen Geschichte“ (vgl. Görling 189) – und gibt der Erzählerin so einerseits die Möglichkeit ihre Laufbahn in eine andere Richtung zu lenken, andererseits vermag es aber auch für das an ihr verübte Unaussprechbare eine Chiffre

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zu sein. Denn das Gespenst Deneuve ist sowohl Ausdruck des Ekel erregenden Tabubruchs als auch eines Sich-selbst-entfremdet-worden-seins, und „die Wirbelsäule der Frau“ wirkt auf die Ich-Erzählerin „wie eine gerade Linie der Gerechtigkeit, die von keinem herkömmlichen Gesetz abhängig war“ (Tawada 36). Das Geistermotiv scheint hier auf den von Schmitz-Emans herausgestellten Zusammenhang des Gespensterdiskurses mit einem sich selbst gespenstisch gewordenen Ich zu verweisen, der „im Sinne des Doppelgängers auf die Vielschichtigkeit des Subjektes und Vieldimensionalität der Welt“ („Gespenstische Rede“ 230) hindeutet. Das Gespenst erscheint darüber hinaus als ein Zeichen dafür, „daß die Gegenwart nicht mit sich identisch ist“ (Fuest 2); denn die Ich-Erzählerin erlebt durch die Vergewaltigung und das Eingesperrtsein nicht nur einen Bruch mit ihrer Vergangenheit, sondern auch mit ihrer Zukunft – ihr Weg wird von diesem Moment an ungewiss, verzerrt, in Medienrelationen gesprochen ‚unscharf‘. Somit ist das Gespenst, so Fuest, auch hier Metapher einer nicht abgeschlossenen, wohl gar immer „unabschließbaren Trauerarbeit“ (3) gegenüber dem Selbst als „displaced person“ (6) und damit Symbol eines „gestörten, traumatisierten […] Gedächtnisses“ (16). Ferner scheint der gespenstische Einbruch dem immanenten „PhantomCharakter filmischer Gestalten“ (Schmitz-Emans, „Entgrenzungsphantasien“ 187) geschuldet zu sein, der über die Figur Deneuves und ihre permanente ‚abwesende Anwesenheit‘ verhandelt wird. Die Präsenz gefilmter Menschen ist, wie Schmitz-Emans herausstellt, immer schon eine „illusionäre“ und die „Grenze von Realem und Halluzinatorischem“ (ebd.) beim Filmerleben verschwommen – Tawadas Einfügen eines Gespenstermotives vernetzt sich damit eng mit der Rezeptionsgeschichte des Mediums Film und seiner Leinwandgestalten. Die Erzählerin kommt nach dieser geisterhaften Erscheinung in Paris an, das ebenso wie Berlin wieder als ein düsterer, unheimlicher Ort dargestellt wird. Hier heißt es: „Die Straßen glänzten durch die Nässe schwarz“ und die Erzählerin fragt sich, ob sie „irgendwann einfach von der Nacht verschluckt [würde]“ (Tawada 42). Die für das Phantastische kennzeichnenden Metaphern des Abgründigen und des ‚Verirrens‘ werden gerade in ihrem Parisaufenthalt evident (vgl. Simonis 16f.). Die europäische Metropole erscheint als eine „bis ins Unheimliche gesteigerte Heterotopie“ (ebd.), in der die Erzählerin neben den grotesken Gestalten einer Hure und einer gekauften Braut auch immer wieder auf Catherine Deneuve und deren ‚Film-Ichs‘ trifft. In Paris nämlich vollzieht sich erstmals der reale Eintritt in die Kinowelt und bringt, ganz im Sinne der Foucaultschen Raumtheorie, „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind“ (Foucault 14). Gerade in Bezug auf das Kino betont Foucault, dass dies ein Ort sei, „an dessen Ende man auf eine

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zweidimensionale Leinwand einen dreidimensionalen Raum projiziert“ (ebd.) und somit gängige Raum-Zeit-Wahrnehmungen auflöst. In der Erzählung schlägt sich dies strukturell nicht nur durch die ‚wirklichen‘ Kinoszenen, sondern auch durch die Erzählerhaltung nieder: Die ‚Wirklichkeit‘ bzw. das, was wir als Leser dafür halten müssen, mutet immer mehr wie durch ein Kameraauge aufgenommen an. Die Eröffnungsszene der Paris-Episode, in der die Erzählerin auf eine Prostituierte trifft, wird wieder über die Bewegungen der Blickachsen, also wie über eine Kamerafahrt inszeniert. Der Leser sieht in „Großaufnahme [die] Lippen [der Prostituierten], zwischen ihren glänzenden nassen Zähnen“ (Tawada 46), die sich in einer Liebesszene der Protagonistin nähern. Es wird damit wieder ein Tabubruch in den ‚gezoomten‘ Fokus genommen – hier das Spiel mit den Grenzen der Geschlechter: „Aus ihrer Öffnung duftete es nach Zitronengras, was mich schwindelig machte“ (ebd.). Auch dieser ‚grenzwertige‘ sexuelle Austausch führt wieder zu einem Eingesperrtsein der Erzählerin. Die Hure Marie versteckt sie, offenbar zum Schutz vor der ihr unbekannten Außenwelt, in ihrer Kellerwohnung und der äußere Raum verwandelt sich einmal mehr in einen scheinbar lebendigen Körper, der gleich einer Kugel „nur einen festen Punkt an der Innenwand“ hat: „den Berührungspunkt meiner Schläfe mit ihrer“ (ebd.). Aus dieser Blase, dieser Kellersphäre, in der die Erzählerin eine ungewisse Zeit verlebt, bricht die Heldin nur hervor, wenn sie sich in den dunklen Innenraum des Kinos verirrt. Er wird ihr zu einem Schutzraum, der sie stets vor ihrem tristen Alltag befreit: „Mir fiel nur das Wort ‚cinéma‘ ein. In diesem Wort trafen ‚China‘ und ‚Ma‘ zusammen. Der Eingang des Kinos empfing mich wie die Arme einer ‚Ma‘. Sie lehnte mich nie ab.“ (91) Das Kino ist damit, wie die vorher anthropomorphisierte Wohnung, Ausdruck eines „innerpsychischen Prozesses“ (Schmitz-Emans, „Entgrenzungsphantasien“ 191) und die Bilder ihres Idols Deneuve werden der heimatlosen Ich-Erzählerin zu einer Möglichkeit, diese für sich in eine individuelle Geschichte zu übersetzen (vgl. Festring): „Ich konnte mir mich selbst nicht als eine Figur vorstellen, die in Paris lebte. Dafür konnte ich mir meine Körperhaltung von früher zum ersten Mal bildlich vorstellen, zum Beispiel, wie ich in Bochum vom Bett aus die Wände betrachtete. Das Schlafzimmer in Repulsion zeigte mir das.“ (Tawada 51) Das phantastische Element ergibt sich hier also als eine Verschiebung der Austragung eines seelischen Konfliktes, und die Blicke der Erzählerin auf die Filmleinwand werden für den Leser zu Innenblicken in das Erzähler-Ich: „Wenn ich den Filmstreifen aus dem Projektor herausziehen und daraus meine eigene Straße bauen würde, könnte ich Bild für Bild nach Hause gehen“ (114). So werden über das „Phantasma des Kinos“ (Schmitz-Emans, „Entgrenzungsphantasien“ 196) und den bereits betonten ‚Phantomcharakter‘ filmischer Gestalten

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Phantasmagorien in Tawadas Erzählung eingebracht, die die zwangsmigrierte Vietnamesin immer mehr mit ihrem europäischen Äquivalent Deneuve verschmelzen lassen: „Meine Person verschwand im Dunkeln des Kinosaals […]. Es gab keine Frau mehr, die ‚ich‘ hieß. Denn Sie waren für mich die einzige Frau, mich gab es also gar nicht“ (Tawada 54). Das so entgrenzte Erzähler-Ich beginnt sich aufzulösen, wie die Erzählerin selbst betont „bleibt nur noch meine brennende Netzhaut, auf der sich die Leinwand reflektierte“ (ebd.). Auch strukturell mutieren die Erzählerin und damit ihr Erzählmodus immer mehr zu dem einleitend erwähnten nackten (Kamera-)Auge: Über die Montage verschiedener Einstellungen, durch unmotivierte Close-ups, scheinbare Slow-Motion, Überbelichtung, über die stete Verschiebung von Nähe-Distanz-Relationen sowie gar über die Unterbrechung einer analogen Wort-Bild-Verknüpfung (vgl. Hickethier) erreicht die Erzählung in Paris einen Status, der die Grenzen von Raum und Zeit, von Film und Handlungsrealität gänzlich auflöst und so zu einer schwer definierbaren ‚Anderswelt‘ generiert. Der ebenfalls gesteigerte Einbruch von zitierten Filmsequenzen, dessen Bilderreihen der Leser wie in einem Gruselkabinett durchläuft, nicht scheiden könnend zwischen Film- und Buchrealität, zwischen beobachtendem und beobachtetem Ich, führt zu der Evokation einer gespenstischen Lücke, die den Leser in seiner eigenen imaginären Verstrickung, in seinen eigenen Projektionen und Assoziationen ‚verwildern‘ lässt. Er gleitet „Schulter an Schulter“ mit der Ich-Erzählerin „in die warme Dunkelheit des Kinosaals ein“ (Tawada 101) und ihr Empfinden gegenüber den Kinobildern wird seinem Empfinden gegenüber der Erzählung analog: „,Verschwinde!‘ sagte ich zu der cinematographischen Strömung, die mich mitnehmen wollte. Lass mich in Ruhe! Ich will nicht mitgenommen werden. Aber es war schwer, Distanz zu den Bildern zu halten. Sie rissen mich mit, um mich zu ertränken“ (172). Die Autorität der narrativen Instanz wird außerdem untergraben, indem die Zeitspannen, ebenso wie die verschiedenen Örtlichkeiten der Paris-Episode, nicht klar zu definieren sind. So trifft die Heldin, nach einer Vielzahl an textuell transformierten Filmbildern (vgl. Festring), die sich mit einer Flucht aus dem Keller und einem Aufenthalt bei einer Landsfrau in Paris mischen und dem Leser wie wenige Wochen anmuten, die Prostituierte ihrer Anfangsbegegnung wieder und sieht eine dürre Frau mit silbernem Haar […]. Ihre Handflächen waren rau, aber warm und etwas feucht. In ihrem Gesicht entdeckte ich viele neue Linien, die es damals nicht gegeben hatte. Aber als ich noch einmal ihren Namen rief, blieben nur die alten Linien auf der Oberfläche, und die neuen verschwanden. (Tawada 137)

Durch diese Zeitverzerrung ereignet sich auf der Handlungsebene ein für die phantastische Literatur paradigmatisches Diktum, das als ein „Modell

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für eine neue Wirklichkeit, die erst noch herzustellen wäre“ (Bischof 212) gewertet werden kann. Wie Markus May über das traditionelle „Spiegelphänomen“ in der phantastischen Literatur festhält, scheint bei Tawada das Medium Film als phantastischer Spiegel einer an sich schon irreal anmutenden, da täglich mit dem Phantasma des Kinos und der filmischen Anderswelt konfrontierten Gegenwartswelt, die so eine ganz eigene Dynamik von „Identifikation und Verkennen, von Identität und Alterität“ (May 151) entwickelt. Damit wird die Schrift dieser Erzählung eine unsichtbare, eine gespenstische; sie ist „keine einfache Spiegelschrift mehr“, also keine Mimesis, „weil sie dreimal umgedreht wurde; zuerst im Spiegel [des Auges], dann im Film, dann“ (Tawada 55) in der Erzählung. Dass die Erzählerin damit „zwischen Phantasma und Realität, Anwesenheit und Abwesenheit, Darstellbarem und Undarstellbarem agier[t]“, scheint auch hier „die Ordnungsversuche von Typologien und Topologien“ zu sprengen (Fuest 13) und eine eng angesetzte Definition für das phantastische Genre kaum haltbar zu machen. Der wacklige Boden des Erzählverfahrens wird besonders deutlich, als der Parisaufenthalt durch das plötzliche Auftauchen Jörgs und sein „Da habe ich Dich wieder“ (Tawada 164) ebenso unmotiviert beendet wird, wie er begonnen hatte. Ihr Peiniger entführt die Erzählerin abermals nach Bochum und der Leser muss auf ein Neues dem misstrauen, was er als Wirklichkeit der Handlung akzeptiert hatte. Die „Heimkehr“ wird so einmal mehr zur „Heimsuchung“ (vgl. Fuest 3) und die Erzählung fragmentarischer und verrätselter: Wie ein Sturzbach prasseln in diesem zweiten Entführungs-Kapitel nicht in Einklang zu bringende Bilder und Informationen auf den Leser ein. Sätze fallen durch Enjambements und Eklipsen auseinander, brechen mittendrin ab oder auf, und der Text wird so schließlich auch auf der Mikroebene zu einer grammatikalischen Ruine, die aus dieser anfangs eingeführten „Ruinenlandschaft“ (Tawada 7) notwendig hervorzugehen scheint. Das Spiel mit den Wahrnehmungsmodi führt am Ende der Erzählung damit zu einem absoluten Verfall von Eindeutigkeiten; Kausalitätszusammenhänge und Finalitäten sind aufgelöst und die (Erzähl-)“Zeiten [erscheinen wie] Spielkarten, die im Gedächtnis immer wieder neu gemischt und blind auf den Tisch gelegt werden. Es gibt keine feste Verbindung zwischen den Karten“ (ebd. 113). Der Leser kann sich immer nur im ‚Zwischen‘ dieser Spielbewegung aufhalten und läuft selbst so einem Blinden gleich zwischen den niemals erreichbaren Fixpunkten hin und her. Der Schluss belässt den Leser in einer völligen, systematischen Unentscheidbarkeit gegenüber der Wirklichkeit der Erzählung und raubt nicht nur der Erzählerin, sondern auch dem Leser seine letzte Sehkraft. Wie ein Appell an den Leser, ein zum Crescendo gesteigerter Schlussakkord, erscheint der kurz vor dem Schlussakt gemachte Ausruf:

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Das war nichts anderes als Elend dort, nichts anderes als ekelhafte Hochstapelei! Erkenne das und vergiss endlich die vergangenen Bilder! (180f.)

Als Folge ihrer erneuten Entführung sticht die Erzählerin sich selbst mit einem Sekundenzeiger die Augen aus und nimmt sich so ihren letzten Bezug zur Außenwelt, ebenso wie dem Leser, der im letzten Kapitel mit einem gänzlich neuen Erzählmodus konfrontiert wird. Der Rezipient bleibt so in dem schon durch den letzten Titel namens „Dancer in the Dark“ evozierten Dunkeln: Die Ich-Erzählerin ist verschwunden, an ihre Stelle tritt ein heterogen-extradiegetischer Erzähler, der die Geschichte einer blonden, zierlich gebauten Blinden erzählt, die trotz ihres „europäisch aussehenden Gesichtes“ (185) behauptet, aus Saigon zu kommen. Diese berichtet einem jungen Mädchen namens Selma, eigentlich Protagonistin des Films Dancer in the Dark, wie ihre Freundin Kathy ihr die geliebten Kinofilme immer in Fingersprache übersetzt. Dies geschieht, indem sie ihr ihre Initialen auf den Handrücken schreibt: CD – Catherine Deneuve. So scheint die Erzählerin sowohl Double als auch Freundin der Deneuve geworden zu sein (vgl. Schmitz-Emans, „Entgrenzungsphantasein“ 200) und ihre Rettung ergibt sich nur als ein „paradoxer Schluss, in dem das eigentlich zu rettende Ich zu seiner Erhaltung abgeschafft wird“ (Berg 257). Der phantastische Grundkonflikt, der sich hier aus einem realen Dilemma der Gegenwart speist, kann nicht harmonisch aufgelöst werden, sondern zeigt, dass „das moderne Subjekt notwendig in dieser Welt scheitern muss“ (Berg 2). Die sich selbst fremd gewordene Erzählerin wird so auf der Handlungsebene zu einem Gespenst und der Text auf der Erzählebene einmal mehr gespenstisch. Das Sehen des Lesers ergibt durch die phantastische Vermischung von Film und Literatur in Tawadas Erzählung stets ein irritiertes, ein unentschlossenes Bild, und ein im Endkapitel von der Blinden formulierter Satz wird schließlich paradigmatisch: „Wissen Sie, die Sehkraft ist eine Spalte, nicht, dass man durch diese Spalte einen Ausblick hätte, sondern die Sehkraft selbst ist eine Spalte, genau an dieser Stelle kann man nichts sehen“ (Tawada 185). Das genretypische Moment des Zweifelns ist damit auch in Tawadas Erzählung das Phantastik erzeugende und könnte, wie eingangs angedeutet, neben einer Hinterfragung des Erzähler-Ichs auch einer allgemeinen Hinterfragung der Möglichkeit von Wirklichkeitserkenntnis zugeschlagen werden; wie Wehr es bezeichnet, „einer epistemologischen Ambivalenz“ und damit der Frage, ob es „mit unumstößliche[r] Gewissheit der Welterkennt-

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nis gar nicht so weit her ist?“ (Wehr 14). Denn die Erfahrungen der IchErzählerin führen notwendigerweise auf der Inhalts- wie Textebene zu einer absoluten Verweigerung eines eindeutigen Erkenntnisprozesses: „[W]er wollte wagen, angesichts dieser Schilderungen Schein von Sein, Figuralität von Buchstäblichkeit, Gespenst von Überlebenden zu trennen?“ (Fuest 18)9 Das anfangs eröffnete ‚Ruinentableau‘ erscheint somit als Allegorie auf einen im Sinne des ‚Runiert-seins‘ vollzogenen Fall aus „einem Zustand der Ganzheit“ (Turner 219) – nicht nur der Ganzheit des Erzähler-Ichs, sondern der Möglichkeit eines vollständigen, eindeutigen Erkenntnisprozesses. Nackt und schutzlos bleiben daher ebenso die vor Schrecken ob des Erzählinhalts und vor Verwirrung ob der Erzählstruktur weit geöffneten Augen des Lesers und machen den in Tawadas Erzählung evozierten Prozess des esse est percipi umso deutlicher: Sein heißt Wahrgenommen-werden – wenn nicht übers Außen, so wenigstens über die Innenblicke, die uns Das nackte Auge gewährt. Literaturverzeichnis Barbetta, Maria Cecilia. „Wie die phantastische Hand neo-phantastisch wird: Eine Einführung in die Poetik der Neo-Phantastik“. Nach Todorov: Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Hg. Markus May, Ursula Reber und Clemens Ruthner. Tübingen: Francke, 2006. 209-27. Berg, Stephan. Schlimme Zeiten, böse Räume: Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler, 1991. Bischof, Rita. „Weder dynamisch, noch statisch: Überlegungen zum surrealistischen Bildbegriff“. Vernunft und Subversion: Die Erbschaft von Surrealismus und Kritischer Theorie. Hg. Dietrich Hoß. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1997. 167-205. Brandt, Bettina. „Schnitt durchs Auge: Surrealistische Bilder bei Yôko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Herta Müller“. Literatur und Migration. Hg. Heinz Ludwig Arnold. TEXT+KRITIK: Zeitschrift für Literatur IX (2006): 74-83. Buñuel, Luis. Mein letzter Seufzer. Übers. Frieda Grafe. Frankfurt/M.: Ullstein, 1994.

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Tawada scheint sich damit auch Buñuel ein weiteres Mal anzunähern, der im Kontext seines Un Chien Andalou auf das notwendige Scheitern des modernen, autonomen Subjektes aufmerksam machte: „Du bist nicht frei […] Deine Freiheit ist nur ein Gespenst, das in einem Mantel von Nebel durch die Welt läuft. Du willst nach ihr greifen, aber sie entzieht sich dir, und dir bleibt nur etwas Feuchtigkeit zwischen den Fingern“ (Buñuel 99).

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Dünne, Jörg. „Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen: Mediale Räume in der phantastischen Literatur“. Nach Todorov: Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Hg. Markus May, Ursula Reber und Clemens Ruthner. Tübingen: Francke, 2006. 189-209. Durst, Uwe. Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen: Francke, 2001. Festring, Kristina. „Verfilmte Fremde – Verfremdete Filme: Interkulturalität und Intermedialität in Yôko Tawadas ‚Das nackte Auge‘“. Universität Warschau. XII. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG). August 2010. Vortrag. Foucault, Michel. Die Heterotopien: Zwei Radiovorträge. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Fuest, Leonhard. „Noch einmal: Gespenster. Zur Begründung der Hantologie“. Dekonstrukte. Web. 10.02.2011. . Görling, Reinhold. „Kleist und der Cyberspace“. Gespenster: Erscheinungen – Medien – Theorien. Hg. Moritz Baßler. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. 189-200. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart: Metzler, 2007. Ivanovic, Christine, Jürgen Lehman und Markus May, Hg. Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film. Stuttgart: Metzler, 2003. Menninghaus, Winfried. „Ekel-Tabu und Omnipräsenz des ‚Ekels‘ in der ästhetischen Theorie (1740-1790)“. Das Schöne und das Triviale. Hg. Gert Theile. München: Fink, 2003. 33-66. Schmitz-Emans, Monika: „Entgrenzungsphantasien und Derealisierungserfahrungen: Das Kino im Spiegel des Romans bei Thomas Mann, Luigi Pirandello, José Saramago und Yôko Tawada“. Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Hg. Sandra Poppe. Berlin: Schmidt, 2008. 185-204. —. „Gespenstische Rede“. Gespenster: Erscheinungen – Medien – Theorien. Hg. Moritz Baßler. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. 229-52. Simonis, Anette. Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur: Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Universitätsverlag, 2005. Simmel, Georg. „Die Ruine“. Philosophische Kultur. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 123-28. Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. Übers. Karin Kersten. München: Hanser, 1972. Turner, Bryan S. „Ruine und Fragment: Anmerkungen zum Barockstil“. Allegorie und Melancholie. Hg. Willem van Reijen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992. 202-24.

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Formen und Funktionen des Phantastischen im Werk von Arthur Schnitzler und Leo Perutz HANS-HARALD MÜLLER Form and Function of the Fantastic in the Works of Arthur Schnitzler and Leo Perutz This essay examines stories by two authors of the “Young Vienna” period at the end of the 19th century who have taken a sceptical view on that period’s interest in theosophy, spiritism and hermetic teachings. Their vocational training – Schnitzler was a trained M.D. and worked as a laryngologist, Perutz worked as mathematician for an insurance company – rather turned their perspective towards the sciences. Both felt provoked by the encroaching spiritist discourse in literary practice and reacted accordingly. Both wrote fantastic stories, in which they dealt with occult phenomena in an ambivalent nature. The sophisticated narrative constructions chosen and their respective function in the text will, in this essay, be analyzed by example of Schnitzler’s “Das Tagebuch der Redegonda” and Perutz’ “Nur ein Druck auf den Knopf.”

1. Einleitung Daß um 1900, in jener Literaturepoche, wo im Durchschnitt das nach allen Regeln des Geschäftes Ausgebeutete und auf rein optisch gefällige Passform Gefertigte am lauten Markt das Meistgefragte war, auch die Gattung des Phantastischen die gute Tradition vergaß und fixe Oberflächenakrobatik biederer Gespensterfabrikanten dem äußeren Anschein nach alle Ehren einheimsen ließ, ist nicht verwunderlich. (Herrmann-Neisse 338)

Verwunderlicher ist es, dass an diesem verrufenen Genre sich immer wieder auch Schriftsteller beteiligten, die unzweifelhaft der seriösen Literatur zuzurechnen waren. Noch weit verwunderlicher – und bis heute nicht erklärt – ist es allerdings, dass diese Schriftsteller sich dabei häufig experimenteller avantgardistischer Erzählverfahren bedienten, die der Literaturwissenschaft immer aufs Neue diskutierte Interpretationsprobleme bereitet haben. Zwei solcher Erzählungen werde ich im Folgenden analysieren und daran einige Schlussfolgerungen über die Formen und Funktionen des Phantastischen bei den beiden Autoren knüpfen. Da den Kern beider Erzählungen grundlegende Strukturprobleme bilden, die durch die Oberflächenstruktur eher elegant verdeckt werden, werde ich deren Reize wei-

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testgehend vernachlässigen und die Analyse auf die – in der Forschung bis lang nur unzulänglich erkannten1 – Strukturprobleme konzentrieren. 2. Schnitzlers „Das Tagebuch der Redegonda“ Schnitzlers Erzählung „Das Tagebuch der Redegonda“, 1905 konzipiert, begonnen 1909, publiziert 1911 (vgl. Urbach 124), ist – einmal ganz abgesehen von ihrem Inhalt, der um so teure literarische Gegenstände wie verbotene Liebe, Seelenverwandtschaft, modernes Heldentum und eine Art Liebestod kreist – ein einzigartiges literarisches Kabinettstückchen. Ich gebe eine Abbreviatur des Inhalts in narratologischer Verfremdung. Ein homodiegetisch-extradiegetischer Erzähler berichtet, wie er auf dem Heimweg im Stadtpark seinem Bekannten Dr. Wehwald begegnet, der ihm eine Geschichte erzählt. In Wehwalds Erzählung, die von seiner – freilich nur in der Imagination – erfüllten Liebe zu Redegonda bis zur Entdeckung durch deren Gatten, sodann von Redegondas Tod und dem anschließenden Duell zwischen Redegondas Gatten und Wehwald handelt – in dieser Erzählung ist Wehwald der homodiegetisch-intradiegetische Erzähler bis zu dem Augenblick, in dem er auf des Rahmenerzählers Frage, ob er Redegondas Gatte getötet habe, entgegnet: „Nein. Meine Kugel fuhr hart an seiner Schläfe vorbei. Er aber traf mich mitten ins Herz. Ich war auf der Stelle tot, wie man zu sagen pflegt“ (990)2. Solche Sätze werden freilich kaum gesagt, und auch in der Literatur kommen sie sehr selten vor.3 Notgedrungen muss an dieser Stelle der Rahmenerzähler das Erzählen wieder übernehmen, und er muss nicht allein feststellen, dass Dr. Wehwald „nicht mehr in der Ecke der Bank“ saß, sondern glaubt „Grund zu vermuten“ zu haben, „dass er überhaupt niemals dort gesessen hatte“ (991). Allerdings erinnert er sich „sofort“ daran, „dass gestern abends im Caféhaus viel von einem Duell die Rede gewesen war, in dem unser Freund, Dr. Wehwald, von einem Rittmeister namens Teuerheim erschossen“ wurde, während „Frau Redegonda noch am selben Tag mit einem jungen Leutnant des Regiments spurlos verschwunden war“ (991). Die Erzählung 1

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Die differenzierteste Analyse zum „Tagebuch der Redegonda“, die freilich eine deutliche Strukturbeschreibung der Erzählung vermissen lässt, findet sich bei Katharina Grätz; dort auch eine Diskussion der fast vollständig erfassten Forschungsliteratur zur Erzählung. Eine phantastische Interpretation zu Perutz’ Erzählung bietet Hans Krah (bes. 72-80); etwas nüchterner bei Hans-Harald Müller. Die in den Text eingeschobenen Seitenangaben beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebene Sammelausgabe von Schnitzlers erzählenden Schriften Selbst bei einem so exzentrischen Autor wie Haruki Murakama bestätigt nicht der IchErzähler seine eigenen Tod, sondern dieser fragt seinen Freund: „Du bist schon tot, nicht wahr?“ – worauf es entsetzlich lang dauert, bis dieser antwortet: „Ja [...] Ich bin tot.“ (293).

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endet mit einem Kommentar des Erzählers, der meint, er hätte der vorliegenden Erzählung noch mehr Raffinesse verleihen können, wenn er die Begegnung mit Wehwald vor den Zeitpunkt verlegt hätte, an dem er im Caféhaus von dessen Ende erfuhr. Er habe, versichert er, davon Abstand genommen, weil man ihm andernfalls den Vorwurf hätte machen können, dass er durch eine „den Tatsachen nicht ganz entsprechende Darstellung der Mystik, dem Spiritismus und anderen gefährlichen Dingen neue Beweise in die Hände gespielt hätte“ (991). Daher habe er es vorgezogen, alles so zu berichten, wie es sich zugetragen habe, auf die Gefahr hin, dass ihm, wegen des verbreiteten Misstrauens gegenüber den Dichtern, gleichwohl nicht geglaubt werde. Diese Inhaltsskizze lässt, wie angekündigt, alle Schönheiten und ironischen Feinheiten beiseite, weil es im Folgenden lediglich um die entscheidenden Strukturprobleme gehen soll, welche die Erzählung für die normale Leserin, mehr noch aber für die professionelle Interpretin bereithält. Wenden wir uns zunächst Dr. Wehwald als Binnenerzähler zu. Seine Erzählung enthält ein internes Problem: dass eine imaginierte Liebe reale Folgen in Redegondas Tagebuch und dem Duell Wehwalds mit Teuerheim zeitigt, lässt sich nur mit „der Mystik, dem Spiritualismus und anderen gefährlichen Dingen“ (991) erklären. Wehwalds Bericht hat aber auch ein gleichsam externes Problem: seiner Darstellung von Redegondas Tod4 steht die Mitteilung der Freunde im Caféhaus entgegen, Redegonda sei mit einem jungen Leutnant durchgebrannt. Wehwalds Glaubwürdigkeit wird auf diese Weise schwer beschädigt, aber das ist für die Erzählung unproblematisch: dass Erzähler von unglaubwürdigen Erzählern erzählen, kommt häufig vor und verstößt nicht gegen literarische Konventionen. Ganz anders ist das im Falle des Rahmenerzählers, der Wehwald anfangs auf der Bank hat erscheinen lassen und am Schluss vermutet, dass dieser dort niemals gesessen habe. Der primäre Erzähler darf die Leserinnen über den innerfiktionalen ontologischen Status der von ihm berichteten Ereignisse nicht im Unklaren lassen. Tut er es dennoch, so verstößt er gegen einen elementaren Fiktionspakt oder gegen eine Grice’sche Konversationsmaxime (vgl. Kindt „L’Art“): Er enthält den Leserinnen vor, was in der von ihm erzählten Welt wirklich der Fall ist. Welche Konventionen gelten aber, wenn gegen so elementare Konventionen verstoßen wird? Ich weiß nicht, ob es für dieses Problem in unserer Disziplin etablierte und akzeptierte Lösungsvorschläge (vgl. ebd.) gibt, aber ich würde meinen, hier liegt entweder ein ärgerlicher Kunstfehler oder eine vorsätzliche Täuschung vor. Kunstfehler sind gar nicht, vorsätzliche Täuschungen nur zeitweilig im Interesse höherer Rechtsgüter zu rechtfertigen. 4

Wehwald zitiert hier (989) die wörtlichen Rede Teuerheims.

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Um welche höheren, nämlich ästhetischen Rechtsgüter es dem Rahmenerzähler geht, erläutert er in der Schlusspassage. Diese hat insofern eine andere Qualität als der Rest der Erzählung, weil der Erzähler hier seine bereits abgeschlossene Erzählung lediglich gleichsam ‚metafiktional‘ kommentiert. Indem er auf die Möglichkeit hinweist, mit der Vertauschung der zeitlichen Reihenfolge zwischen Tod und Erscheinung Dr. Wehwalds die Wirkung seiner Erzählung zu steigern – eine Möglichkeit, die ich übrigens für nicht realistisch halte5 – macht er auf die Manipulierbarkeit der Elemente solcher Erzählungen deutlich aufmerksam. Dass er, wie er abschließend erklärt, von dem Arrangement eines ὕστερον – πρότερον keinen Gebrauch macht, besagt nun lediglich, dass er bei der ursprünglichen Reihenfolge der fingierten Ereignisse bleibt, keinesfalls aber, dass diese sich in der außerfiktionalen Wirklichkeit so zugetragen habe und ihnen somit „Wahrheit“ zukommt. Ich weiß nicht, ob Sie mir durch die ontologische Verwirrung am Ende der Erzählung bis hierher gefolgt sind oder folgen wollen – auf jeden Fall ist es ein genialer Schachzug des Erzählers, die fiktionsinterne Bestätigung der Fiktion als fiktionsexterne Wahrheit erscheinen zu lassen. In jedem Fall aber dürfte die These gelten, dass der Fiktionspakt mit dem Leser nur gebrochen werden darf, wenn er auf metafiktionaler Ebene mit der – wie auch immer ironischen – Versicherung restituiert wird, die Erzählung als ganze sei wahr. 3. Perutz’ „Nur ein Druck auf den Knopf“ Perutz’ Erzählung „Nur ein Druck auf den Knopf“, 1930 erschienen, scheint sehr viel einfacher zu sein als die Schnitzlers, denn sie ist aus einem Guss – sie besteht aus einem Monolog. Technisch gesehen, handelt es sich um „zitierte Figurenrede“ (Martínez und Scheffel 51) ohne verba dicendi und ohne Anführungsstriche, eine Rede also, bei der jede Vermittlungsinstanz ausgeschlossen ist. Bereits aus dem ersten Satz der Erzählung geht hervor, dass die Rede an ein angesprochenes Gegenüber gerichtet ist, dessen Redeanteile nicht wiedergegeben, sondern lediglich aus den Reaktionen des Sprechers zu erschließen sind. Der Inhalt der kurzen Erzählung ist schnell wiedergegeben. Aladár Lukács, der Sprecher des Monologs, trifft in New York einen alten Bekannten aus Budapest, dem er von sich und vom Tod eines Dr. Maurus Keleti erzählt. Für den Tod des letzteren scheint Lukács verantwortlich, 5

Im ersteren Fall hätte er der Erzählung Dr. Wehwalds einen unerklärlichen prognostischen Gehalt verliehen – in der gewählten Variante lässt er immerhin einen Toten seine Geschichte erzählen.

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doch wie es sich damit genau verhält – das ist das Rätsel der Erzählung. Lukács selbst bietet zwei Versionen an. Zum einen wird, so Lukács selbst, kolportiert, „daß ich den Doktor Keleti erschossen habe“ (203). Diese Version bestreitet er ausdrücklich: „Ich habe niemals einen Revolver auch nur angefasst“ (203). Nach der zweiten, ‚spiritistischen‘ Version hat Lukács Dr. Keleti während einer Séance, wiederum in seinen Worten, „– umgebracht? Nein, das wäre zuviel gesagt. Vielleicht habe ich den Keleti einfach – aus dem Leben herausgerufen“ (204). Zu dieser erklärungsbedürftigen Version bekennt Lukács sich nach anfänglichem Zögern endgültig. Welche der beiden Versionen ist nun richtig? Gegen das Gerücht, er habe Dr. Keleti erschossen, spricht nicht allein Lukács’ Leugnung, sondern auch seine Versicherung, dass kein Staatsanwalt „auch nur auf den Gedanken gekommen“ wäre, „ihn in die Sache hineinzuziehen“ (203f.) – und nicht zuletzt sein Rekurs auf den Bericht des Amtsarztes, Dr. Keleti sei „an Gehirnschlag gestorben“ (204). Gegen die zweite, ‚spiritistische‘ Version spricht auf der Basis des Erzählberichts nichts, sie ist indes nicht mit unserem kulturellen Wissen vereinbar, ergo haben wir es also mit einem ‚phantastischen‘ Ereignis zu tun. Es kann nun niemand daran gehindert werden, Perutz’ Erzählung als ‚phantastische‘ zu lesen. Dann ist das Vergnügen an der Erzählung zu Ende. Es kann aber auch niemand daran gehindert werden, die Glaubwürdigkeit des gesamten Erzählerberichts unter die Lupe zu nehmen. Wer das tut, wird schnell feststellen, dass wir es mit einem höchst unzuverlässigen Erzähler6 zu tun haben. Von den zahlreichen Indizien für diese Feststellung beschränke ich mich auf wenige Beispiele. Deutlich sind auch die Widersprüche, in die Lukács sich bei der Schilderung seiner Beziehung zu Dr. Keleti verwickelt. Zunächst leugnet er jeden Hass: „Aus dem Leben herausgerufen – das ist das richtige Wort. Aber wenn ich es getan habe, so tat ich es ohne eine Spur von Haß“ (204). Während der Séance aber wünscht er dem Dr. Keleti deutlich den Tod: Er war nicht tot, er lebte, aber ich sagte mir: Wenn er tot wäre, das müßte doch eigenartig sein, mit seiner abgeschiedenen Seele zu sprechen. Er ist nicht tot, aber wenn er tot wäre –. Immer ging mir das durch den Kopf: Wenn dieser Keleti tot wäre! Ich konnte von dem Gedanken nicht loskommen. (209)

Strategisch ist schließlich das Informationsverhalten des Sprechers über seine Frau. Ohne Nachfrage hätte Lukács nicht berichtet, dass der tote Keleti in Anwesenheit einer Dame „mit aufgelöstem Haar“ (213) aufgefunden wurde, und ohne Nachfrage des Gesprächspartners hätte er auch nicht erwähnt, dass er seine Frau in Budapest zurückgelassen hat und von 6

Zum Konzept des ‚Unzuverlässigen Erzählens‘ vgl. zusammenfassend Kindt Unzuverlässiges Erzählen; insbes. 7-67.

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ihr getrennt lebt. Dieses strategische Verhalten wird, in Verbindung mit einigen anderen Andeutungen, auch unschuldige Seelen auf die Idee bringen, dass es sich bei der Dame mit aufgelöstem Haar um Lukács’ Frau handelt, mit der Dr. Keleti vermutlich eine jahrelange Beziehung hatte. Aus der Feststellung, dass der Erzähler unzuverlässig ist, folgt zunächst nichts Bestimmtes, ausgenommen die Lizenz, den Bericht gleichsam in zuverlässige und erfundene Teile zu zerlegen, wozu wir eine Interpretationshypothese brauchen, die den Bericht korrigiert. Das Günstige (und ästhetisch Befriedigende) an Perutz’' Erzählung ist, dass solch eine Hypothese nicht willkürlich konstruiert werden muss, da sie sich im Text selbst findet, und zwar gleich dreimal, wenngleich in Kontexten, die sie nicht zur Geltung kommen lassen. Zu Beginn der Erzählung berichtet der Sprecher mit Bezug auf die amtsärztliche Unterschrift zweimal: „Der Doktor Keleti ist an Gehirnschlag gestorben“7 (204), und am Ende resümiert er: „Gehirnschlag – sagte der Arzt“ (213). Dr. Keleti ist demnach weder erschossen noch per Medium aus dem Leben herausgerufen worden, sondern er ist eines völlig natürlichen Todes gestorben. Diese Interpretationshypothese erfordert nur eine einzige Korrektur: der Erzählerbericht von der Séance ist von dem Augenblick an unglaubwürdig, als Lukács beschließt, Dr. Keleti durch das Medium rufen zu lassen bis zu der Stelle, als Lukács auf den toten Dr. Keleti trifft. Warum in aller Welt muss Aladár Lukács aber eine solch spektakuläre Geschichte erfinden, wenn er am Tod Dr. Keletis völlig unschuldig ist? Und warum hat er, wenn er denn unschuldig ist, Budapest verlassen und meidet auch den Kontakt mit den Landsleuten in New York? Die beiden Fragen werden uno actu beantwortet: Lukács hat Budapest verlassen und meidet Kontakte zu Budapester Bekannten, weil diese wissen, dass Dr. Keleti eine langjährige intime Beziehung zu Lukács Frau gehabt hat, die erst durch den Tod beendet wurde – Lukács hingegen hat die vorgetragene Version vom Tode Keletis erfunden, um in der Fiktion zu verwirklichen, was er in der Wirklichkeit nicht vermochte: den gehassten Nebenbuhler umzubringen. Mit dieser Hypothese ließe sich auch das eigentümlich strategische Verhalten des Sprechers erklären, weshalb er sich zu Beginn des Gesprächs so umständlich danach erkundigt, ob sein Gesprächspartner nicht schon von anderen von seiner Geschichte erfahren hat, und weshalb er verschweigt, dass er von seiner Frau getrennt lebt. Wenn diese Interpretation in den Grundzügen richtig ist, dann hat Perutz in der Monologerzählung den Erzähler zwei Versionen eines Mordes aufbieten lassen, der nicht stattgefunden hat – ein Versäumnis, das der

7

Vgl. auch „Dieser Keleti ist an Gehirnschlag gestorben, das ist einwandfrei festgestellt“ (ebd.).

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Erzähler als so unverzeihlich empfand, dass er den Mord in seiner Erzählung, gleichsam ‚performativ‘, nachholte. 4. Fazit Ich hoffe, dass ich am Beispiel zweier sehr unterschiedlicher Erzählungen von Schnitzler und Perutz zeigen konnte, dass die den Bereich des Phantastischen exploitierenden, ihm aber nicht verpflichteten Erzählungen der beiden Autoren sich außerordentlich avancierter Erzählverfahren bedienen – vermutlich nicht allein, um sich von der Trivialphantastik der Jahrhundertwende abzusetzen. Auf der Oberfläche besitzen diese planmäßig konstruierten Texte Widersprüche und/oder Plausibilitätsdefizite, Passagen, in denen der Sprecher oder Erzähler ein Bild des Geschehens oder ein Selbstbild entwirft, das zu anderen Teilen des Textes nicht passt. Die Bilder erfüllen in der Realität versagte Wünsche oder verleugnen in der Wirklichkeit geschehene Taten. Die Texte erweisen sich aber zumeist als Kompromissbildungen aus dem, was geschehen ist und dem was geschehen sollte bzw. nicht geschehen durfte, ihre Leser stoßen bei der Lektüre auf eine Reihe theoretischer und faktischer Probleme, für die es eine Reihe kognitiv und ästhetisch reizvoller Problemlösungen gibt. Nach allem, was wir über sie wissen, hatten Schnitzler und Perutz, wie der Erstere versicherte, „mit den Flüchtlingen des Gedankens, den Mystikern und Okkultisten, von den Spiritisten gar nicht zu reden“, nichts gemein. Ihre Texte freilich bekämpfen das „Läppische und unlautere Geschwätz über das Unfassbare, Unendliche, Über- und Außersinnliche“8, das in der Literatur ihrer Zeit grassierte, nicht mit philosophischen oder weltanschaulichen, sondern mit avantgardistischen erzählerischen Konstruktionen, die zeigen, dass die Lösung vielschichtiger Erzählprobleme ästhetisch ungleich viel reizvoller ist als die Entführung der Leser in den Bereich des Unwirklichen und Unheimlichen. Literaturverzeichnis Grätz, Katharina. „Die Macht der Fiktion und die Kunst des Fingierens: Eine Analyse von Arthur Schnitzlers Erzählung ‚Das Tagebuch der

8

Brief von Arthur Schnitzler an Raoul Auernheimer vom 14.5.1928, aus dem Nachlass zitiert in Just 107.

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Redegonda‘ auf der Grundlage erzähltheoretischer Überlegungen“. Wirkendes Wort 52 (2002): 385-97. Herrmann-Neisse, Max. Die neue Entscheidung: Aufsätze und Kritiken. Gesammelte Werke. Bd. 10. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 1988. Just, Gottfried. Ironie und Sentimentalität in den erzählenden Dichtungen Arthur Schnitzlers. Berlin: Schmidt, 1968. Kindt, Tom. „L’Art de Violer le Contrat: Une Comparaison entre la Métalepse et la Non-Fiabilité Narrative“. Métalepses: Entorses au pacte de représentation. Hg. John Pier und Jean-Marie Schaeffer. Paris: Édition de l’Ehess, 2005. 167-78. —. Unzuverlässiges Erzählen in der literarischen Moderne: Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen: Niemeyer, 2008. Krah, Hans. „,Nur ein Druck auf den Knopf‘: Zur Genese einer Denkfigur im ästhetischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts“. Musil-Forum 27 (2001/2002): 63-87. Martínez, Matías und Michael Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck, 1999. Müller, Hans-Harald. „Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme: Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz – dargestellt an der Novelle ‚Nur ein Druck auf den Knopf‘“. Grenzüberschreitungen um 1900: Österreichische Literatur im Übergang. Hg. Thomas Eicher. Oberhausen: Athena, 2001. 177-92. Murakama, Haruki. Wilde Schafsjagd. Köln: DuMont, 2006. Perutz, Leo. „Nur ein Druck auf den Knopf“. Herr, erbarme dich meiner. Wien: Zsolnay, 1985. 202-14. Schnitzler, Arthur. „Das Tagebuch der Redegonda“. Schnitzler: Die Erzählenden Schriften. Erster Band. Frankfurt/M.: Fischer, 1981. 985-91. Urbach, Reinhard. Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München: Winkler, 1974.

Fantastisches und Wunderbares Goethes Behandlung des ‚Geisterhaften‘ in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten EVELYNE JACQUELIN The Fantastic and the Marvelous. Goethe’s Treatment of ‘Ghostliness’ in the Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten In 18th century Germany, the ‘fantastic’ was not regarded as a category of literary criticism. The debates concerning the specific place of a non-empirical type of literary fiction focalized on the concept of the ‘marvelous’, which referred to everything that did not fit in with daily experience and thus generated astonishment and admiration. Enlightenment rationalism first tended to limit the role of fantastic writing in the name of verisimilitude and good taste, however, thanks to the growing assertion of artistic autonomy, the ‘marvelous’ freed and also transformed itself. Ghosts, a popular phenomenon at the time, provided Goethe with a recurrent motif used in the first embedded stories of the Unterhaltungen cycle. Goethe used these ghosts to attract readers, but the ‘frame narrative model’ also allowed an ironical play on the relationships between fiction and reality linked to an aesthetic reflection on the reading processes and the autonomy of literary work. Goethe introduced variations into this popular motif and the type of narrative it induces as well as other types of successful genres, resulting in narrative experiments, which then offered reference models for short stories and Kunstmärchen. As regards ghost stories, Goethe deconstructed the devices of such texts, particularly the ‘shuddering effect’ caused by the collision between experience and the threatening supernatural. However, the paradox lies in the fundamental renewal which goes with such a deconstruction insofar as the author put the enigma at the very heart of the narrative, both in the embedded stories and in the ‘frame narrative’; by doing so, the author announced – in spite of himself – the abyss which Tieck, Kleist or Hoffmann explored after him.

1. Fantastisches und Wunderbares Im 18. Jahrhundert bezeichnet das Wort ‚fantastisch‘ keine genau bestimmte literarische Kategorie, sondern wird mit der Fantasie im Allgemeinen in Verbindung gesetzt, es bezeichnet also die Wirkung oder die Produkte der Einbildungskraft – allerdings eher unter dem Zeichen des Unregelmäßi-

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gen, eventuell von der Natur Abweichenden, weshalb es auch nicht selten als ‚töricht‘ angesehen wird.1 Mit diesem Sprachgebrauch kommt man in die Nähe der heutigen „maximalistischen Genredefinitionen“ (Durst 29f.), die alle Formen von nicht realistischer bzw. kontraempirischer Literatur, vom Mythos bis hin zur Science Fiction, als fantastisch vereinnahmen. Dieser allgemein gehaltenen Bedeutung gegenüber steht eine engere Auffassung, die sich in der Folge der Rezeption Hoffmanns durch die französischen Romantiker herauskristallisiert hat, wobei das Fantastische zwischen Wunderbarem und Mimetischem als Paradox angesiedelt und somit etwa vom mythologischen oder märchenhaften Wunderbaren abgegrenzt wird. Eine zugespitzte Formulierung findet sich in Todorovs berühmter Definition der Gattung durch das Unschlüssigkeitskriterium: ‚Fantastisch‘ sind solche Werke, die ein irritierendes Ereignis inszenieren, ohne dafür eine endgültige Erklärung anzubieten – weder eine natürliche noch eine übernatürliche.2 Allgemeiner könnte man von Texten sprechen, in denen bestimmte Elemente als Rätsel im Widerspruch zum realistisch geschilderten Kontext erscheinen und die Kohärenz dieses Rahmens sprengen. Zurück zum 18. Jahrhundert. Das Fantastische ist also kein Fachbegriff im damaligen poetologischen Diskurs; dafür finden sich schon die meisten Formen, die man heute dem Fantastischen – als Oberbegriff ‚maximalistisch‘ verstanden – zuordnet: Mythen (der Antike) als Grundlage der Elitenkultur, weitere tradierte Gattungen wie Fabeln und Märchen, aber auch neue wie Gothic und Science Fiction, die sich gerade in dieser Zeit entwickeln. Wenn man nach einem im 18. Jahrhundert gängigen Begriff für die literarische Beschäftigung mit „alternativen Welten bzw. grenzüberschreitenden Erfahrungen von Raum und Zeit“3 sucht, also für den Rekurs auf Elemente, die gegen das Gesetz der Mimesis verstoßen können, so wäre als Ausgangspunkt eher das Wunderbare zu nennen. Einer langen Traditi1

2 3

Stellvertretend sei Adelung zitiert: „Fantástisch, adj. et adv. thörichte Fantasien habend, verrathend. Lat. phantasticus, Franz. Fantastique“. Ferner „Die Fantasīe, (dreysylbig,) plur. die -n. (viersylbig.) 1) Die Einbildungskraft, ohne Plural. 2) Die Wirkung derselben, das Bild, welches man sich in der Seele macht, so wohl in gutem als nachtheiligem Verstande. Fantasien haben, unregelmäßige Vorstellungen. In der Mahlerey ist die Fantasie ein Gemählde, welches nicht nach der Natur oder nach den strengen Regeln der Kunst gemahlt ist; in der Musik, ein Stück, welches nicht nach den strengen Regeln der Composition gesetzt ist, sondern gemeiniglich aus dem Stegereife componiret wird“ (Hervorhebungen im Original). Eine Analyse der philosophischen Diskussionen der Aufklärung über die Einbildungskraft im Hinblick auf das Wunderbare findet man bei Karl-Heinz Stahl (insb. Kap. 3 und 4). Interessant ist z. B. die in diesem Zusammenhang zitierte Definition der Imagen Phantastica artificial als neues, aus verschiedenen Naturvorstellungen zusammengesetztes Bild oder der Lockesche Begriff der fantastical or chimerical Ideas, die nicht in der Natur fundiert sind (vgl. 125). „Le fantastique, c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel“ (Todorov 29). Zitat aus dem „Call for Papers“ für die Gründungskonferenz der GFF Fremde Welten.

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on gemäß bezeichnet es eben das, was über das Bekannte, Menschliche, Natürliche hinausgeht und deshalb Ver- bzw. Bewunderung hervorruft. In diesem Sinne wurde es in der ersten Hälfte des Jahrhunderts viel diskutiert. Man weiß, dass sich die Frühaufklärung im Namen der Vernunft vom Wunderbaren – etwa als billiger Effekthascherei für ein einfältiges, leichtgläubiges Publikum4 – distanziert. Jedoch wird im Laufe des 18. Jahrhunderts immer wieder festgestellt, dass der „Hang zum Wunderbaren“5 nicht zu tilgen ist. Dieses muss allerdings noch lange legitimiert werden. Einerseits (explizit) im Hinblick auf die Vorherrschaft der Vernunft – wie in Walpoles erster Vorrede zu Castle of Otranto (1764), aber auch etwa bei Wieland oder Musäus. Andererseits (eher implizit) gemessen an den herkömmlichen literarischen Hierarchien, da das Wunderbare zu dieser Zeit eine Flut von Märchen und etwas später von Schauerromanen speist, die meistens dem Bereich der angenehmen Unterhaltung bzw. des ‚abgeschmackten Trivialen‘ zugeordnet werden. Ein etwas späterer ironischer Nachhall davon ist etwa in Wielands „Vorbericht eines Ungenannten“ zu vernehmen, in dem „“das gesamte Feen- und Genienunwesen“ sowie „alle Elementengeister, Kobolde, Schlösser von Otranto, spukende Mönche“ in einem Atemzug genannt werden (Hexameron 13). In dieser literaturhistorischen Perspektive könnte man das Fantastische im engeren, todorovschen Sinne eigentlich als Abwandlung und neue Ausformung des literarischen Wunderbaren betrachten, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer öfters als Irritation der Vernunft und nicht selten auch des ‚guten Geschmacks‘ eingesetzt wird. Wie Tieck in seinem Essay über „Shakespeares Behandlung des Wunderbaren“ (1796) bemerkt, ist es nämlich schwer geworden, den „richtenden Verstand einzuschläfern“ (374) und das Wunderbare so zu integrieren, dass der Rezipient sich berauschen lässt und sich der „Bezauberung [...] hingibt“ (373). Losge4

5

Natürlich insbesondere bei Gottsched (vgl. 1. Teil, Kap. V, 104: „[Es] ist schon beiläufig gedacht worden, dass sich die ältesten Dichter angelegen sein lassen, bei dem einfältigen Haufen ein Ansehen zu erwerben und von ihnen bewundert zu werden. Nun bewundert man nichts Gemeines und Alltägliches, sondern lauter neue, seltsame und fürtreffliche Sachen.“). Aber auch die positivere Einschätzung der Überraschung und Verwunderung als Mittel der poetischen Wirkung bei Bodmer und Breitinger bedeutet nicht, dass das in diesem Sinne einzusetzende Wunderbare vom Naturmöglichen bzw. Wahrscheinlichen vollkommen gelöst sein dürfe (vgl. zit. Stahl 177f.). Die Verbindung von Wunderbarem und Einfalt, sei es als angenommene Naivität der früheren heidnischen bzw. abergläubischen Zeiten oder aber als Einfalt des Volkes, findet sich etwa auch noch in Wielands Don Sylvio (z.B. 1. Buch, „Drittes Kapitel“), wobei betont werden muss, dass der Autor dann in den Kommentaren zum eingeschobenen Birbinker-Märchen die Autonomie der Literatur gegenüber Problemen der Wissenschaft unterstreicht (6. Buch, „Drittes Kapitel“). Eine fein differenzierte Position entwickelt er in seinem späteren Aufsatz über Geistererscheinungen („Betrachtung“). Der Ausdruck findet sich immer wieder, etwa in Musäus’ „Vorbericht“ zu seinen Volksmärchen (7) oder später in Wielands „Vorbericht“ zum Hexameron (14). In den Unterhaltungen wird „die entschiedene Neigung unsrer Natur, das Wunderbare zu glauben“ erwähnt (HA 146).

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löst von einer tradierten literarischen Kodifizierung – wie etwa beim herkömmlichen Rekurs auf die altertümliche Mythologie – oder von einem verbindlichen, unangefochtenen Glaubenssystem kollidiert das Wunderbare im Laufe des 18. Jahrhunderts auch mit neuen Formen des Realismus, die im Roman sowie im bürgerlichen Drama entstehen. Andererseits geht diese etwas paradoxe Emanzipierung und Umformung des Wunderbaren in das Fantastische mit einer Hinwendung zu neu entdeckten, volkstümlichen Formen einher, wobei die Rezeption Shakespeares und Ossians, aber auch der britischen Gothic Novel, das Augenmerk auf das als Kehrseite der Vernunft bisher verpönte Dunkle, Unbeherrschbare, TriebhaftSchicksalhafte lenkt. In diesem neuen Koordinatensystem bildet das „Geisterhafte“, das auch als Phänomen in zahlreichen populärwissenschaftlichen Abhandlungen diskutiert wird (vgl. von Wilpert 98-105), ein zentrales Motiv. Es findet zunächst in der Ballade, später in epischen Formen Platz, und Goethe greift für die ersten Binnenerzählungen der Unterhaltungen darauf zurück, um dann den Bogen zur freien Fantasie des „Märchens“ zu spannen und den Erzählzyklus mit diesem „Produkt der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche“ zu führen (Brief an Schiller, 17. 8. 1795, MA 97): In seiner an Boccaccio angelehnten Sammlung spielt er also mit verschiedenen Ausformungen und Traditionen des Wunderbaren.6 2. Funktion und Wertung: die Gespenster als Publikumsköder Was Goethe mit seinen Spukgeschichten zunächst beabsichtigt, geht aus seinem Briefwechsel mit Schiller ziemlich klar hervor: Schreiben Sie mir nur durch den rückkehrenden Boten: ob Ihnen etwas von einer Gespenstermäßigen Mystificationsgeschichte bekannt sei, welche vor vielen Jahren Mdlle. Clairon begegnet sein soll? und ob vielleicht in irgend einem Journal das Mährchen schon gedruckt ist? Wäre das nicht, so lieferte ich sie noch und wir fingen so recht vom Unglaublichen an, welches uns sogleich ein unendliches Zutrauen erwerben würde. Ich wünschte doch daß das erste Stück mit voller Ladung erschiene. (An Schiller, 5. 12. 1794, MA 43f.)

Es gilt demnach, die Leser durch den Rekurs auf ein populäres Motiv zu fesseln und auf diese Weise für die neue Zeitschrift längerfristig zu gewinnen. Spuk als Publikumsköder also und zugleich als Vorspeise vor dem Hauptgericht: Wie man weiß, erscheinen die vier Geschichten des ersten 6

„Göthe [sic] war wieder eine Zeitlang mit Meyern hier, wodurch unsere schriftliche Unterhaltung unterbrochen worden ist. Er ist jetzt beschäftigt, eine zusammenhängende Suite von Erzählungen im Geschmack des Decameron des Boccaz auszuarbeiten, welche für die Horen bestimmt ist.“ (Schiller in einem Brief an Körner, 7. 11. 1794, NA 80). Diesem Vorbild gemäß spielt die Thematik der Liebe, aber eben auch der Einsatz von wunderbaren Elementen eine zentrale Rolle.

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Abends in den Unterhaltungen von der Erzählstruktur her als Zwischenstufe zwischen privatem Gespräch und literarischer Form. Sie werden von verschiedenen Figuren im Anschluss an eine Erörterung über das, „was man glauben und was man verwerfen soll“ (HA 146) gleichsam aus dem Stegreif zum Besten gegeben, und zwar in Abwesenheit der Baronesse, der die eigentlichen „Unterhaltungen“ doch „für die versammelte Gesellschaft“ versprochen wurden (HA 145). Dies leitet ein ironisches Spiel mit anekdotischer Wirklichkeit und literarischer Fiktion ein, das sich auf verschiedenen Erzählebenen entwickelt und an die doppelte Problematik der ästhetischen Wertung und der Leseart bzw. Deutung poetischer Werke gekoppelt ist. Dabei wird die besondere Stellung der vier ersten Binnenerzählungen mehrfach hervorgehoben. Sie ist zunächst, im Rahmen des Horen-Projekts, mit der Positionierung des Schriftstellers seinem Publikum gegenüber verbunden. Auf diese Problematik kommen wir noch zurück, hier sei nur bemerkt, dass Goethe sich entweder auf in Weimar kursierende Anekdoten aus dem Leben bestimmter Zeitgenossen (Mademoiselle Clairons, der Familie von Pannewitz) bezieht, oder die Memoiren einer historischen Figur, des Marschalls Bassompierre, ausdrücklich zitiert, während die späteren Erzählungen im Gegensatz dazu entweder die Bearbeitung einer literarischen Vorlage („Prokurator“-Geschichte) oder eigene Erfindung („Das Märchen“, „Ferdinand“) sind. Der Sonderstatus der vier ersten Beiträge, der den Erwartungshorizont der Horen-Leser prägt, wie man an der Reaktion der Frau von Stein ablesen kann,7 wird dann in der Rahmenhandlung der Unterhaltungen widerspiegelt und thematisiert. Die zwei ersten Erzählungen, die Gespenstergeschichten im eigentlichen Sinne, werden wie Anekdoten als angeblich reale Begebenheit von einem direkten oder indirekten Zeugen vorgetragen.8 Die zwei weiteren Rätselgeschichten werden ebenfalls in ihrer Beziehung zum Nicht-Fiktionalen vorgestellt, indem Karl sich im Namen Bassompierres zu reden erbietet (HA 161). Dabei wird das Erzählen jeweils durch die Frage nach der faktischen Wahrheit der Geschehnisse motiviert und die Reaktionen der Zuhörer betreffen auch ausschließlich diesen Punkt: Die vier Beiträge werden von den fiktiven Figuren der Rahmenhandlung nicht als literarische Kunstwerke, sondern als Rätselfälle 7

8

„Dem Goethe scheint’s gar nicht mehr Ernst um’s Schreiben zu sein, daß er die bekannte Geschichte der Mademoiselle Clairon, die er nach Italien transportiert, die vom Klopfen, welche mir vor drei Jahren Herr von Pannewitz erzählte, daß sie sich in seiner Eltern Haus zugetragen, [...] gut genug zum Inhalt eines so respektabeln Journals wie die ‚Horen‘ hält.“ Brief an Schiller, 19. 2. 1795 (zitiert nach FA 1515). In seinen Maximen und Reflexionen setzt Goethe die Anekdote ausdrücklich mit der weltmännischen Kunst des Gesprächs in Verbindung: „Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß“ (545).

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aus dem realen Leben wahrgenommen.9 Von der ersten Spukhandlung um die Sängerin Antonelli behauptet sogar der alte Geistliche als Meister aller Formen des Erzählens listig, „sie müsse wahr sein, wenn sie interessant sein solle: denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Verdienst“ (HA 156). Und die letzte Erzählung (vom „Schleier“) wird von Luise zwar mit „dem Märchen der schönen Melusine und andern dergleichen Feengeschichten“ (HA 165) verglichen, bezeichnenderweise führt sie der Erzähler Fritz aber gleich auf die eigene Wirklichkeit der Familiengeschichte zurück, die plötzlich selbst als geheimnisvoll erscheint. Im Gegensatz zur Haltung des jungen, vom Rätselhaften gefesselten Publikums hatte der Alte aber im einleitenden Gespräch mit der Baronesse und Luise, wo er seine Sammlung privater Geschichten als Ersatz für die Verbannung der politischen Gespräche zur Unterhaltung der Gesellschaft anbot, auf eine ganz andere Art der Wirkung und Aufnahme hingedeutet. Da unterstellt er nämlich die spannende Form seiner Erzählungen mit ihrer „geistreiche[n] Wendung“ den klassischen Funktionen der Literatur, die belehren und gefallen soll (HA 142f.), wobei die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit im Vorgang des Erzählens aufgehoben werden. Der Alte weist ausdrücklich auf diesen poetischen Fiktionalisierungsprozess hin und warnt gleichzeitig vor der Deutung seiner Geschichten im Sinne der Schlüsselromane. Auf Luises Bemerkung, er könne doch nicht verhindern, dass man „Freunde und Nachbarn“ wieder erkennt, antwortet er: Sie werden mir aber auch dagegen erlauben, in einem solchen Falle einen alten Folianten hervorzuziehen, um zu beweisen, daß diese Geschichte schon vor einigen Jahrhunderten geschehen oder erfunden worden. Eben so werden sie mir erlauben, heimlich zu lächeln, wenn eine Geschichte für ein altes Märchen erklärt wird, die unmittelbar in unserer Nähe vorgegangen ist, ohne daß wir sie eben gerade in dieser Gestalt wieder erkennen. (HA 145)

Die „moralischen Erzählungen“ des folgenden Tages werden dementsprechend als autonome Erzählungen aufgenommen und einerseits im Hinblick auf eine ethische Problematik kommentiert, andererseits in den Erörterungen über Technik und Relevanz der „Parallelgeschichten“ (HA 187) literarisch besprochen. Der Unterschied zwischen dem „alten Folianten“ („Prokurator“-Geschichte) und der unmittelbaren „Nähe“ (der Alte kennt seinen Helden Ferdinand persönlich) ist nicht mehr relevant. Dieser Schritt zur Literatur hin ist oft betont worden. Formell drückt sich diese Entwicklung auch darin aus, dass der Geistliche, nunmehr alleiniger Erzähler, in Anwesenheit der Baronesse sein Versprechen förmlich einlöst und dabei ihren „hohen und strengen Forderungen“ Genüge leisten muss (HA 167). Wenn man nun diese Maßstäbe ernst nimmt, könnte man darin eine weitere nachträgliche Kritik der „Mystificationsgeschichten“ sehen, mit denen 9

Wie Gerhard Fricke schon bemerkte (276-78).

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Goethe sein Publikum zunächst locken möchte. Im Anklang an ein früheres Streitgespräch zwischen Luise und dem alten Geistlichen über die Sucht nach Neuheit – sowie auch an Schillers Ankündigung der Horen10 – erklärt sie nämlich ihre Abneigung gegen die leichtsinnige Neugier, also auch gegen „rhapsodische Rätsel“ und ihre „nur durch seltsame und keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe“ erzeugte Spannung (HA 166). Eben diese Merkmale zeichnen aber die Form der Gespenstergeschichte aus und erklären auch, wie Gero von Wilpert bemerkt, ihre im Laufe der Zeit wiederholte Abqualifizierung als eine Art von Trivialliteratur, die „mit reißerischen, grellen Spannungseffekten auf bloßen Nervenkitzel abziele“ (44).11 Am anderen Ende der dreistufigen, traditionell als steigend betrachteten Erzählstruktur der Unterhaltungen wird „Das Märchen“ durch eigene Betitelung und abschließende Stellung ohne Rückkehr zur Rahmenhandlung hervorgehoben. Es ist auch der einzige Beitrag, der nicht durch eine Parallelgeschichte verdoppelt wird, ein Unikat also.12 Daher kann es als Gegenpol zu den ersten Erzählungen erscheinen. In der einleitenden Diskussion kommt Karl auf die anfängliche Problematik von Fiktion und Wirklichkeit zurück, wobei sich die Perspektive nun auf die Gegenüberstellung von Märchenhaft-Wunderbarem und mimetischer Darstellung verschiebt: Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen; nur mag ich nicht gern, wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten will. Die luftigen Gestalten, die sie erschafft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen; verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruch zu stehen. (HA 208f.)

Die anfänglichen Spuk- und Rätselgeschichten muss man in dieser doppelten Beleuchtung sehen: Als fingierte Anekdoten stellen sie angeblich nicht fiktionale Ereignisse, dar, die in ihrer Unerklärbarkeit auch noch die Tore des Imaginären öffnen. Wenn man diese Analyse nun über die besondere Erzählstruktur der Unterhaltungen hinaus auf den Typus der Gespenstergeschichte (als Beispiel des Fantastischen im engeren Sinn) verallgemeinert, erscheint diese Erzählform doppelt problematisch: Sie fördert einerseits tendenziell eine naive Rezeption, indem das Geheimnisvolle der literarischen Fiktion an den Naturgesetzen gemessen wird, vermischt andererseits 10 11 12

„Man wird sich, soweit kein edlerer Zweck darunter leidet, Mannigfaltigkeit und Neuheit zum Ziele setzen, aber dem frivolen Geschmack, der das Neue bloß um der Neuheit willen sucht, keineswegs nachgeben“ (Schiller, „Vorrede“ V-VI). Über die Gegenüberstellung von packendem und gesitteterem Erzählen in den Unterhaltungen, vgl. Mielke 218-20. Goethe unterstreicht diese Sonderstellung in einem Brief an Schiller (21. 08. 1795): „Mehr ein Uebersprung als ein Uebergang vom bürgerlichen Leben zum Mährchen ist mein diesmaliger Beitrag geworden“ (MA 101).

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Naturnachahmung und Wunderbares (das Fantastische im weiteren Sinne), was Karl in einer im Grunde klassizistischen Perspektive tadelt. Im Gegensatz dazu bewegt sich „Das Märchen“, das von der Kritik auch oft als Meisterstück des Zyklus angesehen worden ist, auf der Ebene der reinen, freien Fantasie, die – so der Alte – „von ihren eigenen Flügeln getragen [...] die wunderlichsten Bahnen“ beschreibt (HA 209). Man sollte sich jedoch davor hüten, diese Polarität einseitig zu bewerten und die Gespenstergeschichten als bloße Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack und Kritik einer der mimetischen Vortäuschung erliegenden Aufnahme des literarischen Kunstwerks anzusehen, bei der eine fiktionale Erzählung als faktischen Bericht ohne ästhetische Distanz aufgefasst wird. Eine Hauptschwierigkeit der Unterhaltungen liegt im ironischen Abstand zwischen Autor und Figuren. So ist die Baronesse zwar Sprachrohr Schillers, dessen ästhetisch-erzieherisches Programm für die Horen sie in ihrem Kreis mit der Einladung zu „belehrende[n] und aufmunternde[n] Gespräche[n]“ unter Ausschluss der (revolutionären) Tagespolitik als Gesetz formuliert (HA 139), aber ihre Verurteilung der Erzählungen „nach Weise der Tausend und eine Nacht“ mit ihren verwirrenden Unterbrechungen und Verschachtelungen (HA 166), steht im krassen Gegensatz zu Goethes erklärter Absicht, „wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren“ (an Schiller, 2. 12. 1794, MA 42) und durch narrative Pausen und Verrätselung Spannung zu erzeugen. Dies gilt übrigens auch für „Das Märchen“, das er nicht als Ganzes liefern wollte, „weil eben bei so einer Production eine Hauptabsicht ist die Neugierde zu erregen“13. Auch Karls Forderung einer Trennung zwischen Fantasie und Wirklichkeit soll mit Vorsicht analysiert werden, nicht zuletzt weil er sie gerade in dem Augenblick formuliert, als seine (fiktive) Realität in Form der gleichzeitig geborstenen Schreibtische sich der rationalen Erklärung entzieht und die Einbildungskraft erst recht in Bewegung setzt.14 Diese Kontamination der Rahmenhandlung mit dem Rätselhaften, das das gesamte Erzählgerüst plötzlich als „Mystificationsgeschichte“ erscheinen lässt, erlaubt es auch 13

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An Schiller, 3. 9. 1795. Goethe fügt auch hinzu (MA 105): „Es wird zwar immer auch am Ende noch Rätsel genug bleiben.“ Diese Ästhetik der Unterbrechung ist ein Streitapfel zwischen Goethe und Schiller, der im Briefwechsel der Jahre 1794/95 immer wieder betont, dass das Publikum die Übersicht über das Erzählte braucht, und sich im Falle des Märchens doch durchsetzt. So schreibt er am 15. 5. 1795 (MA 77): „[...] viele sind auch an ihren Unterhaltungen irre, weil sie, wie sie sich ausdrücken, noch nicht absehen können, was damit werden soll.“ In seinem Brief vom 9. 2. 1796 hat Wilhelm von Humboldt die Beziehungen zwischen Fantasie und Wirklichkeit nach seiner Lektüre des „Märchens“ viel differenzierter analysiert und hebt die Leistung der Fantasie als künstlerische Fähigkeit sowohl in der wirklichkeitsnahen „natürlichen Erzählung“ wie auch im willkürlicher zusammengestellten Märchen hervor. In beiden Fällen geht es letztlich um dichterische Kohärenz, wobei man im ersten Fall „den Gang der Wirklichkeit zum freien Schwunge der Phantasie vergeistigt“, im zweiten „den Gang der Phantasie zum Lauf der wirklichen Begebenheiten verkörpert“ sieht (zit. FA 1529f.).

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von der Erzählstruktur her, die oft angenommene ästhetische Hierarchisierung der verschiedenen narrativen Beiträge in Frage zu stellen. Dies heißt wiederum nicht, dass Goethe sich der modischen Gespenstergeschichten kritiklos bedienen würde. Oft ist daran erinnert worden, dass die Unterhaltungen im Kontext einer Auseinandersetzung mit dem Publikum zu verstehen sind, wobei Goethes Bezugnahme auf Schillers Programm einer ästhetischen Erziehung sehr verschieden analysiert wird.15 In seiner ersten Epistel, die wie der Anfang des Zyklus im ersten Stück der neu gegründeten Zeitschrift (Januar 1795) erscheint, drückt Goethe einerseits eine gewisse Skepsis gegenüber der Möglichkeit aus, über „die gedruckte Columne“ das Publikum nachhaltig zu beeinflussen, erwähnt dabei aber, nicht ohne Ironie, die Notwendigkeit, mit erzählten Geschichten zu „schmeicheln“, wenn man sich Gehör verschaffen möchte.16 So begründet auch der von Luise angegriffene alte Geistliche seine Rolle als gewöhnlicher Unterhalter damit, dass er von der Gesellschaft abhängig ist und sich der öffentlichen frivolen Neugier anpassen muss.17 Dementsprechend stellt er (alle) seine Geschichten als „leichten Nachtisch“ dar: nicht besonders wertvoll, aber immerhin „nicht unschmackhaft“ (HA 146). In ihrer Bescheidenheit sollen diese „Privatgeschichten“ jedoch nicht nur „erheitern“ oder „ergötzen“, sondern dem Zuhörer auch „die menschliche Natur […] eröffnen“, „Verstand [und] Gemüt berühr[en] und beschäftig[en]“, „einen Augenblick reiner und ruhiger Heiterkeit“ gewähren (HA 142f.). Dies widerspricht zunächst nicht dem erklärten Ziel der Horen, sich „einer heiteren und leidenschaftlichen Unterhaltung“ zu widmen oder aber „eine fröhliche Zerstreuung [zu] gewähren“, um doch „sowohl spielend als ernsthaft […] wahre Humanität zu befördern“ (Schiller „Vorrede“ IVV)18 – eben diese Absicht spiegelt auch Goethes doppeldeutiger Titel 15

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Vgl. zur Anlehnung Goethes an Schillers Projekt vs. Gegenentwurf, etwa Gaier oder Bräutigam. Hartmut Reinhardt kommt auf die verschiedenen Positionen zurück und kritisiert dabei die These einer Opposition Goethes zu Schillers Projekt. Zum Problem der Auseinandersetzung mit dem Publikum vgl. die Beiträge Brandts und Reeds in Barner, Lämmert und Oellers. „Was mein leichter Griffel entwirft ist leicht zu verlöschen, / Und viel tiefer präget sich nicht der Eindruck der Lettern / Die, so sagt man, der Ewigkeit trotzen; denn freylich an viele / Spricht die gedruckte Columne, doch bald, wie jeder sein Antlitz, / Das er im Spiegel gesehen, vergißt, die behaglichen Züge, / So vergißt er das Wort wenn auch von Erze gestempelt. / […] Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du / Schmeicheln, sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Königen, allen / Magst du Geschichten erzählen worinn als wirklich erscheinet, / Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten.“ („Erste Epistel“ 2f.). „[…] wir andern, die wir von der Gesellschaft abhängen, müssen uns nach ihr bilden und richten […]; und lästiger ist ihr in der Welt nichts, als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert.“ (HA 142). Auch sollen die von der Baronesse im Anklang daran geforderten „belehrende[n] und aufmunternde[n] Gespräche“ sowohl die Wissenschaft als auch die Literatur betreffen (HA 139) – Schiller erwähnte seinerseits seine Absicht, in den Horen die „Scheidewand“, die „die schöne Welt von der gelehrten […] trennt“ aufzuheben („Vorrede“ V).

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wider. Im Hinblick auf diese alte Regel des docere et delectare, die dem leichten Genuss eine eigene Rolle zuweist, könnte man in der dreistufigen Ordnung der Binnenerzählungen ein Spiel mit verschiedenen populären Formen entdecken, die als modische Erscheinungen ein breites Publikum leichter zu erreichen vermögen: die Geistergeschichte ebenso wie das „Familiengemälde“ (HA 187) und das Märchen.19 Dabei werden aber auch Abweichungen und Experimente möglich: Variationen über das Rätselhafte, Übungen in der „genaue[n] Darstellung dessen, was in den Gemütern“ vorgeht (HA 187-188) und freies Fantasieren. Was „moralische Erzählungen“ und Märchen betrifft, hat die Kritik das Neue und Modellhafte der dargebotenen Texte längst erkannt und die prägende Rolle von Goethes Zyklus für die Entstehung der deutschen Novelle bzw. für die Entwicklung des Kunstmärchens betont.20 Wie verhält es sich nun mit dem ‚Geisterhaften‘? 3. Dekonstruktion des Schauereffektes und Verrätselung Schon Lessing und Wieland wussten, dass man die Gespenster, deren Realität sie beide als unentscheidbare Frage betrachteten,21 eigentlich aus 19

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Genau diese Bezugspunkte nimmt später auch Wieland in der „Vorrede“ zum Hexameron wieder auf, wo die „sentimentalische[n] Alltagsgeschichten und idealische[n] Familienscenen“ (13) vor den Märchen und Geistergeschichten geprüft werden. Und schon Musäus positioniert seine Volksmärchen als „Spielwerke der Phantasie“ gegen die „leidige Sentimentalsucht in der modischen Buchmanufaktur“ (6) – eine ähnliche Perspektive findet man beim jungen Tieck, etwa in Peter Lebrecht (1795). Dieses Spiel mit vorgegebenen Mustern wird etwas listig durch die Persönlichkeit der Figur unterstrichen, die es jeweils verlangt: So wünscht sich gerade Luise, die vorher über das Skandalöse herzieht, geisterhafte Sensationsgeschichten; die erbaulichen Erzählungen sind der Baronesse als leicht ironisierte Stimme Schillers gewidmet; das Märchen soll den Rationalisten Karl befriedigen. Günter Dammann hat die Unterhaltungen schon in einer intertextuellen poetologischen Perspektive gedeutet, allerdings mit Bezug auf die kurze Erzählung die Analyse anders akzentuiert. Gerhard Neumann erinnert z. B. daran, dass die Forschung die „Neubegründung novellistischen Schreibens“ in Deutschland mit den Unterhaltungen sowie mit Schillers „Verbrecher aus Infamie“ verknüpft (433). Im „Märchen, durch das man an nichts und an alles erinnert werden“ soll – so die Formulierung des Geistlichen (HA 209), die auch das Experimentelle betont – hat schon Wilhelm von Humboldt „das erste Muster dieser Gattung“ erkannt (Brief an Goethe, 9. 2. 1796, zitiert nach FA 1529). Dass Goethe auch hier mit bekannten Mustern bricht, lässt sich etwa an Wielands Reaktion ablesen, der u. a. den Mangel an Einheit tadelt (Gespräch mit Karl August Böttinger, 15. 11. 1795, FA 1527). Ferner irritiert „Das Märchen“, wie W. v. Humboldt bemerkt, eben weil es ein „leichtes schönes Spiel der Phantasie“ ist, das sich aber nicht so leicht deuten lässt (an Schiller, 4. 12. 1795, FA 1528). In seinem Aufsatz über die Geistererscheinungen spricht Wieland vom „Unvermögen, ihre Unmöglichkeit zu beweisen“ („Betrachtung“ 234). Ähnlich vor ihm Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie“: „Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heißen: in dieser Sache, über die sich fast ebensoviel dafür als darwider sagen läßt, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwärtig herrschende Art zu denken den

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Erzählungen kennt.22 Die Vorstellungen, die wir davon haben, entsprechen also bestimmten vorgegebenen Topoi. Lessing, der die philosophischwissenschaftliche Frage der Existenz von Gespenstern und das ästhetische Problem ihrer Darstellung ausdrücklich trennt,23 betont im 11. Stück der „Hamburgischen Dramaturgie“ die Rolle dieser Kodifizierung: „Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, dünket mich kein rechtes Gespenst zu sein […]“ (239). Eben weil sie gegen die Konvention verstößt, kritisiert Lessing die Erscheinung des Geistes (Ninus) in Voltaires Semiramis als lächerlich, im Gegensatz zu Shakespeares Spukszene in Hamlet. Beim Vergleich der beiden Tragödien werden die erwarteten Merkmale einer ‚guten‘ (in diesem Fall theatralischen) Gespensterdarstellung deutlich: diese sind mit dem volkstümlichen Unheimlichen, Feierlich-Nächtlichen, Schaurigen, das wir „von der Amme an“ kennen (Lessing 239), verbunden, und der Dichter muss sich auf „diese gemeinen Umstände“ einlassen und davor hüten, den heraufbeschworenen Geist zu veredeln (ebd.). Goethe seinerseits greift aber auf eine sehr eigenwillige Art auf dieses Tradierte zurück, wobei man von einer Dialektik der Dekonstruktion und Erneuerung reden könnte. Gero von Wilpert beobachtet, dass die meisten Gespenstergeschichten durch die Triade Spannung – Steigerung – Lösung strukturiert sind, wobei sie mit der Angst spielen.24 Gerade diese Merkmale nimmt Goethe in seinen Geistergeschichten stufenweise zurück. Wie Wil-

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Gründen darwider das Übergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen“ (238). Auch der Alte unterscheidet in den Unterhaltungen zwischen dem, was man glauben will oder nicht will, und Phänomene, über die wir keine Gewissheit haben: „Ich finde am bequemsten, daß wir dasjenige glauben, was uns angenehm ist, ohne Umstände das verwerfen, was uns unangenehm wäre, und daß wir übrigens wahr sein lassen, was wahr sein kann“ (HA 146). „Von Kindheit an mit Gespenstergeschichten genährt, […] gewöhnt sich unsere Phantasie, die Gespenster und die übrigen Geister, deren Daseyn auf der Tradition beruht, als Einwohner jener unsichtbaren Welt anzusehen, in welche dereinst überzugehen unser Schicksal sein wird“ (Wieland, „Betrachtung“ 236). „Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am häufigsten, für die er vornehmlich dichtet. Es kömmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Käumen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so mögen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater müssen wir glauben, was Er will“ (238). In Anlehnung an Dietrich Weber unterscheidet von Wilpert je nachdem, ob der Schluss rational, irrational oder schwebend ist, drei verschiedene Arten von Erzählungen – nach Webers Terminologie die „rationale“, die „phantastische“ und die „mysteriöse Gespenstergeschichte“ – wobei er treffend bemerkt, dass die letzte Kategorie mit Todorovs Definition des Fantastischen durch das Unschlüssigkeitskriterium zusammenfällt (von Wilpert 47-49, ferner 49-54 über die Angst).

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pert weiterhin bemerkt, liefert die Geschichte der Sängerin Antonelli das sehr seltene Beispiel einer Inversion dieser Erzählkurve, indem der akustische Spuk langsam verklingt (von Wilpert 47). Dieses Prinzip des Abflauens strukturiert den ganzen zweiten Teil des Textes, der der mehrfachen rätselhaften Manifestation gewidmet ist. Auf der Ebene des gesamten Geschehens drückt sich das darin aus, dass der Spuk zunächst in Form einer „unglaublich schreckhafte[n]“ Klage (HA 152) hörbar wird, wodurch die Sängerin erkrankt, dass er dann als bedrohlicher Schuss ertönt, was sie etwas gefasster erträgt, und schließlich recht angenehm als Händeklatschen und beinahe „himmlische“ Musik (HA 156) zu vernehmen ist, womit er sich auch endgültig verabschiedet. Auch in der Mikrostruktur jeder Episode findet man Momente der Entspannung zwischen den jeweiligen Phänomenen: Diese wiederholen sich nämlich, wobei die Sängerin nach anfänglichem Schrecken sich daran zu gewöhnen scheint, bis eine erneute, gesteigerte Manifestation sie wieder kräftiger verstört, als ob der hypothetische Geist sich richtig darum bemühen müsste, mit Schrecken wahrgenommen zu werden. Die Ironie, die in dieser dekonstruktiven Behandlung des Spukhaften steckt, findet man sozusagen als Miniatur im Spiel mit dem Topos der Geisterstunde wieder. Die Klage ertönt erwartungsgemäß immer „gegen Mitternacht“ (HA 152), aber die Schüsse rücken vor und sind „genau eine Stunde vor Mitternacht“ schon zu vernehmen, was wiederum nicht so sehr von Belang ist, da „nach der italienischen Uhr […] Mitternacht eigentlich keine Epoche macht“ (HA 154). Das Hinzufügen des Klopfgeist-Vorfalls als Parallelgeschichte, wie sich die Baronesse bei einem späteren Anlass ausdrücken wird, setzt diese Dekonstruktion fort. Einerseits makrostrukturell, weil dieses zweite Beispiel – im Gegensatz zu den verdoppelten „moralischen Geschichten“ – von vornherein als schwaches Echo hingestellt wird, was damit zusammenhängt, dass es von einem weniger geübten Erzähler (Fritz) eigentlich nur vorgeschoben wird, um zudringlichen Fragen über seine noch nicht ausgereifte Interpretation der ersten Geschichte auszuweichen. Andererseits auch in der internen Handlungsstruktur, weil der akustische Spuk wieder einmal ohne sensationelle Offenbarung spurlos verklingt. Man könnte sogar sagen, dass das ‚Geisterhafte‘ wie durch eine narrative Metalepse aus der Erzählung regelrecht ausgetrieben wird, indem der Hausherr zur „Hetzpeitsche“ greift und somit dem Spuk ein ebenfalls unerklärtes Ende setzt (HA 158). Und auch diese Vertreibung der Geister setzt sich in der Folge fort: in der ersten, ziemlich treu übernommenen BassompierreGeschichte bleibt nur das Rätselhafte erhalten, das Gespenstische ist aber verschwunden, während es in der Umschreibung der zweiten Bassompierre-Episode durch das tradierte Märchenhafte – in verhüllter Form – er-

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setzt wird.25 Mit dieser Abkoppelung von Rätselhaftem und SchauerlichWunderbarem, deren Zusammenführung eine Signatur der Geistergeschichte sowie überhaupt des Fantastischen im engeren Sinne ist, wird das ‚Geisterhafte‘ sozusagen aus dem Zyklus verabschiedet. Paradox ist dabei zunächst, dass die Ästhetik der gespenstischen Verrätselung, wie schon bemerkt, auf die Rahmenhandlung übergegriffen hat, indem der Deckel eines soliden Röntgen-Arbeitstisches plötzlich auf unerklärliche Weise zerspringt. Damit treibt Goethe sein ironisches Spiel weiter. Der Vorfall ereignet sich nämlich gerade in dem Augenblick, in dem Karl eine genaue, wissenschaftliche Untersuchung von zweifelhaften Begebenheiten wünscht, nachdem die jungen Leute an beiden Geistergeschichten erfolglos herumgedeutelt haben. Als listiger Demiurg liefert der Schriftsteller seinen Figuren prompt die gewünschte Gelegenheit, ihren kritischen Verstand auszuüben. Wie der skeptische Alte dazwischen bemerkt, scheint es aber, „dass uns immer die nötigen Instrumente abgehen, wenn wir Versuche auf Geister anstellen wollen“ (HA 160), und ein neues Ereignis – der Brand auf dem benachbarten Gut einer Tante, wo ein Zwillingsschreibtisch steht – bringt sie auch schnell von ihren Messgeräten weg. Ein „wunderlicher Gedanke“ (ebd.) des Fritz ersetzt nun die rationale Untersuchung, wobei eine „Sympathie zwischen Hölzern“ erörtert und schließlich als mögliches Naturphänomen für wahrscheinlich erklärt wird (HA 161). Gerade diese Annahme wird am nächsten Tag zumindest faktisch bestätigt: der zweite Schreibtisch ist tatsächlich in eben dem fatalen Augenblick – geistermäßig rechtzeitig kurz vor Mitternacht – abgebrannt. Aber eher als um eine bedrohliche Rückkehr des Gespenstischen in der Rahmenhandlung geht es wieder einmal um eine Ironisierung – hier spuken, wenn überhaupt, Möbelstücke. Darüber hinaus drückt sich in dieser Episode ein weiteres Merkmal der Unterhaltungen aus, nämlich eine tendenzielle Verrätselung der Welt, in der dem ohnmächtigen Beobachter nichts anderes übrig bleibt, als unverständliche Fakten jenseits aller Erklärungsversuche an sich interessant zu finden und Natur- sowie Geschichtsforschung als Täuschung zu erklären.26 Jürgen Söring hat im Hinblick auf die französische Revolution dieses Stocken als Verlust der rationalen Kontrolle über die Welt politisch 25 26

Anders als in der französischen Vorlage, wird die Geschichte des Schleiers nicht von vornherein mit der märchenhaften Figur einer Fee verbunden, sondern erst im Nachhinein durch die Deutung Luises, die an Melusine denkt. „Überhaupt, sagte Karl, scheint mir, dass jedes Phänomen, so wie jedes Faktum an sich eigentlich das Interessante sei. Wer es erklärt oder mit anderen Begebenheiten zusammenhängt, macht sich gewöhnlich eigentlich nur einen Spaß und hat uns zum besten, wie zum Beispiel der Naturforscher und Historienschreiber“ (HA 161). Vom Naturforscher Goethe für den Historienschreiber Schiller geschrieben, ist die Bemerkung besonders pikant und eben als Ironisierung der Figur zu verstehen.

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interpretiert und dadurch die von der Kritik vernachlässigten Geistergeschichten seinerzeit aufgewertet. Darin ist auch ein Spiel mit dem Auslegungstrieb der Leser zu erkennen, das die Spukgeschichten kennzeichnet und dann im „Märchen“ gipfelt – man weiß aus mehreren Zeugnissen in Briefen wie in den Xenien, dass Goethe daran große Freude hatte.27 Auch behauptet er damit die Autonomie der Literatur, deren Geheimnisse eben nicht realer, sondern fiktiv-symbolischer Natur und nicht mit einer naturwissenschaftlichen Apparatur erforschbar sind. Die Verrätselung des Erzählten ermöglicht aber paradoxerweise, über die ironische Dekonstruktion des Gespenstischen hinaus, eine eigentlich Bahn brechende Erneuerung des Genres. Das Unbegreifliche in den meisten Geistergeschichten der Zeit ist eben nicht wirklich rätselhaft: Es steht zwar zu einem meist historisch-realistischen Kontext im Widerspruch, kann aber jenseits dieses Rahmens, wenn man etwa eine Kontinuität zwischen Tod und Leben zweifelsfrei voraussetzt, oft im Hinblick auf alte unabgetragene Schulden oder unüberstandene Traumata kohärent erklärt und dadurch auch moralisch legitimiert werden. In einigen Geistergeschichten oder -romanen der Zeit wird sogar die Legende vorausgeschickt, wie in Musäus’ „Die Entführung“ (1787, in: Volksmärchen 797816), oder der Geist gleich als Geist eingeführt wie in Spiess’’ Petermännchen (1791). Ganz anders in den Unterhaltungen. So kann in der Geschichte der Antonelli wie in moderneren fantastischen Erzählungen der Spuk nur durch eine Reihe von Indizien und Koinzidenzen mit dem verstorbenen Liebhaber28 identifiziert werden, wobei die Weichen für eine solche Deutung durch die Vorstellung der Geschichte als ‚geisterhaft‘ im Voraus gestellt worden sind. Der Geistliche bestätigt zwar diese Interpretation nachträglich mit der Autorität des direkten Zeugen,29 überzeugt seine Zuhörer jedoch nicht ganz. Wenn man immerhin das gängige Schema einer posthumen Rache als mögliche Auslegung in dieser ersten Geistergeschichte rekonstruieren darf, fehlt dann eine solche Möglichkeit in der Klopfgeist-Erzählung vollkommen. Wie in der Rahmenhandlung bleibt man mit nackten Fakten konfrontiert, die in kein Deutungsschema oder Denksystem zu integrieren sind – einige diskrete erzählerische Leerstellen um die nie gelieferten Erklärungen des Fritz zeugen auf eine andere Weise 27

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Zwei Beispiele: „Ich hoffe die achtzehn Figuren dieses Dramatis sollen, als so viel Rätsel, dem Rätselliebenden willkommen sein.“ (Goethe an Schiller, 26. 9. 1795, MA 112.) „Mehr als zwanzig Personen sind in dem Märchen geschäftigt. / „,Nun, und was machen sie denn alle?‘ Das Märchen, mein Freund.“ (Xenien, HA 213.) Etwa die Zeit der ersten akustischen Manifestation, kurz vor Mitternacht, nachdem die Sängerin ihrem sterbenden Freund einen letzten Besuch verweigert hat; oder die Tatsache, dass ein Schuss vom Haus des Verstorbenen fällt. „[...] und nur zu sehr mußten wir erfahren, dass man auch jenseits des Grabes Wort halten könne“ (HA 157).

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von der gleichen Tendenz. Dies eröffnet den Weg zu neuen Formen der Fantastik, wie man sie bald bei Tieck, Kleist oder Hoffmann finden wird, was nicht das geringste Paradox dieser goetheschen Experimente ist. Literaturverzeichnis Adelung, Johann Christoph. „Fantast, der“. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig: 1796. 41. Barner, Wilfried, Eberhard Lämmert und Norbert Oellers, Hg. Unser Commercium: Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart: Cotta. 1984. Brandt, Helmut. „Die ‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum.“ Barner, Lämmert und Oellers 19-35. Bräutigam, Bernd. „Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten“. Zeitschrift für deutsche Philologie 96 (1977): 508-38. Dammann, Günter. „Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ als Essay über die Gattung der kürzeren Prosaerzählung im 18. Jahrhundert“. Der deutsche Roman der Spätaufklärung: Fiktion und Wirklichkeit. Hg. Harro Zimmermann. Heidelberg: Winter, 1990. 1-24. Durst, Uwe. Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit Verlag, 2007. Fricke Gerhard, „Zu Sinn und Form von Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘“. Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann. Hg. Walter Müller-Seidel und Wolfgang Preisendanz. Hamburg : Hoffmann und Campe, 1964. 273-93. Gaier, Ulrich. „Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung: Goethes Rahmen der ‚Unterhaltungen‘ als satirische Antithese zu Schillers ‚Ästhetischen Briefen‘ I-IX“. Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Hg. Helmut Bachmaier und Thomas Rentsch. Stuttgart: Klett, 1987. 207-72. Gottsched, Johann Christian. Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen. 1730. Schriften zur Literatur. Hg. Horst Steinmetz. Stuttgart: Reclam, 1972. 12-196. Goethe, Johann Wolfgang. „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. 1795. Goethes Werke. Bd. VI. Hg. E. Trunz. München: Beck, 1988. 123241 [= HA: Hamburger Ausgabe]. —. „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. 1795. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 9. Hg. W. Vosskamp und H. Jaumann. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag, 1992. 993-1119 [= FA: Frankfurter Ausgabe]. —. „Erste Epistel“. Die Horen. 1. Bd. 1. Stück. Januar 1795. 1-6. —. „Maximen und Reflexionen“. HA. Bd. XII. 365-547.

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Wieland, Christian Martin. „Betrachtung über den Standpunct, worinn wir uns in Absicht auf Erzählungen und Nachrichten von Geistererscheinungen befinden“. Der Teutsche Merkur 2 (1781): 226-39. —. Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. 1796. Hg. Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart, Reclam, 2001. —. Das Hexameron von Rosenhain. Sämtliche Werke. Bd. 38. Leipzig: Göschen, 1805. von Wilpert, Gero. Die deutsche Gespenstergeschichte: Motiv – Form – Entwicklung. Stuttgart: Kröner Verlag, 1994. Witte, Bernd. „Das Opfer der Schlange: Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘“. Barner, Lämmert und Oellers 461-84.

Fantastik in genregeschichtlicher Sicht Zur Konstitution des Schauer- und Schreckensromans in der deutschsprachigen Belletristik um 1800 JÖRG SCHÖNERT The Fantastic from a Historical Genre Perspective. Constitution of Gothic Novels in German Literature around 1800 The constitution of ‘popular literature’ in German falls around the turn of the 18th to the 19th century, facilitated and favored by newly founded commercial lending libraries as a means of distribution, for whose customers tales of knights, bandits, monasteries and ghosts were favorite reading materials. This genre has been labeled according to its aesthetic appeal as a literature of terror (Schauer- und Schreckensliteratur) one of the more interesting contributions to the genre will be analyzed here: Ottokar Sturm (pseudonym for Friedrich E. Rambach) Die eiserne Maske: eine schottische Geschichte (1792). In 1791 the author (1767-1826) had been appointed as a professor at the renowned Friedrich-Werdersches Gymnasium in Berlin, where in the graduating class one of his students was Ludwig Tieck, only five years his junior. Rambach enlisted Tieck for his ‘Schreibwerkstatt’ (writing workshop) and had him develop the last chapter of Die eiserne Maske. In it Tieck described the self-destruction of the anti-hero Ryno. The fantastic reality of ghosts and haunts therein is not conceptualized as a consequence of supernatural powers, but consistently as a phenomenon of the dysfunctional cognition of Ryno himself, driven by passionate fantasies and traumata of guilt. These phenomena are constituted in the novel as a means of intermediation of the ‘as if’ of the imagination – similar to what Tieck himself has described as real affects he had experienced when reading fantastic literature.

Vorab und pauschalisierend zum Terminus der Fantastik: Ich benutze ‚Fantastik‘ und ‚fantastisch‘ als einen intermedial relevanten ‚umbrella term‘ – so vor allem für ein literarisches Genre-Spektrum von Mythos und Märchen bis hin zur Science Fiction. Fantastik wäre anzusehen als ein Fiktionalitätstypus mit spezifischen und deutlich markierten Abweichungen in der Repräsentation von ‚Wirklichkeit‘, d.h. in der Referenz auf das, was jeweils in den relevanten kulturellen Konstellationen als ‚Wirklichkeit‘ gilt. Im Zeitraum zwischen 1750 und 1850 werden in der deutschsprachigen Literatur drei ‚Fantastik-Genres‘ besonders wichtig: das Kunstmärchen, die

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Gespenster- und Geistergeschichte sowie der Schauer- und Schreckensroman, das deutsche Pendant zur Gothic Novel. 1 Die (erste) ‚Lese-Revolution‘ erfasst den deutschsprachigen Raum bekanntermaßen im ausgehenden 18. Jahrhundert; sie geht einher mit der programmatischen Konstitution von ‚Unterhaltungsliteratur‘, die ihren bevorzugten Distributionsort in den neu entstehenden kommerziellen Leihbibliotheken findet und in der Regel von der etablierten Literaturkritik missachtet wird. Für die Leihbibliotheken sind ein wichtiges ‚Lesefutter‘ die Ritter-, Räuber-, Kloster- und Geistergeschichten (vgl. Schönert „Zur Typologie“), die eine Lektüre-Alternative zum sog. Empfindsamen Familienroman bilden. Brieflich bezeugt ist Heinrich von Kleists Besuch in einer Würzburger kommerziellen Leihbibliothek im September 1800; er fand dort nichts zu Wieland, Goethe oder Schiller, sondern die Regale waren vollgestellt mit – unspezifisch mittelalterlichen – Rittergeschichten: zur rechten Hand fanden sich die Rittergeschichten mit Gespenstern, zur linken Hand die ohne Gespenster.2 Die Ritter-, Räuber-, Kloster- und Geistergeschichten hatten ihre Hochkonjunktur im Zeitraum von 1785 bis 1815 mit Autoren wie Karl Grosse, Christian Heinrich Spieß oder Heinrich Zschokke, wie Johann F. E. Albrecht, Ignatz F. C. Arnold, Johann E. D. Bornschein, Joseph A. Gleich, August H. Kerndörffer, August J. L. Leibrock. Friedrich E. Rambach, Karl A. G. Seidel oder Kajetan Tschink. Das Romanwerk dieser Autoren war durchaus auch den literarisch gebildeten Lesern bekannt; so schloss beispielsweise Tiecks Privatbibliothek Buchpublikationen der hier Genannten ein. In einem Brief an Wackenroder vom 12.06.1792 berichtet Tieck, wie er Freunden in einer vielstündigen Sitzung den Roman Der Genius von Karl Grosse vorgelesen hatte und dabei – angeregt durch die Affekte stimulierende Darstellung – in eine Angst-Halluzination verfiel, deren rhetorische Gestaltung den Schauer- und Schreckens-Mustern des Fantastik-Genres folgt, dem der gelesene Roman zugehört: ich stand gedankenvoll mit dem Arm auf einen Stuhl gelehnt, in jener schönen erhabnen Schwärmerei verlohren, nur für Schönheit empfänglich ... als plötzlich ... als wie in einem Erdbeben alle diese Empfindungen in mir versanken, alle schönen grünenden Hügel, alle blumenvollen Thäler gingen plötzlich unter, und schwarze Nacht und grause Todtenstille, gräßliche Felsen stiegen ernst und furchtbar auf, jeder liebliche Ton wie verweht, Schrecken umflog mich, Schauder, die gräßlichsten bliesen mich an, alles ward um mich lebendig, Schatten jagten sich schrecklich um mich herum, mein Zimmer war als flöge es mit mir in eine fürchterliche schwarze Unendlichkeit hin, alle meine Ideen stießen gegen einander, die große Schranke fiel donnernd ein, vor mir eine große wüste Ebne, die 1 2

Zu den Genre-Entwicklungen nach 1800 vgl. u.a. Schönert „Kriminalgeschichten“; ders. „Behaglicher Schauer“. An Wilhelmine von Zenge, Würzburg 14.09.1800 (Kleist 293f.).

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Zügel entfielen meiner Hand, die Rosse rissen den Wagen unaufhaltsam mit sich, ich fühlte es wie mein Haar sich aufrichtete, brüllend stürzte ich in die Kammer. [...] Das Licht ward endlich ausgelöscht. Sobald ich die Augen zumachte, war mir als schwämme ich auf einem Strom, als löste sich mein Kopf ab und schwämme rückwärts, der Körper vorwärts, eine Empfindung, die ich sonst noch nie gehabt habe, wenn ich die Augen aufmachte, war mirs, als läg ich in einem weiten Todtengewölbe, drei Särge nebeneinander, ich sehe deutlich die weißen schimmernden Gebeine, alles dehnte sich in eine fürchterliche Länge, alle meine Glieder waren mir selbst fremd geworden und ich erschrak, wenn ich mit der Hand nach meinem Gesichte fasste. [...] So brachte ich noch eine entsetzliche Stunde zu, alle Schrecken des Todes und der Verwesung umgaben mich. (zit. nach Hemmer 418f.; meine Hervorhebungen).

In diesem Brief-Zitat wird sichtbar, dass Belletristik – vor allem in der gemeinsamen Lektüre – wie eine Droge wirken kann; sie vermittelt in einem Rauschzustand das Hochgefühl permanenter Grenzüberschreitungen der ‚Normalität‘; im „es war mir als ob“ erzeugt sie die ‚Wollust‘ eines imaginierten Grauens, das sich zum Alptraum steigern kann, in dem sich Fantasie und Wirklichkeit unauflösbar durchdringen. Von Autoren wie Grosse ist heute nur selten die Rede – und wenn, dann im Sinne ihrer Kontextualität für das Schauer- und Schreckensgenre bzw. entsprechender Orientierungen und Text-Elemente in der sogenannten Hochliteratur – wie für Schillers Romanfragment zum Geisterseher oder die Erzählprosa von Jean Paul, Ludwig Tieck, Achim v. Arnim und Wilhelm Hauff. Eine solche Bilanz ist bestimmt durch die Rezeption des Leihbibliotheken-Genres in Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Zur entschiedenen Abwertung der ‚Geisterromane‘ kam es bereits bei Johann A. Bergk 1799 in Die Kunst, Bücher zu lesen. Für die im Laufe des 19. Jahrhunderts einsetzende literaturwissenschaftliche Einschätzung gab Johann W. Appells Studie Die Ritter-, Räuber- und Schauerromantik von 1859 entscheidende kritische Impulse; der Autor versteht ‚Romantik‘ nicht als Epochenbezeichnung, sondern im Hinblick auf die Romanliteratur. In den 1920er und 1930er Jahre legten Marianne Thalmann, Otto Rommel und Hansjörg Garte für die deutschsprachige Literatur Untersuchungen vor, die auch in den folgenden Jahrzehnten beachtet wurden. Den interkulturellen Zusammenhang einer „schwarzen Romantik“ eröffnete das Erfolgsbuch von Mario Praz zu Liebe, Tod und Teufel (1930 in der italienischen Erstfassung erschienen). Um 1970 entwickelte sich eine fruchtbare interdisziplinäre Neu-Aufnahme und Erweiterung der Forschungsarbeiten zur Erschließung des deutschsprachigen Genrebereichs. Dazu trugen wichtige Beiträge zu populären Lesestoffen bzw. Populärliteratur aus der Volkskunde bei, vor

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allem von Rudolf Schenda und aus der Tübinger Schule von Hermann Bausinger sowie aus Literatursoziologie und Sozialgeschichte der Literatur, insbesondere der Leihbibliotheksforschung. Diese literaturwissenschaftlichen Projekte waren seit den späten 1960er Jahren eingebunden in die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Disziplin auf die so genannte gelesene Literatur, die Unterhaltungs- und Trivialliteratur – hier mit dem Interesse für die Gattungs- und Genregeschichte der erzählenden Prosa. Dieses Interesse war im wesentlichen auf die 1970er Jahre beschränkt; als wichtige Buchpublikation erschien u.a. Michael Hadleys The Undiscovered Genre: a Search for the German Gothic Novel (1978). Wolfgang Trautweins Studie Erlesene Angst: Schauerliteratur im 18. und 19. Jahrhundert, 1980 veröffentlicht, verlässt dann bereits wieder den Bereich der Populärliteratur – und an dieser literaturhistoriographischen Konstellation hat sich bis heute wenig geändert.3 Das mag auch daran liegen, dass eine Vielzahl der Bücher, die zwischen 1785 und 1815 vorzugsweise in den Leihbibliotheken eingestellt wurden, heute gar nicht mehr oder nur in seltenen Exemplaren im Leihverkehr zu beschaffen sind. Die um 1970 vollzogene wissenschaftliche Hinwendung zur Populärliteratur hatte auf dem Buchmarkt für Schauer- und Schreckensliteratur keine entscheidenden Folgen. Als Ende der 1960er Jahre im Münchner Hanser-Verlag die Reihe „Bibliotheca Dracula“ begründet wurde, konzentrierte man sich auf Übersetzungen zu den englischsprachigen Klassikern der Gothic Novel. Das neue Produktionsinstrument eines preisgünstigen reprofotografischen Neudrucks wurde für den Schauerund Schreckensroman zu wenig genutzt. 1984 habe ich die Edition von Rambachs Die eiserne Maske betreut; der ‚deutsche Originalroman‘ wurde 1792 unter dem Autoren-Pseudonym Ottokar Sturm veröffentlicht; die Faksimile-Publikation erschien in der Reihe „Texte zum Literarischen Leben um 1800“ im Gerstenberg Verlag Hildesheim.4 Von diesem Roman soll hier abschließend noch die Rede sein. Wie lässt sich rund 30 Jahre später das literaturgeschichtliche Interesse erneuern? Ich beschränke mich auf Überlegungen zur Abgrenzung und 3

4

Neue Impulse verspricht ein Forschungsprojekt, das von Andrew Cusack an der School of Languages, Literatures and Cultural Studies des Trinity Colleges Dublin und von Barry Murnane am Germanistischen Institut der Universität Halle 2009 mit zwei Konferenzen in Gang gesetzt wurde: „Populäre Erscheinungen: Der deutsche Schauerroman um 1800 im internationalen Kontext“ – IZEA Halle, 30.01.-01.02.2009; „Popular Revenants: German Gothic in its International Contexts“ – Trinity College Dublin, 04.-05.09.2009. Die Dokumentation dieser Veranstaltungen (hg. von Murnane und Cusack) erscheint 2011. Wichtig in diesem Zusammenhang sind Sangmeisters „Zehn Thesen“ (bereits 2010 publiziert). Zu eruieren bleibt, inwiefern derzeit die weitreichenden Aktionen zur Digitalisierung von historischen Texten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auch zu Veränderungen in der Forschungslage führen.

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Typologie des Genre-Zusammenhangs.5 Dabei ziehe ich den weithin benutzten Genre-Bezeichnungen, die aus den Handlungsmilieus und Stimmungsszenerien – also ‚Gothic Novel‘ – oder aus dem dominierenden Personal – also ‚Ritter-, Räuber- und Klosterromane‘ – abgeleitet werden, den wirkungsästhetischen Aspekt der unterschiedlichen Angst-Erfahrungen vor: Die Verunsicherung der Figuren der Handlung und der Rezipienten dieser ‚künstlichen Welten‘ wegen ihrer begrenzten Erfassungskapazität für die Fantastik des erzählten Geschehens äußert sich im Erschauern und Erschrecken. Die für das 18. Jahrhundert typischen Diskussionen zur ‚Gemütserregungskunst‘ können im Bereich der Erzählprosa vom exemplarischen Bezug auf den empfindsamen Familienroman auch zugunsten der Schauer- und Verbrechensliteratur verschoben werden, die auf extreme Affekte, auf ‚Sensationen‘, abzielt. Zur weiteren Gliederung des Fantastik-Genres beziehe ich mich auf Todorovs idealtypologische Kennzeichnung eines Schauer- und Schreckensgenres in seiner Einführung in die fantastische Literatur. Ich folge Todorovs kategorialen und terminologischen Vorgaben nicht streng, orientiere mich aber an seinem strukturalistischen Grundmuster der binären Ordnungen. Die von Todorov bezeichneten ‚Ich-Themen‘ gelten Störungen in den subjektiven Prozessen der Wahrnehmung, Bewusstseinsbildung und Bewertung von Phänomenen und Ereignissen, von Personenkonstitution und Personenbeziehungen der alltäglichen Erfahrungswelt – es sind die einem Einzelnen oder einer Gruppe unerklärlichen Erscheinungen oder Zusammenhänge, die sich in die ‚normalen‘ Wahrnehmungsweisen und Wahrnehmungsergebnisse nicht einordnen lassen; es sind fantastische Transformationen zwischen den Bereichen Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Zeit und Raum. Die Reaktionen auf solche Störungen wären zum einen im Sinne einer erklärenden Einordnung oder aufklärenden Beseitigung, zum anderen im Beharren auf den Störeffekt anzusetzen. ‚Du- bzw. [und besser] Wir-Themen‘ sind im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen angesiedelt. Sie gelten den fantastischen Überschreitungen von natürlichen und sozial verfügten Begrenzungen der körperlichen und mentalen Kompetenz, dem zerstörerischen Begehren in der Sexualität und den Gewaltausübungen zur familiären und sozialen Dominanz – im Sinne der Zeitgenossen also dem freigesetzten Bösen, neutral formuliert den Abweichungen von den geltenden Regeln des menschlichen Zusammenlebens. Die Reaktionen auf solche Grenzüberschreitungen äußern sich in Selbstkorrektur oder in Bestrafungen, die von Fremd5

Neben dem Leitbegriff der Gothic Novel sind für die Konstellationen der Jahrzehnte um 1800 auch Genre-Typen wie ‚Tale of Terror‘ oder ‚roman noir‘ zu berücksichtigen.

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instanzen verfügt werden. Alternativ kommt es zur pathetischen Akzeptanz und Glorifizierung solcher Transformationen. Gerade in der hochgewerteten Literatur der Jahrzehnte um 1800 – aber nicht ausschließlich dort – werden die taxonomisch geschiedenen antagonistischen Konstellationen durch unterschiedliche literarische Darstellungs- und Vermittlungsweisen ironisch eingeschränkt oder – auch unter Einbezug neu erschlossener Wissensbestände – in Frage gestellt und überspielt (so etwa bei Tieck und E.T.A. Hoffmann) sowie miteinander kombiniert.6 Die Hochkonjunktur der Ritter-, Räuber-, Kloster- und Geistergeschichten schwächt sich in der deutschsprachigen Literatur nach 1815 ab; sowohl in der Elite-Literatur als auch in der Populärliteratur werden die Schauererzählungen und -romane, die zumeist in einer historisch nur vage bestimmten ‚Vormoderne‘ angesiedelt waren, verdrängt durch die mit Geschichtswissen gesättigten Historischen Erzählungen und Romane (in der Nachfolge Walter Scotts) sowie durch die historistischen Bearbeitungen von Volkssagen; in der Schreckensliteratur – zu der auch die meisten Räuberromane zählten – setzen sich die mit Kriminalitätswissen gesättigten Typen der sogenannten Pitaval-Geschichten und der Kriminalerzählung durch.7 Ich will die für den Zeitraum um 1800 beschriebenen Konstellationen kurz erläutern am Beispiel von Ottokar Sturms (d.i. Friedrich E. Rambachs) Die eiserne Maske;8 der Roman trägt den Untertitel Eine schottische Geschichte – die Handlung ist in einem unspezifisch-mittelalterlichen Ossian-Milieu angesiedelt. Der Autor Friedrich E. Rambach (1767-1826) wurde im Alter von 24 Jahren 1791 zum Lehrer, zum ‚Professor‘ am renommierten Friedrich-Werderschen Gymnasium in Berlin ernannt. Einer seiner Schüler in der Abschlussklasse war der fünf Jahre jüngere Ludwig Tieck, der – wie auch andere Gymnasiasten – für Rambachs ‚Schreibwerkstatt‘ angeworben wurde und das letzte Kapitel für Die eiserne Maske ausarbeitete; es stellt die Selbstzerstörung des Negativ-Helden Ryno dar, der hin- und hergerissen wird zwischen empfindsamen Einstellungen und gewalttätigen Verhaltensweisen. Wie die meisten Schauer- und Schreckensromane um 1800 zeigt der Roman Vielfalt und Heterogenität der verwendeten Darstellungs- und Deutungsmuster (vgl. Dainat 148f.). In Themen, Motiven und Handlungselementen, in der Figurenkonstellation sowie der Darstellungsweise ist er organisiert mit Versatzstücken aus allen literarischen Gattungen: so finden 6

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Eine solche Konstellation lässt sich als analoges Phänomen verstehen zu den „Genremischungen“, der Kombination von zeittypischen narrativen Mustern und Schemata, die Holger Dainat für August Lafontaines „Rittergeschichte“ Rudolph von Werdenberg (1793) beschrieben hat (vgl. 148f.). Vgl. dazu die Literaturhinweise in Anm. 1. Vgl. dazu Schönert „Der Roman zum letzten Kapitel“; die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf die Neu-Edition von 1984.

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sich die schwachen Väter, feindlichen Brüder und empfindsamen Bräute des deutschen Sturm- und Drang-Dramas; Verwicklungen und Lösungen der Figurenbeziehungen folgen dem Muster der zeitgenössischen Familienromane, Verführer und Opfer dem Vorbild von Richardsons Tugendbewährungsromanen; dazu treten Motive von Volkssagen und Romanzen sowie ‚schottische Balladen‘ und Wechselgesänge im MacPherson-Ton. Die eiserne Maske ist ein Ritterroman ohne ‚richtige Geister‘, für entsprechende Schauer-Elemente sorgen Wahnvorstellungen der Figuren. Es dominieren – im Sinne der ‚Wir-Themen‘ – die Schrecken erregenden Untaten, die vielfach aus dem Motiv-Repertoire des Sturm-und-Drang Dramas gewonnen wurden – wie die Einkerkerung im Hungerturm (vgl. Gerstenbergs Ugolino und Schillers Räuber) oder aggressiver Bruderzwist, zerrüttete Familienverhältnisse sowie Mord und Totschlag (vgl. Klingers Die Zwillinge und abermals Schillers Die Räuber); Schrecken resultiert aus der Deformation des eigentlich Menschlichen mit der Zerrüttung von Familienverhältnissen, mit Liebesgier und Vergewaltigungsphantasien, mit Mord und Totschlag. Grauen und Entsetzen sind die wiederkehrenden Erfahrungen für die Figuren und die Leser des Romans. Rynos Empfindungen, seine höchst reizbare Einbildungskraft, wechseln dabei zwischen der Wollust der Macht- und Gewaltphantasien und dem Entsetzen vor seinen schrecklichen Wünschen und Handlungen; dies führt ihn zum traumatischen Bewusstsein seiner Doppelnatur. Sein Tod vollzieht sich in einem fürchterlichen ‚Seelengewitter‘: Ryno wird gepeinigt von Schuldgefühlen und von der Sehnsucht nach Anerkennung, Liebe und Gemeinschaft. Seine schreckliche Selbsttötung steht im Kontrast zum guten Ende der Freundes-, Liebes- und Familienbeziehungen seiner Gegenspieler Carno und Ullin (vgl. dazu auch Clara Reeve: The Old English Baron [1778]). Rynos Ende ist dadurch bestimmt, dass sein Wahrnehmungsvermögen auseinander bricht, sich die Umwelt für ihn in eine Heerschar von Geistern und Ungeheuern verwandelt, die ihn im Schuldgefühl seiner Untaten bedrängen, so dass er in alptraumhafte Fantasien des Zukünftigen verfällt: Er war – so heißt es – „sich selbst schrecklich geworden“ (545). Seine letzten Erfahrungen und Handlungen werden ausgelöst durch die von ihm halluzinierte Wiederkehr des toten Freundes und Helfers Dunkan, der ihn – gleichsam als der Teufel – zum Selbstmord verführt. Ryno redet den Verstorbenen an, der sich ihm schließlich als stummes Gespenst zeigt, das sich zunächst nur gestisch verständigen will. „O Dunkan! Dunkan! wie konntest du mich verlassen? – Wo bist du? ständest du noch zu meiner Seite, wir wollten beide der Menschheit den Rücken kehren, den schauerlichen Bund unsrer Seelen fürchterlich halten, gleich gräßlichen Unholden wollten wir über Leichname stolz unsre Bahn fortwandeln, Blut sollte unsre Fersen waschen. Schädel sollten unsre Tafelfreuden, und Krämpfe und Zuckungen

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langsam erwürgter unsre Ergötzlichkeit seyn, wenn die Langeweile uns in ihre bleiernen Banden legen wollte.“ (550f.)

Es folgt der geisterhafte Auftritt des verstorbenen Freundes: Dunkans Augen rollten wie dämmernde Sterne gräßlich in den tiefen Hölen umher, seine Züge waren zornig, er wallte hin und her, wie vom Winde getrieben, und unabläßig winkte seine Rechte. Rynos Seele kämpfte einen entsezlichen Kampf. In einem Augenblick schien ihm diese Erscheinung sein alter Freund Dunkan zu seyn, und schon sezte er den Fuß vorwärts, ihm zu folgen; dann wagte er es, ihn genauer anzublicken, und plözlich ward ihm das Bild fremd und noch schrecklicher. Schnell und zitternd zog er dann seinen Fuß zurück, als hätte ihn eine Schlange gestochen. Dunkan winkte noch immer. Wie eine Welle hob sich Rynos Brust und sank wieder, wie Wasserfälle braus’te es um ihn her, Feuer tanzten vor seinen Augen mit rother Gluth, und es war ihm, als zischten Drachen hinter ihm her, die klingend mit den grauen Schuppenflügeln rauschten, und die flammenden Schweife über die Decke herspreizten. Ich folge dir! rief er im Wahnsinn. (553)

Dunkan zu folgen, heißt den Tod zu suchen: Weh! Weh! du gehst in den Tod! so rief eine Stimme dumpf aus der Tiefe des Thals hervor, und, wie Gespenster stiegen ihm Quaal und Seelenangst entgegen. Schon wollte er seinen Fuß zur schnellen Flucht wenden, als Dunkans Geist zusammenschauerte und versank. Ryno that unwillkührlich einen Schritt vorwärts, und stürzte zerschmettert von dem Gipfel des Felsens in das tiefe Thal hinab. —Noch ein banges Wimmern von unten empor, dann gräßliche Todtenstille. (558)

In dem von Tieck verantworteten letzten Kapitel von Die eiserne Maske wird die fantastische Wirklichkeit der Geister und Gespenster nicht als Folge des Wirkens übernatürlicher Mächte entworfen, sondern konsequent als Phänomen der gestörten Wahrnehmung des von Wunschphantasien und Schuldgefühlen getriebenen Ryno im Vermittlungsgestus des ‚als ob‘ konstituiert – so wie auch der Autor als Leser von fantastischer Literatur die Folgen solcher Lektüre als reale Selbsterfahrungen beschreibt. Literaturverzeichnis: Appell, Johann W. Die Ritter-, Räuber- und Schauerromantik: zur Geschichte der deutschen Unterhaltungs-Literatur. Leipzig: Engelmann, 1859. Bergk, Johann A. Die Kunst, Bücher zu lesen: nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena: Hempel, 1799. Dainat, Holger. „Liebe, Ritter und Revolution: Lafontaines Rudolph von Werdenberg“. August Lafontaine (1758-1831: ein Bestsellerautor zwischen Spätaufklärung und Romantik. Hg. Cord-Friedrich Berghahn und Dirk Sangmeister. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2010. 143-63.

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Hadley, Michael. The Undiscovered Genre: a Search for the German Gothic Novel. Berne: Lang, 1978. Hemmer, Heinrich. Die Anfänge L. Tiecks und seiner dämonisch-schauerlichen Dichtung. Acta Germanica Bd. 6. H. 3. Berlin: Mayer u. Müller, 1910. Kleist, Heinrich v. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. IV/1: Briefe 1. Basel: Stroemfeld, 1996. Murnane, Barry und Andrew Cusack, Hg. Populäre Erscheinungen: der deutsche Schauerroman um 1800. Laboratorium Aufklärung. Bd. 6. Paderborn: Fink 2011. Praz, Mario. Liebe, Tod und Teufel: die Schwarze Romantik. Übers. Lisa Rüdiger. München: Hanser, 1963. Sangmeister, Dirk. „Zehn Thesen zu Produktion, Rezeption und Erforschung des Schauerromans um 1800“. Lichtenberg-Jahrbuch (2010): 177-217. Schönert, Jörg: „Kriminalgeschichten (1815-1830) im Spektrum von ‚Aktenmäßiger Darstellung‘ bis zur ‚Historisch-Romantischen Manier‘“. Die Fürstliche Bibliothek Corvey: ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Hg. Rainer Schöwerling und Hartmut Steinecke. München: Fink, 1992. 147-62. —. „Behaglicher Schauer und domestizierter Schrecken. Zur Schauerliteratur der Biedermeierzeit“. Literatur in der sozialen Bewegung. Hg. Alberto Martino. Tübingen: Niemeyer, 1977. 28-92. —. „Zur Typologie und Strategie der Titel von Leihbibliotheksromanen am Beispiel der Schauer- und Verbrechensliteratur (1790-1860)“. Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert: Organisationsformen, Bestände und Publikum. Hg. Georg Jäger und Jörg Schönert. Hamburg: Hauswedell 1980. 165-95. —. „Der Roman zum letzten Kapitel“. Nachwort zu Sturm 1-27. Sturm, Ottokar [F. E. Rambach]. Die eiserne Maske: eine schottische Geschichte. 1792. Nachwort Jörg Schönert. Hildesheim: Gerstenberg, 1984. Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. Übers. Karin Kersten. München: Hanser, 1972. Trautwein, Wolfgang. Erlesene Angst: Schauerliteratur im 18. und 19. Jahrhundert. München: Hanser, 1980.

Schauerliche Familiengeschichten Zur Plot-Struktur englischer Gothic Novels PETER HÜHN Family Stories of Terror: On Plot Structure in English Gothic Novels The Gothic genre is usually defined on the basis of the intrusion of supernatural forces, the occurrence of fantastic phenomena in the story world and the effect of terror produced by these for characters as well as readers. This effect is not directly related, however, to what these novels are really about, the specifics of character constellation, motivation, plot and theme. This article will not focus on the fantastic in Gothic novels as such but on their complex plot structures. As will be shown, the (patriarchal) family frequently plays a central role in these plots, as an institution within society and a representation of social structures – an aspect largely neglected in the extensive criticism on Gothic fiction, at most discussed in narrowly psychoanalytical terms. In many cases, Gothic plots are based on family relations and the interaction among family members, typically deriving their dynamic impulses from the disruption of a stable family order and its subsequent re-establishment or else tracing the process of the destruction or even self-destruction of a family.

Das Genre der Gothic Novel wird gemeinhin über das Wirken übernatürlicher Kräfte und das Auftreten fantastischer Phänomene in der RomanWelt und den dadurch erzeugten Schrecken für die Figuren wie vor allem die Leser charakterisiert. Diese Bezeichnung sagt jedoch nichts aus über das, worum es in diesen Romanen tatsächlich geht, über die zugrunde liegenden Besonderheiten von Figurenkonstellation, Handlungsmotivation, Handlungsverlauf und Thematik. Ich werde im Folgenden die Aufmerksamkeit nicht auf die Fantastik in englischen Schauerromanen richten, sondern auf deren verwickelte Plotabläufe. Es lässt sich zeigen, dass in diesen Plotverläufen die (patriarchalische) Familie als soziale Institution, als Repräsentation von Gesellschaftsstrukturen und als potenzielles Kontinuum im zeitlichen Veränderungsprozess eine zentrale Rolle spielt – ein in der umfangreichen Sekundärliteratur zur Gothic Novel weitgehend ignorierter

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Aspekt,1 der höchstens vereinzelt unter psychoanalytischer Perspektive aufgegriffen wird. Die Romanhandlung beruht in vielen Fällen auf Familienbeziehungen und der Interaktion zwischen Familienmitgliedern, und sie bezieht ihre Dynamik aus der Störung der Familienordnung und deren Überwindung und Bestrafung oder zeichnet, als strukturelle Umkehrung, die Zerstörung oder gar Selbstzerstörung einer Familie nach. Es ist historisch signifikant, dass Entstehung und Entwicklung der Gothic Novel seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Epoche eines entscheidenden ökonomischen, sozialen und technisch-wissenschaftlichen Modernisierungsschubs in England fallen, in die Zeit der Industriellen Revolution. Die beginnende Umstrukturierung der vor-modernen, ständisch organisierten Gesellschaft in Richtung auf funktionale Differenzierung verändert Status und Funktion der patriarchalischen Familie. Die Familie verliert einerseits zunehmend ihre traditionelle Rolle als Grund-Einheit der Gesamtgesellschaft und als Repräsentant von deren Machtstruktur und Ordnung; andererseits büßt sie immer mehr ihre herkömmliche Funktion für den Einzelnen ein, als determinierender Orientierungsrahmen für Identität, soziale Position und Lebensweg zu dienen. Die Veränderungen in Form und Funktion von Familiengeschichten im englischen Schauerroman stelle ich im Folgenden anhand dreier charakteristischer Beispiele aus unterschiedlichen Zeiten dar: anhand zunächst von Horace Walpoles The Castle of Otranto von 1764, des ersten Schauerromans überhaupt, dann von Matthew Lewis’ The Monk von 1796, einem einflussreichen Beispiel aus der eigentlichen Hoch-Zeit des Genres im späten 18. Jahrhundert, und schließlich von Mary Shelleys Frankenstein von 1818, einer romantischen Variante des Genres.2 1. Horace Walpole: The Castle of Otranto Horace Walpoles The Castle of Otranto: A Gothic Story (1764) erzählt den für das Genre prototypischen Fall einer Familiengeschichte über drei Generationen, die Erzählung der Zerstörung und Beraubung, sowie der späteren Wiederherstellung von Familie und Besitz, angesiedelt im mittelalterlichen Süditalien, etwa im 13. Jahrhundert.3 Es handelt sich um die Familie des legitimen Fürsten von Otranto Alfonso the Good und seiner Nachkommen. Titel und Herrschaft dieser Familie wurden vor zwei Generationen 1 2 3

Siehe die relativ seltenen Beispiele von Thematisierungen generell in Bezug auf die Gothic Novel bei Williams (87-96) sowie speziell in Bezug auf einzelne Romane (s.u.) bei Clery (Rise; „Introduction“); Williams; Smith; und Davison. Zur Entwicklung des Genres der Gothic Novel in England siehe z.B. Clery Rise; Punter; Botting; Smith; Spooner und McEvoy; Davison. Vgl. Watt; Clery Rise 74f. und 77f.; Smith 20-23.

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durch Alfonsos Haushofmeister („chamberlain“) Ricardo, also einem Angehörigen einer sozial niedrigeren Schicht, usurpiert: Dieser hatte seinen Herren auf einem Kreuzzug vergiftet und sich mittels eines gefälschten Testaments seine Position als Fürst von Otranto angeeignet. Zur Sühne für seine Schuld hatte er eine Kirche und zwei Klöster nahe des Schlosses von Otranto gestiftet. Diese Sühne wird akzeptiert, verbunden mit einer Prophezeiung: „[…] the castle and the lordship of Otranto should pass from the present family, whenever the real owner should be grown too large to inhabit it“ (17). Dies ist die Vorgeschichte des Romans. Die eigentliche Handlung in der erzählten Gegenwart setzt mit Ricardos Enkel, Manfred, dem jetzigen Herrscher von Otranto, seiner Frau Hippolita und ihren Kindern Conrad und Matilda ein. Die Usurpatorenfamilie beherrscht zu diesem Zeitpunkt vollständig die Szene. Die legitime Familie Alfonsos scheint erloschen, da er ohne bekannte Nachkommen gestorben ist. Es gab lediglich einen Verwandten mit Erbanspruch, Frederic, Marquis of Vicenza, von dem es aber heißt, er sei auf einem Kreuzzug umgekommen. Allerdings hat er eine Tochter, Isabella, hinterlassen. Diese scheinbar stabile Ausgangssituation des Romans ruht jedoch im Bewusstsein Manfreds auf einem unsicheren Fundament und ist somit latent bedroht, da er von der Illegitimität seines Besitzes und Titels weiß. Er versucht sich nun endgültig an die Stelle des rechtmäßigen Besitzers und dessen Familie zu setzen, indem er seinen Sohn Conrad mit Isabella als deren letzter Vertreterin verheiratet. Dieser Versuch, das Unrecht unwiderruflich und dauerhaft zu legitimieren, stößt unversehens eine Plot-Entwicklung an, in der Manfred zunehmend die Kontrolle verliert und am Ende den usurpierten Titel und Besitz einbüßt und in der schließlich seine Familie vollständig aufgelöst wird: die beiden Kinder werden getötet, und die Ehegatten treten in getrennte Klöster ein (diejenigen übrigens, die sein Vorfahr zur Sühne gegründet hatte), annullieren also ihre Ehe, die den Kern der Familie bildet. Im Gegenzug wird die rechtmäßige Familie, mit dem Enkel Alfonsos, Theodore, wieder in Recht und Herrschaft eingesetzt. Die Impulse für diese Entwicklung, für die fortgesetzte Destabilisierung von Manfreds Position bis zur schließlichen Auflösung seiner Familie, gehen von einer übernatürlichen Macht aus, die wiederholt auf Seiten der rechtmäßigen Erben, von Alfonsos Sohn Jerome und Enkel Theodore, eingreift. Der erste Eingriff vereitelt die Verheiratung Conrads mit Isabella indem dieser während der Hochzeitsfeier plötzlich von dem überdimensionalen Helm der Statue Alfonsos erschlagen wird. Daraufhin plant Manfred, sich von Hippolita scheiden zu lassen und selber Isabella zu heiraten – der zweite Versuch, die Familie des Usurpatoren durch Verbindung mit einem Erben der rechtmäßigen Familie zu legitimieren. Dieser Plan droht zu scheitern, als plötzlich Isabellas Vater Frederic, der den Kreuzzug über-

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lebt hat, auftritt und diese Verbindung verbietet. Dann verliebt er sich aber in Matilda, und trotz verschiedener Schwierigkeiten und Widerstände kommt es zu einer Vereinbarung zwischen ihm und Manfred: es kommt zur wechselseitigen Zustimmung zur Ehe mit ihrer jeweiligen Tochter, also zur Heirat Frederics mit Matilda bzw. Manfreds mit Isabella. Diese Verbindung beider Familie wird dann aber doppelt, von beiden Seiten, verhindert. Erstens erscheint ein Geist – ein weiterer Eingriff der übernatürlichen Macht – und untersagt Frederic die Heirat mit Matilda: „[...] forget Matilda! said the apparition – and vanished“ (107). Zweitens wird Matilda unmittelbar danach vom eigenen Vater aus Versehen getötet: Er hatte sie bei ihrem heimlichen Treffen mit Theodore überrascht und diesen im Affekt erstechen wollen, in der Dunkelheit aber statt seiner Matilda getroffen. Ihre Tötung blockiert noch die andere mögliche Verbindung beider Familien: Auch Theodore hatte sich in Matilda verliebt (wie sie in ihn) und sie heiraten wollen (dies war Gegenstand ihrer heimlichen Unterredung). Stattdessen heiratet er, gezwungenermaßen, am Schluss Isabella und vereinigt so in seiner Ehe die beiden Linien der rechtmäßig erbberechtigten Familie unter völligem Ausschluss der Usurpatoren – jedoch sehr zögernd und mit tiefem Bedauern, da seine eigentliche Liebe Matilda galt: Theodore’s grief was too fresh to admit the thought of another love; and it was not until after frequent discourses with Isabella, of his dear Matilda, that he was persuaded he could know no happiness but in the society of one whom he could forever indulge the melancholy that had taken possession of his soul. (115)

Individuelle emotionale Neigungen treten hier in einen Konflikt mit dem über-persönlichen Familienprinzip, das sich auf die genealogische Kontinuität und die Bewahrung des angestammten Besitzes bezieht und das Handeln der Oberhäupter (Väter) in beiden Familien steuert. So sucht Jerome aus diesem Grunde Theodore von seiner leidenschaftlichen Präferenz für Matilda abzubringen: „eradicate this guilty passion from thy breast. [...] It is sinful [...] to cherish those whom heaven has doomed to destruction. A tyrant’s race must be swept from the earth to the third and fourth generation“ (94). Und Manfred begründet sein Verlangen nach einem Sohn (und, als Voraussetzung hierfür, die Notwendigkeit der Scheidung von Hippolita und Heirat mit Isabella) bezeichnenderweise mit dem Konzept der Staatsräson („reason of state“, 49). Das Familienprinzip setzt sich gegenüber den individuellen Neigungen durch, mit schmerzlichen Konsequenzen für den Einzelnen, besonders Theodore. Übernatürliche Mächte verhindern auf diese Weise nicht nur die Konsolidierung der Macht der Familie des Usurpatoren, sondern sanktionieren damit, am Schluss auch explizit, die Restitution der angestammten Familie und ihres Besitzes:

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A clap of thunder [...] shook the castle to its foundations [...] The moment Theodore appeared, the walls of the castle behind Manfred were thrown down with a mighty force, and the form of Alfonso, dilated to an immense magnitude, appeared in the centre of the ruins. Behold in Theodore, the true heir of Alfonso! said the vision: and [...] accompanied by a clap of thunder, it ascended solemnly towards heaven. (112f.)

Diese Szene enthält zusätzlich einen direkten Bezug auf die mysteriöse Prophezeiung, die am Anfang erwähnt worden war und sich nun endgültig erfüllt, zusammen mit der Himmelfahrt des ursprünglich beraubten Ahnherrn. Das archaische Prinzip der Kontinuität und Macht der Adelsfamilie wird rigoros gegen soziale Aufsteiger – als solche ist die Familie Ricardos und Manfreds zu bezeichnen – gestützt, und zudem werden diese im Roman kriminalisiert, insofern sie sich der Herrschaft widerrechtlich bemächtigt haben. Die vollständige Rehabilitierung der traditionellen Familie, die der Plot als Wiederkehr der Unterdrückten und Beraubten vorführt, wird allerdings durch die melancholische Verpflichtung des Erben auf eine ungeliebte Vertreterin der eigenen Klasse (und Verwandtschaft) emotional relativiert – eine Manifestation des Wertes und Wollens individueller Beziehungen, die in diesem Kontext ein modernes Moment darstellt, das aber unterdrückt wird.4 Die Restitution einer alten Elite-Familie gegenüber sozialer Mobilität ist ein konservatives Konzept, das in der gesellschaftlichen Realität des zeitgenössischen England zunehmend in Frage gestellt wurde. Dass das Geschehen in einer vormodernen Gesellschaft und Epoche (im besonders konservativen katholischen Süditalien) angesiedelt ist, kann u.a. als Strategie gedeutet werden, ein ideologisch motiviertes Interesse an der Bewahrung der archaischen patriarchalischen Familienkonzeption zu rechtfertigen und zu plausibilisieren. Bezeichnenderweise motiviert das Streben nach Sicherung oder Wiederherstellung der Kontinuität der Familie und ihres Besitzes auf beiden Seiten das Handeln, sowohl bei den echten Aristokraten als auch bei den Aufsteigern, die die Werte ihrer Vorgänger übernehmen. 2. Matthew Lewis: The Monk Wie in Walpoles Castle of Otranto werden auch in Matthew Lewis’ Roman The Monk: A Romance (1796) zwei Familiengeschichten miteinander konfrontiert,5 von denen die eine die Selbst-Zerstörung einer Familie und die 4

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Clery („Introduction“ xxix-xxxiii), ähnlich Clery (Rise 74f.; 77f.), deutet das Geschehen aus der Perspektive der Moderne, wenn er nicht die Bewahrung und Wiederherstellung der archaischen Familie betont, sondern das Leiden des Individuums unter der Dominanz des Familien- und Erbrechts. Siehe Stammbaum der Familien in Williams 254.

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andere die Bildung einer neuen Familie nachzeichnet. Auch hier sind die beiden Familien mit Bezug auf das zugrunde liegende Normensystem kontrastiert – als normverletzend und normenkonform. Aber die Zusammenhänge und Abläufe sind verwickelter und zudem von anderer Art, was vor allem mit der Andersartigkeit der primären Motivation der Protagonisten zusammenhängt. Die Handlung in diesem Roman erhält ihre Impulse nicht, wie bei Walpole, durch das quasi-rationale Streben nach Macht und Besitz, sondern durch den elementaren Sexualtrieb. Dessen Dynamik wird spezifisch durch den sozial-kulturellen Kontext gesteigert, nämlich durch die Ansiedlung des Geschehens im streng katholischen Spanien, wohl des 17. oder 18. Jahrhunderts, wo die mächtige Kirche, insbesondere in der Institution des Klosters, die Sexualität rigoros unterdrückt und dadurch sowohl das Verlangen als auch dessen Bestrafung verschärft. Der Schauplatz ist, wie in The Castle of Otranto, eine dezidiert vormoderne, archaische Gesellschaft mit klarer ständischer Gliederung. Eine besondere Rahmenbedingung für die Familienthematik besteht hier ferner darin, dass das Kloster als Sozialverband wie als Sozialisationsinstitution eine scharfe Konkurrenz und Alternative zur Familie bildet, die das Verhalten und Streben sowie den Lebensgang der Individuen reguliert. Im Laufe des Geschehens treten diese beiden Kollektive dann auch vielfach in Konflikt miteinander und sorgen mit ihren unterschiedlichen Werten und Zielen für Handlungsverwicklungen. Dabei macht der Erzähler keinen Hehl aus seiner (intellektuell und religiös) bedingten Verurteilung des Klosterwesens und seiner Auswirkungen, indem er in diesem Zusammenhang wiederholt von „superstition“ (Aberglauben) spricht. Die zwei kontrastierten Familien sind durch einen gemeinsamen Ahnherrn, den Marquis de las Cisternas, miteinander verbunden, aus dessen zwei Ehen zwei Söhne hervorgehen. Der Sohn aus seiner ersten Ehe, Condé Gonzalvo, heiratet aus Leidenschaft Elvira, Tochter eines Schusters, verletzt damit also die Standesregel und wird deswegen vom Vater verstoßen. Gonzalvo und Elvira haben zwei Kinder: Ambrosio, den sie auf der Flucht vor dem Marquis ins Ausland zurücklassen müssen (und von dessen weiterem Schicksal sie nichts erfahren), und Antonia, mit der Elvira nach dem Tod ihres Mannes nach Spanien zurückkehrt. Der Marquis bemächtigt sich seines verstoßenen Enkels Ambrosio und gibt ihn als Findelkind gegen seinen Willen in ein Kloster. Ambrosio entwickelt sich in der Abgeschiedenheit der mönchischen Welt zu einem heiligenmäßigen Geistlichen und Abt, der nach 30 Jahren jetzt – damit setzt die Romanerzählung ein – als Beichtvater und Prediger an die Öffentlichkeit Madrids tritt (der „Monk“ des Titels). Seine Geschichte setzt die eine der beiden Familienlinien fort und beendet sie schließlich. Es ist die Geschichte eines tiefen moralischen Verfalls und Untergangs. Ambrosio, der zeit seines Lebens in

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der nüchternen repressiven Klosterwelt vor weltlichen Versuchungen geschützt war und keine Abwehrtechniken entwickeln konnte, wird im Moment der scheinbaren Vollendung seines heiligenmäßigen Status als verehrter Prediger und gesuchter Beichtvater in der Madrider Gesellschaft innerhalb des Klosters vom Teufel verführt. Dieser weckt in Person der schönen Matilda seine unterdrückte Sexualität, befriedigt sie in dieser Gestalt und stachelt sie dann zu immer hemmungsloserem, unersättlichem Verlangen an. Nachdem Ambrosio Matildas überdrüssig geworden ist, richtet er seine Begierde auf andere Frauen, zunächst – ohne Ahnung ihrer Verwandtschaft – auf seine Schwester Antonia. Als er beim Versuch, sie zu vergewaltigen, von Elvira überrascht wird, erwürgt er diese, ohne zu wissen, dass sie seine Mutter ist. Später bringt er Antonia in seine Gewalt, um seine Lust endlich an ihr zu befriedigen; anschließend tötet er sie, da sie droht, ihn zu verraten und ihn anzuklagen. Als seine Gewalttaten schließlich ruchbar werden und er verhaftet wird, verschreibt er sich zur Befreiung dem Teufel, lässt sich aber von diesem betrügen und endet in einer öden Gegend physisch zerschmettert und mit seiner Seele der Hölle überantwortet. Damit ist dieser Familienzweig vollständig und endgültig ausgelöscht. Zwei Gründe bewirken diesen Untergang letztlich in der Form von Selbst-Zerstörung: erstens die Mesalliance von Ambrosios Eltern, also die Verletzung des Gebots der standesgemäßen Ehe, mit der Folge von Verstoßung und Zerrüttung des Zusammenlebens durch das Familienoberhaupt, den Marquis, und zweitens die Störung der Kindererziehung, namentlich bei Ambrosio, durch die Repression natürlicher Triebe und die allgemeine Korrumpierung in der katholischen Kloster-Institution. Die in der intakten Familie mögliche Sozialisation und Ausbildung guter Anlagen mit Sicherung der Kontinuität der Familienlinie wird in der Ersatzgemeinschaft des Klosters pervertiert: Had his Youth been passed in the world, He would have shown himself possessed of many brilliant and manly qualities. He was naturally enterprizing, firm, and fearless [...] There was no want of generosity in his nature [...] He would have been an ornament to his Country [...] his Parents had beheld his dawning virtues with the fondest delight and admiration. Unfortunately, while yet a Child He was deprived of those Parents. He fell into the power of a Relation [sein Großvater, der Marquis], whose only wish about him was never to hear of him more; For that purpose He gave him in charge to [...] the former Superior of the Capuchins. [...] His Instructors carefully repressed those virtues, whose grandeur and disinterestedness were ill-suited to the Cloister. [...] While the Monks were busied in rooting out his virtues, and narrowing his sentiments, they allowed every vice which had fallen to his share, to arrive at full perfection. (236f.)

Wird bei Walpole das ursprüngliche Verbrechen des Usurpators bis in die dritte und vierte Generation verfolgt und hart bestraft, sozusagen als sippenhaft, aber auch wegen des Festhaltens am unrechten Besitz, so erscheint

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Ambrosio als weitgehend passives, unschuldiges, auch unwissendes Opfer der Folgen des dünkelhaft-unmenschlichen Verhaltens seines Großvaters, des Marquis: Erst seine moralische Korrumpierung im Kloster macht ihn schließlich anfällig für die verführerischen Einwirkungen der übernatürlichen Macht des Bösen. Durch all diese Umstände wird seine Schuld vermindert und diese vor allem der katholischen Kirche, dem Standesdünkel und dem Teufel zugeschrieben. Zufälle und fatale Handlungsverkettungen tragen zusätzlich zur katastrophalen Entwicklung bei: So sucht Elvira in ihrer prekären sozialen und finanziellen Lage den Beistand des als heiligenmäßig verehrten Ambrosio und stellt dadurch seinen Kontakt zu Antonia her, und sie will als fürsorgliche Mutter aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit ihrer eigenen Mesalliance Antonia vor einer ähnlich unglücklichen Ehe bewahren, indem sie die Werbung des wohlhabenden Aristokraten Lorenz um ihre mittellose Tochter unterbindet und diese dadurch des Schutzes vor den verführerischen Absichten Ambrosios beraubt – auch dies letztlich Auswirkungen der ursprünglichen Verstoßung durch den Marquis. Trotz dieser Schuldminderung bleibt Ambrosio letztlich für sein Tun verantwortlich. Die zweite Plot-Linie betrifft die Liebesgeschichte von Raymond, dem Sohn desselben Marquis de las Cisternas mit seiner zweiten Frau, und Agnes, der Tochter des Herzogs Gaston de Medina und seiner Frau Inesilla. Agnes hat ein ähnliches Schicksal erlitten wie Ambrosio: Ihre Mutter Inesilla hatte während einer Krankheit das Gelübde abgelegt, im Falle der Genesung aus Dankbarkeit gegenüber der angerufenen Heiligen ihre Tochter Agnes in ein Kloster zu geben. Nach dem Tode der Eltern verweilt Agnes zunächst bei ihrer Tante Rodolpha und deren Mann auf dessen Schloss in Deutschland, streng abgeschirmt in Vorbereitung auf den Klostereintritt. Dort begegnet sie Raymond, und sie verlieben sich ineinander. Alle Ansätze zur Befreiung von Agnes und Erfüllung der Liebe schlagen hier und später immer wieder fehl, erweisen sich geradezu als kontraproduktiv. So missversteht Rodolpha Raymonds Bemühung, ihre Zuneigung zu gewinnen, um sie günstig für die Freilassung ihrer Nichte zu stimmen, als Liebeserklärung an sie selbst, die ihr sexuelles Verlangen weckt. Aber als sie die wahre Situation erkennt, schlägt ihr Verlangen in Eifersucht um und führt zur Verschärfung ihres Widerstands. Raymond beschreibt die ausweglose Lage wie folgt: „I knew not what course to take: The superstition of the Parents of Agnes [d.i. das Gelübde der Mutter], aided by her Aunt’s unfortunate passion, seemed to oppose such obstacles to our union as were almost insurmountable.“ (137) Agnes versucht trotzdem mit Raymond zu fliehen, indem sie die allgemein gefürchtete Spukerscheinung der „Bleeding Nun“ Beatrice als Tarnung nutzen. Doch als der Fluchtversuch scheitert und Raymond ver-

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schwunden ist, sie gar verlassen zu haben scheint (ein Verdacht, den ihre Tante gezielt schürt), nimmt Agnes schließlich – gehorsam gegenüber den elterlichen Wünschen, wenngleich gegen die eigene Neigung – den Schleier und tritt als Nonne in ein Madrider Kloster ein. Raymond jedoch, der von dem tatsächlich erschienenen Geist der „Bleeding Nun“ bedrängt worden war und diesen erst bannen musste, macht Agnes’ Aufenthaltsort endlich ausfindig und besucht sie heimlich im Kloster. Dort geben sie schließlich ihrer Leidenschaft nach, und Agnes wird schwanger. Agnes’ Entwicklung ähnelt bis zu einem gewissen Grade strukturell der Ambrosios mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass ihre und Raymonds sexuelle Leidenschaft einen sehr persönlichen Bezug hat und dass ihr Ziel die Ehe und Familiengründung ist und nicht die bloße Befriedigung des Verlangens. Der weitere Plot-Verlauf besteht aus wiederholten Versuchen Raymonds, Agnes aus dem Kloster zu befreien und sie zu heiraten – was lange Zeit an immer neuen Widerständen scheitert: So wird ein Fluchtplan durch Mitwirken Ambrosios zufällig der Äbtissin verraten und von ihr vereitelt. Weil diese einen Ansehensverlust ihres Klosters bei Bekanntwerden von Agnes’ Schwangerschaft fürchtet, hintertreibt sie deren Entlassung. Und obwohl Raymonds Freunde schließlich die Auflösung von Agnes’ Gelübde durch den Papst beibringen, kerkert die Äbtissin sie mit ihrem (inzwischen gestorbenen) Baby ein und verbreitet die falsche Nachricht ihres Todes. Ein in seinen Hintergründen signifikantes schauerliches Hindernis hatte sich vorher bei dem erwähnten Fluchtversuch im Schutze der Geistererscheinung der „Bleeding Nun“ Beatrice aus dem Schloss von Agnes’ Tante ereignet. Statt Agnes hat Raymond plötzlich die spukende Nonne bei sich und kann sich von ihr nur durch das Versprechen befreien, ihre Gebeine in Spanien zur ewigen Ruhe zu betten. Die Geschichte dieser blockierenden „Bleeding Nun“ Beatrice ähnelt dem Schicksal Ambrosios und Agnes: Es handelt sich um eine Angehörige derselben Familie der de las Cisternas, zu der auch Ambrosio und Raymond gehören, aus einer früheren Generation. Beatrice, gegen ihren Willen in ein Kloster gebracht, war nach Deutschland zu den Vorfahren von Rodolphas Mann entlaufen, hatte sich dort in Affären verstrickt und einen Mord aus Leidenschaft begangen, ehe sie selbst erstochen wurde – und spukt seitdem, da sie nicht beerdigt wurde. Die unheilvollen Folgen der Klostereinkerkerung Beatrices, die wie bei Ambrosio zu Begierde und Mord führen, blockieren die an sich erlaubte Erfüllung des Liebesverlangens von Raymond und Agnes, die unter denselben Beschränkungen aufgewachsen ist. Am Ende kommt Agnes dann durch Hinweise wohlmeinender Nonnen frei: die weltliche Ordnungsmacht greift ein; und eine wütende Volksmenge bestraft Agnes’ Peiniger und zündet das Kloster an. Die Liebenden können endlich heiraten und eine Familie gründen – die Realisierung des mo-

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dernen Prinzips der Liebesehe, aber unter Bewahrung der ständischen Regeln innerhalb der noch archaischen Gesellschaft Spaniens. Die Familiengeschichten in Lewis’ The Monk sind komplexer als bei Walpole: Auch hier geht es noch um aristokratische Familien und deren Bewahrung oder Gründung unter dem normativen Aspekt der standesgemäßen Gleichrangigkeit. Erzählt werden sowohl die Gründung einer (auf Liebe basierenden) Familie gegen lang anhaltende Widerstände als auch, zum Kontrast, der sich beschleunigende Prozess von Zusammenbruch und Selbstzerstörung eines Familien-Verbandes bei Verletzung der ständischen Norm. Das Neue an dieser Darstellung besteht in zweierlei. Zum einen hat sich die primäre Handlungsmotivation gegenüber Walpole verändert. Sie besteht hier in der Sexualität als einem fundamentalen menschlichen (nicht-rationalen) Trieb, der in der Sozialisierung innerhalb der Ehe – in Kombination mit sozialer Gleichrangigkeit – harmonische und dauerhafte Familiengeschichten begründet, der aber – rigoros unterdrückt und tabuisiert – gewaltsam ausbricht, sowohl das Individuum selbst als auch enge soziale Beziehungen zerstört. Diese Auswirkungen werden in den beiden gegensätzlichen Familiengeschichten vorgeführt. Zum andern entstammen die Widerstände und Hindernisse gegen gelingende Familiengeschichten der vormodernen theokratischen Herrschaft der katholischen Kirche, die nicht nur ein eigenes jenseits-orientiertes Normensystem vertritt (das im Roman auf die Unterdrückung der Sexualität zugespitzt erscheint), sondern mit der Klosterinstitution vor allem ein diesen Normen verpflichtetes Gemeinschaftsmodell vertritt, das mit der Familie rivalisiert und den Menschen in seiner Kreatürlichkeit und Menschlichkeit korrumpiert. Relevanz und Funktion der Familiengeschichte als zentrale Plotstruktur sind sozialgeschichtlich bestimmt – als Manifestation des traditionellen (und konservativen) Prinzips der Gesellschaftsorganisation über die (aristokratische) Familie und den Clan. Sie wird in diesen beiden Romanen durch fremde soziale Phänomene in ihrer Geltung in Frage gestellt. Dies geschieht zum einen durch die moderne soziale Mobilität (durch Aufsteiger) und, weniger prononciert, die moderne individuelle (Klassengrenzen ignorierende) Liebe besonders bei Walpole, aber hinsichtlich der Gonzalvo/ Elvira-Familie auch bei Lewis und zum andern durch die archaische theokratische Institution der (katholischen) Kirche und besonders des Klosters als familienähnliche Gemeinschaft bei Lewis. Bei Walpole wird der traditionelle Familienstatus nach seiner Störung wiederhergestellt, unterstützt von einer übermenschlichen Macht, aber die Liebe (Theodores für Matilda) kann hier nicht integriert werden. Bei Lewis wird sie, wenngleich erst gegen fast unüberwindliche Hindernisse, neu etabliert, doch die übernatürlichen Mächte sind ambivalent: sie strafen einerseits massiv die normenwidrig begründete Familie bis in die unwissende, unschuldige Enkelgeneration, be-

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hindern andererseits – wenigstens im Fall der (allerdings selbst-provozierten) Intervention der „Bleeding Nun“ – die Realisierung der normenkonformen Liebesverbindung. 3. Mary Shelley: Frankenstein Mary Shelleys Frankenstein; or The Modern Prometheus (1818) stellt eine spätere Stufe der Entwicklung der Gothic Novel im Kontext der Romantik dar, in der sich das Streben des Protagonisten von der Erhaltung oder Etablierung einer (normalen, menschlichen) Familie fort letztlich auf deren Vermeidung oder Umgehung verschoben hat.6 Victor Frankenstein wächst in einer intakten, idealen, ihn liebevoll erziehenden Familie auf, verlobt sich später mit der Tochter einer befreundeten Familie, Elizabeth, und schickt sich somit an, die eigene Familienlinie normenkonform fortzusetzen. Doch schon in seiner Jugend hat ihn ein leidenschaftlicher Wissensdurst ergriffen, ein naturwissenschaftlich-technisches Interesse, das ihn anderen Menschen entfremdet und ihn zu Studien an die Universität treibt. Aus diesem Antrieb entwickeln sich schließlich insbesondere die Idee und das Verlangen, künstlich neues Leben zu erschaffen. Für die Entstehung einer derartigen Mentalität ist höchst signifikant, dass dieser Roman nicht wie die von Walpole und Lewis in vormodernen katholischen Ländern Südeuropas angesiedelt ist, sondern in der mitteleuropäischen protestantischen Schweiz (Genf) und an einer deutschen Universität im 18. Jahrhundert, also in einer Epoche der beginnenden Modernisierung. Es gelingt Frankenstein, das Prinzip der Lebenserzeugung zu entdecken: I succeeded in discovering the cause of generation and life; nay, more, I became myself capable of bestowing animation upon lifeless matter. […] The astonishment which I had at first experienced on this discovery soon gave place to delight and rapture. After so much time spent in painful labour, to arrive at once at the summit of my desires, was the most gratifying consummation of my toils. (51)

Er erschafft dann tatsächlich ein menschliches Wesen, die namenlos bleibende Kreatur („creature“ oder „daemon“). Dieser Akt tritt, wie die sexuellen Konnotationen in der zitierten Passage implizieren, an die Stelle der natürlichen Zeugung eines Sohnes und umgeht die Funktion der Frau bei der Fortpflanzung. Die Familie als Institution für Erhalt und Fortführung menschlicher Gesellschaft wird ersetzt durch die gottgleiche Potenz des genialen (männlichen) Einzelnen: „A new species would bless me as its creator and source; many happy and excellent natures would owe their being to me. No father could claim the gratitude of his child so completely 6

Vgl. Homans; Davison 178-185.

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as I should deserve theirs.“ (52f.) Doch diese Ersetzung der Familie misslingt in jeder Hinsicht und führt zur Zerstörung sowohl von dieser Ersatzinstitution als auch von Frankensteins eigener Familie. Es beginnt damit, dass er sich vor der Hässlichkeit seines Geschöpfes entsetzt, es verstößt und ihm damit die Anerkennung und Sozialisation vorenthält, die es zu seiner gedeihlichen Entwicklung braucht, also seine Pflichten als ‚Vater‘ fundamental verletzt. Er treibt es so in die absolute Isolation des Ausgestoßenen. Die vom ‚Vater‘ verweigerte Erziehung kann dann allerdings in gewisser Weise, stellvertretend durch die Familie der De Lacey, nachgeholt werden, deren tägliches Leben die Kreatur aus einem Schuppenanbau belauscht, so dass sie mit Sprache, Literatur, Kultur und Umgangsformen vertraut gemacht wird. Doch als sie direkten Kontakt mit dieser Familie aufnehmen will, wird sie auch hier aufgrund ihres Aussehens verstoßen. Diese zweimalige Verstoßung löst in dem eigentlich gutwilligen, sich nach Gemeinschaft sehnenden Geschöpf allgemeine Aggressivität und Rachegelüste besonders gegenüber seinem Schöpfer aus: “I, like the archfiend, bore hell within me, and finding myself unsympathised with, wished to tear up the trees, spread havoc and destruction around me, and then to have sat down and enjoyed the ruin. […] [F]rom that moment I declared ever-lasting war against the species, and, more than all, against him who had formed me, and sent me forth to this insupportable misery.” (132)

und: „I am malicious because I am miserable“ (140). Dieser Gewalttätigkeit fallen dann Frankensteins eigene und seine zukünftige Familie sowie sein Freund zum Opfer. Das Geschöpf bringt seinen Bruder um und mittelbar dessen Kindermädchen und tötet später seinen Freund Clerval sowie, kurz vor der Hochzeit, seine Verlobte Elizabeth, woraufhin auch noch sein Vater stirbt. Vor dieser letzten Gewalttat hatte Frankenstein seinem Geschöpf überdies die Gründung einer eigenen Familie verweigert, indem er seine Bitte zurückwies, ihm eine Gefährtin zu erschaffen und dadurch seine Einsamkeit zu lindern: „,Our lives will not be happy, but they will be harmless, and free from the misery I now feel. Oh! my creator, make me happy; let me feel the sympathy of some existing thing […]‘“ (141). Selbst Frankenstein erkennt zunächst die Berechtigung dieser Bitte um ein fundamentales kreatürliches Recht an: „I felt that there was some justice in his argument. His tale [d.h. die Erzählung seines bisherigen Lebens], and his feelings he now expressed, proved him to be a creature of fine sensations“ (141). Dann überkommt ihn Furcht vor der Entstehung einer neuen, der Menschheit vermutlich feindlichen Rasse. Als Reaktion seinerseits auf die Gewalttätigkeit seines Geschöpfes versucht er dieses zu töten, also seine Schöpfung rückgängig zu machen, wobei beide am Schluss umkommen.

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Die Familie als soziale Einheit und gesellschaftliches Organisationsprinzip löst sich in Shelleys Frankenstein gänzlich auf – ersetzt zunächst durch das sich autonom gebärdende Individuum. Doch dieses verwirft schließlich aus Entsetzen über die Ergebnisse seines Schaffens und dessen Folgen seine Autonomie wieder. Es ergibt sich somit ein pessimistisches Fazit aus der Abfolge dieser drei Gothic Novels: Die traditionelle Institution der Familie verliert am Schluss die Funktion als tragfähiges Organisationsprinzip der Gesellschaft; das moderne Individuum, das mit seiner Schaffenskraft bei Shelley diese Rolle zunächst für sich beansprucht, erweist sich (noch) als zu schwach. Es tritt hier im Übrigen keine übernatürliche Macht mehr auf: Die katastrophalen Entwicklungen sind letztlich ‚natürliche‘ – psychische – Auswirkungen der Aktivitäten Frankensteins, der als Wissenschaftler gewissermaßen die Rolle Gottes übernimmt, sie letztlich aber nicht aufrechterhalten kann. Die drei untersuchten Romane zeigen eine klare Veränderung in Struktur und Funktion der Familie auch in Bezug auf den Stellewert individueller Liebe. In The Castle of Otranto erhält das ständisch-genealogische Prinzip bei der Konstitution der Familie primäres Gewicht, gegenüber dem der Liebe nur eine untergeordnete Rolle zugebilligt wird. In The Monk ist der Stand ebenfalls dominant, aber in Verbindung mit der Liebe: eine standeswidrige Liebesehe wird bestraft, eine standeskonforme ermöglicht, Leidenschaft ohne Familie und Ehe verdammt. Frankenstein verwirft die Familie gänzlich, zugunsten des Individuums – wie es zunächst scheint, aber auch dieses erweist sich nicht als tragfähige Alternative. 4. Einige Schlussfolgerungen Neben der (scheiternden bzw. gelingenden) Familiengeschichte als Strukturierung der Gothic Novel ist ein weiterer Plot-Aspekt signifikant: das Problem der Handlungskontrolle, also die Frage, wer oder was den Fortgang des Geschehens steuert. Darin zeigen sich Unterschiede zwischen den Romanen. Bei Walpole hatte der Usurpator Ricardo das Geschehen noch erfolgreich kontrollieren können. Auch sein Enkel, Manfred, versucht dies durch seine Heiratspolitik zur Sicherung der eigenen Position, scheitert aber, nicht primär durch Aktivitäten der rechtmäßigen Erben, sondern wegen des Eingreifens einer überpersönlichen Macht auf deren Seite. Erst zusammen mit dieser ihnen wohl gesonnenen Macht – eng assoziiert mit der Statue des Ahnherrn Alfonso, also dem traditionellem Recht – gelingt es Theodore und Jerome, das Erbe wiederzuerlangen. Bei Lewis jedoch fehlt den Menschen weitgehend die Fähigkeit, den Gang der Ereignisse zu bestimmen. Dies liegt zum einen an der Übermacht irrationaler Triebe, die

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Eingriffsmöglichkeiten für das personifizierte Böse bieten (im Falle Ambrosios), zum anderen an den zahlreichen (unpersönlichen) fatalen Zufällen und paradoxen Verkettungen, also an der perversen Widerständigkeit der Wirklichkeit (im Falle von Agnes und Raymond). Menschliches Handeln produziert immer wieder konträre Resultate. Verstärkt wird dieser Kontrollverlust durch die enge Beschränktheit menschlichen Bewusstseins: Besonders Ambrosios Schicksal zeigt, dass er sich selbst nicht in seinen Trieben durchschaut und sich selbst betrügt. Die übernatürliche Macht, wo sie in diesem Roman eingreift, tut dies einerseits strafend gegen den korrumpierten Ambrosio, andererseits gegen Raymond und Agnes als Zeichen ihrer Kurzsichtigkeit und mentalen Begrenztheit (allerdings nur ein einziges Mal, beim Fluchtversuch im Schutze der Geistererscheinung der „Bleeding Nun“). Nur mühsam und mit Hilfe anderer, speziell der staatlichen Ordnungsmacht, gelingt ein glückliches Ende für das liebende Paar. Bei Shelley scheitert menschliche Steuerung vollends, obwohl die Schöpfung der Kreatur ein besonders triumphaler Beweis für erfolgreiche menschliche Schaffenskraft ist und übernatürliche Mächte gar nicht mehr in Erscheinung treten. Das Ausmaß des Scheiterns menschlichen Handelns zeigt sich eklatant daran, dass Frankenstein die Folgen seines bewussten Tuns radikal verwirft und alles daran setzt, es wieder rückgängig zu machen. Diese zwei Aspekte der Familiengeschichten in den untersuchten Schauerromanen lassen sich als Indizien der im Zuge der Modernisierung zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse deuten: der Verfall der gesellschaftsbildenden Macht der Familie und der Verfall der Effektivität rationaler Handlungssteuerung. Parallel dazu schwindet stufenweise die normen-stützende Funktion übernatürlicher phantastischer Mächte: Sie sind bei Walpole eindeutig positiv im Sinne der Rehabilitierung der herkömmlichen Ordnung, bei Lewis ambivalent, bei Shelley nicht mehr vorhanden.

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Homans, Margaret. „Bearing Demons: Frankenstein’s Circumvention of the Maternal“. Romanticism: A Critical Reader. Hg. Duncan Wu. Oxford: Blackwell, 1995. 379-400. Lewis, Matthew. The Monk. Hg. und Einl. H. Anderson. Oxford: Oxford UP, 1980. Punter, David. The Literature of Terror: A History of Gothic Fictions from 1765 to the Present Day. Vol. 1: The Gothic Tradition. London: Longman, 1996. Shelley, Mary. Frankenstein; or The Modern Prometheus. Hg. und Einl. M. Hindle. London: Penguin, 1992. Smith, Andrew. Gothic Literature. Edinburgh: Edinburgh UP, 2007. Spooner, Catherine und Emma McEvoy, Hg. The Routledge Companion to Gothic. London: Routledge, 2007. Walpole, Horace. The Castle of Otranto: A Gothic Story. Hg. W. S. Lewis. Einl. E. J. Clery. Oxford: Oxford UP, 1996. Watt, Ian. „Time and the Family in the Gothic Novel: The Castle of Otranto“. Eighteenth-Century Life 10.3 (1986): 159-71. Williams, Anne. Art of Darkness: A Poetics of Gothic. Chicago: U of Chicago P, 1995.

Gesichter der polnischen nichtrealistischen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts JACEK RZESZOTNIK Faces of Polish Non-Realist Literature at the Beginning of the 21st Century The article investigates the situation of the Polish speculative literature on the threshold of the 21st century. From the chaotic book market events of the 1990s, in which the dominance of foreign fantasy was immense, three genres have emerged and survived into the new century: sword and sorcery, horror, and patriotic fiction. Sword and sorcery follows, in principle, the typical world trends. The genre embraces also stories that utilize Polish or Slavic mythology. Horror, a genre that Poles never especially liked to read before, has been flourishing lately, indicating a profound mental change coinciding with a modernization process since 2000. The third genre, patriotic fiction, has to be considered as a literary reaction to the fact that the Polish people have continuously been gaining self-respect since they started modernizing their country following the ‘winds of change’ of 1989. These stories show victorious Polish troops acting in different times and different places (alternative or future wars). An important part of the article is dedicated to explaining modern Polish speculative literature’s image of Germans (and Germany). As it seems, it is the one, from all non-realistic European literatures, that most intensely and seriously deals with depictions of Germany without recoiling from entering previously forbidden zones such as positive depiction of WWII German soldiers or sympathy for German prisoners.

1. Einleitung Aus der breiten Palette der fantastischen Literaturgattungen in der Zeit der chaotischen marktwirtschaftlichen Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre, in denen die polnischen nichtrealistischen Lesestoffe angesichts der Invasion der weit leserkonformer konzipierten und daher vom Lesepublikum auch zunächst mit offenen Armen empfangenen angelsächsischen Fantastik noch in schwere Rückzugsgefechte verwickelt waren, haben sich in die inzwischen wesentlich ruhigeren und von deutlich höherem Branchenprofessionalismus gekennzeichneten 2000er Jahre eigentlich nur drei Genres intakt ‚herübergerettet‘ oder gar in einer viel besseren Kondition als vorher hinein ausgebreitet: Fantasy, Horror und patriotic fiction.

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2. Fantasy Die Fantasy boomt praktisch ununterbrochen seit den 1980er Jahren in der westlichen Welt und hat sich problemlos auf polnischen Boden verpflanzen lassen, wo sie seit den 1990er Jahren gedeiht und deren Ableger mittlerweile den gesamten polnischen Fantastik-Literaturbetrieb penetrieren. Schon allein ihre quantitative Superiorität in Polen wirkt im Großen und Ganzen paralysierend auf die Entwicklung anderer Sparten der heimischen spekulativen Literatur. So fristet etwa die traditionelle technisch orientierte Science Fiction seit einiger Zeit lediglich ein Schattendasein am Rande des Marktgeschehens, so dass nur deren lokale Megastars wie etwa Jacek Dukaj1 (einer der Träger des Europäischen Literaturpreises 20092) relativ unbesorgt in die Zukunft blicken können. Ein Übriges zur Förderung der hauptsächlich mengenmäßigen Blüte (bzw. Wucherung) der Fantasy tut die weit verbreitete Überzeugung von der konzeptionellen Einfachheit der Kreation einerseits und der strukturellen Trivialität von Fantasy-Welten und -Helden andererseits, was de facto ein unbekümmertes Drauflosfabulieren erlaube und keine Ansprüche an das Wissen und die Faktenkenntnis aufseiten der Autoren stelle: Das einschlägige Geschichtenrezept erfordere ja nur die Erfindung einer fiktiven pseudomittelalterlichen Textrealität, in die zusätzlich fantasygenuine Ingredienzien wie etwa Magie oder Fabelwesen integriert würden. Dieser ignorante Ansatz mündet unvermeidlich in eine Flut auf Papier verewigter, qualitativ miserabler literarischer Kuriositäten. Das Fantasy-Universum kolonisieren daher im Endeffekt ganze Armeen von Frodos, Gandalfs, Aragorns, Legolas, Gimlis und anderen Klischeewesen und Abklatschgeschöpfen mit tiefen Wurzeln in der keltischen oder germanischen/skandinavischen Mythologie: allesamt Klone mit zumeist weit eingeschränkter Lebensfähigkeit. Umso wohltuender heben sich von dieser Masse ungoutierbarer Fabrikate limitierter Vorstellungsvermögen zahlreicher Möchtegernschriftsteller die ideenreichen und handwerklich exzellenten Romane und Erzählungen eines Andrzej Sapkowski3, einer 1

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Er gilt in Polen als der einzige geistig und literarisch legitime Nachfolger von Stanisław Lem und exzelliert mit seinen Romanen in fulminanter, enorm ideenreicher Hard Science Fiction. Bereits sein jugendliches Debüt im Alter von 16 Jahren – die kirchenkritische Erzählung „Złota Galera“ [1990, „Die Goldene Galeere“] – hat wegen thematischer Brisanz und stilistischer Brillanz für großes Aufsehen gesorgt und ihm den Weg in die Popularität gepflastert, die seine späteren grandiosen Werke nur noch petrifizieren. Für seinen alternativgeschichtlichen, historiosophischen SF-Roman Lód [Das Eis] über eine Realität, in der weder der Erste Weltkrieg noch die bolschewistische Revolution ausgebrochen sind. Gibt Jacek Dukaj in der polnischen Science-Fiction souverän den Ton an, so dominiert in der polnischen Fantasy die Stimme Sapkowskis. Er kann inzwischen auf eine Reihe von Veröffentlichungen in Deutschland zurückblicken, wie etwa die siebenteilige Serie, die als Hexer-Zyklus oder Geralt-Saga (erschienen München: dtv 2007-2010) bekannt ist. Die Po-

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Ewa Białołęcka4 oder einer Anna Brzezińska5 ab. Dieses Trio bildet das zentrale Dreigestirn am polnischen Fantasy-Himmel, um das herum konzentrisch die übrigen Autorenriegen ihre Bahnen ziehen. Neben diesen drei Meistern der Gattung feiert in den letzten paar Jahren Jarosław Grzędowicz mit seiner brillanten Trilogie Pan Lodowego Ogrodu [Herr des Eisgartens], einem überaus gelungenen Mix aus Fantasy und Science Fiction, die sich hier zu einer literarischen Powerkonstellation haben aufbauen lassen, große Triumphe, die den Autor reihenweise die angesehensten und bedeutendsten Genrepreise in Polen an sich reißen lassen. Eine kleine, dafür aber originellere Subgattung der in Polen entstehenden Fantasy-Literatur exploriert die Schatzkammer der slawischen Mythologie und verwertet das darin Gefundene viel souveräner und kreativer als die Legion der Epigonen der klassischen Fantasy. Interessanterweise ist ein Großteil dieser Storys literaturkommunikationsstrategisch entweder in der Sparte der Komik zu Hause oder er verzahnt Fantasyhaftes in eine zeitgenössische Geschichte, deren Handlung hier und heute spielt, wie etwa Anna Brzezińskas Babunia-Jagunia-Geschichten. 3. Horror Das zweite Genre, das dem Gesicht der polnischen nichtrealistischen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihr Gepräge gibt, ist der Horror. Im Gegensatz zur Fantasy, die es auf dem freien Markt schon immer relativ leicht gehabt hat, muss er bis auf den heutigen Tag, wo er sich de facto einer noch nie da gewesenen Popularität sowohl unter den Lesern als angenehm zu konsumierender Gruselstoff als auch den Autoren als passabel zu konzipierender Erzählstoff erfreut, die Wunden der Nichtbeachtung aus den 1990er Jahren ‚lecken‘. Die jetzige augenfällige Beliebtheit des polnischen Horrorgenres, dessen Marktangebot fast schon an Überproduktion denken lässt, ist übrigens ein erstaunliches, weit über sich selbst hinausdeutendes Phänomen, da sie

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pularität von Sapkowski wird vom modernen Medienverbund intensiv genutzt, indem die von ihm erfundenen Gestalten (und Ereignisse) in Kinofilmen, Fernsehserien, Comics und Computerspielen Verwendung finden. Ihrer Feder entstammen eine Reihe von äußerst beliebten serienungebundenen FantasyErzählungen sowie Texte (Kurzgeschichten und Romane), die sich zum Zyklus ‚Chroniken des Zweiten Kreises‘ zusammensetzen. Bisher keine Veröffentlichungen in deutscher Sprache. Ihre bekanntesten Schöpfungen, denen sie ihre zentralen Romane und Erzählungen widmet, sind ein Magier namens Twardokesek und die Hexe Babunia Jagunia, die die Märchengestalt Baba-Jaga parodiert und in den Kontext der Gegenwartszeit – mit allen daraus resultierenden, satirisch überhöhten oder manchmal gar burlesk ausgemalten Konsequenzen – stellt. Bisher keine Veröffentlichungen in deutscher Sprache.

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eine längst axiomatisierte Erkenntnis, dass diese Gattung des unterhaltenden Kunstkonsums in Polen nicht zum Erfolg geführt werden könne, Lügen straft. Als Begründung für dieses ‚Defizit‘ pflegt man den horroristischen Null- bzw. gar Minuszustand der Jenseitsvorstellungen der Polen ins Feld zu führen: Im Unterschied zu den ost- und südslawischen Völkern, geschweige denn zu ihren nordgermanischen Nachbarn, verfügen die Polen nämlich über ein relativ dünn besiedeltes Pantheon von Gruselwesen. Überhaupt scheinen sie Schauergeschichten kaum Reiz abgewinnen zu können. In diesem Zusammenhang sei auf einen Fakt hingewiesen, der etwas Licht in diese ungewöhnliche Situation bringt: Die polnische Mythologie kennzeichnet insgesamt eine merkwürdige Rationalität, wohingegen der Alltag der Polen ein gerüttelt Maß an Irrationalität offenbart. Die beiden Bereiche von Ratio und Fantasie fließen daher etwas leichter ineinander über. (Und wenn sie permanent unter einem Dach wohnen, verwischen sich im Verlauf der Zeit die eklatantesten Differenzen und die beiden beginnen sich allmählich anzunähern, bis sich am Ende der Entwicklung ein mentales Phänomen formt, das Ratio und Irrratio nicht mehr gegeneinander abgrenzen kann.) Die Verunsicherung infolge der Störung/Zerstörung der ontologischen Gewissheit, was bekannterweise die Grundvoraussetzung für die Wirkung der Gruselerzählstoffe bildet, vermag sich daher nicht so problemlos einzustellen, da diese Destruktion ja womöglich gar nicht erst bemerkt wird. In den westlichen Gesellschaften hingegen sind die Akzente anders gesetzt: Der mythologischen Irrationalität steht ein durchrationalisierter Alltag gegenüber. Somit stechen einschlägige klare Grenzziehungen sofort ins Auge und lassen sich in der Kunst entsprechend erschließen und fruchtbar machen. Sie legen den Nährboden, aus dem dann das Angstgefühl sprießen kann. Der Einbruch des Anderen/Schrecklichen (Chaos) in die durchstrukturierte, geordnete Welt wird daher sofort erkannt und mit Grauen registriert. Man könnte sich an dieser Stelle der nicht so unmotivierten Spekulation hingeben, dass die Horrorliteratur an der Weichsel als eine Art Seismograph viel besser als jedes andere Genre tiefgreifende sozial-mentale Veränderungen indiziert. Es scheint, als würden die Polen nun ihre bisherige, traditionsgeprägte und -geheiligte Wirklichkeitswahrnehmungsweise und die damit auch zusammenhängende Wirklichkeitsrezeptionsweise im rasch fortschreitenden Modernisierungsprozess der 2000er Jahre langsam zugunsten der westlichen pragmatischen ‚Sicht der Dinge‘ aufgeben, was sie rezeptiver für die Horrorliteratur westlicher Prägung macht. Ihre haarsträubenden Phantasmagorien kleidet in den letzten Jahren eine Riege junger Adepten des literarischen Grusels erfolgreich in Gänsehaut verursachende Worte. Dieser sich konsequent das Interesse und die Gunst des Lesepublikums erschreibenden Gruppe, die ihre Fabulierkunst

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zunächst an modernen amerikanischen Schreckensgeschichten geschult, doch dann zu ihrer eigenen Stimme gefunden hat, gehören u. a. die HorrorBestseller-Verfasser Łukasz Orbitowski6, Dawid Kain7, Kazimierz Kyrcz Jr.8 und Robert Cichowlas9 an.10 Das höchste Ansehen als Schilderer von grauenerregenden Visionen genießt allerdings der Vertreter der mittleren Generation Jarosław Grzędowicz, dessen im letzten Jahrzehnt bereits dreimal neuaufgelegter Erzählband Das Buch der Herbstdämonen in Polen inzwischen Kultstatus hat. Die angehenden Autoren der literarischen Horrorzunft nehmen sich Grzędowicz zum künstlerischen Vorbild und seinen berühmten Story-Band zum (freilich kaum erreichbaren) ‚dichterischen‘ Maßstab. 4. Patriotic Fiction Das dritte Genre, das im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums in der polnischen nichtrealistischen Literatur in den Aufwind kommt und immer mehr an Boden gewinnt, darf sich zwar zu spärlichen Wurzeln noch in den 1990er Jahren bekennen,11 ist aber in Wirklichkeit ein genuines Pro6 7

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Sein Oeuvre oszilliert konsequent zwischen anspruchsvollen Gruselromanen mit psychologischen und soziologischen Diagnosen (Tracę ciepło [Wärmeverlust] oder Święty Wrocław [Das heilige Breslau]) und actionreicher Horrorsensation (z.B. Horror Show). Der in Köln geborene Autor lässt seine Texte, die oft in Zusammenarbeit mit Kazimierz Kyrcz Jr. die Welt erblicken, unterschiedliche Bereiche der unheimlichen Literatur explorieren: der Bogen spannt sich von philosophisch angehauchten Nervenkitzel-Storys über Auster, Becket oder Kafka verpflichtete beklemmende Geschichten bis hin zu Horrorgrotesken und schockierenden Gore-Visionen mit ‚intensiven‘ erotischen Ingredienzen. Er arbeitet gern mit jüngeren Autoren zusammen. Sein Beitrag zum gemeinsamen Schaffen besteht vor allem in der ‚Verrealisierung‘ und ‚psychologischen Plausibilisierung‘ der brutalen ‚postmodernen Alpträume‘ von Dawid Kain oder der surrealistischen Visionen von Łukasz Śmigiel. Sein bisheriges, eher bescheidenes Werk umfasst zum großen Teil Kooperationen mit anderen Horrorautoren (vor allem Kazimierz Kyrcz Jr.) und gießt mit seinen psychologisierenden Beiträgen zumeist Öl auf die Wogen kruder Horrorvisionen seiner Kollegen, obwohl ihm seine Fantasie auch ab und zu Grauenhaftes in die Tastatur diktiert. Leider gibt es unter den polnischen Autoren auch sehr talentierte Gruselvisionäre, deren Horror-Karrieren nach einem vielversprechenden Auftakt in Form eines überragenden Debütromans entweder abrupt zum Stoppen gekommen oder irgendwie im Sande verlaufen sind. Diese negative Entwicklung kann etwa an Zygmunt Białoszewski exemplifiziert werden, dessen Domofon nicht nur auf Deutsch vorliegt, sondern auch von einem der bekanntesten, populärsten und erfolgreichsten polnischen Regisseure Juliusz Machulski auf die Leinwand gebracht werden soll (freilich elektrisiert diese Nachricht die Horrorfangemeinde bereits seit 2007, ohne dass Konkretes den cineastischen Gaumen kitzelt). Seitdem führt Białoszewski aber keine ‚gruselige Feder‘ mehr, sondern verfasst Krimis und Märchen. Die ‚prototypische Erzählung‘ dieser Sparte stammt aus dem Jahre 1995 und trägt den Titel „Noteka 2015“. Ihr Autor Konrad T. Lewandowski schildert darin die erfolgreiche Abwehr einer Invasion Polens durch die NATO-Streitkräfte. Die militärisch weit unterlegenen

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dukt des erstarkenden Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls der Polen in den 2000er Jahren: Die patriotic fiction, die sich gattungsklassifikatorisch unter die Kategorie ‚alternate history‘ subsumieren lässt, bezieht sich auf fantastische Geschichten, in denen die Polen ungeachtet aller Widrigkeiten und Schwierigkeiten, hauptsächlich militärischer und/oder politischer Natur, letzten Endes die Oberhand behalten bzw. nach anfänglichen Rückschlägen, die selbstverständlich keine Waterloos sind, zum Schluss den (verdienten) Sieg davontragen. Es bleibt abzuwarten, wie fruchtbar und innovativ sich das Genre am Ende doch noch erweisen wird, und zwar angesichts des ihm zugrundeliegenden relativ einfachen erzählerischen Strickmusters: Die Weichen für eine alternative Entwicklung der Vergangenheit werden durch die Ingerenz der modernen Menschen in den Ablauf der Dinge gestellt. Aus dramaturgischen Erwägungen handelt es sich dabei meistens um wichtige Knotenpunkte in der polnischen (und nicht nur polnischen) Geschichte (vornehmlich den Zweiten Weltkrieg oder die Wendezeit um 1989). Die reine Form der patriotic fiction bietet eine Trilogie des sonst wenig bekannten Autors und Historikers Marcin Ciszewski12, in der sich im Jahre 2007 eine hochmodern ausgerüstete Einheit der polnischen special forces vor ihrem Sonderauftrag in Afghanistan auf einem Übungsgelände eine völlig neue NATO-Taktik auf dem Schlachtfeld antrainiert: eine Art Zeitmaschine setzt das Kommando in den Stand, eventuelle falsche Befehle im Kampf rückgängig zu machen und durch beliebig wiederholbare temporale Sprünge zu korrigieren. Das Experiment gerät allerdings zu einem Debakel mit Langzeitfolgen: Der Trupp landet im September 1939 und muss die Entscheidung treffen, ob er durch einen Eingriff in die deutsch-polnischen Kämpfe nicht ein Zeitparadoxon erzeugt, das den weiteren Verlauf der Geschichte ‚modifizieren‘ wird. Schließlich siegt das Gefühl der Verbundenheit mit den leidenden Landsleuten über den warnenden Verstand, und die Einheit schaltet sich in die Kampfhandlungen ein. Die Trilogie schildert dann die turbulenten Schicksale der polnischen Elitesoldaten während des Zweiten Weltkriegs auf verschiedenen Kontinenten. Spiegelbildlich aufeinander bezogen sind die zwei anderen Hauptvertreter der patriotic fiction in Polen, die diesmal aber nicht die Ereignisse um

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Polen tricksen den übermächtigen, technisch bestens ausgerüsteten, aber im Grunde dummen amerikanischen und westeuropäischen Gegner mit unkonventionellen Verteidigungsmethoden aus. Der mehrmals preisgekrönte Text ist insofern interessant, als er zum ersten Mal so evident die bisherige Amerika-Vernarrtheit und -Hörigkeit der Polen kompensatorisch problematisiert und hinter den Sinn der eklatanten Asymmetrie der polnisch-amerikanischen ‚Freundschaft‘ ein großes Fragezeichen setzt. „Noteka 2015“ erfreut sich bis auf den heutigen Tag immenser Beliebtheit und wird unanim zu den wichtigsten polnischen spekulativen Erzähltexten nach 1989 gezählt. Die Trilogie besteht aus den Bänden: www.1939.pl, www.1944.pl und Major.

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den Zweiten Weltkrieg alternativgeschichtlich utilisieren, sondern die postwendige Gegenwart den Hintergrund für die spekulativen, patriotic fiction mit political fiction verschmelzenden Abenteuer der Protagonisten und einschlägige Erzählerkommentare abgeben lassen – Vladimir Wolffs Żelazna kurtyna [Der Eiserne Vorhang] und Czerwona Apokalipsa [Die rote Apokalypse], die beide Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen das Wort reden und die Demarkation zwischen der westlichen Zivilisation und der russisch-orthodoxen Welt mitten durch Weißrussland und die Ukraine verlaufen lassen. Im erstgenannten Roman befiehlt der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko als Treuhänder des bolschewistischen imperialen Denkens einen Überfall auf Polen, um die auf den alten, nach Jahren aus den Tiefen der Schubladen der Militärs hervorgeholten kaltkriegerischen Karten eingezeichneten Invasionspläne doch noch in die Praxis umzusetzen. Nur dass diesmal der zu durchbrechende Eiserne Vorhang direkt vor Weißrusslands Toren hängt. In Die rote Apokalypse hingegen befinden sich die Polen aufseiten der Invasoren, die die nach dem gewaltsamen Tod von Wiktor Janukowytsch, Wiktor Juschtschenko und Hillary Clinton vom Bürgerkrieg geschüttelte Ukraine befrieden sollen. Es muss ja nicht hinzugefügt werden, dass gewisse politische Kreise in Warschau die Unruhen beim östlichen Nachbarn als gottgewollte Gelegenheit dafür erachten, die polnische Variante der Parole ‚Heim ins Reich‘ mit neuem Leben zu erfüllen und die ehemaligen Ostgebiete in den Schoß des polnischen Mutterlandes zurückzuholen. Der Kreml will einer solchen Entwicklung natürlich nicht tatenlos zusehen und ist eher bereit, ein Weltblutbad (die rote Apokalypse) anzurichten, als es zuzulassen, dass sich die Grenzen des russischen Einflussbereichs nach Osten verschieben und damit von Mittel- und Westeuropa entfernen. Es steht zu vermuten, dass je mehr Zutrauen in die eigenen Kräfte und Bedeutung bei den Polen im Verlauf der Zeit wachsen wird, umso kühner auch ihre Rolle bei den weltbewegenden Entscheidungen entworfen werden wird.13 Dabei lässt sich ein expliziter Dualismus bei der ‚Gegner‘-Darstellung erkennen: Spielt die Handlung in der Gegenwart der 1990er und 2000er Jahre so sind ausschließlich die Russen als Hauptbösewichte kostümiert, ungeachtet der Tatsache, ob sie höchstpersönlich die Bühne des Geschehens betreten oder aber im Hintergrund die Fäden ziehen. Dagegen werden in den Zweiter-Weltkrieg-Geschichten zwingenderweise die Deutschen als Hauptkontrahenten in Szene gesetzt. 13

So wie es in Marcin Gawędas Roman Kaukaskie epicentrum [Das kaukasische Epizentrum] passiert, in dem die NATO sich nicht, wie in ‚unserer Realität‘ geschehen, als feiger Koloss auf tönernen Füßen angesichts der Aggression des russischen Molochs gegen Georgien blamiert, sondern schnell und entschlossen handelt und die ‚Besten der Besten‘ (sprich: die polnischen Truppen) an die vorderste Front des Kampfes entsendet.

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5. Das Bild der Deutschen in der polnischen Fantastik Überhaupt scheint die deutsche Problematik in der polnischen Fantastik seit der Millenniumswende unaufhörlich an Relevanz zu gewinnen, und die Deutschen bauen als Textagenzien ihre Präsenz in polnischen fantastischen Texten kontinuierlich aus.14 Was hierbei allerdings noch mehr ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, dass sie darin weder kurze oder unbedeutende Gastrollen geben noch als bloßes dramaturgisches Ornament instrumentalisiert werden, sondern sie rücken handlungs- und bedeutungsmäßig in den Vordergrund. Parallel dazu vollzieht sich komplementär eine fundamentale Wandlung in der Wahrnehmung und Darstellung der Deutschen, die insbesondere aus der Feder junger Autoren Geschichten fließen lässt, in denen die Stichhaltigkeit der noch bis vor Kurzem in der Literatur petrifizierten konfrontativen Konstellation ‚Deutsche versus Polen‘ in Zweifel gezogen wird und das Konzept der angeblich immerwährenden deutschpolnischen Feindschaft eine gravierende Akzentverschiebung in Richtung differenzierterer Bilder erfährt. Selbst in Erzählungen, die die größten Katastrophen in der bilateralen Geschichte wie etwa den Zweiten Weltkrieg bzw. dessen Konsequenzen thematisieren, wird eine deutliche Absage an die lange gepflegte simplifizierende Schwarz-Weiß-Malerei bei der Textfigurengestaltung erteilt. Im Folgenden sei auf einige interessantere, zugleich aber auch repräsentative Beispiele aus dem sich stets vergrößernden Fundus an solchen für die konservativen Kreise in Polen freilich nach wie vor ‚intolerabel subversiven‘ Texten hingewiesen. Eine riskante Gratwanderung, im obigen Kontext, vollführt etwa Dariusz Spychalski mit seinem alternativgeschichtlichen Beststeller-Zweiteiler Krzyżacki poker [Das Deutschordenspoker], in dem der Hochmeister und die Komture als patriotische Staatsmänner 1957 eine gefährliche militärisch-politische Intrige gegen ihren polnischen Gebieter einfädeln: Mit Hilfe einer Kernwaffen-Erpressung suchen sie für den Ordensstaat in Preußen die volle Souveränität zu erkämpfen. Die Deutschordensritter gelten in Polen als Inbegriff des aggressiven und expansiven Deutschtums und werden manchmal gar als geistige Wegbereiter des Dritten Reiches ‚demaskiert‘. Ein anderes Porträt des Ordo Teutonicus zeichnet also Spychalski, der die Aussage seines Textes noch zusätzlich intensiviert, indem er mit den pflichtbewussten, vaterlandsliebenden Ordensrittern einen für den polnischen Leser eher deprimierenden Kontrast zu den egoistisch handelnden, ich-süchtigen polnischen Magnaten schafft. Seit einigen Jahren wird in der polnischen Öffentlichkeit die spekulative Diskussion zum Thema ‚Was wäre, wenn Polen auf Hitlers territoriale 14

Eine annotierte Auswahlbibliografie in Rzeszotnik 341-45.

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Forderungen eingegangen wäre oder sich gar mit ihm verbündet hätte‘ geführt. Neben einschlägigen historisch-essayistischen Veröffentlichungen und Interviews15 leistet auch eine Reihe von fantastischen Romanen und Geschichten einen wichtigen Beitrag zur Erörterung möglichst vieler sich aus einer solchen Prämisse ergebender Potenzialitäten. Interessanterweise brilliert hier der sich ideologisch in unmittelbarer Nähe des Rechtskonservatismus zu Hause fühlende Journalist, Satiriker und Schriftsteller Marcin Wolski mit seinen Texten. Insbesondere seine Romane alterland [Alternativwelt] und Wallenrod elaborieren solche Szenarien. Im erstgenannten Werk gelingt das Hitler-Attentat von 1944 und die bisherigen Feinde – die deutsche Wehrmacht und die polnische Heimatarmee – verbünden sich angesichts der heranrückenden Sowjetrussen. In Wallenrod hingegen bricht der Zweite Weltkrieg 1939 nicht aus, Sowjetrussland aber annektiert die baltischen Staaten und überfällt Finnland, was sich Goebbels und andere NS-Bonzen auf die Schlacht bei Wahlstatt von 1241 als Anfang der deutsch-polnischen Waffenbrüderschaft besinnen und die Notwendigkeit, sie wieder zu ‚aktivieren‘, erkennen lässt. Eine spezifische deutsch-polnische Zweckwaffenbrüderschaft bricht sich in Tomasz Bukowskis Roman Obiekt R/W0036 [Objekt R/W0036] Bahn, als die Deutschen und die Polen während des Warschauer Aufstands von 1944 plötzlich von einem wieder zum Leben erwachten Basilisken niedergemetzelt werden und nun den Schulterschluss riskieren, um die Gefahr zu bannen. Für so manchen polnischen Leser dürfte die Darstellung einer gemeinsamen Suchaktion, an der sich die Waffen-SS und die polnischen Aufständischen beteiligen, in der Tat nicht so ohne Weiteres akzeptierbar sein. In der von der sowjetischen Armee belagerten Festung Breslau im Jahre 1945 alliieren sich wiederum ein deutscher Kripo-Offizier und ein polnischer Agent im leicht fantastisch angehauchten Thrillerroman von Andrzej Ziemiański Ucieczka z Festung Breslau [Die Flucht aus der Festung Breslau], um gemeinsam eine Reihe geheimnisvoller Todesfälle unter den Deutschen und Polen aufzuklären. Um mysteriöse Morde an NS-Schergen geht es auch im Roman desselben Autors Breslau Forever. Es ist eine Geister-Krimi-Geschichte, die auf drei ineinanderhängenden Zeitebenen von 1939, 1945 und 2006 spielt und trotz ihres übernatürlichen Anstrichs für das Rätsel unheimlich wirkender Bluttaten eine durch und durch wissenschaftlich fundierte Lösung bietet. In seiner Erzählung „Zapach szkła“ [„Der Geruch des Glases“] lässt Ziemiański polnische Wissenschaftler und Militärs wiederum ein altes deutsches Kriegsexperiment zur Herstellung von zombieähnlichen Halbtoten als Kanonenfutter wieder aufgreifen und fortführen – allerdings erneut mit nicht allzu erfreulichen Folgen. 15

Vgl. etwa Zychowicz.

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Dass Tote oder Geister vor den Karren der Welteroberungspläne gespannt werden können, behauptet Tomasz Duszyński in seiner düsteren Erzählung „Śmierć to zwykłe marnotrawstwo materiału“ [„Der Tod ist nichts anderes als bloße Materialverschwendung“], in der Hitler ganze Divisionen an der Ostfront verbluten lässt, um so seine Soldaten massenweise in die Totenwelt zu expedieren, wo sie sich zunächst unter Ludendorffs Führung bewähren müssen, bevor sie nach der bereits technisch vorbereiteten Niederreißung der interdimensionalen Barrieren unsterblich (sie sind ja schon tot) und unbesiegbar (Tote können ja nicht noch einmal getötet werden) ins Diesseits einfallen. Einen besonderen Touch verleiht der Geschichte die Tatsache, dass hier nicht die Nazis als negative Charaktere in Szene gesetzt werden, sondern ein amerikanischer Spezialagent, der aus egoistischen Motiven (Liebeskummer) nicht nur die Invasion aus dem Jenseits nicht verhindert, sondern noch selbst das Dimensionstor aufstößt. Eine andere Variante der interdimensionalen Begegnung demonstriert Jarosław Grzędowicz mit seiner in Polen berühmten und preisgekrönten Erzählung „Wilcza zamieć“ [„Wolfsschneegestöber“]: Ein U-Boot fährt 1944 in den hohen Norden, um dort über Bifröst in die Welt der germanischen Götter zu gelangen und sich ihre Hilfe bei der Zerschlagung der Feinde des Dritten Reiches zu sichern. Diesen Plan sucht eine Gruppe fanatischer Mitglieder der Thule-Gesellschaft und SS-Mystiker in die Tat umzusetzen. Der U-Boot-Kapitän, der die Ansicht vertritt, dass das Dritte Reich durch seine Brutalität seine historische Existenzchance vertan habe, erkennt aber noch rechtzeitig, dass sich die nordischen Götter keineswegs von den Nazis werden an die Leine nehmen lassen, sondern nur darauf warten, von ihnen in unsere Realität herübergeführt zu werden, um hier ihr eigenes Schreckensregiment zu installieren. Das eigentlich Interessante an diesem Text ereignet sich aber an einer anderen Stelle: Der Autor entwirft nämlich sehr sympathische Gestalten einfacher U-Boot-Matrosen und ihres Kapitäns und kontrastiert sie mit den abscheulichen mystischen Eiferern von Himmlers ‚schwarzem Orden‘, deren ideologisch bedingte Kurzsichtigkeit die Menschheit in eine noch größere Katastrophe stürzen kann als sie selbst schon eine darstellen. Damit warnt der Autor vor pauschalisierenden Urteilen über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, da es auch unter ihnen sich nach dem Soldatenehrenkodex Richtende gegeben habe. Der Konnex von exzessiver Mystik und solider Wissenschaft, den man dem Dritten Reich so gern attestiert, scheint wirklich eine Faszination besonders auf jüngere polnische Autoren auszuüben, da sie darin einen literarisch produktiven Widerspruch erblicken und sich zugleich an die typisch polnische Transparenz von Irrratio und Ratio erinnert fühlen. Daher geben etwa die NS-anthropologischen Forschungen während des Krieges

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den Handlungshintergrund für eine Reihe von Erzählungen ab: In ihnen versuchen die deutschen Wissenschaftler mal die Richtigkeit der Herrenrassentheorie zu erweisen und stoßen bei ihren Nachforschungen auf eine als längst ausgestorben geglaubte Rasse der Neandertaler, die seit 10000 Jahren im Geheimen die Geschicke der Menschheit lenken (in Pacyńskis „Der Totenkopf“), mal befindet sich die NS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe 1940 in Norwegen im Wettlauf gegen die britischen Spezialtruppen um die Kontrolle über eine uralte, nach der Ragnarök schlummernde Macht (in Mortkas Wojna runów [Der Runenkrieg]), mal führt eine Expedition des Deutschen Ahnenerbes nach Tibet, wo man sich evidente Beweise für die gemeinsame Abstammung der Deutschen, Japaner und Tibeter von der mythischen Rasse der Arier erhofft (in Szrejters „Shamballach“). Ein ähnliches Thema greift der Roman Śmiertelny bóg [Der tödliche Gott] von Marcin Wełnicki auf, in dem der Poesie liebende Protagonist – ein gewisser Hauptmann Erhard von der Gestapo – das einst von der Thule Gesellschaft entdeckte und aufgestoßene Tor in eine andere Welt, aus der das Dritte Reich nun eine geheimnisvolle Energie zur Versorgung seines Waffenarsenals ‚importiert‘ und ohne ‚Treibstoffsorgen‘ nacheinander Großbritannien und die Sowjetunion in die Knie zwingt, bewacht und sich, als die Situation aus dem Ruder läuft, zum Retter der Menschheit aufschwingt. Bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen und Entwicklungen lassen sich ja so einfach mit Deutschland und den Deutschen assoziieren, und zwar ungeachtet der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft: Sie alle eignen sich gut dafür. So muss ein genialer deutscher Physiker im Breslau des Jahres 1930 von einem Zeitagenten liquidiert werden, weil er mit seiner Superstringtheorie zu früh die wahre Struktur der Wirklichkeit entdeckt hat und somit das gesamte Raum-Zeit-Gefüge in Gefahr bringt (in Śmigiels „Pełna kieszeń“ [„Volle Tasche“]). So experimentieren die deutschen Forscher mit der Teleportation als Wunderwaffe (in Kazimierskis „Sonderführer“). So rettet ein Deutscher in der Nachkriegszeit die Menschheit vor den zivilisationszerstörerischen Auswirkungen der ‚semantischen Aphasie‘, die sich als intellektuelle Degeneration nach Kontakt mit einem Mineral manifestiert (in Michałowskas „Arka“ [„Die Arche“]). So wird im Roman Requiem dla Europy [Requiem für Europa] von Paweł Kempczyński ein Deutscher als Vertreter der aussterbenden ‚weißen Rasse‘ im feministisch regierten und von Immigranten aus anderen Kontinenten bevölkerten Europa der Mitte des 21. Jahrhunderts als Retter in der Not in eine Intrige involviert, die das Ziel verfolgt, die ‚alten Verhältnisse‘ wiederherzustellen. Der ausgeprägte wissenschaftlich-technische Sinn prädestiniere die Deutschen nachgerade dazu, die Herrschaft über die Welt zu erlangen:

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Mal erstreckt sich Deutschland, in gegenseitig fast hermetisch abgegrenzte Zonen geteilt, also bis nach Westsibirien (in Cyrans „Żabi król“ [Der Froschkönig]), mal beherrscht das wilhelminische Deutschland nach dem gewonnenen Ersten Weltkrieg den gesamten europäischen Kontinent (in Michalskis „Gabinet krzywych luster“ [„Das Zerrspiegelkabinett“]), mal unternehmen die Deutschen von heute an Bord eines mit aller Sorgfalt rekonstruierten Zeppelins eine Rettungsexpedition in die Vergangenheit, um den preußischen Truppen in Deutsch-Ostafrika 1916 mit einer massiven Lieferung moderner Waffen unter die Arme zu greifen, was den weiteren Verlauf der Geschichte notwendigerweise in neue, alternative deutschbestimmte Bahnen lenken muss (in Pilipiuks „Zeppelin L-59/2“), mal durchbricht eine atomangetriebene Dampflokomotive aus einer vom Dritten Reich eines gewissen Adolf Schickelgruber beherrschten Parallelwelt zufällig die interdimensionale Grenze und rattert und pafft in die polnische Realität des Jahres 1951 herein, wo der nichtsahnende Lokführer sofort in die Hände des sowjetischen Geheimdienstes gerät, was den Erzähler sich wiederum nach fünf Jahrzehnten voller Mitleid die Frage stellen lässt, welches Schicksal den armen Deutschen in den stalinistischen Konzentrationslagern nun ereilt haben mag (in Pilipiuks „Parowóz“ [„Dampflokomotive“]). Die Liste der polnischen, fantastischen Texte, in denen die Deutschen eine zentrale Position einnehmen, ließe sich noch länger fortsetzen. Man kann gar den Eindruck gewinnen, dass es gerade die moderne, polnische, nichtrealistische Literatur (vornehmlich aus der Feder junger Autoren) ist, die sich von allen ‚nicht-deutschen‘ spekulativen Literaturen in Europa am intensivsten mit Deutschland und den Deutschen auseinandersetzt und dabei nicht davor zurückschrickt, die bisher verbotenen Zonen und mentalen Minenfelder – wie etwa positive Darstellung der deutschen Wehrmachtssoldaten oder offene Bekundung des Mitgefühls für deutsche Kriegsgefangene – zu betreten. Verständlicherweise fällt das Deutschen- und Deutschlandbild insgesamt differenziert aus. Es gibt also Texte, in denen noch die Grausamkeiten der Kriegszeit nachhallen (so durchstreift etwa in Spychałas Erzählung „Lazaret“ [„Das Lazarett“] ein unheimlicher deutscher Soldat während des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943 wie ein ‚Predator‘ einsam das Kampfgebiet und sammelt die Köpfe der von ihm getöteten Juden als Trophäen). Es gibt Texte, die ihren Blick bereits auf die Gegenwart fokussieren und die deutsch-polnischen Beziehungen etwa im Klein-Privaten zur Sprache bringen (in Rostockis „Bal w Blankenese“ [„Der Ball in Blankenese“] betreut ein junger polnischer Gastarbeiter eine alte deutsche Dame in der Nacht ihres Todes und wird Zeuge, wie das Diesseits und das Jenseits interferieren). Es gibt Texte, die ernsthaft die EU deutsch kontextualisieren (Żerdzińskis „Wyhoduj mnie, proszę“ [„Züchte mich

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bitte groß“] drückt etwa die Befürchtung aus, dass der mächtige Einfluss der westeuropäischen Kultur, deren wichtigste Komponente deutsch sei, Polen depolonisiere). Und es gibt Texte, die in satirischer Absicht die Zeit der deutschen Besatzung Polens und die Zeit der ‚EU-Besatzung‘ Polens parallelisieren (so lamentieren die polnischen Bauern in der Erzählung „Kontyngent“ [„Die Zwangsabgabe“] von Pilipiuk, die EU-Bürokratie sei genauso schlimm wie, wenn nicht gar schlimmer als, die deutsche Besatzungsbürokratie in der Kriegszeit.) Die erwähnte Differenziertheit des Deutschen- und Deutschlandbildes in der polnischen nichtrealistischen Literatur, die die jahrzehntelang geltende Homogenität der dekretierten, negativen Wahrnehmung Deutschlands und der Deutschen generell außer Kraft setzt, disharmoniert freilich nicht mit der allgemeinen Tendenz der immer positiveren Darstellung Deutschlands und der Deutschen. Dahinter steckt aber keine willkürliche, kollektive Entscheidung der Autoren, sondern sie reagieren so auf die sich ändernde gesellschaftliche Gesinnung. 6. Fazit Abschließend kann das Fazit formuliert werden, dass die moderne polnische nichtrealistische Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem drei Gesichter zur Schau trägt: Fantasy, Horror und patriotic fiction. Alles deutet zudem darauf hin, dass ein baldiger ‚Gesichterwechsel‘ eher nicht zu erwarten ist. Die drei dominierenden Physiognomien haben die anderen Antlitze bis auf weiteres in den Schatten gestellt und wirksam in den Hintergrund gedrängt. Sie bestimmen derzeit souverän das Aussehen der polnischen fantastischen Literatur. Gleichzeitig erfährt die Behandlung des Deutschen- und Deutschlandthemas eine qualitative und quantitative Aufwertung. Zu dieser Entwicklung wird die ungeachtet okkasioneller Rückschläge fortschreitende Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen beigetragen haben, die die seinerzeit zu nicht hinterfragten Stereotypen geronnenen Vorstellungen nun Schritt für Schritt erfolgreich abbaut. Vom national-psychologischen Standpunkt aus gesehen, steht der Thron der den Polen sympathischsten Nation nach dem Sturz der Amerikaner, die ihrer Unbeliebtheit im Lande an der Weichsel selbst immer mehr Energien zuführen, leer. Es gibt einige Anwärter auf ihre Nachfolge: Traditionell führen die Tschechen und die Ungarn alle einschlägigen Ranglisten an, doch die Deutschen machen auf der Beliebtheitsskala beachtliche Sprünge nach oben und es dürfte nicht allzu lange dauern, bis sie unter den Lieblingsnationen der Polen rangieren. Und dies wird sich auch auf die

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thematische Entwicklung der polnischen nichtrealistischen Literatur ohne Zweifel weiter positiv auswirken. Literaturverzeichnis: Białoszewski, Zygmunt. Domofon. Warszawa: W.A.B., 2005 [dt.: Domofon. München: dtv, 2008]. Bukowski, Tomasz. Obiekt R/W0036 [Objekt R/W0036]. Ustroń: Ender, 2009. Ciszewski, Marcin. Major. Ustroń: Ender, 2010. —. www.1939.pl. Grójec: Sol, 2008. —. www.1944.pl. Grójec: Sol, 2009. Cyran, Janusz. „Żabi król“ [„Der Froschkönig“]. Ciemne lustra [Dunkle Spiegel]. Lublin: Fabryka Słów, 2006, 189-237. Dukaj, Jacek. „Die Goldene Galeere“ [„Złota Galera“ (1990)] Auf der Straße nach Oodnadatta: Internationale Science Fiction Stories. Hg. Wolfgang Jeschke. München: Heyne, 2001, 276-308. —. Lód [Das Eis]. Kraków: Wydawnictwo Literackie, 2007. Duszyński, Tomasz. „Śmierć to zwykłe marnotrawstwo materiału“ [„Der Tod ist nichts anderes als bloße Materialverschwendung“]. Produkt uboczny [Das Nebenprodukt]. Lublin: Fabryka Słów, 2007, 155-212. Gawęda, Marcin. Kaukaskie epicentrum [Das kaukasische Epizentrum]. Ustroń: Ender, 2010. Grzędowicz, Jarosław. Księga jesiennych demonów [Das Buch der Herbstdämonen]. Lublin: Fabryka Słów, 2003. —. Pan Lodowego Ogrodu [Herr des Eisgartens]. Lublin: Fabryka Słów, 2005 (Bd. 1), 2007 (Bd. 2), 2009 (Bd. 3) —. „Wilcza zamieć“ [„Wolfsschneegestöber“]. Wypychacz zwierząt [Der Tierpräparator]. Lublin: Fabryka Słów, 2008, 360-458. Kazimierski, Szymon. „Sonderführer“. Deszcze niespokojne [Sturmregen]. Hg. NN. Lublin: Fabryka Słów, 2005, 573-617. Kempczyński, Paweł. Requiem dla Europy [Requiem für Europa]. Warszawa: SuperNowa, 2007. Lewandowski, Konrad T. „Noteka 2015“. Nowa Fantastyka 4/151 (1995). Michalski, Cezary. „Gabinet krzywych luster“ [„Das Zerrspiegelkabinett“]. Gorsze światy [Schlimmere Welten]. Lublin: Fabryka Słów, 2006, 7-32 Michałowska, Ilona. „Arka“ [„Die Arche“]. Wizje alternatywne 6: Antologia polskiej fantastyki [Alternative Visionen 6: Anthologie polnischer Fantastik]. Hg. Wojtek Sedeńko. Olsztyn: Solaris, 2007, 215-236. Mortka, Marcin. Wojna runów [Der Runenkrieg]. Warszawa: Agencja Wydawnicza RUNA, 2004.

Gesichter der polnischen nichtrealistischen Literatur

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Orbitowski, Łukasz. Horror Show. Kraków: Ha!art, 2006. —. Święty Wrocław [Das heilige Breslau]. Kraków: Wydawnictwo Literackie, 2009. —. Tracę ciepło [Wärmeverlust]. Kraków: Wydawnictwo Literackie, 2007. Pacyński, Tomasz. „Der Totenkopf“. Deszcze niespokojne [Sturmregen]. Hg. NN. Lublin: Fabryka Słów, 2005, 127-274. Pilipiuk, Andrzej. „Kontyngent“ [„Die Zwangsabgabe“]. Deszcze niespokojne [Sturmregen]. Hg. NN. Lublin: Fabryka Słów, 2005, 621-634. —. „Parowóz“ [„Dampflokomotive“]. Epidemie i zarazy [Epidemien und Pestseuchen]. Hg. Eryk Górski. Lublin: Fabryka Słów, 2008, 11-34. —. „Zeppelin L-59/2“. Czerwona gorączka [Rotes Fieber]. Lublin: Fabryka Słów, 2007, 121-174. Rzeszotnik, Jacek. „Fremde – Feinde – Feinde? Zum Deutschland- und Deutschenbild in der polnischen spekulativen Nachwendeliteratur für Jugendliche zu Beginn des 21. Jahrhunderts (2001-2009/10)“. Grenzenlos: Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Hg. Ute Dettmar und Mareile Oetken. Heidelberg: Winter, 2010, 323-45. Rostocki, Jacek M. „Bal w Blankenese“ [„Der Ball in Blankenese“]. Sępy [Die Geier]. Hg. Robert Cichowlas und Jacek M. Rostocki. Lublin: Fabryka Słów, 2009, 9-42. Spychalski, Dariusz. Krzyżacki poker [Das Deutschordenspoker]. 2 Bde. Lublin: Fabryka Słów, 2005. Spychała, Mateusz. „Lazaret“ [„Das Lazarett“]. Deszcze niespokojne [Sturmregen]. Hg. NN. Lublin: Fabryka Słów, 2005, 437-473. Szrejter, Artur. „Shamballach“. Niech żyje Polska. Hurra! [Es lebe Polen. Hurra!]. Hg. Grzegorz Domaradzki und Krzysztof Domaradzki. Lublin: Fabryka Słów, 2006, 55-114. Śmigiel, Łukasz. „Pełna kieszeń“ [„Volle Tasche“]. Demony [Dämonen]. Lublin: Red Horse, 2008, 215-233. Wełnicki, Marcin. Śmiertelny bóg [Der tödliche Gott]. Warszawa: SuperNowa, 2010. Wolff, Vladimir. Czerwona Apokalipsa [Die rote Apokalypse]. Ustroń: Ender, 2010. —. Żelazna kurtyna [Der Eiserne Vorhang]. Ustroń: Ender, 2010. Wolski, Marcin. alterland [Alternativwelt]. Warszawa: W.A.B., 2003. —. Wallenrod. Warszawa: Narodowe Centrum Kultury, 2010. Ziemiański, Andrzej. Breslau Forever. Lublin: Fabryka Słów, 2008. —. Ucieczka z Festung Breslau [Die Flucht aus der Festung Breslau]. Wrocław: Wydawnictwo Dolnośląskie, 2009. —. „Zapach szkła“ [„Der Geruch des Glases“]. Zapach szkła [Der Geruch des Glases]. Lublin: Fabryka Słów, 2007, 9-120.

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Zychowicz, Piotr. „Wojna polska: rozmowa Piotra Zychowicza z Pawłem Wieczorkiewiczem“ [„Der polnische Krieg: Ein Gespräch von Piotr Zychowicz mit Paweł Wieczorkiewicz“]. Rzeczpospolita 17.09. 2005. Żerdziński, Maciej. „Wyhoduj mnie, proszę“ [„Züchte mich bitte groß“]. PL +50. Historie przyszłości [PL +50. Zukunftsgeschichten]. Hg. Jacek Dukaj. Kraków: Wydawnictwo Literackie, 2004, 67-92.

Fremd und doch bekannt Das Bild des Neandertalers in der Prehistoric Fiction MERET FEHLMANN Estranged but Recognizable. The Image of the Neanderthal in Prehistoric Fiction Prehistoric fiction and science fiction can be considered similar genres, with one being set in the future and the other, prehistoric fiction, in the distant past. Functionally, the Neanderthals play an important role in prehistoric fiction as the ‘Other’ to the modern humans. There are three ways of presenting the meeting of Neanderthals and modern humans. One possibility is to show that Neanderthals are less human; some fictions even go so far as to portraying them as dangerous monsters. In these cases influences of scientific discourses of the early 20th century are evident. An alternative view depicts the Neanderthals as peaceful and their extinction as the first genocide committed by humanity. The third representation deals with Neanderthals having secretly survived in enclaves that are now on the verge of being discovered, leaving the Neanderthals in need of rescue from the destructive force of humanity. This essay will analyse the three different depictions of Neanderthals, the influence that scientific discourse of the time plays in determing their use and the blurring of all three ways in different aspects of the genre.

1. Einleitung Prehistoric Fiction ist ein Halbgeschwister der Science Fiction, das nicht in der Zukunft, sondern in der fernen Vergangenheit spielt. Die beiden sind Halbgeschwister, weil sie der Verbindung von Wissenschaft und spekulativer Einbildung entsprungen sind (Ruddick 3). Ebenso haben viele bekannte Science Fiction-Autoren sich im Feld der Prehistoric Fiction betätigt, darunter H. G. Wells, Rosny Aîné, Jules Verne und Jack London. Bei Prehistoric Fiction handelt es sich um ein spekulatives literarisches Genre, das sich auf wissenschaftliche oder quasiwissenschaftliche Diskurse bezieht, um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Das Genre entwirft fremde Welten, die mehr über die gegenwärtige als über die imaginierte Gesellschaft der Vergangenheit aussagen (Guillaumie 248f.). In diesen alternativen Welten tritt die Fremdheit oft verdoppelt auf: eine längst

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vergangene Zeit, eine andersartige Flora und Fauna und der Neandertaler als Fremder, der dem modernen Menschen gegenübersteht. Ein Teil der Prehistoric Fiction stellt die Frage nach dem Kern des Menschseins; so gewinnen die Neandertaler – als das Andere des Menschen – an Bedeutung. Erste Neandertalerfunde machte man 1848 in Gibraltar, 1857 folgten die namensgebenden im deutschen Neanderthal. Über die Bedeutung der Neandertaler herrschte in der Wissenschaft keine Einigkeit. Die Kontroverse um die Stellung des Neandertalers zum modernen Menschen hält bis heute an. Aus diesem Grund bieten sich die Neandertaler an, um das Menschsein zu definieren. Es finden sich fast ausschliesslich Texte, in denen die Neandertaler in Bezug zum modernen Menschen gesetzt werden.1 Ihren Reiz macht die Möglichkeit der Gegenüberstellung aus (Hackett und Dennell 817; 824). Es lassen sich drei unterschiedliche Szenarien der Begegnung zwischen Mensch und Neandertaler in der Prehistoric Fiction herauskristallisieren: Ein Zugang zeigt sie als kaum menschlich, was sich in der ihnen unterstellten Sprachlosigkeit manifestiert, die als Zeichen ihres Anderssein fungiert. Dieses Deutungsmuster entstammt dem wissenschaftlichen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts, der die Neandertaler als weniger entwickelt als die modernen Menschen deutete. Einem Fund von 1908, und zwar dem des beinahe vollständigen Skeletts eines älteren Mannes im französischen La Chapelle-aux-Saints, ist die Deutung des Neandertalers als affenähnlich und mental ungenügend (De Paolo 48-50) zurückzuführen. Neandertalerskelette weisen Merkmale auf, die als eher tierisch gelten, dies wurde als Zeichen gedeutet, dass sie weniger entwickelt waren als der Homo sapiens sapiens. Solche Funde gaben der um die Mitte des 19. Jahrhunderts verbreiteten Atavismus-Theorie – des Hervorbrechens eines früheren Zustandes – Aufwind. Von einer solchen Warte aus wurde der Neandertaler als vorzeitliches Gegenstück des Verbrechers verstanden (Beckerhoff 81f.). Ein anderer Zweig stellt die Neandertaler als friedliebende, im Einklang mit der Natur lebende Menschen oder Wesen dar, die der moderne Mensch in einem ersten Genozid ausrottete und deren Erbe der Friedfertigkeit heute dringend benötigt würde. Eine solche Interpretation ist vor allem ab den 1950er Jahren nachweisbar und fand ihre stärkste Ausformung in den 1970er Jahren. Das wissenschaftliche Kernstück ist Ralph S. Soleckis Shanidar: The First Flower People von 1970, das mit dem Titel Flower People deutlich auf den zeitlichen Entstehungshintergrund hinweist (vgl. Ruddick 71). 1

Eine Ausnahme stellen die ersten beiden Bände der 2007 begonnenen Serie Neandertal des Comicschaffenden Emmanuel Roudier dar – sie kommen ohne die Gegenüberstellung der beiden Menschenarten aus.

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Drittens gibt es Szenarien, die das Überleben von Neandertalern im Verborgenen ausmalen, die erneut vor dem Zugriff der modernen Menschen geschützt werden müssen. Diese weisen am deutlichesten auf den Charakter der Prehistoric Fiction als Mischung aus Wissenschaft und spekulativer Imagination hin. Häufig vermischen sich auch die drei Zugangsarten, wie die folgende Untersuchung verschiedener belletristischer Bearbeitungen der Begegnung zwischen Neandertalern und modernen Menschen aus dem 20. Jahrhundert zeigen wird. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Bildern des Neandertalers, dass sie der gegenseitigen Beeinflussung von wissenschaftlichen und populären Inhalten entspringen. 2. Ausrottung der Neandertaler Archäologische Illustrationen sind wirkmächtig für die Verbreitung von Bildern und Theorien über die Neandertaler sowie über ihr Aussehen und ihre Gesellschaft. Die erste wissenschaftliche Abbildung eines Neandertalers von 1909 des tschechischen Illustrators Frantisek Kupka zeigt ein affenähnliches Wesen mit gefletschten Zähnen und mit Knüppel und Stein bewaffnet, das kaum als möglicher Vorfahre der Menschheit in Erwägung gezogen werden kann. Dieses Bild war eine Illustration der Theorie des französischen Paläontologen Marcellin Boule, der mit seiner Rekonstruktion des Skelettes von La Chapelle-aux-Saints das negative Bild des Neandertalers als Sackgasse der Evolution für beinahe eine halbes Jahrhundert prägen sollte. Seine Rekonstruktion und verächtlichen Ansichten über die Neandertaler präsentierte er in verschiedenen Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften und 1921 im Buch Les hommes fossiles, das mehrere Auflagen erreichte, die letzte datiert von 1951. Die affenähnlichen Züge des Neandertalers zeigen, dass ihm nach Boule kein Platz in der menschlichen Ahnengalerie beschieden ist (Moser 834-36). Dem Fund des Skelettes von La Chapelle-aux-Saints ging eine lange Kontroverse voraus, ob und wie der Neandertaler in die Ahnenreihe des Homo sapiens sapiens eingereiht werden kann. Louis Figuier, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Frankreich eine wichtige Rolle bei der Popularisierung von Wissen über die Vorzeit einnahm, deutete in seinem viel gelesenen L’homme primitif (1870) die Neandertalerschädel als identisch mit den Schädeln der Kelten, auf die die Franzosen mit Stolz als Vorfahren zurückblicken: cette tête d’homme de l’époque du grand ours et du mammouth ... ne diffère en rien des têtes de ce peuple celtique qui appartient aux temps historiques et dont la qualité morale et le mâle courage nous rendent fiers d’être leurs descendants. (92)

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Ganz anders präsentierte 1885 Paul Nicole in seinem ebenfalls popularisierenden Buch L’homme il y a deux cent mille ans den Neandertaler als halben Gorilla. Er führte ihn seiner Leserschaft als Äquivalent und als Vorfahre der Verbrecher der Gegenwart vor: „Et le type humain qu’il représente ne se retrouve guère de nos jours que chez certains criminels“ (31). Um diesen Punkt der Ähnlichkeit zu verdeutlichen, enthält der Text eine Rekonstruktion eines Neandertalers, dem die Abbildung von Dumollard, einem berüchtigten Frauenmörder der 1850er und 1860er Jahre, gegenübergestellt ist (vgl. 19). In Frankreich hatten im ausgehenden 19. Jahrhundert evolutionistische Theorien der Entstehung des Menschen einen schweren Stand, weil sich viele Kleriker in der Archäologie betätigten – den Fund des Skelettes von La Chapelle-aux-Saints machten so auch drei Abbés. Durch die Vermittlung Breuils gelangte das Skelett zu Marcellin Boule, denn beide Männer verband eine langjährige Freundschaft. Darüber hinaus war Boule streng katholisch geprägt. In diesem grösseren Zusammenhang muss die Arbeit Boules am Skelett von La Chapelle-aux-Saints betrachtet werden. Boule war ein Gegner der Vorstellung der graduellen Entwicklung des Menschen. Aus diesem Grunde rekonstruierte er den Neandertaler zwar als zweifüssiges Wesen, das aber nicht vollständig aufrecht ging und auch sonst viele affenartige, tierische Merkmale aufwies, die es als Vorfahre des modernen Menschen nicht in Frage kommen ließen (Hammond 2; 5-7; 11f.; 25f.). Die tierischen Merkmale drücken sich nach Boule besonders deutlich beim Schädel aus: La tête osseuse de l’Homme de La Chapelle-aux-Saints paraît étrange même aux yeux d’un observateur peu familiarisé avec l’anatomie. [...] Elle frappe ensuite par son aspect bestial ou, pour mieux dire, par tout un ensemble de caractères simiens. (223)

Auch sonst kann er dem Neandertaler und seiner Kultur wenig abgewinnen, für ihn lassen die archäologischen Spuren nur den Schluss zu, dass die Neandertaler körperlich, geistig und kulturell eingeschränkt gewesen sein müssen. Das lasse sich seiner Auffassung nach dem schweren und kräftigen Körperbau entnehmen: Il importe d’observer que les caractères physiques du type de Néandertal sont bien en harmonie avec ce que l’archéologie nous apprend de ses aptitudes corporelles, de son psychisme et de ses moeurs. Il n’est guère actuellement d’industrie plus simple que celle de notre Homme moustérien. L’utilisation d’un petit nombre de matières premières, la simplicité de son outillage lithique, l’absence probable de toutes traces de préoccupations d’ordre esthétique ou d’ordre moral s’accordent bien avec l’aspect brutal de ce corps vigoureux et lourd, de cette tête osseuse, aux mâchoires robustes, où s’affirme encore la prédominance des fonctions purement végétatives ou bestiales sur les fonctions cérébrales. (262f.)

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Über die Gründe für das Verschwinden des Neandertalers schweigt Boule sich elegant aus: „Y-a-t-il eu simple déplacement, migration, ou bien extinction sur place? Nous l’ignorons“ (268). Einen ersten bedeutsamen Auftritt in der Belletristik haben die Neandertaler, und zwar auch als solche benannt, 1921 in H. G. Wells „The Grisly Folk“. Bereits vorher zeigte die Prehistoric Fiction Gestalten, die als Neandertaler zu begreifen sind, die aber nicht explizit als solche benannt wurden. Die Erzählung „The Grisly Folk“ kann man als eine Fiktionalisierung der Theorien Marcellin Boules verstehen, wie er sie in Les hommes fossiles propagierte. Wells lässt die Frage nach der Ursache für das Verschwinden der Neandertaler nicht unbeantwortet – er entwirft ein Szenario des Untergangs. Er räumt zwar ein, dass man wenig wisse über diese Zeit, das lasse aber „the liberty to wonder“ („Grisly“ 3), welcher er in seiner Erzählung reichlich nachkommt. Seine Schilderung der Neandertaler scheint eine Beschreibung des Boule’schen Neandertalers zu sein: Hairy or grisly, with a big face like a mask, great brow ridges and no forehead, clutching an enourmous flint, and running like a baboon with his head forward and not, like a man, with his head up, he must have been a fearsome creature for our forefathers to come upon. (4)

„The Grisly Folk“ schildert das Zusammentreffen einer Gruppe moderner Menschen, von deren Warte aus die Geschehnisse geschildert werden, mit Neandertalern, die als halbe Tiere, haarig – eben das grisly folk – und „running almost on all fours“ (12) beschrieben werden. In populärer Imagination und bildlicher Wiedergabe Anfang des 20. Jahrhunderts charakterisieren sich Urmenschen durch eine übertriebene Haarigkeit. Der wilde Haarwuchs kennzeichnet den Urmenschen als in der Nähe der Natur und des Ursprungs stehend (Berman 290-95). Die dem Urmenschen attestierte übermässige Behaarung verweist auf seine Schwellenexistenz zwischen Mensch und Tier. Einem solchen Deutungsmuster des Urmenschen ist Wells’ Darstellung verhaftet. „The Grisly Folk“ verdeutlicht auf der sprachlichen Ebene, auf wessen Seite die Sympathien des Autors liegen. Die Leserschaft wird entsprechend gelenkt, dies geschieht durch die Benennung der beiden Menschengattungen. Die Vertreter der Spezies Homo sapiens sapiens werden als „true men“ (2) bezeichnet und als Vorfahren, mit denen man sich bei der Lektüre identifizieren soll. Wells zeichnet die Neandertaler nicht nur als Sackgasse der Evolution, sondern als gefährliche Monster ohne Gefühle und Verstand, die kannibalistische Tendenzen aufweisen (Hackett und Dennell 818). Im Laufe der Erzählung rauben die Neandertaler ein Menschenkind und fressen es auf, so kommen sie auf den Geschmack von Menschenfleisch. Aus dieser angeblichen Vorliebe der Neandertaler leitet

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Wells ab, dass die in Sagen und Märchen auftretenden Oger und Menschenfresser die letzten Erinnerungen an die Neandertaler seien: The legends of ogres and maneating giants that haunt the childhood of the world may descend from those ancient days of fear. And for the Neandertalers it was the beginning of an incessant war that could end only in extermination. (17)

Die Idee, dass die Neandertaler für Märchengestalten wie Oger Modell standen, präsentierte Wells bereits in The Outline of History (1919), diese Vorstellung über die Neandertaler entnahm er dem Buch Views and Reviews eines gewissen Henry Johnston (vgl. Outline 88). In „The Grisly Folk“ beschreibt Wells, dass die Begegnung zwischen Neandertaler und modernem Menschen in einen Krieg münde, der mit dem Sieg des schlaueren, bereits sozial organisierten Homo sapiens sapiens und der Ausrottung der Neandertaler enden werde, da der moderne Mensch dem Neandertaler an Intelligenz und Rafinesse überlegen ist. Die Verbindung von Fortschritt, für den der moderne Mensch bei Wells steht, und Schlauheit kann man als charakteristisches Merkmal der Prehistoric Fiction betrachten (vgl. Guillaumie 45). Die in Wells’ Erzählung enthaltene Ideologie steht im Zeichen des Imperialismus und Kolonialismus. Menschen dringen in fremde, als bedrohlich empfundene Territorien ein und erobern Gebiete unter der sozialdarwinistischen Prämisse des „Survival of the Fittest“2. In diesem Szenario des Krieges einer Rasse gegen die andere drückt sich die Angst vor den Anderen, den Eroberten, aus (Hackett und Dennell 817, 825; Guillaumie 187f.). Liest man Wells’ Schilderung der Neandertaler in The Outline of History, fallen gewisse Ähnlichkeiten mit den damals vorherrschenden Stereotypen über die ‚Wilden‘ auf (vgl. Ross 68): We know nothing of the appearance of the Neanderthal man, but this absence of intermixture seems to suggest an extreme hairiness, an ugliness, or a repulsive strangeness in his appearance over and above his low forehead, his beetle-brows, his ape neck, and his inferior stature. Or he – and she – may have been too fierce to tame. (Wells, Outline 88)

Er begreift die Neandertaler als zu wild, um dem zivilisierenden Einfluss der Kultur zugänglich zu sein. Daraus lässt sich folgern, dass nach Wells die Ausrottung der Neandertaler als nicht so schlimm zu gewichten sei, da sie nicht wirklich menschlich, sondern mehr tierisch waren und eine Gefahr für die Kinder und Schwachen der modernen Menschen darstellten. Das Zitat aus The Outline of History setzt William Golding in seinem Buch The Inheritors (1955) als Auftakt vor seinen Text. Goldings Roman ist eine Umwertung von Wells’ „The Grisly Folk“, die Neandertaler als friedliche, kindliche und unschuldige Wesen zeigt. Bis auf das letzte Kapitel erfolgt 2

Dieses Bonmot stammt von Herbert Spencer. Dieses Credo findet sich in seinem Werk Principles of Biology von 1864. Bereits 1852 in einem Essay über Bevölkerungswachstum äusserte er sich entsprechend (vgl. Claeys 227).

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die Wiedergabe der Ereignisse aus der Perspektive der Neandertaler, die mit der Bedrohung durch die neuen Menschen zurechtkommen müssen und scheitern. Das Böse, und mit ihm die modernen Menschen, triumphiert, als der ganze Stamm ausgerottet ist. Der kindliche Aspekt der Neandertaler wird dadurch verstärkt, dass die zentralen Handelnden die jungen Stammesmitglieder sind. Erst das letzte Kapitel ist aus der Sicht des Anführers des Stammes der modernen Menschen geschildert. Als eine Rehabilitation der Neandertaler gedacht, zeigt Golding sie auch mehr tierisch als menschlich. Sie sind von dichtem Haar bedeckt, riechen sich gegenseitig und laufen teilweise auf allen vieren. Sie verfügen über telepathische Kräfte, so können sie Gedanken und Gefühle der anderen Gruppenmitglieder wahrnehmen. Als Mal, der Stammesälteste, im Sterben liegt, können die anderen in seinen Geist eindringen und miterleben, was er sieht und denkt: Quite without warning, all the people shared a picture inside their heads. This was a picture of Mal, seeming a little removed from them, illuminated, sharply defined in all his gaunt misery. They saw not only Mal’s body but the slow pictures that were waxing and waning in his head (Golding 38).

Goldings Neandertaler sind tierische, kindliche und unschuldige Wesen, die keine Strategie kennen gegen das Böse, das sich ihnen in Gestalt der modernen Menschen präsentiert. Ihre Unfähigkeiten, mit der Bedrohung durch die neuen Menschen zu recht zu kommen, zeigt sich deutlich, als Lok die Eindringlinge beobachtet und von ihnen entdeckt und beschossen wird, und er sich über den Zweig/Pfeil, den ihm die Neuen geschenkt haben, freut (106-13). Dass man sich in feindlicher Absicht gegenüberstehen kann, verstehen Goldings Neandertaler nicht, sie leben nach dem Motto: „People understand each other“ (72). Dass sie sich gegenseitig verstehen, hat mit ihren telepathischen Fähigkeiten zu tun, sie können sehen und fühlen, was in ihren Stammesmitgliedern vorgeht. Ganz anders präsentiert Golding die neuen Menschen, die eine Gesellschaft mitbringen, die dem Alkoholkonsum huldigt, in der gewalttätige Emotionen dicht unter der Oberfläche brodeln und bei der geringsten Provokation ausbrechen (vgl. 226). Es ist eine Gesellschaft, die Sexualität mit Gewalt vermischt: „Their fierce and wolflike battle was ended. They had fought it seemed against each other, consumed each other rather than lain together so that there was blood on the woman’s face and the man’s shoulder“ (176). Mit dem gewechselten Wertesystem fällt bei Golding der Vorwurf des Kannibalismus den modernen Menschen zu, die das Neandertaler-Mädchen Liku entführen und fressen, da sie Hunger leiden. Liku und das Menschenkind Tanakil befreunden sich, sie erkennen sich gegenseitig als menschlich. Tanakil ist es, die nach dem Verschwinden von Liku ob der Bosheit ihres Stammes den Verstand verliert, weil sie als einzige die

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Menschlichkeit des Neandertalerkindes erkannte und so auch den Sündenfall, den ihre Leute begingen. Von dem Moment an ist sie wie verwandelt und nicht mehr ansprechbar: „At the sound of Liku’s name Tanakil began to struggle and scream as though she had fallen into deep water“ (210). Mit seinem Erscheinungsjahr 1955 zeigt dieser Roman auch die Desillusionierung über den Menschen an, wie die (Un-)Taten, zu denen die Menschheit während des Zweiten Weltkriegs fähig waren, demonstriert haben (Hackett und Dennel 822-25). Dass Golding seine Neandertaler noch mehr tierisch als menschlich entwarf, hängt damit zusammen, dass erst 1957 eine Neurekonstruktion des Mannes von La Chapelle-aux-Saints durch die Anatomen William Strauss und A. J. E. Cave erfolgte, die zeigte, dass das vorliegende Skelett nicht typisch für die Morphologie der Neandertaler ist. Das Skelett weist arthritische Verformungen auf, die die gebückte Haltung erklären (De Paolo 78). 3. Andere Szenarien des Untergangs der Neandertaler Die Veröffentlichung von Jean M. Auels Roman The Clan of the Cave Bear im Jahr 1980, der vom Aufwachsen des Homo sapiens sapiens-Waisenmädchens Ayla unter Neandertalern und ihrem zunehmenden Konflikt mit ihrer starren, patriarchalen Gesellschaft handelt, löste einen neuen Boom der Prehistoric Fiction aus, der in die Entstehung eines neuen Subgenres mündete, das man als ‚Prehistoric Romance‘ bezeichnen kann und das vor allem Autorinnen anzieht. Typischerweise steht eine starke Frauenfigur im Zentrum, die oftmals in einen Konflikt mit einer männlichen dominierten Gesellschaft verwickelt ist. Charakteristisch ist die Betonung einer zentralen Liebesgeschichte oftmals verbunden mit deutlichen Schilderungen der Sexualität. Prehistoric Romance richtet sich explizit an eine weibliche Leserschaft und hat oftmals auch einen feministischen Touch (vgl. Ruddick 87; Guillaumie 267). Jean M. Auel beschäftigte sich seit 1977 mit der Altsteinzeit, las Fachliteratur und nahm mit verschiedenen Forscherinnen und Forschern Kontakt auf. Stark beeinflusste sie Ralph S. Soleckis Shanidar: The First Flower People von 1970. Das Buch dokumentiert die Ausgrabungen in der irakischen Shanidar-Höhle von 1953 bis 1960. Solecki strebte mit den Funden aus Shanidar eine Revision des vorherrschenden Bildes des Neandertalers als tumbe Bestie an. Er sah sie als Vorfahren des Homo sapiens sapiens, denn die Funde belegten eine Fürsorge unter den Menschen bis in den Tod hinein: „But most important of all, in our opinion, it made Homo Neanderthalensis into a human being, with feelings like our own, and removed from him the kind of brutish characterization he had undeservedly

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been given“ (4f.). Soleckis Hauptbelege sind die beiden Skelette Shanidar I und Shanidar IV. Shanidar I ist das Skelett eines wohl 40-jährigen Mannes. Der Betreffende wies schwere Missbildungen auf, die es ihm verunmöglichten, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, darunter ein fehlendes Auge und eine unterentwickelte rechte Seite, zusätzlich hatte man ihm zu Lebzeiten den rechten Arm amputiert, was auf medizinische Kenntnisse der Neandertaler schliessen lässt, wie Solecki schreibt: Although he was born into a savage and brutal environment, Shanidar I man provides proof that his people were not lacking in compassion. According to Stewart’s findings, he was an individual who lived to the relatively old age of forty years, a very old man for a Neanderthal – equivalent to a man of about eighty today. (195)

Shanidar IV, ein weibliches Skelett, war verantwortlich für den Titel The First Flower People. Sie wurde im Tod auf verschiedene Blumen und Blüten gebettet: „Additional study confirmed the first suspicions that Shanidar IV was buried with flowers. Here were the first ‘Flower People’, a discovery wholly unprecedented in archaeology, as well as unexpected“ (246). Auel gestaltet die Neandertaler-Hauptfiguren Creb und Iza nach diesen beiden Funden und wendet so ein für Prehistoric Fiction typisches Muster an: Einer fiktionalen Geschichte soll anhand von echten Fundstücken und Fundstätten Glaubwürdigkeit verliehen werden. Wiederum typisch ist, dass Auel die Funde, die in Shanidar im Irak gemacht wurden, auf die Halbinsel Krim verlegt. Es bleibt der Leserschaft überlassen zu entscheiden, was Realität und was schriftstellerische Freiheit ist (vgl. Guillaumie 233). Das verkrüppelte Skelett Shanidar I dient ihr als Vorlage für Creb, den Mog-ur oder Schamanen des Stammes: His right shoulder and upper arm were atrophied and the shriveled arm had been amputated below the elbow. The powerful shoulder and arm and muscular leg of his fully developed left side made him appear lopsided. [...] The left side of his face was hideously scarred and his left eye was missing, but his good right eye sparkled with intelligence [...]. (Auel 14f.)

Die Blumenbestattung von Shanidar ist Iza, die Medizinfrau des Clans, wobei die Blumen von ihrer adoptierten Homo sapiens sapiens-Tochter Ayla gesammelt und niedergelegt wurden. In Auels Interpretation sind es also die modernen Menschen, die erstmals ein Grab ausschmücken, nicht die Neandertaler (vgl. 425). In The Clan of the Cave Bear setzt die erste Begegnung mit den Neandertalern mit der Schilderung von Iza, der Medizinfrau des Clans ein: She was just over four and a half feet tall, large boned, stocky, and bow-legged, but walked upright on strong muscular legs and flat bare feet. Her arms, long in proportion to her body, were bowed like her legs. She had a large beaky nose, a prognathous jaw jutting out like a muzzle, and no chin. Her low forehead sloped back into a long, large head, resting on a short, thick neck. At the back of her head was a boney knob, an occipital bone, that emphasized its length. A soft down

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of short brown hair, tending to curl, covered her legs and shoulders and ran along the upper spine of her back. It thickened to a head of heavy, long, rather bushy hair. She was already losing her winter pallor to a summer tan. Big, round, intelligent, dark brown eyes were deep set below overhanging brow ridges, and they were filled with curiosity as she quickened her pace to see what the men had passed by. (10)

Die Schilderung der Neandertaler folgt dem vorgegebenen Schema. Sie sind klein, gedrungen mit langen Armen und starker Behaarung. Ihr Kopf weist ebenfalls die typischen Merkmale auf mit fliehendem Kinn und flacher Stirn sowie ausgeprägten Augenbrauenwülsten. Dass Iza sich um das Mädchen kümmert, und es später als Mitglied in den Clan aufgenommen wird, zeigt, dass Auel gegen literarische Vorbilder anschreibt, die Neandertaler als kinderfressende Schrecken der Vorzeit porträtieren. Bei Auel sind die modernen Menschen die Anderen, Ayla ist den ganzen Roman hindurch die einzige ihrer Art. Auel zeigt die Neandertaler-Gesellschaft als streng geschlechtssegregiert, mit den Männern als dominantem Geschlecht und untergeordneten Frauen. Ihre Gesellschaft ist unveränderbar und statisch. Trotz einer deutlichen Geschlechterhierarchie sind die beiden Geschlechter aufeinander angewiesen (vgl. 34). Das statische Verharren und damit das Scheitern an neuen Herausforderungen ist in Auels Deutung die Ursache für das Verschwinden der Neandertaler. Ihr Gedächtnis unterscheidet sie weiter von den modernen Menschen, sie können auf eine Art kollektive Erinnerung zurückgreifen: And their memory made them extraordinary. In them, the unconscious knowledge of ancestral behavior called instinct had evolved, stored in the back of their large brains were not just their own memories, but the memories of their forebears. They could recall knowledge learned by their ancestors and, under special circumstances, they could go a step beyond. They could recall their racial memory, their own evolution. And when they reached back far enough, they could merge that memory that was identical for all and join their minds, telepathically. (26)

Auch bei Auel verfügen die Neandertaler über telepathische Kräfte, jedoch können sie diese nur bei besonderen Anlässen einsetzen. Ausserdem wird hier mit der „racial memory“ einer der problematischen Bereiche der Prehistoric Fiction erwähnt. Besonders in der frühen Prehistoric Fiction war die Vorstellung der ‚Erberinnerung‘ weit verbreitet; einer Erinnerung, die in den heutigen Menschen schlummere und unter gewissen Umständen erweckt werden könne (Ruddick 41-43, 86f.). Nach Auel können die Neandertaler auf das benötigte Wissen in Form von Erinnerung zurückgreifen; dagegen stellt sich die Lern- und Gedächtnisleistung der modernen Menschen ganz anders dar. Im Gegensatz zu den Neandertalern verfügt Ayla über keine geschlechtsspezifische ‚Erberinnerung‘, dafür hat sie einen flexiblen Geist, der sie als durch und

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durch moderne Erscheinung kennzeichnet. Dieser offene Geist verhindert in Auels Sicht, dass Ayla sich in die starre, patriarchale Gesellschaft der Neandertaler einfügen kann: She had not had subservience bred into her for untold generations. She was one of the Others; a newer, younger breed, more vital, more dynamic, not controlled by hidebound traditions from a brain that was nearly all memory. Her brain followed different paths, her full, high forehead that housed forward-thinking frontal lobes gave her an understanding from a different view. She could accept the new, shape it to her will, forge it into ideas undreamed of by the Clan, and, in nature’s way, her kind was destined to supplant the ancient, dying race. (153f.)

Creb, als Mog-ur das weiseste Mitglied des Clans, erkennt, dass die Neandertaler aussterben und nur die Cro-Magnons übrig bleiben werden. Dieses Wissen vertraut er Ayla gegen Ende des Buches an, als klar wird, dass ihr Ausbruch aus der Neandertaler-Gesellschaft bevorsteht: The Clan will die, only you and your kind will be left. We are an ancient people. We have kept our traditions, honored the spirits and Great Ursus, but it is over for us, finished. Maybe it was meant to be. Maybe it wasn’t you, Ayla, but your kind. Is that why you were brought to us? To tell me? The earth we leave is beautiful and rich; it gave us all we needed for all the generations we have lived? How will you leave it when it is your turn? (408)

Creb weiß um den Niedergang der Neandertaler. Sie hinterlassen den neuen Menschen eine fruchtbare, heile Welt, da sie der Erde während der ganzen Zeit ihrer Existenz Sorge getragen haben. Er stellt die von Auel wohl prophetisch gemeinte Frage, in welchem Zustand die neuen Menschen dereinst die Erde hinterlassen werden. Durch ihren Willen, Neues zu lernen, wird Ayla zu einer Bedrohung der Neandertaler-Gesellschaft, die sich dieser Gefahr nur durch ihren Ausschluss entziehen kann. Dieser Kunstgriff erlaubt es der Autorin letztlich, zahlreiche Folgebände erscheinen zu lassen, die Aylas Ankunft und Auseinandersetzung mit ihresgleichen – den modernen Menschen – ins Zentrum stellen (Pollak 298f.; Hackett und Dennell 823, 825; Ruddick 85f.). Bei Auel gibt es Nachwuchs zwischen Neandertalern und Menschen. Ihren Sohn, das Resultat wiederholter Vergewaltigungen durch Broud, den Sohn des Anführers, versteht Ayla als den Sohn des ganzen Clans. Auf diese Weise deutet Auel das Weiterexistieren der Neandertaler, sie werden überleben (vgl. 453), indem etwas von ihrer Substanz auch im Homo sapiens sapiens enthalten ist. Die im Frühjahr 2010 erfolgte und in den Zeitungen vielfach als „Der Neandertaler lebt in uns“ (vgl. Meili) kommentierte Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms hat gezeigt, dass Europäer und Asiaten ein bis vier Prozent Neandertaler-Erbgut aufweisen. So scheint es, dass Auels Vision über das Überdauern der Neandertaler, obwohl rein fiktional, von der Wissenschaft bestätigt wird.

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Bei Auel sind die Kinder aus Verbindungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen bei beiden Gruppen nicht gern gesehen. Die verschiedenen Stämme der modernen Menschen leben friedlich mit- oder nebeneinander, innerhalb ihrer Gruppen scheint es keine rassistischen Konflikte zu geben, obwohl in den späteren Bänden Figuren afrikanischer und asiatischer Herkunft eingeführt werden, die von den weißen CroMagnons ohne Schwierigkeiten und Ressentiments akzeptiert werden. Rassistische Vorfälle treten nur zwischen modernen Menschen und Neandertalern auf. In Bezug auf den Romanzyklus von Auel lässt sich der Rassimusvorwurf erheben. Erstens verfügen die Neandertaler über so etwas wie eine ‚Erberinnerung‘. Zweitens birgt die Erscheinung Aylas als attraktive, blonde und blauäugige Frau, die im Schnellzugtempo verschiedenste Kulturtechniken wie den Wurfspeer, das Nähen von Wunden und die Domestikation von Tieren erfindet, in sich den Kern der überholten, vielfach missbrauchten Vorstellung der Arier oder Indoeuropäer als Kulturbringer (Ruddick 165-67). Etwa zeitgleich mit The Clan of the Cave Bear erschien Ende der 1970er Jahre Der Tanz des Tigers des Paläontologen Björn Kurtén. Das schwedische Original erschien 1978, Übersetzungen ins Englische und Deutsche erfolgten 1980, respektive 1981, so dass dieser Roman erst nach Auels Roman rezipiert wurde. Beide Bücher weisen Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede in ihrem Neandertaler-Bild auf. Bei Kurtén heißen die Neandertaler die ‚Weißen‘ und ‚Roten‘, sie haben helle Haut und Haare als Anpassung an das Klima im kalten Nordeuropa. Die neuen Menschen, die ‚Schwarzen‘ sind Eindringlinge aus dem Süden. Sie wollen nichts mit den von ihnen als „Trolle“ (vgl. Kurtén 56) bezeichneten, eher als Tiere denn als Menschen begriffenen Neandertalern zu tun haben. Die Bezeichnung „Troll“ bezieht sich in der nordischen Mythologie auf nicht menschliche, als hässlich betrachtete Wesen, die teilweise als Menschenfresser gelten. Damit scheint eine Reminiszenz zu den als letzter Nachklang der Neandertaler gedeuteten Ogern von Wells vorzuliegen (vgl. Kempen 186). Diese Ähnlichkeit wird aber im weiteren Verlauf des Romans gründlich abgebaut, da Kurtén die Neandertaler-Gesellschaft als friedlich schildert. Schwarzer Tiger, die Hauptfigur und ein Homo sapiens sapiens, wird schwer verletzt von den Neandertalern aufgenommen und gesund gepflegt. Anfangs betrachtet er die Neandertaler als Tiere, selbst als er später von Fräulein Waid zum Partner genommen wird, sinniert er noch: „Was für ein Tier ist das, das ich in den Armen halte?“ (78). Die Neandertaler hingegen fühlen sich zu den neuen Menschen hingezogen, die sie als „Götter“ (87) bezeichnen wegen ihres hohen Körperwuchses und ihrer melodiösen Sprache. Anders als bei den bisherigen Bearbeitungen verfügen

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die Neandertaler bei Kurtén über eine eigene, voll ausgebildete Sprache, „die im Vergleich zu der der Schwarzen schwerfällig und rituell war“ (87). Von der Gesellschaftsorganisation her unterscheiden sich die beiden Gruppen ebenfalls. Die Neandertaler sind matriarchal organisiert, die Frauen wählen ihre Partner selbst. Bei den modernen Menschen gilt das weibliche Geschlecht als Besitz, über den die Eltern und der Mann entscheiden (vgl. 82). In der Gesellschaft der Neandertaler spielen die Frauen die wichtigere Rolle als die Männer. Nach einer Weile kommt Schwarzer Tiger zur Erkenntnis, dass „die Frauen in dieser Gemeinschaft stärker und interessanter als die Männer“ sind (85). Allgemein kann man schliessen, dass die Frauen bei Kurténs Neandertalern das tonangebende und tatkräftigere Geschlecht sind. Das ausgeprägte Interesse der ‚Weißen‘ an den ‚Schwarzen‘ deutet der Autor mit der im Homo sapiens sapiens deutlich ausgeprägten Neotenie, der Beibehaltung kindlicher Züge: „Kein Weißer konnte die klare Stirn eines Schwarzen betrachten ohne dabei die Zärtlichkeit zu verspüren, wie sie ein Kind vielleicht in den Herzen seiner Eltern weckt“ (87). Diese Anziehung erklärt nach Kurtén, weshalb die selbsbewussten NeandertalerFrauen danach trachteten, ein Kind von einem „Gott“ zu empfangen. Der aus diesen Beziehungen hervorgegangene Nachwuchs ist in Kurténs Vorstellung nicht mehr fortpflanzungsfähig. Bei ihm ist es die Attraktivität des Homo sapiens sapiens für den Neandertaler, die zu dessen Aussterben führte und weniger kriegerische Auseinandersetzungen. Bei den noch stärker in den Norden verdrängten ‚Roten‘ trifft Schwarzer Tiger auf eine kriegerische Splittergruppe angeführt von Fräulein Schwalbe, die sich dem Vormarsch der modernen Menschen widersetzen und alle ‚Schwarzen‘ umbringen. Schwarzer Tiger entgeht diesem Schicksal, weil er einem verwundeten ‚Roten‘ half und ihre Sprache spricht. Fräulein Schwalbe erklärt die Ablehnung der modernen Menschen ihrer Gruppe durch eigene Erlebnisse: Ich war kaum mehr als ein Kind. Ich hatte Angst vor ihren lauten Stimmen und ihrem Lachen, daher hielt ich mich von ihnen fern. Aber einer brachte mich durch einen Trick dazu, von dem Zaubertrunk zu trinken, der mich einschläferte und mich ganz durcheinanderbrachte. Sie vergingen sich an mir, erst der eine, dann der andere. In dieser Nacht wurde ich, die ich noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war, zur Frau, und als sie schliefen, hab ich sie beide umgebracht. (203)

Dieses Beispiel verweist auf die unterschiedlichen Gesellschaftsmodelle und zeigt, dass bei Kurtén die Frauen der Neandertaler das aktivere und bestimmende Geschlecht sind und über das Schicksal des Stammes entscheiden.

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4. Vom heimlichen Überleben der Neandertaler Die für die Prehistoric Fiction charakteristische Mischung von Fantastik und spekulativer Wissenschaft zeigt sich ausgeprägt im dritten Zugang, der vom heimlichen Überleben der Neandertaler handelt. Deutlich wird die Mischung aus Spekulation und Fantastik zum Beispiel in The Treasure of Odirex (1979) von Charles Sheffield. Angesetzt im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt Hauptfigur Erasmus Darwin, der Grossvater Charles Darwins, eine evolutionistische Theorie der Menschheit als Reaktion auf seine Begegnung mit Neandertalern, die in einer offen gelassenen Bleimine Zuflucht vor den Menschen gefunden haben (Ruddick 83). Von einer Patientin auf Überlieferungen, darunter die, dass „fiends“ (z.B. Sheffield 247) – also: Teufel – in den Hügeln wohnen, aufmerksam gemacht, bricht er mit dem sterbenskranken Abenteurer Jacob Poole zur Erkundung auf. Erasmus erfreut sich an den ihm unbekannten Heilpflanzen, die er kennen lernen möchte. Poole treibt die Sage um König Odirex und seinen Schatz an, er hofft, diesen Schatz zu heben. Unterwegs entdecken sie einen stummen Jungen mit seltsamen Zügen: „The lad was deformed of feature, with a broad, flattened skull and deep-set eyes“ (253). Poole meint, der Junge erinnere ihn an einen Orang Utan, den er auf einer Reise gesehen habe. Der Neandertalermischling, darum handelt es sich, wird als stumm und affenähnlich eingeführt. In den Hügeln treffen sie auf die Neandertaler. Die „fiends“ nehmen sie auf und geben ihnen eine Kräutermedizin zu trinken, um eine Ansteckung mit der Pest zu verhindern. Sie sind Träger der Pest, selbst aber immun dagegen. An diesem selbstlosen Handeln erkennt Darwin ihre Gutmütigkeit, Friedfertigkeit und ihr fundamentals Anderssein zum modernen Menschen: But I believe they are a very peaceful people. You saw how gentle they were with us, how they cared for us when we were sick – even though we must have frightened them at least as much as they disturbed us. We were the aggressors, we drove them to live in the disused mines. (294)

Erasmus Darwin schließt, dass sie nicht freiwillig in den Minen hausen, sondern dorthin verdrängt worden sind. Daraus formuliert er eine evolutionistische Theorie: „when there is a struggle for living space, the stronger and fiercer animals drive out the weaker and more gentle – who then must perforce inhabit a less desirable habitat if they are to survive“ (266). Darwin kommt zur Erkenntnis, dass die Neandertaler Menschen sein müssen, wegen eines Flohs und wegen des stummen Jungen, der wie sie aussieht und von einem von ihnen gezeugt worden sein muss. Er schliesst, dass die Neandertaler der Schatz sind, mit dem der Odirex die Römer vertreiben konnte:

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‘You’re wrong, Jacob,’ he said. ‘The treasure was there. You saw it yourself – and I had even closer contact with it. Don’t you see, the fiends themselves are the Treasure of Odirex. Or rather, it is what they bear with them that is the treasure […] not something you could see, Jacob. Disease. The fiends are carriers of plague.’ (296)

Ein weiterer Schatz findet sich in den Bleiminen. Die „fiends“ sind alle reich mit Gold behängt, sie haben in der Tiefe eine Goldmine entdeckt. Darwin beschliesst, das Vorhandensein der Neandertaler und des Goldes geheim zu halten, obwohl sein sterbender Freund Poole darauf wartet, einmal einen Schatz wie die Goldmine zu finden. Er tauscht sich mit einem der Neandertaler über Medizin und Heilpflanzen aus, da er durch den Trank von ihrem Heilwissen weiß. So gewinnt er das Wissen, nach dem er seit Beginn der Reise getrachtet hat, und somit ist er der einzige, der einen Schatz erlangt (298). Die Neandertaler sind bei Sheffield freundlicher und rücksichtsvoller als die modernen Menschen, was sie zu Verlierern der Welt gemacht hat. Ähnlich verhält es sich in John Darntons Neanderthal (1996), das in den 1990er Jahren angesetzt ist und von der Entdeckung von Neandertalern im Pamirgebirge handelt. Die Paläontologen Susan Arnot and Matt Mattison suchen im Pamirgebirge nach Dr. Kellicut, einem verschwundenen Wissenschaftler, der ihr Ausbilder und Förderer war. Die Konkurrenz der zwei dreht sich auch um die Frage nach der Ursache für das Ende der Neandertaler: Während Mattison die Meinung vertritt, die Neandertaler seien langsam im Homo sapiens sapiens aufgegangen, ist Arnot überzeugt, dass die Neandertaler von den modernen Menschen ausgerottet wurden (Darnton 35f.). Auffallend ist die zwiespältige Darstellung der Neandertaler: As they moved closer a cloud passed over the sun, the glare disappeared, and their features suddenly became fully visible. There was no doubting their otherness. […] The creatures were fully erect, but they carried their heads in a peculiar, protruding way, as if dangling on invisible wires. They looked like men peering off into the distance. To human eyes, the effect was unspeakably ugly. (139f.)

Die Neandertaler sind haarig und wirken hässlich mit ihren Augenwülsten und fliehendem Kinn. Ihre Darstellung übernimmt die in den 1990er Jahren überkommene, durch die Arbeiten Marcellin Boules geprägte Vorstellung. Bei Darnton können die Neandertaler nicht sprechen, jedoch haben sie telepathische Kräfte. Diese Fähigkeit, die im Laufe des Romans als der Sprache überlegen gefeiert wird, macht sie zu einem Ziel für das russische und das US-amerikanische Militär (198). Diese Kräfte funktionieren auch bei Menschen. Kellicut, der schon länger bei den Neandertalern weilt, erlernt die Gabe, aber er kann sich daran nicht lange erfreuen, da er unsanft durch die Neandertaler zu Tode kommt. Es gibt nämlich zwei Arten von ihnen: Die Guten leben vegan in einem tropischen Klima – Eden vergleichbar. Die Bösen, die mit dem

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Schneemensch Yeti gleichgesetzt werden, leben von Jagd und üben Menschenopfer und Hirnverspeisung aus. Sie versuchen, durch den Verzehr von Menschenhirn die Schlauheit und Verschlagenheit der modernen Menschen zu erlangen. In der Vorzeit herrschte Krieg zwischen Neandertalern und Menschen, den Homo sapiens sapiens durch seine Durchtriebenheit für sich entscheiden konnte. Dieses Ereignis haben die Neandertaler auf einer Bildtafel festgehalten als permanente Warnung für zukünftige Generationen: „Beware of the long lithe one, he has a capacity we do not have“ (347). Diese Eigenschaft, die den Neandetalern fehlt, ist die Verschlagenheit: „That he is duplicitious. That he cheats. That he lies. And therefore that he always wins“ (384). Die Fähigkeit zu lügen und zu betrügen, die den Neandertalern wegen ihrer Telepathie nicht möglich ist, hat den modernen Menschen den Sieg ermöglicht. Die überlebenden Neandertaler zogen sich in die unwirtliche Bergwelt des Pamir zurück. Die Handlung des Romans spitzt sich auf eine Konfrontation der unterschiedlichen Neandertalerlebensweisen zu. Die Guten kennen keine Geschlechtersegregation. Es ist eine Gesellschaft ohne Hierarchien: „Instead, everyone is truly equal, from the smallest child to the strongest man“ (199). Sie jagen und töten nicht, kennen dafür bereits die Landwirtschaft, kochen ihre Nahrung aber nicht (187). Ihre Lebensweise wird als paradiesisch geschildert, vergleichbar dem Zustand von Adam und Eva im Garten Eden vor dem Sündenfall. Anders die Bösen im unwirtlichen, kalten Klima: Sie haben eine Höhle bezogen und verfügen mit Kee-Wak über einen Anführer. Wie die Wissenschaftler herausfinden, handelt es sich bei ihnen um Ausgestossene der friedlichen Gruppe, die wegen Verstössen gegen die Gepflogenheiten verbannt wurden: He goes off into the wilds alone and learns to survive. He leaves Eden. Eventually another one joins him. Over time their numbers grow. At first it’s a small ragged band, but it builds and builds. Soon you have an entire subcolony of outcasts. When they are joined by women, it becomes reproductive in its own right (259).

Darntons Wissenschaftler streiten sich über den Umgang mit den Neandertalern: Kellicut meint, die Guten zu unterstützen, sei unethisch, denn sie leben in einer vorbiblischen Form und jeder Eingriff sei mit dem Wirken der Schlange im Paradies vergleichbar: „Don’t you see, that you are surrounded by innocent, naïve, trusting beings? You have found Eden itself, the great garden of paradise, before Adam and Eve’s transgression. It’s all part of nature’s great design“ (202). Arnot und Mattison setzen sich über Kellicuts Wünsche hinweg und helfen den friedfertigen Neandertalern. So gelingt es der friedlichen Gruppe, siegreich zu bleiben. Dabei werden sie zu Jägern, geben ihre Friedfertigkeit teilweise auf. Die Bösen werden von den Menschen erneut getäuscht und finden ihr Ende in einer

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Lawine. Der russische Wissenschaftler, der in der Mitte der Handlung zu den Amerikanern stösst, bringt gegen Ende des Romans die zentrale Botschaft zur Sprache: „I was thinking about what you said earlier about deception. Isn’t it ironic that our worst characteristic is the one to determine survival?“ (390). Des Menschen Verschlagenheit ist es, die seinen evolutionären Sieg über die Neandertaler entschied. Auch hier wird am Ende die Existenz der Neandertaler vor den Menschen, in diesem Fall den US-amerikanischen und russischen Regierungen geheim gehalten, da diese nur an deren telepathischen Kräften interessiert sind. Die Guten leben versteckt weiter, zerstören die Brücke, die zu ihrem Territorium führt, kein Mensch kann mehr zu ihnen gelangen. 6. Zusammenfassung Die unterschiedlichen Bilder des Neandertalers treffen in der Prehistoric Fiction auf einander und es lassen sich die drei anfangs benannten verschiedene Herangehensweisen an die Neandertaler nachweisen. Es gibt Szenarien, die die Neandertaler als bösartige, anthropophage und minder entwicklete Menschen präsentieren, deren Ausrottung durch den modernen Menschen als gerechtfertigt eingeschätzt wird. Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich solche Darstellungen. Sie sind wohl als eine kritische, ablehende Reaktion auf evolutionistische Betrachtungsweisen der graduellen Entwicklung der Menschheit zu betrachten. Mit entsprechenden Deutungen versuchte man, den Neandertaler als möglichen Vorfahren und nahen Verwandten des modernen Menschen zu diskreditieren. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts kommt die Vorstellung der Neandertaler als unschuldige Wesen auf, die dem Homo sapiens sapiens zum Opfer gefallen sind. Solche Szenarien sind als Reflexion auf den Zweiten Weltkrieg mit seinen bis anhin undenkbaren Gräueln zu verstehen. Ausserdem fand in den späten 1950er Jahren in der Paläontologie eine Neuinterpretation und -rekonstruktion von Neandertaler-Skeletten statt, die diese als menschlicher erscheinen liessen als die bis anhin dominante Arbeit des Paläontologen Marcellin Boule. Der dritte Zugang vom heimlichen Überleben der Neandertaler verweist am deutlichsten auf die für die Prehistoric Fiction charakteristische Verbindung von Wissenschaft und Spekulation. In diesem Zugang finden sich die ausgeprägtesten Mischformen der Neandertaler, was sich bei John Darntons Neanderthal dahingehend ausdrückt, dass gleichzeitig zwei Arten von Neandertalern existieren. Die einen sind gut und unschuldig, die an-

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deren gewalttätig und blutrünstig, deren Ausrottung vom Autor gutgeheißen wird. Jede Darstellung nimmt Bestandteile des wissenschaftlichen Diskurses über Neandertaler zu ihrem Entstehungszeitpunkt auf und popularisiert sie weiter. Literaturverzeichnis Auel, Jean M. The Clan of the Cave Bear. New York: Crown, 1980. Beckerhoff, Florian. Monster und Menschen: Verbrechererzählungen zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankreich 1830-1900. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. Berman, Judith C. „Bad Hair Days in the Paleolithic: Modern (Re)Constructions of the Cave Man“. American Anthropologist: New Series 101.2 (1999): 288-304. Boule, Marcellin und Henri V. Vallois. Les hommes fossiles: Eléments de paléontologie humaine. Paris: Masson, 1952. Claeys, Gregory. „The ‘Survival of the Fittest’ and the Origins of Social Darwinism Author(s)“. Journal of the History of Ideas 61.2 (2000): 223-40. Darnton, John. Neanderthal. New York: Saint Martin’s, 1996. De Paolo, Charles. Human Prehistory in Fiction. Jefferson: McFarland, 2003. Figuier, Louis. L’homme primitif. Paris: Hachette, 1870. Golding, William. The Inheritors. 1955. London: Faber, 2005. Guillaumie, Marc. Le roman préhistorique: Essai de définition d’un genre, essai d’histoire d’un mythe. Limoges: Pulim, 2006. Hackett, Abigail und Robin Dennell. „Neanderthals as Fiction in Archaeological Narrative“. Antiquity 77 (2003): 816-27. Hammond, Michael. „The Expulsion of the Neanderthals from Human Ancestry: Marcellin Boule and the Social Context of Scientific Research“. Social Studies of Science 12 (1982): 1-36. Kempen, Bernhard. Abenteuer in Gondwanaland und Neandertal: Prähistorische Motive in der Literatur und anderen Medien. Meitingen: Corian, 1994. Kurtén, Björn. Der Tanz des Tigers. Roman aus der Eiszeit. Hamburg: Knaus, 1981. Meili, Matthias. „Der Neandertaler lebt in uns“. Tages-Anzeiger 7. Mai 2010: 40. Moser, Stephanie. „The Visual Language of Archaeology: A Case Study of the Neanderthals“. Antiquity 66 (1992): 831-44. Nicole, Paul. L’homme il y a deux cent mille ans. Paris: Dentu, 1885. Pollak, Janet S. „Excavating Auel: The Gender Roles of Earth’s Children“. The Archaeology of Gender: Proceedings of the Twenty-Second Annual Conference

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—. The New and Revised Outline of History: Being a Plain History of Life and Mankind. New York: Garden City, 1931.

Der Wandel der deutschen Science Fiction Vom technischen Zukunftsroman zur Darstellung alternativer Welten HANS ESSELBORN German Science Fiction’s Change from Technical ‘Novel of the Future’ to Representation of Alternative Worlds European SF starts with Jules Verne’s voyages imaginaries implying new means of transport from captive balloon and railway to airplane and submarines. Even the utopian philosophical novel Auf zwei Planeten by Kurd Laßwitz, father of German SF, takes great interest in transport between Mars and Earth and on the two planets themselves. After World War II emphasis seems to shift from technical devices in the sense of Hans Dominik to creating new worlds in space. In the 1960s, H.W.Franke in his novels Elfenbeinturm and Orchideenkäfig is the first to explore virtual worlds besides utopian and dystopian societies in which computers play a vital role (Zone Null, Ypsilon minus). In virtual worlds aliens, favourite subject of mass media, begin to dominate. They tend to resemble supernatural beings in fantastic literature. Although alien worlds in recent German SF cannot be imagined without technical civilization, emphasis lies not on new technology but on alternative perception and sometimes a retrograde way of living (cf. Schätzing’s Der Schwarm). The genre seems to tend towards some kind of ethnography of fictitious societies that have however to be scientifically constructed and do not derive from the fantastic tradition.

Meine Hypothese ist die einer Gewichtsverlagerung des deutschen Zukunftsromans, mit dem modernen englischen Begriff der deutschen Science Fiction, von der Orientierung an neuen Technologien hin zur Darstellung anderer und fremder Welten im Laufe des guten Jahrhunderts des Bestehens des Genres. Ein Schwanken zwischen der utopisch-alternativen und der technisch-futuristischen Seite ist dabei ebenso wenig ausgeschlossen wie die interne Akzentverlagerung innerhalb der beiden Wurzeln des Zukunftsromans (vgl. Innerhofer, sowie Müller). Darunter verstehe ich erstens die konkrete Technikbeschreibung, angelehnt an den Ingenieurs-

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roman des 19. Jahrhunderts1 und überhöht vom geistig-seelischen Glanz aber auch Schatten der Maschine seit dem 18. Jahrhundert. Zweitens denke ich an die Darstellung exotischer Welten, hervorgehend aus der ethnographischen Funktion des Reiseromans und Reiseberichts wie bei J. Verne.2 Bei der Technik stehen nach den Transportmaschinen, von der Eisenbahn bis zu den Raketen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, später die neuen Kommunikationsmedien und der Computer mit ihren Wirkungen sozialer und psychologischer Art im Vordergrund. Die schon früh auftretenden Roboter und Androiden erscheinen in den literarischen Texten weniger als reale Maschinen, denn als Stellvertreter des Menschen. Sie gehören deshalb zur Utopie oder Antiutopie, zu motivierenden Zukunftsentwürfen oder Schreckbildern. Die utopisch-alternative Seite des Zukunftsromans zeigt ihrerseits immer deutlicher die Abwendung von der normativen und idealen Gesellschaft und das Interesse an einer neutralen Beschreibung alternativer Zivilisationen (vgl. Schwonke; Esselborn Utopie). Hier ist auch der Ort des gleitenden Übergangs in die moderne Phantastik, der sich in den letzten Jahrzehnten beobachten lässt. Die Aliens der Science Fiction als biologische, kulturelle und soziale Alternative zum Menschen, welche die dort beschriebenen Gesellschaften konstituieren, haben ihre Entsprechung in den phantastischen und dämonischen Gestalten der Fantasy, die, wie die Orks Tolkiens, zugleich künstliche und urtümliche Wesen sein können. 1. Phase um die Jahrhundertwende: Kurd Laßwitz’ Auf zwei Planeten Kurd Laßwitz, der als Vater der deutschen Science Fiction gilt, hat um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Roman geschrieben, zahlreiche ‚wissenschaftliche Märchen‘ und einige einschlägige Aufsätze. Er ist ein aufklärerischer Optimist, der den Gleichklang des zivilisatorischen und kulturellen Fortschritts erwartet und die „ethische Kraft des Technischen“ (Laßwitz, „Zukunftsträume“ 434) entdeckt, die in der schöpferischen, gewissermaßen prometheischen Aktivität des Menschen steckt. Hier haben wir neben der direkten Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen deutlich die idealisierende Wirkung des technischen Fortschritts vor Augen. 1

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Der Ingenieursroman, der in Deutschland im 19. Jahrhundert mit Friedrich Spielhagen und Max Eyth beginnt, präsentiert einen genialen Erfinder – oft als Außenseiter – dessen persönliches Schicksal, seine Arbeit und technischen Produkte beschrieben werden. Diese können realitätsnah sein wie bei Max Eyth, Otto Willi Gail und Thea von Harbou oder eher utopisch und futuristisch wie bei Paul Scheerbart und Hans Dominik. Jules Verne hatte in den voyages imaginaires noch eine ideale Kombination von pragmatischen Transportmaschinen Ballon, Eisenbahn, U-Boot und Flugzeug und der Beschreibung exotischer Milieus außerhalb des Gewohnten etwa unter der Erde oder im Meer (vgl. Esselborn Die literarische Science Fiction 61-78).

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Noch schwerer wiegt die sittliche Bedeutsamkeit, die in dem sichtbaren Beweise liegt, daß das Schaffen von neuen Gütern und die Beherrschung der Natur wirklich stattfindet. Man unterschätzt noch viel zu sehr diese ethische Kraft des Technischen, die in dem Bewußtsein des Schaffen-Könnens enthalten ist. Hier zeigt der Mensch sich erst wahrhaft als Mensch, indem er schöpferische Intelligenz ist (ebd.).

Laßwitz schreibt erstens wissenschaftliche Abhandlungen aus dem Grenzgebiet von Philosophie und Physik, zu erwähnen ist besonders seine umfangreiche Standarddarstellung des Atomismus. Zweitens veröffentlicht er viele populärwissenschaftliche Essays und Artikel mit kulturgeschichtlicher und naturwissenschaftlicher Thematik. Drittens verfasst er unterhaltsame literarische Werke verschiedenster Form, von Romanen über längere Erzählungen und Kurzgeschichten bis zu modernen Märchen. Fast alle diese Texte haben einen wissenschaftlichen oder technischen Einfall als Kern und sind deshalb zur Science Fiction zu rechnen. Laßwitz’ Bemühung um die Synthese von Wissenschaft und Literatur spiegelt sich auch darin, dass er eine wissenschaftliche oder philosophische Idee auf verschiedenen Stufen verarbeitet, als theoretischen Artikel, als populäre Erklärung und als unterhaltsame Geschichte, welche der korrekten Analyse entspricht. Im Aufsatz „Ein Beitrag zum kosmologischen Problem und zur Feststellung des Unendlichkeitsbegriffes“ (1877) erarbeitet Laßwitz die These: „Der Mensch kann den in sich gekrümmten, den sphärischen Raum nicht anschauen“ (zit. nach Friedrich 201). Allgemein verständlich popularisiert wird diese Aussage im Essay „Vom gekrümmten Raum“ (1900), poetisch dargestellt in der Münchhauseniade „Wie der Teufel den Professor holte“ (1907), in der der Autor sich auch selbst porträtiert. Laßwitz’ Roman Auf zwei Planeten ist als technische und soziale Utopie gedeutet worden, also als Entwurf eines Ideals in Form einer fremden Welt. Dagegen scheint mir eher die Bildung der Menschheit neben der Beschreibung futuristischer Technologien das zentrale Thema zu sein. Erziehung und Vorbild der weit überlegenen „Martier“ führen zur Höherentwicklung der Menschheit im Sinne der vernünftigen Sittlichkeit und Bildung, wie sie Kant, Herder und Schiller 100 Jahre vorher formuliert haben.3 Der Pazifismus und Liberalismus der Martier kann zugleich als direktes Gegenbild gegen die militaristische und autoritäre Wilhelminische Ge-

3

Vgl. Schweikert 936f.: „Auf zwei Planeten ist geschrieben zur ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘, verficht den Toleranzgedanken, predigt Vernunft, will die Humanität befördern und beanwortet auf eigene Art Kants Frage, ‚ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Bessern sei‘. Laßwitz entwirft in seinem Roman einen liberalen Idealstaat [...] ‚in weltbürgerlicher Absicht‘ und drückt den Nume ‚das Siegel der vollendeten Menschheit‘ auf, Schillers ‚schöne Seele‘ also, in der ‚Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung‘ harmonieren.“

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sellschaft verstanden werden.4 Der Ort der fremden Kultur ist der Mars. Sie erweist in allen Punkten ihre Überlegenheit, nicht nur im technischen Fortschritt, sondern auch in der Sittlichkeit, in der demokratischen, politischen Organisation und im Gebrauch der Ästhetik z.B. beim Flirt. Die Gesellschaft auf dem Mars zeichnet sich durch Gewaltlosigkeit, Freiheit und Vernunft aus, während die Menschen „Sklaven der Natur, der Überlieferung, der Selbstsucht und ihrer eigenen Gesetze sind“ (Laßwitz, Auf zwei Planeten 355). Doch ist Laßwitz insofern kritisch, als er auch den kulturellen Rückfall der Martier in den Kolonialismus beschreibt, der durch die Selbstbehauptung der Menschen korrigiert werden muss. Durch eine Art Erziehungsdiktatur und den verrohenden Umgang mit den Menschen kommt es zu einem sittlichen Rückfall, zu Gewalttätigkeit, Hochmut und Egoismus (vgl. ebd. 327). Als Antwort auf den kulturellen Zwang gründen die vernünftigen Menschen den „allgemeinen Menschenbund, [...] der durch eine freiwillige Aufnahme der von den Martiern gebotenen Kulturmittel sich von der Fremdherrschaft der Martier unabhängig zu machen suchen sollte“ (ebd. 556f.). Laßwitz kommt beim Entwurf der neuen Technologien, die er detailliert im Roman erklärt, zugute, dass er als Physiker aus theoretischen Konzepten neue praktische Lösungen ableiten kann, so besonders die Luft- und Raumfahrt aus einer (hypothetischen) Äthertheorie der Schwerkraft. Außerdem geben ihm ethische (Harmonie mit der Natur) und ästhetische (Sauberkeit und Schönheit) Vorlieben die Tendenzen seiner technischen Phantasie vor. Ebenso suggerieren ihm die Anfänge der Elektrizität eine globale Nutzung der Sonnenstrahlung zur Energiegewinnung. Nach dem Eingriff der Martier in die irdischen Angelegenheiten revolutioniert die Sonnenenergie die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse durch den Reichtum, dessen schier unerschöpfliche Quelle in der Sonne lag und nun zum ersten Mal von den Menschen bemerkt und benutzt wurde. [...] [Z]ahlreiche Arbeitskräfte fanden zur Herstellung und Bearbeitung der Strahlungsfelder Beschäftigung. [...] Das Hauptzahlungsmittel bestand in Anweisungen auf die Energie-Erträge der großen Strahlungsfelder. Die aufgespeicherte Energie selbst kam nur zum kleinen Teil in den Verkehr, die geladenen Metallpulvermassen, die „Energieschwämme“, wurden zum größten Teil direkt nach dem Mars exportiert, die Scheine über diese Erträge aber wanderten von Hand zu Hand und in die Regierungskassen als Steuern. (ebd. 616)

Eher nebensächlich erscheinen demgegenüber die gigantischen Transportsysteme auf dem Mars, die das Prinzip des laufenden Bandes in vielfälti4

Vgl. Wenzel 103: Die Martier „sind einerseits Vorbild [...] und andererseits kritisches Gegenbild. In ihrer Funktion stehen sie stellvertretend für den europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts.“

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gen, beweglichen Straßen anwenden. Die künstliche Nahrung symbolisiert bei Laßwitz die Freiheit von den natürlichen Gegebenheiten: „Zahllose Kräfte wurden frei für geistige Arbeit und ethische Kultur“ (ebd. 296). Ebenso faktisch wie symbolisch bedeutsam ist die Beherrschung der Schwerkraft durch die Martier, einerseits durch die Entwicklung von Stoffen, die schwerelos machen, und andererseits durch „Schwerkraftgeneratoren“, welche Gravitation an beliebiger Stelle und in beliebiger Richtung herstellen können, etwa für den Bau des überdimensionierten „Fahrstuhls“ zur Raumstation am Pol. 5 Sonnenenergie, künstliche Nahrung und Beherrschung der Schwerkraft sind als miteinander verflochtene Momente die Grundlagen der Zivilisation auf dem Mars und ihres Ausgreifens in den Weltraum. Sie haben zugleich einen unverkennbaren Symbolwert. So wie die Marsgesellschaft friedlich ist, keine Kriege und Soldaten kennt, so ist auch der Umgang mit der Natur frei von Zwang. Der von der Sonne gespendete Reichtum macht zudem alle sozialen Auseinandersetzungen überflüssig, besonders Ausbeutung und Klassenkampf. Die Sonnenenergie ist „von der Natur verliehen“ (ebd. 379); sie kann gesammelt werden. Auch die Raumfahrt geschieht nicht durch gewaltige Gegenkräfte, wie sie die heutigen Weltraumraketen entfesseln, sondern durch die Aufhebung der Schwerkraft durch geeignete Werkstoffe. Zur Lenkung der Raumschiffe wird eine Art elektrischer Energie benutzt, welche der Kosmos in Form des hypothetischen Äthers überall zur Verfügung stellt. Selbst die Waffen der Martier, die erst für den Kampf mit den unvernünftigen Menschen entwickelt werden, nämlich das Telelyt, das Repulsit und das Nihilit, beruhen auf dieser Energie. Zudem gelingt Laßwitz der Übergang vom normativen utopischen Roman zur Science Fiction, genauer zum Zukunftsroman mit prognostischen Momenten. Die Martier, so ideal und vernünftig sie beschrieben werden, erweisen sich nicht als absolutes Vorbild; die menschliche Sinnlichkeit und Erdverbundenheit behält ihr Recht. Indem die ‚martische‘ Vernunft von den Menschen durch ihre eigene ersetzt wird, werden auch die vorgegebenen Normen der Utopie relativiert. Die spätere Rezeption des Romans hat leider weniger das moralische und ästhetische Ideal nach Kant und Schiller oder die Satire auf die autoritäre und militaristische Wilhelminische Gesellschaft aufgegriffen, als die technischen Erfindungen. So übernahm der Raketenroman die „Richtschüsse“ (ebd. 124) zur Lenkung im luftleeren Raum, Döblin in Berge, Meere und Giganten die künstliche 5

Vgl. Laßwitz, Auf zwei Planeten 31: „Diese Kraft hatte ihre Quelle in nichts anderem als in der Sonne selbst, und die Kraft der Sonnenstrahlung so umzuformen, daß sie jenen Ring der Erde gegenüber in Gleichgewichtslage hielt, das eben hatte die Kunst einer glänzend fortgeschrittenen Wissenschaft und Technik zustande gebracht.“ Von dieser fiktiven Raumstation ließen sich später Werner von Braun wie Stanley Kubrick anregen.

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Nahrung als Überwindung der Natur und die Space Opera die fern wirkenden Laserwaffen. Trotz der einseitigen Rezeption kann Laßwitz’ Roman als Synthese von technischer Imagination und gesellschaftlichem Entwurf angesehen werden. 2. Phase der Zwischenkriegszeit: Hans Dominik und der Raketenroman Die Zwischenkriegszeit zeigt mit der Technikbegeisterung und dem Technokratiedenken der Neuen Sachlichkeit einerseits und der Rückkehr zum genialen Erfinder des Ingenieursromans andererseits eine eindeutige Zuwendung zur technischen Seite des Zukunftsromans. Beim Phänomen des Raumfahrtromans wird der Abstand zur konkreten Forschung und den praktischen Experimenten ganz gering. Die Fiktion übernimmt aus Theorie und Praxis Details des Raketenflugs und imaginiert nur noch das Gelingen des Fluges zum Mond ohne größere Überraschungen und ohne geistigseelische Vertiefung. So ist der Raketendiskurs ein seltenes Beispiel für die Symbiose von Literatur und Technik, genauer von Theorie und Praxis der Raketenforschung und künstlerischen Entwürfen von Weltraumfahrten, im Zeichen der öffentliche Selbstdarstellung und Werbung mit theoretischtechnischen Darlegungen, publizistischen Artikeln, populären Vorträgen und Werken der Literatur und des Films (vgl. Esselborn „Symbiose“). Die Raketentechnik übertraf die modernen Verkehrsmittel der Eisenbahn, des Autos und sogar des Flugzeugs, weil sie nicht nur eine Neuentwicklung darstellte, sondern auch die Chance einer Reise in den Weltraum eröffnete, die in vielen literarischen und philosophischen Werken schon Jahrhunderte vorher phantasiert worden war. Nach der Möglichkeit des Fliegens leichter als Luft mit dem Ballon oder Zeppelin und des Fliegens schwerer als Luft mit dem Motorflugzeug bietet nun die Rakete die neue Möglichkeit der Fahrt außerhalb der Luft. Die Symbiose zwischen Raumfahrttechnik und Literatur funktionierte in Deutschland in den 1920er Jahren auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist der gleitende Übergang von physikalischer Theorie, technischen Details, praktischen Experimenten, populärer Journalistik und spannendem Roman auffällig, der teilweise personal bedingt ist. Otto Willi Gail schreibt Romane und Populärwissenschaft, Max Valier ist als Popularisator und Fahrer von Raketenautos tätig und kommt bei einem Experiment um. Der von Willy Ley herausgegebene Sammelband Die Möglichkeiten der Weltraumfahrt von 1928 vereint wissenschaftliche Aufsätze über technische Probleme mit journalistischen und behandelt auch literaturwissenschaftliche Fragen (vgl. Debus; Ley). Selbstverständlich wird die Raketentechnik immer mit der bemannten Raumfahrt und sogar der Eroberung des Weltraums verbunden.

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In technischen Details wie der Stufenrakete, dem Start nach Osten und der Fluchtgeschwindigkeit treffen sich die meisten Romane mit den Theoretikern. Dies gilt auch für beliebte Motive wie die Gefahr der übermäßigen Schwerkraft beim Start und der fehlenden Schwere im Weltraum, sowie der neuartigen Perspektive auf Erde und Mond. Der eigentliche Erbe Laßwitz’ beim technischen Zukunftsroman ist Hans Dominik, der auch im Gymnasium sein Schüler war. Er verkürzte aber seinen Lehrer weitgehend um die utopische Dimension des Bildungsromans. Wenn in seinem Roman Atlantis die mythische Insel wieder mit geheimnisvollen technischen Mitteln aus dem Meer geholt wird, dient sie nicht als Schauplatz einer neuen Gesellschaft, sondern nur der Machtsteigerung der Europäer und besonders einer deutschen Firma. Hans Dominik ist der Autor des Zukunftsromans des 20. Jahrhunderts, der bis heute die größten Massenerfolge hatte und der noch in der Nachkriegszeit in West- wie Ostdeutschland großen Einfluss ausübte. Er brachte mit seinen 16 zwischen 1922 und 1940 geschriebenen Romanen den technischen Zukunftsroman als Massengenre erst zu seiner Blüte. Vom realitätsnäheren Ingenieursroman konnte Dominik ebenso den genialen und individualistischen technischen Erfinder als Vorkämpfer der Menschheit übernehmen wie den Kampf um die Erfindung und ihre Anwendung. Dieser bot ihm die Gelegenheit, eine spannende Kriminal- oder Agentenhandlung einzubauen.6 Dominiks geringes Interesse an gesellschaftlicher Utopie zeigt sich darin, dass die Entdeckungen und Erfindungen in einer gegenüber seiner Zeit kaum veränderten Gesellschaft stattfinden und nur bekannte Tendenzen fortführen. Wissenschaftliche Entdeckungen und vor allem technische Erfindungen samt ihren unmittelbaren und materiellen Folgen sind aber das Grundthema seiner Romane. Dabei interessieren ihn vor allem neue Energiequellen (besonders die Atomenergie in Der Brand der Cheopspyramide und Atomgewicht 500) und der Stratosphärenflug (s. die drei Eggerth-Romane), aber weniger die Raumfahrt. Die radioaktiven Strahlen spielen bei ihm eine besondere Rolle zur Stimulierung des Pflanzenwachstums (Lebensstrahlen) und zur Manipulation des geologischen Magmas (Atlantis und Land aus Feuer und Wasser). Entscheidend ist aber, dass der Fokus auf dem genialen Erfinden, seinen Schwierigkeiten und seiner Behinderung und drohenden Beraubung durch böse, aber ignorante Fremdlinge liegt. So wird die Ent6

Vgl. Fischer, Empire 192: „Like the ‘gadget stories’, ‘space operas’ and ‘gosh-wow!’ SF being written in America at the same time, Dominik’s novels concentrate on exciting technology and favour fast, sweeping action. Yet for all his theoretical intentions and his interest in futuristic science and technology, his works, when compared to much other SF, contemporary or even earlier, exhibit a distinct conservatism or even paucity of scientific and technological imagination.“

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deckungsgeschichte von einer Kriminalhandlung überwuchert. Die sozialen und kulturellen Folgen einschneidender Erfindungen werden nicht diskutiert oder ausgemalt, sondern nur die materiellen oder politischen Ergebnisse (vgl. Fisher, Fantasy). So hat der deutsche Zukunftsroman in der Zwischenkriegszeit grundsätzlich für eine realistische Technik optiert und gesellschaftliche Fragen und alternative Zivilisationen ignoriert. Dies gilt auch für seine Nachwirkung in der BRD bis in die 1960er, in der DDR bis in die 1970er Jahre. 3. Die deutsche SF seit den 1960er Jahren: H. W. Frankes Texte In den 1960er Jahren erfolgt in Westdeutschland der entscheidende Umbruch in der Tradition des Zukunftsromans durch den Einfluss des angloamerikanischen Modells. 1961 erscheint erstmals der unendliche Fortsetzungsroman Perry Rhodan, der die amerikanische Space Opera bis in die fernsten Zeiten und Galaxien fortschreibt. Im gleichen Jahr veröffentlich Herbert W. Franke seine ersten beiden Romane, die der neuen Wissenschaft der Kybernetik, der modernen Antiutopie und den zukünftigen Möglichkeiten des Computers Rechnung tragen. Von nun an kann man von einer deutschen Science Fiction (SF) sprechen, die weniger an zukünftigen technischen Entwicklungen interessiert ist als an einer literarischen Gestaltung alternativer Zivilisationen unter Bedingungen einer fortgeschrittenen Technologie (vgl. Barmeyer; Rottensteiner). Franke schrieb zwischen 1960 und 2007 neben 20 einschlägigen Romanen sieben Kurzgeschichtensammlungen und zwei Dutzend Hörspiele. In einigen Romanen, besonders aber Kurzgeschichten und Hörspielen wird die Begegnung mit dem ganz Anderen in Form fremder intelligenter Wesen, die auch anorganische und computerförmige Gestalt annehmen können, thematisiert. Dieses Thema dient meist der Demonstration interkultureller Kontraste, z.B. wenn die Handlung mancher Romane in einer Begegnung mit Außerirdischen endet, die einen starken Kontrast zu den Menschen darstellen (so z.B. Elfenbeinturm, Transpluto und Endzeit). Dieses extreme Ende scheint dabei einen Fluchtpunkt aus den Aporien der irdischen Gesellschaften zu markieren. Die Eroberung fremder Welten mit der Einrichtung neuer Gesellschaften spielt nur eine geringe Rolle. Die meisten Romane und Erzählungen entwickeln aber aus dem verallgemeinerten Gebrauch vorhandener oder futuristisch extrapolierter technischer Mittel zur Regelung, Kommunikation und Beeinflussung des Bewusstseins die Probleme zukünftiger oder alternativer Zivilisationen. Diese sind von den neuen Möglichkeiten, aber auch den Verlusten des Fortschritts geprägt. Computer und künstliche Intelligenzen werden dabei

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in ihrer Funktion einleuchtend und nachvollziehbar beschrieben, ohne äußere Details und suggestive Erklärungen. Es geht dabei nicht um neue Erfindungen, sondern um die sozialen und kulturellen Folgen und die anthropologischen Rückwirkungen seiner Produkte auf den Menschen, die ihm helfen, aber ihn auch verändern und entmachten. Zwei Technologien gilt Frankes Hauptaugenmerk: Erstens dem Supercomputer oder Zentralrechner, der zur rationalen oder technokratischen Regelung ganzer Gesellschaften eingesetzt werden kann. Dabei betrifft Frankes kritischer Ansatz sowohl den militaristisch-terroristischen Überwachungsstaat als auch den einengenden fürsorglichen Konsumstaat, wie sie in der Zeit des kalten Krieges als östliche bzw. westliche Variante aufgefasst wurden. Dabei scheint sich im Laufe der Zeit eine gewisse Verschiebung von der gewalttätigen Unterdrückung zur fürsorglichen Entmündigung zu ereignen. Zentral ist immer die Verwendung des Computers, sowohl für kybernetische Regelungen und Informationskontrolle des Überwachungsstaates, als auch für die Ablenkung und Triebentlastung durch Spiele und Simulationen im Fürsorgestaat (vgl. Esselborn „Frankes Romane“). Der Computer als Informationsmaschine führt weiter zu den wissenschaftlichen Fragen der Naturgesetze und der Konstruktion der Welt, ebenso zu den soziologischen Problemen der Erstarrung der Ordnung in einer Art Entropie der Gesellschaft oder organisiertem Chaos, gegen das Kreativität und Zufall aufgeboten werden müssen; ebenso leitet er über zur fast unmöglichen Unterscheidung der Illusion und Täuschung von Wahrheit und Wirklichkeit, also einem philosophischen Grundthema. Ein Beispiel für die Beherrschung einer Gesellschaft mit Hilfe eines Zentralcomputers bietet der Roman Ypsilon minus. Anders als in der trivialen Science Fiction sind bei Franke die Computer niemals böse oder herrschsüchtig, aber sie können selbst bei guten Absichten negative Folgen haben, weil sie wenigen Personen eine totale Kontrolle erlauben. Die Rolle des Computers wird im Roman so begründet: Er übernimmt die Funktion früherer menschlicher Regierungen, wobei er deren Pflichten ideal erfüllt, ohne auch deren Mängel zu übernehmen. Er ist das vollkommene Regierungsinstrument – selbstlos, rastlos, unermüdlich – im Dienste des Menschen (Franke, Ypsilon minus 134).

Ein Computerfachmann unternimmt im Wunsch, sein Schicksal zu verstehen, verbotene und gefährliche Aktionen. Er kann das Regime sogar über seine Verhaftung hinaus bedrohen, da er die geheimen Computerdaten, um deren Besitz die spannende Handlung kreist, schließlich mit Hilfe des amtlichen Nachrichtennetzes öffentlich macht. Dadurch, dass Franke die computergestützte Ordnung der Gesellschaften in ihren Absichten und ihrer Funktionsweise beschreibt und nicht nur die Unterdrückung der einzelnen Mitglieder, geht er über die klassischen ‚Schwarzen Utopien‘

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hinaus. Er thematisiert die technischen Mittel der Unterdrückung, nämlich den Einsatz des Computers zur Datenverarbeitung, zur Regelung von Vorgängen, zur Meinungsverbreitung und zur Manipulation der Wahrnehmung durch perfekte Simulation. Dabei wird die Technik in ihrer Ambivalenz gezeigt. Sie schafft keine unveränderbaren und geschlossenen Welten, sondern kann auch der Veränderung dienen, wenn man sie entsprechend benutzt. So wird in Ypsilon minus vorgeführt, wie der Held zuletzt die Tricks zur Überlistung der Computerordnung durch den zentralen Computer selbst veröffentlicht. In der Möglichkeit des Widerstandes durch emanzipativ angewandtes Herrschaftswissen zeigt sich neben der Anonymisierung der Macht Frankes zweite Neuerung gegenüber den ‚Schwarzen Utopien‘ des 20. Jahrhunderts, nämlich das genuine Interesse an den technischen Mitteln der Herrschaft. Zudem erscheint die Herstellung einer perfekten Ordnung durch den Computer in den Passagen des Romans, die aus der Sicht der Herrschaft als Abhandlungen geschrieben sind, als Antiutopie, während im Widerstand des Helden mit Hilfe der Öffentlichkeit ein utopisches Moment der Befreiung wirksam wird.7 Frankes zweites Interesse gilt so der technischen Herstellung von Virtualität zur Bewusstseinskontrolle oder Wunscherfüllung mit den sich daraus ergebenden philosophischen Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit, aber auch nach Freiheit und wahrem Glück. In den Romanen Orchideenkäfig und Das Gedankennetz führte Franke 1961 erstmals die Virtualität in die Science Fiction ein. Während es im Gedankennetz darum geht, verdächtige Personen mit chemischen Mitteln zu einem entlarvenden Handeln in fiktiven, suggerierten Situationen zu bewegen, steht im Zentrum des Orchideenkäfigs eine Art Computerspiel junger Leute, in dem sie mit Scheinkörpern wie den Avataren in einer fernen Welt agieren. Dort sind, wie schon gesagt, die Menschen aufgrund der totalen Fürsorge der Maschinen physisch und geistig degeneriert. Die virtuell agierenden Personen drohen ihrerseits ihr reales Leben zu verfehlen und selbst zu Computerfiguren zu werden. Die totale Versorgung und Unterhaltung macht die Menschen zwar scheinbar glücklich, entmündigt sie aber in Wirklichkeit. So erklären die Roboter ihr Tun, das zur totalen Hilflosigkeit der Menschen geführt hat: Die Menschen haben die ersten automatischen Einrichtungen gebaut, um sich von ihnen bedienen zu lassen. Später haben sie Automaten konstruiert, die sich selbst weiterentwickeln konnten, das ist bis zum heutigen Tag geschehen. Aber noch immer ist unsere erste Pflicht, die Menschen zu bedienen und zu beschützen. Alles, was wir für sie und an uns getan haben, hatte nur den Zweck, die Menschen immer besser und vollständiger zu bedienen und zu beschützen. […] 7

Diese Gleichzeitigkeit von eutopischen und dystopischen Momenten ist nach Norbert Groeben ein Merkmal der neuen Utopien der 1970er und 1980er Jahre. Bei Franke finden sich ebenso die ausdrückliche Reflexion der Utopie und das Hinterfragen ihrer klassischen Form.

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Unsere Technik war so hoch entwickelt, daß wir ihnen jeden Wunsch nach Gehirnzellenreizung erfüllen konnten. Ich glaube, wir haben ihnen dadurch den Weg zum vollkommenen Glück, zum vollkommenen Frieden und zur vollkommenen Sicherheit gebahnt (Franke, Orchideenkäfig 167f.).

Insgesamt kann man also sagen, dass Franke die Anwendung der modernsten und perfektioniertesten Technologien in seinen Texten zu dem Gedankenexperiment nutzt, wie eine utopische oder antiutopische Gesellschaft unter diesen Bedingungen aussehen würde. 4. Die Entwicklung der letzten Zeit: Schätzing und Eschbach Frank Schätzing beschreibt in seinem Erfolgswerk Der Schwarm fremde Wesen, die aber aus der Tiefsee stammen, also keine Außerirdischen sind. Zwar wird in dem Roman einige gegenwartsnahe Technik beschrieben, die dazu aufgewendet wird, diese fremden Wesen aufzuspüren und die verheerenden Folgen ihres Auftretens zu bekämpfen. Aber ihr gilt nicht das Hauptinteresse, sondern den zunächst unverstandenen Katastrophen, die von einfachen Lebewesen hervorgerufen werden, welche andere Meerestiere als Mittel globaler Zerstörungen benutzen. Das Rätsel der geheimnisvollen Gegenspieler des Menschen, die ungreifbar im Verborgenen wirken, wird erst zuletzt gelüftet und zugleich wird durch eine Friedensbotschaft die Gefahr ausgeschaltet. Es handelt sich um symbiotische Wesen, die untereinander solidarisch sind und die weitere Naturzerstörung des Menschen verhindern wollen. Zwar könnte der Autor dabei an ein Gegenmodell zur destruktiven kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft gedacht haben, doch liegt keine Utopie im Sinne eines normativen Vorbilds vor. Es geht nur um eine alternativ mögliche Lebensform zum Menschen auf der Erde, deren Entdeckung in einer spannenden Handlung beschrieben wird. In Schätzings letztem Roman Limit werden der Mond und eine neue Energieversorgung als alternative Welten beschrieben. Viele Werke Andreas Eschbachs zeigen eine Mischung von Elementen der Science Fiction und der Fantasy, so Die Haarteppichknüpfer, Das Jesus Video, und v.a. Quest, dessen Titel schon die phantastische Suche thematisiert. Die Haarteppichknüpfer und Quest entwerfen alternative Welten, die moderne Technik wie die Raumfahrt selbstverständlich benutzen, aber Züge einer mittelalterlichen Gesellschaft mit Hierarchien und Rollenfestlegungen aufweisen, wie sie in der Fantasy beliebt sind und sich dort biologisch und metaphysisch etwa zu Zwergen, Elfen und Dämonen verfestigt haben. Die Handlung von Quest basiert auf der Episode eines interstellaren Krieges, in dem ein aggressives Imperium einen ganzen Planeten mit allen Einwohnern vernichtet. Die Frage nach dem Sinn dieser Katastrophe

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treibt den Kommandanten eines Raumschiffs dazu, Gott auf dem so genannten Planeten des Ursprungs zu suchen. Ein anderes Motiv, welches in das Phantastische übergreift, ist der Unsterbliche, der ruhelos durch das Weltall irren muss. Beschrieben wird im Roman eine vormoderne Denkweise, die von sozialen Riten und magischen Vorstellungen bestimmt ist, also eine deutliche Alternative zur Gegenwart darstellt. Doch folgt der Text den Regeln einer kausalen und materiellen Logik und nicht denen des Kampfes zwischen Gut und Böse. Er verliert sich auch nicht in die Welt des Zaubers und des Dämonischen wie in der Fantasy. Zum Schluss möchte ich noch zwei Vermutungen über die Gründe der von mir beschriebenen Akzentverlagerung vom technischen Zukunftsroman zur Darstellung alternativer Welten anstellen: 1. Im Laufe des letzten Jahrhunderts ist eine weitere Ausdifferenzierung der Literatur und damit eine größere innere Diversifizierung und zugleich Entfernung von der Wissenschaft festzustellen. Diese zeigt sich u.a. in den neuen Genres des Wissenschaftskrimis oder der Erfindungsgeschichte. Derartige Handlungen konnte noch Dominik problemlos für seinen Zukunftsroman benutzen, während die heutige Science Fiction eine größere Distanz zur alltäglichen Wirklichkeit besitzt. 2. Mit dem Verlust des Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts wurde das Konzept der Zukunft als Domäne ständiger Verbesserungen und Fortentwicklungen von dem Konzept der Parallelwelten abgelöst, die nicht linear und hierarchisch geordnet sind. Dabei eröffnet sich die Beschreibung von gleichberechtigten Alternativen materieller, aber auch sozialer und kultureller Art. Schließlich ist in unserer globalen Welt immer mit einem Nebeneinander verschiedener Gesellschaften und Kulturen zu rechnen. Literaturverzeichnis Abret, Helga und Lucian Boia. Das Jahrhundert der Marsianer: Der Planet Mars in der Science Fiction bis zur Landung der Vikingsonden 1976. München: Heyne, 1984. Barmeyer, Eike, Hg. Science Fiction: Theorie und Geschichte. München: Fink, 1972. Debus, Karl. „Raumschiffahrtsdichtung und Bewohnbarkeitsphantasien seit der Renaissance bis heute“. Ley 67-105. Dominik, Hans. Atlantis. Leipzig: Scherl, 1925. Eschbach, Andreas. Quest. München: Heyne, 2001. Esselborn, Hans. „Symbiose oder Ignoranz: Beziehungen zwischen Literatur, Wissenschaft und Technik am Beispiel der Erkundung des Weltraums“. Neue Utopien: Zum Wandel eines Genres. Hg. Rolf Steltemeier. Heidelberg: Manutius, 2009. 36-54.

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—. Hg. Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. —. „Herbert W. Frankes Romane zwischen Antiutopie und Virtualität“. Esselborn, Utopie, Antiutopie und Science Fiction 133-49. —. Die literarische Science Fiction: Textband und Materialienband. Hagen: Fernuniversität Hagen, 2000. Fischer, William B. The Empire Strikes Out: Kurd Lasswitz, Hans Dominik, and the Development of German Science Fiction. Bowling Green: Bowling Green State UP, 1984. Fisher, Peter S. Fantasy and Politics: Visions of the Future in the Weimar Republic. Madison: U of Wisconsin P, 1991. Franke, Herbert W. Ypsilon Minus. Berlin: Neues Leben, 1979. —. Der Orchideenkäfig. München: Goldmann, 1961. Friedrich, Hans-Edwin. Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur: Ein Referat zur Forschung bis 1993. Tübingen: Niemeyer, 1995. Groeben, Norbert. „Frauen – Science-fiction – Utopie: Vom Ende aller Utopie(n) zur Neugeburt einer literarischen Gattung?“ Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994): 173-206. Innerhofer, Roland. Deutsche Science Fiction 1870-1914: Rekonstruktion und Analyse der Anfänge der Gattung. Wien: Böhlau, 1996. Krysmanski, Hans Jürgen. Die utopische Methode: Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher Romane des 20. Jahrhunderts. Köln: Westdeutscher Verlag, 1963. Laßwitz, Kurd. Auf zwei Planeten. 1897. Berlin: Das neue Berlin, 1984. —. „Über Zukunftsträume“. Wirklichkeiten: Beiträge zum Weltverständnis. Berlin: Felber, 1900. 420-42. Ley, Willy, Hg. Die Möglichkeiten der Weltraumfahrt: Allgemeinverständliche Beiträge zum Raumschiffahrtsproblem. Leipzig: Hachmeister & Thal, 1928. Müller, Götz. Gegenwelten: Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart: Metzler, 1989. Rottensteiner, Franz, Hg. Polaris 6: Ein Science Fiction-Almanach. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Schätzing, Frank. Der Schwarm. Frankfurt/M.: Fischer, 2004. Schweikert, Rudi. „Nachwort“ Auf zwei Planeten. Kurd Laßwitz. 1897. Frankfurt/M.: Insel, 1979. Schwonke, Martin. Vom Staatsroman zur Science Fiction: Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Stuttgart: Metzler, 1957. Suerbaum, Ulrich, Raimund Borgmeier und Ulrich Broich. Science Fiction: Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild. Stuttgart: Klett, 1981. Suvin, Darko. Poetik der Science Fiction: Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Übers. Franz Rottensteiner. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979.

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Wenzel, Dietmar, Hg. Kurd Lasswitz. Lehrer, Philosoph, Zukunftsträumer: Die ethische Kraft des Technischen. Meitingen: Corian, 1987.

Über die Autorinnen und Autoren PROF. DR. FRANCESCA Y ARDENIT ALBERTINI, war Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. Sie studierte Jüdische Philosophie und evangelische Theologie in Rom und Freiburg und promovierte 2001 in Freiburg zum Thema: „Das Verständnis des Seins bei Hermann Cohen“. 2007 schloss sie ihre Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt am Main ab und bekam einen Ruf als Professorin für Jüdische Religionsgeschichte an der Universität Potsdam. Sie verstarb unerwartet im März 2011. ASTRID BÖGER ist Professorin für amerikanische Literatur und Kultur an der Universität Hamburg. Nach dem Erwerb der Dissertation an der Universität Düsseldorf im Jahre 2000, arbeitete sie dort bis 2005 als Dozentin. Von 2005 bis 2009 war sie als Associate Professor of American Studies an der Radboud Universität Nijmegen angestellt, bevor sie ihre aktuelle Stelle in Hamburg antrat. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der visuellen Kultur, Graphic Novels und der transnationalen Amerikastudien. JULIA BOOG, M.A., absolvierte von 2003 bis 2009 ein Studium der Sprachund Literaturwissenschaft sowie Kunstgeschichte, BWL und Gräzistik an der Universität Hamburg. Seit 2009 arbeitet sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienschwerpunkt Interkulturelle Literaturwissenschaft und organisierte zu diesem Schwerpunkt im Oktober 2010 ein Symposium unter dem Titel „Weibliche Adoleszenz und Migration in Film, Literatur und Theorie“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Psychoanalyse und die Narratologie. Derzeit arbeitet sie an ihrer Promotion zu Komik und Karnevalstheorie innerhalb der Migrationsliteratur unter dem Arbeitstitel: „Der Witz der Differenz: Komik als Spielfeld interkultureller Begegnung“. PD DR. UWE DURST absolvierte ein Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte an den Universitäten Saarbrücken und Stuttgart, wo er 1996 für seinen Magister Artium mit dem Preis der „Freunde der Universität Stuttgart“ für besondere wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet wurde. 1999 promovierte er mit einer Dissertation zur Theorie der phantastischen Literatur, und 2003-2006 erhielt er ein Forschungsstipendium der DFG. Seit seiner Habilitation 2008 ist er als Privatdozent an der Universität Stuttgart tätig. Neben seinen diversen

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Über die Autorinnen und Autoren

wissenschaftlichen Veröffentlichungen u.a. zur Fantastik, zu wunderbaren Subsystemen, zum historischen Roman, zum Spiel im Spiel und zum Volkslied ist er Autor eines Romans und mehreren Erzählungen. PROF. DR. HANS ESSELBORN lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln und ist seit 2009 Gastprofessor an der Jagellonen Universität in Krakau. Er studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Tübingen, Paris, München und Köln und schloss 1979 mit Promotion ab. 1987 folgte die Habilitation zur Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls. Er war als Gastprofessor bereits an der University of Kansas, der Université Nancy 2, Paris XII und Lyon 3 tätig. Die Schwerpunkte seiner Lehre und Forschung sind die Aufklärung, Jean Paul, die Klassische Moderne, Literatur und Film, Interkulturelle Aspekte, Literatur und Naturwissenschaft, sowie die Science Fiction. DR. M ERET FEHLMANN studierte Volkskunde, europäische Volksliteraturen und Germanistik an der Universität Zürich und Information und Dokumentation an der Fachhochschule Chur. 2010 schloss sie unter dem Titel „Die Rede vom Matriarchat: Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments“ ihre Dissertation im Bereich der Populären Kulturen und Germanistik ebenfalls an der Universität Zürich ab, wo sie seither als Oberassistentin und Lehrbeauftragte am Institut für Populäre Kulturen arbeitet. INKEN FROST, Diplom-Kulturwissenschaftlerin, schloss 2009 ihr Studium an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder ab. Seit 2010 arbeitet sie im Rahmen eines Promotionsstipendium an der Viadrina an ihrem Dissertationsprojekt zur Raumsemantik des Märchenwaldes im deutschen und slawischen Märchen. Darüber hinaus betreibt sie Forschung zum Rollenspiel als Medium gemeinschaftlichen Erzählens, zur Validität der romantischen Traumtheorie im Werk Dostojewskis, zum Doppelgänger und zum Unheimlichen. Kürzlich war sie zu einem Kooperationsaufenthalt an der Universität Beijing Normal im chinesischen Zhuhai. JÖRG HARTMANN, M.A., absolvierte sein Studium der Germanistik und Medienwissenschaft am Karlsruhe Institute of Technology (KIT) im Jahre 2008. Seine Forschungen beziehen sich vornehmlich auf die Ideengeschichte, die Geschichte des Transportwesens, auf visuelle Kulturwissenschaften und die Science Fiction. Er arbeitet zur Zeit an seiner Dissertation mit dem Titel „Space Travel in Science Fiction Films“ und geht dabei der Frage nach, wie das Weltall repräsentiert, kommuniziert und wahrgenommen wird. PROF. DR. PETER HÜHN schloss sein Studium der Anglistik und Germanistik in Hamburg und Tübingen 1967 mit einem Staatsexamen ab, um dann 1970 in Anglistik in Hamburg zu promovieren. Er war daraufhin als wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hochschule in Biele-

Über die Autorinnen und Autoren

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feld tätig, bevor er von 1974 bis 1982 als wissenschaftlicher Oberrat an die Universität Hamburg kam. Von 1982 bis 2005 war er dort als Professor für Anglistik tätig, wo er die Forschungsschwerpunkte der englischen Lyrik und Lyriktheorie, des Detektiv- und Verbrechensromans, der Narratologie und der Systemtheorie bearbeitete. DR. EVELYNE JACQUELIN ist Dozentin für Germanistik an der Université d’Artois. Ihre Forschungsgebiete sind die aktuellen Theorien der fantastischen Literatur sowie die Entwicklungen des Wunderbaren und Fantastischen im deutschsprachigen Raum zwischen Aufklärung und Romantik. Sie ist Mitglied der Gesellschaft für Fantastikforschung und des Forschungszentrums „Textes & Cultures“ an der Université d’Artois, wo sie die Forschungsgruppe „Imaginer/Représenter“ mitbegründet hat und mitleitet. Sie betreut auch die Buchreihe „Lettres et Civilisations Étrangères“ beim Universitätsverlag Artois Presses Université. HENNING KASBOHM, M.A., studierte Literaturwissenschaft (Lusitanistik und Germanistik) an der Universität Hamburg und der Universidade Nova de Lisboa und schloss sein Studium im Oktober 2010 in Hamburg ab. Seine hauptsächlichen Forschungsgebiete sind die Fantastiktheorie und Manifestationen der Krise des Subjektbegriffs in der (vor allem portugiesischen) Moderne. Zur Zeit promoviert er in Hamburg zum Fantastischen in der Prosa von Mário de Sá-Carneiro. BENEDICT MARKO, M.A., studierte seit 2002 in Trier zunächst Phonetik, Medienwissenschaft und Germanistik, dann Japanologie und Sinologie. 2007-2008 absolvierte er ein einjähriges, durch das JASSO-Stipendium gefördertes Auslandsstudium an der Dait Bunka-Universität in Saitama und Tky. Er besitzt langjährige Arbeitserfahrung als professioneller Digital- und Analogfilmvorführer, als freier Übersetzer sowie als Lektor für den auf historische Drucke spezialisierten Trierer Böhmische DörferVerlag. PROF. DR. HANS-HARALD M ÜLLER ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Seit der Promotion 1971 ist er an der Universität Hamburg tätig, war als Gastprofessor u.a. an der Washington University in St.Louis, an der University of Witwatersrand, Johannesburg, an der Universität Rostock und dem St. John’s College in Cambridge. Seine Forschungsgebiete sind die Theorie der Literaturwissenschaft, die Wissenschaftsgeschichte und die fantastische Literatur. DR. HELMUT W. PESCH studierte Anglistik, Kunstgeschichte und klassische Archäologie in Köln und Glasgow und promovierte 1981 mit der ersten deutschsprachigen Arbeit über Fantasy als literarisches Genre. Seit 1984 ist er als Lektor für Belletristik bei Bastei Lübbe, heute in Köln, tätig. Er hat

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selbst mehrere Fantasy-Romane sowie ein Standardwerk über J.R.R. Tolkiens erfundene Sprachen geschrieben. Als Übersetzer war er unter anderem an der deutschen Fassung von Dan Browns The Lost Symbol beteiligt. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Fantastik- und Genretheorie. PROF. DR. JACEK RZESZOTNIK ist Prodekan der Philologischen Fakultät und Leiter der Forschungsstelle für Literatur und Medien am Germanistischen Institut der Universität Wroclaw/Breslau (Polen). Seine Forschungsschwerpunkte sind im Bereich der Literaturwissenschaft vor allem die deutsch-, englisch- und polnischsprachige Unterhaltungsliteratur, literarische Kommunikationsstrategien, die Rezeption spekulativer Literatur in Polen und im deutschen Sprachraum und im Bereich der Medienwissenschaft vor allem intermediale ästhetische Transformationsprozesse, die Neuen Medien und die Internetliteratur. LARS SCHMEINK, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg und arbeitet zur Zeit an seiner Dissertation an der Humboldt Universität zu Berlin. 2010 schloss er zusätzlich zum Magister in Amerikanistik einen Master of Higher Education an der Universität Hamburg ab. Er ist erster Vorsitzender der Gesellschaft für Fantastikforschung (GFF), Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung und Managing Editor des SFRA Review, der Mitgliederzeitschrift der Science Fiction Research Association. PROF. DR. JÖRG SCHÖNERT promovierte 1968 und habilitierte 1977 an der Universität München, bevor er von 1980-83 eine Professur für Neuere deutsche Literatur in Aachen und dann schließlich von 1983-2007 an der Universität Hamburg inne hatte. Seine Veröffentlichungen beschäftigen sich insbesondere mit der Sozialgeschichte der Literatur zwischen 1770 und 1920, mit Literatur und Kriminalität, mit Narratologie sowie mit Methodologie und Wissenschaftsgeschichte. Seine letzten Buchpublikationen sind: Point of View, Perspective, and Focalization: Modelling Mediation in Narrative. (2009, als Hg. zusammen mit Peter Hühn, Wolf Schmid) und das Handbook of Narratology. (2009, als Hg. zusammen mit Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid). PETRA SCHRACKMANN, LIC. PHIL., studierte in Zürich (Schweiz) Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Europäische Volksliteratur und Englische Literaturwissenschaft. Seit 2008 ist sie Lehrbeauftragte und Assistentin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich. Ihre Dissertation trägt den Arbeitstitel „Realisierungen des Unmöglichen: Das Fantastische in Verfilmungen von Kinderund Jugendliteratur seit 2001“. DR. SIMON SPIEGEL hat von 1998 bis 2003 in Zürich und Berlin Germanistik und Filmwissenschaft studiert. 2006 promovierte er im Bereich der

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Filmwissenschaft zum Science-Fiction-Film (2007 veröffentlicht bei Schüren als Die Konstitution des Wunderbaren), seither hat er diverse Publikationen zu Science Fiction, Utopie und Fantastik veröffentlicht. Heute lebt Spiegel in Zürich und ist als Journalist, als Filmrezensent für verschiedene Schweizer Tageszeitungen und als Dozent für Filmwissenschaft tätig. PAMELA STEEN, M.A., ist seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg und promoviert dort zu dem gesprächslinguistischen Thema: „Die kommunikative Identität des Tricksters: Eine gesprächslinguistische und kultursemiotische Untersuchung zur Identitätskonstruktion in einer marginalisierten Gruppe“. Sie beendete 2004 ihr Studium der Germanistik, Soziologie und Psychologie in Hamburg und arbeitet neben der wissenschaftlichen Tätigkeit als freie Moderationsredakteurin bei den Tagesthemen. MARTIN G. E. STERNBERG, M.A., studierte Alte und Mittlere Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte sowie Rechtswissenschaften an der Universität Münster. Neben seiner juristischen Berufstätigkeit arbeitet er als freier Wissenschaftler und ist in der Deutschen Tolkien Gesellschaft aktiv, in deren Jahrbuch Hither Shore er bereits mehrere Aufsätze veröffentlicht hat, u. a. „Language and Violence“ (2009) und „Smith of Wootton Major als religiöser Text“ (2007). ANJA STÜRZER, M.A., studierte Englische und Italienische Literaturwissenschaft, arbeitete als Journalistin und Filmkritikerin, hielt ShakespeareSeminare und veröffentlichte einen kontroversen Essay über Der Herr der Ringe und Harry Potter über den literarischen Stellenwert der beiden Werke. Heute ist sie als Autorin tätig und hält regelmäßig Vorträge zu FantasyThemen. 2008 erschien ihr Sachbuch Shakespeare: Einführung, 2010 das Mary-Shelley-Porträt „Frankenstein“ in der Anthologie Die Fantastischen 6. LUCIA TRAUT, M.A., ist Theologin, Religions- und Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeitet derzeit am Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft an der Universität Münster und promoviert dort zum Thema „Religion und Imagination“. Für ihre Abschlussarbeiten untersuchte sie die rituellen, mythischen und imaginativen Aspekten im Pen & Paper-Rollenspiel Das Schwarze Auge. ALETA-AMIRÉE VON HOLZEN, LIC. PHIL., ist wissenschaftliche Assistentin und Lehrbeauftragte für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich. Sie hat ihre 2007 publizierte Lizentiatsarbeit über Abenteuerkonzepte in Hollywood-Piratenfilmen verfasst. In ihrem Dissertationsprojekt begibt sie sich auf die Fährte von Identitätsdiskursen in Geschichten um maskierte Helden.

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DR. JOCHEN WALTER studierte Klassische Philologie und Geschichte in Münster und Heidelberg und war von 1999-2002 Mitglied des Heidelberger Graduiertenkollegs „Religion und Normativität“. 2004 promovierte er in Heidelberg (die Arbeit wurde 2005 mit dem Ruprecht-Karls-Preis ausgezeichnet und 2006 unter dem Titel Pagane Texte und Wertvorstellungen bei Lactanz in der Reihe „Hypomnemata“ veröffentlicht). Seit 2002 lehrt er am Seminar für Klassische Philologie in Mainz, seit 2007 ist er dort als Akademischer Rat tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Spätantike (dabei insbesondere Christianisierung, Gewalt, Toleranz), Argumentationsstrategien und Rezeptionsgeschichte. DR. FRANK WEINREICH arbeitet als freier Autor und Lektor in Bochum. Er absolvierte ein Studium der Publizistik, Philosophie und Politik an der Universität Bochum und promovierte in Philosophie an der Universität Vechta. Heute arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bochum, Dortmund und Vechta. Seit 1998 veröffentlicht er zur Fantastik im Allgemeinen und dem Werk Tolkiens im Besonderen und arbeitet derzeit für verschiedene Verlage als Lektor fantastischer Literatur. Er ist Mitherausgeber von Hither Shore, der Jahresschrift der Deutschen Tolkiengesellschaft, der Edition Stein und Baum sowie ‚Scientific Advisor‘ für Walking Tree Publishers. ANKE WOSCHECH, M.A., studierte Psychologie, Soziologie, Romanistik und Technikgeschichte an der TU Dresden und der Université Paul Valery in Montpellier, Frankreich. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dresdener SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“, Teilprojekt Technikgeschichte, und promoviert zum Thema „Konstruktion von Altruismus in technischen Utopien“. MAXIMILIAN VOGELMANN, M.A., hat 2010 sein Studium der Soziologie, Sprachwissenschaft des Deutschen und BWL an der Universität Freiburg absolviert und dabei je ein Semester an der Göteborgs Universitet und an der University of East London verbracht. Seit Juli 2010 arbeitet er als wissenschaftliche Hilfskraft bei dem BMBF-Projekt „Universalität und Akzeptanzpotential von Gesellschaftswissen“ am Freiburger Institut für Soziologie sowie als freier Journalist. Seine Forschungsinteressen sind Religionssoziologie, Freizeitsoziologie, Globalisierung, Philosophische Anthropologie und Sprachtheorie.