Für Staat und Recht: Festschrift für Herbert Schambeck [1 ed.] 9783428479450, 9783428079452

Am 12. Juli 1994 vollendete o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck, Vizepräsident des Bundesrates der Republik Ö

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German Pages 1114 Year 1994

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Für Staat und Recht: Festschrift für Herbert Schambeck [1 ed.]
 9783428479450, 9783428079452

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FUR STAAT UND RECHT Festschrift für Herbert Schambeck

Für Staat und Recht Festschrift für Herbert Schambeck

herausgegeben von Johannes Hengstschläger Heribert Franz Köck . Karl Korinek Klaus Stern . Antonio Truyol y Serra

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Für Staat und Recht : Festschrift für Herbert Schambeck / hrsg. von Johannes Hengstschläger ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 ISBN 3-428-07945-0 NE: Hengstschläger, Johannes [Hrsg.]; Schambeck, Herbert: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07945-0

Vorwort Der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat zahlreiche Bücher als Autor oder Herausgeber im Verlag Duncker & Humblot veröffentlicht. Es war daher naheliegend, auch im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der vorliegenden Festschrift an dieses Verlagshaus zu denken. Die Herausgeber sind dem Verleger, Herrn Professor Norbert Simon, für seine spontane Erklärung der Bereitschaft zur Übernahme des Buches in das Programm seines Verlages zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Dies darf auch als erneutes Zeichen besonderer Verbundenheit mit Österreich, seiner Wissenschaft und ihren Repräsentanten angesehen werden, auch wenn der Kreis der Herausgeber und Mitarbeiter, der Bedeutung und dem Wirken des Jubilars entsprechend, ein internationaler ist. Die unmittelbare Betreuung der Drucklegung der Festschrift lag in den erfahrenen Händen von Herrn Dieter H. Kuchta von der Abteilung Herstellung, dem für seine Bemühungen besonderer Dank und Anerkennung zu zollen ist. Unser Dank gilt auch Herrn Universitätsassistenten Mag. Dietmar W. Exler vom Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Johannes Kepler Universität Linz, der die Herausgeber bei ihrer Arbeit in umfassender Weise unterstützt hat. Dank gesagt sei aber natürlich und vor allem jenen Persönlichkeiten, die einen Beitrag zur vorliegenden Festschrift geliefert und damit ihre Verbundenheit mit Herbert Schambeck zum Ausdruck gebracht haben. Möge das Buch ihren Erwartungen entsprechen und dem Jubilar nicht nur vom Charakter als Festgabe her, sondern auch bei der zukünftigen Lektüre Freude bereiten. Daß Herbert Schambeck hierzu trotz seiner vielfältigen Funktionen in Staat und Kirche, in Politik und Wissenschaft die notwendige Muße finden möge, sei ihm als zusätzlicher Geburtstagswunsch dargebracht. Die Herausgeber

Zueignung Diese Festschrift ist o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck gewidmet, einem Mann, dessen Persönlichkeit vielschichtig und außergewöhnlich ist. Anlagen und Begabungen, Ansprüche und Pflichtgefühl, Verantwortungsbewußtsein und Ethos bedingen und prägen das breite und vielseitige Schaffen des Jubilars. Drei große Wirkungsfelder des Jubilars sind herauszuheben, nämlich die öffentlichen Funktionen in Staat und Politik, die Leistungen des Wissenschaftlers und akademischen Lehrers und die tiefe Verwurze1ung im christlichen Glauben und seiner Institution, der katholischen Kirche. Natürlich stehen diese drei, das Leben und Wirken von Herbert Schambeck beherrschenden Aufgabenbereiche nicht in einer hierarchischen Über- und Unterordnung oder beziehungslos nebeneinander. Im Gegenteil: Sie bedingen und befruchten einander wechselseitig in der Form, daß Einsichten und Erkenntnisse aus dem einen Bereich jeweils für die bessere Bewältigung des anderen nutzbar gemacht werden. Die vom Wissenschaftler Herbert Schambeck erarbeiteten Ergebnisse beispielsweise beeinflussen die politische Arbeit, und die darin gemachten Erfahrungen wiederum schlagen sich als Background und Fundus in der wissenschaftlichen Forschung nieder; das christliche Engagement wiederum beeinflußt den Wissenschaftler oft in der Themenwahl und prägt auch sein politisches Wirken. Herbert Schambeck wurde am 12. Juli 1934 in Baden bei Wien geboren, wo er auch die Volksschule besuchte und 1953 am Bundesgymnasium Baden maturierte. Er studierte anschließend Jus an der Universität Wien und promovierte 1958. Nach der folgenden Gerichtspraxis am Bezirksgericht Baden und am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien ergriff er auf Einladung von o. Univ.Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Adolf J. Merk!, dessen Seminar er besucht hatte, die akademische Laufbahn. Zu den schicksalsbestimmenden Meilensteinen im Leben von Herbert Schambeck gehört zweifelsohne seine Tätigkeit als Assistent von Adolf J. Merk! sowie die Prägung durch seinen weiteren Lehrer o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult Alfred Verdross, die beide zu den ganz großen Rechtsgelehrten Österreichs in diesem Jahrhundert zählen. Wie sehr Merk! seinen Schüler und Assistenten schätzte, wird am besten im folgenden Satz deutlich, den der Meister im Jahre 1965 in seiner Abhandlung mit dem Titel ,,Entwickelt sich Österreichs Rechtswissenschaft?" über ihn schrieb: "Mir ist in meiner mehr als jünjzigjährigen beruflichen Tätigkeit keine zweite Persönlichkeit begegnet, die mit gleicher Unermüdlichkeit,

vrn

Zueignung

ja geradezu Besessenheit vom wissenschaftlichen Buch fasziniert gewesen ist. " 1 Nach der Habilitation im Jahre 1964 ging der junge Dozent zunächst in die Praxis, nämlich an die Wissenschaftliche Abteilung der österreichischen Bundeswirtschaftskammer. Aber schon 1966 wurde er als ao. Professor für die Wissenschaft von der Politik und das österreichische Verfassungs- und Verwaltungsrecht an die Universität Innsbruck berufen. Bereits im darauffolgenden Jahr erhielt er nach einem Aufenthalt als Gastprofessor am Department of Govemment and International Studies der University of Notre-Dame in Indiana / USA einen Ruf als ordentlicher Professor für Öffentliches Recht, Politische Wissenschaften und Rechtsphilosophie an die Universität Linz. Die Alma Mater Kepleriana, zu deren GTÜndungsprofessoren er zählt, ist bis heute seine wissenschaftliche Wirkungsstätte geblieben. Dort gründete Herbert Schambeck das Institut - damals war es die ,,Lehrkanzel" - für Staatsrecht und Politische Wissenschaften, und mit dem 1. Jänner 1969 wurde er auch zum wissenschaftlichen Leiter des Österreichischen Institutes für Arbeitsmarktpolitik bestellt. In diese Zeit rallt auch die erstmalige Berufung des seit seinen Studentenjahren politisch interessierten und engagierten Herbert Schambeck in eine politische Funktion. 1969 entsandte ihn der Niederösterreichische Landtag in den Bundesrat, dem er seither ohne Unterbrechung angehört. 1975 wurde Schambeck Fraktionsobmann der Österreichischen Volkspartei und Stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates. Dieses Amt des Vizepräsidenten des Bundesrates bekleidet er auch heute noch. 38mal wurde er in ununterbrochener Reihenfolge einstimmig von allen Fraktionen für die jeweils halbjährige Funktionsperiode wiedergewählt. Damit ist Herbert Schambeck der am längsten dienende Parlamentarier in Präsidialfunktion in der Geschichte der Republik Österreich. Zweimal, nämlich 1988 und 1992, war Herbert Schambeck auch Präsident des Bundesrates, und am 8. Juli 1992 präsidierte er aus Anlaß der Angelobung von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil die Bundesversammlung. Mit Herbert Schambeck gehört dem Präsidium des Bundesrates ein zutiefst überzeugter und engagierter Föderalist an, der den Rechten der Bundesländer und der Länderkammer nicht nur im politischen Alltag Gewicht zu verleihen vermochte, sondern auch unermüdlich für ihren Ausbau eintrat. Besonders hervorzuheben ist dabei die B-VG-Novelle vom 27. November 1984, die dem Bundesrat ein absolutes Vetorecht gegen Verfassungsgesetze einräumt, durch welche die Zuständigkeit der Länder in Gesetzgebung oder Vollziehung eingeschränkt wird. Der Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip waren auch Themen, mit denen sich Herbert Schambeck in unzähligen Abhandlungen wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, wobei er sein politisches Wirken theoretisch reflektieren und 1

Österreich -

geistige Provinz?, Wien-Hannover-Bem 1965, 306.

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IX

begleiten konnte. Damit darf aber nicht der Eindruck entstehen, daß sich das ffiuvre von Herbert Schambeck auf diesen Ausschnitt beschränkt oder konzentriert. Es gibt kaum ein Thema des Staatsrechts, der Staatslehre und der Rechtsphilosophie, das in seinem Publikationsverzeichnis, welches seinesgleichen sucht, nicht angesprochen wäre. In mehr als 300 Aufsätzen, 25 selbständigen, zum Teil auch in Fremdsprachen übersetzte Publikationen sowie 11 von ihm herausgegebenen und 21 mitherausgegebenen Büchern hat sich Herbert Schambeck nicht nur zu grundlegenden geistesgeschichtlichen und staatsrechtlichen Problemen wissenschaftlich zu Wort gemeldet, sondern scheute es auch nie, brennende Fragen der Zeit fernab von parteipolitischen Opportunitäten mit Methoden und Kalkülen der Wissenschaft aufzubereiten. Neben seinen politischen Aufgaben ist Herbert Schambeck ständig auch seinen akademischen Verpflichtungen in Lehre und Forschung an der Universität Linz nachgegangen und hat regelmäßig Gastvorlesungen an zahlreichen Universitäten des europäischen wie außereuropäischen Auslandes gehalten. Einen besonderen Stellenwert im Leben von Herbert Schambeck nimmt sein Wirken im Dienste der katholischen Kirche ein. Nicht nur, daß er sich von Anbeginn seines wissenschaftlichen Schaffens auch mit Fragen aus christlicher Sicht auseinandergesetzt hat - so behandelt beispielsweise schon sein erster Aufsatz, der 1954, also noch in seiner Studentenzeit, erschien, "Das Sein im Lichte christlicher Existenzphilosophie" -; er hat den katholischen Glauben stets auch zum Grundwert und Richtmaß seines Lebens gemacht. Infolge seines kirchlichen Engagements in Wissenschaft und Praxis hat ihn Papst Johannes Paul 11. 1981 mit dem Großkreuz des Gregoriusordens ausgezeichnet, 1990 zum "Gentiluomo di Sua Santita" und 1993 zum "Konsultor des Päpstlichen Rates für die Familie" ernannt. Herbert Schambeck vertritt den Heiligen Stuhl seit mehr als 20 Jahren als Mitglied vatikanischer Delegationen bei internationalen Konferenzen. Sein politisches Wirken ist auch durch österreichische und ausländische Orden höchster Stufe, darunter das Große Silberne Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich, höchste Auszeichnungen aller neut! Bundesländer und zahlreiche Großkreuze ausländischer Orden, so auch das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, sichtbar gewürdigt worden. In zahlreichen wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen ist er zum Teil federführend tätig, wie etwa als Präsident der Österreich-Deutschen Kulturgesellschaft, als Vizepräsident der Österreichischen Juristenkommission oder als Gründer und Ehrenmitglied der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft etc. Außerdem ist Herbert Schambeck auswärtiges korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Padua, der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf, der Königlich-Spanischen Akademie für Ethik

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Zueignung

und Politische Wissenschaften in Madrid und der Stiftung für griechische Kultur in Athen sowie Mitglied der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften im Vatikan. Er gehört auch der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer an. Erst jüngst wurde das wissenschaftliche Werk von Herbert Schambeck von der Katholischen Universität in Santiago de Chile durch die Verleihung des "Doctor honoris causa" gewürdigt. Der Persönlichkeit Herbert Schambecks gerecht zu werden, ist prinzipiell kaum, jedenfalls aber nicht im Rahmen einer Zueignung möglich. Zu zahlreich und weitreichend sind seine Schriften und zu vielseitig seine persönlichen und politischen Interessen. Herbert Schambeck ist nicht nur in verschiedenen Staaten der akademischen Juristenwelt verbunden, auch mit Philosophen, Theologen, Historikern, Politologen wie auch mit Praktikern der Rechtsprechung und Verwaltung und mit Persönlichkeiten der katholischen Kirche steht er in Kontakt und stetem Meinungsaustausch. Dazu kommen auf Grund seiner parlamentarischen Spitzenfunktion intensive Beziehungen zu höchstrangigen Politikern des In- und Auslands. Die vorliegende internationale Festschrift will den Dank und die Anerkennung seiner Schüler und zahlreicher Kollegen zum Ausdruck bringen, die sich Herbert Schambeck wissenschaftlich und menschlich verbunden fühlen, wohl wissend, daß sein 60. Geburtstag nicht nur eine private oder rein wissenschaftliche, sondern unweigerlich auch eine öffentliche Angelegenheit ist. Johannes Hengstschläger . Heribert Franz Köck . Karl Korinek Klaus Stern . Antonio Truyol y Serra

Inhaltsverzeichnis

I. Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte 1. Rechtsphilosophie F elix Ermacora Staat und die ,,Natur der Sache"

5

Peter Fischer Williarn Penn: Visionär einer Europäischen Union

13

Rudolj Kirchschläger Das Gelöbnis des Bundespräsidenten und dessen religiöse Beteuerung

29

lose Llompart "Unterscheiden" und "Trennen" im rechtsphilosophischen Denken der Gegenwart .......................................................................

35

Theo Mayer-Maly Dicit enim iurisconsultus: Anmerkungen eines Juristen zu den beiden ersten Artikeln der Quaestio 57 der Secunda Secundae ..............................

49

Gerhard Müller Der Plausibilitätsgedanke in der Rechtsprechung

61

Robert Prantner Zwischen Chaos und Gewalt: Sozial- und rechtsphilosophische Überlegungen zur Praxis des Paradigmenwechsels im neo-monistischen Menschen- und Weltbild der Gegenwart ................ ..................... ...................

71

Giovanni Spadolini Arturo Carlo Jemolo. Ein italienischer Kulturphilosoph von europäischem Rang .............................................................................

95

lohannes Schasching S. I. Subsidiarität: "Der höchstgewichtige sozialphilosophische Grundsatz" (Quadragesimo anno Nr. 79) ...................................................

107

Inhaltsverzeichnis

XII

2. Rechtstheorie Ludwig Adamovich Reine Rechtslehre und Henneneutik ...........................................

119

Arthur F. Utz Ist Kelsen mit Aristoteles zu versöhnen?

135

3. Rechtsgeschichte Wilhelm Brauneder Projekte zu einer Arbeiter-Wählerkurie in Österreich

149

Wolfgang Waldstein Eigentum und Gemeinwohl im Römischen Recht

169

11. Allgemeine Staatslehre Karl Carstens t Die politische Verantwortung des Christen in der heutigen Zeit .............

185

Ludwig Fröhler Stellung und Funktion des Mittelstandes im demokratischen Rechtsstaat

199

lose! Isensee Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung

213

Alfred Klose Kultur der Demokratie -

247

ein Anliegen der katholischen Soziallehre

Alfred F. Kobzina Die Flucht aus dem Verfassungsstaat ..........................................

259

Heribert Franz Köck Staatliche Sozialgestaltung in einer pluralistischen Gesellschaft

281

Walter Leisner Auf dem Weg zum "unsichtbaren Staat": .,Entöffentlichung" der Staatsgewalt? ...........................................................................

295

Anton Rauscher Kirche - Säkularisierung -

311

Politik

Rudolf Weiler Zur Entwicklung der Beziehung von Kirche und Staat in Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ...........................................

323

Inhaltsverzeichnis

xm

UI. Verfassungsrecht 1. Allgemeines Verfassungsrecht Walter Berka Der Freiheitsbegriff des ,,materiellen Grundrechtsverständnisses"

339

Detle! Merten Zur verfassungsrechtlichen Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips

349

Klaus Stern Bemerkungen zur Grundrechtsauslegung

381

2. Österreichisches Verfassungsrecht Walter Baifuß Landes( verfassungs)gesetz und Verfassungsgerichtsbarkeit

409

Johannes Hengstschläger Verfassungsrechtliche Aspekte der Einrichtung städtischer Kontrollämter ..

423

Clemens Jabloner Die Gesetzesmaterialien als Mittel der historischen Auslegung ..............

441

Hans R. Klecatsky und Thomas E. Walzel v. Wiesentreu Verfassungspolitische Betrachtungen zu Voraussetzungen und Wirkungsbedingungen einer funktionsfahigen Verfassungsgerichtsbarkeit .............

459

Karl Korinek Harmonie und Konflikt im österreichischen Verfassungsrecht

491

Heinz Mayer Verfahrensfragen der direkten Demokratie

511

Siegbert Morscher Zu den Grenzen der Bundeskompetenzen "Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen und der Luftfahrt" (Art. 10 Abs. 1 Z 9 B-VG) .................

527

Richard Novak Dogmatisches und Verfassungspolitisches zur Geschäftsordnung des Bundesrates ..... ......... ......... ........... ...... ... ... .................. ... ... ........

549

Peter Pernthaler Die Neuordnung der Bundesaufsicht im Zusammenhang mit der Abschaffung der mittelbaren Bundesverwaltung .............................................

561

XIV

Inhaltsverzeichnis

Helmut Schreiner Was verheißt die Neuordnung des Bundesstaates? Eine Zwischenbilanz ....

585

19naz Seidl-Hohenveldern Der Vermögensvertrag zwischen Österreich und der Deutschen Demokratischen Republik ..................................................................

603

Harald Stolzlechner Klosteranlagen und Raumordnung

621

Manjried Welan Der Vizekanzler

635

Helmut Widder Die parlamentarische Kontrolle von Staatspolizei und militärischen Nachrichtendiensten in Österreich ...................................................

647

3. Ausländisches Verfassungsrecht Constantin L. Georgopoulos L'evolution du contröle juridictionnel de la constitutionnalite des lois en Grece .............................................................................

665

Peter Häberle Monarchische Strukturen und Funktionen in europäischen Verfassungsstaaten - eine vergleichende Textstufenanalyse ......................................

683

Roman Herzog Deutschland nach der Wiedervereinigung

701

Georg Kassimatis Fragen demokratischer Legitimation: Am Beispiel des Übergangsregimes 1974 in Griechenland...........................................................

715

Erich Kussbach Das ungarische Minderheitengesetz 1993

729

Peter Lerche Zur Position der deutschen Länder nach dem neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes ..........................................................................

753

Edwin Loebenstein Einige ausgewählte Besonderheiten in der liechtensteinischen Verfassung in rechtsvergleichender Sicht ...................................................

767

Inhaltsverzeichnis

XV

Antonio Truyol y Serra Der Stellenwert Spaniens im modernen europäischen Staatenbild bei Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760-1842) ........................................

789

Athos G. Tsoutsos L'administration publique et le principe de legalite

803

IV. Internationales Recht 1. Völkerrecht und Internationale Beziehungen Winfried Lang Verhinderung von Erfüllungsdefiziten im Völkerrecht: Beispiele aus Abrüstung und Umweltschutz ................ ..................... ................

817

Helmut Liedermann Weltkonferenz der Vereinten Nationen über Menschenrechte: Weg und Ziel

837

Fausto de Quadros Der Minderheitenschutz im modernen Völkerrecht

853

Helmut Türk Zur Errichtung eines Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien

861

2. Europäische Integration Peter Badura Das Staatsziel ,,Europäische Integration" im Grundgesetz

887

Klaus Berchtold Die Herrschaft des Rechts als europäisches Erbe

907

Brigitte Gutknecht Das Subsidiaritätsprinzip als Grundsatz des Europarechts ....................

921

Paul Kirchhof Die Staatenvielfalt -

947

ein Wesensgehalt Europas

Miguel-Angel Ochoa Brun Spanien und Europa: Kulturgeschichtliche Betrachtungen

959

XVI

Inhaltsverzeichnis

Manjred Rotter Das Subsidiaritätsprinzip und der Ausschuß der Regionen im Unionsvertrag von Maastricht: Die mißlungene Quadratur des Föderalismus ...............

981

Heinz Schäfter Die Länder-Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Integration. . . . .

1003

Wassilios Skouris Die rechtliche Bewältigung von EG-Beitritt und EG-Mitgliedschaft: Das Beispiel Griechenlands .............................................................

1027

Karl Weber Österreichs kooperativer Föderalismus am Weg in die Europäische Integration

1041

Publikationsverzeichnis .............................................................

1063

Autorenverzeichnis ..................................................................

1095

I. Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte

1 Festschrift Schambeck

1. Rechtsphilosophie

\*

STAAT UND DIE ,,NATUR DER SACHE" Von Felix Ermacora Es ist nicht meine Absicht, die "ewige Frage" nach der Natur und dem Wesen des Staates zu stellen. Doch gerade diese Frage berührt das rechtsphilosophische Grundanliegen des Jubilars. Sein Schrifttum und auch seine mündlichen Erklärungen politischer oder wissenschaftlicher Natur sind auf diese "ewige Frage" hin gerichtet. l Seine ,,Natur der Sache" - der Gegenstand seiner Habilitationsschrift2 ist aber nicht auf die Natur des Staates, sondern auf die Natur des Rechtes gerichtet. Der Staat wird in seiner Habilitationsschrift nur als Gegenstand anderer Forscher erwähnt. Würde Schambeck nicht der Schule des Naturrechtes zugehören, so könnte man ihn als einen Thering-Schüler bezeichnen. Ihering kommt mit seinem Zweck im Recht 3 dem Problem der Natur der Sache nahe. Doch Schambecks "Natur der Sache" ist fundamentalistisch orientiert, jedenfalls fundamentalistischer als der Zweck im Recht Iherings. Schambecks "Natur der Sache" zielt auf die Sachgerechtigkeit mit präpositivem Charakter. Therings Zweck im Recht hingegen orientiert sich an einer sehr relativierten, aus dem positiven Recht deduzierten Sachgerechtigkeit ohne transzendenten Bezug. Im allgemeinen wird Thering unter die Interessenjurisprudenz eingereiht. Thering und Schambeck wären Kontrahenten, würden sie aufeinander bezug genommen haben bzw. nehmen. Der eine konnte wegen des Generationenunterschiedes auf den anderen nicht bezug nehmen (Thering 1818-1892, -Schambeck geb. 1934). Schambeck hat Thering zwar zitiert 4 aber in den Kreis seiner Überlegungen nicht einbezogen. Beiden sind in ihrem Staatsverständnis Kontrahenten erwachsen. Dabei meine ich gar nicht Hans Kelsens Reine Rechtslehre, sondern J. Habermas, der in seinen gesellschaftskritischen Schriften einen Staat vor Augen hat, der weder mit dem Therings und Kelsens noch mit dem Schambecks etwas zu tun hat. Es ist der Staat der Frankfurter Schule - ein Nichtstaat. 5 Habermas sieht den Staat so als würde es ihn gar nicht geben, als würde er in zahllose Beziehungen gesellschaftlicher Größen - den Parteien, den Kirchen, den InteresSiehe dazu das Schrifttumsverzeichnis im Anhang dieser Festgabe. H. Schambeck, Der Begriff der ,,Natur der Sache". Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, 1964. 3 Der Zweck im Recht, 2 Bde, 1877 (4. Auflage 1904). 1

2

4

A. a. 0., S. 28, S. 36.

H. Habermas, Faktizität und Ge1tunf Beiträge zur Diskurstheorie des Rechtes und des demokratischen Rechtsstaates, 1992 . 5

Felix Ennacora

6

senvertretungen, den Menschen unter verschiedenen Rollenperspektiven, den Bürgern, die alle in einem Machtkreislauf stehen und untereinander kommunizieren - aufgelöst sein. Ob Habermas die gesellschaftlichen Größen zu einer Einheit formt, ist fragwürdig. Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß Habermas in keinen gesellschaftstheoretischen Schriften auf Ihering oder Schambeck bezug nimmt, bzw. auf Ihering nur insoweit als er auf den "Geist des römischen Rechtes", 1888, aber nicht auf den Kampf ums Recht oder den Zweck im Recht verweist !6 Allen ist aber gemeinsam, daß sie den Staat als eine isolierte Größe sehen und ihn nicht als Glied der Staatengemeinschaft in Betrachtung nehmen. Auch Habermas würde bei einer solchen Betrachtungsweise das Phänomen Staat nicht negieren können. Ihering und Schambeck würden bei einer solchen Betrachtung die Zwecklehre bzw. die Lehre von der ,,Natur der Sache" neu konzipieren müssen. Der Staat als Glied der Staatengemeinschaft verliert· seine exklusive Souveränität und gewinnt durch die internationalen Beziehungen, in die er sich begibt, an Einfluß, der mit dem Recht nicht gleichgesetzt werden kann. Denn in den internationalen Beziehungen des Staates ist dieser Einfluß mehr als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht, mehr als völkerrechtliches Vertragsrecht, mehr als nach Außen gewendetes Staatsrecht. Es verbleibt dem Staat in den internatioanlen Beziehungen also ein Stück Gewalt, das die Natur der Sache verdrängt, der Kelsenschen Identitätslehre von Staat und Recht keinen Raum läßt, ohne seine Methode aufzugeben, und der Frankfurter Schule die Einsicht in den Staat nur in jenen 30 Fällen zuläßt, wo eine demokratische Rechtsordnung besteht. Es scheint, als gehe in der Gegenwart die Übersicht über die Wirklichkeit verloren. Die Menschen schreiben an sich vorbei, obwohl in der Anhäufung von Fußnoten der Eindruck besteht, daß die dargebotenen Erkenntnisse Ergebnis der Reflexionen über die wissenschaftlichen Erkenntnisse anderer seien. Zumeist sind sie - wie in einem Modesalon - Staffagen. Wissenschaft sollte das Ergebnis eines dialektischen Denkprozesses sein. Dieser wird bei der Vielfalt der geäußerten Auffassungen immer unwegsamer. Die normativ orientierten Schriften verstellen die Sicht auf die Wesenhaftigkeit des Staates, weil sie Ausschließlichkeit beanspruchen,Schambecks ,,Natur der Sache" "als Bezugspunkt der materialen Gerechtigkeit in der Ausführung des Gleichheitssatzes" verkürzt staatliche Wirklichkeit und Habermas löst gar den Staat auf; in den Irrgängen seiner Gesellschaftsphilosophie wird der Staat als nicht existent aus der Gegenwart des Philosophierens und der Staatsbetrachtung verdrängt. Habermas würde Schambeck und [hering zu den Vertretern der "alten Staatstheorie"? rechnen; Habermas selbst mußte sich als ein blendender Funktionalist verstehen. Es fallt auf, daß er mit der von ihm so bezeichneten Diskurstheorie 6

?

A. a. 0., S. 113. A. a. 0., S. 403.

Staat und die ,,Natur der Sache"

7

das Verfahren als Grund für die Legitimation des demokratischen Rechtsstaates sieht: ,,Legitimationswirksam ist allein das demokratische Verfahren der Gesetzgebung". Er sucht den Transmissionsriemen,8 der die Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens auf die Verfahren der Justiz und Verwaltung überträgt. 9 In allen seinen gesellschaftstheoretischen Schriften - angefangen von seinem "Strukturwandel der Öffentlichkeit" 10 bis zur "Faktizität und Geltung" 11 fehlt der Staat. Er vermeidet Ausdruck und Begriff und bemüht sich statt dessen um Bauelemente staatlichen Geschehens. In seinem neuen Werk scheint er sich zwar von seinen Vätern - Adorno, Marcuse und Horkheimer - abzuwenden,12 aber dennoch kommt das Wort Staat entweder nur zufällig oder in Wortverbindungen oder im adjektivischen Gebrauch ("staatlich") vor. Während Ihering, Kelsen und Schambeck den Staat als Erscheinung der Wirklichkeit ohne Wenn und Aber voraussetzen und auch Karl Marx nur dem politischen Staat ein Absterben prophezeit,13 verdrängt Habermas durch eine Fundamentalreduktion den Staat als Gegenstand der modemen Gesellschaftswissenschaft; wenn er dies nicht tut, ist der Staat Gegenstand einer negativen Gesellschaftskritik. Er erweckt den Anschein, als würde der Staat in einer modernistischen Anschauung ausklammerbar sein. Wenn Habermas aber nun in seiner ,,Faktizität und Geltung" für die Legitimation der Demokratie, für den demokratischen Rechtsstaat Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen betont, so kommt er in die Nähe des kritischen Rechtspositivismus Hans Kelsens. Dieser sieht in der Lehre vom Rechtserzeugungszusammenhang und der Grundnorm das Moment des Verfahrens als sogenannte Rechtsdynamik an. 14 Die Normen müssen, sollen sie legal sein, entsprechend der von der Verfassung vorgezeichneten, die Rechtserzeugung bestimmenden Regeln entstanden sein und ihnen entsprechen. Dann sind sie legal und legitim zugleich. Habermas führte Legitimität von Rechtsnormen nicht wie H. Kelsen auf eine logische Grundnorm zurück, sondern auf eine (gesellschaftlich begründete) kommunikative Macht. Das demokratische Verfahren begründet Legitimation. So ist der Charakter des Rechtsstaates begründbar. Hier verschränkt sich Habermas mit der Logik der Kantschen Rechtslehre, nämlich des Vernunftrechtes. Er kommt über den von Kant entlehnten Begriff der praktischen Vernunft auf die Demokratie als den Vernunftstaat. Damit trennt er sich von Hegel, der von der sittlichen Idee her den politischen Staat und seine Souveränität speist. 15 8

9

A. a. 0., s. 161 ff. A. a. 0., S. 292 ff.

10 Strukturwandel der Öffentlichkeit, 19768. 11 Siehe Anm. 5. 12 Siehe S. 30 in der in Anm. 5 zitierten Schrift. 13 Siehe z. B. Ermacora, Der politische Staat bei Hegel und Marx, in: HeinteIFestschrift 1981, S. 347 ff. 14 Reine Rechtslehre, 1. Auflage 1934, S. 67 ff. 15 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Verlag von Felix Meiner, Bd. 124 a, § 278.

Felix Ermacora

8

Und Demokratie ist Selbstgesetzgebung der Bürger; kann sie das sein? Nur durch die Grundrechte. Hier begründet Habermas eine demokratieorientierte Statuslehre, die an die Seite der Statuslehre G. Jellineks l6 tritt! Wenn Habermas den Ausdruck Staat sorgsam vermeidet und er - gemessen an der alten Staatslehre - nur jene Teile der Staatstheorie untersucht (Verfahrenslehre, Gewaltenteilung und Menschenrechte), die ihm diskursisch wesentlich erscheinen, so ist dennoch Habermas, Schambeck und [hering eines gemeinsam: Sie sehen die Gesellschaft, deren Ganzes der Staat ist, nicht in ihrer Stellung im Rahmen der Völkergemeinschaft. Wenn Kant, Hegel und Kelsen weiter geführt werden sollen, so ist nicht nur das Innen eines Staates als Gesellschaft zu beachten, sondern auch sein Außen, seine Stellung unter den anderen seinesgleichen. Dem Staat ist seine Stellung in der Staatengemeinschaft so immanent wie dem Menschen sein Charakter als zoon politikon! Bei Ausklammerung des Staates als gesellschaftstheoretische Größe gelangt diese Betrachtungsweise an die Grenze ihrer wissenschaftlichen Aussagekraft. Sie reduziert in einem auch die Erkenntniswelt Kants, Hegels und Kelsens, auf die sich Habermas bezieht. Denn Kant, Hegel und Kelsen haben in ihren rechtsphilosophischen Schriften die Verbindung der Staaten untereinander, mit anderen Staaten auf Grundlage der Selbstbestimmung, die sich bei Kant als eine Form der Souveränität dartut, dargelegt.

Kant hat in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften - wie das Traktat zum ewigen Frieden, - immer den Staat als ein Glied der Staatengemeinschaft gesehen. Menschenrechte und Vertrag sind seine Prämissen. Hegel stellt in den §§ 330 ff seiner Rechtsphilosophie den Staat in seiner Kommunikation mit anderen Staaten heraus. Am Ende des Konfliktaustragungsmechanismus steht der Krieg. Kelsen und vor allem Verdross stellen den Staat in den Mittelpunkt der Völkerrechtsgemeinschaft. Zu Kant: Damit Frieden sein kann, muß der Staat eine ,,Republik" sein. 17 Nach ihm ist Republik ein inhaltlich bestimmter Begriff. Er steht nicht - wie heute - im Gegensatz zur Monarchie. Nach Kant verlangt die Republik jene Charakteristika, die jene Ideen hervorbringen, "die den demokratischen Rechtsstaat inspiriert haben". Dazu rechnet Kant die Selbstgesetzgebung (Autonomie) und Menschenrechte, vor allem die Gleichheit und das Willkürverbot. Wenn solcher Art gestaltete Republik sich durch Verträge zur Staatenföderation zusammenfügen - also den allseits souveränen Nationalstaat überwinden - , dann wird auch in den Internationalen Beziehungen eine Verfahrensrationalität eingeG. lellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 19092 • Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, 1796, in: Immanuel Kant, Werke, 6. Bd., Insel Verlag, 1964, S. 204. 16 17

Staat und die ,,Natur der Sache"

9

führt, die einer Staatenverbindung jene Legitimation gibt, die das Gebilde Staat zu einer internationalen Demokratie macht. Die Staaten sind dann eine "Gesellschaft als ein Netz von autonomen Teilsystemen". Der Ausdruck Habermas 18 bezieht sich zwar auf das Innen des Staates, er gilt aber auch für das Außen der Staaten, wenn sie Republiken sind. Kant verlangt für den ewigen Frieden die Staatengemeinschaft. Zu Hege!: Hegel scheint die sittliche Idee im Souverän zu sehen. 19 Aber auch er verschließt sich nicht, diese sittliche Idee in die Souveräntität zu transformieren. Sie schließt das Fundament der Menschenrechte - den Gegensatz von "Herr und Knecht" 20 zu überwinden - nicht aus. Allerdings ist die Souveräntität keine Volkssouveränität, sondern die Herrschersouveränität. Aber in den internationalen Beziehungen ist die gleiche Souveränität der Staaten auch schon von Hege! anerkannt. Die Charta der Vereinten Nationen geht von ihr aus. Sie ist der Schlüssel dafür, daß Staatengleichheit bestehen kann. In den internationalen Beziehungen ist das Erfordernis der Gleichheit der souveränen Staaten heute nicht wegzudenken. Und wenn Hege! den Krieg als das äußerste Mittel bei der Austragung von Konflikten der Staaten sieht 21 , so sind sie es, die - solange es keinen Weltstaat gibt - den Fortschritt der Freiheit in der Welt befördern. Die Welt ohne Staaten ist nicht denkbar, es sei denn man verschreibt sich einer Utopie. 22

Kelsens Schule, vor allem in der Ausformung Verdroß', stellt den Staat kraft seiner Rechtsordnung in Verbindung mit seinesgleichen. 23 Ohne den anderen Staat keine völkerrechtliche Rechtsordnung auf der Grundlage der Gleichheit, sondern der rechtlosen Herrschaft. Der Staat ist nur in Verbindung mit den anderen Staaten kraft ihrer Rechtsordnung, nur in Verbindung von verfahrensmäßigen Wechselwirkungen, legitimiert, in einem die nationalen Gesellschaften überragenden System zu stehen. Da Kelsens Theorie die "Vereinigung von politischer Vernunft und souveränem Willen" durch die Menschenrechte nicht anerkennen will, kommt ihm die auch theoretische Sprengkraft der geschriebenen Menschenrechte nicht in den Sinn. Ke!sen fängt mit dem System der internationaleR Menschenrechte, das erst zwischen 1948 und 1966 zu einem wahren Kreislauf von Vernunft und Willen entwickelt wurde, wenig an. Doch die Menschenrechte begründen die internationale Seite der Faktizität und Geltung des Rechtes, die bestimmende Kraft der Staaten, die von diesen 18

A. a. 0., S. 405.

"Herr und Knecht", in: Phänomenologie des Geistes in Ausgabe Glockner, 3. Auflg., 1951, ,,Herr und Knechtschaft", S. 153 ff. 20 Siehe § 280 des in Anm. 15 zitierten Werkes. 21 §§ 334 ff. des in Anm. 15 zitierten Werkes. 22 Über die Probleme der Staatsutopie siehe Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 1970, S. 1198 ff. 23 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, S. 115 ff. 19

Felix Ermacora

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Rechten getragen sind. Und gerade die Menschenrechte sind nur im Koordinatensystem des internationalen "Standard-Setting" und des Menschenrechtsschutzes faktisch und in Geltung. Die weltweit anerkannten Menschenrechte sind ohne Staaten ebensowenig denkbar, wie die modemen Staaten ohne sie zumindest verbal anzuerkennen "Unstaaten" sind. Die Staaten sind in der Gemeinschaft der Staaten die Träger der Menschenrechte. Ohne Staaten würden die Menschenrechte nach wie vor als eine moralische Idee verbleiben. Daß es in der Wirklichkeit von diesem Grundgedanken und Grundsatz noch manche Abweichung gibt - man denke nur an die unbewältigten massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen in allen Regionen der Erde - , ist ihr immanenter Widerspruch. Ihn gälte es zu überwinden bis ein Weltstaat über den Nationalstaaten zu stehen kommt, bis es eine Weltstaatsbürgerschaft gibt, die von demokratischen Systemen getragen ist. Aber dieser Widerspruch ist kein Beweis für die Untauglichkeit eines Staatsbegriffes, er ist dialektisch zu sehen. Der Blick auf die internationalen Beziehungen, die in etwa den kommunikativtheoretischen Überlegungen entsprechen, die Habermas auf die Gesellschaft ansetzt, kann an der Größe Staat nicht voTÜbersehen. In der Natur des Staates der Gegenwart liegt sein Außen mitbegründet, die Kommunikation mit den anderen Staaten immanent miteingeschlossen ! Es gibt wohl eine ewige Frage nach der Natur und dem Wesen des Staates, aber es gibt einen ewigen Staatsbegriff. So wie sich die Klärung der Staats- und Regierungsform mit den Gegebenheiten des modemen Staates wandeln muß, so auch der Begriff vom Staate. Seine Stellung nach Außen ist mit in die Begriffsbildung einzubeziehen. Der Staat kann ohne die Gemeinschaft der Staaten nicht voll erkannt werden. Verdroß. dessen Schüler Schambeck war, übertrug die Strukturelemente, die Kelsens Staatstheorie bestimmten, auf den Staat als Glied der Staatengemeinschaft. 24 Was für den Staat nach Innen die Gesellschaft ist, ist für die Staatengemeinschaft der Staat. Dieselben Fragen, die Habermas für die Erkenntnis des Staates nach Innen stellt, können für den Staat in seiner Stellung nach Außen gestellt werden. Nämlich die Geltung des Völkerrechtes, dessen Organ der Staat ist, die Frage nach der Faktizität des Völkerrechtes, die Legalität staatlichen Handeins und die Legitimität des Staates sowie die Frage nach dem Grundgedanken des Handlungszusammenhanges. Die Substanz des Staates als Glied der Völkergemeinschaft ist die Souveränität des Staates, auf der die UNO-Charta ruht und von der die Selbstbestimmung der Völker zu unterscheiden ist, die der Staat und die Staatengemeinschaft verwalten. die Faktizität des staatlichen Handeins ist die faktische Gewalt, die der Staat ausübt und seine Legitimität ist die Achtung der Menschenrechte. Für Legalität und Legitimität ist auch hier das Rechtsverfahren das völkerrechtlich bestimmen24

A. a.

o.

Staat und die ,,Natur der Sache"

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de Element. Dort wo die Legalität der staatlichen Rechtsetzung - nämlich der verfahrensmäßig geordnete Durchsetzungsmechanismus im Vertragsrecht, im völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht, im völkerrechtlichen Vertragsrecht, das durch die Willkür staatlicher Macht verdrängt wird, bricht das Archaische der Vor-Vernunft durch und der Staat wird urzeitlich. Aber auch diese Erkenntnis erlaubt nicht, den Staat zu negieren, ihn aus der wissenschaftlichen Diskussion auszuklammern oder sich in einem argumentativen Kreise zu drehen. Seine "Natur der Sache" ist die Internationalität der Menschenrechte, die er zu bewahren hätte. Diese Außenbeziehung des Staates in einer fundamentalistischen Staatstheorie nicht zu berücksichtigen, zeigt, daß es unzulässig ist, in einer Betrachtung über Legitimität und Legalität des Rechtes den Staatsbegriff, zu dem sein Außen gehört, auszuklammern. Die Ausklammerung ist ein wissenschaftlicher Willkürsakt. Es gehört zur ,,Natur der Sache" Staat seine Internationalität, sein Außen. Nimmt man das als eine Orientierung, so begründet sie eine wirklichkeitsnahe Staatslehre für das 21. Jahrhundert. Sie wird eine Theorie sein, die den Staat als Element der Staatengemeinschaft und der internationalen Beziehungen sieht !

WILLIAM PENN: VISIONÄR EINER EUROPÄISCHEN UNION Von Peter Fischer

I. Allgemeines Der grausame Krieg auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens läßt heute vielfach die Forderung nach Verbesserung der europäischen Strukturen erheben, die manche in dem nunmehr in Kraft getretenen Vertragswerk von Maastricht in der Gestalt der Europäischen Union (in der Folge: EU) I sehen. In der Tat ist das nicht unumstrittene 2 Werk der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die allgemein als "europäische Integration"3 bezeichnet wird und institutionell nach dem zweiten Weltkrieg bekanntlich ihren Ausgang mit der Schaffung des Europarates und der Gemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM4 genommen hat. Die hier teilweise verwirklichte Europaidee beruht auf theoretischen Konzepten, die zumindest seit Dante Alighieri 5 in allen Jahrhunderten der europäischen Geschichte entwickelt worden waren. Dichter, Philosophen, Politiker und Rechtsgelehrte befaßten sich mit der Frage der Schaffung von europäischen Institutionen unterschiedlichen Integrationsgrades vor allem in Hinblick auf die Eindämmung und - im idealen Fall - endgültige Eliminierung des Krieges und der Gewalt aus den europäischen zwischenstaatlichen Beziehungen 6• I "Vertrag über die Europäische Union", EGKS-EWG-EAG, Brüssel + Luxemburg( 1992); vgl. auch Christoph Vedder, Das neue Europarecht. EG-Vertrag und Europäische Union. Textausgabe, München 1992. 2 Dazu vgl. Peter M. Huber, Maastricht - ein Staatsstreich?, Jenaer Schriften zum Recht, Weimar 1993. 3 Dazu Peter Fischer und Heribert F. Köck, Europarecht einschließlich des Rechtes supranationaler Organisationen, Eisenstadt 1986, 6 f. 4 Dazu Moritz Röttinger und Claudia Weyringer, Handbuch der europäischen Integration, Wien 1991. 5 "De Monarchia", 1308; vgl. auch das schon vorher erschienene Werk des französischen Juristen und Publizisten Pierre Dubois "de recuperatione terrae sanctae", 1306. Dazu Fischer-Köck, Europarecht, 13. 6 Ibid., 13 ff.; vgl. auch neuestens Hermann Schäfer, "Europas Einheit: Herkunft, Ziel, Form", in: Paul Kirchhof-Hermann Schäfer-Hans Tietmeyer (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 21 ff.

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Peter Fischer

Einer der herausragenden Denker ist dabei der Engländer William Penn, der vor genau dreihundert Jahren in seinem Werk "Ein Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden Europas durch Schaffung einer Europäischen Versammlung, eines Parlaments oder Staatentages"7 rechtspolitische und -philosophische Überlegungen angestellt hat, die, wie zu zeigen sein wird, heute eine bemerkenswerte Aktualität besitzen. Sie sollen in der folgenden Abhandlung analysiert werden, die dem verehrten Jubilar nicht zuletzt auch in Erinnerung an jene Zeit gewidmet ist, in der der Verfasser ein Stück rechtsphilosophischen Weges an der damaligen Lehrkanzel für Völkerrecht und Rechtsphilosophie der Universität Wien (Prof. Verosta) mit ihm gemeinsam gehen konnte.

11. William Penn: ein politischer Theoretiker und Staatsmann Im Gegensatz zu den meisten Autoren, die sich im Laufe der Geschichte mit Fragen der europäischen politischen Integration befaßten, war William Penn nicht nur Theoretiker, der eine Vielzahl von Schriften veröffentlichte 8 , sondern auch praktizierender Jurist und Staatsmann, der seine Theorien und Ideen, die oft als utopisch bezeichnet wurden 9 , auch in die Praxis umsetzen konnte. Es erscheint daher zweckmäßig, einige für unser Thema relevanten Aspekte aus seinem bewegten politisch-religiösem Leben hier kurz zu beleuchten. William Penn (1644-1718) wurde in London als Sohn des von König Karl 11. geadelten Vaters Sir William Penn geboren, der sich im Dienste der Flotte seiner Majestät höchste Meriten erwarb und mit Gütern in Irland bedankt wurde. Für Admiral Penn und seinen Sohn waren die Einkünfte aus diesen Besitzungen, die nach dem Tode des Vaters 1676 um weitere in West Jersey in Amerika vergrößert wurden, eine wichtige finanzielle Lebensgrundlage 10. Schon seit früher 7 Das 1693 in London erschienene Werk besitzt den Originaltitel ,,An Essay Towards the Present and Future Peace of Europe, By the Establishment of an European Dyet, Parliarnent, or Estates". Neuere Ausgaben dieses Werkes fmden sich auch in Ernest Rhys, The Peace of Europe: The Fruits of Solitude and Other Writings by Williarn Penn, Londen & Toronto 1915,3 ff., in der Ausgabe des Peace and Service Committee der Friends General Conference, Philadelphia 1944 sowie in Series F, Unites Nations Library, Geneva, Sources on the History of International Organization No 1: William Penn, An Essay Towards the Present and Future Peace of Europe, Hildesheim-Zürich-New York 1983. Dieses Werk enthält eine Faksimilewiedergabe einer der drei noch heute existierenden Erstausgaben aus dem Jahre 1693. Sie bildet die Grundlage dieser Untersuchung. 8 Nach Edward Corbyn Obert Beatty, Williarn Penn as Sodal Philosopher, New York 1939,8, verfaßte Penn 175 selbständige und unselbständige Publikationen zumeist religiösen Inhalts. 9 So ua auch Beatty, Williarn Penn, 16 ff., der ihn als "builder of a new utopia" bezeichnet. 10 Joseph Besse, "The Author's Life", in: Rhys, The Peace of Europe, XXf. Besse ist der erste Biograph Williarn Penns, der eine zweibändige SaD1IIllung seiner Werke

William Penn: Visionär einer Europäischen Union

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Jugend an war Penn religiösen Ideen besonders zugetan, die auch seine zukünftige Karriere entscheidend beeinflussen sollten. Er folgte dabei jedoch nicht dem damaligen staatskirchlichen Weg des Protestantismus I Anglikanismus, sondern strebte, wie sein Biograph Joseph Besse hervorhebt 11, nach der "pure and spiritual religion". Er fand sie in der "Gesellschaft der Freunde" (Society 0/ Friends), der Sekte der Quäker, die zwar nicht direkt verboten, aber vor allem durch den 1670 erlassenen Conventicle Act von den englischen Behörden weitestgehend unterdrückt wurde. Penn lernte bereits während seines Studiums in Oxford diese Sekte kennen und wurde ihr glühender Anhänger 12. Obwohl er dadurch persönliches Unbill erleiden mußte, - Ausschluß von der Universität, Haft in Cork (Irland), siebenmonatige Haft im Tower von London und sechsmonatige Haft in Newgate - , blieb er seiner Überzeugung verbunden, die nun sein literarisches Wirken bestimmte. Der Kampf um religiöse Toleranz und die Verwirklichung des Friedensgedankens wurden von diesem Zeitpunkt an seine Leitbilder und waren Gegenstand einer Vielzahl von Publikationen, in denen religiöse Themen im Vordergrund standen. Durch zahlreiche Reisen auch auf den durch Kriege zerrissenen europäischen Kontinent vertiefte er seine pazifistischen Gedanken. Penn absolvierte sein Rechtsstudium am renommierten Lincoln's Inn in London, das ihm nicht nur die nötige Ausbildung für die Führung der zahlreichen Prozesse - zumeist in eigener Sache - betreffend Religionsausübung, unbewegliches Vermögen etc. ermöglichte, sondern auch das juristische Wissen für die von ihm erstellte erste Verfassung seiner Provinz 13 und nicht zuletzt für seine Überlegungen zu einer Integration Europas bot. Entscheidend für William Penns politische Karriere war die Verwaltungsübernahme der englischen Kolonialprovinz New Netherlands westlich des DelawareFlusses in Nordamerika. Sie erfolgte auf der Rechtsgrundlage einer Konzession (letters patent) 14 durch König Karl 11. von England sowohl als weitere Anerkennung für die Dienste seines 1670 verstorbenen Vaters, Admiral Penn, als auch als Abgeltung für die zum Zeitpunkt seines Todes bestandenen königlichen 1726 in London unter dem Titel A Collection 0/ W orks 0/ William Penn herausgegeben hat. Rhys publizierte 1915 einen Nachdruck der Besse'schen Biographie, die als Einführung dem Sammelwerk 1726 vorangestellt wurde. Zu William Penns Tätigkeiten in Irland vgl. auch Beatty, William Penn, 7. 11

lbid.,

vm.

Hier lernte er den Quäkerprediger Thomas Loekennen, der ihn von dieser Lehre überzeugte. Penn studierte 1661/62 in Oxford, konvertierte aber erst 1667 zum Quäkerturn. Besse, The Author's Live", VII; Beatty, William Penn, 6 f. 13 Nämlich Pennsylvania in Nordamerika. Dazu unten Seite 16. 14 Konzessionen zur Verwaltung von Kolonialgebieten waren seit dem 16. Jhdt. durchaus üblich. Sie wurden auch an Ausländer gegeben. Klassischer Fall ist die Verwaltungskonzession Kaiser Karl I. von Spanien an die Augsburger WeIser-Gesellschaft, durch die letzterer 1528 die Verwaltung des Gebietes des heutigen Venezuelas übertragen wurde. Das Abkommen fmdet sich bei Peter Fischer, A Collection of International Concessions and Related Instruments, Dobbs Ferry 1981, Bd. X, 297 ff. 12

Peter Fischer

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Schulden 15. Mit dieser am 4. März 1680 ausgestellten Urkunde wurde William Penn und seinen Erben die Stellung "absoluter Eigentümer und Gouverneure" über diese ehemalige niederländische Provinz übertragen, deren Bezeichnung kraft königlichen Akts dem neuen Gouverneur zu Ehren 16 gleichzeitig in Pennsylvania geändert wurde, die dieser US-Bundesstaat auch heute noch trägt. Mit der Übernahme dieses königlichen Amtes erstellte er mit Repräsentanten der Provinz eine aus 24 Artikeln bestehende Verfassung für Pennsylvania, die vor allem durch das Prinzip der religiösen Toleranz, also der Glaubens- und Gewissensfreiheit ausgezeichnet war. So heißt es im ersten Artikel der Fundamental Constitutions 0/ Pennsylvania: ". . . I do for me and mine declare and establish for the fIrst fundamental of the

government of this country that every person that doth or shall reside therein shall have and enjoy the free profession of his or her faith and exercise of worship toward God ... "17.

Auf dieser Rechtsgrundlage begann Penn sein politisch-praktisches Werk in seiner Provinz, wobei in der Errichtung der Hauptstadt Philadelphia, der "Stadt der Bruderliebe", sein Hauptaugenmerk lag. Damit begann auch gleichzeitig das, wie er es bezeichnete, ,,Heiliges Experiment" (Holy Experiment) in der Gestalt der Gründung einer freien Kolonie für "die gesamte Menschheit" ohne Einwanderungsbeschränkungen, mit allen wirtschaftlichen Chancen und einer von der Bevölkerung gewählten Verfassung mit den obgenannten Freiheiten. Damit war der Friede gewährleistet, sodaß die Aufstellung einer bewaffneten Macht oder die Errichtung von Befestigungen (forts) überflüssig war 18. Penns politisch-theoretisches Gebäude, wie es in den weiteren 1682 in England vereinbarten und beschlossenen Grundgesetzen zum Ausdruck gelangt ist l9 , beruhte auf den Maximen der Freiheit beschränkt durch Altruismus, der Anerkennung des göttlichen Rechts als Naturrecht, der Beschränkung der Regierung durch das Recht und dem Konsens der regierten, sowie der Achtung der Eigentumsrechte 20• 15 Der Text der Urkunde fmdet sich in William Penn, Account of the Province of Pennsylvania, London 1682. Zitiert nach Besse, op. cit., XXIV. 16 So nach Besse, op. cit., XXIV. Nicht ausgeschlossen wäre es, daß Pennsylvania nach seinem Vater, Admiral Penn, benannt wurde. 17 Besse, op. cit., XXVI. 18 Dazu vgl. William W. Comfort, "W. Penn and his attitude toward peace", in: The Exile Herald (Philadelphia), 9(1932), 17 ff. 19 Nämlich das sog. "First Frame ofGovernmentfor Pennsylvania" und eine Reihe von 1682 in Chester, England zwischen dem Gouverneur Penn und Abgesandten der Provinz (sog. jreemen) vereinbarten Gesetzen, den sog. Codes. Nach Beatty, William Penn, 24, fmden sie sich abgedruckt in Thorpe, The Federal and State Constitutions, Bd. V, 3059 ff. 20 Beatty, op,cit., 24.

William Penn: Visionär einer Europäischen Union

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Über die Frage nach den geistigen Vorbildern des Quäkers, vor allem was John Milton und John Locke betrifft, gehen die Meinungen auseinander 21 • Über eines sind sich aber die bisherigen Autoren, die sich mit dieser herausragenden Persönlichkeit beschäftigten, einig: als profunder Bibelkenner sind seine politischen Konzepte sowohl dem Alten, als auch dem Neuen Testament entnommen: dem ersteren der Gedanke der patriarchalischen Autorität, die er, wenn auch zumeist milde, in seiner Provinz ausübte, dem letzteren der christliche Humanismus, der vor allem in seinem Programm gegenüber den Indianerstämrnen zum Ausdruck gelangt ist. Hier ist besonders erwähnenswert, daß der Quäker Penn den hier ansässigen Stämmen noch vor seiner Ankunft 1681 einen Friedensbund (league 0/ peace) anbot, der sodann durch seine Kommissare mit ihnen abgeschlossen wurde, und ua. auch ein System der friedlichen Streitbeilegung enthielt 22 • Friede und Gerechtigkeit bestimmten in der Folge das Verhältnis zwischen den einheimischen Stämmen und den weißen Siedlern, nachdem der Vertrag mit den nachfolgenden Gouverneuren erneuert worden war. Im Gegensatz zu anderen Kolonien und späteren Bundesstaaten der USA blieb Pennsylvania für mehr als zwei Generationen 23 von inneren Unruhen, insbesondere von Indianerkriegen verschont. Das hier bewährte System einer friedlichen Streitbeilegung fand zehn Jahre später Eingang in sein Werk über den ,,Europäischen Frieden", das vor diesem biographischen Hintergrund nun näher erörtert werden soll.

III. "Ein Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden" William Penns Vision einer Europäischen Friedensorganisation 1. Über das Werk

Penns Essay entstand 1693 und wurde in London anonym veröffentlicht. Am Kontinent tobte zu dieser Zeit der pfalzische Krieg, der an Grausamkeit und Zerstörung jahrhundertealten Kulturguts 24 nicht weit hinter dem derzeitigen bewaffneten Konflikt auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien zurückstand. Da Penn, wie zu zeigen sein wird 25, für sein Friedenskonzept für Europa 21 So skeptisch Beatty, op. eil., 10, der keinen Zusammenhang zwischen den Ideen Penn's und etwa Locke's sieht. Dazu vgl. unten ... 22 Und zwar durch eine Schieds- oder Vergleichskommission. Siehe den Brief vom 18. August 1681 an die Bewohner seiner Provinz. Abgedr. bei Besse, op. eil., XXVI f. 23 Dazu vgl. eingehend Beatty, op. eit., 266, der Penn als ,,Friend of the Indians" bezeichnet. 24 So wurden auf Befehl König Ludwig XIV. die Städte Speier und Worms zerstört, das Heidelberger Schloß in die Luft gesprengt, die Bevölkerung ,,mittellos in die Winterkälte hinausgetrieben". M. Philippson, ,,zeitalter Ludwigs XIV", in: J. von PflugkHarttung, Weltgeschichte, Geschichte der Neuzeit. Das politische Zeitalter 1650-1815, Berlin 1908, 176. 25 Dazu unten Seite 21.

2 Festschrift Schambeck

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Peter Fischer

auch eine Art kollektives Sicherheitssystem, in der er die Notwendigkeit zur Anwendung auch militärischer Gewalt nicht ausschloß, vorsah, ist sein Essay in diesem Punkt kein Quäker-Essay 26. Zu Lebzeiten Penns erfuhr dieses vielgelesene Werk vier Auflagen, die alle aus dem genannten Grund anonym herausgegeben wurden. Erst acht Jahre nach seinem Tode erfolgte durch den bekannten Quäkerhistoriker Joseph Besse die Herausgabe eines Teiles seiner Werke 21, darunter erstmals unter dem Namen des Autors auch der gegenständliche Essay. Von der ersten Auflage gibt es, soweit bekannt ist, heute lediglich drei Originalexemplare, von denen jenes in der Friends House Library, London aufbewahrten von der Bibliothek der Vereinten Nationen in Genf 1983 in Faksimile veröffentlicht wurde 28 und die Grundlage für diese Abhandlung bildet. Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Margarethe Rothbart und bei Kurt von Raumer 29 ; eine weitere - allerdings fehlerhafte - bei Elisabeth Rotten, die später in verbesserter Form in der Friedens- Warte abgedruckt wurde 30 • Im Original umfaßt William Penns Werk 67 Seiten, gegliedert in zehn Abschnitte (sections). In den folgenden Überlegungen werden aktuelle Bezüge zur europäischen Gegenwart auch im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. 2. Der Friede als Leitbild rechts- und staatsphilosophischen Denkens bei Wil/iam Penn Am Beginn seiner Überlegungen stellt Penn die Vorteile des Friedens den Nachteilen des Krieges gegenüber. 26 So Peter van den Dungen, ,,Introduction" zu William Penn, An Essay, UN Library Geneva, Series F No. 1, Hildesheim-Zürich-New York 1983, xm. 27 Vgl. oben Anm. 10. 28 Peter van den Dungen, Introduction, vm. 29 Margarethe Rothbart, William Penns Völkerbundplan, Heft 9, Deutsche Liga für Völkerbund (1920). Kurt von Raumer, Ewiger Friede, Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, München 1953,321 ff. 30 Elisabeth Rotten, William Penns Entwurf zum gegenwärtigen und künftigen Frieden Europas durch Schaffung eines europäischen Parlaments, Reichstages oder Staatenbundes. Ein Völkerbund-Entwurf des 17. Jahrhunderts, Bem 1936, 1 ff.; abgesehen von der willkürlichen Kürzung und der Übersetzung von Essay durch Entwuifwird der entscheidende Abschnitt 7 ("Ofthe Composition ofthese Imperial States") von Rotten materiell unrichtig widergegeben, denn ihre Übersetzung enthält 91 (und nicht, wie bei Penn, op. eit. Original 1693,29),90 Vertreter bzw. Stimmen. Dazu vgl. unten Abschnitt 3a. Eine in diesem Punkt verbesserte deutsche Version ist in der Friedens- Warte (1941), 263 ff. unter dem Titel ,,Ausgrabungen aus früheren Völkerbundprojekten und -Diskussionen" veröffentlicht. Auch hier finden sich zwar unverständlicherweise Übersetzungslücken, die aber durch Auslassungspunkte, die bei Rotten fehlen, gekennzeichnet sind. Vgl. zB. 264.

William Penn: Visionär einer Europäischen Union

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Die Vorteile des Friedens sieht Penn vor allem im persönlichen Wohlergehen und im wirtschaftlichen Wohlstand. Das Eigentum (possessions) ist geschützt 3!, Handel und Gewerbe blühen, für Wohltätigkeit stehen Mittel zu Verfügung. Das alles wird aber durch den Krieg zunichte gemacht: "what the Peace gave, the War Devours" 32. Recht und Gerechtigkeit spielen dabei die zentrale Rolle: sie bewahren nicht nur den Frieden, sondern dienen auch seiner Wiederherstellung, sollte dieser gebrochen sein. 33 Die Überlegenheit des Rechtes gegenüber dem Krieg sieht Penn schon allein darin, daß es diplomatischen Gesandtschaften (Embassys) sehr häufig gelingt, durch ihre Bemühungen im Verhandlungswege Kriege dadurch zu verhüten, daß rechtlichen Argumenten (Pleas and Memorials oflustice) Gehör geschenkt wird. Krieg ist in keiner Weise gerechtfertigt, außer im Falle "zugefügten Unrechts und verweigerten Rechts trotz vorgebrachter Klage" 34. Damit ist Penn ein früher Vertreter des relativen Kriegsverbots, das im übrigen der scholastischen bel/um iustum-Lehre sehr nahe komrnt 35 • Das zentrale Konzept des Rechts und der Gerechtigkeit (justice) gilt auch nach Penn im Bürgerkrieg: wo das Recht im internen Bereich mißachtet wird, dort entbrennt Krieg "zwischen Regierung und Volk ... in Königreichen und auch anderen Staaten" 36. Hier meint er, daß das Volk in seinem Kampf gegen die Behörden (Magistrates) zwar ungesetzlich (unlawful) handelt, doch müßte das den Fürsten zu denken geben, "as ifit were the Right ofthe People to do it"37. In dieser naturrechtlichen Aussage macht Penn den Widerspruch zwischen der objektivenjustice und der dieser entgegenstehenden staatlichen Ordnung deutlich, der auch Ursache des Waltens des Leviathans ist. Mit diesem Hinweis auf den Leviathan 38 ist nicht nur Thomas Hobbes für Penn von Bedeutung, sondern auch dessen Zeitgenosse John Locke findet gleichfalls im gegenständlichen Essay seinen Niederschlag. Die Gerechtigkeit ist nach Penn das Mittel zum Frieden, die aber wiederum nur von einer ,,rechten RegiePeace, Preserves our Pos sessions"; Original, op. cit. (Anm. 26),4. Op. cit., 5. 33 Penn verwendet hier nicht den heute üblichen Begriff des law als Recht im objektiven Sinn, sondern jenen des justice, der eigentlich den durch das Recht herbeigeführten Zustand der Gerechtigkeit bezeichnet. Vgl. op. cit., 6,8, lO("Justice is the means of Peace"), 14 etc.; der Begriff law fmdet sich nur selten in Penns Werk. Vgl. Government of Laws(rechtmäßige Regierung), 10.2. Dazu vgl. auch unten Anm. 39. 34 Penn, Essay, 8. 35 Dazu allgemein Peter Fischer-Heribert Franz Köck, Allgemeines Völkerrecht, 2. 3! " . . .

32

Aufl. 1991, 279 ff. 36 37

38

2*

Ibid., 8 f. Ibid., 9. Ibid., 7.

20

Peter Fischer

rung" (Government 0/ LawsJ39 ausgehen kann. Eine rechte Regierung entspringt aber nur einer solchen Gesellschaft (Society), die auf freier Übereinkunft (consent) beruht 4O • Denn das ist die ,,natürlichste und menschlichste" Staatsform 41 . Dieser Gedanke zur Beendigung des Naturzustandes des Menschen durch Abschluß einer Art Gesellschaftsvertrag findet sich schon bei John Locke in seinem vier Jahre vorher erschienenen Werk "Two Treatises of Government", worin er sagt: " ... But I ... affirm that all men are naturally in that state and remain so till by their own consents they make themselves members 0/ some political society" 42. Auch terminologisch folgt so Penn seinem Zeitgenossen Locke. Das rechts- und staatsphilosophische Konzept William Penns versteht sich somit als ein hierarchisches System, als dessen Grundlage die durch Konsens entstandene Gesellschaft anzusehen ist, die wiederum die Regierung als "Werkzeug der Gerechtigkeit und damit des Friedens"43 einsetzt. Für Penn ist oberstes Prinzip die Gerechtigkeit(justice), da nur so der Friede garantiert werden kann. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es aber eigener Organe: Sessions, Terms, Assizes and Parliments, "to overrule Mens Passions", wie er sagt. Denn die menschliche Natur ist so verdorben, daß viele ohne Zwang nicht zum rechten Verhalten gebracht werden können 44 • 3. Die Verwirklichung des Friedens in Europa

Dieses gewissermaßen "innerstaatliche" Friedenskonzept Vertrag- (politische) Gesellschaft - Regierung zur Verwirklichung der gerechten Ordnung (justice as the /ruit 0/ government) wird nun von Penn "internationalisiert": so wie sich einst die "souveränen" Menschen aus "Liebe zu Friede und Ordnung"45 zusammengeschlossen haben, so sollten auch die souveränen Fürsten Europas vereinbaren, durch ihre Bevollmächtigten im Wege einer Allgemeinen Versammlung, eines Parlaments oder Staatentages verbindliche Rechtsnormen für die souveränen Fürsten zu erlassen 46 • Ein solches Organ sollte nach Penn Soveraign oder Imperial Diet, Parliament oder States 0/ Europe genannt werden. 39 Ibid., 10. In den Textausgaben von Ernest Rhys, William Penn, 6 und des Peace and Service Committee der Friends General Conference, Philadelphia 1944, 8, fehlen die Worte "of Laws". 40 Penn, Essay, 10. 41 Ibid., 12. 42 Thomas P. Peardon(Hrsg.), John Locke. The Second Treatise ofGovemment, New York 1952, 11; 54 ff. 43 Penn, Essay, 13. 44 "But so depraved is human nature, that without compulsion, some way or other, too many would not readily be brought to do what they know is right and fit, or avoid what they are satisfied they should not do". Ibid. 14 f In den deutschen Texten (Friedens-Warte, Rotten) fehlt dieser Schlußteil des 3. Abschnittes. 45 Penn, Essay, 17. 46 ,,Rules of Justice for Soveraign Princes". Ibid.

William Penn: Visionär einer Europäischen Union

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Wenngleich die juristische Terminologie Penns hier ungenau zu sein scheint, da zwar Diet als Organ, aber States 0/ Europe als die Organisation angesehen werden könnten, so darf nicht übersehen werden, daß die englische Rechts- und Staatstheorie auch heute noch keine scharfe Trennung etwa zwischen government und State vollzieht, sodaß Organ und die durch dieses Organ handelnde juristische Person nach dieser Auffassung eine Einheit bilden 47. Ohne Zweifel meint aber Penn damit eine Staatenkonferenz 48 europäischer Mächte, der nach seinen Vorstellungen weitgehende Befugnisse zustehen sollten: Abgesehen von der bereits genannten allgemeinen Rechtsetzungsbefugnis sollten vor diese Versammlung alle zwischen "Souveränen" bestehende Konfliktfälle gebracht werden, die nicht schon vorher durch "private Gesandtschaften"49 bereinigt werden konnten. Diese Versammlung kann bindende Beschlüsse, die Penn als resolution, sentance undjudgment bezeichnet, fassen. Für den Fall der Nichtunterwerfung unter die Versammlung, die Nichtbefolgung und verspäteten Befolgung ihrer Beschlüsse und die Anwendung von Waffengewalt, soll durch gemeinsames Vorgehen Unterwerfung und Erfüllung der Beschlüsse erzwungen werden 50. Damit wird hier - vielleicht erstmals - ein System der kollektiven Sicherheit konzipiert, das heute - 300 Jahre nach Penn - sich in der UNO von der Grundkonstruktion her unverändert wiederfindet und nun seit der GolfKrise 1990 auch in der Praxis erhöhte Bedeutung erlangt hat. Beachtenswert ist, daß das Penn'sche Modell einer Staatenkonferenz keine Gewaltentrennung kennt, da diese Institution sowohl rechtsetzende, exekutive und rechtsprechende Befugnisse haben soll. Erst die amerikanische Bundesverfassung 1789 51 , unter dem Einfluß von Montesquieu, verwirklichte diesen Gedanken. Es darf aber nicht übersehen werden, daß, abgesehen von der UNO, auch eine hochintegrierte Organisationsform wie die EU52, Gesetzgebung und Vollziehung 47 Vgl. zB den Begriff der inter-governmental Organization(IGO' s), die als zwischenstaatliche Organisationen von privaten (nichtstaatlichen) zu unters~.heiden sind. Dazu Köck-Fischer, Internationale Organisationen, Eisenstadt 1986, 24. Unrichtig ist jedenfalls, die Penn 'sehen States 0/ Europe mit "europäischer Föderation" zu übersetzen, wie es Rotten, William Penns Entwurf, 5 und, ihr folgend, die Friedens-Warte, 265, tun. Gleiches gilt für die Estates im Titel des Werkes, die ebenfalls unrichtig mit "Staatenbund" übersetzt werden. Rotten, I; Friedens-Warte, 263. Es handelt sich in der Penn'sehen Konzeption um eine konferenzähnliche Einrichtung, die von den souveränen Mächten mit Rechtsetzungs-, Rechtsprechungs- und Exekutivbefugnissen ausgestattet ist. Vgl. dazu auch die folgenden Anmerkungen sowie unten Abschnitt D. 48 Das ergibt sich klar aus der folgenden Passage: " ... States 0/ Europe; be/ore which Soveraign Assembly should be brougt all difference ... ". Penn, Essay, 17. 49 Ibid. 50 " ... all the other Soveraignties united as one strength, shall Compel the submission ... ". Ibid., 18. 51 Vgl. dazu auch die Kommentare von Esther Holmes Jones zum Nachdruck des Essays anläßlich der dreihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages (24. Oktober 1644). Peace and Service Committee. Friends General Conference, Philadelphia 1944, 29. 52 Dazu vgl. Hans-Joachim Glaesner, Europarecht. Textausgabe, 4. Aufl., BadenBaden 1992, 9 f.

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Peter Fischer

in jeweils einem Organ EU-Rat bzw. Europäische Kommission, vereinigt. Eine echte Gewaltentrennung findet sich bier lediglich in der Rechtsprechung, die dem EuGH und seit 1987 dem Gericht Erster Instanz 53 vorbehalten ist.

4. Struktur und Arbeitsweise des "Europa-Parlaments" Kernstück des gegenständlichen Werkes sind die Abschnitte VII und VIII, in denen Penn die Zusammensetzung und Verfahrensregeln seiner "Souveränen Versammlung" 54 darstellt. Hier fmden sich, wie zu zeigen sein wird, bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem heutigen EU-Rat. a) Der Grundsatz der Universalität Nach den Vorstellungen Penns sollten alle europäischen Staaten in seiner Versammlung vertreten sein, da sie

,.A great Presence when they represent the 4th. and now the Best and wealthyest part of the known World; where Religion and Learning, Civility and Arts have their Seat and Empire ... " darstellen. Dazu zählen das (Heilige Römische) Reich, Frankreich, Spanien, Italien, England, Portugal, Schweden, Dänemark, Polen, Venedig, die "Sieben Provinzen", die "Dreizehn Kantone", Holstein und Kurland; was die Türken und Muskoviten betrifft, so sollen sie nach Penn ebenfalls in die Versammlung aufgenommen werden, "as seems but fit and Just"55. Denn die Mitgliedschaft der "Hohen Pforte" in dieser "Union"56 würde den türkischen Angriffen 57 ein Ende bereiten, da einerseits die "Christlichen Fürsten" von jedweden Allianzen mit dem "Grandseignior" Abstand nehmen würden und andererseits sich der Sultan mit Rücksicht auf seinen europäischen Besitzstand an die Beschlüsse der Versammlung halten werde 58 . Ein gemeinsames Vorgehen der christlichen Fürsten wäre, "with all bis strength ... an over-match for hirn"59. 53 Dazu vgl. Gerte Reichelt, Das Gericht Erster Instanz, Economy. Das Fachmagazin (1992). 54 Penn, Essay, 27; für das Konzept seines "europäischen Parlaments" wird vor Penn keine einheitliche Terminolgie verwendet, was naturgemäß die Durchdringung seiner Gedanken erschwert und, wie erwähnt (vgl. Anm. 30 oben), zu sinnverzerrenden deutschen Übersetzungen geführt hat, was auch v. Raumer (vgl. Anm. 71 unten) zu Recht kritisiert. So wird dieses Parlament an anderen Stellen als ,,European League" bzw. "Confederacy"(35) und auch als "Union"(53) bezeichnet. Vgl. auch dazu Anm. 47 oben und Abschnitt D. unten. 55 Penn, Essay, 29. 56 57 58 59

Ibid., 53. Ibid., 53. Ibid. Ibid.

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Damit sollten in dieser Union alle damaligen Staaten Europas einschließlich des Kirchenstaates zusammengeschlossen werden. In Hinblick auf letztgenannten wird zwar der englische Ausdruck Ecclesiastical States vennieden und der neutrale ItalyfIJ verwendet, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Penn mangels der Existenz eines italienischen Staates im Jahre 1693 den Kirchenstaat gemeint haben muß. Dafür spricht auch der Umstand, daß die Katholiken (,,Papisten") ebenso wie die Quäker in England zu dieser Zeit verfolgt wurden, sodaß die Nichtrepräsentanz dieser Macht, wie es sehr wohl ein anderes Konzept einer Organisation Europas vorsah 61 , gewiss dem Penn'schen Toleranzgedanken, wie oben dargelegt 62, widersprochen hätte. Ein Vergleich mit der heutigen Mitgliederstruktur der EU zeigt, daß das Penn' sehe Konzept eines europäischen Parlaments so gestaltet war, daß alle Territorien der heutigen EU - wenn auch unter anderen politischen Titeln - darin vertreten waren. Es umschloß darüberhinaus auch die derzeitigen EU-Beitrittskandidaten Schweden, Norwegen, die Schweiz, Österreich, ja selbst aus den oben angeführten Gründen die Türkei. Mit der Repräsentanz Rußlands und Polens ist schließlich ein wahrhaft universeller Reichstag konzipiert, der der Garant für den Frieden in Europa sein sollte. b) Das Prinzip der gewichteten Repräsentanz Im Gegensatz zu anderen Entwürfen von Friedensorganisationen in Europa, wie die quaerela pacis eines Erasmus von Rotterdam (1518)63, die memoires eines Maxirnilian von Bethune (1617 - 1635) 64, Le nouveau Cynee eines Emeric eruse (1623 )65, La paix perpetuelle eines AbM de Saint Pierre (1713)66, ja selbst der Ewige Friede eines Immanuel Kant (1795)61, geht William Penn nicht von der grundsätzlichen Gleichheit der damaligen Mächte aus, sondern entwickelt ein detailliertes Konzept einer Art Rangordnung der europäischen Staaten. Diese Rangordnung ist aber nicht sosehr von politischen (militärische Macht, Einfluß etc.), sondern ausschließlich von wirtschaftlichen Kriterien bestimmt. Dafür soll aber wiederum nicht das persönliche Einkommen der Fürsten, sondern Penn, Essay, 28. Nämlich jenes des Böhmenkönigs Georg von Podjebrad (1461). Dazu vgl. FischerKöck, Europarecht, Eisenstadt 1986, 13 f. 62 Dazu oben Seite 16. 63 Dazu vgl. Hans-Jürgen Schlochauer, Die Idee des Ewigen Friedens, Bonn 1953, 15 f. 64 Fischer-Köck, Europarecht, 14. 6S Schlochauer, Idee, 80 ff. 66 Ibid., 86 ff.; Fischer-Köck, Europarecht, 14. 61 Schlochauer, Idee, 100 ff.; Fischer-Köck, Europarecht, 15. fIJ

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der Ertragswert des Landes 68 , der sich nach dem Import- bzw. Exportvolumen, den Steuererträgen etc. richtet, maßgebend sein. Da nun die ökonomische Potenz - damals wie heute - der europäischen Mächte unterschiedlich ist, gelangt auch Penn zu einer unterschiedlichen Anzahl von Abgeordneten der jeweiligen Mitglieder seines europäischen Parlaments. Jeder dieser Abgeordneten besitzt eine Stimme; zwar können dabei diese nach Mitgliedstaaten unterschiedlichen Stimmen auch von einem Vertreter des betreffenden Staates abgegeben werden, wie es ja im heutigen EU-Rat bei qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen der Fall ist, doch zieht Penn demgegenüber eine möglichst große Zahl von anwesenden Vertretern in seiner Versammlung vor, wenn er meint: " ... the fuller the Assembly of States is, the more solemn, Effectual and free the debates will be; and the resolutions must needs come with greater Authority ... "69 Zwei Aspekte verdienen hier Beachtung: zum einen, daß die wirtschaftliche Komponente für die Stellung des betreffenden Staates in diesem Parlament primär maßgeblich sein sollte. Dieser Grundgedanke, der hier, soweit ersichtlich, erstmals für den Willensbildungsprozeß in einer internationalen Institution ausgesprochen wurde, ist heute auch für das erwähnte Abstimmungsverfahren im EURat 70 bestimmend. Nicht kann in diesem Zusammenhang Kurt von Raumer 1i gefolgt werden, der mit der Höherbewertung des ökonomischen Bereichs gegenüber anderen menschlichen Betätigungen bei Penn den endgültigen Verlust des christlichen Ansatzes ortet. Die hier von ihm mit großer Akribie behandelte Problematik steht zugegebenermaßen im Gegensatz zu seinen sonst überwiegend religiösen Schriften 72 und mag auch Ausdruck weltzugewandten und vielleicht auch materiellen Denkens sein. Nicht auszuschließen wäre, daß auch deshalb der Essay anonym veröffentlicht wurde. Doch die ultima ratio seines hierin entwickelten Konzepts ist die Verwirklichung eines Friedens in Europa, zu dem wirtschaftlich potentere Staaten eben mehr beitragen können und daher auch ein höheres Mitspracherecht haben sollen. Wo liegt da der Verlust des christlichen Ansatzes? Zum anderen geht Penn zwar von Staatenvertretern aus, die aber nicht absolut weisungsgebunden sind. Wie das obengenannte Zitat zeigt, sind Debatten und auch Meinungsverschiedenheiten zwischen "Gesandten ein- und desselben Staa"Vallue of the Territory". Penn, Essay, 28. Ibid., 29. 70 Michael Schweitzer, Art. 148, in: Eberhard Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, München 1988, 1, der hier vom unterschiedlichen wirtschaftlichen Gewicht der einzelnen EG-Mitgliedstaaten spricht . . 71 Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg 1953, 113, der allerdings die bislang beste deutsche Übersetzung des Essay verfaßt hat. Ibid., 321. 72 Vgl. oben Anm. 8. 68

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tes" denkbar. In diesem Fall soll ein Vertreter der Mehrheit alle Stimmen für diesen Staat abgeben 73 . Im Gegensatz zu allen anderen obenerwähnten Friedensprojekten, die vom herkömmlichen, durch die Weisungsgebundenheit der Staatenvertreter gekennzeichneten Kongreß-System 74 ausgehen, besitzt die Penn'sche dyet bereits echte parlamentarische Züge: seine Versammlung ist bestimmt durch ,,Freiheit und guter Regelung der Diskussion"75, in der Neutralität keineswegs geduldet werden darf76. Auch dieser Aspekt ist von aktuellem Interesse, wenn man sich die heutige Problematik der kollektiven Sicherheit versus Neutralität im System der Vereinten Nationen vor Augen hält 77 . Im einzelnen entsenden die Mitgliedstaaten die nachstehende Anzahl von Vertretern (mit je einer Stimme) ins Parlament: Das (Heilige Römische) Reich. ............................. Frankreich....................................................

Spanien ....................................................... Italien.........................................................

England ...................................................... Portugal ...................................................... Schweden .................................................... Dänemark .................................................... Polen ......................................................... Venedig ...................................................... Die Sieben Provinzen .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dreizehn Kantone ....................................... Die Herzogtümer Holstein / Kurland ....................... Die Türken ................................................... Die Moskowiter (Rußland) ..................................

12 10 10 8 6 3 4 3 4 3 4 2 1 10 10

Insgesamt sind also 90 Vertreter von 15 Staaten in diesem Parlament versammelt, die über 90 Stimmern verfügen 78. Die Stimmen können, wie erwähnt, auch von einem Vertreter eines der Mitgliedstaaten in dieser union abgegeben werden, wodurch dann das Modell der Stimmenwägung, wie es im heutigen EU-Rat der Fall ist, verwirklicht wird. Die Abstimmungen sollen geheim sein 79; bindende Beschlüsse bedürfen der Dreiviertelmehrheit(67,5?) "oder mindestens ... sieben Stimmen über die Hälf73 Penn, Essay, 34. 74 Dazu im weiteren vgl. Fischer-Köck, Europarecht, 15 ff. 75 Essay, 33; vgl. aber den Fall der Abstimmung bei wichtigen Fragen, für den die

Abgeordneten innerhalb von vierundzwanzig Tagen die Instruktionen ihrer Regierung einholen müssen. Ibid., 37. 76 ..... an that Nutralities in Debates should by no means be endured ... " Ibid. 34. 77 Dazu vgl. allgemein Köck-Fischer, Das Recht der internationalen Organisationen, Eisenstadt 1986, 215, 223 ff. 78 Penn, Essay, 29. 79 Ibid., 31. Vor allem zur Vermeidung von Korruption.

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te"80, also 52 Stimmen. Nähere Details überläßt Penn offensichtlich der internen Verfahrensordnung seines Parlaments. Um Vorrangstreitigkeiten zu vermeiden, soll das Sitzungszimmer rund sein und mehrere Türen aufweisen: damit wird wieder auf die Souveränität der Mitglieder Bedacht genommen. Andererseits kommt bei Penn die parlamentarische Idee hier dadurch zum Vorschein, als die Vertreter Zehnergruppen bilden sollen, die also quer durch die Mitgliedsländer gehen können bzw. müssen, wie beim Reich oder bei den kleineren Staaten. Jede der Zehnergruppen wählt eine Person aus ihrer Mitte; die so gewählten Personen führen dann abwechselnd den Vorsitz im Parlament 81 , wodurch ein dem System im EU-Rat ähnlicher Rotationsmechanismus Platz greift, wobei aber Penn keine Aussage über dessen Rhytmus macht: er sagt lediglich an einer früheren Stelle 82, daß das Parlament einmal jährlich oder mindestens einmal in zwei oder drei Jahren oder nach Bedarf zusammentreten solle. Was den Sitz des Parlaments betrifft, so soll er bei seiner ersten Zusammenkunft "so zentral wie möglich" gelegen sein. Bei dieser Gelegenheit können die späteren Zusammenkünfte vereinbart werden 83. Auch zur Sprachenfrage nimmt Penn und zwar wesentlich konkreter - Stellung: sie soll Latein oder Französisch sein. Das Lateinische "wäre gut für Juristen", das Französische "am leichtesten für Männer von Stand"84. Vergleicht man nun die Kriterien, Ziele, Mitgliederstruktur und Arbeitsweise des Penn' schen Parlaments bzw. union mit jenen der gegenwärtigen und zukünftigen der EU, so ergeben sich erstaunliche Parallelen, auf die zum Teil bereits eingegangen wurde und die nun näher erörtert werden sollen. Ziele. Wie es sich schon aus dem Titel seines Essays ergibt, ist das Hauptziel des proposals 8S die Verwirklichung eines Friedens in Europa bzw. die Eliminierung des Krieges, den Penn als Offensive to God bezeichnet 86. Dieser Friedensgedanke beherrschte auch den Anbeginn der heutigen EU, wenn man sich die vom Maastrichter Unionsvertrag 1992 unverändert übernommene Präambel des EGKS-Vertrages 1951 vor Augen hält 87. Die wirtschaftliche und später auch politische Zusammenarbeit diente in den Gemeinschaften erfolgreich ebenfalls diesem Friedensgedanken. Ibid., 32. Ibid., 30. 82 Ibid., 17 in Seetion 4. 83 Essay, 30. 84 Essay, 35. "The frrst would be very weIl for Civilians, but the last most easy for Men of Quality". 85 Essay, 62. 86 Ibid., 44. 87 Hier wird vom "Weltfrieden" (Abs. 1), ,jahrhundertealten Rivalitäten" und "blutigen Auseinandersetzungen", die es zu beseitigen gibt, gesprochen (Abs. 5). Hans J oachim Glaesner, Europarecht. Textausgabe, Baden-Baden 1992,236. 80 81

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Aber auch der Penn' sehe Plan trägt den wirtschaftlichen Vorteilen Rechnung, wenn er als benefit seiner - diesmal so bezeichneten - Liga anführt: ..... Leichtigkeit und Sicherheit von Handel und Verkehr - ein verlorenes Glück, seitdem das Römische Reich in soviele Einzelhoheiten auseinandergefallen ist. Aber wir können uns ... den Vorteil vorstellen, mit dem Reisepaß eines beliebigen Landes durch die Staaten Europas zu reisen, wobei dieser Paß durch die Liga des Friedensstaates legitimiert wird ... "88. Diese Vision Penns hat sich in der gegenwärtigen EU bereits erfüllt. Mitgliederstruktur. Wie bereits erwähnt, sind im Penn'schen Parlament alle Territorien der heutigen EU vertreten. Die Zahl der Mitgliedstaaten ist 15, die in der heutigen EU 12. Nimmt man die vier Beitrittswerber hinzu, so wird die EU in naher Zukunft 16 Mitglieder aufweisen, sodaß zahlenmäßig beinahe eine Identität gegeben ist. Arbeitsweise des Parlaments. Wie in der Europäischen Kommission und im EU-Rat geht auch Penn von der Möglichkeit der Fassung bindender Beschlüsse aus, wobei - hier wie dort - das Mehrstimmigkeitsprinzip gilt. Wie im EURat sind auch im Penn'schen Parlament die Stimmen gewichtet. Bei Penn gibt es insgesamt 90 Stimmen; im derzeitigen EU-Rat 76. Aus den Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Brüssel vom 10./ 11. Dezember 1993 ergibt sich jedoch, daß für die Beitrittswerber Österreich und Schweden je 4, Norwegen und Finnland je 3 Stimmen im Rat vorgesehen sind 89 • So ist - wie im Penn'schen Parlament - auch im künftigen EU-Rat eine Gesamtzahl von 90 Stimmen gegeben. Über das Beschlußquorum (bei Penn: 52 bzw. 67,5 / 68) ist in der künftigen EU noch nicht entschieden. Damit zeigen sich erstaunliche und interessante Parallelen zwischen dem vor 300 Jahren entwickelten Plan einer europäischen Friedensorganisation und der gegenwärtigen bzw. zukünftigen EU, die den juristischen und politischen Weitblick des Quäkers Penn manifestieren.

IV. Wertung William Penn hat im gegenständlichen Werk eine Reihe von Gedanken entwikkelt, die sich nicht nur von allen Projekten über Friedensorganisationen seit Dante und Dubois unterscheiden, sondern auch Elemente enthalten, die heute, also dreihundert Jahre später, von aktuellester Bedeutung sowohl auf regionaler als auch auf universeller Ebene sind. Seine Idee des internationalen Parlamentarismus manifestiert sich in der EU ebenso wie sein vorgeschlagener Prozeß der Willensbildung durch Mehrheit bei Stimmenwägung. Bei letzterem Prinzip mö88 89

Von Raumer, Friede, 336 ff. EU-Doc. 373/93 vom 10. /ll. Dezember 1993, 35.

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gen vielleicht Bedenken dagegen erhoben werden 90, daß z. B. dem (Heiligen Römischen) Reich (Empire) gegenüber England doppelt soviele Stimmen zustehen sollten, was sicherlich nicht den wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprochen hat. Andererseits entspricht aber die Evaluation der übrigen Mächte in seinem Parlament gewiß den damaligen Gegebenheiten, ja sogar zum Teil den heutigen im EU-Rat: Frankreich und Dänemark besitzen hier wie dort 10 bzw. 3 Stimmen; und wie bei Penn soll Schweden auch in diesem EU-Organ in Zukunft 4 Stimmen erhalten 91. Auf universeller Ebene ist sein vorgeschlagenes System der kollektiven Sicherheit heute in der UNO verwirklicht und wird in Zukunft vielleicht auch in Europa im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) Anwendung finden. Wie gezeigt werden konnte, ist Penns Essay durch große Akribie und Liebe zum Detail gekennzeichnet. Allerdings muß auch gesagt werden, daß bei ihm noch manche Frage offenbleibt. Etwa jene, auf weIcher Rechtsgrundlage sein Parlament errichtet werden sollte. Oder worauf sollte die regulation, also die von ihm detailliert dargelegte Sitzungsordnung des Parlaments, beruhen? Auch ist gerade in diesem Punkt seine sonst klare Rechtssprache und Argumentation terminologisch uneinheitlich: für seine zentrale Institution, das Parlament, verwendet er mehr als zehn Begriffe, wie Imperial States, European League, Confederacy, Union, European Parliament etc. Diese Uneinheitlichkeit zeigt sich bereits im Titel des Werkes und hat auch, wie erwähnt, zu fehlerhaften deutschen Übersetzungen geführt. Dennoch ist aber sein Grundkonzept klar: diese durch weIche Rechtsgrundlage auch immer geschaffene Europäische Union soll im Wege einer parlamentsähnlichen und mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Institution eine neue europäische Friedensordnung schaffen. Und diese Vision ist heute mit Instrumenten, wie sie vor dreihundert Jahren von William Penn vorgeschlagen wurden, zum Teil in Europa verwirklicht. Es ist nun abschließend zu hoffen, daß das an die Spitze des Essays gestellte Motiv: "Beati Pacifici. Cedant Arma Togae" auch für die östlichen Bereiche Europas in Zukunft zum Tragen kommen möge.

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So auch von v. Raumer, Friede, 112. EU-Doc. 373/93. Vgl. Anm. 89.

DAS GELÖBNIS DES BUNDESPRÄSIDENTEN UND DESSEN RELIGIÖSE BETEUERUNG Von Rudolf Kirchschläger

1. Der rechtliche Charakter des Gelöbnisses Der Art. 62 des von der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 beschlossenen B undes-Verfassungs gesetzes hat folgenden Wortlaut: "Der Bundespräsident leistet bei Antritt seines Amtes vor der Bundesversammlung das Gelöbnis: ,Ich gelobe, daß ich die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich beobachten und meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen werde.'" Der Wortlaut dieses Gelöbnisses fallt vor allem im Vergleich zur feierlichen Verpflichtungserklärung der Staatsoberhäupter anderer Republiken dadurch auf, daß a) er die Worte ,,Eid" oder "Ich schwöre" vermeidet, und b) in einer sehr nüchternen Sprache ein sehr nüchterner Inhalt ausgedrückt wird. Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz ging im Jahre 1920 - verglichen etwa mit der deutschen Reichsverfassung - einen eher einsamen Weg l . Obwohl Ernst Friesenhahn in seinem Standardwerk über den politischen Eid 2 die Genugtuung Kelsens über den lediglich auf Rechtspflichten des Bundespräsidenten beschränkten Inhalt des Gelöbnisses wörtlich zitiert 3 , stuft er das Gelöbnis des Bundespräsidenten dennoch als Eid ein. Ihm folgt bei sonstiger konsequenter Verwendung des Wortes "Gelöbnis" in dieser Beurteilung auch Klaus Berchtold 4 mit seiner Qualifikation des Gelöbnisses als promissorischen Eid. Hier scheint die im Wesentlichen gleiche feierliche Form der Leistung des Gelöbnisses oder des Eides bei Antritt des Amtes des Staatsoberhauptes, welche in den meisten I Der durch Art. 42 der deutschen Reichsverfassung dem Reichspräsidenten vorgeschriebene Eid lautete: ,,Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wepden, die Verfassung und die Gesetze des Reichs wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde." 2 Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, Bonner rechtswissenschaftliche Abhandlungen I, Bonn 1928 (Neudruck 1979), S. 40 f. 3 Hans Kelsen, Verfassungsgesetze der Republik Österreich Band 5, Anmerkung zu Art. 62. 4 Klaus Berchtold, Der Bundespräsident, Forschungen aus Staat und Recht 9, Springer Verlag, Wien-New York 1969, S. 85 Anm. 28.

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Ländern vorgesehen ist (in Österreich: Art. 38 B-VG), das Ineinanderftießen der beiden Begriffe begünstigt zu haben. Rein formal und auch grammatikalisch verlangt ein Eid m. E. eine ausdrückliche Verwendung des Wortes ,,Eid" oder der Worte "Ich schwöre". Die QualifIkation eines Versprechens als Eid muß für den Eidleistenden und für den Eidadressaten klar und eindeutig erkennbar sein. Denn trotz weitgehender Säkularisierung der geistigen Formation der europäischen Völker ist die Eidestradition doch noch weitgehend wach; dies vor allem auch aufgrund der - glücklicherweise - noch immer sehr negativ besetzten Begriffe des Meineides oder des Eidbruches. Mit oder selbst ohne formelle religiöse Beteuerung enthält der Eid eine in das Transzendente zielende Wirkung. Das Gelöbnis ist auf den eigenen Willen des Gelobenden abgestellt, im Eid verbindet sich der Wille des Eidleistenden nach christlicher Vorstellung mit Gott oder doch mit einer im Metaphysischen liegenden Kraft als Zeuge oder als Hilfe für die Erfüllung des Eides. Der österreichische Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 hat - wohl auch unter dem Einfluß Kelsens - anstelle des Eides das Gelöbnis gewählt. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß diese Entscheidung aus antireligiösen Beweggründen erfolgt wäre. Man wollte vielmehr möglichst uneingeschränkt auf dem Boden des Rechtes bleiben. Die transzendentale Sphäre sollte vermieden werden. Es war wohl auch ein Versuch, dem politischen und wohl auch rechtstheoretischen Streit auszuweichen, ob angesichts der in der Verfassung festgelegten Gleichheit aller Staatsbürger ein in die religiöse Sphäre wirkendes Versprechen in der Form des Eides von allen Bürgern ohne Einschränkung erwartet werden könne s. Man kann auch mit eigener religiöser Überzeugung der österreichischen Beschränkung auf das in die Form eines Gelöbnisses gekleidete Amtsversprechen zustimmen. Es erweist sich im Hinblick auf die verschiedenenorts immer wieder auftauchenden Initiativen zur Beschränkung oder Änderung der Eidesverpflichtung vielleicht sogar als vorausschauend 6 • Der Art. 62 B-VG hat aber nicht nur die äußere Form des Amtsversprechens auf ein Gelöbnis reduziert, sondern auch den Inhalt dieses Gelöbnisses mit großer Zurückhaltung normiert. ,,Die Verfassung und die Gesetze der Republik getreulich zu beobachten" ist eine nicht nur an den Bundespräsidenten gerichtete Erwartung, sondern sollte wohl allgemeine Grundeinstellung aller Bürgerinnen und Bürger sein. Das Versprechen der Pflichterfüllung nach bestem Wissen und Gewissen nimmt zwar auf das Amt des Bundespräsidenten Bezug, macht aber doch auch deutlich, daß dem Bundespräsidenten vom Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 keine allzu großen politischen Rechte und damit auch Pflichten Ernst Friesenhahn S. 6 f. Vgl. die diesbezügliche parlamentarische Initiative Bäumlin im schweizer Nationalrat bei Josi J. Meier, Ich schwöre vor Gott, dem Allmächtigen ... , in: Jahresbericht der Theologischen Fakultät Luzem 1991/92, Luzern 1992, S. 63. 5

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auferlegt worden sind. Verglichen mit dem Gelöbnis des österreichischen Bundespräsidenten nahm sich sowohl der Amtseid des deutschen Reichspräsidenten und nimmt sich auch der Amtseid des deutschen Bundespräsidenten sehr gehaltvoll aus 7 • Dennoch kann auch aus diesem Amtseid keine Erweiterung des Zuständigkeitsbereiches des Bundespräsidenten abgeleitet werden 8 • Umso weniger besteht eine solche Möglichkeit beim Gelöbnis des österreichischen Bundespräsidenten 9. Aus der Wirkung von Festen und festlichen Veranstaltungen auf die Psyche der Menschen kann wohl auch der Schluß gezogen werden, daß unabsichtlich, vielleicht aber dennoch effektiv ein nicht unwesentlicher Teil der nach außen und nach innen ausstrahlenden Wirkung der Ablegung des Gelöbnisses des Bundespräsidenten weniger im Wortlaut des Gelöbnisses begründet ist, sondern in der festlichen Form des Aktes liegt, in welcher das Gelöbnis geleistet wird. Es dürfte aber dennoch die QualifIkation der Angelobung des Bundespräsidenten als Akt protokollarischer Natur 10 nicht ganz der Bedeutung dieser ZustäDdigkeit der Bundesversammlung nach Art. 38 B-VG entsprechen. Die protokollarischen Pflichten sind grundsätzlich Höflichkeitsregeln im weitesten Sinne des Wortes. Die Nichtabgabe oder die nicht dem Wortlaut des Art. 62 B-VG entsprechende Abgabe des Gelöbnisses des Bundespräsidenten verletzt aber niemals eine Höflichkeitsregel, sondern ist ein schwerer Verstoß gegen die Bundesverfassung, der m. E. den Antritt des Amtes hindert. Trotz der Festlegung der Form des Amtsversprechens als Gelöbnis und nicht als Eid und trotz des nüchternen Wortlautes dieses Gelöbnisses scheint es aber dennoch eine Unterbewertung dieses Aktes zu sein, wenn R. Novak die wesentliche rechtliche Bedeutung der Angelobung in der darin konkludent zum Ausdruck kommenden Annahme der Wahl sieht 11.

2. Die religiöse Beteuerung des Art. 62 (2) B-VG Die Verfassungsreform des Jahres 1929 (Zweite Bundes-Verfassungsgesetznovelle vom 7. November 1929, BGBL 392) brachte eine in geduldigen und konstruktiven Verhandlungen erreichte Umwandlung vom radikal-parlamentarischen 7 Das Grundgesetz hat in seinem Art. 56 die Gelöbnisformel des Art. 42 der deutschen Reichsverfassung übernommen und nur dadurch ergänzt, daß neben der Wahrung des Grundgesetzes und der Gesetze des Bundes auch deren Verteidigung in den Text aufgenommen wurde. Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2, Verlag C. H. Beck, München 1980, S. 206 f. 8 Klaus Stern, S. 208. 9 Klaus Berchtold, S. 85. 10 Ludwig K. Adamowich / Bemhard Christian Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, Springer Verlag, Wien-New York, 2. Aufl. 1984, S. 187. 11 R. Novak, Über den Amtsantritt des Bundespräsidenten, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, 1965, S. 286.

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System zum System der parlamentarischen Präsidentschaftsrepublik 12 mit einer nicht unwesentlichen Stärkung der Stellung des Bundespräsidenten. Im Rahmen dieser sehr weitgehenden Reform wurde durch Par. 35 der BundesVerfassungsgesetznovelle dem Art. 62 B-VG ein Absatz 2 angefügt, der lautet: ,,(2) Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig." Zum Unterschied von den meisten übrigen Teilen der Novelle erfolgte diese Änderung ohne große Debatte. Der Text dieses neu eingefügten Absatzes findet sich erstmalig in einem Entwurf, der eine Beilage zum Ministerratsprotokoll vom 14. Oktober 1929 darstellt und auf die Beratungen eines am 30. September 1929 eingesetzten Ministerkomitees zurückgeht, welchem Bundeskanzler Schober sowie die Bundesminister Ing. Schumy und Dr. Slama angehört haben. Als Berater wirkten in diesem Komitee auch Min.Rat Dr. Froehlich und Univ. Prof. Dr. Adamovich mit. In den Ministerratssitzungen vom 14. und 15. Oktober, in denen der Entwurf des Komitees besprochen wurde, wurde der Text des Art. 62 Abs. (2) B-VG genehmigt. Die am 18. Oktober 1929 dem Nationalrat vorgelegte Regierungsvorlage 382 d. Beil. / III. GP enthält in ihrem Motivenbericht keine erläuternden Bemerkungen zu der gegenständlichen Bestimmung. Diese wurde in der ersten Sitzung des vom Verfassungsausschuß des Nationalrates zur Vorbehandlung der Verfassungsvorlagen eingesetzten Unterausschuß (Berichterstatter Dr. Schuschnigg) am 29. Oktober 1929 vom Abgeordneten Dr. Danneberg seitens der Sozialdemokratie für annehmbar erklärt, "da in dem Eid eines religiös gesinnten Menschen nur eine Sicherung für treue Erfüllung seiner Pflicht zu erblicken" wäre 13. In der Folge wurde diese Bestimmung ohne weitere Diskussion im Verfassungsausschuß am 6. Dezember 1929 einstimmig und in der 110. Sitzung des Nationalrates der III. Gesetzgebungsperiode am 7. Dezember 1929 in Zweiter Lesung mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen 14. Von dieser seit 1. Jänner 1930 rechtsgültigen Ermächtigung zur Beifügung einer religiösen Beteuerung bei der Leistung des Gelöbnisses des Bundespräsidenten wurde erstmalig in der 11. Bundesversammlung am 8. Juli 1974 Gebrauch gemacht l5 • Dabei wurden als religiöse Beteuerung die Worte "So wahr mir Gott helfe" gewählt. Zur Frage der Wortwahl sei festgestellt, daß die Verfassung diese demjenigen überläßt, der das Gelöbnis leistet. Die Worte müssen aber als religiöse Beteuerung erkennbar und verständlich sein. Eine Beifügung anderer Art, etwa mit nationalem 12 Hans Klecatsky / Siegbert Morscher, Bundesverfassungsrecht, Manz, Wien, 3. Auf!. 1982, S. 7. 13 Klaus Berchtold, Die Verfassungsrefonn von 1929: Dokumente und Materialien, Verlag Braumüller, Wien, S. 119. 14 Ich danke Herrn Dr. Günther Schetbeck für die Bereitstellung der Unterlagen. 15 Stenographische Protokolle der 11. Bundesversammlung vom 8. Juli 1974.

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oder nationalistischem Hintergrund, würden das Gelöbnis, als nicht mit Art. 62 B-VG überstimmend, verfassungswidrig und damit wohl nicht rechtsgültig machen. Das Gleiche muß auch angenommen werden, wenn anstelle einer religiösen Beteuerung etwa eine Verfluchung oder auch eine zum Kampf aufrufende Devise nach dem historischen Vorbild des "ceterum censeo Carthaginem esse delendam" gewählt würde. Rechtliche Konsequenzen sind mit einer religiösen Beteuerung nicht verbunden 16. Es mag sich daraus die Frage stellen: Welche Momente können einen zum Gelöbnis Verpflichteten veranlassen, eine religiöse Beteuerung beizufügen? Eine Deutung dieser Beweggründe sei im Nachstehenden versucht: Dieser Deutung sei vorausgeschickt, daß es wohl grundsätzlich für den guten Zustand einer Gesellschaft wesentlich ist, daß sich ihre Glieder nicht nur auf das rechtsverbindliche Agieren und Unterlassen beschränken. Die rechtliche Sphäre ist für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft von sehr großer Bedeutung. Mit einer Geringschätzung der Rechtsnormen verliert die Qualität des Lebens für den einzelnen und auch für die Gesellschaft sehr viel. Die leichtfertige Hinnahme von sogenannten Kavaliersdelikten ist hiefür ein deutliches Beispiel. Aber nur Rechtsvorschriften zu erfüllen, ist nicht hinreichend, um gemeinschaftsbildend zu wirken und um auch die im ethischen Bereich liegende Komponente menschlichen Lebens befriedigend abzudecken. Diese transzendentale Komponente hat ihren Grund nicht allein im religiösen Bereich, aber sie ist dennoch sehr häufig auch Ausdruck religiöser Überzeugung. Aus diesem Wissen und aus dieser Zusammengehörigkeit von rechtlichen und ethischen Leitlinien ist es gut vorstellbar, daß ein vom Volk gewählter Bundespräsident das Bedürfnis empfindet, über das der rechtlichen Kategorie zugeordnete Gelöbnis hinaus für sich und mit Verbindlichkeit nur für sich selbst eine Annäherung des Gelöbnisses an einen Eid dadurch vorzunehmen, daß er die Worte "so wahr mir Gott helfe" anschließt, denn diese Worte sind sehr häufig Bestandteil auch einer rechtsverbindlich vorgeschriebenen Eidesformel 17. Dieselben Worte können aber bei unverändertem Gelöbnischarakter auch eine Bitte oder ein Gebet zu Gott zum Ausdruck bringen, wenn der Gelobende im Bewußtsein seiner menschlichen Grenzen Gott um Hilfe bittet, und zwar vor allem dazu, seine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Daß dieses Vertrauen auf Gott, diese Verpflichtungserklärung auch gegenüber Gott und die Kenntnis der eigenen Hilfsbedürftigkeit immer auch mit der Bereitschaft Siehe dazu oben Anm. 5. Die Schweizer EidesfonneI lautet: "Ich schöre vor Gott, dem Allmächtigen, die Verfassung und die Gesetze des Bundes treu und wahr zu halten; die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu wahren; die Unabhängigkeit des Vaterlandes, die Freiheit und die Rechte des Volkes und seiner Bürger zu schützen und schirmen und überhaupt alle mir übertragenen Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe". Vgl. Josi J. Meier, S. 63 Anm. 1. 16 17

3 Festschrift Schambeck

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und mit dem Willen verbunden sein muß, das menschlich Bestmögliche selbst zu leisten, muß wohl für den, der die religiöse Beteuerung ernsthaft spricht, ein unbestrittener Ausgangspunkt sein. Übrigends hat der Abgeordnete Dr. Danneberg das in einem solchen Fall bestehende öffentliche Interesse mit sehr klaren Worten definiert 18. Wer diesen Weg einer religiösen Beteuerung wählt, muß sich allerdings bewußt sein, daß er damit ein öffentliches Bekenntnis zu seinem Glauben abgibt und daher damit rechnen muß, daß seine Amtsführung nicht nur nach den Rechtsvorschriften des Staates, sondern auch nach den Geboten seiner Religion und seines Glaubens gemessen werden kann. Seine Glaubwürdigkeit ist damit einer zweifachen Prüfung ausgesetzt. Da die Wahl der Worte für die religiöse Beteuerung im Art. 62 (2) B-VG nicht geregelt ist, die grammatikalische Interpretation aber jede andere denn eine religiöse Beteuerung ausschließt, wird es sich wohl empfehlen, die Wahl der Worte, soferne sie von der üblichen Eidesabschlußerklärung abweichen, sehr sorgfältig zu prüfen, um nicht durch eine hart an der Grenze des Religiösen liegende Wortwahl die Verfassungsmäßigkeit des Gelöbnisses in Frage zu stellen. Im Übrigen gibt die verfassungsgesetzlich nicht vorgesehene, aber bisher übliche Ansprache des Bundespräsidenten nach Leistung des Gelöbnisses die Möglichkeit, neben den Leitlinien seiner beabsichtigten Amtsführung auch seine religiöse Überzeugung zu akzentuieren oder einer entgegengesetzten Überzeugung Ausdruck zu geben, ohne daß dadurch die Verfassungsmäßigkeit des Gelöbnisses in Frage gezogen werden kann. Die hiemit angestellten Überlegungen einschließlich der Gedanken zur fakultativen religiösen Beteuerung gelten auch für die Angelobung der Mitglieder der Bundesregierung gemäß Art. 72 (1) B-VG und für die Angelobung des Landeshauptmanns und der Mitglieder der Landesregierung gemäß Art. 101 (4) B-VG. Dagegen ist eine religiöse Beteuerung gesetzlich nicht vorgesehen für die Angelobung der der der der des

18

Mitglieder des Nationalrates, Mitglieder des Bundesrates, Bürgenneister, Mitglieder der Volksanwaltschaft und Präsidenten und des Vizepräsidenten des Rechnungshofes.

Siehe oben Anm. 13.

"UNTERSCHEIDEN" UND "TRENNEN" IM RECHTSPHILOSOPffiSCHEN DENKEN DER GEGENWART Von Jose Llompart

I. Einleitende Bemerkungen Zweck dieses Beitrages ist, nur konkret zu zeigen, wie wichtig in unserem Rechtsdenken ist, eine bloße Unterscheidung mit einer Trennung nicht zu verwechseln. An Hand einiger Beispiele werden wir zunächst sehen, wie unpräzis und oft sogar als gleichbedeutend diese zwei Termini gebraucht werden, die heute nicht als Fachausdrücke gelten. Darin liegt m. E. der Hauptgrund der Verwirrung, die heute in der rechtsphilosophischen Diskussion herrscht. Es wäre sicher eine große Zumutung, zu glauben, daß es möglich ist, wieder Ordnung in die rechtsphilosophische Diskussion zu bringen. Die Geschichte lehrt uns, daß eine solche Ordnung niemals existiert hat; sie lehrt uns aber zugleich, daß die Verwirrung immer mehr im Wachsen ist. Das ist nicht eine Sache des Zufalls, sondern ein Produkt der fortschreitenden Dichotomisierung der Inhalte unserer Begriffe, die auch immer mehr im Wachsen ist. Es ist hier nicht möglich, die ganze Problematik der Dichotomisierung zu erörtern 1, sondern nur die Folgen zu zeigen, die eine Verwechselung von bloßer Unterscheidung mit einer Trennung haben kann. Das gilt selbstverständlich auch umgekehrterweise für den Fall, wenn eine notwendige Unterscheidung oder Trennung übersehen wird und ihre Identität proklamiert wird. Es geht also nur darum, eine alte, aber heute vergessene Wahrheit in Erinnerung zu bringen: Bene judicat, qui bene distinguit; auf deutsch etwa: "gut urteilt, wer richtig unterscheidet". Und das gilt auch in umgekehrter Weise: Qui bene distinguit, bene judicat 2 •

1 Über die verschiedenen Aspekte dieser Problematik: J. Llompart, Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts, Berlin 1993. 2 Nicht von ungeflihr werden in der japanischen Sprache für "Verstehen" (wakaru) und "teilen" (wakeru) zwei Worte gebraucht, die denselben Stamm haben und mit demselben chinesischen Zeichen (bun) geschrieben werden.

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11. Unterscheiden oder Trennen? Unterscheiden und trennen sind - auch nach dem "Duden" - sinn- und sachverwandte Zeitwörter, die anscheinend als gleichbedeutend benutzt werden können. So z. B. wenn Walter Ott die Behauptung macht: "Harts rechtspositivistischer Ansatz zeigt sich zunächst in der begrifflichen Trennung von Recht und Moral." 3

Und dann auf derselben Seite: "Diese begriffliche Unterscheidung zwischen Recht und Moral, die Hart lebhaft unterstützt ... ". Sind also Trennung und Unterscheidung gleichbedeutend? Es geht hier um die bekannte und wichtige "Trennungsthese" , die als charakteristisch für alle rechtspositivistischen Theorien gilt, die aber nicht "Unterscheidungsthese" genannt wird. Und wenn Ott später eingehend die Vorteile der positivistischen Trennungsthese behandelt, macht er darauf aufmerksam, daß zwei Versionen der Trennungsthese auseinanderzuhalten sind: ,,1. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es nach der positiven Moral, d. h . . . . 2. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es nach der sog. ,critical morality', d. h .... ". 4 Hier werden wieder anscheinend Trennung und Unterscheidung als gleichbedeutend benutzt. Selbstverständlich können statt Unterscheidung oder Trennung auch andere Wörter benutzt werden: "Die für den Rechtspositivismus charakteristische ,Trennungsthese' vertritt die Unabhängigkeit von Recht und Moral (einschließlich Naturrecht) voneinander"5. Und Kelsen erklärt die ,,Reinheit" seiner Lehre mit folgenden Worten: "Wenn sie sich als eine ,reine' Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exact als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heißt: sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien ... In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt."6 Also: nicht Vermengung, sondern Ausscheidung wird hier verlangt. Aber in einer auch von Herbert Schambeck zitierten Stelle 7 behauptet Kelsen ganz klar: "Daß Staats- oder Gesellschaftstheorie und Ethik in den innigsten 3 Walter On, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 90. 4 On, S. 175. 5 Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien / New York

1982, S. 277.

6 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 1. 7 Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986, S. 14.

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Beziehungen stehen, ist nicht zu verwundern. Denn im Grunde genommen sind beide voneinander gar nicht zu trennen, jene nur ein Teilgebiet dieser ...... 8 In einer späteren Schrift beklagt er sich, "daß zwischen Recht und Moral nicht klar unterschieden wird ...... 9 Ob Kant Recht und Sittlichkeit nur unterschieden oder auch getrennt hat, scheint noch nicht klar zu sein. 10 Tatsache ist, daß Unterscheidung und Trennung nicht als Fachausdrücke benutzt werden und im Sachregister der Bücher der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie nicht zu finden sind. Was mit diesen zwei Wörtern gemeint ist, läßt fast immer mehrere Interpretationen zu. Da aber mit Hilfe der Unterscheidung oder der Trennung zugleich eine These aufgestellt wird, so sollte klar sein, wo der Anfang der Verwirrung liegt. Ich bin der Meinung, daß trotz des großen Fortschritts der Wissenschaft und der Flut neuer Theorien, wir heute noch etwas von der alten und oft ignorierten Vergangenheit lernen können. Von scholastischer Philosophie zu sprechen mag altmodisch, ja sogar lächerlich erscheinen, aber soweit mir bekannt ist, hatten die Denker der Scholastik bezüglich unseres Problems eine klare Fachterminologie, die uns heute fehlt, die aber uns helfen kann. Das heutige Problem ist die Verwirrung zwischen einer Trennung und einer bloßen Unterscheidung. Die Scholastiker haben nur von distinctio (also: Unterscheidung) als die negatio unitatis oder negatio identitatis gesprochen. Sie haben aber auch weiter unterschieden, wie dieses Wort verstanden werden kann, und dazu auch eine entsprechende Terminologie benutzt. Nach dieser Lehre kann die distinctio: 1. realis oder in re sein (Beispiel: die Tinte und das Papier dieser Schrift). Diese distinctio realis kann wieder, a) adaequata wie im Fall des angegebenen Beispieles, b) oder auch inadaequata sein, wie die Form dieses Papiers und das Papier selbst (man kann z. B. das Papier zerknüllen, der Stoff aber bleibt gleich).

2. Die distinctio kann aber auch nur eine distinctio rationis oder distinctio in mente sein. In unserem Kopf (in mente) ist nämlich leichter zu unterscheiden, was in der Wirklichkeit ad modum unius existiert, aber nicht immer in der gleichen Weise. Deswegen wurde diese distinctio wieder, a) entweder als eine 8 Hans Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen / Adolf Merkl / Alfred Verdroß, hrsg. von Hans R. Klecatsky / Rene Marcic / Herbert Schambeck, 2. Bd., Wien / Salzburg 1968, S. 1924. 9 Hans Kelsen, Recht und Moral, Festschrift für Prof. LUls Legaz y Lacambra, 1960, S. 153 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1. Bd., S. 797 ff. (auch von Schambeck, S. 15, zitiert). 10 Nach Schambeck führt das Bemühen Kants um Verinnerlichung der moralischen Entscheidung "zu einer Trennung von Ethik und Recht" (Schambeck, S. 36). Nach Hans / Ludwig Schreiber aber: ,,Durch den Begriff der indirekt / ethischen Pflicht wahrt Kant auch auf der subjektiven Seite die Einheit von Recht und Sittlichkeit" (Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudium zu seiner Geschichte, Bonn 1966, S. 52. Vgl. aber auch S. 40 ff.).

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distinctio rationis ratiocinatae verstanden, d. h. eine distinctio cum Jundamento in re; also als solche nur in unserem Kopf, aber mit einer objektiven Begründung (Beispiel: man kann nicht sagen, daß bei den Geschöpfen die Essenz und die Existenz gleich sind, denn wenn das so wäre, müßten sie auch - wie Gott immer existieren. Diese Unterscheidung hat also einen guten Grund). b) Sie kann aber auch als eine distinctio rationis ratiocinantis verstanden werden, d. h. sine Jundamento in re. Das ist der Fall, wenn mit verschiedenen Wörtern derselbe Inhalt gemeint ist (Beispiel: die Essenz und die Existenz Gottes, die begrifflich gesehen gleich sind; oder wenn wir ,,menschlich" und ,,human" sagen). Diese Art Unterscheidung wurde für die Wissenschaft als irrelevant betrachtet, denn es handelt hier nur um eine "distinctio verbi", nicht aber eine Unterscheidung von dem, was gemeint ist.

Irr. Die Folgen der bloßen Unterscheidung und die der Trennung Nun, wenn ich mich nicht irre, kann mit der heutigen "Trennungsthese" von Recht und Moral als Merkmal der rechtspositivistischen Theorie nur eine distinctio in re, und zwar als adaequata gemeint sein. Denn auch die traditionelle Naturrechtslehre hat, soweit mir bekannt ist, niemals verneint, daß es zwischen Recht und Moral keine Unterscheidung in mente gibt. Sie hat nur eine distinctio realis inadaequata behauptet in dem Sinne, daß nicht alles, was moralisch ist, Recht ist, wohl aber, daß alles, was Recht ist, mit der Moral konform sein soll. Nun ist der heutige Rechtspositivismus realistischer geworden als früher. So verneint z. B. Hart nicht, daß eine faktisch notwendige Verbindung von Recht und Moral besteht, denn das ist eine bloße Tatsache, die keine Theorie widerlegen kann. Aber dazu sagt Bydlinski mit Recht: "Besteht eine faktisch notwendige Verbindung von Recht und Sittlichkeit - und in diesem Punkt ist Hart durchaus zu folgen - , dann ist eine künstliche Trennung der beiden Bereiche durch die Trennungsthese von vornherein mit dem Verdacht der Sachwidrigkeit belastet". 11 In der Tat: man sollte nicht künstlich zwei Elemente trennen, die in der Realität notwendig verbunden sind, auch wenn sie in mente und nicht ohne Grund unterschieden werden können. Was den Sprachgebrauch angeht, scheint mir gleich zu sein, ob wir, begrifflich gesehen (also in mente), diese zwei Elemente nur unterscheiden oder trennen. Wenn aber die Realität als solche gemeint ist, und das ist Sache unserer Intentionalität - die aber in der Theorie oft vergessen wird, weil in der Theorie alles als selbständige Gegenstände objektiviert wird - , dann sollte eine bloße Unterscheidung etwas ganz anderes als eine endgültige Trennung sein. Mit anderen Worten: eine weitere Dichotomisierung unserer Begriffe kann oft möglich sein, die Frage ist aber, ob, was wir in unserem Kopf nur mit Hilfe von Begriffen getrennt haben 11

Bydlinski, S. 289.

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(Reinigung der Begriffe in der "Waschmaschine" unseres Kopfes), auch in der Realität weiter bestehen kann, ohne daß der Gegenstand unserer Dichotomisierung verloren geht. Das hat sogar eine Parallele bei den physischen Gegenständen, wie wenn wir z. B. die Elemente des Wassers in Oxygen und Hydrogen unterscheiden. Keiner wird in Frage stellen, daß Wasser aus diesen zwei Elementen besteht; werden aber sie getrennt, dann haben wir auch kein Wasser mehr, um unseren Durst zu löschen. Das Recht und seine Geltung sind sicher keine physischen Gegenstände wie das Wasser. Sie sind aber auch nicht leere Worte, sondern etwas, was in der menschlichen Handlung eine wirkliche Rolle spielt. Steht auch nichts dagegen, daß Recht und seine Geltung etwas komplexer sei als das, was wir Wasser nennen. Wenn dem so ist, kann (und muß!) man z. B. bei der Rechtsgeltung Normativität und Wirksamkeit unterscheiden. Werden aber beide getrennt, dann geht die Rechtsgeltung verloren. Die früher angegebenen Zitate Kelsens scheinen das zu bestätigen; das bedeutet aber nicht, daß er immer dieser Denkweise treu geblieben ist. Unterscheiden, wo begrifflich und unter verschiedenen Gesichtspunkten unterschieden werden kann, ist immer gut und bedeutet einen Fortschritt unseres Wissens. Es passiert aber oft, daß unbewußterweise mit einer theoretischen Unterscheidung cum Jundamento in re auch eine Trennung sine Jundamento in re gemacht wird, die es in der Realität nicht gibt, und zugleich eine These bezüglich der vorgenommenen Dichotomie hinzugefügt wird, deren Grund nicht die Erfahrung, sondern bloß die theoretische Reinheit der Begriffe ist. So unterscheidet Kelsen mit Recht die Normativität und den jeweiligen Inhalt einer Rechtsnorm, dann aber trennt er beide Elemente, indem er die bekannte positivistische These aufstellt: "Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein". 12 Mit dieser These wird die Allmacht der Rechtsnormativität dem Inhalt gegenüber proklamiert; zugleich wird die vollkommene Ohnmacht jeglicher moralischer Normativität dem Recht gegenüber zum Dogma erhoben. Daß die Gerechtigkeit nicht zum Bereich des Rechts gehört, ist auch nach diesem Denkansatz nur eine Selbstverständlichkeit. Grund für diese Konzeption ist aber nur die Reinheit des Normbegriffs, eine Reinheit, die in unserem Kopf leicht und kostenlos zu erlangen ist. Ob das tägliche Verhalten der Menschen - und das ist die Realität - nur von der reinen und inhaltlosen Normativität bestimmt wird, ist eine andere Sache. Hier liegt m. E. der Grundfehler der Grundnorm und Normativität der Reinen Rechtslehre: eine bloße Unterscheidung ist zu einer vollkommenen Trennung erhoben worden, die zum lebenden Recht nicht mehr paßt. Was man in der Theorie unterschieden hat, soll man auch immer trennen. No comment. 12

Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 201.

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Ganz allgemein kann, wie mir scheint, folgendes behauptet werden: Ohne allgemeine Begriffe ist eine Wissenschaft nicht möglich. Schon bei der Bildung allgemeiner Begriffe wird eine Unterscheidung vollzogen zwischen dem, was allgemein ist, und, was bei den einzelnen bzw. konkreten Gegenständen verschieden sein mag. Uns ist bewußt, daß die allgemeinen Begriffe als solche nirgendwo in der Realität zu finden sind, wohl aber, daß sie ein Jundamentum in re haben und deswegen in unserem wissenschaftlichen Denken so brauchbar wie die Zahlen in der Mathematik sind. Bei der Bildung der allgemeinen Begriffe wird die Vernunft tätig, die ganz spontan fähig ist, zu abstrahieren. Mit der Abstraktion wird durch unser Denkvermögen ein bestimmter Inhalt in Form eines Begriffesjixiert. Hier ist die Vernunft tätig, sie kann aber allein nicht tätig werden: sie braucht immer einen Gegenstand, der je nachdem ganz verschieden sein kann. Dieser Gegenstand wird nicht von der Vernunft geliefert, sondern nur direkt von der inneren oder äußeren Erfahrung (Empirie); oder auch indirekt von unserem Gedächtnis (das aber durch die vergangene Erfahrung bereichert worden ist). Ist einmal ein bestimmter Inhalt als Begriff fixiert worden, kann die Erfahrung einigermaßen außer Acht gelassen und nur von Begriffen Gebrauch gemacht werden. Aber nicht immer. Weitere Erfahrung kann z. B. uns zeigen, daß der in Frage kommende Begriff zu eng ist, oder auch umgekehrt, daß er nicht ganz präzis ist. Das merken wir oft, wenn erst notwendig wird, einen bestimmten Begriff zu definieren. Aber interessanterweise ist die Bildung allgemeiner Begriffe etwas, was sozusagen automatisch geschieht, und zwar, bevor wir uns darum kümmern, seinen Inhalt zu definieren. Auch ein Kind kann z. B. sagen: "Das ist eine merkwürdige Blume!", weil es noch nicht eine Blume dieser Art in seinem Leben gesehen hat. Aber was es sieht, ist sicher für es eine Blume; und das bedeutet, daß es schon einen allgemeinen Begriff von "Blume" hat und daß seine Vernunft schon tätig ist. Das ist so, auch wenn wir von diesem Kind eine Definition der Blume nicht verlangen können. Um es zu wiederholen, ohne allgemeine Begriffe ist eine Wissenschaft nicht möglich. Aber ohne Fixierung auf einen bestimmten Inhalt ist auch ein Begriff nicht möglich. Diese Fixierung, die schnell und spontan geschieht, ist nicht immer definitiv. Sie kann uns später eine Überraschung bereiten, indem wir merken, daß sie voreilig und nicht wirklichkeitskonform war. Das passiert aber nur, wenn man den Kontakt mit der Erfahrung und der Realität nicht verliert. Will man aber nur in der Welt der Begriffe seiner Theorie bleiben, dann braucht man nichts zu fürchten. Man kann sogar mit Erfolg die Waffen seiner Begriffe benutzen, um sich gegen alle fremden Angriffe zu verteidigen. Man ist kein Kind und kann seine Begriffe noch schärfer defmieren. So jemanden zu überzeugen, ist kaum möglich, denn, wie schon Kant gesagt haben soll, man kann einen anderen niemals überzeugen als durch seine eigenen Gedanken, d. h. seine eigenen Begriffe. Definieren bedeutet, abgrenzen oder Grenze setzen. Ist das einmal gemacht worden, so neigt der Theoretiker dazu, sich nicht mehr darum zu kümmern, was

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jenseits der Grenzen seiner begrifflichen Festung liegt. Er kann das ,,Jenseits" seiner Theorie ignorieren oder sogar verneinen. Probleme, die jahrhundertlang die Menschen beunruhigt haben, sind, wenn man in dieser Festung wohnt, nur Scheinprobleme, die für die Theorie keine Bedeutung haben. Kann man nichts mehr "wissen", kann man selbstverständlich anfangen zu "glauben"; Wissen und Glauben sind aber streng zu trennen. Nur wenn die Trennung - nicht die Unterscheidung - vollzogen ist, dann herrscht der ewige Friede in der Wissenschaft. IV. Konkrete Beispiele Was wir heute Recht nennen, wurde von den Römern ius genannt. Die einfache Definition von Celsus, "ius est ars boni et aequi", und die etymologische Verwandtschaft zwischen ius und iustitia zeigen uns ganz klar, daß in diesem Rechtsdenken Moralität und Gerechtigkeit vom Recht untrennbar sind, auch wenn sie in der Rechtsdefmition unterschieden werden. Deswegen wurde in der abendländischen Tradition der Kampf ums Recht als eine gute und humane Sache betrachtet. Eines Tages, und erst in der Neuzeit, haben einige Theoretiker die These proklamiert, daß Recht und Moral ganz verschieden sind und ... deswegen auch zu trennen sind. Die Neuheit der Entdeckung war nicht die Unterscheidung, denn es war schon längst bekannt, daß "non omne quod Zicet, honestum est",13 nicht alles, was rechtlich erlaubt ist, ist (moralisch gesehen) gut. Die Neuheit war und konnte nur die Trennung sein. Daß Recht und Moral zu trennen sind, das hatte sicher früher kein Gelehrter oder Theoretiker behauptet. Es darf aber nicht übersehen werden, daß, auch wenn diese Trennungsthese dem Fachmann gut bekannt ist, sie trotzdem im Rechtsgefühl des Volkes und in der Rechtspraxis keine Bedeutung hat. In China dagegen wurde von Alters her Recht (Ja) und Moral (li) nicht nur unterschieden, sondern sogar in der Praxis einigermaßen getrennt: man soll sich in der Gesellschaft und im Umgang mit anderen Menschen nach den Normen des Li (konkret gesagt: nach der konfuzianischen Moralität) richten und verhalten ohne Anwendung staatlicher Gewalt. Nur wenn das ignoriert wird, und nur in diesem Fall, soll das fa, dessen ursprüngliche Bedeutung Strafe ist, angewandt werden. Man kann also nicht sagen, daß nach dieser Denkweise das Recht ohne irgendeine Beziehung zur Moral steht; beide werden aber als ganz verschiedene Sachen betrachtet und getrennt behandelt. Das Recht ist nicht wie für die Römer eine gute und humane Sache, sondern bloß die Strafe für Unmoralität, d. h. ganz unerwünscht. Dadurch erklärt sich, daß in Ländern wie Japan, die stark unter dem Einfluß der chinesischen Rechtskultur gestanden haben, heute noch eine tiefe Abneigung spürbar ist, Probleme als Kampf ums Recht vor Gericht zu lösen. 13

Digestae, 50, 17, 144.

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Welche von diesen beiden Rechtskonzeptionen (Recht als ius oder Recht als

fa) besser oder vorteilhafter für die Menschen ist, können wir hier offen lassen.

Man kann aber nicht sagen, daß die eine richtig und die andere falsch ist. Nur wenn eine Fixierung des Rechtsbegriffes zum Dogma erhoben wird, ist das möglich. Dann ignoriert aber die Rechtstheorie einen Teil der Rechtswirklichkeit. Da aber diese zwei Konzeptionen nicht nur Theorien, sondern praktische Denkund Handlungsweisen in der Realität gewesen sind, zeigen sie uns ganz klar, daß eine bloße Unterscheidung und eine Trennung nicht dieselben konkreten Folgen haben. In der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ist die Rechtsgeltung zweifellos das Hauptproblem. Um zu wissen, was Rechtsgeltung bedeutet, ist unbedingt notwendig, viele Elemente zu unterscheiden. Das Problem ist aber, zu wissen, welche Elemente zum Geltungsbegriff gehören und welche nicht. Soll nur die Normativität, oder nur die Wirksamkeit, oder beide, oder auch die Moralität und Gerechtigkeit zum Geltungsbegriff gehören? Darüber gehen die Meinungen auseinander, und da wir uns hier schon im Bereich der Theorien und der Wissenschaft befinden, so sollte auch die Freiheit der Meinungsäußerung gelten.

Ich bin der Meinung, daß die verschiedenen Elemente der Rechtsgeltung nicht getrennt werden können, ohne daß die Geltung selbst verloren geht. Das einzige Argument, das ich dafür anführen kann, ist nur, daß diese Denkweise mehr realitätskonform ist; also den Rekurs auf die Erfahrung. Die Erfahrung ist aber für mich wichtiger als die Reinheit der Begriffe. Kelsen hat sogar zugegeben, daß es "einen gewissen Zusammenhang" zwischen Geltung und Wirksamkeit gibt. 14 Wenn er aber die Frage des Geltungsgrundes behandelt, will er von Geltungsinhalt oder Wirksamkeit nichts mehr hören. Da hier die Trennung vollkommen ist, ist das einzige, was helfen kann, eine Grundnorm. So wird die Reinheit der Normativität durch eine Trennung gerettet; und damit können und müssen Gerechtigkeit, Moralität und alles andere als fremde Elemente betrachtet werden, die den Begriff des positiven Rechts beschmutzen würden. In der Welt der Theorie ist das sicher möglich, denn die Begriffe leisten keinen Widerstand, wenn wir sie manipulieren. Die Frage ist nur, ob, was wir mit unseren Begriffen und in unserem Kopf getrennt haben, auch in der Realität des lebenden Rechts sich widerstandslos trennen läßt. Auch die kantische Trennung von Vernunft und Erfahrung, Theorie und Praxis, hat nicht unwichtige Folgen gehabt, die nicht übersehen werden können. Auf der einen Seite - und zum Trost der Vernunft - gibt es ein Vernunftrecht, das von Kant auch "Naturrecht" genannt wird; aber auf der anderen Seite gibt es auch ein positives Recht, d. h. das Staatsrecht, das etwas ganz anderes ist. Wenn es um diese Art Recht geht, so darf der Bürger nicht mehr von der Vernunft Gebrauch machen (er soll nicht "vernünfteln "I), sondern sich brav unterwerfen 14

Kelsen, S. 10.

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und keinen Widerstand leisten. Verneinung des Widerstandsrechts ist in diesem Fall die praktische Folge einer theoretischen Trennung. Es gibt auch Trennungen, die leicht unbemerkt bleiben können. In den letzten Jahren wurde in Deutschland und Japan viel über juristische Argumentation und praktische Vernunft diskutiert. In der juristischen Argumentation muß die Vernunft gebraucht werden, sie als solche, d. h. ohne jeglichen Inhalt, hat uns überhaupt nichts zu sagen und kann sogar nicht einmal funktionieren. Deswegen ist ein reiner Rationalismus unmöglich, und der herkömmliche Rationalismus ist nur die Fixierung einiger Gegebenheiten unter Ignorieren aller anderen durch die Vernunft. Dann glaubt die Vernunft allein tätig zu werden. Ob neben der praktischen Vernunft auch eine unpraktische Vernunft möglich ist (kann die Vernunft unvernünftig werden?), mag dahingestellt bleiben. Meiner Meinung nach gibt es keine Grenze zwischen praktischer und theoretischer Vernunft. Anders ausgedrückt: Die Vernunft braucht niemals auf die Theorie zu verzichten, um praktisch zu werden. Es ist mir wohl bekannt, daß auch von einer "rein praktischen Vernunft" gesprochen wird, das ist aber auch - ganz genau wie die Kantische ,,reine Vernunft" - eine höchst theoretische Sache. In Sachen ,,Recht" scheint mir unvernünftig zu sein, nur von praktischer Vernunft zu sprechen und sie ohne Inhalt verstehen zu wollen. Wenn die Vernunft sich z. B. mit einem mathematischen Inhalt beschäftigt, braucht sie nicht die Klugheit, Tapferkeit, Vorsicht, Toleranz usw. zu berücksichtigen; nicht aber im Fall von ,,Recht". Es kommt oft vor, daß ein Streitfall nur mit Hilfe unseres Wissens und der Rechtswissenschaft nicht lösbar ist. Der Richter muß entscheiden, ohne alles zu wissen, was für eine richtige Beurteilung des Falles gerade entscheidend ist. Aber alles zu wissen, ist normalerweise unmöglich. Salomon konnte dank seiner Klugheit eine richtige Entscheidung treffen, aber nicht, weil er wußte, wer die Mutter des überlebenden Kindes war. In diesem Sinne scheint die heute stark spekulativ gewordene Rechtswissenschaft sich unbemerkt von der prudentia iuris getrennt zu haben.

Auch in allen Varianten des Rechtspositivismus machen sich die Folgen der Trennung spürbar. Eine kritische Würdigung des Rechtspositivismus auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus haben wir Walter Ou zu verdanken 15. Der pragmatische - und nur pragmatische - Denkansatz seiner Analyse des Rechtspositivismus setzt schon eine Unterscheidung oder praktische Trennung von anderen Gesichtspunkten voraus, und so kann er mit Recht behaupten, daß nicht danach gefragt wird, "inwiefern die einzelnen rechtspositivistischen Theorien richtig und inwiefern sie falsch sind, sondern danach, wo ihre Vor- und Nachteile liegen, d. h. danach, wozu sie sich eignen bzw. nicht eignen."16 Ob der Rechtspositivismus nur unter diesem Gesichtspunkt untersucht werden soll, wird selbstverständlich von Ou nicht behauptet. 15 Bei dem schon in Anm. 3 angegebenen Werk. 16 Ott, S. 30.

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Ott ist beizupflichten, wenn er behauptet, daß der Rechtsbegriff bei jeder Theorie auf einer vorwissenschaftlichen Entscheidung beruht und damit nicht im strengen Sinne nachprüfbar ist l7 • Man könnte noch hinzufügen, daß eine solche Entscheidung auf einer Unterscheidung beruht, die oft unbewußt in eine vollkommene Trennung umschlägt. Ott untersucht die Vorteile der Trennungsthese und die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien, ohne die Gegenthese (Naturrechtslehre) außer Acht zu lassen. Ihr wird auch von ihm eine Funktion anerkannt, die unverzichtbar ist 18. Ott kommt zum Ergebnis, daß der Positivist weiß, wovon er redet, und befindet sich in diesem Punkte gegenüber dem Naturrechtier eindeutig im Vorteil. Warum? Weil der Naturrechtler die Existenz zeitlos gültiger Rechtsgrundsätze bejaht, "die vor philosophischen Schwierigkeiten strotzen." 19 Diese Begründung ist überzeugend, wenn man glaubt, daß das Naturrecht zeitlos und nur zeitlos sein kann; nicht aber, wenn man einen anderen Naturrechtsbegriff hat (z. B. ein Naturrecht mit geschichtlichem, aber nicht beliebigem Inhalt). Sicher ist, daß der Rechtspositivismus es leichter hat als die Naturrechtslehre; der Grund dafür ist m. E. ein anderer. Der Rechtspositivismus hat einfach alles getrennt, was Schwierigkeiten machen kann, und in diesem Sinne ist er weniger anfechtbar als die Naturrechtslehre. Die Naturrechtslehre ist gewagter, denn sie hat den Inhalt und die Richtigkeit nicht vom Recht getrennt. In diesem Sinne ist diese Lehre leichter angreifbar, denn sie enthält kein Verbot zum weiteren Nachdenken. Prima facie ist es so und muß es so sein, denn die Naturrechtslehre kommt nicht umhin, erkenntnistheoretisch gesehen, optimistisch zu sein; aber seit Kant ist ein solcher, auch gemäßigter Optimismus, nicht mehr Mode. Heute hat der ethische oder juristische Non-Kognitivismus den Beifall der Mehrheit, auch wenn er - inhaltlich gesehen - nicht neu ist. Es liegt mir fern, hier für die Naturrechtslehre zu plädieren, weil das keinen Erfolg haben kann. Ich bin aber der Meinung, daß, wenn man das erkenntnistheoretische Problem ernst nimmt und nicht beiseite schiebt, sowohl die naturrechtliche Position wie die positivistische in gleicher Weise stark oder schwach sind. Seit Kant ist die Naturrechtslehre in Verruf geraten, weil oft (ganz besonders in Deutschland) unter Naturrecht nur ein untaugliches" Vernunftrecht" verstanden wird 20 • Aber abgesehen von diesem Mißverständnis (,,Naturrecht" gleich KantiOtt, S. 224. Ott, S.267. Ott betont übrigens, daß aufgrund seiner Deutung des juristischen Pragmatismus die von ihm nicht behandelten Naturrechtslehren in einem anderen Licht erscheinen. Sie sind nämlich Schöpfungen der abendländischen Kultur (S. 31, 166). Das mag richtig sein, aber gilt das auch nicht für alle von ihm behandelte Varianten des Rechtspositivismus? 19 Ott, S. 224. 20 Deswegen ist es auch möglich, beide unterschiedlos unter das Stichwort ,,Naturrecht / Vemunftrecht" im Sachregister rechtsphilosophischer Werke zu bringen. So z. B. Ralf Dreier, Recht - Moral- Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main 17

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sches "Vernunftrecht"), ist der Haupteinwand, der heute gegen die Naturrechtslehre erhoben wird, grob gesagt folgender: Wie kann man sich zumuten, die richtigen Maßstäbe für die Beurteilung von Recht und Unrecht objektiv zu erkennen? 21 In der Tat, wenn diese Möglichkeit verneint wird, so ist die Naturrechtslehre auch tot. Nun darf nicht übersehen werden, daß Rechtspositivismus und positives Recht nicht gleich sind. Rechtspositivismus ist nur eine Theorie über das positive Recht 22 , deren Grundaxiom etwa lautet, nur positives Recht ist Recht und alles positive Recht ist Recht 23 • Sie setzt aber stillschweigend notwendig voraus, daß wir das positive Recht objektiv erkennen, denn nur so kann diese Theorie eine Bedeutung für die Praxis haben. Aber ein konsequenter erkenntnistheoretischer Agnostikern wäre mit einem solchen Optimismus nicht einverstanden und würde wegen dieser großen Zumutung Einspruch erheben. In diesem Sinne glaube ich, daß nur, wenn die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Rechtspositivismus außer Acht gelassen werden, diese Theorie stärker als die Naturrechtslehre zu sein scheint. Wenn aber die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis in Frage gestellt wird, so sind beide Theorien gleich schwach oder gleich stark. Es sei noch nebenbei gesagt, daß auch die erwähnte These, "nur positives Recht ist Recht und alles positive Recht ist Recht", als eine für den Rechtspositivismus allgemeine, unveränderliche, ausnahm/ase und folglich zeit/ase Wahrheit gilt. Wäre nur eine Ausnahme dieses anscheinend ewigen Prinzips möglich, so wäre ein echter Rechtspositivismus unmöglich. Damit wird klar, daß die Berufung auf bestimmte ewige und für uns unveränderliche "Wahrheiten" keineswegs ein Monopol der Naturrechtslehre ist.

V. Wichtigkeit der unterscheidenden und trennenden Dichotomisierung Bisher haben wir nur versucht, zu zeigen, wie oft und unbewußt eine Unterscheidung in mente als eine Trennung in re verstanden wird, und die negativen 1981, 5.363. Auch Dreier ist der Meinung, daß, wie die Diskussion seit 1945 gezeigt hat, ein Rückweg zum Naturrecht verschlossen ist (5.61); behauptet aber auch, daß, was traditionell ,,Naturrecht" heißt, für die Neuzeit besser "Vernunftrecht" genannt werden sollte (5. 184). Damit wird aber die Identität dieser zwei Theorien proklamiert. 21 Elegant ausgedrückt: "Denn keiner von uns Menschen hat im Rate der Götter gesessen, wo über die Tafeln des Rechten und Gerechten beschlossen wurde" (Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, 5.242. 22 Auch die Naturrechtslehre kann, trotz des Namens, als eine Theorie über das positive Recht verstanden werden, die einfach die absolute Ausnahmenlosigkeit des Satzes verneint, ,,nur positives Recht ist Recht und alles positive Recht ist Recht". 23 So nach Karl Bergbohm, der auch behauptet: ,,Als Recht ist jedes Recht außer dem positiven schlechthin ein Nonsens" (Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, 5.479).

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Folgen, die aus einer solchen Verwechselung resultieren. Aber auch die Ignorieren einer Unterscheidung, wo sie nicht geleugnet werden kann, oder die Ignorieren einer Trennung, wo sie geboten ist, kann in gleicher Weise nicht weniger schädliche Folgen haben. Ein Beispiel dafür ist der Begriff der Staats souveränität, wie er von Jean Bodin verstanden wurde und jahrhundertlang als ein selbstverständliches Dogma großen Einfluß ausgeübt hat. Man glaubte, es gibt in jedem Staat nur eine Art Souveränität, sie ist immer nur eins, nichts von ihr kann verloren gehen, sie kann auch nicht geteilt werden; genau so, wie es nicht möglich ist, die Essenz oder das absolute Sein Gottes zu teilen. Der Gedanke des mittelalterlichen Begriffes der Souveränität, die "suprema potestas" als "superiorem non cognoscens", wurde so radikal verstanden, daß die Staats souveränität als etwas Unantastbares betrachtet wurde: geht ein Teil verloren, so geht sie ganz verloren. Es ist also nicht zu verwundern, daß nach dem Zeitalter der Monarchie mit dem weiter wirkenden Dogma der unantastbaren Staatssouveränität ein starker Nationalismus gedeihen konnte. Theoretisch gesehen, muß noch gesagt werden, daß mit einem solchen Dogma der Staatssouveränität kein echtes Völkerrecht möglich ist. Auch Hegels "äußeres Staatsrecht" konnte kein echtes Völkerrecht sein. Heute denken wir nicht mehr wie Bodin oder Hegel; aber das haben wir eigentlich nicht einer besseren "Theorie" zu verdanken. Wir haben einfach von der Realität etwas gelernt. Es ist vor allem die bittere Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, die uns gelehrt hat, daß hinter den Slogans "ein Volk, ein Reich, ein Führer" die Menschenvernichtung steht, und das hat uns zugleich ein besseres Verständnis und eine bessere Praxis des Völkerrechts ermöglicht. Die Theorien haben nicht so viel Kraft, die Realität zu ändern, wie die Theoretiker meinen. Später ist auch die Europäische Gemeinschaft entstanden, deren Mitgliedstaaten nicht die Souveränität verloren haben; diese einfache Tatsache hat uns aber gezeigt, daß nicht alles nach dem von Bodin vorgegebenen Souveränitätsbegriff funktioniert. Die Gewaltenteilung mag auch als Beispiel einer bewährten und im modemen Rechtsstaat unentbehrlichen Trennung diesen, auch wenn wir alle wissen, daß diese Trennung oder Teilung nicht vollkommen ist und sein kann. Sie ist aber nicht eine bloße distinctio rationis, sondern eine distinctio realis inadaequata (mehr können wir nicht verlangen). Als letztes Beispiel sei die Trichotomie ,,lndividuum-Gesellschaft-Staat" noch erwähnt. Diese drei Elemente können begrifflich (in mente) adequat unterschieden oder getrennt werden; ihre verschiedene Benennung zeigt uns klar, daß sie nicht denselben Inhalt haben. Sie in re adequat zu trennen, ist einfach unmöglich. Es ist wieder die Erfahrung, die uns gezeigt hat, was zu erwarten ist, wenn nur ein Element dieser Trichotomie unter Ignorieren oder Verneinung der anderen bevorzugt wird. Die Geschichte ist "magistra vitae", und der radikale Individualismus oder Liberalismus, der Sozialismus und der Nationalismus sind schon heute

"Unterscheiden" und "Trennen" im rechtsphilosophischen Denken

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ein Teil der Weltgeschichte geworden. Es sollte also für uns leicht sein, zu wissen, wie in bezug auf diese drei Elemente das "suum cuique tribuere" zu verwirklichen sei. Die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie hat bekanntlich versucht, Gesellschaft und Staat zu identifizieren. Nach dieser Lehre erfordert die Befreiung des Menschen, "den antogonischen Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, von Staat und Bürger zu lösen."24 Das Resultat ist aber nur die Verstaatlichung der Gesellschaft und die Ignorieren des Individuums und seiner Freiheit gewesen. In bezug auf diese Trichotomie können wir auch von der Geschichte Japans etwas lernen. Die jetzige Verfassung dieses Landes hat zum ersten Mal den Individualismus eingeführt; wohl bemerkt, nicht den Liberalismus alten Stils, sondern den Respekt vor dem Individuum und seiner Freiheit, sofern sie dem Allgemeinwohl nicht widerspricht (Art. 13). Wie war es aber in Japan vor dem Zweiten Weltkrieg? Alles, was nicht zur privaten Sphäre des "Ich", d. h. des" watakushi" gehörte, wurde als Sache des sog. "oyake" (annäherungsweise: das Öffentliche) betrachtet. Nach dieser Denkweise wird nicht zwischen Gesellschaft und Staat unterschieden, denn beide gehören undifferenziert zum oyake. Und das war nicht nur eine Denkweise oder Theorie, denn die noch heute bekannte und in den Wörterbüchern gebliebene Maxime "messhi hoko", "sich (das watakushi) vernichten, um dem oyake zu dienen", war damals de facto die Grundnorm der Ethik und des Rechts. Ergebnis dieser zweiteiligen Dichotomie war die Ohnmacht des Individuums dem starken oyake gegenüber. Das mag genügen, um zu zeigen, wie verschieden auch in einer anderen Rechtskultur die Folgen sind, wenn zwei Elemente als identisch betrachtet werden. 25 Als Fazit dieser Erörterungen kann, wie mir scheint, folgendes behauptet werden: Richtig zu unterscheiden, wo eine begriffliche Unterscheidung möglich ist, ist immer gut. Ob und inwieweit eine Unterscheidung auch als eine Trennung betrachtet werden soll, kann uns nur die Realität und die Erfahrung zeigen; nicht die Theorie und ihre Begriffe. Die Dichotomisierung wird immer weiter gehen und der Wissenschaft neues Leben geben. Nur wenn die Theorie zu trennen versucht, was in der Realität verbunden ist, dann wird sie auch von der Realität getrennt, d. h. wirklichkeitsfremd. Zum Trost aber wird die Schere der begrifflichen Trennung niemals fähig sein, die Wirklichkeit zu zerschneiden.

24 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin (DDR) 1975, S.250. Über die "Einheit" von Staat und Gesellschaft vgl. S. 53. 25 Ausführlicher zu diesem Thema: J. Llompart, ,Jndividuo", "sociedad" y ,,Estado" en el Jap6n de la posguerra, in: Prudentia Iuris, Buenos Aires, vol. 24-24, Julio-Dic. 1990, S. 59-81.

DICIT ENIM IURISCONSULTOS

Anmerkungen eines Juristen zu den heiden ersten Artikeln der Quaestio 57 der Secunda Secundae Von Theo Mayer-Maly

I. Aspekte einer juristischen Thomas-Interpretation In der Quaestio 57 der Secunda Secundae findet man die maßgeblichen Aussagen des heiligen Thomas über das Verhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht, zugleich den Schwerpunkt seiner Lehre von der Gerechtigkeit. Theologen haben dieses Stück der Summa 1 schon oft interpretiert 2, Juristen nur sehr selten - und das, obwohl der Aquinate mehrere juristische Autoritäten heranzieht. 3 Naturgemäß erschließen sich einem Juristen andere Aspekte als einem Theologen. Das beginnt schon damit, daß er manchem Übersetzungsvorschlag - auch einem so prominenten wie dem von Utz 4 - nicht immer folgen kann. Thomas hat sich nämlich sehr präzise der juristischen Fachsprache bedient. Diese ist, was nicht verwundern kann, dem Juristen eher geläufig als dem Theologen. Utz 5 übersetzt ius gentium mit "Völkerrecht", Thomas meint aber das von allen Völkern befolgte oder wenigstens zu befolgende, das unter ihnen durch die Natur festgesetzte Recht, damit beinahe das Naturrecht. Utz 6 übersetzt!as mit "Herkommen", es meint aber gerade in dem von Thomas 7 zitierten Passus aus den Etymologiae des Isidor von Sevilla g jene Ordnung, die nach römischer Auffassung das Verhält1 Summen haben im 13. Jh. nicht nur die Theologen, sondern (unter anderen) auch die Juristen geschrieben. Sie sind "zusammenfassende Darlegungen eines Titels der Quellen oder Schriften, die aus solchen Darstellungen aufgebaut sind" (P. Weimar, in H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1, München 1973, 188). Das Wesen einer Summe liegt im Streben nach Zusammenfassung. 2 Hervorgehoben sei J. Pieper, Über die Gerechtigkeit, München 1953. 3 Dazu J.-M. Aubert, Le droit romain dans !'ffiuvre de Saint Thomas, Paris 1955. 4 A. F. Utz, Recht und Gerechtigkeit, Bd. 18 von: Summa Theologica, Heidelberg / Graz 1953. 5 a. a. 0., S. 10. 6 a. a. 0., S. 4. 7 II IIae qu. 57, art. 1,3. g 5,2 (ed. W. M. Lindsay, Oxford 1911/1957/66): Fas lex divina est, ius lex humana. Der Text wurde in das Decretum Gratiani (Dist. 1, c. 1, § 1) aufgenommen. Zur Übernah-

4 Festschrift Schambeck

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nis zwischen den Menschen und den Göttern bestimmte, während das ius als eine Ordnung unter Menschen angesehen wurde. 9

11. Das Recht als Gegenstand der Gerechtigkeit: Obwohl es ars ist Ihren Platz hat die Jurisprudenz bei Thomas in der Tugendlehre zwischen prudentia und iustitia. Die quaestio de iure, eben die qu. 57, beginnt mit der Frage, ob das Recht Gegenstand der Gerechtigkeit sei. Drei Thesen, die der Widerlegung zugeführt werden sollen, zielen darauf, die Bejahung dieser Frage abzulehnen. Die erste These geht von der einzigen Definition des ius durch einen römischen Juristen aus, die auf uns gekommen ist. \0 Es ist dies die von Ulpian bezeugte Definition des um 100 n. ehr. schreibenden Celsus. Für ihn war ius die ars boni et aequi. Eine ars aber, so lautete die These, könne nicht Gegenstand der Gerechtigkeit sein. Sie sei per se eine virtus intellectualis. Thomas läßt diese These nicht gelten. Seine responsio ad primum beruft sich zunächst auf die (richtige) Beobachtung, daß es immer wieder vorkomme, daß ein Instrument die Bezeichnung der Kunst erhält, mit der es eingesetzt wird. Dafür nennt Thomas an erster Stelle die Medizin und an zweiter Stelle das ius. Im Anschluß daran gibt Thomas drei Verwendungsweisen des Wortes ius an:

1. zur Bezeichnung einer res iusta; 2. zur Bezeichnung der ars, durch die erkannt wird, was iustum ist;

3. zur Bezeichnung des Ortes, an dem Recht gesprochen wird. Der volle Bedeutungsgehalt und der beeindruckende Feinsinn dieser Aussagen erschließen sich erst dem, der den neueren rechtshistorischen Forschungsstand kennt. Wer ius aus dem Verständnishorizont der Neuzeit her und damit als einen Komplex von sanktionierten Normen deutet, hat es schwer, einen Zugang zum Denken des Aquinaten zu fmden. Zu 1. Während die Römischrechtler durch lange Zeit ius als Bezeichnung für den "Gesamtumfang der Rechtsordnung" 11 verstanden haben, dringt in neuerer Zeit vor allem durch Arbeiten von Wieacker l2 die auf flühe Quellen gestützte Annahme vor, ius meine die jemandem zustehende Rechtsbetätigung, seine geme römischrechtlicher Texte durch das Dekret J. Gaudemet, Österreichisches Archiv

für Kirchenrecht 12, 1961, 177 ff.

9 Vgl. P. Noailles, Fas et ius, Paris 1948; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, MÜßchen 1988,275 f. \0 Zu dieser Definition sehr eingehend P. Cerami, La concezione ceisina deI ,,ius", Palermo 1985 (auch Bd. 38 der Annali deI Seminario giuridico dell'Universita di Palermo). 11 Wieacker, a. a. 0., 267. 12 Nachgewiesen bei Wieacker, a. a. 0., 267, Fn. 1.

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rechte Sache. Ob sich Thomas durch Analyse der Sachstrukturen oder durch seine Quellenkenntnis (man denke an Cicero) dieser Auffassung genähert hat, muß wohl offen bleiben. Zu 2. Für uns Heutige ist Rechtswissenschaft eine Lehre, die besagt, wie Recht angewendet werden soll. Für die Römer, deren Denkweise Thomas gut kannte, war sie selbst Rechtsquelle. Gaius 13 stellt die responsa prudentium neben leges, Plebiszite und Senatskonsulte. Zu 3. Eine sehr alte Verwendungsweise von ius bezeichnet den Ort, an dem Recht gesprochen wurde. 14 Die Ladung vor Gericht heißt in ius yocatio. Das Zwölftafelgesetz (um 450 v. Chr.) beginnt mit den Worten: si in ius yocat ito. Die Beobachtung, daß ius auch die Gerichtsstätte bezeichnen könne, hat Thomas - was selten gesehen wird - ebenso wie die angeschlossene Bemerkung, daß auch die unrichtige Entscheidung Rechtsprechung sei, offenbar vom Juristen Julius Paulus (Digesten 1, I, 11) übernommen.

111. Das Recht als Gegenstand der Gerechtigkeit: obwohl das Gesetz eine species iuris ist Die zweite These, mit der sich Thomas auseinandersetzt, geht von der Defmiton der lex als species iuris bei Isidor von Sevilla 15 aus. Da das Gesetz eher Objekt der Klugheit als der iustitia sei und von Aristoteles 16 als deren Teil gesehen werde, könne das Recht, dessen species das Gesetz sei, nicht einen Gegenstand der Gerechtigkeit darstellen. Dem hält Thomas in der responsio entgegen, bei dem, was durch eine ars geschaffen wird, gehe die ratio in mente artificis dem Werk voraus. So gehe auch die Gerechtigkeit dem gerechten Werk - hier dem Gesetz - voraus. Das Gesetz sei schriftliche Niederlegung einer Regel der Klugheit, sei - wie Isidor von Sevilla 17 sagte - constitutio scripta. Es sei nicht selbst das Recht, sondern dessen ratio. Um die Aussage von Thomas zu erfassen, muß man die von Isidor verstehen. Sie hat die spätantike Rechtsquellenlehre zur Voraussetzung. Diese kennt zwei Teile des Rechts: ius und lex. 18 Als ius bezeichnete man die Lehren der Juristen, Institutiones 1, 2 und 7; Gaius lebte im 2. Jh. n. ehr. Dazu besonders Kaser, Das altrömische ius, Göttingen 1949,27 f. 15 Etymologiae 5, 3, 1 (ed. Lindsay). Auch dieser Text kehrt im Decretum Gratiani (Distinctio 1, c. 2) wieder. Die beiden ersten Distinktionen des Dekrets und damit dessen allgemeine Rechtslehre werden nicht etwa vom 1. Titel des 1. Buches der Digesten getragen (wie es bei Thomas der Fall ist), sondern von Isidor. 16 Nikomachische Ethik 6, 8; 1141 b 25. 17 Etymo1ogiae 5, 3, 2. 18 G. Dulckeit / F. Schwarz / W. Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, 8. Aufl., München 1989,296 f. 13

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als leges die Anordnungen der Kaiser. Diese hießen auch constitutiones l9 • Deren Schriftlichkeit in einer Welt mit viel Analphabetismus 20 zu unterstreichen, war durchaus angebracht. - Bedenklich wäre es, die responsio des Aquinaten dahin zu verstehen, daß er das Gesetz für die dem Recht zugrunde liegende Vernunft, für seine Grundlage gehalten hätte. Bei Thomas 21 ist wie schon bei Cicero 22 das Bedeutungsfeld von ratio 23 ungleich weiter als unsere "Vernunft". Bei ihm dürfte die Niederlegung von Recht im Gesetz dazu geführt haben, daß er die lex als ratio iuris bezeichnete. IV. Das Recht als Gegenstand der Gerechtigkeit: obwohl es zu den menschlichen Dingen gehört, während die Gerechtigkeit den Menschen Gott unterwirft Die dritte von Thomas geprüfte These geht dahin, das Recht könne nicht Gegenstand der Gerechtigkeit sein, weil das ius eine lex humana sei 24, während die Gerechtigkeit von einer Unterwerfung des Menschen unter Gott ausgeht. Die responsio geht von der ausgleichenden Funktion der Gerechtigkeit, also von der iustitia commutativa, aus. Eine äquivalente Kompensation Gott gegenüber ist dem Menschen aber verschlossen. Daher könne von der lex divina nicht proprie als ius gesprochen werden. Sie werde besser als Jas bezeichnet. Die mit der Lehre vom ius divinum 2S verbundene Schwierigkeit wird in der 3. These des 2. Artikels der quaestio 57 nochmals angesprochen. Diese Schwierigkeit wurde auch von Karl RahnerU, gesehen, der allerdings nicht auf Thomas Bezug genommen hat. Sie besteht darin, daß es bedenklich wäre, zwischen Mensch und Gott eine Rechte-Pflichten-Relation anzunehmen, wie sie das ius zwischen Menschen konstituiert. Deshalb sagt Thomas, die lex divina nenne man non proprie ius. Darauf folgt eine Aussage von theologischer Tiefe: Wir können Gott kein Äquivalent leisten. Doch genügt es ihm, wenn wir tun, was wir können.

Vgl. den Digestentitel 1, 4:De constitutionibus principum. Vgl. R. Calderini, in: Aegyptus 30 (1950) 14 ff.; J. Fröschl, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung f. Rechtsgeschichte, romanistische Abt. (= SZ) 104 (1987) 85, 89 ff. 21 z. B. De veritate 22, 13. 22 Dazu J. Peghairre, Intellectus et ratio selon St. Thomas d'Aquin, Paris 1936. 23 Dazu B. Kible, Art. ,,ratio" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 37 ff. 24 In dieser QualifIkation folgt Thomas den Etymologien (5, 2) des Isidor von Sevilla. 2S Vgl. für ihre kirchenrechtliche Umsetzung c. 27 des alten und c. 24 des neuen Codex iuris canonici. 26 Schriften zur Theologie, Bd. 5, Einsiedeln 1962, 249 ff. 19

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V. Ist es sinnvoll, das Recht in Naturrecht und positives Recht zu gliedern? Im Zeichen dieser Frage steht der 2. Artikel der Quaestio 57 der Secunda Secundae. Dabei will beachtet sein, daß Thomas divisio offenbar als eine Einteilung versteht, die eine Materie ausschöpft und nichts Drittes neben sich zuläßt. In diesem Verständnis von divisio folgt er antiker Tradition, die so die divisio von einer partitio unterschieden hat. 27

Drei Thesen sollen die Sinnhaftigkeit einer alles Recht aufteilenden Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht in Frage stellen: 1. Es gebe überhaupt kein Naturrecht.

2. Es gebe überhaupt kein positives Recht. 3. Das ius divinum lasse die Gliederung des Rechts in Naturrecht und positives Recht nicht als eine vollständige, eben nicht als eine divisio erscheinen.

VI. Gibt es Naturrecht oder gibt es dieses nicht? Für die Behauptung, es gebe kein Naturrecht, führt Thomas eine These an, die so alt ist wie die Naturrechtslehre selbst: Es gebe in rebus humanis nichts, was unveränderbar und überall gelte. Vorausgesetzt wird mit dieser These, daß alles Naturhafte unveränderbar und bei allen anzutreffen sei. 28 In der Tat haben sich Naturrechtslehrer - besonders Christian WolfP9 - oft bemüht, Sätze nachzuweisen, die immer und überall als Rechtssätze anerkannt wurden. Aus diesen Bemühungen sind vorzügliche KodifIkationen wie das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch von 1811 erwachsen. Dennoch ist der Gedanke, das Naturrecht als einen Codex wie sonst ein qesetz zu erfassen, gescheitert. In der Widerlegung der These, es gebe kein Naturrecht, schickt sich Thomas durchaus nicht an, bestimmte Sätze als naturrechtlich gebotene Rechtssätze, als Elemente eines Codex zu reklamieren. Er geht vielmehr von der Veränderlichkeit der Natur des Menschen aus. 30 Daher entfalle bisweilen das, was dem Menschen naturhaft ist. Hiefür gibt Thomas ein Beispiel, dessen Verflechtung mit antiker Rhetorik bisher ebenso wenig beachtet wird wie seine Relevanz für neueste

Zu dieser Unterscheidungsweise D. Nörr, Divisio und partitio, Berlin 1972. Diese Voraussetzung geht auf die Nikomaschiche Ethik (5, 10; 1184 b 25) zurück und dürfte das semper bei Paulus Dig. 1, 1, 11 ausgelöst haben. 29 Institutiones Iuris Naturae et Gentium, Halle 1790/ Hildesheim 1969 30 Dem entspricht die von A. Verdroß, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg i. Br. 1971,92 ff. vorgenommene Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Naturrecht: Wegen ständiger Änderung der Verhältnisse müssen die Grundsätze des primären Naturrechts ständig durch sekundäres angepaßt werden (a. a. O. 110). 27 28

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Zivilrechtsdogmatik: Es hat jemand eine Waffe hinterlegt. Als er dies tat, wirkte er ganz nonnal. Nun, da er die Ausfolgung des Hinterlegten begehrt, ist er wahnsinnig oder zu einem Staatsfeind geworden. Mit Cicero 31 und den Legisten seiner Zeit 32 entschied Thomas, in diesem Sonderfall müsse der Verwahrer das hinterlegte Objekt nicht herausgeben, obwohl die naturalis aequalitas grundsätzlich fordere, daß ein depositum ausgefolgt werde. Die bei Thomas stehenden Worte ut deponenti depositum reddatur entsprechen genau dem Text der in ius konzipierten Fonnel der aetio depositi, wie wir sie aus den Institutionen des Gaius 33 kennen. In der neueren juristischen Dogmengeschichte 34 hat sich aus dieser ausnahms weisen Aufhebung der Rückgabepflicht die Lehre von der clausuLa rebus sie stantibus, aus dieser wieder die Lehre von der Geschäftsgrundlage 35 entwickelt. In dieser manifestiert sich für besonders gelagerte Fälle die Unerläßlichkeit einer Korrektur des positiven Rechts durch Naturrecht. Schon deshalb ist dieses anzuerkennen.

VII. Gibt es eigentlich positives Recht? Die Aufgliederung des Rechts in Naturrecht und positives (= gesetztes) Recht wäre auch dann nicht sinnvoll, wenn es positives Recht gar nicht gäbe. Daß es dieses wirklich nicht gibt, ist die zur 2. These des 2. Artikels der quaesto 57 zu diskutierende Behauptung. Ihr Ansatz besteht aus zwei Prämissen: Das Gerechte sei dasselbe wie das Recht; das positive Recht gehe aus dem menschlichen Willen hervor. Da dieser auch auf Ungerechtes zielen könne und damit selbst ungerecht sein könne, sei nicht gewährleistet, daß Satzung zu Recht führe. Auf diese Weise gelangt man zu dem zunächst seltsam anmutenden Resultat, es gäbe kein positives Recht. Mit dieser Behauptung hätte sich Thomas auf verschiedene Weise auseinandersetzen können. Er hätte vorbringen können, daß es doch ziemlich viel gerechtes und nur wenig ungerechtes positives Recht gebe. Er hätte ausführen können, daß ein Abgleiten in Ungerechtigkeit zur menschlichen Natur gehöre, an der das ius teilhabe. Thomas hat einen anderen Weg beschritten: Er anerkennt einen weiten 31 De officiis 3, 25, 95; vgl. auch Seneca, De beneficiis 4, 39, 4. Thomas hat gewiß auch Augustinus, Enarrationes in Psalmos 5, 7 gekannt, einen vom Decretum Gratiani (C. 22, qu. 2, c. 14) übernommenen Text. In den Naturrechtskatogen Isidors (5,4) und Gratians (Dist. I c. 7) begegnet die Herausgabepflicht des Verwahrers ohne jeden Vorbehalt. 32 Wie R. Feenstra, in: Daube noster (Hg. A. Watson), Edinburgh/London 1974, 77 ff., 82 gezeigt hat, war es vor allem der Glossator Pillius, der das Thema aufgegriffen hat. Feenstra würdigt auch (a. a. 0., 84 f.) den Anteil von Thomas und seinen Kommentatoren, bedsonders von Cajetanus. 33 4,47; dazu O. Lenel, Das Edictum perpetuum, 3. Auf!. Leipzig 1927,289. 34 Zu ihr besonders G. Beck-Mannagetta, in: Index 3 (1972) 514 ff. 35 Vgl. K. Larenz, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, 3. Auf!. München 1963.

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Spielraum der positiven Satzung. In vielen Fällen kann sie etwas zum Recht machen, was von der naturalis iustitia her weder gerecht noch ungerecht ist. Thomas folgt wieder einmal dem Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik (5, 10; 1134 b 20) gesagt hatte, in Dingen, bei denen es von Natur aus keinen Unterschied mache, ob man es so oder anders halte, bringe die Festsetzung einen Unterschied. Sie macht den Verstoß gegen die Setzung ungerecht, deren Befolgung aber gerecht. Konsequent sagt Thomas: Et in his habet locum ius positivum. Als Instrument der Positivierung nennt er das commune condictum, die allgemeine Festsetzung. Diese erfolgt, wie man aus dem "allgemeinen Teil" der responsio zum 2. Artikel ersehen kann, entweder durch Zustimmung des ganzen Volkes zu einer Regelung oder durch Anordnung eines Herrschers. Dort schon sagt Thomas: Et hoc dicitur ius positivum. Durch Setzung kann nach Thomas nur das nicht gerecht werden, was dem Naturrecht widerspricht. Als Beispiele nennt er die Erlaubnis zum Stehlen oder zum Ehebruch. Angesichts der für die voluntas humana offenen Möglichkeit ungerechter Satzung übernimmt Thomas den Wehruf des Isaias 00, 1): Vae qui condunt leges iniquas. Die responsio ad secundum macht entgegen verbreiteten Fehlvorstellungen über thomistisches Naturrecht deutlich, daß der Aquinate die Aufgabe des Naturrechts sehr beweglich sieht und es nicht an Respekt vor dem positiven Recht fehlen läßt. Das Naturrecht ist für Thomas eben nur eine dem positiven Recht gesetzte Schranke und kein Codex. Er will kein geschlossenes System von Verhaltensregeln aufstellen, sondern denen, die Normen (des Gesetzes- oder des Gewohnheitsrechts) aufstellen, sagen, wie weit sie gehen dürfen und was nicht als ius gelten kann.

VIll. Beraubt die Anerkennung von ius divinum die Gliederung des Rechts in positives und Naturrecht ihrer Vollständigkeit? Die dritte These, die man an der Spitze des 2. Artikels antrifft, geht dahin, daß es neben dem ius naturale und dem ius positivum ein drittes Recht gebe: das göttliche Recht (ius divinum). Naturrecht ist das ius divinum nach dieser These nicht, weil es über die natura humana hinaus greift. Positives Recht ist es nicht, weil hinter ihm nicht menschliche, sondern göttliche Autorität 36 steht. Ist göttliches Recht aber etwas Drittes, so nimmt es der Einteilung des Rechts in ein natürliches und ein positives den Charakter einer divisio, weil es deren Vollständigkeitsanspruch nicht genügt. 36

Über Autorität als Grundlage von Rechtsgeltung (vor allem im Denken von A.

d'Ors) R. Domingo, Teoria de la ,auctoritas', Pamplona 1987; dazu Th. Mayer-Maly,

SZ (s. oben Fn. 20) 109, 1992,629 ff.

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Die Auskunft, die Thomas in seiner responsio ad tertium anbietet, ist ganz einfach: Er unterscheidet auch für den Bereich des ius divinum zwischen positivem und Naturrecht. Die ersteren Normen nennt er - wie auch die neuere Kirchemechtswissenschaft37 - ius divinum positivum, die letzteren ius divinum naturale. Der eine Teil des ius divinum beruht auf göttlicher Einsetzung, den anderen möchte man aus heutiger Sicht auf seine natürliche Einsichtigkeit stützen. 38 Gerade diese aber nimmt Thomas nicht in Anspruch. Die Gerechtigkeit dessen, was von Natur aus gerecht ist, ist den Menschen verborgen (es heißt latet und nicht etwa patet). Wahrscheinlich erklärt sich diese überraschende Aussage mit der Ablehnung der Erfassung von Naturrecht über einen Codex. Läge die naturhafte Gerechtigkeit zutage, würde sich alles positive Recht - das menschliche wie das göttliche - erübrigen. Auch bedeutet latet nicht, daß etwas unerkennbar wäre. Die Erkennbarkeit des Latenten hängt ab von der Intensität unserer Bemühung und vom Entwicklungsstand unserer Erkenntnisfähigkeit. Wenn Thomas dann sagt, es gebe in der lex divina Gebote, weil das Gebotene gut, und Verbote, weil das Verbotene schlecht sei, so meint er das ius divinum naturale. Mit einem eleganten Wortspiel sagt Thomas, daß dies sich bei dem ius divinum positivum umgekehrt verhält: Dort ist etwas gut, weil es geboten, und schlecht, weil es verboten ist.

IX. Recht und ausgleichende Gerechtigkeit Die Eigenart der Rechtslehre des Aquinaten wird vom allgemeinen Teil seiner responsio zum Artikel 2 am besten erschlossen. Das Recht wie das Gerechte sind für Thomas ein dem anderen angepaßtes, an ihm orientiertes Werk (opus adaequatum alteri). Einem Österreicher muß die Entsprechung zur ,,Philosophie des Du" von Ferdinand Ebner 39auffallen. Das Rechtsdenken von Thomas geht nicht vom Behaupten eigenen Rechts, von Selbst-Gerechtigkeit aus, sondern ist am anderen ausgerichtet. Dieser Haltung entspricht seine bis in die Gegenwart 40 immer wieder aufgegriffene Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa). Bei dieser denkt man zunächst an den Ersatz irgendwelcher Schäden, während die Verteilung von Gütern (etwa durch Sozialpolitik oder durch Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes) als Sache der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva) angesehen wird. Zur ausgleichenden Gerechtigkeit entwickelt Thomas ein viel weiter ausgreifendes und moderneres - oder besser: zeitloses - Verständnis. Er unterscheidet zwischen 37 Z. B. E. Eichmann I K. Mörsdorj, Lehrbuch des Kirchenrechts, Bd. I, 11. Aufl. München 1964, 4. 38 So denn auch H. Heimertl H. Pree, Kirchenrecht, Wien 1983, 14. 39 Schriften, Bd. I, München 1963, 645 ff. 40 Vgl. F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien 1991, 357 ff.

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einem Ausgleich nach der "Natur der Sache"41 und einem Ausgleich nach Übereinkommen. Der von der Natur der Sache gebotene Ausgleich steht im Zeichen der Äquivalenz der Leistungen beider Seiten. Der Jurist ist um Beispiele für diese Art von Äquivalenz nicht verlegen. Er kann alle Verträge auf Rückgabe (Verwahrung, Leihe, Darlehen und Pfandvertrag) sowie jene Austauschverträge anführen, bei denen Leistung und Gegenleistung gleich viel wert sind. Das kann, aber muß nicht bei Kauf, Tausch, Miete, Arbeits- und Werkvertrag der Fall sein. Thomas ordnet den Bereich der schon aus der Natur der Sache resultierenden Äquivalenz dem Naturrecht zu: Et hoc vocatur ius naturale. Dieser Art der Äquivalenz stellt Thomas jedoch - und das ist das an seiner Konzeption Modeme - eine gewillkürte gegenüber. Sie wird entweder durch private Vereinbarung (condictum privatum) oder durch Gemeinschajtsbeschluß (placitum commune) herbeigeführt. Bei der privaten Vereinbarung genügt es, daß jeder der Vertragsteile sich damit zufrieden erklärt, eine bestimmte Leistung zu erhalten. Hier bekundet Thomas nicht mehr und nicht weniger als die Privatautonomie 42 , die Möglichkeit der rechtlichen Selbstbestimmung. Das hauptsächliche Instrument der Privatautonomie sind die Vereinbarungen, die pacta. Was durch irgendeinpactum (aliquo pacto) festgelegt wurde, gilt Thomas als ein im Zeichen der aequalitas stehender Leistungsaustausch. Hier hält es der Aquinate mit den dem kirchlichen Recht verpflichteten Kanonisten und nicht mit den am römischen Recht orientierten Legisten. Diese gaben nämlich nicht aus allen pacta Klagen. Die uns so geläufige Maxime pacta sunt servanda war keine Regel des römischen Rechts. Nach römischem Recht waren nur Kontrakte und ein Teil der pacta (z. B. die mit einem Kontrakt verbundenen) klagbar, die sogenanntenpacta nuda dagegen nicht. 43 Es gehört zu den großen Leistungen des Kirchenrechts für das Privatrecht, die Einklagbarkeit aller Vereinbarungen, die nicht gesetz- oder sittenwidrig sind, durchgesetzt zu haben. 44 Über das Wertverhältnis zwichen den Objekten einer Vereinbarung sagt Thomas in diesem Zusammenhang nichts. Daß die eine Leistung nicht mehr als das Doppelte und nicht weniger als die Hälfte der anderen Leistung wert sein dürfe, wurde zwar im diokletianischen und dann auch im justinianischen Recht statuiert 45 , aber in mehreren frühmittelalterlichen Quellen aus dem Westen nicht gefordert. 46 An einem Wertmißverhältnis, der sogenannten laesio enormis, ließen auch Texte aus dem Liber extra einen Vertrag 41 Vgl. H. Schambeck, Der Begriff der ,,Natur der Sache", Wien 1964; R. Dreier, Zum Begriff der ,,Natur der Sache", Berlin 1965. 42 Zu ihrem Verständnis H. Merz, Privatautonomie heute, Karlsruhe 1970; Th. MayerMaly, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14, 1989, 268 ff. 43 Dazu Th. Mayer-Maly, Römisches Privatrecht, Wien 1991, 85 ff. 44 Vgl. U. Wolter, lus canonicum in iure civili, Köln/Wien 1975, l00ff. 45 Codex lustinianus 2, 44, 2 und 8 zu Verkäufen gegen zu niedrigen Preis. 46 Codex Euricianus 294; dazu Th. Mayer-Maly, SZ 98,1991,213,225 ff.; H. Siems, Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, Hannover 1992, 223 ff.

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scheitem 47 - wie heute die §§ 933 und 934 ABGß. Ob Thomas in seinem Argumentationszusammenhang die Frage des Wertmißverhältnisses nicht für erörterungswürdig hielt oder ob er der laesio enormis überhaupt skeptisch gegenüberstand, muß hier offen bleiben. Die Anerkennung einer aequalitas zwischen Leistungen durch ein placitum commune ist nach Thomas auf zweifache Weise möglich: durch Festsetzung seitens des gesamten Volkes oder durch Anordnung eines Herrschers. Für den ersten Fall spricht Thomas vom Konsens des ganzen Volkes. Ob er diesen als Versammlungsbeschluß wie in einer Appenzeller Landsgemeinde versteht oder ob er auch Entscheidungen durch gewählte Repräsentanten einbezieht, kommt nicht zum Ausdruck. Da - was hier nicht näher ausgeführt werden kann Thomas eher im Hinblick auf einen italienischen Stadtstaat als auf ein großes Reich schreibt, ist wahrscheinlicher, daß er an Versammlungsbeschlüsse dachte. Wird ein Gemeinwesen mehr autokratisch regiert, kommt die zweite Erscheinungsform des placitum commune zum Zug: die Anordnung des Herrschers (princeps) , der die Sorge für das Volk hat und seine Person 48 darstellt (et eius personam gerit). Der princeps - eher der podesta einer italienischen Stadt erscheint hier als ,,Personifikation" seines Volkes, dem dessen Angelegenheiten anvertraut sind. Was er anordnet, was das Volk beschließt und was Einzelne vereinbaren, kann eine aus der Natur der Sache nicht ablesbare Gleichwertigkeit von Leistungen herstellen. All dies heißt positives Recht. Diesem weist Thomas Bedeutung für viele Angelegenheiten zu. Man wird ihm nicht gerecht, wenn man in ihm nur den Naturrechtslehrer und nicht auch einen vorzüglichen Theoretiker des positiven Rechts sieht.

x. Zusammenfassende Würdigung Eine Analyse, die nur zwei Artikel einer einzigen quaestio zum Gegenstand hat, kann naturgemäß keine Aussagen mit umfassendem Anspruch tragen. Immerhin kann festgehalten werden: 1. Eine juristische Betrachtung der Thomas-Texte erschließt für diese Dimensionen, denen die hergebrachte Interpretationsweise nicht gerecht werden konnte. 2. Es stellt sich heraus, daß Thomas mit großer Sachkunde viele aktuelle Rechtsproblerne seiner Zeit angesprochen hat, daß aber seine Konzepte auch für die modeme Jurisprudenz wichtig sind. Das gilt etwa für seinen Anteil an der Entwicklung der Lehre von der Geschäftsgrundlage (vgl. oben VI am Ende) 47 X 3,17,3 und 6; dazu Th. Mayer-Maly, in: Scientia canonum (= Festgabe Pototschnig, hg. H. Paarhammer / A. Rinnerthaler), München 1991, 19,22 ff. 48 Zu den vielen Facetten des Person-Begriffes sehr elegant M. Schlag, Semiotische Berichte 1992, 265 ff.

Dicit enim iurisconsultus

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und für die öffentlichrechtliche Herstellung einer von Natur aus nicht gegebenen aequalitas (dazu oben IX am Ende). 3. Thomas ist weit davon entfernt, das positive Recht gegenüber dem Naturrecht gering zu schätzen. Seine Naturrechtslehre will keinen geschlossenen Codex aufstellen, sondern nur die Grenzen positiven Setzens aufzeigen. 4. Thomas geht an heikle Themen wie die Lehre vom ius divinum nicht apologetisch, sondern mit kritischem Scharfsinn heran. Der Zweifel hat in seinem Denken einen festen Platz, allerdings als ein bene dubitare. 49 5. Was Thomas sagt, ist von verblüffender Aktualität. Man muß ihn nur genau lesen - und oft.

49 S. Thomas, Expositio in xn libros Metaphysicorum Aristotelis Ill/l, 1,339: Wer nach der Wahrheit forschen will, muß, bevor er sich ans Werk macht, gut zweifeln.

DER PLAUSIBILlTÄ TSGEDANKE IN DER RECHTSPRECHUNG * Von Gerhard Müller

Die Arbeit soll ein Beitrag zur Allgemeinen Rechtslehre sein. Deswegen finden sich in ihr rechtsphilosophische, aber auch sonstige philosophische Erwägungen. Die allgemein gehaltenen Gedanken zur Wahrheitsfrage dürften wegen der Bedeutung der rechten Rechtserkenntnis am Platze sein.

A. I. Die Plausibilität in der Rechtsprechung 1. Das Bedenken Das deutsche Bundesarbeitsgericht hat jedenfalls in einer Entscheidung vom 21. Dezember 1980 auf eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit in der rechtlichen Beurteilung und somit aufPlausibilität abgestellt.! Die Tatsachenfeststellung durch ein Gericht wird sehr oft nur zu einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit und verschiedentlich zu einem noch geringeren Grad an Sicherheit kommen können. Es fragt sich, ob für die Findung des Rechts ein gleicher Maßstab angelegt werden kann. Daß das heranzuziehende Recht in dem fraglichen Urteil allein bei einem eine Rechtsaussage aussprechendem obiter dictum eine Rolle spielte 2, ist ohne Bedeutung. Es geht um den Grundsatz, ob das rechte Recht, also das gegenüber einem bestimmten Sachverhalt wirklich zutreffende und insofern das dieserhalb wahre Recht zur Geltung kommen muß oder man sich mit einer lediglich plausiblen Rechtserwägung begnügen kann.

* Der Plausibilitätsgedanke im Recht ist auch in der im September 1993 als Sonderausgabe der Gesellschaftspolitischen Kommentare erschienenen, thematisch weit mehr Fragen erfassende Arbeit des Verfassers "Grundlagen der Rechtsfmdung" behandelt worden. Wichtige Teile dieses Beitrags sind jener Arbeit entnommen, sind allerdings verschiedentlich geändert und ergänzt worden. Einige Partien wurden eigens hinzugefügt. Wegen einer Mitte Mai 1993 plötzlich aufgetretenen erheblichen Verminderung der Sehkraft des Autors konnte er der Festschrift für Herbert Schambeck nur diesen Aufsatz beisteuern. ! BAG 33, 140. 2 Etwas anderes ist eine Bemerkung hinsichtlich einer etwa möglichen künftigen Rechtsprechung.

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Die Formulierung des Bundesarbeitsgerichts sagt eingangs, daß eine Verschiebung für die Legalität eines Arbeitskampfes von Tarifkontrahenten gebotene typische Kräftegleichgewicht der Kontrahenten "anzunehmen ist", also nicht, es träte tatsächlich eine Verschiebung ein. Sodann folgt der Satz: "Insgesamt scheint nach dem Eindruck des Senats manches dafür zu sprechen, daß eine Störung der Kampfparität nicht mehr zu befürchten ist, wenn etwa die Hälfte der Arbeitnehmer eines Tarifgebietes entweder zum Streik aufgerufen werden oder von einem Aussperrungsbeschluß betroffen sind"3. Das Wort "scheint" hat dabei seine Bedeutung. Einmal steht der Gedanke im Hintergrund, daß das Ausmaß des Arbeitskampfes in seiner in Rede stehenden Komplexität, nämlich in der Summation von Streik und Abwehraussperrung, das Wirtschaftsleben und damit die Allgemeinheit erheblich in Mitleidenschaft zieht. Für die rechtliche Bewertung des Arbeitskampfes bewegt sich dieser Gedanke im Bereich der Rechtswahrheit, der Anwendung des im gegebenen Falle zutreffenden, des wahren Rechts. Die wegen eines Arbeitskampfes eintretenden Schäden sind bei dem konkreten Arbeitskampfgeschehen für die Legitimität oder die Illegitimität des Vorgehens der Arbeitskampfpartei von Gewicht. Des weiteren argumentiert das Bundesarbeitsgericht aber nicht entsprechend dem Gedanken der Rechtswahrheit ("so ist es rechtlich zutreffend"), sondern es argumentiert mit der Erwägung der Plausibilität; es "scheinen" bestimmte Folgerungen für die Kampfparität aufzutreten. Allgemein anerkannte und überzeugende empirische Feststellungen liegen insoweit nicht vor. Sie sind wohl auch nur schwer, wenn überhaupt zu treffen. Bei der Beschränktheit des menschlichen Verstandes steht der Richter des öfteren vor der Frage, ob er bei der Erfassung des Rechts den Gedanken der Plausibilität verwenden oder ob er seine Erkenntnis als zutreffend bezeichnen soll. In dem die gerichtliche Verhandlung und die Entscheidung vorbereitenden Gutachten ist sehr oft das erstere angebracht. Ob man wegen der Begrenztheit des menschlichen Erkennungsvermögens einerseits und der Autorität der Rechtsprechung andererseits in Entscheidungen ebenso verfahren soll, ist eine nicht einfach zu beantwortende Frage. Auf Plausibilität abzustellen, führt zu einer immanenten Schwächung des Rechtsspruches; die Überzeugungskraft der Entscheidung wird tangiert. Ist etwas plausibel, so heißt das im Klartext: Ob es wirklich zutreffend, ob es richtig ist, bleibt ungewiß. Was die Rechtsprechung angeht, ist so ihre Anerkennung durch sie selbst infrage gestellt. Da der Richter sich einer Entscheidung nicht entziehen darf, andererseits manche Äußerung nur plausibel sein kann, wird zuweilen der ausdrückliche Hinweis auf die Plausibilität nicht zu vermeiden sein. Unbeschadet dessen geht es jedoch grundsätzlich nicht an, eine gerichtliche Erkenntnis tragend auf Plausibilitätserwägungen zu stützen. Das berührt nun einmal die Rechtsprechung; die Überzeugungskraft des Rechtsspruchs wird geschwächt. Ist etwas plausibel, so heißt das eben: Ob es wirklich

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BAG 33, 140 (181).

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zutrifft, ob es richtig ist, bleibt letztlich dahingestellt. Es sei wiederholt: Die Autorität des Rechtsspruchs wird durch ihn selbst gefährdet. Den Begriff der Autorität sieht man heute weitgehend als einen verfehlten Begriff an. Man spricht von einem herrschaftsfreien Zustand, um diesen Gedanken als eine extreme Formulierung der Diskussion anzuführen. Im Blick auf die Rechtsprechung bedeutet Autorität die größtmögliche Garantie der Rechtssicherheit in dem Sinne, daß die Rechtsprechung, vor allem der rechtskräftige Spruch, in seiner Geltung als gerichtliche Entscheidung keinem Zweifel ausgesetzt ist. Allgemein kann die Rechtsordnung Rechtssicherheit einschließlich Berechenbarkeit und damit ein befriedetes Zusammenleben nur gewährleisten, wenn sie, unbeschadet aller gebotenen und angebrachten Veränderungen, als solche stabil bleibt. Andererseits kann die materiale Gerechtigkeit nicht zuletzt im Interesse gerade auch der Rechtssicherheit im gegebenen Fall sogar tiefgreifende Änderungen verlangen. Das Plausibilitätsargument im Judikat stellt aber nun einmal dessen innere Verbindlichkeit infrage. Daran ändert nichts, daß die gerichtliche Entscheidung gilt, und ihre Rechtskraft, ist sie eingetreten, zwingend ist. Die innere Anerkennung ist fragwürdig. Ein Schritt zur Infragestellung der Rechtsordnung überhaupt dürfte getan sein, zum Nachteil der Rechtsgemeinschaft und aller einzelnen Rechtsgenossen.

2. Die Wahrheits/rage Der Plausibilitätsgedanke muß in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Es ist sinnvoll, die Frage der Wahrheit als solche über die Frage der Rechtswahrheit hinaus etwa anzugehen. Wir erleben heute, daß in einer breiten Front, also nicht beschränkt auf kleine philosophische Zirkel, die Frage nach der Fähigkeit des Menschen aufgeworfen wird, Wahrheiten sicher zu erkennen. Das wird des öfteren, vielleicht sogar sehr oft, ausdrücklich oder doch implizit bezweifelt. Man formuliert etwa, dies oder das sei für einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Gruppe wahr, womit die Objektivität dieser "Wahrheits"-Erkenntnis von vorne herein für mindestens ungewiß erklärt ist. Zuweilen wird auch gesagt, Wahrheit gäbe es nicht. Mit diesem Satz wird allerdings eine (angebliche) Wahrheit ausgesprochen, nämlich die Tatsächlichkeit des Nicht-Bestehens von Wahrheit. Der menschliche Verstand ist auf das Erfassen von Seinsgegebenheiten, letzteres Wort im weitesten Sinne genommen, ausgerichtet. Das zeigt sich sogar bei der eben angeführten, einen Widerspruch in sich enthaltenden Aussage: Die Verneinung einer Gegebenheit, das Nicht-Vorhandensein von Wahrheit, wird als gegebene und somit zutreffende Größe ausgesagt. Ohne die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheiten, gleich welcher Art sie sein mögen, wäre die geistige Erkenntniskraft eine Absurdität, sie könnte niemals ihrer Sinnrichtung entsprechen. Dasselbe gilt, wenn Wahrheiten niemals mit Gewißheit zu erfassen wären. Sogar wenn der Verstand immer nur "Wahrheiten" vorspiegelte, ohne daß dies zu durchschauen wäfe, bliebe der

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Mensch objektiv im Dunkeln. Er besäße niemals Sicherheiten, noch nicht einmal um sich selbst. Bereits der Umstand, daß alle diese Überlegungen mit ihrem Ergebnis, daß eine Wahrheit gleichwohl vorliegt, erfolgen können, zeigt jedoch die Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis und zugleich die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis an. Die aufgezeigten Gegebenheiten liegen mit unbedingter Gewißheit unmittelbar vor, sie sind evident. Die Wahrheitsfrage ist keine nur theoretische Frage, sie ist höchst praktisch. Die Tatsache, daß 2 x 2 immer 4 war, immer 4 ist und immer 4 sein wird, und das alles schon, bevor der erste Mensch erschien, läßt sich nicht als bloß plausibel kennzeichnen, ebenso nicht als einen bloßen Konsens. Wahr und damit Wahrheit ist jedes Seiende, also jede Seins-Gegebenheit. Ihr "Da-Sein" und ihr "So-Sein" liegen vor. Diese ontologischen Wahrheiten, eben das Vorliegen von Seiendem, sind objektiv bestehende Größen, gleich ob sie erkannt werden oder nicht. Auch die bloße Einbildung, die Sinnestäuschung udgl. sind als solche wahr. Die Wahrheit, das, was ist, zu erkennen, ist nicht beschränkt auf irgendeinen statischen Zustand. Zur Erkenntnis der Wahrheit gehört ebenfalls die Erkenntnis der bloßen Möglichkeit als einer vorgegebenen ontologischen Wahrheit. Die Möglichkeit besitzt ebenfalls ein Sein, allerdings eben nur als eine Möglichkeit. Wenn ich andererseits von einem viereckigen Kreis spreche, ist der Inhalt der Aussage - die als solche jedoch in der Welt und somit als tatsächlich erfolgte Aussage wahr ist - eine metaphysische Unmöglichkeit. Von derselben Größe wird jeweils Widersprechendes behauptet, daß etwas bestehe und gleichzeitig nicht bestehe. Mit dem Satz des altgriechischen Philosophen Heraklit "Panta rhei" wird manches Wahre ausgesagt. Heraklit hat seine Formulierung ,,Alles fließt" vielleicht derart verstanden, daß es keine Wahrheit gäbe. Alles fließt, was heute wahr ist, sei morgen nicht mehr wahr. - Übrigens wird mit der Behauptung ,,Alles fließe" und folglich sei nichts wahr, wieder eine Wahrheit, nämlich das ständige fließen und ein deswegen gegebenes Nicht-Vorhandensein der Wahrheit einschlußweise behauptet. - Die zutreffende Bedeutung jedes ,'panta rhei" ist eine andere. Beispiele aus dem Rechts- und Sozialleben mögen dies verdeutlichen. Die sich seit dem Ende des Hochmittelalters ausbildende Zunftwirtschaft kannte soziologisch notwendig keine Tarifautonomie. Die Entwicklung zur IndustriegeseIlschaft hat, jedenfalls für eine freie Gesellschaft, soziologisch notwendig die Tarifautonomie mit sich gebracht. Soziologisch und ferner etwa naturwissenschaftliche Notwendigkeiten sind als solche aber nicht unter unbedingtem Ausschluß jeder anderen Möglichkeit zuzüglich der Nicht-Möglichkeit metaphysisch zwingend 4• Die Tarifautonomie ist das Ergebnis einer sozialgeschichtlichen Ent4 Metaphysisch zwingend ist z. B. der Satz, daß das, was ist, nicht gleichzeitig nicht sein kann, also der Satz vom Widerspruch, besser, vom ausgeschlossenen Widerspruch.

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wicklung. Ob sie im Jahre 2100 noch existiert, weiß niemand. Die geschichtliche Entwicklung geht weiter. Der klassische Arbeiter, den der Verfasser in seiner Jugend erlebt hat und der ihm bis Mitte / Ende der fünfziger Jahre immer wieder beruflich begegnet ist, existiert heute nur noch in Restgrößen. Auch der allgemeine Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten ist mindestens an den Rand getreten. Wir kommen zu einer nach den jeweils konkreten Funktionen des einzelnen Beschäftigten und Tätigen gekennzeichneten Arbeitsgesellschaft. Was wir vorfinden, ist ein fließendes Geschehen. Dieses Phänomen berührt die Wahrheitsfrage nicht. Es treten neue tatsächliche Umstände auf und mit ihnen und in ihrem Gefolge neue Sachverhalte. Ein solches Geschehen als Entwicklung (im neutralen Sinne des Wortes) und als Eintreten von Veränderungen zu erkennen und die Möglichkeit von Veränderungen in Rechnung zu stellen, gehört zur Erkenntnis von Wahrheit. Für die Rechtsprechung spielt diese Erkenntnis, und zwar nicht zuletzt die rechtzeitige Erkenntnis dieser Dinge, eine große Rolle. Sie zählt zum Umfeld der Rechtswahrheit. Letztlich steht bei der Erkenntnis der Wahrheit und somit bei der Erkenntnis der Rechtswahrheit eine ethische Frage in Rede. Die Ausrichtung des menschlichen Verstandes zu erkennen, was im umfassenden Sinne des Wortes ist, ist vorgegeben. Man könnte nun sagen, das bleibe irgendwie in der Kategorienlehre Kants stehen. Verkannt würde so jedoch, daß die Ausrichtung des Verstandes auf Erkenntnis keine Form ist, die das Erkenntnisobjekt beeinflußt. Das Vermögen des Verstandes, der zunächst gleichsam ein unbeschriebenes Blatt ist, zielt auf die geistige Aufnahme der der Erkenntnis offenstehenden sozusagen vorgegebenen Gegebenheiten. Wenn der Mensch aber überhaupt verstandesmäßig erkennen kann, ist es für ihn ein zentrales Gebot, sich nachdrücklich um die zutreffende Erkenntnis zu bemühen. Anderenfalls tappt er mindestens im Nebel. Er hat keine Sicherheit. Im Widerspruch zu seiner geistigen Anlage wird er leicht ein ausschließlich Zweifelnder, und der Zweifel kann bis zum Zweifel an der eigenen Existenz gehen. Das sichere Wissen um sie ist aber evident. Wer an seiner eigenen Existenz zweifelt, bejaht sie nicht nur sozusagen logisch, er erfährt sich höchstpersönlich als der Zweifelnde. Um das objektiv Seiende zu erkennen, muß der Mensch zwar auch kritisch sein, nicht zuletzt sich selbst gegenüber. Wir Menschen sind nun einmal dem Irrtum ausgesetzt. Der Irrtum, das Fehlgehen der Erkenntnis, ihr Fehlergebnis, ist als tatsächliche Gegebenheit eine objektive Größe und ist als solche existent. Das, was zu erkennen wäre, wird jedoch nicht erkannt. Ein überzogenes kritisches Denken ist in der Sache und als Gefährdung der dem Menschen aufgegebenen Gewinnung zutreffender Erkenntnis ethisch verfehlt. Die Überlegungen weisen auf die Notwendigkeit der verstandesmäßigen Anstrengung gegenüber der Subjektivität des Erkennenden hin, sie gebieten im gegebenen Falle im Interesse der Wahrheitsfmdung ein Ringen mit sich selbst. 5 Festschrift Schambeck

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Sie zeigen ferner das Erfordernis auf, die eigenen Vor-Urteile zu erkennen und sie auf ihre Tragfähigkeit gewissenhaft zu prüfen. Das gilt bei der Bedeutung des Rechts nicht zuletzt im Blick auf die Rechtserkenntnis. Der Mensch muß sich der Wahrheit beugen. Das Seiende ist dem Verstand des Menschen insofern überlegen, als der Verstand es nicht setzt und nicht schafft. Er kann zwar Neues ausdenken, aber was er als neu ausdenkt, ist der Möglichkeit nach schon immer vorgegeben, sonst könnte man es nicht ausdenken.

11. Die Rechtsstaatsmaxime und die Anwendung des zutreffenden, des wahren Rechts. Bemerkung zur Gesetzgebung Die umfassend verstandene Rechtsstaatsmaxime erschöpft sich nicht in Postulation wie etwa der Unabhängigkeit der Gerichte. Sie gebietet zutiefst Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist nicht nur durch die sog. materiale Gerechtigkeit gekennzeichnet. Mit ihr steht die Gerechtigkeit im engeren Sinne des Wortes in Rede. Die Rechtsordnung hat den Gegebenheiten der Seins-Sachverhalte zu entsprechen, einschließlich der Bewertung dessen als Unrechts, was sich in der Analyse der Seinsgrößen als fehlerhaft erweist 5 • Das Recht muß sachgerecht sein. Die materiale Gerechtigkeit auf die soziale Gerechtigkeit im engeren Sinne des Wortes einzugrenzen, geht nicht an. Hinzu tritt, als weitere Komponente der Rechtsstaatsmaxime, das Erfordernis der Rechtssicherheit. Rechtssicherheit muß um eines nicht von ständiger Unsicherheit bedrohten Zusammenlebens der Menschen in ihren Gemeinschaften und in der Gesellschaft einschließlich des Staates und der Völkergemeinschaft bestehen. Rechtsunsicherheit liefert die Menschen einem unerträglichen Dunkel aus. Es führt nur zu leicht dazu, daß jeder Einzelne und jede Gruppe sich, koste es, was es wolle, zum Nachteil der anderen durchsetzen will. Der Mensch darf aber um seiner selbst und der anderen Menschen willen nicht zum Wolf der Menschen werden. Rechtssicherheit wird vor allem verbürgt durch das positive Recht. Zwischen ihr und der materialen Gerechtigkeit als den entscheidenden Komponenten der Rechtsstaatsmaxime kann es zu einem Spannungsverhältnis kommen, etwa wenn die Rechtsnorm oder das Rechtsinstitut der materialen Gerechtigkeit nicht voll entspricht, aber doch haltbar oder wenigstens noch vertretbar ist. Die Rechtsprechung dürfte sich dann zu bemühen haben, in sorgfältiger Abwägung sowohl das Gesetz wie die materiale Gerechtigkeit zur Geltung zu bringen. Daß Beurtei5 Das Schlechte und Böse ist zwar existent und insofern, aber auch nur insofern, gegenüber dem Nichts als ein Sein höherrangig. Das derartige Sein hat jedoch gegenüber dem Sein, wie es nach der Analyse des Seins sein sollte, einen grundlegenden Mangel. Die Worte ,,Fehler", "fehlerhaft" und "Defekt" kennzeichnen treffend diesen Umstand.

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lungsspielräume vorliegen werden und deswegen Plausibilitätserwägungen Platz greifen können, ändert nichts daran, daß letztlich bei Anerkennung des gesetzten Rechtes die auch höchstmögliche materiale Gerechtigkeit Platz zu greifen hat. Eine derartige Komplexität ist hier das wahre Recht. Ein entsprechender Rechtsspruch wird der Gerechtigkeit im umfassenden Sinne des Wortes gerecht. Er dient damit dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit. Daß positives Recht, das sachlich nichts anderes als Unrecht ist, der Rechtsstaatsmaxime widerspricht, sollte als Selbstverständlichkeit allgemein anerkannt sein. Bemerkt sei, daß der Gesetzgeber gehalten ist, von vornherein entsprechend dem Gebot der materialen Gerechtigkeit seine positivrechtlichen Regelungen sachverhaltsgemäß zu fassen. Bei widerstreitenden Interessen wird das allerdings oft nur schwer möglich sein, und es können Fehlleistungen auftreten.

1. Der Pluralismusbegriff Der Plausibilitätsgedanke könnte auch mit der heute so viel berufenen pluralistischen Gesellschaft zusammenhängen. Es können etwa je verschiedene Möglichkeiten bestehen, um ein Ziel zu erreichen. Zur Wahrung des äußeren Friedens eine bedeutende Herabsetzung der Rüstung vorzunehmen oder eine angemessene Rüstung (was keineswegs Hochrüstung heißen muß) zu betreiben, stellt sich etwa als Frage. Wie man sich nun entscheidet, beim Stand der weltpolitischen Dinge ist jeder Entschluß legitim. Entscheidungen setzen oft eine Prognose und ein Abwägen voraus, und ein gewissenhaft erarbeitetes Kalkül ist selbst bei umfassender Sicht nicht schlechthin sicher. Die Kontingenz des menschlichen Verstandes tritt, unbeschadet seiner Ausrichtung auf Wahrheit, in Erscheinung. Der Pluralismusbegriff deckt aber ebenfalls die gerade noch zu vertretende Möglichkeit ab, hinter der das Nichtvertretbare liegt. Schließlich werden unter das Wort vom Pluralismus die in der Gesellschaft gleichzeitig vertretenen, sich jedoch gegenseitig ausschließenden Sichten gebracht. Wenn betont wird, Mord und Totschlag seien rechtswidrig, wird aber gleichzeitig die Tötung des noch nicht geborenen Menschen für Recht erklärt, ist das ein Widerspruch in sich. Wenn derartiges unter Berufung auf den Pluralismusbegriff als zulässig und sogar als anerkennenswert vertreten wird (Stichwort: Wertewandel) droht die Gefahr des gesellschaftlichen Chaos. Würde eine solche Auffassung selbst nur im Sinne eines Werterelativismus propagiert, wir wären schnell am Ende. Es zeigt sich einmal ein erkenntnistheoretisches Moment. Der Pluralismusbegriff wird höchst undifferenziert und insofern verfehlt gebraucht. Und wenn der Begriff im Sinne eines Wertewandels und im Sinne der Möglichkeit eines Nebeneinanderbestehens sich gegenseitig ausschließender Werte verwandt wird, obwohl 5*

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in der Sache nur eine Sicht das Wort Wert verdient, wird die Gesellschaft in sich zerfallen. Es folgt aus alledem, nachdrücklich und kritisch, nicht zuletzt kritisch uns gegenüber, nach der Wahrheit zu suchen, wenn wir auch oft genug nur zu einer haltbaren oder sogar nur vertretbaren Sicht kommen. Das gilt nicht zuletzt für das Rechtsleben. Insbesondere der Richter muß z. B. gewillt sein, sich von verfehlten Strömungen zu distanzieren. Der Plausibilitätsgedanke kann bei der Rechtssetzung und bei der Rechtsfindung die gebotene umfassende Sicht trüben und auf diese Weise zu Vor-Urteilen führen. Das Arbeitsrecht mit seinem unerläßlich notwendigen Aspekt des Schutzes der Arbeitnehmerpersönlichkeit darf nicht dazu verführen, berechtigte Positionen der anderen Seite sachwidrig zu tangieren. Die Einen und die Anderen, Arbeitnehmer und Unternehmer, erfüllen in unserer industrialisierten und eng verflochtenen Wirtschaft wichtige und wichtigste Aufgaben. Im gegebenen Falle ist in Abwägung des sachlichen Gewichtes der jeweiligen Belange vom Richter zu entscheiden, und nicht zuletzt der Gesetzgeber hat demgemäß seine Normen zu setzen.

2. Der Konsensgedanke Mit dem Plausibilitätsgedanken dürfte die gegenwärtig festzustellende starke Betonung des Konsensgedankens in einem gewissen Zusammenhang stehen. Sogar in einer Zeit eines verfehlten Wertepluralismus und eines Werterelativismus, also der jedenfalls immanent mit erfolgenden Behauptung einer Unverbindlichkeit aller Werte und etwa einer (angeblichen) Unmöglichkeit, Wahrheiten zu erkennen, muß es, damit alle zu leben und zu überleben vermögen, doch so etwas wie eine alles zusammenhaltende Einheit geben. Sie soll der Konsens herstellen. Er ist dann Ersatz für die Wahrheit des Rechten. Gegenüber der relativistischen Sicht des Wahrheitsgedankens trägt der Konsens jedoch nicht; als Wahrheitssubstitut ist er in sich brüchig. Heute konsentiert man, morgen geht der Konsens verloren. Der Nur-Konsens kann von jedem laut und deutlich in Frage gestellt werden. Der Zusammenhang und der Zusammenhalt der Gesellschaft und damit das Erfordernis einer Ordnung des gesellschaftlichen Lebens ist ein wichtiger Aspekt des Konsensbegriffes. Das Miteinanderleben der Menschen muß sichergestellt sein. Der Konsens, und das muß gesagt werden, ist insofern unerläßlich. Der Gedanke des Nur-Konsenses stellt diesen Aspekt aber nicht nur in Frage, er verneint ihn sogar. Selbst durch ein ständiges, praktisch nicht mögliches Gespräch miteinander wäre er nie zu erreichen. Es liegt ein Contradictio in adjecto vor. Wegen der Brüchigkeit des bloßen Konsenses wird die Erreichung des Zieles, um dessentwillen er bestehen soll, zugleich verneint. Der haltbare Konsens setzt die zutreffende Erkenntnis oder doch einer wenigstens annehmbaren Sicht der Dinge voraus. Das muß nicht zuletzt hinsichtlich der Rechtsordnung einschließlich der Rechtssprüche nachdrücklich betont werden.

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In Rechnung zu stellen ist allerdings auch die bewußte und gewollte Ablehnung des Rechten. Im Ergebnis ist allgemeine Willkür und das Durcheinander die

erste Folge und sodann die harte Herstellung einer formellen Ordnung, selbst wenn sie innerlich nicht sonderlich geboten ist.

B. I. Der Plausibilitätsgedanke als Inhalt einer Rechtsnorm Die bisherigen Ausführungen erörterten kritisch den Plausibilitätsgedanken als einen Ausgangspunkt der Rechtsprechung. Nunmehr ist auf diesen Gedanken als Inhalt einer Rechtsnorm einzugehen. Hier kann er angebracht und sogar ggf. geboten sein. 11. Der Plausibilitätsgedanke in einer normativen Einzelregelung Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 des deutschen Kündigungsschutzgesetzes ist die Kündigung u. a. sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse, die eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Kündigung müssen in ihrer Kumulation vorliegen, also dringende, der Weiterbeschäftigung entgegenstehende Erfordernisse, die gleichzeitig die Kündigung bedingen. Die sachgerechte Entscheidung eines derartigen Kündigungsfalles erfordert, dem Unternehmer / Arbeitgeber einen Prognosespielraum für die weitere Entwicklung des Betriebes, bei einem mehrbetrieblichen Unternehmen auch hinsichtlich der Lage des Unternehmens insgesamt, zuzugestehen. Ist seine Beurteilung ersichtlich falsch, kann sie nicht ziehen. Eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit des weiteren Ablaufs der Dinge wird man in der Regel nicht verlangen können. Ist jedoch eine von hoher Wahrscheinlichkeit getragene plausible Beurteilung erforderlich oder genügt bereits eine haltbare und sogar eine lediglich vertretbare Plausibilität? Zur Beurteilung steht zweifellos der konkrete Sachverhalt, aber ein Beurteilungsspielraum und damit auch ein volitives Moment dürfte nun mal durchweg gegeben sein. M. E. muß, je nach Sachlage, bereits die nur vertretbare Prognose genügen. Mit der betriebsbedingten Kündigung ist stets die Lage des Unternehmens einschließlich seines weiteren Schicksals auf der einen und das Gewicht des Arbeitsplatzes als Existenzgrundlage des Arbeitnehmers gegeneinander abzuwägen. Hierbei ist durchwegs wiederum ein Beurteilungsspielraum zu bejahen, so daß der Plausibilitätsgedanke wiederum zum Zuge kommt. Die personen- und verhaltensbedingte Kündigung kennen im übrigen bei der Abwägung zwischen der durch die Person oder das Verhalten des Arbeitnehmers herbeigeführten Lage

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des Unternehmens einerseits und der Bedeutung des Arbeitsplatzes für den Arbeitnehmer andererseits im allgemeinen ebenfalls einen Beurteilungsspielraum. Somit hat wenigstens sehr häufig der Plausibilitätsgedanke auch hier seinen Platz. Abermals kommt es auf den einzelnen Fall und dem von ihm zu bestimmenden Grad der Plausibilität an.

III. Generalklauseln Keine Rechtsordnung kommt ohne Generalklauseln aus. Je nach der Weite ihrer Normierung ist ihnen für ihre Anwendung von vornherein ein mehr oder weniger großer Beurteilungsspielraum immanent. Daher stellt sich vor allem bei ihnen die Frage, ob ihr Platzgreifen noch vertretbar ist oder nicht bzw. ob nach ihrem Regelungssinn ein Verstoß gegen sie gerade noch verneint werden kann oder bereits zu bejahen wäre. Man wird sagen dürfen, daß jedenfalls bei dem einen oder anderen konkreten Sachverhalt nur eine Plausibilität der Beurteilung möglich ist. Die sorgfältige Erfassung des Tatbestandes und seine sachgerechte Bewertung sind stets geboten. Eine letzte zwingende Sicherheit der Beurteilung könnte dem menschlichen Verstand nicht immer möglich sein. Es muß aber immer zu einem wenigstens vertretbaren Ergebnis kommen. Die Beurteilung eines Sachverhaltes nach einer GeneralklauseI kann auch bei Höchstgerichten in Grenzfällen zu einem noch vertretbaren Ergebnis führen, während eine schärfere und ausgewogenere Sicht zu einer anderen Folgerung führen würde. Dann ist im Interesse der materialen Gerechtigkeit und letztlich auch der durch sie verbürgten Rechtssicherheit bei entsprechend gelagerten Tatbeständen eine Änderung der Rechtsprechung geboten. Eine haltbare und stets wiederholte Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe zeitigt eine betonte Gewährleistung der Rechtssicherheit. Dann dürfte viel für die Beibehaltung der Rechtsprechung sprechen, selbst wenn eine noch treffsichere andere Bewertung möglich sein sollte. Die Rechtssicherheit ist wegen der Ordnungsfunktion des Rechts auf jeden Fall bei rechtsethisch haltbaren Ergebnissen auch ihrerseits ein hohes rechtsethisches Gut. Eine ständige haltbare und erst recht eine ständige gebotene Rechtsprechung der Höchstgerichte stellt den Gesetzgeber vor die Frage, ob sie nicht im Interesse letzter Rechtssicherheit in positiven Rechtsnormen zu fassen ist. Wegen der praktischen Sinnhaftigkeit der Rechtssetzung wäre wohl Voraussetzung, daß dieserhalb in Rede stehende Tatbestände auch in Zukunft immer wieder mehr oder weniger häufig auftreten.

ZWISCHEN CHAOS UND GEWALT

Sozial- und rechtsphilosophische Überlegungen zur Praxis des Paradigmenwechsels im neo-monistischen Menschen- und Weltbild der Gegenwart* Von Robert Prantner

Alle bedeutenden Denksysteme der Rechtsphilosophie, insbesondere in der Spezifizierung rechtsethischer Forschung, fragen nach der Natur des Menschen und der Gesellschaft. Auch alle großen Gedankengebäude der Sozialtheorie gehen dabei von den der menschlichen Natur und der Gesellschaft innewohnenden wesentlichen und existentiellen Zwecken aus, deren Etfüllung die vollmenschliche Reife und Sinngebung ausmachen. Ihr Bemühen hat die im Zusammenleben der Menschen unerläßliche Ordnung des zweckbestimmten Verhaltens zum Gegenstand. Die Zweckfrage als Schlüssel zum Ordnungsbild des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens wird wohl in den verschiedenen Rechtssystemen und den diesen zugrundeliegenden Richtungen der Rechtsphilosophien mehr oder minder vorrangig eingeschätzt. Sie war aber bisher allen eigen: angefangen von der metaphischen sowie der theologischen Rechtsauffassung, die die Zweckordnung im göttlichen Willen sucht, der positivistischen, die die geltende Zweckordnung im Willen des Herrschers oder der herrschenden Gruppe begründet sieht, bis zur utilitaristischen Rechtsauffassung, die die Zweckordnung einzig und allein in dem mit demokratischen Methoden ermittelten Volkswillen findet. Allen Überlegungen zum Thema war es bisher gemein, ein Ordnungsbild sozialphilosophischer Art anzuerkennen und ein rechtliches Fundament außer Streit zu stellen, welches die Praktibilität einer bestimmten Vorstellung von Ordnung begründet. Wer die naturrechtlich-christliche Grundbefindlichkeit leugnete, derzufolge das ,,Recht" der "Gerechtigkeit" Pate steht und annahm, daß nicht näher definierte Überlegungen und Gefühle der "Gerechtigkeit" rechtserzeugend sein müßten, fand sich doch einem gemeinsamen allergrößten Nenner gegenüber: daß in irgendeiner Form Recht zum Maßstab werden muß. Immer ging es dabei um eine Rangordnung von Zwecken, die durchaus von Interessen bestimmt sein konnten und auch waren: dies galt und gilt vom Verhal'" Der Beitrag stellt die erweiterte Fassung eines Vortrags vor dem "Bunde deutscher Kriminalbeamten" in Luxemburg dar.

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Robert Prantner

ten einzelner Gruppen wie von einzelnen Menschen, von der Gesellschaft im Ganzen, von Staaten untereinander und von der Völkergemeinschaft. Zu nennen sind dabei die Menschenrechte im allgemeinen, die verfassungsmäßig gewährleisteten oder zu gewährleistenden Grundrechte, die Bevorrechtung oder Benachteiligung der Berufsgruppen in ihrem Anteil am sozialwirtschaftlichen Gesamtertrag, die Vorzüge und Schattenseiten der Wirtschafts- und Sozialsysteme des Kapitalismus, des Sozialismus, des Kommunismus und vorn friedlichen Zusammenleben auf globaler Ebene. Das Recht steht also im wesentlichen Bereich jeder rechtsphilosophischen Erörterung, nicht das Gerechtigkeitsgefühl, der Willkür des Menschen und der Gruppe entspringend. Rechtsphilosophie als Teil des praktischen, auf menschliches, gemeinschaftsbezogenes Handeln gerichtete Philosophie hat es eben mit dem Begriff des Rechts, seinem Verpflichtungsgrund, seinen Erscheinungsformen und - wie oben festgestellt - mit dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit zu tun. Sie ist allemal eine ontologische, das heißt auf das Sein des Rechts, sein Wesen, ausgerichtete unter logischem, axiologischem, phänomenologischem und anthropologischem Aspekt unternommene Rechtsbetrachtung: das Zusammentreffen von natürlicher und gesetzter Ordnung verbindet die Rechtsphilosophie unlösbar mit dem Naturrechtsproblem. Die ethische Begründetheit des Rechtsanspruches verknüpft das Thema mit der Frage nach der sittlichen Position im Contradictum von Werten und Unwerten. Nunmehr aber bedrängen geistige Strömungen die sozialphilosophischen Fundamente des Rechtsverständnisses, die nicht mehr vor die Entscheidung zwischen Rechtsverwirklichung oder Rechtsverweigerung führen, sondern die Existenz von "Werttafeln" überhaupt in Abrede stellen. Es sind subkulturelle Entwicklungsprozesse, welche im geistigen wie im gesellschaftspolitischen Umfeld zu neuen Paradigrnata führen, die ihrerseits eine totale sittliche Destruktion im Sinne der Entscheidung zwischen gut und böse programmieren. Randerscheinungen im gesellschaftlichen und parteipolitischen Spectrum rücken immer mehr in die Größenordnung ernstzunehmender neuer Bewegungen. Ihnen liegen esoterische Auffassungen von Mensch, Gesellschaft, Welt und Kosmos zugrunde, die bereits in die pastorale Praxis der christlichen Kirchen einsiekern. Chiffren wie "grün", ,,naturreligiös", "esoterisch" "bewußtseinsverändernd" signalisieren nur partiell die Facetten einer tiefen Umschichtung des theistischen Weltbildes in ein solches des Neo-Monismus. Dies betrifft das Recht im Lebensbereich des einzelnen wie der Gesellschaft als Ganzem ebenso wie die Strukturen der Glieder im sozialen, natürlichen Gefüge. Diese sogenannte ,,neue" ideologische Szene ist auch zur Ausgangsplauform rechtswidrigen Verhaltens gegenüber Mensch und Gesellschaft geworden. Wie stellen sich die neuen Tangenten zur politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit dar? In Rede stehen jene Absagen kaum mehr zählbarer junger Menschen an unser gesellschaftliches Ordnungsbild, das durch Rechtsnormen geschützt und

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nunmehr angefochten und "verweigert" wird. Jene Gruppierungen, die man gelegentlich als paranoide Spinnereien, als esoterisch-abergläubisches Getue oder als Entgleisung des gesunden Menschverstandes abtut, bergen jedoch eine beachtliche gesellschaftspolitische Sprengkraft in sich. 1 Das Szenarium datiert seit urdenklichen Zeiten, wenn man das "Spiel im Hinterzimmer" unter Ausschluß der Öffentlichkeit mit einbezieht. Zu Beginn der siebziger Jahre begann aber jener verschwörerische Bereich, den wir im Rechtsleben mit Kriminalität in Verbindung setzen, auszuufern. Der politische Extremismus stellte uns vor die Frage, ob die Palette der demokratischen politischen Parteien wohl zu schmal, zu eng geworden sei. Jene Gruppierungen traten mit auf- und eindringlichen public relations an die gesellschaftliche Öffentlichkeit, die wir vorerst einmal in die Randzonen des Staatswesens verdrängten. Nur selten wurden die Motive in ihrer Gedankenführung in die Sprache der Rechtsetzung und Polizeipraxis übersetzt. 2 Heute kennen wir die Denkansätze des politischen Extremismus zur Genüge. Allgemein bekannt sind die Aussagen jener, die "etwas ganz anderes" wollen, was in der lateinischen Diktion "alternativ" bedeutet. Sie sprechen von der Notwendigkeit eines allgemeinen Bewußtseinswandels des Menschen in und gegenüber der Gesellschaft. 3 Daher sei von der bereits kriminalisierten Hoffnung jener die Rede, die Rechte und Gerechtigkeit, Ordnung und Harmonie, Gemeinwohl und persönliche Freiheitsräume zum alten Eisen der Politik von gestern werfen und von einem "neuen Zeitalter" sprechen, das in englischer Sprache als ,,New Age" nicht nur bei Jugendlichen populär geworden ist. 4 1 Zum gesamten Konnex der in die Praxis führenden Theorien des neuen kosmischen Bewußtseins im WassermannzeitaIter des Äquarius mit destruktiven Paradigmen in den Bereichen Familie, Staat und Gesellschaft vgl. Robert Prantner, "Kulturethik und die alternative Wertordnung des New-Age-Bewußtseins", in: ,,Das neue Naturrecht", Berlin 1985. 2 Diesbezügliche Versäumnisse wie den Nachholbedarf zeigt der Kriminalpublizist Horst Knaut "Das Testament des Bösen", Stuttgart 1979. Zum Inhalt Leitender Kriminaldirektor Dr. jur Herbert Schäfer (Bremen): "Die hier aufgezeigten, tatsächlich erschrekkenden Ereignisse und Hintergründe sind nicht die hinzunehmenden Resultate einer freiheitlich gestimmten, toleranten und intakten Gesellschaft selbstbewußter Bürger ... (sondern) Indikatoren einer irregulären, letztlich nicht gewollten Veränderung unserer tragenden gesellschaftlichen Grundlagen". Hinsichtlich des Verbunds von schwarzmagischen Bewegungen mit der ,,Roten Armee-Fraktion" und Revolutionären Zellen spricht Professor Dr. theol. Wulf Metz (Augustana-Gesamthochschule, München) von einer bedrängenden Herausforderung an Gesellschaft und Kirche, Kulte, Morde und Schwarze Messen paaren sich mit den extremen Zonen gesellschaftspolitischer Grundvorstellungen. Dies gilt für die sogenannte "linke" wie ,,rechte" Seite des gesellschaftlichen Breitbands. 3 Die umfassendste Selbstdarstellung der Grundlagen und Entwicklungstrends im New Age-Bewußtsein und in der Praxis einer radikalen, jedoch ,,friedlichen" Gesellschaftsveränderung stellt Marilyn Ferguson, ,,Die sanfte Verschwörung", Basel 1983, als prophetisches Manifest zur Diskussion. Ein umfassender Paradigmen wechsel werde zu einer gesellschaftlichen Transformation führen, der die bisher geltenden Kategorien von Werten, Recht und Ordnung aufhebt.

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Ansatzlinien zu diesem Prozeß waren zunächst die "Goldenen Sechzigerjahre" des 20. Jahrhunderts mit ihren hypertrophierendem Konsumismus, ihrem Maximierungswahn, hedonistischer Lebensgier und jenem autonomen Selbstverwirklichungstrieb des Menschen, der die letztbedrängende "Sinnfrage des Lebens" zu übertönen schien. Als Folgeerscheinung ergab sich ein neues Bild vom Menschen. 4 Vgl. zum New Age-Problem angesichts der Sinnfragen des Lebens, wie sie von der jungen Generation der Gegenwart gestellt wird: Robert Prantner, ,.Esoterische Tore zur Erfüllung des Lebens", in: "Sekten unserer Zeit", Eisenstadt 1987. - Quellen zum New Age: Fritjof Capra, ,,Der kosmische Reigen" (Physik und östliche Mystik, ein zeitgemäßes Weltbild), Berlin / Wien 1983, ders., ,,Das Tao der Physik" (Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie), Berlin (1975), 1984. - ders., "Wendezeit" (Bausteine für ein neues Weltbild), Berlin 1983. - ders., ,,Das Neue Denken" (Die Entstehung eines ganzheitlichen Weltbildes im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Mystik), Berlin 1987. - Fritjof Capra wurde nicht zuletzt von den sogenannten Gnostikern der Universität Princeton beeinflußt; vgl. Raymond Ruyer, ,,Jenseits der Erkenntnis" (Die Gnostiker von Princeton), Hamburg (1974), 1977, er hingegen signalisierte seine Denkweise an dem Wiener Technologen und New AgePhilosophen Herbert Pietschmann, dessen Gedankenführung von jener esoterischen in Metaphern formulierten Linie gezeichnet erscheint, die auch an den schwarzmagischen "Luzifer-Lichtgedanken" einer kosmischen Selbsterlösung heranführt. Vgl. dazu Herbert Pietschmann, ,,Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters", Wien / Hamburg 1980. - ders., ,,Die Welt, die wir uns schaffen" (Eine Vision), Wien / Hamburg 1984. - Von fundamentaler Bedeutung für die gesellschaftsverändernden Impulse aus dem kombinativen technologischen und fernöstlich-philosophischen neuen System ist Jean E. Charon, "Der Geist der Materie", Wien/Hamburg (1977), 1979. - Ken Wilber edierte einen Sammelband, in dem unter anderen David Böhm, Fritjof Capra, Marilyn Ferguson und Karl H. Pribram mitwirkten, der die weltanschauliche Gesamtkonzeption in Mosaiken präsentiert: Ken Wilber (Hrsg.), "Das holographische Weltbild" (Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem ganz~eitlichen Weltverständnis - Erkenntnisse der Avantgarde der Naturwissenschaften). Ahnlich informieren o. V., "Andere Wirklichkeiten" (Die neue Konvergenz von Naturwissenschaften und spirituellen Traditionen), München 1984, sowie das Begleitbuch zur ZDF-Sendung über das ,,New Age": Günter Myrell, ,,Neues Denken - alte Geister", Niedernhausen 1987. - Der Wiener Advokat und New Age-Philosoph mit starken Affmitäten zur sogenannten "Vereinigungskirche" (Mun-Sekte), H. Christoph Günzl, bekennt sich in seinem-Bande ,.Bewältigungen" (durch Entfaltung neuer Denkstrukturen), Linz 1987, zum physikalisch-philosophischen Erweckungserlebnis Fritjof Capras. - In enger Verbindung mit dem Weltbild des New Age verkündet der Trappistenmönch Frater David Steindl-Rast O. Cist. s. O. einen holistisch-christlichen Synkretismus; vgl. David Steindl-Rast ,,Fülle und Nichts" (Die Wiedergeburt christlicher Mystik), München 1985, aber auch den Zen-Meditativen Jesuiten Hugo Enoniya-Lasalle, "Leben im Neuen Bewußtsein", München 1986. - Grundinformationen im Kleinformat bieten Günter Schiwy, ,,Der Geist des Neuen Zeitalters" (New Age-Verständnis und Christentum), München 1987, Hans Jürgen Ruppert, ,,New Age - Endzeit oder Wendezeit", Wiesbaden 1985, und Elmar Gruber / Susan Fassberg, ,,New Age-Wörterbuch", Frankfurt am Main 1986. - Hansjörg Hemminger (Hrsg.), "Die Rückkehr der Zauberer" (New Age - Eine Kritik), Hamburg 1987. - Die Thematisierung der ,,neuen" Werte, die im Zuge des New Age-Paradigmenwechsels an die Stelle der "alten" (nämlich des naturrechtlich-christlichen Ordnungsgefüges im Menschen als einem Ebenbilde Gottes) treten sollten, erfolgte auch infiltrativ im Rahmem der Politischen Bildung. Dieser ökologische fundamentierte und alternativ-überdachte, mitunter esoterisch strukturierte Bau bedroht Recht, Ordnung und jene Gemeinwohlprinzipien, den den Verfassungen freiheitlich-demokratischer Staaten das Wirkprinzip und zugleich die Zielvorstellung ,,Menschenwürde" garantieren.

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Es repräsentiert eine Kompilation von selektiv geformtem Neomarxismus, vor allem in den als ,linksliberal' einbekannten Trends zur Verantwortungsbefreiung des Einzelnen zugunsten einer kollektiven Vorsorgephilosophie der Gesellschaft, ferner einer Palette psychoanalytischer Elemente in den Seinsbereichen von Religion und Sexualität, von Persönlichkeitsbewertung und wertimmanentem Neomaterialismus, mit einem kulturpessimistischen, postmaterialistischen, eschatologisch konzipierten Existenzialismus und jenem"Wissenschaftshumanismus" , der das jüngste Grenzerlebnis des wissenschaftlichen Fortschritts mit einem endzeitlich verstandenen "Sein zum Tode" im Sinne Jean Paul Sartres junktimiert. Kulturelle Vergangenheit in die Retrospektive der altamerikanisch-indianischen und keltischen, der ägyptischen und mesopotamischen, der indischen, tibetanischen und chinesischen Tradition übersetzt, stehen für die Suche der alternativen Szene nach jener geistigen Heimat, der Wegführung bedeutungslos bleibt, sofern der Weg nur am Kreuz Christi vorbeilangt. Das ,,New Age" wird auch als eine wirklich neue Stufe in der Evolution der Menschheit betrachtet. Die menschliche Art wird sich dann jedoch nicht in struktureller Hinsicht (neue Organe, Körperteile) weiterentwickeln, sondern in psychologischer, spiritueller, geistiger und sozialer Hinsicht. Manche Propheten des New Age erwarten, daß die Menschheit ein planetarisches Bewußtsein entwikkeIn wird, dessen Beschreibung von der allgemeinen Sorge um ein globales Überleben bis zu dem Gedanken reicht, daß alle Menschen gleich und gelegentlich auch "dasselbe" denken. Ein allen gemeinsamer Begriff ist "Transformation": das neue Zeitalter will nicht einfach nur neue Ideen einführen - es werde einen neuen Geist bringen. "Die sanfte Verschwörung", von der die amerikanische Alternativphilosophin Marilyn Ferguson mit Reklamation auf Fritjof Capras "Wendezeit" in ihrer wichtigsten Studie schreibt, wird dann aber - frei nach dem Schweizer Publizisten Hans Pestalozzi - zur "sanften Verblödung", in welcher der menschliche Fortschritt in den Human- und Naturwissenschaften, in der Biologie und Medizin, in der Technologie und Pharmazie, in den chemischen, physikalischen Bereichen der angewandten Technik und Volkswirtschaft wie in einem schillernden Sumpfe ertrinkt. 5 Das ,,Zeitalter des New Age", mit seinem "Alternativismus", mit seinen esoterischen, magischen Sekten und Konventikeln, ist von brisanter gesellschaftspolitischer Bedrohlichkeit, die sehr wohl die europäische Gesellschaft betrifft. 6 5 Vgl. Marilyn Ferguson, a. a. 0.; eine sarkastisch-ironisierende Enttarnung des avisierten Paradigmenwechsels bietet Hans.A. Pestalozzi "Die sanfte Verblödung" (Gegen falsche New Age-Heilslehren und ihre Uberbringer), Düsseldorf 1985. 6 Esoterisch-magische Sekten und Konventikel fußen auf jahrtausendalten Geheimlehren und deren Wandel in ihrer Weitergabe. Vgl. dazu umfassende Informationen bei Willi Erich Peuckert, "Geheimkulte", Hildesheim / Zürich / New York 1984, Bemhard Vaillant, "Westliche Einweihungslehre" (Druiden, Gral, Rosenkreuzer, Alchimisten, Freimaurer), München 1986, Hans-Dieter Leienberger, "Was ist Esoterik?", Freiburg im Breisgau 1985, Horst E. Miers, ,,Lexikon des Geheimwissens", Freiburg i. B. 1986

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Der Akt der Befreiung des Menschen aus gesellschaftlicher Unterdrückung - das Grundpostulat der Vorkämpfer dieser alternativen Szene - hat durch eine "totale Veränderung des Bewußtseins zur Selbsterlösung" zu führen. Diese besteht dann aber auch in der Unabhängigkeit von allen nonnativen Regeln menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie sie durch Verfassungen, Grundgesetz, einfache Gesetze, Verwaltungsverordnungen und andere Rechtsverbindlichkeiten in unserem System der Würde des einzelnen Bürgers Schutz und Sicherheit gewähren. Dann werde sich 1. eine neue Humanität, 2. eine Transfonnation der Gesellschaft und 3. eine höhere Evolutions- und Bewußtseinsstufe der Menschheit ergeben. Das astrologisch konstruierte Zeitalter des Aquarius, des Wassennannes, werde mit allen Verheißungen von Freiheit, Bindungslosigkeit, Unabhängigkeit des Menschen beglücken. Und, um diese Vision zu vervollständigen: mit dem Ablauf dieses Jahrtausends werde das grausame, christliche ,,Zeitalter des Fisches" mit seinem furchterregenden Eingottglauben, seinem Sünde- und Schuldbegriff im Gewissen der einzelnen und die wissenschaftlich besonders anspruchsvollen und umfassenden Darstellungen von Karl R. H. Frick, ,,Licht und Finsternis I" (Ursprünge und Anfange), Graz 1975, und ,,Licht und Finsternis n" (Geschichten ihrer Lehren, Rituale und Organisationen), Graz 1978. Frick bringt eine Fülle authentischen Quellenmaterials zu gnostisch-esoterischen und freimaurerisch-okkulten Geheimgesellschaften bis an die Wende zum 20. Jahrhundert, einschließlich der Weg führung in die Gegenwart. - Zur Frage des Bekanntheitsgrades okkulten Wissens vg1. Robert Charroux, "Verratene Geheimnisse", Berlin 1967. Eine unumgängliche Informationsquelle zu den Wurzeln moderner Geheimlehrgruppierungen ist die Kabbala. Vg1. dazu "Die Kabbala", Einführung in die jüdische Geheimlehre, Wiesbaden 1985. - Während des Aufenthaltes Wladimir I. Lenins in seinem Schweizer Exil wurde der russische Revolutionär in theosophische Denkvorgänge der Helena Blavatsky eingeführt, die ihn auch zur Teilnahme an magisch-rituellen Festfeiern am Monte VeriUi (Ascona) bewegten. Die anthroposophische Fortführung der Theosophie durch Rudolf Steiner sollte im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts eine ungeahnte Renaissance erleben, die in ihrer Ambivalenz ein alternatives Bildungs- und Erziehungssystem ebenso berührt, wie spirituell-beschwörerische Geheimkulte magischer Art, wie etwa die "Menschenrnesse" der Steiner'schen "Christengemeinschaft". Die Parallelen zum satanischen Kontrast der Erlösungstat Jesu, etwa dem heute praktizierten Schwarzmagischen Meßformular des Ordo Templi Orientis, werden - zumindest im Brennspiegel des Rosenkreuzertums - bei Rudolf Steiners Denken und Handeln offenkundig. Vg1. dazu die Gesamtausgabe der Gesammelten Werke Rudolf Steiners, ediert in Domach in der Schweiz, insbesondere Band IV ,,Die Philosophie der Freiheit" (Grundzüge einer modemen Weltanschauung), Domach 1978. - Band xm, ,,Die Geheimgesellschaften im Umriß", Domach 1977. - Band XXVI, ,.Anthroposophische Leitsätze", Domach 1982. - Eine übersichtliche Einführung bei Gerhard Wehr, ,,Der innere Weg" (Anthroposophische Erkenntnis, geistige Orientierung und mediative Praxis), Hamburg 1983, eine Begriffsinterpretation bei Adolf Baumann. ,,ABC der Anthroposophie", Bern / Stuttgart 1986.

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menschlichen Person zu Ende sein. 7 Damit aber auch die Inhalte der monotheistischen Hochreligionen, wie etwa des Judentums und Christentums: denn es gebe dann keinen Eingottglauben mehr, keine unsterbliche Seele der menschlichen Person, sondern ein ewig kreisendes kosmisches Bewußtsein, in dem Materie und das, was an Geistbegriff übrigbleibt, in ständigem Prozeß des Absterbens und Wiedergeborenwerdens die menschliche Existenz bestimmen. Staaten? Rechtsnormen, ja Rechtssysteme überhaupt? Kultur, Zivilisation? Angesicht der total ökologischen Verschwisterung mit der Natur, mit dem "Genossen" oder "Bruder Baum", mit Fröschen, Kaulquappen, Moskitos und Sumpfpflanzen?8 Zu Ende ist es mit dem Rechtsadressaten, dem einzelnen Menschen, der durch zwingendes Recht verpflichtet wird: um seines eigenen Wohl und Wehes willen. Zu Ende ist es mit dem natürlichen Recht, das als Grundnorm die Rechtskataloge der positiven Gesetze abstützt. 9 Das Konzept der New Age-Ethik entspricht der Maxime des satanistischen Hohenpriesters Anthony Sandor La Vey (Chureh of Satan, Kalifornien, USA) und dessen Vordenkers, des Hexenmeisters und Schwarzmagiers Aleister Crowley: "Tu, was du willst, das ist das ganze Gesetz". 10 Eine poetisch verzaubernde Parabolisierung erhielt diese Regel in den Werken Michael Endes "Momo" und 7 Eine eindeutige Absage an das christliche Zeitalter bei Beginn des New Age bringt Konturen eines völlig neuen Weltbildes an den Tag. Dazu Marilyn Ferguson, a. a. 0., und Robert Prantner, "Kulturethik und die alternative Wertordnung des New AgeBewußtseins", a. a. O. 8 In völliger Unkenntnis des antichristlichen Charakters im Netzwerk-Denken der New Age-Konzeption (mit der Negation eines personalen Gottes wie der Personalität des Menschen zugunsten der Kosmonalität) engagierten sich christdemokratische Politiker für ,,zukunftswerkstätten" im ,,Kraftfeld" (später in "Kräftefeldern"), die an energetisch geladenen Planquadraten zur Vollmondphase von grün-alternativer Lebensführung bis esoterisch-archaischen Kulten die Lebensbedürfnisse vor allem jener, aus der Zivilisation aussteigenden Menschen abzudecken suchten. Dabei referierten und präsidierten Workshops europaweit bekannte Esoteriker. Vgl. dazu die ,,Alternativuniversität der Österreichischen Hochschülerschaft" unter dem Thema "Seele und Genauigkeit", die als ,,zukunftswerkstätte Kraftfeld" vom 5. bis 12. Juli 1986 in Neunkirchen am Großvenediger stattgefunden hatte. In der begleitenden Prograrnmpublikation inserierte als Förderer die ErdölfIrma ,,Mobil" mit folgendem Slogan: "Geist: Energie in ihrer reinsten Form. Mobil". Vgl. dazu Blanche Merz, "Orte der Kraft" (wenig bekannte kosmoterrestrische Energien), Chardonne 1984. - In diese politisierten esoterischen Kraftfelder fließen, allzumal in Westeuropa, oftmals literarische Traditionen amerikanischer Indianerstämme ein und bestimmen den irrationalen Raum im Persönlichkeitsbild junger Frauen und pazifistisch gesinnter junger Männer, vgl. dazu Frank Waters, "Das Buch der Hopi", Köln 1983, Gerhard Kunze, ,,Thr baut die Windmühlen - den Wind rufen wir" (Alternative Technik - indianische Starnmestradition), München 1982, und Gerda Gollwitzer, ,,Botschaft der Bäume", Köln 1984. 9 Vgl. dazu Robert Prantner, ,,Kulturethik und die alternative Wertordnung ... usw.", a. a. 0., Fritjof Capra in allen o. zit. Werken, und Marilyn Ferguson, a. a. o. 10 Vgl. Aleister Crowley, "Das Buch der Lügen", Berlin 1983, ders., ,,Das Buch des Gesetzes", Basel 1981, John Symonds, "Aleister Crowley - das Tier 666" (Leben und Magick), Basel 1983, Anton Sandor La Vey, "Satanic Rituals", New York 1972.

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"Die unendliche Geschichte". 11 Der Orden "Thelema" (zur transzendentalen Veränderung des Bewußtseins) mit seinem Stammsitz in der Berliner Quedlinburgerstraße und die geheime mystizistische Gesellschaft des "Ordens von der Goldenen Dämmerung" repräsentieren - beispielhaft genannt - die geistigen Lehr- und Kultstätten dieser Variante des Luzifer-Syndroms im deutschsprechenden Teil Europas; aber auch in Turin, Rom, London und Paris neben Hamburg, Frankfurt, München, Zürich, Wien, dem Schwarzwald in der Bundesrepublik Deutschland, dem Waldviertel in Österreich, dem Emmental, sowie auf dem Monte Verita bei Ascona in der Schweiz. 12 Vier fundamentale Prämissen liegen dem Kern der Thematik zugrunde: 1. Die erste Prämisse besteht in der Akzeptanz des Monismus in der einen oder der anderen Form. Die starke Betonung, die New Age-Autoren auf östliche Lehren, auf die Quantenphysik, auf Meditation und interterrestrisches Bewußtsein legen, ist erklärlich aus ihrer gemeinsamen Komponente: der Voraussetzung, daß alles eins ist. 2. Die zweite Prämisse ist die New Age-Philosophie der Relativität und der ständigen Veränderung der Materie und des Seins. Demgemäß gibt es weder eine letzte Wahrheit noch einen persönlichen Gott, der sich endgültig historisch offenbart hat. Stagnation ist die Folge des Mißverständnisses, daß man ans Ende gelangt, im Besitz der Wahrheit ist oder das letzte Wort hat. 3. Die dritte Prämisse mit dem Stellenwert eines Basis-Ideals bedeutet "individuelle Autonomie". Da die gesellschaftliche Transformation durch die Transformation des einzelnen Menschen entstehen soll, muß jedes Individuum die Freiheit besitzen, selbst zu wählen, was es für das Beste hält. Eine der großen Parolen des New Age ist die Freiheit, jeden beliebigen Lebensstil zu leben, 11 Vgl. Michael Ende, "Momo", Stuttgart 1973, ders., "Die unendliche Geschichte", Stuttgart 1979, ders., ,,Der Spiegel im Spiegel", Stuttgart 1984. 12 Vgl. Eliphas Levi, "Geschichte der Magie", Basel 1985, ders., "Transzendentale Magie", 1. Teil: Dogma, Basel 1981, ders., 2. Teil: Ritual, Basel 1981. R. H. Laarß, ,,Eliphas Levi - der große Kabbalist und seine magischen Werke", Wiesbaden, o. J., Aleister Crowley, "Magische Rituale", Berlin 1980, ders., "Magick", Berlin 1983, R. Cavendish, "Die schwarze Magie", Berlin (1967, 1969), 1980, Gregovius, "Satanische Magie", Berlin 1983, Johann Friedrich Kleuker, ,,Magikon" (Das geheime System der Martinisten), Biblioteca Hermetica, Schwarzenburg 1980. Im Kontext mit märchenhaften Archetypen und mythologischen Vorstellungen haben Zauber und Magie ihren bestimmten, ja angestammten Platz, vgl. dazu Christian Büttner (Hrsg.), ,,zauber, Magie und Rituale" (Pädagogische Botschaften in Märchen und Mythen), München 1985. Die praktische Einbindung erweckter Menschen erfolgt auch heute wie ehedem auf bestimmten Wegen, mit tradierten Lehr- und Übungsmethoden; vgl. dazu Karl Spießberger, "Magische Einweihung" (Esoterische Lebensformung in Theorie und Praxis), Berlin 1976, Franz Bardon, "Der Weg zum wahren Adepten", Freiburg im Breisgau 1982, ders., "Die Praxis der magischen Evokation" (Anleitung zur Anrufung von Wesen uns umgebender Sphären", Freiburg im Breisgau 1982, Elisabeth Haich, ,,Einweihung", München 1972.

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den man leben möchte. Marilyn Ferguson bezeichnet dies als ,.Autarkie (government by the self)." New Age-Politik soll daher nach dem Vorschlag des Politologen Mark Satin das Recht auf Abtreibung, die Rechte der Homosexuellen und der Tiere und das Recht der Polygamie sicherstellen und alle Gesetze gegen Prostitution, Glücksspiel und Drogen beseitigen. New Age-Autarkie basiert auf der Vorstellung, daß es keine absoluten ethischen Grundsätze gibt, die sowohl für den einzelnen als auch für Gesellschaft ordnende Verbindlichkeit besitzen und daß es keine dauerhaften, von einem persönlichen Gott in die Natur des Menschen teleologisch gesenkten Normen gibt, die für alle Menschen, immer und überall Geltung beanspruchen. 4. Die vierte Prämisse ist die eindringliche Betonung des New Age-Bewußtseins, daß die Probleme des 20. Jahrhunderts aus der "westlichen", jüdisch-christlichen Weltanschauung, dem Offenbarungsgut der Heiligen Schrift und der katholischen Universalkirche stammen. Die New Age-Philosophie leugnet die Sünde. Sie leugnet auch, daß das grundlegende Menschheitsproblem moralisch, nämlich erbsündlich und durch individuale Sünden verursacht ist. Vielmehr sei "das" Menschheitsproblem durch Mangel an Wissen, einem unentwickelten Bewußtsein bzw. durch Einsichtslosigkeit in Zusammenhänge bedingt, die nur durch ein "anderes", ein alternatives, ein höheres Licht gewonnen werden könnte. Hier findet sich auch die Nahtstelle zur blauen Niedergradund roten Hochgradmaurerei der regulären Großlogen zum New Age-Netzwerk: ist es doch die Einbringung des Lichtes in den Tempel der Vernunft und bedeutet der Eintritt in die Loge doch "Lichtsuche" , die den Profanen nach Findung zum Eingeweihten erhebt. Die Probleme der Menschheit am Ende des zweiten Jahrtausend nach Christi Geburt berühren Politik und Umweltsorge, Moral und Ökonomie. New AgeKritiker hegen die Überzeugung, daß die Summe der Gegenwartskrise schuldhaft durch "veralterte" politische, religiöse und soziale Strukturen verursacht wurde. Die Primärpostulate der New Age-Philosophen beziehen sich daher auf eine Transformation dieser Strukturen und des menschlichen Lebens überhaupt: eine "neue WeItsicht" solle gefunden werden, neue ,,Paradigmen", Verhaltensmuster, Grundregeln, Vorbilder, Beispiele, Zielvorstellungen seien zu erstreben. Das Konzept im ontologischen Sinne, welches diesen Paradigmenwechsel mit Schubkraft voranbringt, enthält die Grundbefindlichkeiten des New Age-Denkens über Gott, die Menschheit, die Welt, die Erlösung und "Gut und Böse". ,,New Religious Movements Up-Date" (V(1981), 2 ff.) zufolge entsprechen fünf Lehrpunkte in etwa den meisten Elementen des alternativen Netzwerkes.

1. Gott wird unpersönlich aufgefaßt: Gott ist gleich Gesetz, Energie, schöpferisch kosmische Kraft. Die bibeltheologische Idee eines transzendenten, persönlichen Gottes wird verworfen oder so verändert, daß sie sich in einen pantheistischen oder monistischen Rahmen fügt.

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2. Menschheit. Die Menschen werden als Teil des Göttlichen oder selbst als Gott angesehen. Da das Universum göttlich ist, wie Pantheismus und Monismus annehmen, ist jede menschliche Person ein Funken des kosmischen Feuers, eine Welle des kosmischen Ozeans (vgl. Fritjof Capra). Der Leib wird als eine abgesonderte, temporäre Realität, als vorübergehende materielle Wohnstatt angesehen, ohne daß der dualistische biblische Personcharakter des Menschen, ausgestattet mit den Attributen der Vernunft und des freien Willens, angelegt auf individuelle Einmaligkeit und gesellschaftliche Bezogenheit, auch nur im geringsten akzeptiert wird.

3. Die Welt erscheint als Illusion (gleich der Welle des kosmischen Ozeans), als vergängliches Szenarium, an das man sich nicht binden darf, da die Welten und Universen ständig wiederkehren. Materie ist lediglich Manifestation oder Emanation des reinen Geistes, und sie verschwindet und kehrt wieder in ewigem Rhythmus. 4. Erlösung ist Selbsterlösung. Erlösung wird in spirituellem Sinne als Erleuchtung erlangt. Sie erfolgt durch Befreiung von der Bindung an die Welt und an das Bewußtsein. Erlösung erfolgt durch das Bewußtsein, daß man selbst Gott ist oder ein Teil von Gott und man diese mittels bestimmter Techniken und Rituale "erfährt". Erlösung ist ein Prozeß, der sich über viele Inkarnationen erstreckt. ,,Erfahrung" ersetzt "Glauben".

5. Gut und Böse werden als ethische Kontraste einer naturrechtlich-christlichen Normenrealität abgelehnt. Das Böse sei die "dunkle Seite der Schöpfung", die es anzunehmen und zu integrieren gelte. Das Böse sei das "sogenannte Böse". Ein "Erleuchteter", der zur Erkenntnis in einem höheren Lichte gelangt sei, transzendiere den "groben Dualismus" von Gut und Böse und gelangt zur vervollkommnenden Erkenntnis, daß dies alles ein "Teil des kosmischen Gleichgewichtes" sei. Dies ergibt in der Praxis der menschlichen Lebensführung, welcher der naturrechtliche Begriff von der "Würde der menschlichen Person" im Zentrum eines jeden gesellschaftlichen Handelns zu einer sinnlosen Leerformel geworden ist, eine "Neue Ethik", die einen ,,Neuen Menschen" im Paradigmenwechsel betrifft. In sieben Grundvorstellungen läßt sich zusammenfassen: 1. Die Wiederherstellung menschlicher Ganzheit durch die Integration des ,,Bösen" und die Vereinigung der Gegensätze. Ihr Grundprinzip ist die Bejahung des "Bösen", das Annehmen und Wiedereingliedern der unter der alten Ethik abgespalteten Teile. 2. Die liebevolle Zuwendung zum dunklen Teil im Menschen. 3. Individualethik durch "seelische Autonomie", Überwindung der durch die alte Ethik zuwegegebrachten Spaltung der Welt, des Menschen und der Gottheit.

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4. Gesundwerden durch "Ganzwerden" und "Heilwerden" . 5. Verzicht auf Be-Wert-ung, Abschaffung des Begriffes "Wert". 6. Abbau der "alten, neurotisierenden Strukturen" durch Öffnung auf weitere unmittelbare Erfahrungen. 7. Befreiung von Verhaltensmustern und Programmen, auf Selbstverwirklichung zielend. Der bedeutendste Part des Paradigmawechsels sei im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich die neue Sexualethik des New Age: -

Sexualität habe den höchstmöglichen Stellenwert im menschlichen Dasein.

-

die Idee monogamer Beziehungen ist im eigenen Bewußtsein radikal abzubauen. Monogamie sei ein ,,kultureller, irrationaler Glaube", ungeachtet "widersprechender Beweise und gegenteiligen Verhaltens".

-

Ziel einer Transformation der Kultur eines Neuen Bewußtseins sei ein relevanter Sexualkontext.

-

Die New Age-Familie könne unter Umständen von festen oder eheähnlichen losen monogamisch-typischen Bindungen ausgehen, müsse aber um der Selbstverwirklichung der Partner willen offen bleiben für einen oder mehrere zusätzliche Sexualpartner beiderlei Geschlechts. Die Neue, transformierte Familie sei ein offenes System, das nicht mehr durch ,,Exklusivitäts- und Treuewahn" begrenzt und unterdrückt werden dürfe. Die christliche Einehe entspreche dem Zwang, der Repression, der Hartherzigkeit des Fische-Zeitalters, die New Age-Ehe des Wassermannes aber sei von zarten Strukturen und zärtlichem Umgang geprägt.

Bemerkenswert ist der Einfluß dieser esoterisch-welt- und bewußseinsverändernden Philosophie auf die Szene der gewaltpraktizierenden linksterroristischen Szene der Achtzigerjahre. Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin waren in die schwarzmagische Szene von Berlin latent eingebunden. 13 Das Lebensprinzip des "absolut ungebundenen Tuns" war auch das ihre. Diese Maxime verwirrt jeden sittlichen Kontrast von Gut und Böse. Das Böse sei "die dunkle Seite der Schöpfung", die es anzunehmen und zu integrieren gelte. "Ohne das Böse" kein ,,kosmisches Gleichgewicht". Daher auch Folgewirkungen für die menschliche Gesellschaft: 1. Inthronisierung einer ökologischen und feministischen Betrachtungsart der menschlichen Lebensweise, die "zutiefst spirituell" sein werde und sich von materiellen Sachzwängen nicht mehr bestimmen läßt. Parallel Reduzierung des partriarchalischen Erbes der Mannesrolle in Familie und Gesellschaft auf die naturgegebene temporäre Rolle bei der Zeugung des kommenden Lebens. 13

Vgl. Horst Knaul, "Das Testament des Bösen", a. a. O.

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2. Absage an die monogame, auf Aus-schließlichkeit, Dauer und personale Werte der Liebe und Treue angelegte Form der Ehe und Öffnung auf wechselnde, plurale Partnerschaften ohne Festlegung auf Quantitäten in der fallweisen Tisch-, Bett- und Lebensgemeinschaft. Das Kriterium hierfür sei die Selbsterlösung durch ungehemmte Lustentfaltung und Lustrücknahme. Schon heute machen sich Tendenzen bemerkbar, die naturgegebene Gestalt des Modells ,,Familie" auszuhöhlen, aufzuweichen und ad absurdum zu führen. 3. Absage an das gesamte System der auf Produktionseigentum und soziale Partnerschaft basierenden Marktwirtschaft, an die Verteilungsformen des Handels, an Verkehr und an die mit der Gestaltung von Wirtschafts- und Lebensräumen verbundenen zivilisatorischen Planung brauchbarer Infrastrukturen. Wenn nötig, totale Verweigerung und Blockade mit gewaltfreien, letztlich jedoch auch (aus der "Verzweiflung legitimierten") gewaltanwendenden Mitteln des Verhinderns. 4. Absage an die im europäischen Verbund während dreier Jahrtausende gewachsenen Systeme der demokratisch-parlamentarischen Regierungsform, sowie an die republikanischen und monarchischen Staatsfiguren. Zugleich Absage an die gesellschaftlichen, von Subsidiarität getragenen und durch Solidarität menschenwürdig gestalteten Strukturen in regionaler und kategorialer Hinsicht, an Länder, Gemeinden, an Verbände und freie Vereinigungen. 5. Im internationalen Bereich - solange Grenzmarkierungen souveräne Staatswesen noch trennen - absoluter Pazifismus und Liquidation aller militärischer Sicherheitskräfte und polizeilichen Ordnungseinheiten - im Sinne des "autonomen, sich basisdemokratisch selbst verwaltenden Menschen". 6. Im Gesamtbereich: die "Vier Grundwahrheiten" der Esoterischen Welt: a) kein Stufenbau von Werten und Ordnungen, b) Akzeptanz polarer Gegensätze, c) Annahme des dialektischen Prinzips des Marxismus-Leninismus in der Entstehung von "Drittem" aus Gegensätzen und d) FÜTWahrhalten eines Gesetzes der Ausgewogenheit, der Balance, in zyklischem und rhythmischen Ablauf. (Übrigens sind dies auch die vier ,,Fundamentalwahrheiten" der "Tabula Smaragdina" des legendären Hermes Trismegistos, die auf das Syndrom der New Age-Alternativen einwirken: auf Gnosis und Mythos, auf Magie und den Ritualismus in der Kraft der Zeichen und Symbole.) 14 14 Vgl. dazu Hans Joachim Bogen, ,,Magie ohne lllusionen", Freiburg i. B. 1982, Doktor Johannes Faustus, ,,Magia naturalis", sämtliche magische Werke, neu bearbeitet von Kurt Benesch, Wiesbaden 1984. Herve Fillipetti / Janine Trottereau, ,,zauber, Riten und Symbole" (Magisches Brauchtum im Volksglauben), Idres Shah. "Magie des Ostens" (Die okkulte Überlieferung des Orients und Asiens), Basel 1984. Donald Curtis, ,,Die

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Was bedeuten diese "vier Grundwahrheiten" schließlich für die praktische Existenz unseres gesellschaftlichen Systems? Sie bedingen -

die Ablehnung von allen Autoritäten und Hierarchien, ja, jedweden ordnenden Stufenbau des gesellschaftlichen Seins;

-

die Bejahung des gesamten Katalogs von menschlichen Verhaltensweisen, die wir als "Straftaten" in unseren europäischen Systemen des Kriminalrechts kennen, philosophisch getarnt: die Bejahung des Widerspruchs, der Gegensätze, der Kontraste des Dunkeln zum Licht;

-

die Einbeziehung von Gedankengut des Philosophen und Esoterikers Karl Marx, der in der deutschen Stadt Trier einem schwarzmagisch-gnostischen Zirkel angehörte, wie Quellenforschungen offenlegen. Hier vor allem die "ontologische Fixierung des dialektischen Prinzips" 15;

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und schließlich die Ablehnung von allen menschlichen und gesellschaftspolitischen Denk- und Organisationsstrukturen im Bereiche "Sicherheit", da "das Blindvertrauen auf materielle, ausgewogene, quasi-kosmische Verläßlichkeit jede Katastrophe ausschließt."

Der Modephilosoph von selbsternannter Geschichtsmächtigkeit, Fritjof Capra, ursprünglich fachhonoriger Physiker, deutet in seinem "Tao der Physik" sein holistisches, ganzheitliches Weltbild so: "In der geschichtlichen Ordnung der Natur ist der jeweilige individuelle menschliche Geist in den umfassenderen Geist gesellschaftlicher und ökologischer Systeme eingeordnet. Dieser ist wieder

magische Kraft deines Unterbewußtseins", Geretsried 1981. Karl Spießberger, "Telepathie - die Macht des Überbewußten", Berlin 1982. Die eigentliche Wiederbelebung altägyptischer, keltischer und aus dem mesopotamischen Raume stammender dämonischer und magischer Vorstellungen und Traditionen, die aber als Continuum der Subkulturen ungebrochen fortleben, erfolgten erst im letzten Drittel des 2. Jahrtausend nach Christi Geburt. Vgl. dazu Edgar Wind, "Heidnische Mysterien in der Renaissance", Frankfurt am Main 1984 und Kurt Benesch (Johannes Faustus-Forscher), ,.Magie der Renaissance". Einen anderen magisch-historischen Bezug fmdet man bei Robert Anton Wilson, ,.Masken der Dluminaten", Basel 1983 und (aus dem afrikanischen Kontinent) Rolf ltaliaander, "Schwarze Magie - Magie der Schwarzen", Freiburg 1983. Der lusitano-amerikanische Spiritisten-Kult entfaltete sich im 20. Jahrhundert zu einer Millionen Anhänger umfassenden synkretistisch-magischen Religionsgemeinschaft, die ihre Wurzeln in den Starnmesheimaten der schwarzen Sklaven und im brasilianisch-indianischen Traditionsstrom hat. Starke Einsprünge eines magisierten volkskirchlichen Katholizismus brasilianischer Provenienz nehmen um so mehr an Bedeutung zu, als marxistisch-basiskirchliche Gruppen die Mysterien der christlichen Offenbarung zugunsten revolutionärer Ziele der Gesellschaftsveränderung zurückstellen. Vgl. dazu Pompilio Possera de Eufrazio, "Catecismo do Umbandista", Rio de Janeiro, o. J. Byrton Torres de Freitag / Tancredo da Silva-Pinto, ,.As mirongas de Umbanda", Rio de Janeiro, o. J. Geraldo Serrano, ,.A Prece Segundo 0 Espiritismo", Rio de Janeiro, o. J. 15 Vgl. Richard Wurmbrand, "Der unbekannte Karl Marx", Uhldingen-Seewies (1976) 1985, und Christoph Strawe, "Marxismus und Anthroposophie", Stuttgart 1986. 6*

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in das planetare geistige Erbe integriert." Nach Erik Jantsch zerfließt unsere personale Vorstellung von einem Schöpfergott, der unsere Welt in ihrem Dasein erhält, vollends: "Gott, das ist nicht ein persönliches Wesen, das einen Schöpfungsakt vollzogen hat, sondern der Geist des Universums, gewissermaßen die Selbstorganisationsdynamik des gesamten Kosmos". 16 Diese Gedanken vegetieren nicht unter dem Glassturz eines exklusiven Labors. Sie beschäftigen unsere Jugend, sie dringen in die Schulen, bemächtigen sich des organisierten Freizeitangebots der Kirchen, der kulturellen und anderen Jugendgemeinschaften, gewinnen infolge der Insistenz alternativer Minoritäten politische Mächtigkeit, werden durch alternativ-grüne und ultrarote Flügelmandatare demokratisch-sozialistischer Gruppierungen in die tägliche Debatte der gesetzgebenden Körperschaften, manchmal offen, zumeist verschleiert, verbrämt, mit unverschämter, scheinheiliger Redlichkeit eingebracht und verbreitet. Daß Ideen solcher Art zu geschlossenen, verabsolutierten Ideologien werden, sollte uns nicht wundem, wenn wir die Sehnsucht ungezählter junger Menschen des freien Europas nach einer Antwort auf die Sinnfrage des Lebens in die Waagschale werfen. Asiatisch-amerikanische, zuweilen auch ureuropäische, keltisch-archaische Sektengemeinschaften werden für Europas Jugend zunehmend zu einer nicht genug ernst zu nehmenden Bedrohung. 17 Fritjof Capra, "Das Tao der Physik", a. a. O. Die destruktiven Psychokulte, die sich vereinsrechtlich in Jugendsekten vom Charakter einer Sondergemeinschaft mit Arkandisziplin (Schweigepflicht) formieren, sind in ihren Modellen im Zusammenhang mit magischen Traditionen zu betrachten. Wie die ,,AGPF-Aktion für geistige und psychische Freiheit - Arbeitsgemeinschaft der Elterninitiativen e. V." (D-5300 Bonn 1, Graurheindorferstraße 15) in IDK IV /86 vom 23. Dezember 1986 berichtet, wurden - dies sei als Beispiel für viele andere Fälle festgehalten-die Standorte (Filialen) der Scientology-Sekte am 4. Dezember 1986 in zwanzig italienischen Städten durchsucht und anschließend auf richterliche Anordnung auch geschlossen. Staatsanwaltschaft, Polizei und Finanzbehörden beschlagnahmten beachtliche Mengen strafrechtlich relevanten Materials. Zu den Delikten zählen ,,Bildung einer kriminellen Vereinigung", Betrug, Nötigung, unerlaubte Heilbehandlung und Steuerhinterziehung. - Zugleich mit der Razzia in den Scientologie-Dianetics- und Narconon-Büros wurden auch deren Konten in zahlreichen Bankinstituten behördlich beschlagnahmt. Kommentatoren sprachen von einem "zweiten Fall Verdiglione", dem Psychiater aus Mailand, dem die Justizbehörden bewiesen, er habe seine Patienten hörig gemacht und sie gesundheitlich geschädigt und ausgebeutet. Genau dies hatte bereits im September 1985 Ennio Malatesta, ein Unternehmer aus Monza, der Scientology-Sekte vorgeworfen. Er hatte gegen diese Strafanzeige erstattet, weil diese seine unter Depressionen leidende Ehefrau "behandelte" und dafür auch noch etwa öS 350.000,- kassierte. Die erwähnte Signora Malatesta verteidigte "Scientology" öffentlich "blanken Hauptes und mit gezücktem Schwert". In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Scientology-Zentrale und einigen ihrer Filialen der Rechtsfähigkeit entzogen, was zu einer Streichung aus dem Vereinsregister (e. V.) zu führen hat. Der Zentrale wurde darüber hinaus ein Gewerbeverbot erteilt. 1984 wurde die Zentrale in München durchsucht und mittels LKW-Transporter Beweismaterialien sichergestellt. Einer der Anklagepunkte: Unerlaubte Heilbehandlung. Demnach können Zahlungen für solche "Techniken" zurückverlangt werden: die Honorare an die Sektenfmanz betragen zwischen öS 350.000,- und öS 1,8 Millionen. Wie die 16 17

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Von der Verletzung des Strafrechtskatalogs durch die Sektenführer, Hohepriester, Hexen- und Satansmeister wissen wir aus zahlreichen Strafprozessen, wobei als Signale die Begriffe Devisenschmuggel, Waffentransfer und Einführung harter Suchtgiftmittel in konsumabler Drogenform zu erkennen sind. Zugleich und im Konnex überflutet ein buntes, auch den Banalitäten des primitiven Aberglaubens zuzuordnendes Kaleidoskop Millionen Menschen: Böser Blick, Computer-Horoskop, Feen, Geistheiler, Gnome, Hexen, Kupferarmband, Magnetismus, mystizistische Duftstoffe, schwarzmagische Satans- und / oder Hexenmessen, Sonnenäther-Kraft, Stein des Feuers, Todeskulte und Woodoo-Zauber, Wunderheiler, Zahlenmagie, Zauberamulette, und das alles eingebracht in Gruppen- und Grüppchentraining zur Selbstbefreiung und - in eine verheißungsvolle, aber niemals eingelöste Technik der persönlichen Glückserfüllung. 18 Einer demoskopischen Umfrage zufolge ist jeder vierte Deutsche und Österreicher von paranormalen, parapsychologisch einordenbaren, eventuell auf sein persönliches Leben einwirkenden Kräften überzeugt, wobei nicht die Frage nach seiner religiösen Zuordnung gestellt war. Deutsche Buchhandlungen vom Rhein bis an die Donau können auf ein esoterisches Eck, auf eine übersinnliche Nische nicht mehr verzichten. Neben dem feministischen Bord im Schaufenster locken Titel über die "okkulte Wirklichkeit", die das Leben des Menschen bestimmen Austria-Presse-Agentur in ihrer Gerichtsberichterstattung mehrmals im Verlaufe einer Prozeßverhandlung (Tagsatzung) im September und Oktober 1988 berichtete, hatte die österreichische Staatsbürgerin Lore P. die Scientology-Sekte in der Republik Österreich verklagt und dabei den Zwang (die Nötigung) zur Praxis der Schwarzen Magie miteinbezogen. Um die ihr von Mitgliedern der beklagten Partei versprochene psychische Hilfe und Heilung ihrer Beschwerden zu erlangen, habe sie der Vereinigung öS 335.000,bezahlt, ein Erfolg habe sich jedoch nicht eingestellt. Der an und für sich nicht prozeßscheuen "Scientology"-Sekte wurde dies außerordentlich peinlich. Um nämlich "ihre anderen Mitglieder vor einer Veröffentlichung von Interna zu schützen" erklärte sich Scientology vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien bereit, an Frau Lore P. öS 490.000,- (öS 335.000,- plus gesetzliche Zinsen) TÜckzubezahlen. Die Klägerin wurde als Gegenleistung verflichtet, niemandem Informationen und Daten über die "Scientology-Kurse OT3" mitteilen zu dürfen. Zum Gesamtthema vgl. Denis Clabaine, "Yoga oder das Kreuz" (Der Yoga, die Transzendentale Meditation und verschiedene Wege der Befreiung auf dem christlichen Prüfstand), Zürich 1984, und U. Bäumer, "Wir wollen nur deine Seele!", Bielefeld 1985. Diese Publikation stammt aus dem Verlag der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland, Wuppertal. Die umfassendste Darstellung aller adäquaten Sondergemeinschaften fmdet sich im ,,Handbuch Religiöse Gemeinschaft" (Freikirchen, Sondergemeinschaft, Sekten, Weltanschauungen, Missionierende Religionen des Ostens, Neureligionen), Gütersloh 1985, von katholischer Seite Friederike Valentin, "Umwege zum Heil?", Wien 1980. 18 Vgl. dazu AdolfHoll (Hrsg.), ,,Die zweite Wirklichkeit" (Esoterik, Parapsychologie, Okkultismus, Grenzerfahrungen, Magie, Wunder), Wien 1987. Joachim Winkelmann, "Tarot der Eingeweihten", Berlin 1953. Ernst Kurtzahn, "Der Tarot - die kabbalistische Methode der Zukunftsforschung als Schlüssel zum Okkultismus", Berlin 1983. Karl Spießberger, ,,Runenmagie" (Handbuch der Runenkunde), Berlin 1968. Franz Dornseiff, "Das Alphabet in der Mystik und Magie", Leipzig 1985.

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sollten, Bücher rund um das New Age, indische Guru-Lehren und kosmischsexuelle Befreiung von dem, was offenbar bisher die humane Existenzentfaltung beschränkt hat. 19 Karma, frühere Leben, spätere Leben, Wiedergeburt, Weltuntergangsprophetien ab und vor Nostradamus bereichern den gruselig globalen Kontext. An Gott glaubt man nicht, an Feen und Gnome schon. 20 Nun geht es aber in dieser Gedankenführung nicht nur um die neue Denkweise selbst, sondern um die gesellschaftsverborgenen, zielführenden, infiltrierenden Klein- und Mittelgruppierungen der Szene. In den Covens 20• der archaischgrünalternativen Religion der "Großen Göttin", Dianas, der "Großen Mutter" (mit einem keltisch-britannischen Erbe der Rituale) entstehen ähnlich wie in Satanszirkeln schwere psychische Abhängigkeiten, seelische Schäden, die den Teilnehmer, die junge Frau, den jungen Mann, in zwanghafte Krankheitsformen und gefährliche Neurosen führen und gelegentlich in den Wahnsinn, in ein paranoides oder paranoisches Schicksal treiben. "Bewußtseinserweiterung und Selbsterlösung" standen am Anfang, Straffalligkeit und schwere Krankheiten zeichnen das Ende. Mobilisierung von Energien aus der Welt des Kosmos und aus der Erkenntnis eigener physischer Kraftquellen verbinden sich mit der Anrufung von Geistwesen und Dämonen, die das seelische 19 Vgl. ,,Handbuch der Sexualmagie" (Praktische Wege zum eingeweihten Umgang mit den subtilen Kräften des Sexus), Haar 1986 und John Munford, "Tantrische Sexualmagie", Basel 1984. 20 Zu den Standardwerken des weltweit erneuerten Themas ,,Mythos" zählt Kurt Hübner, ,,Die Wahrheit des Mythos", München 1985. Das Phänomen behandelt aus verschiedener Perspektive ein Sammelband "Die Rückkehr des Imaginären" (Märchen, Magie, Mythos, Anfang einer anderen Politik", der auch die sichtbar werdende Einbindung mythologischer Denkvorstellungen und "Gefühle" in die alternativ-grüne Szene Europas verdeutlicht. Morris Berman, "Wiederverzauberung der Welt" (Am Ende des Newton'schen Zeitalters), München 1984, korrespondiert mit dem New Age-Autoren Paul Hawken "Der Zauber von Findhorn", Hamburg 1986, ist ein Sachbuch zum grünmagischen Phänomen im Norden Schottlands, das zu einem Kultort und Kultsymbol für Netzwerk- und Energiekomplex esoterischer Landwirtschaft geworden ist. Weiters bieten Aufschluß: Alan Gamer, ,,Der Mond von Gornrath" (Geschichte und Zauber der alten Magie), Köln 1985, Briant Bates, "Wyrd" (Weg eines angelsächsischen Zauberers), München 1984. Sergius Golowin, ,,Magier der Berge" (Lebensenergien aus dem Ursprung), Basel 1984. Jorge A. Livraga Rizzi, "Die Naturgeister oder Elementale", St. Georgen / Attergau / Wien 1985 (Neue Akripolis, Reihe Humanismus-Philosophie-Esoterismus). Nikolai Tolstoy, ,,Auf der Suche nach Berlin" (Mythos und geschichtliche Wahrheit), Köln 1987. Nancy Arrowsmith, ,,Die Welt der Naturgeister" (Handbuch zur Bestimmung der Wald-, Feld-, Haus-, Hügel- und Luftgeister aller europäischen Länder), Frankfurt 1984. Hans Egli, "Das Schlangensymbol" (Geschichte, Märchen, Mythos), Freiburg i. Br. 1982. Aus der Fülle trivialliterarischer Produkte, die den Zeitschriftenund Buchmarkt disqualifizieren, ragen einzelne astrologische Titel von beachtlicher Relevanz zum New Age-Lebensgefühl und zum Paradigmenwechsel hervor, beispielhaft sind zu nennen: Alfons Rosenberg, ,,Zeichen am Himmel" (Das Weltbild der Astrologie), o. o. 1984; Carola Martine, "Die Sinnlichkeit der Sternzeichen", München 1986. Vgl. im weiteren Sinne auch Richard Clemens "Die sybillinischen Orakel", Wiesbaden 1984. 20a Coven (Zusammenkunft mit Pakt in der WICCA-Religion), eine kontraktive Wortbildung stammt von "connvenant" (feierliche Übereinkunft, Vertrag, Pakt).

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Gleichgewicht des sektiererischen Aktivisten vollkommen destabilisieren. In der Bundesrepublik Deutschland leben an die 12000 organisierte Anhängerinnen und Mitglieder der "Wicca-Religion", jener feministisch-archaischen Frauenreligion, in deren Konventen heute Installateure und Taxichauffeusen, Krankenschwestern und Politikerinnen, Hochschullehrer und Vorstandsdirektoren chemischer Konzerne, Studenten, Künstler, Publizisten und Schriftsteller initiiert aktiv werden. In 70 Städten der Bundesrepublik Deutschland bestehen Hexenzirkel mit offizieller ritueller Tätigkeit in allen Vollmondnächten des Jahres und zu den ,,heiligen archaischen Tagen" wie in der Walpurgisnacht, zur Sonnwende und zur Feier der ersten Mensis junger Mädchen. Das zyklische Blut wird nach dem Vorbild der Feiern auf den Beverly Hills in Kalifornien als zentrale Lebensmacht zelebriert. Die moderne Hexe, die Amerikanerin "Starhawk", ist eine der auch in Europa wirkenden Protagonistinnen des Wicca-Kultes, der die Große Göttin, den gehörnten Fruchtbarkeitsgott, im Einzelmitglied des Covens entschleiert und auf das gesamte gesellschaftspolitische, zivilisatorische, kulturelle Leben bewußtseinsund systemverändernd umlegt. Keine Frage, daß Europas "andere Religion", das "alte Heidentum", wie es erneut etwa im englischen Stonehenge zum Leben erwacht, dem Sinnlichen den eigentlichen Vorrang einräumt und auch hier "befreiend" von Normen wirken will. Die moderne Hexe (weiblich, wie männlich) verkultet die Nacktheit, elementare Körperfunktionen von Frau und Mann in hexischen, pseudosakramentalen Riten, insbesondere den Monatszyklus als Hochfest der Fraulichkeit, aber auch die "grüne Natur". Extremökologische Bekenntnisse und aussteigerische Lebenskonsequenzen verbinden den hexischen Menschen mit der politsystem-ablehnenden extremen alternativen Szene. Gisela Craichens Report "Die neuen Hexen" und Starhawks "Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin" (Magische Übungsrituale und Anrufungen) stehen unter anderem als publiziertes Zeugnis. 21 21 Will man den nach Erachten des Verfassers gesellschaftsmächtigsten Bereich moderner Esoterik begreifen, so kann man nicht umhin, das Thema "Weibliche Spiritualität" (vgl. Hallie Iglehart, "Weibliche Spiritualität", Traumarbeit, Meditation und Rituale, München 1983) aus der Themenvielfalt der zeitgenössischen Keltenforschung zu untermauern, vgl. dazu die umfassenden und aufschlußreichen Publikationen: Jean Markale, ,,Die keltische Frau" (Mythos, Geschichte, soziale Stellung), München 1984, Martha Sills-Fuchs, ,,Die Wiederkehr der Kelten" (Vorwort von Lotte Ingrisch), München 1984 sowie über die geheimnisvollen Seher-Propheten-Lehrer- und Priestergestalten der Kelten, die sogenannten ,,Druden", auch "Druiden", Jean Markale, "Die Druiden", München 1985 und Lancelot Lengyel, ,,Das Geheimwissen der Kelten", Freiburg i. B. 1985, und Reinhard Haller, "Von Druden und Hexen", Grafenau 1977. - Zu den energetischesoterischen, geographischen Räumen (Hochflächen, Wäldern, abgrenzbaren Gebieten) zählt in Europa neben dem Schwarzwald (Bundesrepublik Deutschland) und dem Emmental sowie dem Monte VeritA bei AScona (Schweiz) das Waldviertel in Niederösterreich. Im Bildungshaus des Zisterzienserstiftes Zwettl (Waldviertel) fand vom 29. August bis 2. September 1984 ein "Keltensymposium" statt, welches aus ThemensteIlung und Teilnehmerkreis rührend eine beachtenswerte Eigendynamik bis in den festlich esote-

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Im Rahmen ethischer und gesellschaftswissenschaftlicher Forschungen in den politisch extremen und esoterisch-gesellschaftsbezogenen Randzonen Europas begegnet man der erschütternden Tangente von Satanismus und Terrorismus, risch-magischen Abend hinein entfaltete. Moderierende und politisierende Rollen fielen bei diesem Forschungsgespräch und Workshop der ehemaligen Dozentin an der Münchener Universität Heide Göttner-Abendroth und der (nachmaligen) Fraktionsvorsitzenden des Klubs der "Grünen" im österreichischen Nationalrat, Freda Meissner-Blau, zu. Zielvorstellung war es, aus dem archaisch-matriarchalischen Feminismusmodell der Keltenepoche dem patriarchalisch-römischen, aus biblischer Weltvorstellung stammenden Leitbild des Offenbarungsglaubens eine Absage zu erteilen und damit gesellschaftsverändernden (mehr oder minder sanften) Sprengsatz zu setzen. Ohne Planung (und auch ohne Wissen des sein Bildungshaus vermietenden Zisterzienserstiftes) nahm bei diesem Symposion "der programmierte Prozeß des Zufalls" (engl. Happening) seinen Weg. - Aus den abendlichen Frauenritualen zur Selbstfindung und Selbstentfaltung bei Mondlicht erwuchs durch die plötzliche Präsenz eines modemen Druiden-Priesters (Druiden sind in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, in Großbritannien, Frankreich und anderen Staaten vereinsmäßig organisiert) ein Ritual mit schwarzmagischen Formen. Moderatorin der Plenargespräche war Freda Meissner-Blau, die vor allem dem Referenten über keltischen Schamanismus Briant Bates stilprägende und weich-grün-a1ternative Themenführung zuerkannte, während die Aussteigerin aus dem universitären Hochschulbetrieb Heide Göttner-Abendroth die wissenschaftstheoretische Rolle der Kritik zwischen den Unzukömmlichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse in Staat und Gesellschaft und den sanften Nostalgien in keltischer Vorzeit personalisierte. Im Verlag AVIVA W. Dahlbert, der eine respektable esoterische, internationale Tonkassettenproduktion unterhält, erschien eine Mitschnitt-Dokumentation dieses esoterisch-a1ternativpolitischen Symposions "Wege ins Sonnenzeitalter", aus der zum Verständnis der archaisch-keltischen Szene des grünen Matriarchat der WlCCA-Religion folgenden Audiokassetten besondere Beachtung zukommen sollte: Gruppe 1: Heide Göttner-Abendroth, "Das Matriarchat bei den Kelten" (Nr. TD 4), dies., ,,Die keltische Frau" (Nr. TD 12), Freda Meissner-Blau, "Wir und die Kelten" (Nr. TD 2), dies., ,,Die Aktualität der Prähistorie" (Nr. TD 17), Wabun, ,,Frauen der Dämmerung" (Nr. A 35), Lotte Ingrisch, ,,Feen, Geister, Kobolde" (NT. TD 7). Gruppe 2: Richard Keamey, "Mythos und Politik" (Nr. TD 15), Michel Cazenave, ,,Politische Strukturen der Kelten" (NT. TD 3), Roisin O'Mara, ,,Keltische Dichtung" (Nr. TD 10), John HilI, ,,Keltische Imagination" (Nr. TD 16), Herbert Röttgen, "Keltisches Bewußtsein" (Nr. TD 1). Gruppe 3: Gertraud Steiner, ,,Keltische Religion" (Nr. TD 9), Martha Sills-Fuchs, ,,Das Gestirn der Kelten" (Nr. TD 5), Brian Bates, ,,Keltischer Schamanismus" (Nr. TD 8), Marco Bischoff, ,,Keltisches Christentum und Geomantie" (Nr. TD 13), Wabun, ,,Erdenenergie" (Nr. A 31). Eine umfassende Berichterstattung zu den esoterisch-feministischen aktuellen Themen - einbezogen deren Politisierung in der Gesellschaft des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates - emdet sich auch in der Zeitschrift "WEGE - Zur Synthese von Natur und Mensch", hrsg. v. Dr. Wolfgang Dahlberg, redigiert von Brita Dahlberg in Zusammenarbeit mit Mitgliedern von AGNlM e. V. und Frankfurter Ring e. V., Verlag A VIVA, Frankfurt am Main. Standardwerke zur Religion der Zaungängerinnen (Hagazusas, Hexen, whitches, a1tengl. wicca): Starhawk, "Der Hexenkult als Urreligion der Großen Göttin" (Magische Übungen, Rituale und Anrufungen), Freiburg i. B. 1983, Aradia, "Die Lehre der Hexen" (Mythen, Zaubersprüche, Weisheiten, Bilder), komment. v. Ch. Leland, München 1979, Zsuzsanna Budapest, "Herrin der Dunkelheit - Königin des Lichts" (Praktisches Anleitungsbuch für die neuen Hexen", Freiburg i. B. 1987, Florinda Donner, "Die Lehre der Hexen" (die Kunst, das Rad des Schicksals anzuhalten), Wien / Hamburg 1986, Ulrike Stelzl, "Hexenwelt", Berlin 1983, Angus Hell/ Jeremy Kingston, "Hexerei und schwarze Kunst" (Reihe "Groß Mysterien"), Mannheim 1979, Sergius Golowin, ,,Die weisen Frauen" (Die Hexe und ihr Heilwissen), Basel 1982, Pierre Delon, ,,Heiler

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allzumal in der Bundesrepublik Deutschland. Von der Teufelssekte "Church of Satan"22 hatte die lournalistin Ulrike Meinhof notiert: "Wer einmal in diesem und Hexer" , Basel 1984. Einen Typus von Sekundärliteratur repräsentiert die Reportage über Denken, Handeln und vor allem Motivationen von Hexen weiblichen und männlichen Geschlechts, die gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland "WICCA" praktizieren. Gisela Graichen, ,,Die neuen Hexen" (Gespräch mit Hexen), Hamburg 1986, vgl. auch Judith Janberg (Gerlinde Adia Schilcher): "Ich bin eine Hexe" (Erfahrungen und Gedanken, aufgeschrieben von Gisela Meussling), Bonn 1983, Renate Schweizer, "Hexen gegen den Atomtod" , Bonn 1984, Petra Kunkel, ,,Bruchstücke einer Mondin" , Ahrensbök 1982, Incape Künkel, ,,Auf der Reise nach Avalun", Ahrensbök 1982, Lotte Ingrisch, ,,Nächtebuch" , Freiburg i. B. 1986, Anita Pichler, ,,Die Zaunreiterin", Frankfurt 1986, Colett Piat, ,,Frauen, die hexen", Freiburg i. B. 1983, Harald A. Hansen, ,,Der Hexengarten", München 1983, Silvia Brinton Perera, "Der Weg zur Göttin der Tiefe" (Die Erlösung der dunklen Schwester - eine Initiation für Frauen), Interlaken 1985, Gertrud Steiner, ,,Die Frau im Berg" (Die Verwandlungsfahrten der Wildfrauen), München 1984. Umfassende Darstellungen von historischen Bezügen und zu gegenwärtigen Hexenkultphänomenen fmden sich in unterschiedlich strukturierten Publikationen: o. V., "Hexen und Hexenmeister" (Die okkulte Praxis - Talisman - der Teufel - die Magie - der Hexensabbath), Wiesbaden 1975, Erich Maple, "Hexensabbath" (Schwarze Kunst und Zauberei im Spiegel der Jahrhunderte), Eltville 1978, Sergius Golowin, "Hexen, Hippies, Rosenkreuzer" (500 Jahre magische Morgenlandfahrt), Hamburg 1981, Hans Biedermann, ,,Hexen" (Auf den Spuren eines Phänomens, Traditionen, Mythen, Fakten), Graz 1974. Ein neuaufgelegtes (nachgedrucktes) Standardwerk Soldan-Heppe, ,,Hexenprozesse" (2 Bände) datiert aus dem Jahre 1879. Schließlich ist die eher feministisch konzipierte Studie zu erwähnen: Hilde Schmölzer, ,,Phänomen Hexe" (Wahn und Wirklichkeit im Laufe der Jahrhunderte), Wien / München 1986, die infolge mangelnder Sachkenntnis der christlichen Mariologie zu verzerrenden Analogien verleitet. Von zauberhaften und poesievollem Liebreiz sind die romanhaften Erzählungen Waldemar Bonsels, ,,Mario" , Wien / München / Zürich 1979 und Hugh Lofting, "Die Wundermuschel" (Ein neuer Roman aus alten Zeiten), Wien / Leipzig / Olten 1938. Bonseis ist der Autor der ,,Biene Maja" und Hugh Lofting der Verfasser der mehrbändigen Reihe ,,Doctor Doolittle und seine Tiere". In beiden Bänden steht im Zentrum des Geschehens eine weise, helfende, heilende Frau an den Zäunen zwischen irdischen Wirklichkeiten und magischen Kräften. 22 Allein in der Stadt Rom, dem Sitz des Papsttums, leben über 8 ()()() initiierte Schwarzmagier der Satanskirchen unterschiedlicher Denomination; in der Industriestadt Turin dürfte es etwa 30 ()()() Mitglieder dieser Gruppen geben. In ganz Italien haben sich bereits 100 ()()() esoterisch-magisch praktizierende Menschen in einem Dachverband zusammengeschlossen. - Vgl. dazu Karl R. H. Frick, ,,Das Reich Satans", Satan und die Satanisten, Band 1 (Luzifer-Satan-Teufel, die Mond- und Liebesgöttin in ihren lichten und dunklen Gestalten, eine Darstellung ihrer ursprünglichen Wesenheit in Mythos und Religion), Graz 1982, Karl R. H. Frick, "Satan und die Satanisten", Band 2, Materialien zur Geschichte des Satanismus, ihrer Anhänger und ihrer Gegner, Graz 1985, Karl R. H. Frick, "Satanismus und Freimaurerei" (Satan und Satanisten, Band 3), Eine Dokumentation bis zur Gegenwart, Graz 1986, Gerhard Zacharias, "Satanskult und Schwarze Messe", Wiesbaden (1964) 1970, Richard Grötzinger, "Talismanische Dämonologie", 1. Teil: Tatsachen des Dämonenglaubens, 2. Teil: Praxis des Dämonenglaubens, Berlin 1985, Egon von Peterdorff, ,,Dämonologie", 1. Teil: Dämonen im Weltenplan, München 1956, 2. Teil: Dämonen am Werk, München 1957, Ulrich K. Dreikand, "Schwarze Messen" (Dichtungen und Dokumente), München 1970, o. V. "Apage Satana!" (Brevier der Teufelsaustreibungen mit einem Anhang: Der Exorzismus im Rituale Romanum), Genf 1954, Williams Sims Bainbridge, "Satan 's Power" (A Deviant Psychotherapy Cult), Berkeley / Los Angeles / London 1978, Bruno Gloger / Walter Zöllner, "Teufelsglaube und Hexenwahn", Wien / Köln 1984. Eine ,,Außenseiterpublikation" stellen die beiden Bände der in Wien ansässigen und praktizierenden Satanspriesterin Ela Hard da, die

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Boote sitzt, der kommt da so schnell nicht wieder raus." Jahre später, nach ihrer Festnahme, Verurteilung nach dem begonnenen Strafvollzug, erfolgte ihr Selbstmord. So wäre zu ergänzen: " ... der kommt da so schnell nicht wieder raus oder er kommt darin um." Die von der ,,Publizistin mit Talent" zur "Terroristin mit Blut" abgesunkene Ulrike Meinhof bezog sich aber auch auf den gesamten Rahmen des in die europäische Gesellschaft eindringenden sektenhaft geformten und organisierten Okkultismus. Wie Recherchen ergaben, war sie über die konkreten Bereiche des Satanismus, der WICCA-Religion (mit ihren Ansprüchen auf weiße Magie) wie jeden aktuellen okkulten Sektenumtrieb nicht nur optimal informiert, sondern selbst Aktivistin der schwarzsatanischen Szene. Ähnliches wissen wir von der Tochter eines evangelischen Pfarrers, der Terroristin Gudrun Ensslin, die zum harten Kern des RAF-Terrorismus zählte. Sie besaß eine umfängliche Literatursammlung über Schwarzmagie und Satanismus und behauptete in kleinen Zirkeln, von dorther ihre Kraftquellen zu beziehen. Viele Doktrinen, die eindeutig esoterisch-okkulten Ursprungs sind, finden sich in Kampfesschriften extremistischer Gruppen wie in den Protokollen der BaaderMeinhof-Prozesse wieder. Der Zürcher Soziologe Professor Gerhard Schmidtehen und der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günther Nollau, bekräftigen und erweitern die Gültigkeit dieser Beobachtungen. Professor Schmidtchen verweist auf den Kontext vORzunehmender religiöser Verwilderung und Säkularisierung der Wertvorstellungen "autonomer" Individualisten einerseits mit dem Anwachsen gesellschaftszerstörerischer Sekten auf der anderen Seite. Präsident Günther Nollau wieder behauptet mit gutem Grund in seinen Memoiren, Religion und Okkultismus seien in das vorterroristische Feld einzubeziehen. Hätten Religionen und organisierte Magie nicht im Gefühlsleben der meisten westeuropäischen Menschen ein "Tabu" dargestellt (- worüber man nicht spricht -), so wäre man schon vor mehr als zwei Jahrzehnten auf geistige Triebkräfte des Terrorismus gestoßen, die keineswegs den Erkenntnisstand, den wir besaßen, widerlegen. Ulrike Meinhofs sogenannte "Selbstaufopferung" im Hochsicherheitstrakt von Stammheim und die Suizide anderer Terroristen und Terroristinnen im Lichte okkult-schwarzmagischer Besessenheit oder Wahnideen zu sehen, scheint deswegen keineswegs so weit hergeholt. So könnte man die "Selbstvernichtungshandlungen" von Andreas Baader und Genossen durchaus in jene esoterisch relevante Statistik einordnen, nach der jeder fünfte Mord in Wirklichkeit ein Ritualmord schwarzmagischer Provenienz ist. "ihre Seele Satan weihte und damit in ihrem Leben Glück, Gesundheit und Erfolg erntete." Erfüllt von Gotteshaß verkündet Ela Hard auch über Sendestationen des Bildund Hörfunks verschiedener Radiostationen die Praktikabilität der Satansweihe: Ela Hard, ,,Die Kunst des magischen Tötens", Nürnberg 1983, dies., "Mafia und Schwarze Magie" (Lupara Bianca), Wien 1986.

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Der Kriminalist und Publizist Horst Knaut weist in seinem Buche "Das Testament des Bösen" auf die einschlägige Motivforschung hin: Nur selten lägen die Motive der Täter in der eigenen Persönlichkeit, sie seien, im Gegenteil, fremdvermittelt, es handle sich um psychische Manipulationen aus dem Einflußbereich der Sekten des pseudowissenschaftlichen PSI-Okkultismus, der sowohl in den USA wie in der UdSSR hinsichtlich seiner politisch-taktischen Umsetzbarkeit militärwissenschaftlich untersucht wird, aber auch aus dem Einflußbereich jener der "Church of Satan", die Gewalt nach dem Motto verherrlichen: "Du sollst Freude am Erschlagenen haben! Foltert und martert, Erbarmen laßt beiseite! Tu, was du willst, das ist das ganze Gesetz!"23 In welche Bereiche das Thema langt und wie es auch den Beamten vor Ort im Dienste lokaler Sicherheit berühren könnte, jenen Beamten, der irgendwo und irgendwann einmal im elektronischen Tosen einer harten Diskothek zu intervenieren hat, bezeugen die "Rolling Stones". Jene weltberühmte Band mit der Millionen-Abspielzahl bekennt sich zum Ortsbereich San Diego der "Kirche Satans" in Kalifornien. Sie verbreiten in einigen ihrer Titel, wie sie demonstrierten, Grundsätze, die jenen angehören, die sich dem Teufelskult geweiht haben. Eine zweite, nicht minder weltbekannte Gruppe, "Garry Funkel", bekennt sich gleichfalls zu satanischer Produktion. 24 Sie haben sich zum Ziel gesetzt, besonders solche Schallplatten und Kassetten zu verbreiten, die sich an ihrer eigenen ,,Aleister Crowley- und Anthony La Vey-Ideologie" orientieren, um die Jugend in den Satanismus der völligen Normen- und Sittenlosigkeit, der totalen Freiheit zu führen: "Tu, was du willst, das ist das ganze Gesetz!" Alle dem Satanismus geweihten Schallplatten sind auf ähnliche Grundsätze aufgebaut. Dazu gehört der Rhythmus, jener Beat, der sich der Bewegung der sexuellen Beziehung entsprechend entwickelt. Man hat plötzlich das Gefühl, in Raserei geraten zu sein. Daher gibt es auch so oft daraus hervorgehende Fälle von schwerer Hysterie: bringt man doch durch den Beat den sexuellen Instinkt auf einen höheren Grad; und dies bei einer gewählten Lautstärke von sieben Dezibel oberhalb der Toleranzgrenze des Nervensystems. Sind junge Menschen dieser Musik eine gewisse Zeit lang ausgesetzt, so entstehen zunächst Depressionen, dann Empörung und schließlich jene Aggression, die sich in Angriffslust und tatsächliche Gewalttaten umsetzt. Hinzu kommen unterschwellige Signale. Es handelt sich um sehr hohe Signale oberhalb der Hörgrenze. Es ist eine "Harmonie der Ordnung" von 3 000 Schwin23 Vgl. Horst Knaut, "Das Testament des Bösen" (Kulte, Morde, Schwarze Messen, heimliches und Unheimliches aus dem Untergrund), Stuttgart 1979. 24 Vgl. Jean-Paul Regimbal, O. Ss. T., L'equipe de collaborateurs, ,,Le Rock 'n' Roll" (Nr. 2, viol de la conscience par les messages subliminaux, Quebec 1983, John O'Connor O. P., ,,La guerre de Satan contre nos enfants" (part le Drogue, le Satanisme, le Rock 'n' Roll), Quebec 1986, Dane Rudhyer, ,,Die Magie der Töne" (Musik als Spiegel des Bewußtseins), Bem 1984, C. Heller, ,.Magie der Duftstoffe", Berlin 1950.

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gungen pro Sekunde. Die Zuhörer können es mit den Ohren nicht vernehmen, weil es im Obertonbereich liegt. Es löst in ihrem Gehirn den Ausfluß einer Substanz aus, die eine ähnliche Wirkung wie Rauschgift hat; sozusagen eine natürliche Droge, die vom menschlichen Gehirn erzeugt wird. Sie fühlen sich dann fremdartig, und das ist auch die Absicht: um nämlich das Bedürfnis nach echtem Rauschgift zu wecken oder die daran sich anschließenden Gefühle fortzusetzen. Die ,,Rolling Stones" machten sich die rituelle Mühe, jedes neue Album im Rahmen der "Church of Satan" den Mächten des Dunklen zu dedizieren. Die Themen sind zielführend gewählt: Widerstand gegen die Eltern, gegen die Gesellschaft, gegen den Staat, Verweigerung, ein Nein gegen alles, was besteht. Wie aus Enthüllungen der "Church of Satan" entnommen werden kann, gehört die Entfesselung aller sexuellen Triebe zur Voraussetzung der Schaffung eines Zustandes der Anarchie, der zur Errichtung der Universalherrschaft Satans führt. Im Frühjahr 1982 wurde die amerikanische Rockgruppe Led Zeppelin von einem kalifornischen Gericht wegen Beeinflussung mit satanischen, unterschwelligen Botschaften auf der Schallplatte "Stairway to heaven" verurteilt. Die inkriminierten Texte sind aus den Gerichtsakten bekannt. Liest man die Texte verkehrt, also von hinten nach vorne, so erschließt sich eine absolute und bedingungslose Lebensweihe an Satan. In Kalifornien gehen 18 Prozent der Jugendselbstmorde und viele Gewalttaten auf den Rock'n Roll zurück. Zweifellos gibt es eine esoterische Verbindung von Rock und Rauschgift, wie die Beispiele der Beatles mit "Yellow submarine" und der Rolling Stones mit ,,Brown sugar" (Heroin) zeigen. Und es besteht ein bekannter Zusammenhang zwischen Rock und Okkultismus, der zum Satanskult überführt. Ein Exempel dafür ist der Beatle-Song aus dem Jahre 1968 "The Devils White Album". Auf dieser Platte wurden das erste Mal unterschwellige Botschaften über das Unterbewußtsein mitgeteilt, um das ,,Evangelium Satans" zu übermitteln. Mit auf dem Wege sind neben den Rolling Stones die Gruppen The Who, Black Sabbath, Led Zeppelin, KISS (Abkürzung für "Knights in Satan's Service") und andere harte Bands.

Wie gelangte man zur Erkenntnis dieser Zusammenhänge? Durch einen Prozeß der Konsumentenschutzorganisation in Kalifornien sind diese unterschwelligen Steuerbotschaften an das Unterbewußtsein in die Öffentlichkeit gekommen. Sie können mit den äußeren Sinnen, wie Ärzte und Psychologen bestätigen, nicht wahrgenommen werden, und somit besteht überhaupt keine Verteidigungsmöglichkeit gegen diese Art von Aggression. Das Unterbewußtsein ist jedoch in der Lage, diese Botschaften zu entschlüsseln und über den Weg des Gedächtnisses das Bewußtsein zu beeinflussen. Die Rock-Botschaften sind sehr differenziert: sexuelle Perversion, Revolte gegen die bestehende Ordnung, Einflüsterung des Selbstmordes, Anregung zu

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Gewalt und Mord und schließlich die Weihe an Satan. Diese Wortbotschaft wird im ,,Reversmaking-Prozeß" übertragen, das heißt rückwärts. Sie wird dem Bewußtsein sofort verständlich, wenn man die schwarze Scheibe verkehrt abspielt. Ein weiteres Mittel zur Steuerung ist übrigens das mit der Musik gekoppelte Stroboskop, der Blitzlichteffekt, der das Orientierungs-, Urteils- und Reflexionsvermögen beträchtlich vermindert. Besonders das moralische Urteilsvermögen wird geschwächt. Originalaussagen von John Lennon, Paul McCartney, Ringo, von der Gruppe Kiss, den Black Sabbath-Spielern oder von Alice Cooper bekräftigen und bestätigen die Bandbreite der Szene. Der Präfekt der Glaubenskongregation der römisch-katholischen Kirche Josef Kardinal Ratzinger warnte vor dem Einzug adäquater Musik in den liturgischen Raum, stieß aber im Verlauf der Erörterungen auf dem VIII. internationalen Kongreß für Kirchenmusik in Rom (November 1985) auf Unverständnis und Ablehnung. Bemerkenswerterweise sind es Jugendliche in pfarrlichen Gruppierungen, welche der grünalternativen und esoterischen Szene zuneigen, die auch bewußtseinsverändernde harte Musik in den christlichen Kult sowohl der katholischen wie der evangelischen Kirche einbringt. Dies gilt vor allem für die deutschsprachigen Diözesen in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, der Schweiz, ja selbst der Deutschen Demokratischen Republik bis 1989. Nach Schätzungen der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen in Stuttgart treffen sich schon mehr als 10 000 Jugendliche heimlich in Kellern, Garagen und anderen dunklen Räumen zu schwarzmagischen Ritualen mit gesellschaftsverändernden Zielen. Der Stuttgarter evangelische Oberkirchenrat Walter Schmidt spricht von Satanskult als ,Jugend-Droge" von heute. Von der nordamerikanischen Satansszene an den Universitäten bekündet Mike Warnke in seinem Selbstzeugnis "Der Agent des Satan", die Wirkmächtigkeit der Schwarzen Magie als Ersatzreligion. 2S Das Netzwerk von ökologischen Widerstandsgruppen, Kämpfern gegen die Kernkraft, von Friedensbewegten im bündnispolitischen Kontext mit den Emissären des einstigen ostdeutschen Ministeriums für Staatssicherheit, von TotalAlternativen, Systemverweigerern in Wirtschaft und Kultur, Staat und Gesellschaft, die zumeist verborgenen esoterisch-sektiererischen Quellen zur Liquidation von Verfassung, Grundgesetz und Rechtsordnung, die Antiautoritären, Autonomen und Revolutionären Zellisten, die Mordbrigaden mit und ohne ultralinke Embleme, mit oder ohne Pentagramm am Sockel ihrer Kräfte, präsentiert sich als massive Bedrohung von Recht und Ordnung. 26 Mike Warnke, "Der Agent des Satans", Erzhausen 1983. Anlaß zu qualifizierter Sorge gibt die infiltrierende Aktivität ultraroter und vor allem esoterisch-grünalternativen Kleingruppen unter dem "solidarischen Anliegen des Friedens, der Abrüstung, des Pazifismus, der Dritte-Welt Kampagnen, der Anti-Chile25

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Die sozialphilosophische und weithin in die Rechtswirklichkeit hineingreifende Fragestellung am Ausgangspunkt der Überlegungen läßt die publikumswirksamen und wissenschaftlich belächelten Proklamationen von ,,Neuen Werten", "Neuem Denken", einem Paradigmenwechsel begleitet vom Abschied "alten, unfreien Denkens", in einem doch beklemmenden und durchaus ernst zu nehmenden Lichte erscheinen. Ihre Lösung durch vermehrtes Engagement zur gegebenen Thematik scheint dem Verfasser ein dringendes Pqstulat im Handlungskatalog von Theologen, Philosophen, Medizinern und Juristen noch vor dem Ablauf des Jahrtausends.

und Anti-Südafrikaparolen" in pfarrliche und synodale respektive diozesane Gremien der beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich, aber auch der Schweiz. Die Unterwanderung erfolgt systematisch und fmdet Resonanz bei Pfarrseelsorgern, männlichen und weiblichen Ordenschristen, die im Prozeß des Wertewandels orientierungslos geworden sind. Dazu vgl. Basilius Streithofen, "Die Divisionen des Papstes" (Vom Wertewandel in den Klöstern), München 1988. - Destabilisierende Subversion zählte aber auch zu den vorgeschriebenen Zielvorstellungen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik. Verdeckt arbeitende Beamte (UCA - under cover agents) des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes, zuverlässig, belastbar, arbeitsintensiv und anpassungsfahig, machten sich auch mit den Inhalten und Ritualen esoterischer Grüngruppen in der Bundesrepublik Deutschland vertraut, vorwiegend in den politisierbaren Bereichen, die Staat und Gesellschaft in Grundgesetz, Rechtsetzung und Vollzug, selbstverständlich auch im judikativen Bereich in Frage stellen oder ablehnen (Persönl. Mitteilung von X Y an den Verfasser). V-Männer des DDRStaatssicherheitsdienstes dürften nicht im grün-esoterischen Bereich der westdeutschen Alternativen agieren. Sie bewegen sich im bündnispolitischen Bereich von Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, in der Friedens- und Antikemkraftbewegung und im antiamerikanischen Pazifismuspool von Katholiken, Evangelischen Christen, Kommunisten und linksextremen Sozialisten der SPD.

ARTURO CARLO JEMOLO Ein italienischer Kulturphilosoph von europäischem Rang Von Giovanni Spadolini

I. Ein Vortrag zur republikanischen Verfassung in der Accademia dei Lincei Ich habe drei Männer in Erinnerung, die unabhängig vom Amt, das sie gerade innehatten, für ihre Korrespondenz gerne Briefbögen der Accademia dei Lincei verwendeten. Der erste war Luigi Enaudi, der auch noch als Staatspräsident zu solchem Papier griff. Der zweite war Antonio Segni und folgte in dieser Hinsicht unmittelbar dem Beispiel des ersten großen Staatsoberhauptes der italienischen Republik. Der dritte, dem nie die Ehre zuteil wurde, hohe öffentliche Ämter auch nicht jenes des Senators auf Lebenszeit - zu bekleiden, obwohl er sich durch sein außerordentliches geistiges Schaffen um Italien verdient gemacht hatte, war Arturo Carlo Jemolo. Von den gut hundertfünfzig an mich gerichteten Briefen verfaßte der große Gelehrte und persönliche Freund einen Großteil auf Papier der Accademia dei Lincei, darunter alle handgeschriebenen, mit der für ihn typischen, bewegten und oft schwer leserlichen Schrift, die eine gewisse geistige Unruhe zu erkennen gab. Mit der Accademia dei Lincei verband Jemolo die Pflege von Werten einer Kultur, die sich in ihm in der Verbindung von Altem und Neuem voll enfaltete. Es wäre sicher der Mühe wert, lieber Herr Präsident, sehr geehrte Mitglieder, die für die Hefte der Accademia zum Thema ,,Problemi attuali di scienza e cultura" verfaßten Schriften in einer einheitlichen Sammlung zu ordnen. Beharrlichkeit, Ausdauer, Präzision, umfassendes Wissen in allen Bereichen des Rechts und der Geschichte, stetige Bereitschaft seine Kenntnisse zu erweitern waren Eigenschaften von Jemolo, der ohne Überheblichkeit auf jener ständigen und mühseligen Suche nach der Wahrheit war, die für ihn zu einer Lebensaufgabe wurde. Er stand den Argumenten seiner Gegner aufgeschlossen gegenüber und verschanzte sich nie hinter persönlichen Meinungen und Sicherheiten. Als Skeptiker und somit auch als Mann der Vernunft war Jemolo ein liberaler Katholik, strebte er ständig nach einem Gleichgewicht im Zwiespalt zwischen Glauben

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und Geschichte, den er auf bewundernswerte und unvergleichliche Weise zu überwinden verstand. Als Herausgeber der Zeitschrift ,,Nuova Antologia", die er sehr schätzte und die zahlreiche Schriften aus den letzten zwanzig Jahren seines Lebens veröffentlichte, hatte ich zufällig die Gelegenheit, mich um den Briefwechsel zwischen Luigi Enaudi und Acturo Carlo Jemolo zu kümmern. Diese gesammelten Briefe werden demnächst um die Korrespondenz erweitert, die von Enaudis Sohn kürzlich in Dogliani wiedergefunden und der Hauptsammlung aus dem Zentralen Staatsarchiv zuerkannt wurde. In einer neuen Folge erscheinen in Kürze in meiner Zeitschrift die in einer schlichten und sachlichen Sprache gehaltenen Erinnerungen, die er zusammen mit Gustavo DeI Vecchio dem alten Lehrer und Mitarbeiter von Gobetti und Verfasser der gobettinischen ,,Lotte dellavoro" widmete. Lassen Sie mich nach Enaudi zu einem seiner treuen Anhänger, Angelo Baffi, kommen. Die ,,Nuova Antologia" hat Jemolos eindrucksvollen und dramatischen Briefwechsel mit ihm aus den Jahren von 1965 bis 1980, der von einem ausgeprägten Gefühl der Trostlosigkeit und der Entmutigung beherrscht ist, veröffentlicht. Jemolo hat sein Vertrauen zu den Parteien verloren. Er spürt die Jahre, die seit den Zeiten des "brennenden Dornbuschs", wie er sie selber definiert, vergangen sind. Er lotet die tiefe Kluft zwischen den Idealen der Befreiung und der Realität aus, wie sie sich in der von Terrorwellen erschütterten Republik präsentiert. Traurige Vorzeichen dafür hat es schon bei den Zwischenfällen an den Universitäten gegeben. Jemolo mißbilligt den Dilettantismus in der Wirtschaft. Er zeigt sich besorgt über die absurde Süditalien-Politik, die unzähligen ,,Kathedralen in der Wüste". Er schenkt den Inflationsbekämpfungsmaßnahmen einer politischen Klasse, der es an der zur Bewältigung von Gefahren und Krisen notwendigen Durchsetzungskraft fehlt, keinen Glauben. Gerade das Wort "emergenza" (Notstand, A. d. Ü.) wird nach seiner Ansicht falsch verwendet und mißbraucht. In seinem letzten Brief an Baffi vom 29. Dezember 1980, fünf Monate vor seinem Tod, gesteht er ein, die Zahl der Italiener, denen seine Bewunderung und "uneingeschränkte Achtung" gelte, könne er an den Fingern einer Hand abzählen. Er verwehrt sich gegen jeglichen Übergriff und läßt sich auf keine Weise unter Druck setzen. Er beurteilt die Macht der Gewerkschaften mit äußerster Strenge und prangert jede Form von Partikularismus und überheblichem korporativen Denken an. Beim Durchsehen der mir von der Accademia freundlicherweise zur Verfügung gestellten Schriften erregte eine Rede meine Aufmerksamkeit, die der Jurist Jemolo, der das Recht nie von der konkreten gesellschaftlichen Entwicklung trennte, vor sechsundzwanzig Jahren, am 11. Dezember 1965, gehalten hat. Das Thema von damals durchdringt auch heute wieder immer tiefer und dramatischer die aktuelle politische Debatte in Italien, wird selbst Gegenstand der politischen

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Auseinandersetzung und erzeugt in der nun fünfundvierzig Jahre alten Republik selbstverachtende und selbstzerstörerische Tendenzen, gegen die wir uns mit Nachdruck verwahren müssen. Der Titel dieses einmaligen, ja fast häretisch anmutenden Vortrags lautete: ,,La costituzione. Difetti, modifiche, integrazioni". Dieser Vortrag vor den Mitgliedern der Accademia war frei von jeglichem Konformismus, von falscher Bescheidenheit oder gefälliger Orthodoxie. Jemolo war zwar selbst nicht Mitbegründer der Verfassungsgebenden Versammlung gewesen, hatte ihre Arbeiten aber mit großer Begeisterung verfolgt und war bei der Erstellung des Verfassungstextes, der die bedeutende und klar erkennbare Handschrift seines Freundes und Kollegen Piero Calamandrei trägt, beratend tätig. Als Befürworter des Ausgleichs zwischen Liberalismus und Katholizismus konnte Jemolo Artikel 7 der Verfassung nicht gutheißen. Er hatte sich schon immer gegen jede Art von Absprache zwischen Kirche und Staat ausgesprochen und vertrat diese Haltung auch am Schluß seines Werkes "Chiesa e Stato in Italia". Er berief sich darin auf den Inhalt einer Broschüre von 1944 aus dem neugegründeten Verlag der Calamandrei-Zeitschrift ,,11 Ponte" mit dem Titel ,,Per la pace religiosa in Italia". Die Neuauflage der Broschüre ist übrigens vor einigen Jahren in den Heften der "Nuova Antalogia" erschienen. Obwohl Jemolo weder Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung noch Parlamentarier war und bei den einzigen Wahlen, an denen er 1958 für das Bündnis der Radikalen und Republikaner teilnahm, eine Niederlage erlitt, kann man ihn zu den Zeugen jener juristisch so schwierigen Geburtsstunde zählen, die sich dann auch auf die Verfassung mit ihren Übertreibungen, ihren Kompromißlösungen, Zweideutigkeiten und Ungereirnheiten, aber auch ihrer Größe, auswirkte. Das war auch der Grund für den Ton der Herausforderung, den Jemolo angesichts der Tabus und der falschen Gewißheiten jener Jahre zu Beginn seiner unvergeßlichen Rede anschlug:"Ich habe nie ein Hehl aus meiner Abneigung gegen die geltende Verfassung gemacht, obwohl ich die aus ihr hervorgegangene Staatsordnung und deren Grundprinzipien voll unterstütze. Meine Abneigung richtet sich gegen das Pathos, die vagen Ausdrucksweisen (die man mit beliebigen Inhalten ausfüllen kann), gegen die guten Vorsätze, die jeglicher juristischer Grundlage entbehren. Wie viel mehr schätze ich hingegen die Nüchternheit ich würde beinahe sagen - die Ernsthaftigkeit des Albertinischen Statuts". Jemolo kritisierte die ,,Nebelhaftigkeit" des sogenannten "Ersten Teils" der Verfassung, der die Grundprinzipien sowie die bürgerlichen und sozialen Grundrechte zum Inhalt hat. Man habe sich über entscheidende Fragen bezüglich der wichtigsten Institutionen der Republik, angefangen von den Beziehungen zwischen Staatsoberhaupt und Regierung, hinweggesetzt. Zu Artikel 94 äußerte sich der dem "partito di azione", dem einzigen Verfechter des präsidialen Regierungssystems in der Verfassungsgebenden Versammlung nahestehende Jurist folgendermaßen: "Es ist eine unvollständige Regelung. Aus 7 Festschrift Schambeck

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ihr und aus Artikel 91 ist abzuleiten, daß die Regierung ohne das Vertrauen des Staatspräsidenten auskommt und dieser keine Befugnisse zu ihrer Auflösung besitzt. Abgesehen von dieser fragwürdigen Regelung muß die Regierung ja schon allein im Falle der mangelnden Übereinstimmung zwischen den beiden Kammern zurücktreten, nämlich wenn die eine zwar der Regierung mit breiter Mehrheit ihr Vertrauen ausspricht, die andere es ihr aber entzieht. Und dazu kommt bekanntlich noch, daß bisher noch nie vom Mißtrauensvotum Gebrauch gemacht wurde. Keine der vergangenen Regierungskrisen beruhte auf diesem Votum, sondern vielmehr darauf, daß der Regierung die notwendige Mehrheit zur Verabschiedung der von ihr eingebrachten Gesetzesvorlagen fehlte oder daß unter den Regierungsparteien Meinungsverschiedenheiten herrschten". Und Jemolo weiter: "Daß dies die Ursachen der Regierungskrisen sind, war schon vor der Zeit des Faschismus bekannt. Schon damals bedauerte man das Fehlen einer dem Rücktritt vorausgehenden parlamentarischen Debatte, welche die Stimmung im Parlament und dessen Reaktion auf das Verhalten der für die Aufkündigung der Koalition verantwortlichen Minister hätte anzeigen können. Deshalb hätte man festlegen sollen, daß der Staatspräsident vor der Annahme des Entlassungsgesuchs der Regierung diese dazu auffordert, vor den beiden Kammern die Gründe für den Rücktritt darzulegen. Daraufhin hätten die Kammern Anträge mit Weisungen zur Regelung der Nachfolge verabschieden können". Was Jemolo vorschwebte war eine Regierung von größerer Stabilität, die durch die Stärkung der Befugnisse des Staatspräsidenten in der Lage sein sollte, Regierungskrisen nicht mehr außerhalb, sondern im Parlament selber beizulegen. Gleichzeitig bekannte er sich zu den Grundentscheidungen der Verfassungsgebenden Versammlung, zum grundsätzlichen und ausgewogenen "Balance of Powers", wie ihn der Verfassungstext vorsieht. So Jemolo: "Die Verfassung ist in einem Klima entstanden, das man sicherlich als Klima der Versöhnung bezeichen kann. Andere wiederum sprechen lieber von einem Komprorniß: Die Verfassung begründet einen Staat, den man weder als Konfessionsstaat noch als laizistischen, auch nicht als konservativen, kapitalistischen oder sozialistischen Staat bezeichnen kann und der sich in der Wirtschaft weder zu den Regeln des Liberalismus noch zu jenen des Sozialismus bekannt hat." Jemolo betonte aber gleichzeitig, diese Verfassung sei demokratischer als das Albertinische Statut, das Spiegel eines Landes gewesen sei, in dem das Bürgertum die Abschaffung der Vorrechte des Adels und die Anerkennung der politischen Grundrechte forderte, jedoch einen Staat befürwortete, der keinen Einfluß auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nahm, das Privateigentum schützte und ein streng proportionales Steuersystem vorzog. Die republikanische Verfassung trage hingegen die Handschrift einer breiteren politischen Klasse, deren Grundstock der untere Mittelstand und die Facharbeiter bildeten.

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11. Hüter der Interessen der Allgemeinheit Jemolo sprach sich im republikanischen Italien mit allem Nachdruck gegen eine Politik aus, die die Verteidigung von Privilegien oder die ausschließliche Verfechtung von Sonderinteressen in den Vordergrund stellte. Der große Italiener bekannte sich zu einem einzigen, über allem stehenden politischen und sozialen Grundprinzip: Das Wohl der Allgemeinheit hatte für ihn immer den Vorrang vor den egoistischen Interessen von Einzelgruppen. Er glaubte an die politische Moral und an einen gerechten und sittlichen Staat, auch wenn diese Anschauung im Laufe der schwierigen Entwicklung der Republik durch die politischen Tagesereignisse widerlegt wurde. Und über allem herrschte sein ernstes und strenges Staatsbewußtsein. In dieser Hinsicht knüpfte Jemolo an die Tradition seines großen Lehrers Francesco Ruffini an, der an der Universität von Turin, einer der wichtigsten intellektuellen Bildungsstätten der Jahre 1910 bis 1925, lehrte. Im Grunde war es die Denkweise des Sohnes einer Familie aus dem bürgerlichen Mittelstand, der seine Herkunft nicht verleugnete und sich zu den Werten der Hilfsbereitschaft, der Entsagung und des Verzichts bekannte. Diese Hintergrundwerte kamen auch in seinem zum Teil autobiographischen Werk ..Anni di prova" zum Ausdruck. Das Prinzip des Laizismus fand bei Jemolo durch das Primat der Vernunft und der Toleranz in einer rechtlichen und politischen Perspektive Anerkennung, in deren Mittelpunkt der Staat als ..gemeinsames Haus der Gläubigen und Nichtgläubigen" steht. Dieses stellte somit die Projektion der von Jemolo vertretenen und verteidigten Werte des Risorgimento dar. Gleichzeitig blieb er seiner Idee vom italienischen Staat treu, den er als anerkannter Journalist mit allen seinen Kräften vor partikularistischen und destabilisierenden Tendenzen, vor Kirchturmpolitik und lokalem Revanchismus zu bewahren versuchte. Laizistisch waren nach Ansicht von Jemolo all jene, die an keine ParteiIdeologie oder an unantastbare Gebote gebunden waren, sich dem Einfluß der Religion oder ausländischer Parteien entzogen und auf dem Boden der Tatsachen blieben. Sein Vorbild in dieser Hinsicht war La Malfa, der sich eingehend mit der unglücklichen Lage Süditaliens befaßte, jedoch auch in Richtung Norden schaute und sich für ein tief in Europa und in der Industriegesellschaft verwurzeltes, doch gleichzeitig seiner eigenen Entwicklungs- und Fortschrittsidee treues Italien einsetzte . ..Die eigentliche Gefahr ist dieser Raubbau am Staat, mit dem man als Feind erbarmungslos umgehen, den man als Gläubiger getrost täuschen und leer ausgehen lassen kann, gegen den man als Schuldner unerbittlich ist. Wohin uns dieser Weg des pauschalen Freispruchs für die Vergehen am Staat führen soll, weiß ich wirklich nicht". Diese Worte schrieb Jemolo vor beinahe 35 Jahren, am 9. Jänner 1957, in einem seiner vielen in dieser Zeitspanne und davor an mich gerichtetelen Briefe. 7'

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Jemolo hatte damals in der Tageszeitung ,.La Stampa" einen Leitartikel mit dem Titel ,,Babbo Natale" veröffentlicht. Daraufhin bekundete ich in der ,,11 Resto deI Carlino" in einem Artikel mit dem Titel "Salvare 10 Stato" meine volle Übereinstimmung (In der Sie-Form. Das Du kam erst am Anfang der sechziger Jahre). Heute, zehn Jahre nach seinem Tod, kann man diese Äußerung wohl als prophetisch bezeichnen. Wir erfahren inzwischen tagtäglich, wohin uns dieser Raubbau am Staat geführt hat. Damals, im Jänner 1957, hatte sich Jemolo noch nicht auf die pessimistische Haltung, ja die erbitterte Selbstkritik seines letzten Lebensjahrzehnts zurückgezogen, die von einem Schmerz gekennzeichnet war, der die tragischen Ereignisse in Italien nachzuvollziehen und zu reflektieren schien. Jemolo hatte vielversprechende Erfahrungen in der Politik gemacht, etwa mit "Unita popolare", einer zusammen mit Calamandrei und Codignola - seinen bewährten Freunden von der florentinischen Zeitschrift ,,11 Ponte" - gegründeten Bewegung, welche die Einführung des Verhältniswahlrechts von links verhindern wollte. Für dieses konnte sich Jemolo übrigens genausowenig begeistern wie für De Gasperi. Etwa ein Jahr später, 1958, nahm dieser der politischen Bühne fernstehende Mensch, der vorher noch nie öffentliche Ämter bekleidet hatte - von ein paar Monaten als Kommissär des italienischen Rundfunks (EIAR) kurz nach der Befreiung abgesehen - als Kandidat des republikanisch-radikalen Bündnisses, der späteren Republikanischen Partei von U go La Malfa, an den Parlamentswahlen teil. Vom Ergebnis her fiel die Wahl für die Partei negativ aus, das intellektuelle Niveau der beteiligten Kandidaten war aber wohl einmalig. Jemolo war damals kämpferisch und durchaus angriffslustig, wie die stürmischen Ereignisse um das Urteil gegen den Bischof von Prato 1958 und Jemolos entschiedene Absage an jede religiöse Entartung zeigten. Mit dieser Haltung befand er sich auf einer Linie mit Papst Pius XII in den letzten Jahren seines PontifIkats. Jemolos Lebensweg war einmalig. Trotz der Widersprüche seines Handelns, über die er sich selber ständig Vorwürfe machte, war er ein Mensch von außerordentlicher geistiger Konsequenz. Jemolo war Katholik, verstand es jedoch, die Sphäre des Glaubens von jener der politischen Anhängerschaft zu trennen. Der menschliche Wille ohne die göttliche Gnade war für ihn, der einen Hang zum Jansenismus hatte, nicht vorstellbar. Edoardo Ruffini, Freund und Nachfolger der Ideen und der Lehre Jemolos, hat ihn als unverbesserlichen Pessimisten bezeichnet, der trotz seines katholischen Glaubens und seines Vertrauens in die Vernunft dazu neigte, in der Geschichte das Unheil zu sehen und die geschichtlichen Ereignisse als Projektion der Erbsünde, ja beinahe als Vorbestimmung zu werten. In ihm herrschte die Wehmut vor, die Besinnung auf die Vergangenheit, auf den Anstand und die Einfachheit des ,,kleinen Mannes", wie Bobbio es bezeichnete. Aus dem unteren Mittelstand kam er, und eben daher stammte sein Pflichtgefühl, sein unermüdlicher Einsatz, seine

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Idee der Unantastbarkeit des Staates, dem seine fast mönchische Hingebung galt. Im Sinne Mazzinis hatten in allen seinen Betrachtungen die Pflichten den Vorrang vor den Rechten. Es ist kein Zufall, daß Jemolo als einer der ersten katholischen Intellektuellen die Rassengesetze ablehnte, nach der Befreiung Italiens sehr früh für die Reform des Konkordats und die Rückbesinnung auf die Regeln der religiösen Selbstbestimmung plädierte, die er in seinen Vorlesungen an den Universitäten von Sassari und Bologna, Mailand und Rom unermüdlich darlegte und verteidigte. Schon 1944 forderte er in einer seiner Schriften einen neuen ,,Religionsfrieden" für Italien. Wie er dann auch Ende der siebziger Jahre zum Erstaunen und Mißtrauen seiner Freunde empfahl, dem von Andreotti erarbeiteten und später unter der Regierung Craxi verabschiedeten Komprorniß zum neuen Konkordatsentwurf keine Steine in den Weg zu legen. Jemolo war ein ,,konservativer Progressist" und stand damit in der großen Tradition des Risorgimento. Er war immer bereit, den sozialen Besitzstand zu erweitern und keineswegs Vertreter eines finsteren Klassen-Konservativismus. Auch wenn er zu einigen Grundwerten eine konservative Einstellung hatte, entzogen sich seine Anschauungen jedem Versuch der Zuordnung und Vereinfachung. Kritik übte er an der staatlichen Gängelung, der überdrehten Anspruchskultur und prangerte die Übel der Bürokratie an. Die Übermacht der Parteien ertrug Jemolo nicht. Aber, wie sein Vortrag in der Accademia dei Lincei beweist, war er auch nicht bereit, die Verfassung als oberstes Gebot zu betrachten, dem man sich bedingungslos unterwirft. Für ihn stand in der Geschichte das Individuum im Vordergrund. Den Versprechungen des Kollektivismus und der Vermassung schenkte er genausowenig seinen Glauben wie vorübergehenden Mythen. Vor diesem Hintergrund versteht man auch sein energisches Urteil über die Jahre der Protestbewegungen und die damit verbundene Erregung der Gemüter. Jemolo war ein hervorragender Journalist. Sein Stil war unverwechselbar, seine Sprache trotz plötzlicher Brüche und Geistesblitze außerordentlich klar. Sein Wissen vermittelte er dem Leser ohne Überheblichkeit und mit Bedacht auf dessen Bedürfnisse. Viele seiner Beiträge trugen autobiografische Züge, die jedoch niemals einem reinen Selbstzweck dienten und weder ins Literarische noch ins Gekünstelte ausuferten. Seiner Unruhe und seinem Wissensdrang verdankte er die Fähigkeit, die Verwendung von alten und neuen rhetorischen Gemeinplätzen zu vermeiden. Auch für die kleinste Nachricht zeigte er Interesse und verstand es, über Ereignisse der verschiedensten Art zu berichten. Den Direktoren der Zeitschriften war er ergeben und auch in aller Bescheidenheit bereit, Auftragsarbeiten zu übernehmen. In dieser Hinsicht erinnerte er an Salvatorelli. Seine besten Bücher sind aus den gesammelten Leitartikeln verschiedener Tageszeitungen, vor allem aus der ,,La Stampa" (Italia tormentata. Societa civile

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e societa religiosa. Costume e diritto. Anni di prova. Questa Repubblica) entstanden. III. Jemolos Vermächtnis

Jemolo verstarb im Mai 1981 vor dem Hintergrund eines Italien des Terrors und der Gewalt, des Mordes an Aldo Moro und - wie er es bezeichnete - der ,,Feinde der Vernunft". Italien war von den Roten Brigaden zermürbt, von der Inflation bedrängt und von einer Welle des Irrationalismus überrollt worden, die die höchsten und kostbarsten Werte der Demokratie hinwegzufegen drohte. Noch wenige Stunden vor seinem Tod äußerte er sich gegenüber einem Journalisten mit folgenden Worten: "Ich habe gehofft, die Lehre, die uns der letzte Weltkrieg erteilt hat, würde die Italiener ändern. Aber heute kommt es mir vor, als seien ihre Selbstsucht, ihr mangelndes soziales Bewußtsein, ihre Unfähigkeit zur Disziplin größer als zur Jahrhundertwende unter Giolitti". In einem an mich gerichteten Brief vom 6. April 1981 bedankte sich Jemolo für die zu seinem neunzigsten Geburtstag erschienene Sonderbeilage der ,,Nuova Antologia". (Schon am 17. Jänner hatte die "La Stampa" ihm einen eindrucksvollen Leitartikel gewidmet.) Der Ton des Briefes war wie immer herzlich, gleichzeitig aber geprägt von einer pessimistischen und schmerzlichen Note, welche die ihm eigene ekklesiastische Ader noch stärker betonte. ,,Am Ende meines Lebens befinde ich mich in einem Zustand der Verzweiflung, den ich für unmöglich gehalten hätte". Drei Jahre zuvor war er auf den letzten Seiten seines Werks "Questa Repubblica", einer einzigartigen, teils historischen, teils autobiografischen Bestandsaufnahme der dreißigjährigen Geschichte der Republik, zu folgender lapidaren Schlußfolgerung gekommen:"Ich sage nur eins: Wenn ich an die vielen Menschen denke, die mit mir die großen Hoffnungen von 1945 und der Jahre danach teilten, so kann ich gegenwärtig nur feststellen, daß Gott jenen seine Gnade erwiesen hat, die das Italien von 1978 nicht mehr miterleben müssen".

"Cittadini della patria europea" hat Carlo Arturo Jemolo seinen letzten, nach dem Tod veröffentlichten Artikel betitelt. Das war die Endstation des langen geistigen, in vieler Hinsicht emblematischen Lebensweges eines Europäers, der "pleno jure" die Tragödien, die Spannungen und die Widersprüche des modemen und zeitgenössischen Europa miterlebt hatte. Arturo Carlo Jemol0, geboren im Jahre 1891, hatte noch die Welt von gestern kennengelernt, die großen Erfolge der europäischen Zivilisation, in Italien die Errungenschaften der Giolitti-Ära, die Hoffnungen auf eine neue und bessere Welt des universellen Friedens und auf den gerade entstehenden Europagedanken. Jemolo hatte die Wirren des ersten Welkriegs mit kritischem und nüchternem Auge verfolgt. Dabei hatte er dem Croce der Gruppe ,,Italia nostra" näher gestan-

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den als den schreienden und heischenden Interventionisten. Zum Faschismus war er zuerst auf Abstand gegangen und hatte später dagegen opponiert, wie er mit der Unterzeichnung des Croce-Manifests bewies. Er blieb als Historiker dem Studium der Beziehungen zwischen Kirche und Staat treu, war Vertreter der liberalen Linie und Befürworter der Trennung zwischen Kirche und Staat. Auch während der Jahre der hitzigen Debatten um das Konkordat, als die Verbindung zwischen kirchlicher und staatlicher Macht dem Land eine neue Form der klerikalen Politik mit einem autoritären Einschlag und ohne die gemäßigten Thesen eines Gioberti zu bescheren schien, blieb er der Schüler von Francesco Ruffmi. Im Laufe der Jahre fand der geschätzte Historiker - sein Hauptwerk trägt den Titel "Stato e Chiesa" - zu einer Anschauung, in der die katholische Komponente sich nicht nur eng mit der liberalen verknüpfte, sondern manchmal die Oberhand gewarm. In diesem Sinne war Jemolos aktiver Beitrag zur Konkordatsreform im Lateranvertrag durch eine Haltung, die auch für die Democrazia Cristiana akzeptabel war, bezeichnend.

IV. Der Prophet Europas Für Jemolo war Europa die Tochter der christlichen Erkenntnis und der großen Lehre der Aufklärung, das Zusammenspiel zwischen der christlichen Erlösung und der weltlichen Anerkennung der Menschenwürde, das Bindeglied zwischen der "Civitas Dominis" und der "Civitas Dei". Die Aufklärung und das Christentum waren im übrigen die Grundelemente von Jemolos Weltanschauung, der er in seinem Leben konsequent treu blieb, obwohl ihm weder öffentliche Anerkennung noch politische Ämter zuerkarmt wurden. In seinem letzten Lebensabschnitt quälten ihn die Einsamkeit und häufig auch die Angst eines Menschen, der unerbittlich Kritik am zerrütteten System der Parteien und ihrer immer aufdringlicheren Herrschaft geübt hatte und in Italien beispielhafter Vertreter jener Minderheiten war, die sich durch ihren intellektuellen Protest auszeichneten. Wie Croce war Jemolo Verfechter des europäischen Einigungsgedankens im Sinne des Risorgimento. In seinem schon zitierten letzten Artikel schrieb er: "Diese Einheit karm geschaffen werden und muß geschaffen werden. Vollziehen wird sie sich aber wie die Einigung Italiens, mit der Hilfe von Menschen guten Willens, einer Elite, nicht aber durch ein spontanes und allgemeines Bewußtwerden". Die europäische Einheit müsse zum Wohle aller angestrebt werden. Es handle sich eben - so fuhr er fort - um eine Verbindung, bei der der ewige Widerwille des Reichen, sich mit dem Armen an denselben Tisch zu setzen, endlich überwunden werden müsse. "Denn Europa ist vor allem die Fähigkeit, unmittelbare

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Giovanni Spado1ini

Interessen höheren Zielen zu opfern". Genau das sei ein Jahrhundert zuvor bei der Einigung Italiens geschehen. Der große Historiker hatte kein Verständnis für eine strikte Trennung zwischen dem vereinten, oder zumindest föderativen Europa und den einzelnen europäischen Nationen. Gerade im letzten Artikel einer langen Reihe für die Tageszeitung "La Stampa" berief er sich auf den Gedanken des "europäischen Vaterlandes" als Synthese aller Nationen. Und fügte hinzu, in Italien höre man das Wort "Vaterland" fast nicht mehr, man zöge den Ausdruck" Land" vor. "Und doch spürten wir vor fünfunddreißig Jahren während der deutschen Besatzung das Vaterland sehr wohl ... ". Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation dürfe aber nicht bis zu dem Wunsch reichen, dem Nachbarn Schaden zuzufügen. Das Bekenntnis zum Vaterland müsse ein Bekenntnis zur Menschheit im Sinne Mazzinis sein. Diesem Gedankengut fühlte sich Jemolo verbunden. So sprach er mit ahnungsvollen Worten vom Vordringen "der Partikularismen, den Forderungen zugunsten erloschener oder von nur wenigen gepflegter Sprachen und Traditionen, dem Streben nach einem Europa der Regionen (ginge es nach den Vorstellungen bestimmter Leute, würden diese wohl vielfach winzig sein und nur drei- bis viertausend Einwohner umfassen). Und wenn ich so zusehe, wie in Italien sich die Vertreter von Sonderinteressen verbünden, kann ich nicht umhin, darin einen unausgesprochenen Wunsch der Loslösung von der Trikolore zu erkennen". In Europa gelte es hingegen, die Traditionen und die lokalen Eigenheiten zu achten. Und der Mensch der Vernunft müsse sich mit dem europäischen Bürger identifizieren, "der sich von einem zum anderen der heute noch Staaten bildenden Länder bewegt und zum Beispiel in Italien geboren ist, sich aber als Arbeiter, Beamter, Manager oder Lehrer für ein paar Jahre in Deutschland oder Schweden niederläßt und sich dort wohlfühlt, ohne jemals das Gefühl der Entwurzelung zu haben. Erst dann wird der wirkliche Europäer geboren sein". Arturo Carlo Jemolo war ein bedeutender europäischer Bürger. Seine Ideen sind zu einem Zeitpunkt, an dem die italienische Republik gefordert ist, entscheidende Weichen für die Aufnahme in ein größeres Vaterland zu stellen, von besonderer Aktualität. Für unseren unvergeßlichen Kollegen und Freund waren italienischer und europäischer Patriotismus ein und dasselbe. Aus diesem Grund konnte sich Jemo10 keinen zivilen Fortschritt außerhalb einer nationalen Gemeinschaft vorstellen, die in ihrem Inneren nicht im Stande ist, Gefahren der Destabilisierung und der Zersetzung zu überwinden. Nationale Einheit und europäische Einheit: Diese unauflösbare Verbindung müssen wir bewahren, im Bewußtsein, daß wir nur durch die Stärkung der Fundamente der Republik und durch ihre institutionelle und finanzielle Sanierung in der Lage sein werden, das Band zu der beim Maastrichter Gipfel gegründeten

Arturo Carlo Jemolo

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und besiegelten europäischen Familie erneut zu festigen. Daran müssen wir Tag für Tag arbeiten, indem wir unsere europäischen Verpflichtungen voll und ganz erfüllen. Die Verpflichtungen Europa gegenüber decken sich ja heute mit den Verflichtungen gegenüber unserer eigenen Nation. Denn es gibt für Italien keine andere Zukunft als die europäische. Europa ist mehr als nur unsere Vergangenheit. Es ist unsere Zukunft.

SUBSIDIARITÄ T

"Der höchstgewichtige sozialphilosophische Grundsatz" (Quadragesimo anno Nr. 79) Von Johannes Schasching S.J. Obwohl der Inhalt des Subsidiaritätsprinzips im Maastrichter Vertrag als bekannt vorausgesetzt wurde, bemühte sich die Kommission der Europäischen Gemeinschaft in eigenen Studiengruppen diesen Inhalt aufzuhellen und seine Folgerungen zu konkretisieren. In einem Bericht an den Rat und an das Europäische Parlament heißt es: "Der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im institutionellen Bereich liegt ein einfacher Gedanke zugrunde: Ein Staat oder ein Staatenbund verfügt nur über die Zuständigkeiten, die Personen, Familien, Unternehmen und lokale oder regionale Körperschaften nicht allein ausüben können ohne dem allgemeinen Interesse zu schaden. Dieser vernünftige Grundsatz soll gewährleisten, daß die Entscheidungen dadurch möglichst bürgernahe getroffen und die von den höchsten politischen Ebenen durchgeführten Maßnahmen begrenzt werden."l Aber auch diese Aussage läßt noch eine Reihe von Fragen offen. So spricht zum Beispiel der Maastrichter Vertrag im Artikel 3 b von ausschließlichen Zuständigkeiten der Gemeinschaft und konkurrierenden Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten ohne aber die Kompetenzblöcke näher zu bestimmen oder inhaltlich festzulegen. Es geht im folgenden Beitrag nicht darum, diesen offenen Fragen nachzugehen und die Implikationen des Subsidiaritätsprinzips für die Europäische Gemeinschaft zu hinterfragen. Bedeutsam erscheint, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaft von der Notwendigkeit "eines gemeinsamen Konzeptes" spricht, "um ständige Abgrenzungskonflikte zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten zu vermeiden". 2 Dieses "gemeinsame Konzept" wird aus einer Mehrzahl von Wissensdisziplinen und politischen Erfahrungen zu erstellen sein. Dazu braucht es ein hohes Maß an Sachverstand und Sinn für das politisch Mögliche. Die Frage läßt sich aber stellen, ob in dieses Bemühen nicht auch Grundsatzfragen und ordnungspolitische Prinzipien einfließen sollten. Wenn Jaques Delors sagt, "die europäische 1

Bericht vom 27. Oktober 1992

2

ebd.

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Johannes Schasching

Einigung wird uns nicht ausschließlich aufgrund juristischer Geschicklichkeit oder wirtschaftlichem Sachverständnis gelingen", dann deutet dies in die Richtung einer notwendigen Grundsatzüberlegung. Er sieht sie in einem Bemühen "in dem der tiefere Sinn der europäischen Einigung zu einer der beherrschenden politischen Fragen wird". 3 Es ist bekannt, daß die Interpreten des Subsidiaritätsprinzips immer wieder auf das Dokument der katholischen Soziallehre Quadragesimo anno (1931) hinweisen. Das allerdings nicht in dem Sinn als ob diese Sozialenzyklika das Subsidiaritätsprinzip erfunden hätte. Der Grundgedanke der Subsidiarität ist wesentlich älter als dieses Sozialdokument. 4 Quadragesimo anno aber gab ihm jene klassische Form, die heute immer wieder zitiert wird: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" (79). Entscheidend ist dabei für Quadragesimo anno die Feststellung, daß es sich bei dieser Formulierung des Subsidiaritätsprinzips nicht um ein Rechtsmodell oder Wirtschaftsprogramm handelt, sondern um einen "höchstgewichtigen sozialphilosophischen Grundsatz". Das heißt mit anderen Worten: Die Sozialenzyklika Quadragesimo anno formuliert dieses Prinzip nicht zum Zweck seiner unmittelbaren Anwendbarkeit sondern als Denkweise und Grundsatzwissen, die jedem konkreten Versuch vorausgehen, ihn begleiten und orientieren. Damit wird das Subsidiaritätsprinzip nach Quadragesimo anno zu einem Angebot und Beitrag in der Suche nach dem "tieferen Sinn der europäischen Einigung" (Jaques Delors). Es darf hinzugefügt werden, daß sich die folgenden Ausführungen auf eingehende Studien im vatikanischen Geheimarchiv über die Entstehung der Sozialenzyklika Quadragesimo anno beziehen. In einem ersten Teil soll der zeitgeschichtliche Kontext aufgezeigt werden aus dem das Subsidiaritätsprinzip in Quadragesimo anno formuliert wurde. Der zweite Teil behandelt seine sozialphilosophische Begründung und Ausdeutung. I. Der zeitgeschichtliche Kontext Aus den Vorbereitungsarbeiten zur Enzyklika Quadragesimo anno ergibt sich eindeutig, daß der erste Entwurf des Rundschreibens aus der Hand des deutschen 3 4

Ansprache vom 14. April 1992 Luyckx. Marc: Histoire philosophique du concept de subsidiarite. Brüssel 1992

Subsidiarität

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Jesuiten P. Oswald von Nell-Breuning stammt. In diesem ersten Entwurf gibt er eine Analyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation nach dem ersten Weltkrieg: Der liberalistische Kapitalismus hatte "die vielstufige und reichgegliederte Organisation der menschlichen Gesellschaft zerschlagen". Daraus folgte "jene Zerrüttung der Wirtschaft, die die wirtschaftenden Menschen in Klassen auseinanderfallen ließ". 5 Die Klassen aber sind nicht auf Kooperation ausgerichtet sondern auf Klassenkampf und Diktatur. Es ist bedeutsam, daß die Enzyklika Quadragesimo anno selber diese Analyse von P. Nell-Breuning fast wörtlich übernahm: "In Auswirkung des individualistischen Geistes ist es so weit gekommen, daß das einst blühende und reichgegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltete menschliche Gesellschaftsleben derart zerschlagen und nahezu ertötet wurde, bis schließlich fast nur noch die Einzelmensehen und der Staat übrig blieben" (78). Dieser Zustand des vernichteten gesellschaftlichen Mittelbaues war ein Nährboden für totalitäre Ideologien. Sie kamen aus einer zweifachen Richtung: auf der einen Seite vom kollektivistischen Marxismus mit seiner These von der Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft durch die Diktatur des Proletariates, auf der anderen Seite von der Ideologie des Faschismus und Nationalsozialismus, die über das Monopol einer faschistischen Partei ebenfalls die Alleinherrschaft über Staat und Gesellschaft beanspruchten. Gegen diese zweifache Gefahr des Totalitarismus versuchte Quadragesimo anno ein Ordnungsprinzip zu formulieren, das auf der einen Seite die drohende Anarchie des liberalistischen Kapitalismus überwand und auf der anderen Seite der marxistischen und faschistischen Diktatur Widerstand leistete. Diese Prinzip mußte die Möglichkeit aber auch den Beweis liefern, daß eine menschengerechte Gesellschaftsordnung weder auf der Ideologie des Individualismus noch der des Kollektivismus aufruhen konnte, sondern daß sie dreidimensional zu begründen war: auf der Würde der Person, auf der gegliederten und selbstverantwortlichen Gesellschaft und auf dem Gemeinwohl. Genau das besagt das Subsidiaritätsprinzip: Das, was der Einzelmensch zu leisten imstande ist, darf ihm von keiner Gesellschaft abgenommen werden; das was die unmittelbaren Gemeinschaften zu tun imstande sind, soll keine übergeordnete an sich reißen; die staatliche Autorität trägt dafür Verantwortung, daß die Aktivität der einzelnen und die Initiativen der gesellschaftlichen Zwischenkörper auf das Gemeinwohl hingeordnet bleiben. Wie noch gezeigt werden wird, ging es Quadragesimo anno mit dieser Formulierung keineswegs um einen gesellschaftspolitischen Schachzug, sondern um eine Einsicht in Zusammenhänge, die über die Alltagsfragen hinausgingen und dem Bereich der philosophischen Denkweise entsprangen. Darum legte sich die 5

450

v. Nell-Breuning, Oswald: Lieht vom Himmel, S. 34, vat. Geheimarehiv, Stati Ecel.

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Enzyklika auch auf kein konkretes Modell der Durchführung fest sondern verblieb im Bereich der Grundsätze. Der Ehrlichkeit halber muß allerdings eine Ausnahme zugegeben werden. Sie betrifft den Bereich der Wirtschaft. Quadragesimo anno weist wiederholt darauf hin, daß die Zerstörung der selbstverantwortlichen Gesellschaft durch den liberalistischen Kapitalismus gerade im Bereich der Wirtschaft erfolgte. Klassenspaltung und Klassenkampf waren die Folge und es bestand die unmittelbare Gefahr, daß sich diese Spaltung auf die Gesamtgesellschaft übertrug. "Die Notwendigkeit schleunigster Abhilfe gegenüber diesem Zustand, der eine Gefährdung der menschlichen Gesellschaft bedeutet, kann niemand verkennen" (83). Darum mußte alles versucht werden, gerade im Bereich der Wirtschaft Formen der selbstverantwortlichen Gesellschaft wieder aufzubauen. Der Vorschlag der Enzyklika lautet: "Wie die nachbarschaftliehe Verbundenheit die Menschen zur Gemeinde zusammenführt, so läßt die Zugehörigkeit zum gleichen Beruf ... sie zu Berufsständen oder berufsständischen Körperschaften sich zusammenschließen. Das eine ist so natürlich wie das andere." Darum ist es notwendig "daß wohlgefügte Glieder des gesellschaftlichen Organismus sich bilden, also ,Stände', denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört" (83). "In diesen Körperschaften liegt das Schwergewicht durchaus bei den gemeinsamen Angelegenheiten, deren bedeutendste diese ist, die Mitwirkung des Berufsstandes zum allgemein Wohl des gesamten Volkes möglichst fruchtbar zu gestalten" (85). Daß hinter dieser Ausdeutung und Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips für den Bereich der Wirtschaft aufgrund eines ganz bestimmten historischen Kontextes eine ernstzunehmende Absicht bestand ist unbestreitbar. Aber damit war die Frage noch nicht beantwortet, ob der "höchstgewichtige sozialphilosophische Grundsatz" der Subsidiarität nur durch die berufsständische Ordnung verwirklicht werden konnte. Es ist bezeichnend, daß die nachfolgenden Sozialenzykliken aber auch das zweite vatikanische Konzil diesen Gedanken nicht mehr aufgegriffen haben. Aber all das ändert nichts an der grundsätzlichen Bedeutung der Subsidiarität als gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Es erhält seine Gültigkeit nicht aus einem konkreten Modell der Verwirklichung sondern aus einer sozialphilosophischen Reflexion. 6

11. Der sozialphilosophische Grundgehalt Eine Aussage überrascht: Man hätte es durchaus verstanden, wenn eine kirchliche Institution "den höchstgewichtigen Grundsatz" der Subsidiarität zuerst aus theologischen Argumenten abgeleitet hätte. Solche Argumente standen durchaus 6

Vgl. dazu: v. Nell-Breuning, Oswald: Worauf es mir ankommt, Freiburg 1983

Subsidiarität

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zur Verfügung und werden in anderen Zusammenhängen auch angeführt. Aus dem Gesamtkontext von Quadragesimo anno ergibt sich aber eine Zielsetzung, die den sozialphilosophischen Ansatz voll legitimierte. Es sollte durch diesen Ansatz der Eindruck vermieden werden, daß Quadragesimo anno zur Überwindung der Klassengesellschaft und der drohenden Diktatur ein primär religiös begründetes Leitbild vorlegte, das zu seiner Übernahme und Verwirklichung die kirchliche Zugehörigkeit zur Bedingung machte. So wie später die anderen Sozialenzykliken war bereits Quadragesimo anno davon überzeugt, daß die Grundprinzipien einer menschengerechten Sozialordnung der Vernunftsordnung angehören und daher der Vernunftseinsicht offen stehen. Das schließt keineswegs aus, daß theologische Einsichten und Begründungen sie erhellen und vertiefen. Von entscheidender Bedeutung für die sozialphilosophische Reflexion des Subsidiaritätsprinzips ist für Quadragesimo anno der gedankliche Einstieg. Er beginnt nicht bei sozialphilosophischen Theorien und gesellschaftlichen Ganzheiten sondern beim empirisch zugänglichen Baustein der menschlichen Person. Dieser anthropologische Ansatz ist grundlegend für das Verständnis des Subsidiaritätsprinzips und des darauf aufbauenden Ordnungsbildes der Gesellschaft. Wie immer sich auch die Entfaltung der Person im Verlauf der Menschheitsgeschichte darstellt, so lassen sich doch in den der Forschung zugängigen Epochen bestimmte Konstanten ihres individuellen Verhaltens und ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen aufzeigen. Um es noch einmal zu betonen: Diese Konstanten verdunkeln sich je weiter man in die Menschheitsgeschichte zurückgreift und sie werden konturreicher je empirischer sie sich darstellen. Diese Konstanten wurden vor allem von Johannes Meßner als die "existentiellen Zwecke" bezeichnet, die als Art von Urinstinken und Urtrieben das Überleben und die Entfaltung des Menschen garantieren. 7 Dazu gehört an erster Stelle der Lebens- und Liebestrieb. Wie vielgestaltig und zeitbedingt die konkrete Ausgestaltung dieses Urinstinktes auch sein mag, sein personaler Bezug und seine sozialisierende Bedeutung lassen sich in allen Epochen nachweisen. Aus dieser Urbeziehung des Lebens- und Liebestriebes entfaltet sich spontan die erweiterte Primärgruppe der Verwandtschaft und Sippe. Wie groß auch der Unterschied ihrer Bindungskraft zwischen einer bäuerlichhandwerklichen und einer städtischen Kultur sein mag, empirischen Forschungen zeigen, daß die Sippenbeziehungen auch in der Anonymität der städtischen Lebensweise ihr sozialisierende und solidaritätsstiftende Funktion behalten. Der Trieb zur materiellen Unterhaltsfürsorge gehört ebenfalls zu den existentiellen Zwecken des Menschen. Auch hier kennt die Menschheitsgeschichte eine Unzahl von Ausdrucksformen und Institutionen, angefangen von der Jagdgruppe der Vorzeit bis hin zur arbeitsteiligen Tauschgesellschaft. In der Organisation der Unterhaltsfürsorge geht es immer wieder darum, wie das Selbstinteresse, das 7

Meßner, Johannes: Das Naturrecht, 6. Aufl. Innsbruck 1966

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Johannes Schasching

Gruppeninteresse und das Gemeinwohl so kombiniert werden, daß es zu einer optimalen wirtschaftlichen Effizienz kommt. Der Sicherheitstrieb war seit der Urgeschichte der Menschheit einer der stärksten gesellschaftsbildenden Faktoren. Er verwirklichte sich in friedlichen Pfahlbauten und befestigten Städten, aber auch in blutigen Fehden und Kriegen. Der Weg zum modemen Rechts- und Wohlfahrtsstaat war lange und mühsam, aber er entsprach konsequent dem existentiellen menschlichen Sicherheits- und Gemeinwohltrieb. Ein starker Urtrieb menschlicher Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Kreativität war immer der Kulturtrieb. Auch er hat seine aufregende und anregende Geschichte, angefangen vom einfachen Volkslied und Tanz bis hin zur vollendeten Oper, von den einfachen Strichen in Steinzeithöhlen bis zu den modemen Gemäldegalerien. Gerade in der Verwirklichung dieses existentiellen Triebes zeigt sich eindeutig, daß sich schöpferische Kultur nicht obrigkeitlich erzwingen läßt, sondern, daß sie aus Basisgemeinschaften, Intuitionen und Motivationen entspringt. Es darf noch auf einen letzten existentiellen Zweck hingewiesen werden, wenngleich er sich sowohl in seinem Inhalt als auch in seiner geschichtlichen Ausprägung äußerst komplex darstellt. Man könnte ihn als Transzendenztrieb bezeichnen. Er manifestiert sich in einer Vielzahl von natürlichen oder ge stifteten Religionen. Er entfaltet sich in Sinngefügen, Lebensregeln, Kultformen, Gemeindebildung und Kirchen. Diese wenigen Beispiele sollen zeigen, was unter existentiellen Zwecken zu verstehen ist und wie sie trotz aller historischen Bedingtheit der personalen Grundstruktur entstammen und zu ihrer Verwirklichung zur sozialen Kooperation tendieren. Aber wie immer man sie auch im einzelnen interpretieren mag, wichtiger erscheint für die vorgelegte Themenstellung die Frage nach ihrer Bedeutung für die Begründung und Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in Quadragesimo anno. Die Antwort läßt sich in folgenden fünf Leitsätzen zusammenfassen: Erstens: Der empirische Ansatz dessen, was man als existentielle Zwecke oder humane Urtriebe bezeichnet, ist nicht ein Kollektiv oder eine abstrakte Ganzheit, sondern die menschliche Person. Wenngleich die Verwirklichung dieser existentiellen Zwecke den notwendigen sozialen Bezug verlangt und begründet, so werden die daraus entspringenden Sozialgebilde und Strukturen nie zum Selbstzweck sondern behalten ihren notwendigen Bezug zur Verwirklichung des Menschen als Person. Daraus ergibt sich, daß jede gesellschaftliche Aktivität ihrem Wesen nach subsidiär zu bestimmen ist. Das heißt mit anderen Worten: Daß sie der persönlichen Verwirklichung jenes ,subsidium' , jene Hilfestellung anzubieten hat, die der jeweilige existentielle Zweck zu seiner Verwirklichung erfordert. Nie aber darf die Gesellschaftstätigkeit das, "was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden" (79). So sagt es die Enzyklika Quadragesimo anno.

Subsidiarität

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Zweitens: Die existentiellen Zwecke des Menschen sind plural. Sie beziehen sich auf den personalen Intimraum, auf die materielle Unterhaltsfürsorge, auf die Freiheits- und Wohlfahrts sicherung, auf die Kulturfähigkeit und Kulturbedürftigkeit, auf die metaphysische Sinndeutung. Wie bereits gesagt, erfordern sie aus ihrem inneren Wesen zur Verwirklichung den sozialen Bezug, der sich in einer Vielzahl von Gebilden und Institutionen entfaltet. Von der konkreten Ausgestaltung dieser notwendigen sozialen Dimension hängt es entscheidend ab, ob der jeweils angestrebte existentielle Zweck personengerecht verwirklicht werden kann oder nicht. Das heißt mit anderen Worten: Von der Intensität und Extensität der jeweiligen Sozialgebilde hängt es entscheidend ab, ob zum Beispiel die Intimität der Primärerfahrung möglich ist; ob in der UnterhaltsfÜfsorge die persönliche Verantwortung erhalten bleibt; ob in der Sicherung der Freiheit und des Gemeinwohles die demokratische Mitverantwortung verwirklicht ist; ob im kulturellen Schaffen der Raum der Kreativität garantiert ist; ob die religiöse und weltanschauliche Toleranz gesichert bleibt usw. Um es noch einmal zu sagen: Nicht jede denkbare Organisierbarkeit sichert auch schon die menschengerechte Verwirklichung der existentiellen Zwecke. Darum sagt Quadragesimo anno mit Entschiedenheit: Es widerspricht der Gerechtigkeit "das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen" (79). Gerade darin besteht ein Wesenselement des Subsidiaritätsprinzips. Drittens: Es wäre einseitig, das Subsidiaritätsprinzip nur negativ als Abgrenzungsprinzip zu verstehen. Quadragesimo anno betont ausdrückl~ch, daß sowohl die einzelnen Personen als auch die untergeordneten Gesellschafisgebilde des "subsidiums", der Hilfe, bedürfen, um in Eigenverantwortung ihren existentiellen Zweck zu verwirklichen. Diese Hilfe- und SchutzsteIlung besagt sowohl die Erstellung der notwendigen Voraussetzungen, als auch die begleitende Mitsorge. Der Glaube, daß das Gemeinwohl das automatische Ergebnis rivalisierender Gruppen darstellt, wäre eine völlige Verkennung des Eigenwertes der Rechtsund Wohlfahrtsfunktion des Staates und damit auch des Subsidiaritätsprinzips.8 Viertens: Das Subsidiaritätsprinzip ist kein statisches sondern durchaus ein dynamisches Prinzip. Das betrifft sowohl seine Intensität als auch seine Wirkweite. Es stellt sich in einer bäuerlich-handwerklichen und ständisch verfaßten Gesellschaft anders dar als in einer postmodernen, offenen Gesellschaft. Eine ganz neue Dimension erhält dieses Prinzip in der Verwirklichung überstaatlicher und kontintaler Projekte, zum Beispiel in der Einigung Europas. Aber gerade bei solchen Projekten wird es wesentlich darauf ankommen, daß die Verteilung und Abgrenzung der Kompetenzen nicht ausschließlich oder primär aufgrund technisch-effizienter Rationalität erfolgt sondern auch unter Zuhilfenahme von Denkweisen und grundsätzlichen Einsichten. Gerade kontinentale Großgebilde sind 8

Vgl. dazu: Schambeck, Herbert: Kirche, Staat und Demokratie, Berlin 1992

8 Festschrift Schambeck

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Johannes Schasching

in Gefahr, bürokratischen Zwängen zu verfallen und damit das Subsidiarätsprinzip auszuhöhlen. Fünftens: Alle Aussagen über das Subsidiaritätsprinzip bleiben bloße Theorie wenn sie nicht gleichzeitig auf ein anderes gesellschaftsstiftendes Grundprinzip verweisen: die Solidarität. Wenn gesagt wird, daß der Person das nicht abgenommen werden darf, was sie selber zu leisten imstande ist und wenn weiter gesagt wird, daß die übergeordnete Gemeinschaft der untergeordneten den Raum der Selbstverwirklichung überlassen und erhalten muß, dann wird immer eines vorausgesetzt: Der Einzelmensch ist zur Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung fahig und gewillt und die untergeordneten Gemeinschaften verfügen über jenes Maß an Solidarität, daß sie in Eigenverantwortung zu handeln fähig sind und nicht auf den Zwang der übergeordneten Gesellschaft zurückzugreifen haben. Ohne diesen Rückgriff auf die Solidarität bliebe das Subsidiaritätsprinzip ein leeres Postulat. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang eine grundsätzliche Unterscheidung: Die Solidarität ist keine einheitliche Größe sondern manifestiert sich in gestuften Intensitäten. Sie wirkt spontan und unreflektiert in Primärgruppen, sie ist stärker geprägt vom Selbstinteresse in sekundären Gruppen und rechnet durchaus auch mit Widerständen und Konflikten in Großgebilden und Institutionen 9• Es gibt auch so etwas wie eine abgerungene Solidarität. In dieser gestuften realistischen Intensität ist sie durchaus imstande, Selbstverantwortung und Mitverantwortung zu motivieren und damit die Voraussetzung für eine mögliche Subsidiarität zu erstellen. Eines ist allerdings einsichtig: Solidarität ist wesentlich bedingt durch den Bewußtseinsstand. Darum gehört die Bewußtseinsbildung zu den wesentlichen Voraussetzungen möglicher Solidarität und damit auch der Subsidiarität 10. Zusammenfassung: Es soll festgehalten bleiben: Das Subsidiaritätsprinzip der Sozialenzyklika Quadragesimo anno entstammt in seinem Grundgehalt der Tradition des katholischen Sozialdenkens. Seine konkrete Formulierung erfolgte in einem ganz bestimmten zeitgeschichtlichen Kontext. Er bestand in der dringenden Anfrage: Gibt es eine praktikable Alternative zu laissez faire und zur staatlichen Bürokratie, zu Individualismus und Kollektivismus?

9 Eine beachtenswerte Aussage dazu machte Papst Johannes Paul 11. in der Ansprache an die katholischen Juristen Italiens: ,,Man muß bewußt sein, daß sich die Solidarität des Menschen für gewöhnlich auf verschiedenen Ebenen und in verschiedener Intensität verwirklicht: von der Familie hin zu den verschiedenen Gruppen und gesellschaftlichen Zwischenkörpern bis zum Staat und zur internationalen Gesellschaft" (Osservatore Romano 10.12.1983). 10 In der gleichen Ansprache sagte Johannes Paul 11.: ,,Es ist unmöglich, vom Durchschnittsmenschen eine Haltung der voll entfalteten Solidarität gegenüber dem Staat und der internationalen Gesellschaft zu erwarten, wenn sie nicht zuerst auf der Ebene der Gruppen und gesellschaftlichen Zwischenkörper erfahren und praktiziert wurde. Auch das ist ein wichtiger Aspekt des für die Soziallehre der Kirche so wichtigen Subsidiaritätsprinzips" .

Subsidiarität

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Quadragesimo anno war aufgrund ihres Menschenbildes von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer solchen Alternative überzeugt. Sie wußte freilich auch, daß dazu verschiedene Faktoren notwendig waren, vor allem wirtschaftlicher Sachverstand und gesellschaftspolitisches Wissen. Aber sie wußte ebenso, daß ein noch so perfektes Instrumentarwissen nicht genügte. Bauelemente können aufgrund von Denkweisen zu verschiedenen Alternativen kombiniert werden. Das geschieht auch dort, wo solche Denkweisen nur latent vorhanden sind. Daß Quadragesimo anno für ihre sozialphilosophische Reflexion den personalistischen Ansatz wählte, hing sicher auch mit ihrer letztlich theologischen Herkunft zusammen. Aber sie betonte ausdrücklich, daß dieser Ansatz auch der menschlichen Einsicht zugänglich sei. Zur Wehr setzte sie sich gegen jeden individualistischen und kollektivistischen Ansatz, weil beide zur Relativisierung der menschlichen Person und damit auf weite Sicht zu gesellschaftlichen Zwängen führen mußten. Daß aber die soziale Dimension des Menschen nicht verkürzt wurde, dafür bürgte ihre ontische Verankerung im Wesensbegriff der Person mit ihren existentiellen Zwecken. Das besagte aber zugleich, daß sich die wesensbedingte Sozialität nicht in einer Kollektivität erschöpfen konnte sondern in einer durch das Subsidiaritätsprinzip gestuften Pluralität. Dabei behielt die politische Dimension durchaus ihre Bedeutung und Eigenständigkeit. Obwohl das Solidaritätsprinzip in Quadragesimo anno nicht in gleicher Schärfe wie das Subsidiaritätsprinzip eigens formuliert wurde, ergibt es sich aus dem personalen Ansatz mit seiner Wertverpflichtung von selber und durchzieht die gesamte Enzyklika. Für Quadragesimo anno war eines klar: Wer sich Gedanken macht wie das Subsidiaritätsprinzip organisatorisch verwirklicht werden kann, muß gleich intensiv danach fragen, wie gestufte Solidarität gestiftet werden kann. Um an den Ausgang zurückzukehren: Wenn im Bemühen um die europäische Einheit das Subsidiaritätsprinzip zu einem Schlüsselbegriff geworden ist, erfordert seine Anwendung ein hohes Maß an Sachverstand und Organisationswissen. Dazu wird ein erhebliches Ausmaß an Erfahrung und ein flexibler Lernprozeß hinzukommen müssen. Aber das allein wird nicht genügen. Die Subsidiarität ist mehr als eine politische Strategie. Sie ist zuletzt ein ,,höchstgewichtiger sozialphilosophischer Grundsatz".

S*

2. Rechtstheorie

REINE RECHTSLEHRE UND HERMENEUTIK Von Ludwig Adamovich

A. Dem Kenner der beiden im Titel verwendeten Begriffe muß klar werden, daß es in den folgenden Ausführungen um die Möglichkeit und die Grenzen der juristischen Interpretation geht. Das ist allerdings auch alles, was auf den ersten Blick hin klar ist. Ich möchte im folgenden versuchen, einen Beitrag zu einer nicht enden wollenden Diskussion zu leisten und einen Vorschlag für den Ausweg aus einem offenkundigen Dilemma zu machen: im vollen Bewußtsein des Umstandes, daß diese Diskussion nie enden wird. 1990 erschien in Wien ein sehr lesenswerter Sammelband mit dem Titel "Beiträge zur juristischen Hermeneutik" I. Darin findet sich ein von Robert Walter verfaßter, ebenfalls sehr lesenswerter Beitrag mit dem Titel ,,Philosophische Hermeneutik und Reine Rechtslehre" 2 (man beachte die feine Nuancierung gegenüber dem Titel des Sammelbandes selbst). Außerdem fand vor kurzem eine literarische Auseinandersetzung zwischen Walter 3 einerseits, Funk 4 und Öhlinger 5 andererseits zum Thema "Kann die Rechtswissenschaft das Recht verändern?" statt. Das Wort "Hermeneutik" kommt in dieser Auseinandersetzung nicht vor, steht aber unübersehbar im Hintergrund. Öhlinger verwendet nicht zufällig den Ausdruck "Vorverständnis". Es ist ganz klar, daß man zu verschiedenen Antworten auf die thematisierte Frage gelangt, je nachdem, welchen Rechtsbegriff und welchen Wissenschaftsbegriff man verficht. Beide Begriffe hängen natürlich sehr eng zusammen, obwohl die Problematik nicht ganz die gleiche ist. Herausgegeben von Vetter, He/muth und Potacs, Michael. Beiträge, S. 41 ff. 3 Walter, Robert, Zur Frage des Rechtsbegriffes, ÖJZ 1991, S. 336 ff., ders., Das Recht als objektive Gegebenheit oder als Bewußtseinsinhalt, ÖJZ 1992, S. 281 ff. 4 Funk, Bernd-Christian, Zur Rationalität der rechtswissenschaftlichen Argumentation, in: Wissenschaft und Glaube, Vierteljahresschrift der Wiener Katholischen Akademie, Heft 4/ Jg1 / 1988. 5 Öhlinger, Theo, Kann die Rechtslehre das Recht verändern?, ÖJZ 1991, S. 721 ff. I

2

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Ludwig Adamovich

B. Die Grundzüge der Reinen Rechtslehre sind relativ einfach darzustellen. Im folgenden sollen einige wesentliche Charakteristika der Reinen Rechtslehre vorgestellt werden, soweit sie im gegebenen Zusammenhang von Interesse sind. 1. Die Reine Rechtslehre betont die strikte Unterscheidung von Sein und Sollen und wendet sich gegen den sogenannten naturalistischen Fehlschluß6. Unter der Voraussetzung, daß die "Grundnorm" akzeptiert wird, entwickelt sich subjektives Sollen zum objektiven, also juristisch bindenden Sollen.

2. Eine Definition des Rechts gibt die Reine Rechtslehre nicht; sie setzt den Begriff als bekannt voraus. Sicher ist jedenfalls, daß nur positives Recht gemeint ist und daß dieses jeden Inhalt haben kann. 3. Die Reine Rechtslehre wendet sich gegen den Methodensynkretismus und bekämpft in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Vermengung von positivem Recht und Ethik. 4. Die Reine Rechtslehre vertritt den Wertrelativismus; sie bestreitet die rationale Erkennbarkeit absoluter Werte. So hat es Kelsen jedenfalls gesehen und viele seiner Nachfahren folgen ihm in diesem Punkt. Es ist allerdings, worauf schon Verdross aufmerksam gemacht hat, durchaus denkbar, das rechtstheoretische Strukturkonzept der Reinen Rechtslehre zu akzeptieren, ohne dabei auch den ethischen Wertrelativismus zu vertreten 7 • Allerdings setzt eine solche Betrachtungsweise die strikte Trennung von positivem Recht und Ethik voraus, weil man sonst unweigerlich in Widerspruch zu Grundthesen der Reinen Rechtslehre geriete. 5. Der Wissenschaftsbegriff der Reinen Rechtslehre ist geprägt zum einen vom Positivismus, zum anderen vom Neukantianismus. Neukantianisch ist die Grundnorm, auch die Vorstellung, daß die Methode den Gegenstand erzeugt. Im übrigen gibt es, wenn man Kelsen folgt, nur drei korrekte Wege der wissenschaftlichen Erkenntnis: Den naturwissenschaftlichen Weg dort, wo es sich um Kausalwissenschaft handelt, den formalwissenschaftlichen Weg (Logik, Mathematik) und schließlich die Normwissenschaft in dem Sinn, wie Kelsen sie versteht. Damit ist ein denkbar enger Wissenschaftsbegriff entwickelt. Darauf, wie Kelsen den Begriff der Gesellschaftswissenschaften (Geisteswissenschaften?) sieht, komme ich noch zu sprechen. 6. Dieser Wissenschaftsbegriff schlägt sich insbesondere auf die Interpretationslehre Kelsens nieder. Durchaus konsequent vertritt dieser die Auffassung, daß eine Rechtsvorschrift nur den Rahmen für die mögliche Interpretation geben kann und daß wissenschaftliche Tätigkeit bei der Ermittlung dieses Rahmens 6 7

Vgl. dazu Höjfe, Otfried, Naturrecht ohne naturalistischen Fehlschluß, 1980. Verdross, Alfred, Abendländische Rechtsphilosophie2 , 1963, S. 286.

Reine Rechtslehre und Henneneutik

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endet. Alles andere sei nicht mehr Rechtswissenschaft sondern Rechtspolitik 8 • Heutige Vertreter der Reinen Rechtslehre sehen dies allerdings - jedenfalls in der Anwendung auf konkrete Rechtsfragen - anders 9.

c. I. Um vieles schwieriger verhält es sich mit dem Begriff der Hermeneutik. Eine auch nur oberflächliche Durchsicht des dazu bestehenden Schrifttums zeigt nur, daß der Begriff mehr als verschwommen ist. Handelt es sich um eine allgemeine Methode der Geisteswissenschaften? Handelt es sich um eine Methodik, bei der das "Verstehen" der zentrale Begriff ist? Gibt es überhaupt ein Verstehen zum Unterschied von Erklären? Zu dieser letzteren Fragestellung haben G. R. v. Wright lO und W. Stegmül!er ll Wesentliches ausgesagt.

11. Der Begriff "Hermeneutik" ist also von vornherein keineswegs klar und eindeutig. Es lassen sich aber einige typische Merkmale festhalten. 1. Bei der Hermeneutik geht es um das" Verstehen" von sprachlichen Äußerungen. Diese können der verschiedensten Art sein. Das Verstehen wird vom bloßen Erklären unterschieden. 2. Bei jeder Form der Hermeneutik wird von einem sogenannten" Vorverständnis" ausgegangen. Die Begründung, die dafür gegeben wird, ist so geartet, daß manche Vertreter einer positivistischen Auffassung ihr überhaupt nicht folgen können. Man spricht nicht eine gemeinsame Sprache. 3. Bei jeder hermeneutischen Betrachtung spielt der Begriff des "Hermeneutischen Zirkels" eine Rolle. Dieser Begriff wird allerdings in zwei Bedeutungen verwendet. Zum einen zur Erklärung des vorhin erwähnten Phänomens des "Vorverständnisses" , zum anderen im Zusammenhang mit dem Schluß von den Einzelheiten auf das Ganze und umgekehrt. Stegmül!er schreibt in der ihm eigenen sarkastisch-präzisen Weise, daß in der üblichen Bezeichnung "der Zirkel des Verstehens" so ziemlich alles falsch ist;trotzdem sieht er der Sache nach ein echtes Problem 12. Doch handle es sich nicht um einen Zirkel, sondern um insgesamt sechs verschiedene Dilematta, die nur zum Teil ausschließlich im Bereich der Geisteswissenschaften auftreten 13. Nur das sechste dieser Dilemmata ist nach Stegmüller l4 unbehebbar. Mehr darüber später. Stegmüller wirft den HermeneutiKelsen, Hans: Reine Rechtslehre2 , 1960, S. 352 ff. Walter, Robert, Die Interpretationslehre im Rahmen der Wiener Schule der Rechtstheorie, in: Leser-FS, 1993, S. 191 ff. 10 v. Wright, G. R., Erklären und Verstehen, deutsch 1974. 11 Stegmüller, Wolfgang, Der sogenannte Zirkel des Verstehens, 1974, Neudruck 1991. 12 Zirkel, S. 64. 13 Zirkel, S. 68 f., 71. 14 Zirkel, S. 75 f. 8

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kern vor, daß sie eine bildhaft-metaphorische Sprache gebrauchen und irrtümlich meinen, in präzisen Begriffen gesprochen zu haben 15. 4. Eine wesentliche, auf Heidegger gestützte Richtung der Hermeneutik lehnt auch die in der abendländischen Philosophie seit Descartes und Kant vertretene Trennung von Subjekt und Objekt ab. Sehr deutlich kommt dies in den Beiträgen Arthur Kaufmanns zur einschlägigen Diskussion zum Ausdruck l6 • Das Schema "subjektiv - objektiv" passe für das Verstehensphänomen schon vom Ansatz her nicht, weil Verstehender und zu Verstehendes in die hermeneutische Situation integriert sind, keines also außerhalb steht. Die nähere Begründung, die Arthur Kaufmann in diesem Zusammenhang gibt, kann jemand, der sich auch nur annähernd mit der Rechtslehre befaßt hat, nur zum Kopfschütteln veranlassen. Behauptet Kaufmann doch nicht mehr oder weniger, daß der rechtswissenschaftliche Objektivismus den Richter zum Subsumtionsautomaten Montesquieuscher Provenienz degradiert I? Genau das lehnt ja die Reine Rechtslehre ab, ohne deshalb einem reinen Subjektivismus das Wort zu reden; ich möchte fast sagen, im Gegenteil. llI. Ich persönlich bin der Meinung, daß man von Hermeneutik überall dort sprechen sollte, wo es darum geht, den Sinn sprachlicher Texte festzustellen. Die Frage, ob es überhaupt ein Verstehen neben dem Erklären geben kann, sollte auf sich beruhen. Sie trifft nicht den entscheidenden Punkt. Entscheidend ist es vielmehr, daß die Zielsetzung der Wissenschaften, die sich mit der Interpretation von Texten beschäftigen, eine andere sein muß, als die der Wissenschaften, die bemüht sind, in der Natur bestehende Gesetzlichkeiten festzustellen. Für diese letzteren Wissenschaften ist die Frage nach dem Sinn gegebener Texte höchstens dann von Bedeutung, wenn es sich um die Auseinandersetzung mit einem einschlägigen Schrifttum handelt. Nach dem Sinn von Naturgesetzen selbst zutragen, ist aber offensichtlich sinnlos.

Texte haben eines gemeinsam: Sie bedienen sich der Sprache. Das bedeutet aber keineswegs, daß es für das Verständnis aller möglichen Texte durchwegs die gleichen Regeln gäbe oder daß diese Regeln in gleicher Weise anzuwenden wären, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen juristischen, einen theologischen oder um einen im Bereich der Dichtkunst angesiedelten Text handelt. Norbert Leser hat dazu Kluges und Beherzigenswertes ausgesagt l8 •

Das sogenannte Vorverständnis gibt es ganz gewiß. Um einen Text interpretieren zu können, muß ich zunächst die Sprache beherrschen, in der er geschrieben ist; ich komme so durch die Lektüre zu einem vorläufigen Resultat, das meistens Zirkel, S. 65. Vgl. insbesondere KaujTnann, Arthur, Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Henneneutik, in: Marcic-Gedenkschrift, 1983, S. 597 ff. I? Gedanken, S. 599. 18 in: Beiträge, S. 27 ff. 15

16

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durch zusätzliche Überlegungen ergänzt und korrigiert werden muß. Aber das ist eine Binsenweisheit. Die entscheidende Frage geht dahin, ob und inwieweit objektive, vom Standpunkt des Interpreten unabhängige Auslegung überhaupt möglich ist. Eine bestimmte Richtung der Hermeneutik ist in dieser Hinsicht überaus skeptisch, meines Erachtens zu Unrecht. Schwieriger ist schon die Frage der Interpretation des Ganzen durch die Teile und umgekehrt. Ich glaube nicht, daß es da allgemeingültige und evidente Regeln gibt. Das Problem besteht jedenfalls, obwohl auch dies bestritten wird. IV. Die Kritik an der Hermeneutik ist eine vielfältige. Es wird ihr immer wieder und gewiss nicht ganz zu Unrecht nachgesagt, daß sie eine Neigung zum Obskurantismus fördere. Besonders deutlich zeigt sich dies beim sogenannten hermeneutischen Zirkel und beim Begriff des Vorverständnisses. Stegmüller schreibt sehr pointiert, die Theorie des hermeneutischen Zirkels habe die Anziehungskraft einer Mythologie 19. Manche juristischen Methodologen scheinen unter dem Gesichtspunkt des Vorverständnisses jede nur denkbare Interpretation rechtfertigen zu wollen, soweit sie überhaupt rational nachvollziehbar ist 20 • Der "hermeneutische Zirkel" wieder wird - soweit ich sehe - in zwei durchaus unterschiedlichen Bedeutungen definiert. Einmal als Ergebnis des schon mehrfach erwähnten Vorverständnisses, zum anderen Mal in dem Sinne, daß das Ganze mehr sei als die Summe der Teile, die Teile aus dem Ganzen heraus interpretiert werden müssen und umgekehrt. An all dem ist sicher vieles richtig, vieles aber gefährlich.

D. I. In dem pädagogisch ausgezeichnet geschriebenen Buch "Methoden der Gegenwartsphilosophie" von Wuchterl 21 wird ein Unterschied gemacht zwischen analytischen Methoden im weiteren Sinn, hermeneutischen Methoden im weiteren Sinn und Integrierenden Methoden. Innerhalb der hermeneutischen Methoden im weiteren Sinn werden dann die dialektische Methode, die hermeneutische Methode im engeren Sinn und die phänomenologische Methode vorgestellt. Mir scheint diese Form der Gliederung sehr zweckmäßig zu sein. Sie hat ihre Entsprechung im rechtswissenschaftlichen Bereich. Den analytischen philosophischen Methoden entsprechen die Reine Rechtslehre und gewisse Formen der Rechtslogik, den hermeneutischen philosophischen Methoden entsprechen die in der BRD herrschenden juridischen Auslegungsmethoden, und es gibt gewiß auch rechtswissenschaftliehe Auslegungsmethoden, die im Sinne Wuchterls als "integrie19 20

Zirkel, S. 86.

In diese Richt,ung Esser, J oseJ, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfm-

dung, 1972. . 21 2. Auflage 1987.

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rend" angesehen werden können oder sich zumindest so verstehen (Bydlinski 22 ,

WinkLer 23, Korinek 24 , RilFS, Funk 26 ).

Gibt es eine spezifische Methode der Rechtswissenschaft oder hat man es im Bereich des Juristischen mit einer Spielart der geisteswissenschaftlichen Methode zu tun? Aber gibt es diese überhaupt? Die Vertreter der analytischen Philosophie bestreiten das ebenso heftig wie die Hermeneutiker es bejahen. Ein schwacher Trost: aber man sieht, daß Methodendispute keineswegs nur im Bereich der Rechtswissenschaft eine gewichtige Rolle spielen. Es gibt sie übrigens auch in der Konfrontation zwischen der natUlwissenschaftlich orientierten PsychoLogie und der TiefenpsychoLogie. II. WaLter meint in seinem Beitrag zu dem zitierten Sammelband, _ Kelsen habe betont, daß er die Rechtswissenschaft auf die Ebene einer Geisteswissenschaft heben wolle 27 . KeLsen habe eine Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften vorgenommen, die vereinfacht wie folgt beschrieben werden könne: ,,Naturwissenschaften sind jene Wissenschaftszweige, die Phänomene nach dem Gesetz der Kausalität deuten, Geisteswissenschaften jene, die dies nach dem Prinzip der Vergeltung (Zurechnung) tun". Hier ist WaLter insofern ein Irrtum unterlaufen, als KeLsen nicht von "Geisteswissenschaften" sondern von "Gesellschaftswissenschaften" spricht. Aber ganz abgesehen davon: Für KeLsen ist auch die Geschichtswissenschaft eine Wissenschaft, die menschliches Verhalten zum Gegenstand hat, insoweit es durch Kausalgesetze bestimmt ist 28 . Ich glaube, daß auch der an der analytischen Philosophie orientierte Stegmüller nichts mit dem von Walter im selben Beitrag geprägten Satz hätte anfangen können, der lautet: "Der Reinen Rechtslehre erscheint nicht das Hermeneutische als für die Geisteswissenschaften kennzeichnend, sondern ein anderes Prinzip der Deutung, nämlich jenes der Vergeltung"29. III. Natürlich muß eine juristische Methodik der Eigenart des Rechts entsprechen. Aber was heißt das? Selbst wenn man nur das positive Recht in den Blick nimmt und Fragen der Rechtsethik und die Frage nach dem Naturrecht völlig beiseite läßt, ist man noch nicht wirklich klüger. Natürlich spielt die Sein-SollensFrage hier eine maßgebende Rolle, aber nicht nur sie: es geht einmal mehr um die Grenzen des intersubjektiv Nachvollziehbaren. Daß diese Grenzen andere sind als in den Naturwissenschaften und in den Formalwissenschaften, ist ja keineswegs unbestritten.

Bydlinski, Franz, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 1991. Winkler, Günther, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, 1969, ders., Rechtstheorie und Erkenntnislehre, 1990. 24 Korinek, Karl, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, Walter-FS, 1991, S. 363 ff. 2S Rill, Heinz Peter, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, ZfV 1985, S. 4 ff. 26 Vgl. FN. 4. 27 Beiträge, S.47. 28 Kelsen, Hans, Kausalität und Zurechnung, ZöffR 1955, S. 132. 29 Beiträge, S. 48. 22

23

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Seiffert hat in seiner Einführung in die Wissenschaftstheorie die Problematik sehr klar formuliert: Es kommt darauf an, wie man den Unterschied zwischen Wissenschaft und Lebenserfahrung sieht 30• Der Analytiker sieht ihn ganz anders als der Hermeneutiker. Ich füge hinzu: Auch in diesem Punkt erweist sich die Reine Rechtslehre als ein der analytischen Philosophie entsprechendes Gedankengebäude. IV. Eine Verständigung zwischen den beiden großen Lagern scheint mir sehr schwierig zu sein, weil man nicht dieselbe Sprache spricht. Trotzdem halte ich auch in der Welt des Juristischen eine integrierende Methodik nicht für unmöglich, jedenfalls dann, wenn man bereit ist, bestimmte Voraussetzungen zu akzeptieren. Versteht man Hermeneutik in dem Sinn, wie ich es angedeutet habe, so ist der Jurist geradezu gezwungen, sich der hermeneutischen Methode zu bedienen. Die offenkundige Schwierigkeit besteht darin, daß Hermeneutik sehr viel mit Historismus und Subjektivität zu tun hat 31 • Unter beiden Gesichtspunkten kann man gegebenenfalls die Bedeutung juristischer Texte vollständig verändern. Dagegen richtet sich auch Walters Kritik an der Hermeneutik, wenn er die Auffassung der Reinen Rechtslehre zur Bestimmung des Gegenstandes der Erkenntnis wie folgt charakterisiert 32: ,Jst der Gegenstand festgelegt, so ist er - der Reinen Rechtslehre gemäß - zu ,beschreiben'. Dabei ist striktestens darauf zu achten, daß der Interpret nicht seinen produktiven Beitrag einbringt, sondern bloß den gemeinten Sinn (mens auctoris) darstellt. Sollte er eigene Vorstellungen einbringen, so wären diese - als eine Art Prinzipien möglichst klar anzugeben." Die von Walter postulierte Unterscheidung von "gemeintem Sinn" und "produktivem Beitrag des Interpreten" ist problematisch. Denn der "gemeinte Sinn" der Norm ist ja keineswegs von vornherein klar; es bedarf zu seiner Ermittlung einer mehr oder weniger angestrengten intellektuellen Tätigkeit des Interpreten. Dies gilt insbesondere für solche Normen, die aus einer zurückliegenden, von ganz anderen soziokulturellen Voraussetzungen geprägten Zeit stammen. Dieser historische Aspekt markiert offenbar ein Hauptanliegen der Hermeneutik. Stegmüller, der überaus kritisch den Begriff des ,,hermeneutischen Zirkels" analysiert, räumt ein, daß man - zum Unterschied zu naturwissenschaftlichen Aussagen - im Fall von historischen Texten (im konkreten Fall von mittelalterlichen Handschriften eines Gedichtes) zwischen hypothetischen Fakten einerseits und Hintergrundwissen anderseits keine klare Grenze ziehen kann. Jeder Versuch einer solchen Grenzziehung laufe auf einen Willkürbeschluß hinaus 33 • Und Hintergrundwissen sollte nichts Subjektives sein? 30

31

32 33

Seiftert, Einführung in die Wissenschaftstheorie2 , 1991, S. 27 ff. Seiftert, Einführung, S. 57 ff. Beiträge, S. 47. Zirkel, S. 85.

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Man kann nur einwenden, daß es sich bei dem von Stegmüller analytischen historischen Text um ein Gedicht Walter von der Vogelweides, nicht aber um eine Rechtsvorschrift handelt. Das ändert aber nichts an dem von Stegmüller aufgezeigten Problem; dieses tritt doch offenkundig bei jedem älteren sinnhaften Text auf, der nicht bloß naturwissenschaftliche Gesetze oder formalwissenschaftliche Aussagen enthält. In den kritischen Ausführungen Walters spielt das Begriffspaar "objektiv subjektiv" eine wesentliche Rolle. Genau da liegt auch der Kern seiner noch zu erörternden Meinungsverschiedenheit mit Öhlinger. Was aber "objektiv" und was "subjektiv" ist, läßt sich meines Erachtens nicht für jedes Rechtssystem in gleicher Weise beantworten. In einer nach dem ,,Führerprinzip" eingerichteten Rechtsordnung geht es offenkundig nur darum, die Rechtsvorschriften mit der "Brille" des "Führers" zu lesen. Ist das objektiv oder subjektiv? Daß die Dinge in einem demokratischen Rechtsstaat anders liegen, ist klar, steht aber auf einem anderen Blatt. V. Wenn man von der zweifellos richtigen Annahme ausgeht, daß das Recht nicht bloß ein Erkenntnisgegenstand für den Rechtswissenschaftler ist, sondern daß es menschliches Verhalten schlechthin steuern soll, dann muß man der Wortinterpretation einen gewissen Vorrang einräumen. Es gebietet dies schon der Aspekt der Rechtssicherheit. Nur ist mit dieser Einsicht allein noch nicht sehr viel gewonnen. Es geht ja keineswegs bloß um die Bedeutung von Wörtern, sondern um die Bedeutung von Sätzen, die in einem bestimmten Zusammenhang stehen. In Wirklichkeit kommt man, von wirklich trivialen Fällen abgesehen, fast nie mit einer rein grammatikalischen Interpretation aus. Es handelt sich fast immer um eine sprachliche Interpretation unter Bedachtnahme auf bestimmte systematische Zusammenhänge. Aber auch die Grenzen zwischen grammatikalisch-systematischer Interpretation einerseits und der teleologischen Interpretation anderseits scheinen mir fließend zu sein. Jede Rechtsnorm hat doch einen Sinn, der im Wortlaut zum Ausdruck kommt. Es mag manchmal schwierig sein, diesen Sinn zu erkennen, aber ein Gesetzestext ohne jeden Sinn gehört Gott sei Dank denn doch zu den Seltenheiten. Gerade in der Verfassungsinterpretation kann man sehr häufig der Frage nicht ausweichen, was der Verfassungsgesetzgeber stillschweigend vorausgesetzt hat, ohne es ausdrücklich zu regeln. Man denke in diesem Zusammenhang an die immanenten Schranken bestimmter Grundrechte, an das Problem der nichtterritorialen Selbs~verwaltung und an die Geltung des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes für den Bereich der Gerichtsbarkeit. Mit einer reinen grammatikalischen Interpretation karin man diese Probleme nicht lösen.

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E. I. Bernd Christian Funk hat in seinem schon erwälmten Aufsatz 34 den Standpunkt vertreten, die Wahl des Rechtsbegriffes bedeute eine Entscheidung, die als Wertung im konkreten Problemlösungsverhalten fortwirke. Das Ideal einer "wertfreien Rechtswissenschaft" sei wegen der mit dem Rechtsbegriff selbst notwendigerweise konstituierten Wertungen apriori nicht zu verwirklichen. Es gebe keinen zwingenden Grund für die Annahme, daß nur Aussagen rational sein können, Bekenntnisse und Wertungen hingegen stets irrational. Es seien zwar beide Bereiche in entsprechend deutlicher Weise voneinander zu trennen und abzugrenzen. Daß diese Trennung zugleich aber auch die Grenze der Wissenschaftlichkeit markiere, sei nicht gesagt. Die Vorstellung von einer ,,reinen", das heißt ausschließlich empirisch-deduktiv betriebenen Rechtswissenschaft sei ohnehin nicht haltbar, weil der Begriff des Rechts einer Festlegung durch die Rechtswissenschaft bedarf und weil diese Festlegung eine Wertentscheidung voraussetzt und damit einen bestimmten Wert konstituiert. 11. Robert Walter setzte sich mit den Ausführungen Funks auseinander 35. Er widersprach ihm in wesentlichen Punkten. Auf Einzelheiten muß hier nicht eingegangen werden. Wesentlich ist freilich, daß Walters Replik Öhlinger dazu brachte, ihm seinerseits entgegenzutreten 36• Walter sprach dann noch ein kritisches Schlußwort, indem er Öhlinger einen ,,Rückfall in den schon längst überwunden erachteten Psychologismus" vorwirft 37 • In der Auseinandersetzung zwischen Öhlinger und Walter geht es um nicht mehr und nicht weniger als darum, ob ein objektives Verständnis der Rechtsordnung überhaupt möglich ist. Öhlinger bestreitet dies, während Walter im Sinne der Kelsenianischen Tradition davon ausgeht, daß die Rechtsordnung einen objektiven Rahmen für die Interpretation liefert. An der Spitze der Auseinandersetzung zwischen Öhlinger und Walter steht die Frage, wie jemand, der in der Kantianischen Tradition steht, sich zur Frage der objektiven Erkenntnis der Rechtsordnung richtigerweise zu verhalten habe. Dazu vertritt Öhlinger den Standpunkt, daß es ein generelles Recht an sich, das außerhalb der Köpfe (des Bewußtseins) von Menschen existiert, nicht geben könne. Erst der Mensch, der bestimmte (geschriebene oder gesprochene) Texte als Sollensanordnungen versteht, mache diese Texte zu Recht. Walter hält diese Deutung für unzutreffend. Aus der Kantianischen Tradition folge lediglich, daß man das Sollen als eine Kategorie anzusehen habe. Diese Kategorie aber sei völlig inhaltslos. 34

35 36 37

Vgl. FN. 4. Zur Frage des Rechtsbegriffs, vgl. FN. 3. Vgl. FN. 5. Das Recht als objektive Gegebenheit oder als Bewußtseinsinhalt; vgl. FN. 3.

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III. Ich habe den Eindruck, daß die Diskussion in Wirklichkeit mit der Frage, wer der bessere Kantianer sei, nichts zu tun hat. Es geht hier nicht um die Kontroverse zwischen einer idealistischen (d. h. kantianischen) oder einer realistischen Begründung des Erkennens der Außenwelt. Es geht vielmehr darum, wie in der Realität, wie in der Außenwelt Jeststellbare Texte zu verstehen sind. Jedes menschliche Reden über Phänomene der Außenwelt setzt notwendigerweise voraus, daß der Mensch diese Außenwelt erkannt hat. Die Frage, wie dies geschieht, markiert die Meinungsverschiedenheit zwischen philosophischem Idealismus und philosophischem Realismus. Darum geht es aber hier nicht. Hier geht es ausschließlich darum, ob eine objektive, also von der subjektiven Position des Betrachters unabhängige Deutung von Rechtsvorschriften überhaupt möglich ist. Öhlinger bestreitet dies und muß sich von Walter den Vorwurf machen lassen, er sei in den Psychologismus zurückgefallen. In der Tat scheint mir Öhlinger zu übertreiben, wenn er eine objektive Sicht von Rechtsvorschriften überhaupt als unmöglich betrachtet und jede Interpretation von "Vorwissen" abhängig nennt. Anderseits aber scheint mir der pauschale Vorwurf des Psychologismus, den Walter gegenüber Öhlinger erhebt, auch wieder überzogen zu sein 38 • Walter hätte mit diesem Vorwurf nur dann recht, wenn Öhlingers Sicht zu einem völlig anarchischen Resultat führte, wenn es also insofern nicht die Spur einer in Regeln faßbaren Gesetzlichkeit gäbe. Aber das scheint mir nicht zuzutreffen; auch wenn man Öhlingers Konzeption im Prinzip folgt, gibt es irgendwo eine (natürlich nicht genau quantifizierbare) Grenze der möglichen Interpretationen. Im Dialog der Interpreten werden sich ohne Zweifel Gemeinsamkeiten in der möglichen Vielfalt aufzeigen lassen. Walter vertritt den positivistischen Wissenschaftsbegriff: Was sich nicht mit Hilfe des Messens und Wägens oder mit Hilfe der Alltagssprache fassen läßt, ist überhaupt keiner intersubjektiv nachvollziehbaren Betrachtung zugänglich. Wobei nochmals zuzugeben ist, daß die Hermeneutiker mit ihrer manchmal archaisch und mythologischen Ausdrucksweise viel dazu beitragen, um die ohnehin komplexe Lage noch zu verdunkeln. IV. Walter schreibt - durchaus in der Tradition Kelsens stehend - die Rechtsanwendung sei auch durch Willensakte gekennzeichnet, "die dort einzusetzen haben, wo die intellektuelle Bemühung zu keinem Ergebnis führt 39 ." Das ist ganz bezeichnend. Diese Willensakte stehen also im Gegensatz zum Intellekt? Gemeint ist natürlich etwas ganz anderes, nämlich daß der Willensakt eine Entscheidung unter verschiedenen, intellektuell nachvollziehbaren Deutungsmöglichkeiten trifft. Das heißt aber natürlich nicht, daß dieser Willensakt nicht auch das Resultat eines Denkprozesses wäre! Hier stößt man wieder auf die Spuren einer schon von Rohracher kritisierten Vermögenspsychologie, die aus 38

39

Vgl. auch Seiffert, S. 132. Beiträge, S. 48 f.

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Denken und Worten zwei scharf zu trennende "Vennögen" der menschlichen Psyche machen will 40. Auch der rechtswissenschaftliche Interpret, keineswegs nur der Rechtsanwender, muß eine Willensentscheidung treffen, wenn er sich für eine von mehreren Auslegungsvarianten entscheidet. Bei den Vertretern der Reinen Rechtslehre kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie den Erkenntnisakt primär der Rechtswissenschaft, den Willensakt primär der Rechtsanwendung zuordnen. So stimmt es aber nicht. Es hat nur der Willensakt des Rechtsanwenders andere Konsequenzen als der des Rechtswissenschaftlers. Nun konzediert freilich auch Walter, es wäre "vordergründig, anzunehmen, daß in jenen Bereichen der Rechtsanwendung, in welchen es keine strikten Ableitungen aus dem Gesetz gibt, keine gedanklichen Bemühungen die Ausübung der Willensfunktion begleiten könnten oder sollte. Dochfließt dabei die subjektive Wertung des vollziehenden Organwalters in die Suche nach der zu treffenden Entscheidung ein 41 ." Dazu kann man nur fragen: "Ist die Entscheidung deshalb unwissenschaftlich, weil auch subjektive Elemente einfließen"? Die Subjektivität allein ist kein Kriterium der Unwissenschaftlichkeit; sie kann es freilich sein. Wann dies der Fall ist, hat die Rechtswissenschaft zu erforschen. Aber die allgemeine Fonnel: "Subjektiv = unwissenschaftlich" ist im Bereich der Rechtswissenschaft nicht haltbar! Aus der ganzen Auseinandersetzung folgt eine zwingende Einsicht: Der Rechtswissenschaftler steht vor der Alternative, entweder auf eine Interpretationslehre überhaupt zu verzichten, wie dies Kelsen selbst tut 42 , oder aber sich von einem rein positivistischen Wissenschaftsbegriff zu verabschieden. Es sei freilich schon hier eingeräumt, daß aus einer konkreten Rechts- oder Verfassungsordnung Kriterien der Interpretation erfließen können, die sich aus einer allgemeinen Interpretationslehre keineswegs zwingend ergeben. V. Öhlinger beschäftigt sich mit Kelsens Auffassung, nach der die Rechtswissenschaft sich auf die Darstellung der möglichen Bedeutungen der Rechtstexte zu beschränken habe. Eine wirklich konsequente Handhabung dieser Position würde darin bestehen, daß sich die Rechtswissenschaft auf wirklich unbestreitbare Aussagen über die Texte des geltenden Rechts beschränkt oder wirklich alle vertretbaren Meinungen zu einem bestimmten Rechtstext ennittelt. Unbestreitbar in diesem Sinn wäre genaugenommen nur das, was alle des Lesens und der deutschen Sprache kundigen und einigennaßen vernünftigen Menschen aus den Rechtstexten übereinstimmend herauslesen würden. Die angemessene rechtswissenschaftliche Methode wären demnach Meinungsumfragen 43 •

40 41 42

43

Rohracher, Hubert, Einführung in die Psychologie, 1963, S. 60. Beiträge, S. 49. Reine Rechtslehre 2 , S. 348 ff. Kann die Rechtslehre das Recht verändern?, S. 723.

9 Festschrift Schambeck

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Diese Auffassung mag auf den ersten Blick hin absurd erscheinen. Vielleicht hat Öhlinger, als er sie 1991 zu Papier brachte, gar nicht geahnt, wie bald seine Vision Wirklichkeit werden sollte. Politisch interessierte Kreise sind in der Hochsommerzeit des Jahres 1993 durch eine öffentliche Diskussion über das Ausmaß eines bestimmten Rechtes des Bundespräsidenten erfrischt worden. Es ging dabei um die Vertretung der Republik Österreich nach außen 44 • Der Bundespräsident holte zu dieser Frage ein Rechtsgutachten ein, das ihm sehr weitgehende Kompetenzen bescheinigte. Andere Politiker widersprachen vehement. Eine auflagenstarke Wochenzeitung führte eine Meinungsbefragung dahingehend durch, ob der Interpretation des Bundespräsidenten recht zu geben sei. Die Frage wurde mit großer Mehrheit bejaht 45. Dieser Vorgang zeigt jedenfalls, wie naiv die Vorstellung ist, ein an sich sprachlich klarer Satz, der sich in einer Rechtsvorschrift findet, bedürfe keiner weiteren Interpretation. Im übrigen neige ich der Auffassung Funks zu, die Abgrenzung des Erkenntnisgegenstandes "Recht" schlage sich auch in denjeweiligen Problemlösungen nieder 46 • Rein theoretisch läßt sich die Frage nach dem Rechtsbegriff natürlich von der Frage trennen, an Hand welcher Interpretationsmethode ein konkretes Rechtsproblem zu entscheiden sei. Aber der unterschiedliche Zugang, der sich in der Wahl des einen oder anderen Rechtsbegriffes niederschlägt, wird mit Sicherheit auch seine Auswirkungen auf die Interpretation von Einzelfragen haben. VI. Nochmals will ich betonen, daß die Frage nach den Grenzen der Interpretation nicht losgelöst von der jeweils maßgebenden konkreten Verfassungsordnung beantwortet werden darf. Es sollte doch ohne weiteres einleuchten, daß Methoden, die in einer absoluten Monarchie oder in einem totalitären Regime durchaus zulässig sind, in einem auf dem Prinzip der Gewaltentrennung beruhenden Gemeinwesen eben nicht mehr legitim sind! Sowohl das Legalitätsprinzip als auch das Prinzip der Gewaltentrennung setzen ganz entscheidende Grenzen der zulässigen Interpretation! Hier, und nicht bei der Frage danach, was objektiv und was subjektiv ist, sind die Grenzen der Interpretation zu suchen! Ich bin mir durchaus des Umstandes bewußt, daß diese Ausführungen nicht zu der von der Reinen Rechtslehre verfochtenen Art und Weise der Trennung von Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung passen. Mir ist auch völlig klar, daß die verfassungsrechtlichen Regeln, aus denen sich die Grenzen der Interpretation ergeben, ihrerseits interpretationsbedürftig sind. Hier hat man es wirklich mit einem Zirkel, oder um mit Stegmüller zu sprechen, mit einem Dilemma zu tun. Dieses Dilemma ist freilich nicht unlösbar, wenn man die spezifische Funk44 45

46

Art. 65 Abs. 1 B-VG. ,,NEWS" vom 5.8.1993, S. 15.

Rationalität, S. 175.

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tion einer dem Rechtsstaat verpflichteten Verfassung als eines stabilisierenden Faktors in Betracht zieht 47 • Jedenfalls scheint mir die Einsicht, daß Fragen der Interpretation nicht unabhängig von der Staatsform und den aus ihr ableitbaren Prinzipien gelöst werden können, noch am ehesten geeignet zu sein, die gerade in der Diskussion zwischen Walter und Öhlinger sichtbar gewordene Kluft zu überbrücken. Diese Ausführungen über die Grenzen der Interpretation gelten insbesondere auch und vor allem für die Frage der Legitimität einer richterlichen Rechtsfortbildung. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie man diese Frage ohne Rückgriff auf die konkrete Verfassungsordnung beantworten könnte. Besondere Aufmerksamkeit verdient im vorliegenden Zusammenhang die Befugnis von Grenzorganen wie der obersten Gerichte, insbesondere eines Verfassungsgerichts. Dies sei hier nur erwähnt und nicht näher ausgeführt 48 • VII. Merkwürdigerweise zeigen weder die an der Reinen Rechsiehre orientierten noch die der traditionellen Privatrechtsdogmatik verpflichteten Autoren (wie Betti 49 und Bydlinski) den vorhin hervorgehobenen Umstand auf, daß der von einer Verfassung vorgenommenen Aufgabenteilung zwischen den Staatsorganen auch Direktiven für die Zulässigkeit einer Interpretationsmethode entnommen werden können. Es wird zwar durchaus der Fall in Betracht gezogen, daß eine Verfassung oder eine Rechtsordnung selbst Interpretationsregeln enthält oder sie voraussetzt; es wird aber der so wichtige Zusammenhang mit der verfassungsgesetzlich normierten Aufgabenteilung nicht hergestellt. Die von Walter so heftig kritisierte 50 "objektiv-teleologische Auslegung" kann gemäß der einen Verfassungsordnung legitim sein, gemäß der anderen aber nicht. Sie von vornherein als den Prinzipien einer "objektiven Rechtswissenschaft" widersprechend zu verdammen, ist meines Erachtens nicht zulässig, weil dabei von einem verengten Wissenschaftsbegriff ausgegangen wird: Eine Methode, die von einer Rechtsordnung erkennbar akzeptiert wird, kann nicht rechtswissenschaftlich unzulässig sein! Rechtswissenschaft, Rechtsanwendung und Rechtsetzung stehen - realistisch betrachtet - in einer dialektischen Beziehung. Rechtswissenschaft konnte sich überhaupt erst entwickeln, als eine Rechtsordnung mit einem gewissen kulturellen Minimalstandard vorlag. Der Stammeshäuptling, der Gesetzgeber und Richter in einem ist, bedarf keiner Rechtswissenschaft; der Richter in einer modemen Industriegesellschaft wird ohne sie nicht auskommen. VIII. Vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre wird man diesen Ausführungen gewiß eine unzulässige Vermengung von Sein und Sollen vorwerfen. Es sei aber Vgl. Korinek, Interpretation, (FN. 24). Vgl. dazu Klecatsky, Hans und Walzel von Wiesentreu, Thomas E., Durchbruch zum Menschenrechtsstaat, in: Adamovich-FS, 1992, S. 210 ff. 49 Betti, Emilio, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, 1988. 50 So schon Walter, Robert, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, System, 1972, S. 91, FN. 80, ferner ders., in: Leser-FS, hier: S.204, FN. 34. 47

48

9*

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einmal mehr betont, daß gerade die Reine Rechtslehre die Relativität der Trennung von Sein und Sollen durch die Anwendung von Kunstgriffen bewiesen hat: Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist die Lösung des Spannungsverhältnisses von Geltung und Effektivität dadurch, daß letztere als Bedingung der Geltung vorausgesetzt wird.

Kelsen kann auf dem Boden seines Wissenschaftsbegriffes nur Strukturprobleme lösen: Immer dann, wenn es interessant wird, verweist er die Frage in den Bereich der Rechtspolitik oder aber, was weitgehend auf das Gleiche hinauskommt, des Subjektiven, Relativen. Mit der präzisen Unterscheidung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung zieht sich Kelsen überaus elegant aus der Affare 51 • Elegant, aber keineswegs befriedigend. Denn man muß sich fragen, was mit dieser Art von Rechtswissenschaft praktisch anzufangen ist. Man wird, wenn von Reiner Rechtslehre die Rede ist, an Aqua destillata erinnert, das man nicht trinken kann. Und die eingangs erwähnte Diskussion zwischen Walter, Öhlinger und Funk ist ja ganz bezeichnend. Ich weiß nicht, ob Heidegger und Wittgenstein jemals diskutiert haben, aber so ähnlich stelle ich mir das vor. IX. Es ist sicher nicht abwegig, zu behaupten, daß die möglichen und historisch nachweisbaren Rechtsordnungen in einem solchen Maß verschieden sind, daß eine Rechtstheorie nach Art der Reinen Rechtslehre wissenschaftsökonomisch nicht zweckmäßig ist. Man vergleiche etwa die Rechtsordnung einer primitiven, auf Stammesbrauch basierenden Gesellschaft mit der des gewaltentrennenden demokratischen Sozial- und Rechtsstaates. Dazwischen liegt so viel, daß die Gemeinsamkeiten kaum mehr sichtbar sind.

Hält man sich das vor Augen, so kann man sehr wohl zu einer integrierenden rechtswissenschaftlichen Methode gelangen, die eine Synthese herstellt zwischen den präzisen Strukturanalysen der Reinen Rechtslehre und der meines Erachtens in der Rechtswissenschaft ganz einfach unverzichtbaren Hermeneutik. Diese muß sich freilich in gewissen Grenzen halten und darf nicht in literarische Romantik ausarten. Aber was in der Geschichtswissenschaft oder in den Sprachwissenschaften möglich ist, muß auch im Bereich der Rechtswissenschaft möglich sein. X. Man hat die Wahl: Entweder sich für eine solche Art von Rechtswissenschaft zu entscheiden und die Frage nach der Grenze der Wissenschaftlichkeit in Kauf zu nehmen, oder aber nachvollziehbare Wissenschaft nach Art der Reinen Rechtslehre zu betreiben um den Preis, daß die Rechtsanwendung damit wenig oder gar nichts anfangen kann. Damit sollen die hervorragenden Strukturanalysen der Reinen Rechtslehre keineswegs abgewertet werden. Aber sie bedürfen der Ergänzung durch zusätzliche Analysen, die sich mit der Bedeutung der Sprache als Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation beschäftigen. Und damit sind wir bei einer zentralen hermeneutischen Problematik: Ein Satz, der vor tausend

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Reine Rechtslehre2 , S. 350 f.

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Jahren geschrieben wurde, kann heute durchaus das gleiche bedeuten wie damals, muß es aber nicht. Die historische Bedingtheit sprachlicher Kundgebungen ist nicht zu bestreiten, auch nicht im Juridischen. Das kann man bei Betti nachlesen, mit dem sich Walter in seinem Beitrag zum eingangs zitierten Sammelband auseinandergesetzt hat 52 • Dieser Problematik muß sich die Rechtswissenschaft stellen; sie muß Kriterien entwickeln, um Zulässiges vom Unzulässigen zu scheiden. Man sollte die Reine Rechtslehre des demokratischen, gewaltentrennenden Sozial- und Rechtsstaates schaffen. Aber vielleicht tun das die heutigen Vertreter der Reinen Rechtslehre ohnehin, ohne sich dessen bewußt zu sein. Nicht haltbar ist allerdings, wie schon mehrfach betont, die von ihnen verfochtene Gleichsetzung von "subjektiv" und "unwissenschaftlich". Natürlich kann es eine Form der Subjektivität geben, die mit Unwissenschaftlichkeit gleichzusetzen ist. Aber ebenso kann eine vorgeblich "objektive" Methodik dem Gegenstand inadäquat sein.

F. In diesem Sinne trete ich also für eine integrierende Methodik der Rechtswissenschaft ein. Warum soll man nicht die Erkenntnis der jahrtausendealten "traditionellen Rechtswissenschaft", von der Kelsen so gerne spricht, bewahren und trotzdem die hervorragenden strukturellen und ideologiekritischen Ausführungen der Reinen Rechtslehre beachten? Schlecht ist jedenfalls eine Art von Dogmatismus, die schon von vornherein dem anders gearteten erkenntnistheoretischen Standpunkt die Existenzberechtigung oder Wissenschaftlichkeit abspricht.

Ich will einen solchen Vorwurf der Reinen Rechtslehre als solcher gewiß nicht machen, obwohl in Werken ihrer heutigen Repräsentanten gewisse Züge in dieser Richtung feststellbar sind 53. Allerdings meine ich - und das habe ich in diesem Beitrag wiederholt betont - daß die Unterscheidung von Wissenschaftlichkeit und "eigenen Voraussetzungen" oder "schöpferischer Phantasie" in der von Walter postulierten Weise nicht haltbar ist. Die gewiß notwendige Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Interpretation kann so nicht gefunden werden. Ebenso muß man aber die hermeneutische Unterscheidung von ,,Erklären" und "Verstehen" hinterfragen. Die richtige Lösung gibt es in der juristischen Interpretationslehre ebensowenig wie auf dem Gebiete der Philosophie; es gibt freilich eine Vielzahl von Lösungen, deren Unrichtigkeit nachweisbar ist. Es ist unmöglich, sich mit den erkenntnistheoretischen Prämissen der Rechtswissenschaft zu befassen, ohne allgemein philosophische Fragestellungen in BeBeiträge, S. 48 f. Vgl. dazu die zum Teil sehr apodiktischen Rechtsmeinungen bei Walter, Rohert, und Mayer, Heinz, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 1992. 52

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Ludwig Adamovich

tracht zu ziehen. Nicht von ungefähr ist dieser Beitrag einem Mann gewidmet, der - beginnend mit seiner Habilitationsschrift, aber weiter fortsetzend - stets Zusammenhänge dieser Art im Auge behalten und insbesondere auch zur Reichweite der Reinen Rechtslehre Entscheidendes ausgesagt hat 54•

54 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang insbesondere Schambeck, Herbert, Möglichkeiten und Grenzen der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens, JßI. 1984, S. 126 ff.

IST KELSEN MIT ARISTOTELES ZU VERSÖHNEN? Von Arthur F. Utz

I. Das rechtslogisch konsistente System Die Reine Rechtslehre Kelsens fasziniert durch ihre Logik, mit der von der obersten rechtlichen Norm der Prozeß der Rechtsbildung über Verfassung und Gesetz durchgeführt wird bis zur konkreten richterlichen Entscheidung und zur Rechtsvollstreckung. Auf allen Ebenen wird treu an der Definition des Rechts als einer effizienten sozialen Norm festgehalten. Kelsen legte dabei Wert auf die Feststellung, daß es sich um ein rechtslogisch aufgebautes Normensystem handelt, nicht um eine Ordnung von Zwecken, so daß über den Inhalt oder den Zweck der Normen nicht zu diskutieren sei. Die Frage der Finalität gehört nach Kelsen in den Bereich des Lebens, nicht der Rechtsgeltung. Es wird durch das Recht nicht entschieden, was gut oder bös, was wahr oder falsch, sondern was gültig ist. Den Rechtscharakter erhält ein Inhalt nicht vom Zweck, sondern von der geltenden juristischen Norm. Es wird demnach eine klare Scheidung von Recht und Moral und damit auch von Rechtstheorie und Rechtspolitik vollzogen. Im Gesichtsfeld des Rechtstheoretikers ist das kommunistische Zwangssystem genau so eine Rechtsordnung wie die freiheitlich demokratische Ordnung. Die Effizienz der Norm ist als Möglichkeit der Zwangsdurchsetzung zu verstehen. Die Autorität ist darum eine Instanz, welche die Realisierung der Norm erzwingen kann. Gewiß ist Zwang nicht nötig, wenn die Gesellschaftsglieder sich aus freier Entscheidung dem Gesetz unterwerfen. Doch muß man die Dinge immer vom Extremfall aus sehen. Der Zwang ist darum in die Definition des Rechts aufzunehmen. Man kann gemäß Kelsen nicht von Unrechtssystem im Unterschied zum Rechtssystem reden, wenn der Rechtsgehorsam erzwungen wird. Man könnte das System Kelsens mit einem Kasten von aufeinandergereihten leeren Fächern vergleichen, deren oberstes die erste Norm ist, d. h. die Recht schaffende Kraft, an der alle folgenden Normen bis zur letzten partizipieren. Auch die oberste Norm darf inhaltlich nicht bezeichnet werden, sonst fiele die formale Rechtslogik dahin. Eine oberste Norm ist gefordert, wenngleich sie nur hypothetischen Charakter haben mag. Es ist keine Frage, daß dieses System jeden Gesellschaftswissenschaftier faszinieren muß, der sein Wissensgebiet gemäß einer konsistenten Logik aufbauen will.

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Die Wirtschafts wissenschaft hat versucht, mit der gleichen Logik zu verlahren. Nur ist sie, weil sie wesentlich mit den Zwecken verbunden ist, gezwungen, einen realen Befund als Ansatz anzugeben. Und das ist für sie der gewinnsuchende Mensch, der alle Handlungen, die sich auf die materiellen Güter des Daseins beziehen, vom Eigeninteresse aus bestimmt. Nur mit Hilfe des homo oeconomicus ist es möglich, die Marktwirtschaft in Form eines konsistenten Systems zu erlassen. Die Tatsache, daß die Ökonomie gezwungen ist, den handelnden Menschen zu bestimmen, von dem aus die marktwirtschaftliehe Ordnung in ihrer Reinheit sichtbar wird, besiegelt auch ihr Schicksal. Die vielfältigen Einwände gegen die Supposition des homo oeconomicus sind reichlich bekannt. Heute hört man am meisten die Formulierung: Da es den homo oeconomicus nicht gibt, gibt es auch keine reine, d. h. vollständig freie oder, wie man heute sagt, "deregulierte" Marktwirtschaft. Kelsen braucht sich vor ähnlichen Einwänden gegen sein System nicht zu fürchten. Er setzt kein Menschenbild voraus. Ihm kommt es nur auf die Logik des Normenprozesses an. Er setzt nicht einmal die Freiheit in eines der Fächer, vom kategorischen Imperativ und vom Gleichheitsprinzip ganz zu schweigen. Er hat sich in einem Anhang zur zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre eingehend mit den verschiedenen Versuchen, einen Wert einzusetzen, auseinandergesetzt. Die formale Logik ist der Trumpf seines Systems. Wer immer versuchen will, ins Denken über die Rechtsordnung reale Inhalte aufzunehmen, der muß logisch mit Kelsen konkurrieren können. Das ist möglich, jedoch mit einer Prämisse, die Kelsen als unwissenschaftlich ablehnt, wie noch dargestellt werden soll. 11. Die Rechtslogik in der aristotelisch-thomistischen Naturrechtslehre

Gemäß Aristoteles und Thomas von Aquin kommt es im Bereich der Gerechtigkeit nicht darauf an, aufgrund welcher moralischen Einstellung einer dem andern ein Unrecht zufügt.! Wer dem andern eine bestimmte Summe Geldes stiehlt, verursacht eine Ungleichheit im Vergleich zum vorherigen Zustand und hat um der Gerechtigkeit willen nichts anderes zu tun, als den Ausgleich zu schaffen. Mit welcher Absicht der Diebstahl begangen wurde, spielt für die Gerechtigkeitsfrage keine Rolle. Insofern nähern sich Aristoteles und Thomas von Aquin der These der Trennung von Moral und Recht. Kelsen kann aber den beiden nicht mehr folgen, wo es um die Bestimmung des Objekts der Gerechtigkeit geht, das ! Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b f. Thomas von Aquin, Kommentar zur Nikomachischen Ethik, V, I, Edit. Marietti Nr. 886: "Sed circa justitiam et injustitiam praecipue attenditur quid homo exterius operatur. Qualiter autem afficiatur interius non consideratur nisi ex consequenti, prout scilicet aliquis juvatur vel impeditur circa operationem".

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Ist Kelsen mit Aristoteles zu versöhnen?

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nach Aristoteles und Thomas von Aquin das aequale, die Gleichheit ist. Der Begriff der Gleichheit hat in der Gerechtigkeitslehre von Aristoteles und von Thomas eine doppelte Bedeutung, eine andere in der justitia distributiva und eine andere in der justitia commutativa. Beide kommen aber darin überein, daß sie eine äußere Sache zum Objekt haben. Es ist darum schon von hier aus falsch, mit der Kelsenschen Interpretation die allgemeine Mesotes-Lehre, wie sie für die sogenannten moralischen Tugenden, die sich auf die Leidenschaften beziehen, gilt, im gleichen Sinn auf die Tugend der Gerechtigkeit anzuwenden. Bezüglich der moralischen Tugenden gilt nach Aristoteles und Thomas die Erklärung, daß sich die Tugend in der Mitte zwischen zwei Lastern befindet. Bei der Gerechtigkeit aber handelt es sich nicht um die Mitte zwischen zwei Lastern, sondern um die Mitte zwischen zwei Zuständen, von denen jeder in seiner Art als ungerecht zu bezeichnen ist. Die Gerechtigkeit verlangt darum den Ausgleich der beiden. Aus diesem Grund wird das "aequale" als Objekt der Gerechtigkeit bezeichnet. In der Darstellung der Mesotes-Lehre hat Kelsen alles durcheinandergeworfen. Die Mesotes-Lehre spielt in der aristotelischen und thomistischen Tugendlehre tatsächlich eine bedeutende Rolle. Kelsen nimmt diese Mesotes-Lehre ins Kreuzfeuer. Er bemerkt hierzu: ,,Aristoteles versichert, er habe eine wissenschaftliche, nämlich mathematisch-geometrische Methode gefunden, um Tugenden zu bestimmen, das heißt die Frage zu beantworten, was sittlich gut ist. Der Moralphilosoph - so behauptet Aristoteles - könne die jeweilige Tugend, deren Wesen er zu bestimmen sucht, auf die gleiche oder doch auf eine sehr ähnliche Weise finden, wie der Geometer den von den beiden Endpunkten einer Linie gleich weit entfernten, die Linie in zwei gleiche Teile halbierenden Punkt finden kann. Denn die Tugend ist die Mitte zwischen zwei Extremen, das heißt zwei Lastern, einem Zuviel und einem Zuwenig (Nikomachische Ethik, 1107 a, 1106 a, 1105 b). So ist z. B. die Tugend der Tapferkeit die Mitte zwischen dem Laster der Feigheit (einem Zuwenig an Mut) und dem Laster der Tollkühnheit (einem Zuviel an Mut). Das ist die berühmte Lehre der Mesotes. Um diese Lehre beurteilen zu können, muß man bedenken, daß ein Geometer eine Linie in zwei gleiche Teile nur unter der Voraussetzung teilen kann, daß die beiden Endpunkte schon vorher gegeben sind. Sind diese aber gegeben, dann ist mit ihnen der Mittelpunkt mitgegeben, das heißt schon vorausbestimmt. Wenn wir wissen, was Laster sind, wissen wir auch schon, was Tugenden sind, denn eine Tugend ist das Gegenteil eines Lasters. Wenn Lügenhaftigkeit ein Laster, dann ist Wahrhaftigkeit eine Tugend. Das Wissen um die Laster setzt aber Aristoteles als Wissen von etwas Selbstverständlichem voraus; und als Laster setzt er voraus, was die traditionelle Moral seiner Zeit als solches brandmarkt. Das bedeutet, daß die Ethik der Mesotes-Doktrin nur vorgibt, ihr Problem zu lösen, das Problem: Was ist böse, also ein Laster, und folglich, was ist gut oder eine Tugend? Denn die Frage, was ist gut, ist mit der Frage, was ist böse, beantwortet; und die Beantwortung dieser Frage überläßt die aristotelische Ethik der positiven Moral und dem positiven Recht der gegebenen Gesellschaftsordnung. Es ist die Autorität dieser Gesell-

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schaftsordnung - und nicht die Mesotes-Fonnel-, die bestimmt, was ,zuviel' und was ,zuwenig' ist, die die beiden Extreme, das heißt die beiden Laster und damit die Tugend festsetzt, die zwischen beiden liegt. .. . Der tautologische Charakter der Mesotes-Fonnel zeigt sich besonders deutlich in ihrer Anwendung auf die Tugend der Gerechtigkeit. Aristoteles lehrt: Gerechtes Verhalten ist die Mitte zwischen Unrecht-Tun und Unrecht-Leiden. Denn die erste bedeutet zu viel, die zweite zu wenig haben (Nikom. Ethik, 1133 b). In diesem Falle ist die Fonnel: Tugend ist die Mitte zwischen zwei Lastern, nicht einmal als eine Metapher sinnvoll; denn das Unrecht, das man tut, und das Unrecht, das man leidet, sind gar nicht zwei Laster oder Übel, es ist ein und dasselbe Unrecht, das der eine tut und daher der andere von dem einen leidet. Und die Gerechtigkeit ist einfach das Gegenteil dieses Unrechts. Die entscheidende Frage: Was ist Unrecht, ist mit der Mesotes-Fonnel nicht beantwortet. Die Antwort ist vorausgesetzt; und Aristoteles setzt als Unrecht ganz selbstverständlich voraus, was nach der positiven Moral und dem positiven Recht Unrecht ist. Die eigentliche Leistung der Mesotes-Lehre ist nicht, das Wesen der Gerechtigkeit zu bestimmen, sondern die Geltung der bestehenden, in der positiven Moral und dem positiven Recht etablierten Gesellschaftsordnung zu bekräftigen. Hierin, in ihrer konservativen Funktion, liegt ihre politische Leistung". 2 In diesem Text sind zwei Dinge näher zu beleuchten: 1. der Begriff der Mitte, 2. die Nonn, wonach die Extreme als bös oder schlecht bezeichnet werden.

1. Zum Begriff der Mitte Um aus dem Kelsenschen Gewirr von Falschdarstellungen herauszukommen, sehen wir zunächst von den moralischen Tugenden, d. h. den Tugenden, welche sich auf die Leidenschaften beziehen, ab (vgl. unten unter 3.). Sprechen wir zunächst nur von der Gerechtigkeit. Wie wir gleich sehen werden, kommt hier und nur hier die Mathematik ins Spiel. Da es sich bei der Gerechtigkeit nicht um zwei Laster, sondern zwei ungerechte Zustände oder Befindlichkeiten handelt, die einander als Extreme gegenüber stehen, hat der Begriff der Mitte hier eine von der Mitte der moralischen Tugenden grundverschiedene Bedeutung. Die Gegenüberstellung von Leidenantun und Leidenertragen hat beileibe mit Lastern nichts zu tun. Beim Leidenantun erzielt der Tätige, wie Thomas korrekt Aristoteles kommentiert, einen Vorteil, nämlich die Erfüllung seines Willens nach mehr. Leidenertragen ist dann entsprechend ein Nachteil. Das heißt: durch die ungerechte Handlung ist ein Ungleichheitszustand eingetreten. Die Mitte ist die herzustellende Gleichheit. 2 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960, 375 f. Im Anhang dieser zweiten Auflage befinden sich die zwei Traktate: I. Die Normen der Gerechtigkeit, 357-401, und ll. Die Naturrechtslehre, 402-44.

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Nun wird aber diese Mitte in ganz verschiedener Weise gefunden je nach der Gerechtigkeit, um die es sich handelt. Bei der distributiven Gerechtigkeit gibt man nicht jedem das gleiche Quantum, sondern verteilt aus dem Gemeingut jedem entsprechend seiner Funktion in der Gesellschaft. Die Gleichheit ist also nicht arithmetisch, sondern nur proportional zu bestimmen. Für proportional sagt man auch, wie Aristoteles und TIlOmas erklären, geometrisch. Anders verhält es sich bei der kommutativen oder Verkehrsgerechtigkeit. Hier kann die Gleichheit nur darin bestehen, daß der arithmetisch gleiche Sachverhalt wieder hergestellt wird, z. B. bei einem Diebstahl von hundert eine Rückgabe von hundert. Aristoteles und Thomas erklären nun diesen Unterschied zwischen geometrischer und arithmetischer Gleichheit an mathematischen Beispielen. Das heißt aber nicht, daß Aristoteles eine mathematisch-geometrische Methode der Ethik erfunden hätte. Arithmetisch steht die Zahl 6 genau in der Mitte von 8 und 4 - stets im gleichen Abstand von 2 zur Mitte - , jedoch nicht geometrisch; denn der Quotient von 8 zu 6 (1,35) ist nicht gleich dem Quotienten von 6 zu 4 (1,5). Das alles ist aber nur ein Begriffsexempel und hat mit einer "mathematischgeometrischen Methode" nichts zu tun, wie Kelsen meint. Es soll deutlich gemacht werden, daß z. B. ein Vater oder eine Mutter den Kindern die Nahrung nicht in gleicher Quantität austeilt, sondern jedem entsprechend seinem Bedürfnis, daß darum nur eine proportionale (geometrische) Gleichheit zur gerechten Verteilung gehört, daß aber in der Verkehrsgerechtigkeit die Gleichheit genau quantitativ, d. h. arithmetisch bemessen werden muß. Wenn Kelsen gegen diese Denkweise etwas einwenden könnte, dann nur von seiner Grundthese aus, daß aus dem Sein keine Rechtsprinzipien, also auch nicht das Gleichheitsprinzip, zu gewinnen seien. Damit kommen wir zur zweiten Frage.

2. Die Herkunft der Normen Daß das logische Netz des Normenprozesses nicht ausreicht, um in der gesellschaftlichen Realität Ordnung zu schaffen, ist für Kelsen eine Selbstverständlichkeit, nicht anders als für den Naturrechtler. Beide bestimmen den Inhalt der Rechtsnormen gemäß ihrer Lebensphilosophie. Der Inhalt ist je verschieden entsprechend ihrer Moralauffassung. Wir müssen darum zuerst den Unterschied hinsichtlich der Moralauffassung untersuchen. Denn diese ist bestimmend für die nächste Frage: In welcher Beziehung steht der Inhalt zur rechtlichen. Qualität? Anders ausgedrückt: Ist es denkbar, daß moralische Normen aus sich rechtliche Bewandtnis haben? Sprechen wir also zunächst von der ersten Frage: Woher stammt der Inhalt unserer Lebensnormen? Hier ist Kelsen reiner Empirist. Alles, was wir Natur nennen, stammt aus konkreter Erfahrung und ist nur Erfahrungsobjekt. Darum sind alle Gerechtigkeitsprinzipien wie das der gleichen Behandlung aller, die goldene Regel und wie sie alle heißen, ausschließlich dem subjektiven Empfinden

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zu verdanken. Das subjektive Empfinden schafft, von der Erfahrung belehrt, die Gesellschaftsmoral. Kelsen glaubt, auch Aristoteles und Thomas von Aquin in diesem Sinn interpretieren zu können. Gewiß nimmt die moralische Erfahrung bei Aristoteles einen großen Raum ein. Und auch Thomas von Aquin bringt überall die Erfahrung ins Spiel, wo es um die Erklärung von natürlichen Trieben geht. Kelsen glaubt, seine empirische Ansicht der Ethik bei Aristoteles zu finden. Das Studium des Aristoteles-Werkes "Metaphysik" hätte ihn eines anderen belehrt. Es hat mich überrascht, daß er auch mich für seine These vereinnahmt, als ob ich das Naturrecht als eine Ordnung der "durchschnittlich lebenden Menschen in der Gesellschaft", "der Mehrheit im formaldemokratischen Sinne" verstände. 3 Er stützt sich auf einen Text in meinem Kommentar zu Thomas von Aquin. 4 Jedoch wird in diesem Text die von Stammler und teilweise von Kierkegaard beeinflußte Naturrechtstheorie von W. B. Becker charakterisiert, die in keiner Weise etwas mit meiner Ansicht zu tun hat. Kelsen übersieht, daß Aristoteles hintergründig nach einer natürlichen Finalität sucht, die allgemeingültig ist und weit über die subjektive Erfahrung hinausreicht. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Aristoteles die metaphysische Abstraktion kannte und auf ihr aufbaute. Dabei handelt es sich um die totale Abstraktion im Unterschied zu der aus der Phänomenologie stammenden pointierend-hervorhebenden Abstraktion, die als Teilabstraktion zu bezeichnen ist. 5 Bei Thomas von Aquin gibt es bezüglich der metaphysisch abstraktiven Realerkenntnis keinen Zweifel. Die empirischen Daten dienen ihm als Weg zur Erkenntnis der hintergründigen allgemeinen Natur. Nach der aristotelischen und besonders der thomistischen Erkenntnislehre kommt der Intellekt an einen Punkt, da er aus der Erfahrung in die Ordnung der Wesenheit überwechselt. Das Sein ist das eigentliche Objekt des Intellektes, darum das erste, das der Intellekt erfaßt. 6 Die von der Sinneserkenntnis unterschiedene intellektive Erkenntnis ist ohne die Erkenntnis des Seins nicht möglich. Darin liegt der Grund der abstraktiven Erkenntnis. Aufgrund der auf der Sinneserkenntnis ruhenden Erfahrung stellen wir z. B. fest, H. Kelsen, op. cit. 413, Fußn. 67. Kommentar in Bd. 18 der Deutschen Thomasausgabe: Thomas von Aquin, Recht und Gerechtigkeit (S. Th. ll-II 57-79), Heidelberg / Graz 1953,437. - Nachfolgefassung: Bonn 1987, 281. 5 Durch die totale Abstraktion wird aus einem ganzheitlich erfaBten konkreten Seienden das Wesen ermittelt. Die pointierend-hervorhebende Abstraktion faBt nur einen Gesichtspunkt oder eine Qualität des Seienden ins Auge. Sie ist typisch für die neuzeitliche Wissenschaft. Die Wirtschafts wissenschaft fußt in ihrer Analyse der Marktwirtschaft auf dieser Abstraktion. Vgl. A. F. Utz, Sozialethik, Ill. Teil: Die soziale Ordnung, Bonn 1986,26,31, 165 f.; eingehend: E. E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1961, passim; W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Godesberg 1947,396 f. 6 Thomas v. Aquin, S.Th. q. I, 5, 2; q, 11, 2 ad 4 und passim. 3

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daß der leidenschaftliche Drogenkonsum in allen Einzelfällen sich für das Individuum wie für die Gesellschaft schädlich auswirkt. Was hindert, aus dieser Erfahrung die allgemeine Schlußfolgerung zu ziehen, daß der leidenschaftliche, d. h. der nicht von der Vernunft dirigierte Drogenkonsum ganz allgemein den natürlichen Trieben des Menschen widerspricht, demnach eine Deformierung des Trieblebens darstellt, zumal, und das ist wichtig, wir wissen, daß die Leidenschaften im Menschen, im Unterschied zum Tier, wesentlich der Regulierung durch die Vernunft bedürfen? Gewiß, wir müssen vorsichtig mit unseren abstrakten Begriffen umgehen, um kumulierte Einzelerfahrungen nicht als Wesenserkenntnisse auszugeben. Sollten aber deswegen alle Erkenntnisse, die wir als Wesenserkenntnisse bezeichnen, Illusionen sein? Daß der Mensch ein moralisches Wesen ist, dürfte wohl nicht in Frage gestellt werden, wenngleich manche Menschen so tun, als ob sie von einem moralischen Wesen nichts wüßten. Diese Erkenntnis gehört zum Grundbefund unserer praktischen Vernunft. Und daß der Kannibalismus nicht nur unserem, sondern allgemein dem humanen Wertempfinden widerspricht, dürfte einsichtig sein, wiewohl es Menschen gibt, die mit subjektiv gutem Gewissen den Kannibalismus befürworten. Nur unter der Voraussetzung, daß die abstrakt gefaßte natura humana eine Realität besagt, die allerdings je und je verschieden konkretisiert ist, sind wir in der Lage, von der Menschenwürde zu sprechen, die allen, wenn auch noch so verschiedenen Menschen zukommt. Die praktische Vernunft fordert aufgrund der spekulativen Erkenntnis der allgemein menschlichen Natur, daß die Menschenwürde eines jeden geachtet wird. Nachdem einmal aufgewiesen ist, daß die spekulative Vernunft die allgemeine Natur erkannt hat, sollte kein Hindernis für die Annahme bestehen, daß die praktische Vernunft diese Natur zur Norm des Handeins erhebt. Kelsen würde allerdings die Frage stellen, um welche Vernunft es sich handle, da wir empirisch nicht nachweisen könnten, daß alle Menschen de facto so denken. Wo existiert also diese Vernunft, von der hier die Rede ist? Soll es so etwas sein wie Hegels objektiver Geist? Die Frage geben wir aber Kelsen zurück mit der Gegenfrage: Aufgrund welcher Vernunft kann Kelsen behaupten, daß sein System so logisch ist, daß alle es verstehen müßten? Kelsen kann sich nur rechtfertigen, indem er die Natur der Vernunft voraussetzt, die naturhaft in allen die gleiche ist. Oder soll etwa der Begriff der Vernunft nur ein nominalistisches Gebilde sein? Wenn dem so wäre, dann brauchten die Menschen sich nicht zu bemühen, über einen Sachverhalt zu diskutieren, und wir alle, Kelsen eingeschlossen, wären jeden Bemühens um Verständigung enthoben. Diese abstrakte Realerkenntnis nannte Aristoteles und mit ihm Thomas von Aquin "Metaphysik". Metaphysik hat demnach primär nichts mit dem Bezug auf ein göttliches Wesen zu tun. Aristoteles kam ohne diesen Bezug aus. Thomas hat allerdings die weitere Frage gestellt, woher diese Erkenntnisweise komme, d. h. wo sie ihre letzte Verwurzelung fmde. Er mußte diese Frage stellen im Hinblick darauf, daß das erste und eigentliche Objekt der yernunft das Sein,

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und zwar das universale (analog für alle einzelnen Seienden geltende) Sein ist. Thomas sagte, daß diese bis zum universalen Sein vordringende Erkenntnis in letzter Analyse ihre Erklärung nur finde als kreatürliche Partizipation am göttlichen Erkennen. Damit befinden wir uns beim zweiten Begriff von Metaphysik, der in die Transzendenz weist. Diese zweite Fassung von Metaphysik ist auch notwendig, um den Pflichtcharakter der praktischen Vernunft aufzuweisen, weil sonst nicht einsichtig würde, warum der Mensch unbedingt und absolut, auch im Fall des Irrtums, der praktischen Erkenntnis zu folgen hat. Es sei aber nochmals betont, daß die metaphysische Erkenntnisweise auch ohne Rückbesinnung auf ihre Herkunft möglich und wirklich ist. Kelsen vermischt die metaphysische Erkenntnisweise mit der Analyse ihrer Herkunft. Was nun diese Analyse betrifft, so meint Kelsen, die Erkenntnis der Existenz eines Schöpfers sei nicht mehr rational, also nicht mehr wissenschaftlich. Kelsen kann aufgrund seines Empirismus den Begriff der Transzendenz nur dem Glauben zuordnen. Würde er dagegen die Abstraktion des analogen Seins, also die Metaphysik im erstgenannten Sinn anerkennen, dann müßte er logischerweise, also rational, zur Transzendenz, d. h. zur Metaphysik im zweitgenannten Sinn kommen. Wenn diese Erkenntnis Kelsen aufgegangen wäre, dann hätte er in seinem Normenaufbau an den Anfang anstelle einer hypothetischen ersten Norm eine rational erkennbare Autorität, nämlich die des Schöpfers, setzen müssen. Damit hätte er ein der Logik seines formalen Systems ebenbürtiges naturrechtliches Normengebäude erkannt, diesmal unter Einbeziehung des Inhaltes der Normen, den er mit Hilfe der metaphysischen Abstraktion gewonnen hätte. Aber diese Logik war dem Empiristen und Positivisten Kelsen vorenthalten. Kelsen hat offenbar nicht verstanden, was Metaphysik im erstgenannten Sinn ist. Er meint nämlich, daß die erstgenannte metaphysische Erkenntnis nicht rational sei, sondern nur durch die zweitgenannte metaphysische Erkenntnis verstanden werden könne. Weil diese aber von ihm dem Glauben zugeordnet wird, müsse sie aus dem Bereich der rationalen Erkenntnis ausgeschieden werden: ,,zwei Typen von Gerechtigkeitsnormen lassen sich unterscheiden: ein metaphysischer und ein rationaler Typus. Die Gerechtigkeitsnormen des metaphysischen Typus sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sich ihrem Wesen nach als von einer transzendenten, jenseits aller erfahrungsmäßigen (auf Erfahrung beruhenden) menschlichen Erkenntnis existenten Instanz ausgehend darstellen, also wesentlich den Glauben an die Existenz einer solchen transzendenten Instanz voraussetzen. Sie sind metaphysisch nicht nur in bezug auf ihre Provenienz, sondern auch in bezug auf ihren Inhalt, insoferne sie von der menschlichen Vernunft nicht verstanden werden können. An die Gerechtigkeit, die sie konstituieren, muß man - so wie an die Existenz der Instanz, von der sie ausgehen - glauben, aber man kann diese Gerechtigkeit nicht rational begreifen. Das Ideal dieser Gerechtigkeit ist, wie die Instanz, von der es ausgeht, absolut; es schließt, seinem immanenten Sinn nach, die Möglichkeit eines anderen Gerechtigkeitsideales grundsätzlich aus. Die Gerechtigkeitsnormen des hier - im Gegensatz zu ,meta-

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physisch' - als ,rational' bezeichneten Typus sind dadurch gekennzeichnet, daß sie keinen Glauben an die Existenz einer transzendenten Instanz als wesentlich voraussetzen, daß sie als durch menschliche, in der Welt der Erfahrung gesetzte Akte statuiert gedacht und von der menschlichen Vernunft verstanden, das heißt rational begriffen werden können." 7 Auf diese geradezu aufregend verzerrte Darstellung der Metaphysik würden der Heide Aristoteles und Thomas von Aquin nur antworten: ,,An eine Versöhnung mit Kelsen ist aus wissenschaftlichen Gründen nie zu denken". Wegen des völligen Mißverstehens der Metaphysik kann Kelsen den naturrechtlichen Begriff der Natur nur mit sarkastischer Kritik bedenken. Er erklärt, daß man vom metaphysischen Begriff der Natur aus in einem konkreten Fall paradoxerweise von einer "unnatürlichen" Natur sprechen müsse. "Das heißt aber: daß der Begriff ,Natur' einen radikalen Bedeutungswandel erfährt. An Stelle der realen Natur, der Natur, wie sie ist, tritt eine ideale Natur, die Natur, wie sie - dem Naturrecht zufolge - sein soll. Und so sind es keineswegs die Normen eines idealen Rechts, des sogenannten Naturrechts, die die Naturrechtslehre aus der Natur, sondern es ist eine ideale Natur, die diese Lehre aus dem von ihr als ideal vorausgesetzten Recht, dem sogenannten Naturrecht, deduziert, das diese Lehre voraussetzen muß, um zu ihrem Begriff der Natur, der guten, göttlichen Natur des Menschen zu gelangen."8

3. Die Mitte in den moralischen Tugenden Gehen wir zurück zur bislang in diesen Ausführungen zurückgestellten Frage, in welcher Weise die Vernunft in den moralischen Tugenden die Mitte bestimmt. Bezüglich der Gerechtigkeit, die es mit einem außenstehenden Sachverhalt zu tun hat, wurde die falsche Darstellung Kelsens bereits besprochen. Bei den moralischen Tugenden, die, wie gesagt, sich auf die Leidenschaften beziehen, spielt der Begriff der ,,recta ratio" eine entscheidende Rolle. Erst hier ist die Ansicht von der Mitte der Tugenden zwischen zwei Lastern von Bedeutung. Wie soll z. B. die Mitte zwischen Prüderie und Laxismus gefunden werden? Sowohl nach Aristoteles als besonders nach Thomas von Aquin bestimmt die recta ratio, nicht irgendeine mathematische Ethik, die Mitte der tugendhaften Handlung. Kelsen 9 zitiert nun einen Text aus Cicero, gemäß dem das Recht die ,,richtige Vernunft im Einklang mit der Natur" sei. "Diese Natur aber identifiziert er mit Gott, denn Gott erklärt er für den Urheber dieses ewigen und unabänderlichen Rechtes". "Daß die Vernunft des Menschen, aus dessen vernünftiger Natur eine Naturrechtslehre ihre ewigen, unabänderlichen Normen deduzieren kann, die 7

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H. Kelsen, op. eit. 365 f.

Op. eit. 413. Op. eit. 415 f.

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Vernunft Gottes im Menschen ist, lehrt Thomas von Aquin." 10 Für Thomas von Aquin ist jedoch die Vernunft ein Wesensbestandteil des Menschen. Um die Relation zum Erkennen des Schöpfers zu begreifen, müßte man eingehend über den Begriff der Partizipation sprechen, wozu hier der Raum nicht zur Verfügung steht. Die Vernunft ist eine eigene Ursache im Bereich des Handelns. Der Rückgriff auf die Geschöpflichkeit ist, wie schon gesagt, einzig und allein notwendig, um den Pflichtcharakter der praktischen Vernunft zu erweisen. Die praktische Vernunft ist ihrem Wesen gemäß verpflichtend. Sie hat dieses Wesen empfangen. Mehr ist bei Thomas von Aquin nicht zu fmden. Die Vernunft steigt nicht ins Jenseits, um dort die Erkenntnis der Wesenheiten zu erhalten. Die praktische Vernunft ist ,,reeta", indem sie in ihrem letzten Urteil sich von allen Einflüssen der Leidenschaften frei hält, welche sie von ihrer naturhaften Ausrichtung auf das reale Sein abhalten könnten. Nichts anderes verlangen wir von einem politischen Gegner, als daß er "leidenschaftslos", d. h. sachbezogen argumentiere. Es ist so lang unnütz, mit Kelsen über das Naturrecht zu streiten, als er bei seinem verHUschten Begriff der Metaphysik verbleibt. Im übrigen "deduziert" die praktische Vernunft im konkreten Fall nicht die der Natur entsprechende Norm, sondern sie formt sie in leidenschaftsloser Abstimmung mit den konkret gegebenen Umständen. Sie, nicht irgendeine Geometrie, bestimmt die Mitte der moralischen Tugenden. In diesem Sinn ist sie verpflichtend. Und sie ist dort rechtlich qualifiziert, wo es sich um Inhalte handelt, die die gesellschaftliche Ordnung betreffen. Da nun jede gesellschaftliche Ordnung, um rechtlich qualifiziert zu sein, einer Autorität, somit des positiven Rechts bedarf, ist in letzter Analyse jene Vernunft rechtsetzend, die die Gesetze im Einklang mit der menschlichen Natur, d. h. mit den menschlichen Existenzzwekken, erläßt. Der Vorwurf des Rechtsdualismus, der gegen die Naturrechtslehre geäußert wird, ist darum gegenstandslos. Das besagt aber nicht, daß der einzelne dem Gesetz Unterworfene seine individuelle Kompetenz verlöre, ein bestehendes Gesetz kritisch nach seiner Konformität mit der menschlichen Natur zu beurteilen und dementsprechend seinen Gesetzesgehorsam zu defmieren. Wenn diese individuelle Entscheidung gegen ein bestehendes positives Recht massiv auftritt, verliert das positive Recht seine Zwangsgewalt. In letzter Instanz befindet darum das Naturgesetz über die Existenz des positiven Rechts. Wo immer das positive Recht grundsätzliche Forderungen des Naturrechts unterdrückt, beweist die hintergründige, metaphysische Natur im Menschen ihre Zwangsgewalt. Die Geschichte, namentlich die der totalitären Rechtssysteme, liefert dafür zahlreiche Beispiele. Es stimmt also, daß wir zu unterscheiden haben zwischen Rechts- und Unrechtssystemen. Dabei ist festzuhalten, daß der Widerstand gegen ein bestehendes Unrechtssystem seine Rechtfertigung verliert, wenn es ihm aller Voraussicht nach nicht gelingen würde, Rechtssicherheit zu schaffen, denn diese ist das oberste Prinzip der Naturrechtslehre, wie auch Thomas von Aquin betont. 10

Op. eit. 416.

Ist Kelsen mit Aristoteles zu versöhnen?

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111. Kelsen und Aristoteles in der Rechtspolitik Da in jeder Gesellschaft ein positives Rechtssystem besteht, sei es ein formelles (geschriebenes) oder ein informelles Gesetz (Gewohnheitsrecht), hat der Rechtspolitiker sich die Frage über die künftige Rechtsentwicklung zu stellen. Nach welchen Normen hat diese nun zu geschehen? Das formale Rechtssystem Kelsens liefert dazu keinen Beitrag, es will diesen auch gar nicht liefern. Da Kelsen jedes real existierende Rechtssystem, das aktuell mit wirksamer Zwangsgewalt ausgestattet ist, Recht nennt, gibt es für ihn vom Gesichtspunkt des Rechts aus keine Unterscheidung zwischen Rechtsordnung und Unrechtsordnung. Recht ist bei ihm immer nur, was aktuell die Ordnungsgewalt besitzt. Für ihn als Rechtstheoretiker kommt es darum immer nur auf die augenblicklich herrschende Moralvorstellung an, aufgrund deren die Gesellschaft dem positiven Gesetz den Gehorsam leistet, ob gern oder widerwillig. Wie würde er reagieren, wenn er sich in einem von den Gesellschaftsgliedern gewünschten, von ihm aber abgelehnten totalitären Rechtssystem befinden würde? Wenn er seiner Moralphilosophle, die nichts anderes kennt als das Moralgefühl der Gesellschaft, treu bleibt, kann er eine Änderung gar nicht wollen. Er könnte höchstens gemäß seinem privaten Empfinden versuchen, Gesinnungsgenossen zu finden, um eine allmähliche Änderung der Wertvorstellungen zu bewirken. Nehmen wir an, er befände sich unter den Privilegierten, denen am Wohlbefinden nichts abgeht. Welchen Grund hätte er, das totalitäre Regime abzulehnen? Doch wohl nur den, daß er aufgrund seiner natürlichen Vernunft, die trotz aller gesellschaftlichen Abhängigkeit in ihm wirkt, das totalitäre System für unvernünftig erklären müßte. Offenbar trägt er dabei die beschimpfte ,,recta ratio" immer noch wurzelhaft in sich. Da er aber die natura humana als zeitüberspannende Norm nicht anerkennt und von der am Sein orientierten praktischen Vernunft nichts hält, kann seine Rechtspolitik nur im Zickzack des trial and error verfahren, bis er endlich das gefunden hat, was die recta ratio ihm schon früher hätte sagen können. Der N aturrechtler, der zwar ebenso wie Kelsen weiß, daß Recht als gesellschaft1iche Norm nur sein kann, was mit Zwang durchführbar ist, der aber aufgrund seiner Normenlehre unterscheidet zwischen Rechts- und Unrechtsordnung, überlegt, auf welchem Weg er die Gesellschaftsglieder auf den Weg der recta ratio führen kann, in der Überzeugung, daß jeder Mensch für jene Gesellschaftsordnung angelegt ist, die allen ein Leben in Freiheit und Frieden sichert. In dieser Formulierung steckt eine geheime Problematik, nämlich die Frage, ob zur Erreichung dieses Zieles die Gesellschaftsglieder zur Einhaltung absolut gültiger, aus der menschlichen Natur gewonnener Normen angehalten werden sollen (typisches aktuelles Beispiel: Ablehnung der Fristenlösung) oder ob es ausreicht, die Gesellschaftsglieder im Sinn einer reinen Verhaltensethik zu bilden, z. B. fairer Umgang mit dem Nächsten, Toleranz im Sinn der Achtung der Freiheit des andern, Vertragstreue, Verantwortungsbewußtsein, kurz all das, was man von einem treuen Bürger des wertneutralen Rechtsstaates erwarten muß. 10 Festschrift Schambeck

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Arthur F. Utz

Der Naturrechtler ist der Auffassung, daß das Recht auch erzieherischen Charakter hat, wiewohl er auch weiß, daß man die Gesellschaft mit Moralnormen nicht überbelasten darf. Selbst Thomas von Aquin hat erklärt, daß das Gesetz viele moralische Unebenheiten durchgehen lassen müsse, weil Gesetze, die nicht eingehalten werden, unnütz seien. Da es heute, nachdem das klassische Naturrecht, das nicht mit der rationalistischen Naturrechtslehre noch mit der Neoscholastik verwechselt werden darf, durch die Rechtstheoretiker völlig entstellt wurde, kontraindiziert ist, von einem Naturrecht zu sprechen, bleibt auch einem naturrechtlich Denkenden nur noch der Weg über die Verhaltensethik, die von den Juristen als ,,Rechtsethik" propagiert wird. Allerdings ist der Verzicht auf die metaphysische Grundlage des Naturrechts (metaphysisch verstanden im erstgenannten Sinn), ohne die die Rechtsethik ein nominalistisches Gebilde ist, nur unter Verlust der logischen Konsistenz möglich. Damit aber verliert man den Trumpf gegen die formale Logik des Kelsenschen Systems. Naturrechtliehe Normen können höchstens noch bei Einzelproblemen in die Debatte eingebracht werden und auch da möglichst unter Vermeidung der Bezeichnung ,,naturrechtlieh". Mit dieser Situation sah sich Herbert Schambeck konfrontiert, als er das Buch "Ethik und Staat" veröffentlichte. II Obwohl von absolut geltenden Normen überzeugt, die nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Rechtsgesellschaft gelten, geht H. Schambeck den Weg über die Verhaltens- oder Rechtsethik, indem er auf die Tugenden hinweist, die zur Erhaltung einer rechtsstaatlichen Gemeinschaft notwendig sind. Er scheut sich aber dennoch nicht, für den Extremfall mit Gustav Radbruch 12 zu erklären: ,,Es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß". Also das, was Kelsen aufgrund seines Empirismus verschmähte: unrechtliehe Gesetze.

11 Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 100, Berlin 1986. Vgl. meine Besprechung in: Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie 76 (1990), 544 - 547. 12 Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1956, 336.

3. Rechtsgeschichte

PROJEKTE ZU EINER ARBEITER-WÄHLERKURIE IN ÖSTERREICH Von Wilhelm Brauneder

A. Vorbemerkungen Die volle politische Mündigkeit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ist identisch mit dem Vorhandensein einer Vertretung im Parlament. Deshalb stellt sich die Geschichte des Parlamentarismus im 19. Jahrhundertl - nicht nur in Österreich - im wesentlichen als die des Wahlrechts dar. Doch geht es nicht nur um dieses als Selbstzweck, sondern es dient auch als Mittel, um einem Parlament einen bestimmten Charakter zu geben: Volksvertretung oder Interessenvertretung. In Österreich erwuchs die parlamentarische Vertretungs- als Wahlrechtsfrage zum nahezu permanenten Problem von hoher staatsrechtlicher Bedeutung ab der Wiedererrichtung von Parlamenten durch die ,,Reichsverfassung 1861 ": Sie schuf als gesamtstaatliches Parlament den Reichsrat, als Länderparlamente die Landtage 2 • Reichstag wie Landtage wurden allerdings nicht zur "Volksvertretung" berufen, sondern ersterer zur "Reichsvertretung" , diese zur "Landesvertretung". Diese "Vertretung" war aber nicht als allein handelnde Repräsentation gedacht, sondern als Vertretung der Reichs- bzw. Landesinteressen gegenüber dem Träger der Staatsgewalt, dem Monarchen. Neben dieser spezifischen Stellung kommt allen Vertretungskörperschaften auch von ihrer Zusammensetzung her nicht der Charakter von Volksvertretungen, sondern von Interessenvertretungen zu: Im Reichsrat wie in den Landtagen versammeln sich nur Vertreter bestimmter Bevölkerungsgruppen. Das Vertretungsrecht entspringt entweder persönlichen Eigen1 Zu den verfassungsrechtlichen Aspekten vgl. Brauneder, Wilhelm, Österr. Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 1992; Schambeck, Herbert, Entwicklung und System des österreichischen Parlamentarismus, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, 1982, S. 585 ff.; ders., Die Entwicklung des österreichischen Wahlrechtes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F., Bd. 21, 1972, S. 247 ff.; ders., Kammerorganisation und Ständeordnung, in: hn Dienste der Sozialreform, 1965, S. 443 ff.; ders., Vom Sinn und Zweck des Parlamentarismus, in: Österreichs Parlamentarismus. Werden und System, 1986, S. 1 ff.; ders., Entwicklungstendenzen der Demokratie in Österreich, in: Österreichs Parlamentarismus, S. 871 ff. 2 Brauneder, S. 141.

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schaften (Landtag: "Virilisten"; Reichsrat: Mitgliedschaft im Herrenhaus) oder gründet auf eine Wahl in den Kurien Großgrundbesitz, Landgemeinden, Städte und Industrieorte, Handels- und Gewerbekammern 3. Diese Kurieneinteilung verfolgt einen ganz bestimmten Zweck, nämlich den einer Gewichtung der Interessen. Dies wird durch eine nicht proportionale Mandatszuteilung erzielt. Im Landtag von Österreich ob der Enns (heute: Oberösterreich) sah beispielsweise diese Gewichtung folgendermaßen aus 4 (ab 1909): Der Kurie des Großgrundbesitzes sind zehn Abgeordnete zugeteilt, was 14,5 % aller 69 Landtagsmitglieder entspricht. Diese 14,5 % der Landtagsmitglieder repräsentieren jedoch bloß 0,06 % aller Wahlberechtigten (176746) bzw. nur 0,015 % der Landesbewohner (840 909). Mit 19 Mandaten stellt die Städtekurie 27,5 % aller Landtagsmitglieder, die aber nur 8,5 % der Wahlberechtigten bzw. 1,78 % der Landeseinwohner vertreten. Die 22 Landtagsmitglieder der Landgemeinde-Kurie entsprechen 31,9 % der Gesamtmandate, repräsentieren 36 % aller Wahlberechtigten bzw. 7,69 % der Landeseinwohner. Die 14 Mandatare der allgemeinen Wählerklassen stellen 20,2 % aller Landtagsmitglieder, vertreten jedoch sämtliche Wahlberechtigte (100 %) bzw. 21 % aller Landesbewohner. Die Großgrundbesitzer sind somit weitaus überrepräsentiert: 0,06 % der hier Wahlberechtigten werden von 14,5 % Landtagsmandataren vertreten. Überrepräsentiert sind auch die Stadtbewohner: Den 8,5 % der hier Wahlberechtigten sind 27,5 % Landtagsmitglieder zugeteilt. Etwa proportional ist die Vertretung der Landbewohner: 36 % Wahlberechtigte werden hier von 31,9 % Landtagsmitgliedern repräsentiert. In hohem Maße ungleich zugeteilt sind die Landtagsmandate der allgemeinen Wählerklasse: Alle hier Wahlberechtigten (100 %) entsenden bloß 20,2 % Mitglieder in den Landtag. Doch ist nicht nur eine Gewichtung, sondern auch ein Ausschluß von Interessen bezweckt. Die Kurien des Großgrundbesitzes und der Handels- und Gewerbekammern beschränken sich bereits als solche auf bestimmte Bevölkerungsgruppen mit Ausschlußwirkung gegenüber anderen. Die Gemeinde-Kurien differenzieren an sich nur zwischen den Bewohnern von Land- bzw. Stadtgemeinden (Industrieorte) und würden somit zusammen die gesamte Bevölkerung erfassen. Zu einem Ausschluß bestimmter Teile der Bevölkerung führt jedoch hier insbesondere der Steuerzensus: Er verwehrt kleinen Handels- und Gewerbebetrieben, Kleinbauern und vor allem Industrie- und Landarbeitern eine eigene parlamentarische Vertretung. Im Landtag von Österreich ob der Enns vertreten die Abgeordneten daher nur 21 % der Gesamtbevölkerung 5• Um auch den ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen ein Wahlrecht zu gewähren, boten sich grundsätzlich zwei Wege an: die Einführung des allgemeinen Brauneder, S. 159 bzw. 150. Nach Slapnicka, Harry, Oberösterreich unter Kaiser Franz Joseph 1861-1918, S. 78 (Skizze), 90 f., 94 f. - zum Reichsrat vgl. Brauneder, S. 165. 5 Slapnicka, S. 94 f. 3 4

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Wahlrechts oder eine Modifizierung des Kurienwahlrechts. Ersteres wäre gleichbedeutend gewesen mit einer Wesensveränderung der Parlamente, nämlich mit der Umwandlung des Abgeordnetenhauses des Reichsrats bzw. der Landtage von einer Interessen- in eine Volksvertretung, wozu eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen wäre. Eine Modifizierung des Kurienwahlrechts hingegen hätte den Charakter der Interessenvertretung nicht verändert und war im Wege der einfachen Gesetzgebung durchführbar. Eine Ausdehnung des Wahlrechts durch bloße Modifikationen erfolgte in Cisleithanien mehrmals 6 im Wege der Senkung des Steuerzensus und durch die Einführung der ,,Allgemeinen Wählerklasse" . Diese Maßnahmen können aber an sich nicht die Vertretung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe garantieren, und zwar insbesondere nicht bei einem Mehrheitswahlsystem wie dem Cisleithaniens. Eine sichere Vertretung gewährleistet im System der Interessenvertretung nur eine eigene Kurie. Mehrfach wurde versucht, auf diesem Wege der Arbeiterschaft eine Vertretung in den cisleithanischen Interessenparlamenten einzuräumen.

B. Chronologie der Projekte Der erste Plan, eine Interessenvertretung um eine Arbeiter-Kurie zu erweitern, scheint in das Jahr 1848 zu fallen: Im oberösterreichischen Landtag fordern die liberalen Demokraten eine derartige Ergänzung 7 • Nach der Wiedererrichtung parlamentarischer Einrichtungen 1861 läßt sich das ernsthafte Bemühen um eine Arbeiter-Kurie nach dem derzeitigen Forschungsstand in folgende, sich zum Teil überschneidende Abschnitte gliedern: 1. Die ,,Petition Brandstetter" als Allianz von Deutschliberalen und Arbeiterpartei 1871-1873.

2. Der außerparlamentarische Vorschlag Menger 1873. 3. Die Petition des Vereins "Volksstimme" 1874 durch den liberalen ("verfassungsgetreuen") Abgeordneten Kopp. 4. Außerparlamentarische Vorschläge 1874-1886. 5. Die liberalen Anträge Plener 1886 und 1891.

6. Der liberale Antrag Baemreither 1893. Bei den unter den Punkten 1., 3., 5. und 6. genannten Ereignissen handelt es sich um parlamentarische Aktivitäten im Reichsrat, von denen insbesondere die Anträge Plener durch ihre ausführlicheren Behandlungen hervorragen. 6

Vgl. Brauneder, S. 160.

Hugelmann, Karl, Die österr. Landtage im Jahre 1848, in: Archiv für österr. Geschichte, Bd. III /1. Hälfte, 1929, S. 132, 134 f., 153, 155. 7

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Wenn hier nur über Vorgänge berichtet wird, die ihren Bezugspunkt im Reichsrat haben, so bedeutet dies nicht, daß nicht auch die Landtage mit der Frage der Einführung einer Arbeiter-Kurie konfrontiert gewesen sind. In der Geschichte der Landtage klafft allerdings noch eine Forschungslücke, die sich auch in unserer Frage auswirkt. Wie erwähnt, hatte sich der oberösterreichische Landtag bereits 1848 mit der Frage des Arbeiterwahlrechts befaßt 8 und sodann ähnlich rund 50 Jahre später: 1890 und 1895 forderten die Liberalen zumindest die Einführung einer "allgemeinen Wählerklasse" im Interesse der "sogenannten besitzlosen Classe", scheiterten aber an der christlich-konservativen Landtagsmehrheit 9 •

I. Die "Petition Brandstetter": Allianz von Deutschliberalen und Arbeiterpartei 1871-1873 Am 30.1.1872 überreichte der Reichsratsabgeordnete Friedrich Brandstetter lO (deutsch-liberal) dem Abgeordnetenhaus eine Petition, welche die "Errichtung selbständiger Arbeiterkammern" in "Gleichstellung mit den Handels- und Gewerbekammern im allgemeinen" forderte und abermals eine ähnliche am 8.3.1873 1l •

Diese Petitionen fußten auf einer ,,Allianz zwischen den Deutschliberalen und der Arbeiterpartei", wie sie die "Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung" 1871 nannte 12, als sich diese beiden Gruppierungen zu einer Zusammenarbeit zusammengeschlossen hatten. Beide sahen in der Etablierung einer Arbeiter-Kurie einen Schritt zum allgemeinen Wahlrecht, das als oberstes Ziel nicht aufgegeben werden sollte. Den Deutschliberalen kam insbesondere die Rolle zu, in der Regierung, insbesondere im Handelsministerium, und im Parlament die notwendigen Schritte zu unternehmen. Vorberatende Resolutionen und schließlich die Petition Brandstetters 1872 verfaßte für die Arbeiterpartei Franz Wiesthaler. Was die ArbeiterKurie anlangt, so wurde folgendes vorgeschlagen 13: für jedes Land mindestens eine Arbeiterkammer, in größeren Ländern "vier oder noch mehr"; jede Kammer entsendet in den betreffenden Landtag wenigstens drei Mitglieder, sohin wären Vgl. eben vor 11. Slapnicka, S. 122. 10 Vgl. zum folgenden Posch, Regine, Die Errichtung von Arbeiterkammern im österreichischen Parlament 1872-1921, Staatswiss. Diss., Wien 1978, S. 28 ff., 30 ff., 38 ff., Stupperger, Leopold, Die Entwicklung der Arbeiterkammern in Österreich, Phil. Diss., Wien 1949, S. 46 ff.; Wadi, Wilhelm, Liberalismus und soziale Frage in Österreich, in: Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, Bd. XXIII, 1987, S. 229 ff. 11 Hier fehlt die Forderung nach Gleichstellung mit den Handels- und Gewerbekammern. 12 Vgl. Poseh, S. 28; Stupperger, S. 46. 13 Vgl. Posch, wie eben Fn. 12; Stupperger, S. 48. 8

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in den Landtagen größerer Länder zwölf "oder noch mehr" Abgeordnete der Arbeiterschaft vertreten gewesen; diese hätten, dem Beschickungsrecht zum Abgeordnetenhaus vor 1873 entsprechend, aus ihrer Mitte Vertreter in das Abgeordnetenhaus zu entsenden, wobei auf eine im parlamentarischen Betrieb relevante Mindeststimmenzahl Bedacht zu nehmen gewesen wäre. An diesem Projekt fällt auf, daß es gerade durch die letztgenannte Forderung mehr von der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses als von einer proportionalen Vertretung der Arbeiterschaft geleitet ist. Nicht um diese scheint es zu gehen, sondern um die Möglichkeit parlamentarischen Agierens. Die erste Petition Brandstetters wurde im Abgeordnetenhaus dem Petitionsausschuß überwiesen. Brandstetter selbst fungierte als dessen Berichterstatter im Plenum und damit hier gleichzeitig als einziger Redner. Das Plenum überließ die Petition dem "Gesamtministerium zur eingehenden Würdigung" 14, womit sie begraben war. Den Inhalt der Petition Brandstetter übernahm noch im gleichen Jahr, 1872, Heinrich überwinder in ein für Innenminister Lasser bestimmtes Memorandum, welche aber das Schicksal der Petition teilte 15. Als im Jahr darauf die Wahlreform in den beiden Reichsrats-Häusern zur Debatte stand, brachte Brandstetter abermals eine seiner ersten ähnliche Petition im Abgeordnetenhaus ein 16. Sie beruhte auf Resolutionen des Vereins "Volksstimme" 17 und wurde, wie Brandstetters Petition aus 1872, der Regierung zugeleitet. In der parlamentarischen Debatte griff lediglich Fürst Starhemberg im Herrenhaus den Plan auf, über eigene Arbeiterkammern dem Arbeiterstand eine Vertretung zu geben, damit das Abgeordnetenhaus "eher dem Namen eines Volkshauses entspräche als jetzt" 18. 11. Der außerparlamentarische Vorschlag Menger 1873

Zu den Wahlrechtsdiskussionen steuerte Max Menger 1873 sein Buch "Die Walreform in üestreich" (sie) bei, welches das gegenwärtige Wahlrecht eingehend analysiert und sodann Abänderungsvorschläge unterbreitet 19. Zu diesen hält Menger unter anderem fest: "Wir verlangen von der Walreform, daß sie dem Arbeiterstand eine Vertretung im Abgeordnetenhaus gewähre" 20. Diese könne StenoProtAH 27, 19.3.1872, S. 563; Posch, S. 33; Wadi, S. 229. Posch, S. 28 ff., 30 ff., 38 ff.; Wadi, S. 230; Text bei Berchtold, Klaus, Österreichische Parteiprogramme 1868-1966; 1967, S. 112 ff. 16 Posch, S. 38 f.; Stupperger, S. 59 f. 17 Posch, S. 37 f.; Stupperger, S. 59 f. 18 StenProtAH 31, 27.3.1873, S. 445 f.; Posch, S. 39; Stupperger, S. 61. 19 Poseh, S. 36 f.; Wadi, S. 230. 20 Menger, Max, Die Walreform in Oesterreich, 1873, S. 49. 14

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in zweierlei Weise erfolgen 21: entweder durch die Einführung des nahezu allgemeinen Stimmrechts oder durch eine eigene Interessenvertretung. Nach wahltaktischen Erörterungen zugunsten der deutschen Verfassungspartei sieht er das Hindernis für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts darin, daß es keine parlamentarische Mehrheit finden würde und rät daher zur Einrichtung einer Interessenvertretung. Dazu schlägt er vor, die Handels- und Gewerbekammern um Arbeitersektionen zu erweitern, die das Recht besitzen sollen, einen Abgeordneten zu wählen. Diese ohnedies sehr behutsame Vorstellung, die auch darauf abzielte, "den neu emporkommenden gesellschaftlichen Mächten ... gutwillig Anteil an der Volksvertretung zu gewähren"22, verhallte in der Wahlreformdebatte völlig ungehört. III. Die Petition des Vereins "Volksstimme" 1874 durch den liberalen ("verfassungsgetreuen")23 Abgeordneten Kopp

In bewußter Anknüpfung an das Memorandum überwinder verfaßte der Verein "Volks stimme" 1874 24 eine mit diesem inhaltsgleiche Petition an den Reichsrat 25. Der Zusammenhang mit dem Memorandum überwinders zeigt sich auch darin, daß dieser die Petition vor dem für ihre Behandlung vom Abgeordnetenhaus eingesetzten Ausschuß zu erläutern hatte. Als Begründung für das abermalige Vorbringen dienten Hinweise auf die mittlerweile insbesondere durch die Wirtschaftskrise 1873 eingetretene Verschlechterung in der Lage der Arbeiterschaft. Die Petition rief vor allem in der liberalen Presse ein positives Echo hervor, da sich die Vorgangsweise - Arbeiterkurie analog der Handels- und Gewerbekurie als Vorstufe zum allgemeinen Wahlrecht - mit den Intentionen der Liberalen traf26 • Diesmal blieb jedoch die Arbeiterpartei selbst gespalten, da vor allem die Radikalen die Petition ablehnten 27. Die Petition brachte der Abgeordnete Dr. losef Kopp (verfassungsgetreu) am 8.2.1874 im Abgeordnetenhaus ein 28 . Dieses überwies die Petition nicht wie üblich dem Petitionsausschuß, sondern setzte einen eigenen Ausschuß ein 29. Trotz 21 Ebda., S. 51. 22 Ebda., S. 51.

23 Vgl. dazu auch Böck, Franz, Die niederösterreichischen Abgeordneten im Parlament von 1861 bis 1879, Phil. Diss., Wien 1948, S. 52, 142. 24 Vgl. Posch, S. 41 ff.; Stupperger, S. 64 f.; WadI, S. 230 f. 25 Posch, S. 41 f.; Wadi, S. 230 f.; Berchtold, S. 112 f. 26 Posch, S. 42; Wadi, S. 231. 27 Posch, S. 45; WadI, S. 231. 28 StenProtAH 19, 13.2.1874, S. 599; Posch, S. 16; Stupperger, S. 66; WadI, S. 231. 29 Er setzte sich aus folgenden Abgeordneten zusammen: Frh. v. Blumencron (verfassungsgetreu), Strebensky, Mises (verfassungsgetreu, StG), Plener (verfassungsgetreu), Roser (verfassungsgetreu), Hackelberg (verfassungsgetreu), Fauderlik (Tscheche), Gerkansky (Pole): StenProtAH 20, 17.2.1874, S. 636. ,

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des liberalen Wohlwollens baute hier jedoch der Abgeordnete Mises (verfassungsgetreu) insofern eine Gegenposition auf, als er nicht selbständige Arbeiterkammern, sondern - im Sinne der Erwägungen Mengers - Arbeitersektionen in den Handels- und Gewerbekammern zur Erörterung brachte 30. Abermals im Gegensatz zum wohlwollenden Auftakt noch im Plenum des Abgeordnetenhauses durch den Abgeordneten Dr. Kopp3! fand die Petition im Ausschuß nicht die volle Unterstützung der Liberalen. Gerade die Einrichtung einer aus den Arbeiterkammern beschickten Arbeiter-Kurie lehnten sie, und zwar auch Plener 32, als "verfrüht" ab. Hier trafen sie sich mit dem ebenfalls so argumentierenden Innenminister Lasser (verfassungsgetreu). In der Plenumsdebatte sprachen sich die Sprecher der Verfassungsgetreuen, der Tschechen, der Deutschnationalen, mit Plener die Liberalen gegen das Wahlrecht in einer Arbeiter-Kurie aus, allein der Sprecher der Deutsch-Fortschrittlichen setzte sich dafür ein 33 . Stark abgeändert, vor allem ohne das Recht zur Beschickung einer Arbeiter-Kurie, wurde die Petition der Regierung übergeben. Der einzige Erfolg der Petition erschöpfte sich somit in dem Umstand, daß sich das Abgeordnetenhaus erstmals intensiv mit der Forderung nach der Einführung einer Arbeiter-Kurie in Ergänzung des Systems der Interessenvertretung beschäftigen hatte müssen. Dies blieb somit der einzige parlamentarische Erfolg der ursprünglichen ,,Allianz Deutschliberale-Arbeiterpartei". IV. Außerparlamentarische Vorschläge 1874-1886

Wie sehr eine parlamentarische Interessenvertretung der Arbeiterschaft diskutiert und von politischen Gruppen oder ihren Vertretern unterschiedlichster Ausrichtungen gewünscht wurde, erweisen zahlreiche außerparlamentarische Aktionen 34 . Außerhalb der Sozialdemokratie stehende Arbeiter befaßten sich 1874 gleichfalls mit der Errichtung von Arbeiterkammern 35 : Bezirks-Arbeiterkrankenkassen mit Zwangsmitgliedschaft hätten für jedes Kronland eine Arbeiterkammer unter staatlicher Aufsicht zu beschicken, denen das Recht zukommen sollte, einen Abgeordneten in den Reichsrat zu entsenden. Für eine entsprechende "Denkschrift" sollten Unterschriften gesammelt und diese sodann dem Reichsrat und dem Wiener Gemeinderat offenbar als Petitionen überreicht werden. Allerdings 30 3! 32 33 34 35

Posch, S.47 mwN; Wadi, S. 232. StenProtAH 19, 13.2.1874, S. 599. Kolmer, Gustav, Parlament und Verfassung in Österreich 11, 1872, S. 484. StenProtAH 99, 17.2.1874, S. 3157 f. Posch, S. 59. Wie Fn. 34.

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wurde diese Denkschrift just an jenem Tag der Öffentlichkeit bekanntgegeben, der dem de-facto-Begräbnis der Petition des Vereins "Volks stimme" im Abgeordnetenhaus folgte. Neben der eher geringen Autonomie der geplanten Arbeiterkammern gab dieser ungünstige Zeitpunkt mit den Grund dafür ab, daß die unterschiedlichsten Seiten diese Denkschrift als Mißgeburt abstempelten. 1875 publizierte Alois Prinz von Liechtenstein, dem sozialen Katholizismus zugehörig, sein Buch "Über Interessenvertretungen im Staate mit besonderer Beziehung auf Österreich", in dem er zwar für die Einrichtung von Arbeiterkammern, aber doch eher zurückhaltend für ihr Wahlrecht eintrat 36 • Auch in den weiteren Forderungen nach Errichtung von Arbeiterkammern Gewerkschaftsorganisation 1878 37 , deutschnationales "Linzer Programm" 1882 38 , "Haider Konferenz" der katholischen Sozialpolitiker 1883 39 - erscheint deren Wahlrecht als gar kein oder kein zentrales Anliegen. V. Die liberalen Anträge Plener 1886 und 1891

Nach der Petition Brandstetter 1872 und der Petition "Volksstimme" - Kopp 1874 beschäftigte sich der Reichsrat zum dritten Mal ab 1887 mit der Frage der Errichtung von Arbeiterkammern und der Einführung einer auf ihnen fußenden Arbeiter-Kurie 4O • Seit der letzten parlamentarischen Behandlung dieses Sachproblems, nämlich der Erledigung der Petition Kopp, waren bereits zwölf Jahre vergangen. In diesen Zeitraum fällt die (Taaffesche) Wahlrechtsreform von 1882, die zwar durch die Senkung des Steuerzensus Teilen des Kleinbürger- und Bauemstandes das Wahlrecht einräumte 41 , aber doch nicht den Arbeitern. 1886 brachten nun die Abgeordneten Plener, Exner (beide "verfassungsgetreu") und Wrabetz (liberal) im Abgeordnetenhaus einen Antrag "Über die Errichtung und Organisation der Arbeiterkarnrnern" ein, der seit 1885 vom deutschösterreichischen Parlamentsklub vorbereitet worden war 42 • Da sich die Liberalen und auch Plener noch 1874 gegen das ähnliche Konzept des Vereins "Volksstimme" ausgesprochen hatten, interessieren die Motive. Zu seinem Meinungsumschwung führt Plener aus 43 : ,Jch sage ganz offen, daß ich damals (1874) für die Erteilung 36 Alois Prinz Liechtenstein, Über Interessenvertretung im Staate mit besonderer Beziehung auf Österreich, Wien-Pest 1875, S. 30 ff.; vgl. WadI, S. 234. 37 Posch, S. 64. 38 Berchtold, S. 198 ff. 39 Posch, S. 66; Stupperger, S. 83. 40 Posch, S. 74; Stupperger, S. 88. 41 Vgl. Brauneder, S. 160. 42 Posch, S. 68; Stupperger, S. 87; Wadi, S. 234. 43 Reden von Dr. Ernst Frh. v. Plener 1873-1911, Johann Frh. v. Chlumecky (Hrsg.), 1911, S. 396.

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des politischen Wahlrechtes an das neue Institut nicht eingenommen war, weil ich glaubte, daß die ganze Institution selbst noch zu neu wäre und sich erst bewähren müsse, bevor man ihr eine politische Vertretung geben könne. Allein 12 Jahre sind es, seit dem ich diesen Standpunkt eingenommen habe, und wie die Dinge heute liegen, bei der Ausdehnung des Wahlrechtes und bei dem immer lebhafteren Wunsche der arbeitenden Klasse nach Interessenvertretung in diesem Hause, bei der immer größeren Beschäftigung dieses Hauses mit Fragen der sozialen Reform scheint es mir angezeigter, derartige Bedenken fallen zu lassen und heute schon das Prinzip auszusprechen, daß dieser Institution auch das politische Wahlrecht zukäme"; und konkret zu seinem Begehren 44: "Wir möchten hier in diesem Hause eine gewisse Zahl von Arbeitern haben, damit über die sozialen Reformfragen eine Anzahl berufener, dem Arbeiterstande angehöriger Vertreter hier diskutieren könne. In diesem Hause ist es von radikaler und reaktionärer Seite in den letzten Jahren üblich geworden, sich als Wortführer des Arbeiterstandes aufzuwerfen und in dessen Namen Gesetze zu machen oder zu bekämpfen oder große Erklärungen abzugeben". Exners Begründung ist kürzer 45 : " ••• wie es in Deutschland neben den Handelskammern auch Gewerbekammern gibt, sollte es nach meiner Ansicht bei uns mit Rücksicht auf die steigende Bedeutung der sozialpolitischen Fragen neben den Handels- und Gewerbekammern Arbeiterkammern geben". Die Beschickung der vorgeschlagenen Arbeiter-Kurie sollte durch 26 Arbeiterkammern erfolgen, die zusammen jedoch nur neun Abgeordnete zu entsenden hätten. Diese geringe Zahl versteht sich aus verschiedenen Sachzwängen. Plener selbst weist schon auf parteiinterne Schwierigkeiten hin: " ... ich hatte schon im Jahre 1885 der Partei eine neue Wahlreform ... vorgeschlagen, fand aber keine Zustimmung, so griff ich jetzt wieder zu dem alten Projekt der Arbeiterkammern ... (Es) sollte ihnen eine Vertretung im Abgeordnetenhaus gewährt werden, neun Abgeordnete, ... allerdings eine geringe Zahl, aber bei der damals in der Partei noch bestehenden Vorsicht in Arbeiterfragen konnte ich nicht weitergehen, denn selbst zu diesem bescheidenen Ausmaß war die Zustimmung nur schwer zu erreichen ... "46. Weitere Gründe für die Zurückhaltung erwähnt Exner 47 : "Wir hatten zuerst Arbeiterkammern dort verlangt, wo Handelskammern bestehen. Taaffe sagte aber gleich: ,Gar keine Spur, 15 sind gerade genug'. Später meinte er freilich, auch das sei noch zu viel und drückte die Zahl schließlich auf 12 herunter. Wir fügten uns, um den Gedanken zu retten ... ". Zu dieser hier deutlichgemachten Bedachtnahme auf die Regierung gesellt sich schließlich aus der Erfahrung der Abgeordneten auch die Abwehrhaltung des Parlaments.

44 45

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Wie Fn. 43, S. 399. Exner Wilhelm, Franz, Erlebnisse, 1929, S. 199. Erinnerungen von Ernst Freiherr von Plener 11, 1921, S. 323. Exner, S. 199.

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Anstelle der selbstgenannten Motive der Antragsteller pflegt die Sekundärliteratur zum Teil andere zu setzen. Hievon mag als zusätzlicher Nebeneffekt, aber gewiß nicht als Hauptziel gelten, "dem Minister Taaffe Verlegenheiten zu bereiten"48. Verfehlt ist sicherlich die weitere Unterstellung, es sei den Liberalen darum gegangen, "die Arbeiter für sich einzufangen"49: Sie hatten gewiß nicht den Wunsch, sich in eine Arbeiterpartei umzuwandeln, auch nur für einen Stimmengewinn von einer namhaften Zahl an Arbeitern wäre der Köder mit 9 Abgeordneten viel zu mager ausgelegt gewesen, was den Liberalen schon durch einfache Vergleiche etwa mit der in dieser Frage wesentlich fetteren Petition des Vereins "Volksstirnme" oder den 21 bis 30 von den Handels- und Gewerbekammern entsandten Abgeordneten 50 selbst durchaus bewußt war. Einfach falsch ist der Verdacht, es sei den Antragstellern ein Anliegen gewesen, der "Forderung nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht den Wind aus den Segeln zu nehmen"51: Dies widerspricht dem Eintreten der Liberalen für eben dieses Wahlrecht 52, das sich aber zu diesem Zeitpunkt nicht hätte realisieren lassen. Diese wohl nicht zutreffenden Kritiken wurzeln letztlich auch in der zeitgenössischen Polemik. So hatte Viktor Adler die vermeintlichen Motive der Antragsteller gar nicht aus ihren Äußerungen oder Handlungen abgeleitet 53, sondern aus einer zu diesem Zeitpunkt - 1886 - gut zwanzig Jahre alten Zukunftsvision Friedrich Engels. Polemik begleitete die Wahlrechtsdiskussion aber nunmehr von allen Seiten. Der christlich-soziale Abgeordnete Dr. Gessmann 54 unterstellte Plener aufgrund seines zweiten Antrags 1891, er habe "plötzlich für das Wohl der Arbeiter einen so außerordentlichen Eifer entwickelt", obwohl dieser angesichts des ersten Antrags 1886 weder "plötzlich", noch in Hinblick auf die bescheidenen 9 Abgeordneten "außerordeQtlich" zu nennen war; überdies fmdet sich auch hier schon der unfundierte und noch dazu falsche Vorwurf, Plener plane einen "Winkelzug gegen das allgemeine Wahlrecht". Der Demokrat Dr. Kronawetter verstieg sich zu der makabren Behauptung: "Die Bevölkerung will ihr Wahlrecht haben, sie 48 Kaff, Sigmund, Die Arbeiter- und Angestelltenkammern. Vorgeschichte, Aufgaben, sozial- und wirtschaftspolitische Bedeutung, in: Gewerkschaftliche Zeitfragen, Nr. 4, 1920, S. 4. 49 Kaff, S. 4. 50 Vgl. Reichsratswahlordnungen RGBl. 40 /1873, 142/1882: 21 Abgeordnete allein der Handels- und Gewerbekammern, 19 dieser und (mancher) Städte. 51 So Posch, S. 68. 52 Salficky, Wilhelm, Der Weg zum allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht in der Wiener Presse, Phil. Diss., Wien 1947, S. 1 ff.; Wende (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte politischer Parteien in Europa, 1981, S. 467 f. 53 Adler, Viktor, Die Arbeiterkammern und die Arbeiter, 1886, S. 3 f. 54 StenProtAH 241, 28.10.1893, S. 11499; zu Geßmanns Stellung zum Allg. WR vgl. Kolmer, Bd. 5, S. 337.

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will keine Deputiertensitze" 55; eine parallele Behauptung hätte sein müssen: "Das Volk will seine Grundrechte, aber keine Freiheit seines Eigentums". Derartige polemische Glossierungen hielten sich in nur sehr weiten Schranken, und zwar sowohl außerhalb des Parlaments wie in diesem selbst. Die Sozialdemokraten lehnten gleich 1886 den Entwurf der Liberalen - wie von diesen erwartet - in einer äußerst sachlichen Resolution ab, der Viktor Adler allerdings eine Broschüre nachfolgen ließ 56, die das Bild eines unelastischen akademischen Theoretikers vermittelt. In der sozialdemokratischen Resolution findet insbesondere "das winzige Ausmaß von parlamentarischer Vertretung" 57 eine ausdrückliche Kritik. 1887 allerdings befürwortete eine Arbeiterversammlung in Lernberg den Antrag mit Modifikationen als einen "ersten Schritt zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes" 58 wie er auch von den Liberalen gedacht war. Ab dem Hainfelder Parteitag 1888/89 blieb die Sozialdemokratie bei ihrer gänzlichen Ablehnung des liberalen Arbeiterkammer-Entwurfs 59. Auf außerparlamentarische Ablehnung stieß er ferner bei der "Konservativ-katholischen Partei" und dem christlichen Sozialreformer Vogelsang 60. Während aber die Sozialdemokraten ab nun kompromiß- und vorleistungslos von einer versammlungsunterstützten Resolution zur anderen am weiteren Schritt hin zum allgemeinen Wahlrecht festhielten, sprach sich Vogelsang dagegen aus, den "Arbeitern politische Rechte zu geben, bevor man ihre wirtschaftliche Lage"61 verbessert hätte. Im parlamentarischen Betrieb hatten die beiden Anträge Pleners zur Folge, daß sich der Reichsrat wesentlich ausführlicher als bisher mit dem Problem der Arbeiterkammern und dem Wahlrecht der Arbeiter auseinandersetzte. Dem ersten Antrag von 1886 folgten neben Plenardiskussionen solche in einem eigenen Ausschuß, in einem hieraus gebildeten Subkomitee und schließlich wurde bereits 1889 - eine Enquete veranstaltet. Die erste Lesung brachte eine für den Antrag günstige Stimmung, für ihn traten beispielsweise auch Sprecher der Jungtschechen 62 und der Deutschradikalen (Türk)63 ein, Dr. Kronawetter (Demokrat) lehnte ihn als ,,Abschlagszahlung ... für das allgemeine Wahlrecht"64 ab. Im 55 56 57 58 59

StenProtAH 238, 24. 10. 1893, S. 11383.

Adler, S. 3 f.

Zitiert bei Adler, S. 21 f. Posch, S. 79 f. Steno Protokolle über die Verhandlungen der österreichischen Sozialdemokratie in Hainfeld, 1889, S. 84 ff. 60 Karl Freiherr v. Vogelsang, Arbeiterkammern in: Monatsschrift für christliche Sozialreforrn, Gesellschafts-Wissenschaft, volkswirtschaftliche und verwandte Fragen, Jg. 11, 1889,57-67.

61 62 63 64

Ebda.

Posch, S. 78; Stupperger, S. 96 f. Posch, S. 78. StenProtAH 108,4.2.1887, S. 4006; vgl. Plener, S. 46; Stupperger, S. 97 f.

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Ausschuß und sodann auch in der Enquete richtete sich die Kritik - begreiflicherweise - gegen die bescheiden bestückte Arbeiter-Kurie 65 . Plener selbst 66 hielt das Ergebnis der Enquete "im großen ganzen günstig für unseren Antrag"; für das Hinschleppen der Vorlage machte er "die Mißgunst der Rechten" verantwort-

lich.

Nach den Wahlen von 1891 zog die "Vereinigte Linke" unter Pleners Führung als relativ stärkste Fraktion in das Abgeordnetenhaus ein. Gleich 1891 häuften sich die Anträge auf Wahlrechtsänderungen 67 . Unter ihnen befand sich abermals ein Antrag Plener und Genossen, der nur unwesentlich von Pleners Antrag 1886 abwich. 1893 brachte schließlich die Regierung einen eigenen Wahlrechtsentwurf ein, der auf eine Erweiterung des Wahlrechts in den beiden Gemeindekurien abzielte, nachdem sie sich zuvor gegen eine "Organisation der Arbeiter als Klasse" in Arbeiterkammern und gegen die Zuerkennung "politischer Rechte an die Arbeiter"68 ausgesprochen hatte. Der zweite Antrag Pleners wurde mit den übrigen Wahlreformanträgen, insbesondere der Regierungsvorlage, gegen Ende 1893 im Abgeordnetenhaus diskutiert 69. Dun hatten sich auch die Deutschnationalen angeschlossen, obwohl von ihnen selbst ein Wahlrechtsreformantrag stammte 70. Im Zuge der Wahlrechtsdebatte ließ jedoch Plener seinen Antrag fallen und unterstützte den Antrag Baemreither 71 . VI. Der liberale Antrag Baernreither 1893

Der Antrag Baemreither 72 ("Verfassungsgetreuer Großgrundbesitz") war als Gegenantrag der bürgerlich-deutschen Linken zur Regierungsvorlage gedacht und einer von jenen Anträgen, welche der Wahlrechtsdebatte 1893 zugrunde lagen. Er sah eine Arbeiter-Kurie von 20 Abgeordneten vor, die direkt von jenen Arbeitern zu wählen wären, die einer Krankenkasse mindestens ein Jahr lang angehört hatten. Die Ähnlichkeit mit dem Antrag Pleners und schließlich dessen Unterstützung zulasten seines eigenen Projekts ließen Baemreithers Antrag bei den Gegnern als Fortsetzung des Plener'schen erscheinen. Diese sahen in der Steigerung der Abgeordnetenzahl eine "Licitation"73 (Dr. Gessmann / christlichsozial), ein Indiz in Richtung "die Herren lassen mit sich reden" 74 (Dr. Kronawetter / Demokrat). 65 Posch, S. 92. 66

Plener, S. 331.

68

Stupperger, S. 117.

72

Zu ihm Salficky, S. 42 f.; Beilagen zu StenProtAH IX. Session, Nr.730.

67 Posch, S. 102.

69 Posch, S. 105 ff. 70 Salficky, S. 28. 71 Posch, S. 106.

73 StenProtAH 241, 28.10.1893, S. 11499.

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Der Antrag Baernreither teilte schließlich das Schicksal aller Vorlagen 7S: Keine wurde angenommen oder irgend wie weiterverfolgt. Er stellt überdies den letzten Versuch dar, eine Interessenvertretung für die Arbeiterschaft einzuführen. Die unmittelbare Zukunft gehörte der fünften, der allgemeinen Wählerklasse, wie sie 1896 eingeführt wurde 76 .

c. Analysen I. Die politischen Kräfte und ihre Mittel

Die Erörterungen oder gar parlamentarischen Bemühungen um die Einrichtung einer Arbeiter-Kurie neben den bestehenden Kurien verstehen sich als politisch realistisches Mittel, den Arbeitern ein Wahlrecht zu geben und in den meisten Fällen zusätzlich als Weg der kleinen Schritte hin zum allgemeinen Wahlrecht. Die parlamentarischen Aktionen zur Einführung von Arbeiter-Kurien gehen entweder auf liberale Gruppierungen (Deutschliberale, die "bürgerliche Linke") und die Sozialdemokraten (bzw. ihre Vorläufer) zurück. Am Beginn der Entwicklung steht eine ausdrückliche "Allianz zwischen den Deutschliberalen und der Arbeiterpartei" 77. In den parlamentarischen Debatten finden diese Gruppen in der Regel nur Unterstützung von nahestehenden Fraktionen wie etwa den Deutsch-Fortschrittlichen, selten von anderen Parteien oder ihrer Vertreter wie etwa des Fürsten Starhemberg im Herrenhaus 1873 oder aus der Gruppe der "Verfassungstreuen".

Die Mittel, eine parlamentarische Behandlung herbeizuführen, sind Petition und Initiativantrag sowie zusätzlich im Zuge der Geschäftsbehandlung einfache Anträge. Die Initiativen zu Petitionen gehen auf die erwähnte Zusammenarbeit zwischen Deutschliberalen und Sozialdemokraten oder auf letztere allein zurück. Initiativanträge stellen die Liberalen allein. Um die parlamentarischen Aktionen ranken sich eine Reihe publizistischer Ergüsse wie insbesondere die Vorschläge des Deutschliberalen Max Menger oder die des "sozialen Katholiken" Alois Prinz von Liechtenstein 78 . Eine Befürwortung der Arbeiter-Kurie brachte im Zusammenhang mit Ausführungen über die Arbeiterkammern das von der "bürgerlichen Linken" herausgegebene ,,Politische Wörterbuch"79. 74 StenProtAH 238, 24.10. 1893, S. 11383. Posch, S. 108. 76 Brauneder, S. 160. 77 Vgl. Fn. 10. 78 Vgl. Fn. 19 bzw. Fn. 36. 79 Politisches Wörterbuch für die Deutschen in Oesterreich, hrsg. von mehreren Mitgliedern des Deutschen Vereins in Wien, 1885, S. 4 f. 7S

11 Festschrift Schambeck

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Die politischen Parteien nahmen in der Wahlrechtsweiterentwicklung eine höchst unterschiedliche Haltung ein. Von den Sozialdemokraten bzw. ihren Vorgängern wurde konsequent und durchgehend die Forderung nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht erhoben: 1868 im Manifest des Arbeitertages in Wien und im "Hartung-Programm", 1874 im ,,Neudörfler Programm" und im Gründungsaufruf eines ,,Allgemeinen Österreichischen Arbeitervereines" , im Programm des Wiener Neustädter Arbeitertages 1876, im Beschluß des Atzgersdorfer Parteikongresses 1877 im Zusammenhang mit dem hier rezipierten ,,Eisenacher Programm" (1869), im "Kautsky-Programm" des Brünner Arbeitertages 1882, im "KautskyManifest" 1883, 1887 in der ,,Programmatischen Resolution" und im Programm der tschechischen Arbeiterschaft, in der Resolution des Hainfelder Parteitages 1888/89, im Brünner Nationalitätenprogramm 1899 und im "Wiener Programm" 1901 80. Die so parlamentarisch anmutenden Wahlrechtsforderungen der Sozialdemokratie zeigen sich jedoch in einem wenig parlamentsfreundlichen Licht, wenn man in der eben erwähnten ,,Programmatischen Resolution" 1887, von Radikalen und Gemäßigten in gleichem Maße beschlossen, hört, die Forderung nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht sei "ein wichtiges Mittel der Agitation und Propaganda, ohne sich über den Wert des Parlamentarismus irgendwie zu täuschen"81. Die Christlich-Sozialen forderten 1891 (Schindler-Programm) bloß die direkte Wahl in der Landgemeinde-Kurie, 1896 (Programm der christlichsozialen Arbeiterpartei) jedoch ein allgemeines Männerwahlrecht 82 . Die deutschnationalen Gruppierungen trafen sich überwiegend auf der Linie einer allmählichen Fortentwicklung des geltenden Wahlrechtes etwa mit den Forderungen nach "direkten Reichsratswahlen" (Programm der Deutschnationalen, Graz 1870), nach einer "fortschreitenden Erweiterung des Wahlrechts" erst allgemein (Friedjung-Programm 1880), sodann konkret durch die Vermehrung der Abgeordnetenzahl in der Landgemeinde-Kurie sowie die Einführung der direkten und geheimen Wahl (Linzer Programm 1882) und ähnlich mit dem Wunsch nach einer ,,Fortsetzung der Wahlreform" durch Aufhebung der Großgrundbesitzer-Kurie und Etablierung der direkten und geheimen Wahlen in den Landgemeinden (Deutsche Volkspartei 1896) 83. 1882 hatte allerdings der Deutschnationale Verein schlicht das "allgemeine Wahlrecht" zum Programm erhoben 84. 80 Berchtold, S. 109 (Abs. 2), 112 (Pkt. 3), 116 (Pkt. 1), 118 (Abs. 2), 120 (Abs. 3), 124 (Pkt. m /1), 129 (Pkt. 1), 132, 135 (Pkt.4), 137 (Pkt. d), 140 (Pkt.4), 144, 147 (Pkt. 1). 81 Berchtold, S. 135 (Pkt.4). 82 Berchtold, S. 165 (Pkt. 3), 171 (Art. 15). 83 Berchtold, S. 182 (Pkt. IV), 191 (Pkt. 5), 199 f. (Pkt. 7), 206 (Pkt.2 Abs. 1).

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Die Projekte zu Arbeiter-Kurien stehen nie isoliert, sondern sind begreiflicherweise einerseits mit der Wahlrechtsentwicklung im allgemeinen verbunden, andererseits in der Regel mit den Bestrebungen, Arbeiterkammern einzurichten, die als autonome Standesvertretungen der Arbeiterschaft vorrangig andere Aufgaben zu erfüllen gehabt hätten 85. In Stellungnahmen zu Projekten für die Arbeiter-Kurie fließen daher auch andere Momente mit ein, nämlich allgemeine Überlegungen zur Ausgestaltung des Wahlrechts oder solche zur Errichtung von Arbeiterkammern, ohne im letzteren Fall primär an ein mit ihnen verbundenes Wahlrecht zu denken. Die Ablehnung einer Arbeiter-Kurie kommt demnach auch aus den unterschiedlichsten Lagern und mit den unterschiedlichsten Begründungen versehen: Verfassungsgetreue und Demokraten sprechen sich gegen sie aus, weil sie für das allgemeine Wahlrecht eintreten, also weiter gespannte Ziele verfolgen; die Konservativen, weil ihnen, im Gegensatz dazu, schon dieser Schritt als zu weitgehend dünkt. Ablehnend verhalten sich zum Teil auch Jungtseheehen und Alldeutsche. Die Meinung der Parlamentarier selbst innerhalb einer Fraktion sind außerdem wesentlich differenzierter als in den heutigen Parlamenten mit ihren oft monolithischen Meinungskadern der organisierten politischen Parteien. Während im Lager der sozialen Katholiken beispielsweise Alois Prinz Liechtenstein 86 für die Arbeiter-Kammern eintritt, lehnt sie Freiherr von Vogelsang 87 ab. 1874 sprechen sich etwa zwei Abgeordnete aus der Gruppe der Verfassungsgetreuen gegen die Arbeiter-Kurie aus, Dr. Schrank, weil er für das Wahlrecht der Arbeiter im Rahmen des allgemeinen Wahlrechts eintritt, von Kübeck, weil er den Arbeitern kein Wahlrecht zugestehen möchte 88. Auch die Sozialdemokraten bilden sowohl in den allgemeinen Fragen der Errichtung von Arbeiterkammern sowie in der speziellen der Wahlrechtszuerkennung keine einheitliche Gruppe. So befürwortet der gemäßigte Arbeiterführer überwinder eine Arbeiter-Kurie, der Radikale Scheu lehnt sie ab 89• Schließlich schwenkt die sozialdemokratische Partei insgesamt auf die Linie ein, nur das allgemeine Wahlrecht zu fordern 90. Der Änderung der sozialdemokratischen Haltung liegt allerdings keine neue Zielsetzung, sondern eine neue Strategie zugrunde. Mit der Errichtung von Arbeiterkammern sollte die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht nie fallengelassen werden. Es hätte diese Kurie einfach der Arbeiterschaft eine Vertretung ermöglichen sollen und war als Übergangslösung bis zur weiterhin geforderten Einführung des allgemeinen Wahlrechts gedacht. Überdies wäre so auch die 84 85

86 87

88 89 90 11*

Berchtold, S. 197 (Abs. 2). Vgl. durchgehend Posch, S. 10; ferner Stupperger, S. 46 ff. Vgl. Pn. 36. Vgl. Pn. 60. StenProtAH 99, 17.12.1874, S. 3497 bzw. 3512. Posch, S. 36. Posch, S. 1Ö8. Vgl. oben Pn. 80, 81.

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Möglichkeit eingeräumt gewesen, diese Forderung auf parlamentarischer Ebene mit Nachdruck und den parlamentarischen Mitteln voranzutreiben. Diese Haltung nahmen nicht nur die Sozialdemokraten ein, sondern in überwiegendem Maße auch die Liberalen. 11. Die rechtliche Problematik einer Arbeiter-Interessenvertretung

Die Errichtung von Arbeiter-Kurien bestimmt der Gedanke, der Arbeiterschaft eine sichere Interessenvertretung einzuräumen. Sie soll durch ihre eigenen Vertreter an politischen Entscheidungsprozessen mitwirken können. Die Schaffung allgemeiner Bedingungen wie insbesondere der Fortfall des Zensus wäre diesem Ziel nicht gerecht geworden, da solche Maßnahmen keine Abgrenzung von Wahlkörpern bringen können. Dies ersieht man in der zeitgenössischen Entwicklung deutlich. So hatte sich die Regierung Taaffe im Februar 1893 gegen die Einrichtung einer Arbeiter-Kurie erklärt, brachte aber im Oktober desselben Jahres einen Wahlrechtsentwurf ein, der eine Ausweitung der Wahlberechtigung durch das Fallenlassen des Steuerzensus vorsah 91 : Mit diesem weitergehenden Plan blieb die Regierung nicht nur ihrer Intention treu, die Arbeiterschaft als eigene Bevölkerungsgruppe zu ignorieren, sondern rechnete höchstwahrscheinlich auch damit, die nunmehr gewählten Vertreter der Arbeiterschaft durch die übrigen auch zum Wahlrecht zugelassenen Gruppen zu maiorisieren. Diese ganz andere Auswirkung einer solchen weitergespannten Reform verdeutlicht, wie schon erwähnt, die erste Wahl in der allgemeinen Wählerklasse 1897, wo dann tatsächlich in dieser Kurie die Vertreter der Arbeiterschaft (Sozialdemokraten, dazu hypothetisch einige Christlichsoziale) mit bestenfalls 6 % hoffnungslos in der Minderheit blieben 92 • Um im System der Interessenvertretung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe eine sichere Vertretung zu sichern, bedarf es daher einer eigenen Kurie. Sie entspricht nicht nur konzeptionell besser dem Gedanken einer Interessen-Vertretung, sondern ist angesichts der in den anderen Kurien vertretenen Interessen eine politische Notwendigkeit. So stellt sich die Frage: Wie ist die Arbeiterschaft als eigener Wahlkörper zu erfassen? Schon 1872 griff Wiesthaler (Arbeiterpartei) in einer Arbeiterversammlung in Marburg auf ein Vorbild zurück, nämlich die Handels- und Gewerbekammern, und forderte analog die Errichtung von Arbeiterkammern "in allen Befugnissen den (ersteren) wenigstens gleichgestellt"93. Hier war ausdrücklich das "Recht der politischen Vertretung" 94, das hieß, das der Entsendung von Abgeordneten, vorgesehen. Dieses Modell der Abgrenzung der 91 Posch, S. 104. 92

Vgl. Salficky, S. 165.

93 Poseh, S. 30. 94 Poseh, wie eben Fn. 93.

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Arbeiterschaft als Wählerkurie durch ihre Zugehörigkeit zu Arbeiterkammern dominiert die ganze weitere Entwicklung. Ihm kam die Vorbildhaftigkeit der Handels- und Gewerbekammern zustatten, zumal sich dadurch eindeutig ergab, daß die geplante Arbeiter-Kurie dem Prinzip der von fast allen politischen Gruppen betonten Interessenvertretung durchaus entsprach. Vor allem die parlamentarischen Initiativen der Liberalen gingen stets vom Arbeiterkammer-Wahlrecht aus, dieses vertrat ferner Fürst Starhemberg im Herrenhaus 1873 95 • Auch andere Pläne knüpften an die Handels- und Gewerbekammern an, schlugen jedoch eine ganz unterschiedliche Richtung ein. Sie sahen - wie insbesondere die des Deutschliberalen Max Menger - keine Errichtung eigener Arbeiterkammern vor, sondern die von Arbeitersektionen in den schon bestehenden Handels- und Gewerbekammern 96. Es sollten diese neben den bisherigen Abgeordneten auch solche aus der Arbeiterschaft in die Parlamente (Landtage, Reichsrat) entsenden. Gerade dieser Plan zeigt übrigens, daß man in der Regel eine bestimmte Gruppe an Arbeitern ins Auge faßte, nämlich, nach Menger, die ,,rührigen industriellen Arbeiter" 97, nicht etwa auch die Landarbeiter. Eine Differenzierung der Arbeiterschaft wurde vor allem später von christlichsozialer Seite (Vogelsang) vorgenommen 98. In allen diesen Fällen - Arbeiterkammern oder Arbeitersektionen in den Handels- und Gewerbekammern - wäre der Arbeiterschaft ein nur indirektes Wahlrecht zugestanden. Ein direktes Wahlrecht sah hingegen der Vorschlag Baernreithers vor, der Arbeiter zur Wahl berechtigt hätte, die wenigstens ein Jahr lang einer Krankenkasse angehört hatten 99 • Gemeinsam ist allen diesen Vorschlägen, daß als Kriterium der Zugehörigkeit zur Wählerklasse der Arbeiterschaft die Mitgliedschaft in einer Standesorganisation genommen wird. 111. Vertretung in Reichsrat und Landtagen

Rechtliche Relevanz kommt schließlich der Forderung zu, in welchen Interessenvertretungen die Arbeiter-Kurie zu bilden wäre: im Abgeordnetenhaus des Reichsrats oder in den Landtagen oder in beiden. Hiebei fällt auf, daß vorrangig an den Reichsrat gedacht wird, was weniger als Desinteresse an den Landtagen, aber doch als Indiz für die überragende Bedeutung des Reichsrats anzusehen ist. 95 96 97 98 99

Vgl. eben S. 8. 16. Menger, S. 50. Ebda. Vogelsat!g, S. 66 f. Salficky, S. 1 f.; Beilagen zu StenProtAH, IX., Nr.730.

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Vor der Einführung der direkten Wahl zum Reichsrat 1873 gilt eine besondere Sorge dem Umstand, daß die Arbeiter-Kurien der einzelnen Landtage auch Vertreter in das Abgeordnetenhaus nominieren können, und zwar in einer Stärke, "daß, wenn ein Parteigenosse einen Antrag stellt, dieser auch die nöthige Unterstützung findet, also in Berathung gezogen werden muß" 100. Derartige Überlegungen fallen nach 1873 fort; nunmehr verleitet das direkte Wahlrecht zum Reichsrat manchmal dazu, die Beschickung der Landtage zu vergessen. Beispielsweise fordert die "Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung" 1874 101 eine Vertretung der Arbeiterkammern in Reichsrat und Landtagen, in einer Antwort darauf erwähnt die Zeitung "Volkswille" 102 aber nur den Reichsrat wie übrigens auch eine Denkschrift nichtsozialdemokratischer Arbeiter aus dem gleichen Jahr 103 • Als 1887 der Reichsrat die Einführung einer Arbeiter-Kurie zu diskutieren hatte, verlangte allerdings in Lemberg eine Arbeiterversarnmlung ausdrücklich, daß den "Arbeiterkarnmern ... das Recht erteilt werde, Abgeordnete auch in die Landtage zu entsenden und daß zu diesem Zweck die entsprechenden Vorschriften über die Landesvertretung durch ein entsprechendes Gesetz ergänzt" 104 werden mögen. IV. Zur parlamentarischen Bedeutung der einzelnen Entwürfe

Welche parlamentarischen Möglichkeiten hätte eine Arbeiter-Kurie der Arbeiterschaft gebracht? Von Schlußfolgerungen aus möglichen politischen Koalitionen mit anderen parlamentarischen Gruppen sei wegen ihres spekulativen Charakters abgesehen. Exakt beantworten läßt sich hingegen die Frage nach den rechtlichen Möglichkeiten. Maßgebend hiefür ist der Rahmen, den die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses (1875) aufgrund des "Gesetzes in Betreff der Geschäftsordnung des Reichsrates" 1873 vorgab 105.

1. Grundsätzliches Grundsätzlich hätte eine eigene Arbeiter-Kurie ihren Angehörigen ein direktes Vorbringen von Anliegen der Arbeiterschaft durch eigene Vertreter ermöglicht, auch eine authentische Auskunftserteilung in den Belangen der Arbeiterschaft durch Wortmeldungen im Zuge parlamentarischer Debatten, wie dies oftmals von den Initiatoren der Arbeiter-Kurien betont worden war lO6 •

100 101 102 103 104 105 106

Vgl. Poseh, S. 29. Vgl. Poseh, S. 42. Poseh, S. 43. Poseh, S. 59. Poseh, S. 79. Vgl. GeOAH, k.k. Staatsdruckerei, 1875 bzw. RGBl. 94/1873. Poseh, S. 75; Menger, S. 49; ferner Fn. 19.

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2. Petition Ein jeder Vorschlag zur Errichtung von Arbeiter-Kurien hätte es einer solchen gestattet, Petitionen (§§ 70 ff. GeO / AbgH) zu überreichen und einer parlamentarischen Behandlung zuzuführen, da dieses Recht jedem Abgeordneten allein zukam. Die Arbeiterschaft wäre dadurch insbesondere nicht mehr darauf angewiesen gewesen, für ihre Petitionen den Abgeordneten einer anderen Partei gewinnen zu müssen.

3. AntragsteIlung Hier ist zwischen den einzelnen Projekten zu differenzieren. Eine AntragsteIlung, insbesondere das Einbringen einer Gesetzesinitiative, mußte einschließlich des Antragstellers von 20 Abgeordneten "unterstützt" werden (§ 18 GeO / AbgH). Eine Erläuterung der Petition Brandsteuer 1871 forderte daher für den noch von den Landtagen beschickten Reichsrat eine so große Zahl an Abgeordneten, daß der Antrag eines "Parteigenossen ... die notwendige Unterstützung findet" \07. Bei einer Zahl von insgesamt über 80 Abgeordneten in den Landtagen wäre im Sinn dieses Vorschlages eine Stärke von mindestens 20 Abgeordneten im Reichsrat realistisch gewesen, und es hätte somit für die Arbeiter-Kurie die Möglichkeit zur AntragsteIlung bestanden. - Nach dem Vorschlag Menger 1873 hätten die Abgeordneten der Arbeiter diese Möglichkeit nicht besessen, da von den um Arbeitersektionen erweiterten Handels- und Gewerbekammern insgesamt nur 24 Abgeordnete zu entsenden gewesen und die Arbeitersektionen somit erheblich unter einer Abgeordnetenzahl von 20 geblieben wären. - Die Petition des Vereins" Volksstimme" 1874 sah, in der Formulierung der Zeitung "Volkswille" 108, eine Arbeiter-Kurie mit ebensovielen Abgeordneten wie in der Kurie der Handels- und Gewerbekammern vor. Da diese damals 21 Abgeordnete 109 zählte, wäre der Arbeiter-Kurie das Recht zur AntragsteIlung zugestanden. - Nach den Anträgen Plener 1886 und 1891 hingegen wäre dies - 9 Abgeordnete! - nicht der Fall gewesen, wohl aber wieder nach dem Antrag Baernreither 1893, dessen Zahl von 20 Abgeordneten wohl gerade vom Mindesterfordernis des § 18 GeO / AbgH diktiert war.

4. Interpellation Auch hier ist ähnlich wie hinsichtlich der AntragsteIlung zwischen den einzelnen Projekten zu unterscheiden, da das Einbringen einer Interpellation von 15 Abgeordneten unterstützt sein mußte (§ 68 GeO / AH). Somit hätte dieses Recht 107 108 109

Poseh, S. 29. Poseh, S. 43; WadI, S. 231. Reichsratswahlordnung (ROß!. 40/1873).

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einer Arbeiter-Kurie wohl nur nach der Petition BrandsteUer 1871 und jedenfalls nach dem Antrag Baernreither 1893 zugestanden 110. D. Auswirkungen Die Sozialdemokraten nahmen 1891 zum ersten Mal an einer Reichsratswahl teil und konnten - wie vorauszusehen war - keinen Abgeordneten stellen 111. Verglichen damit hätte ihnen selbst die am schlechtesten konzipierte ArbeiterKurie mehr Möglichkeiten gebracht. Als die Sozialdemokraten 1897 mit 14 Abgeordneten in den Reichsrat einzogen 112, stand ihnen ebenso wie nach den schlechtesten Ausgestaltungen der geplanten Arbeiter-Kurie kein Antragsrecht zu. Sie erlangten dieses erst mit der ersten Wahl aufgrund des allgemeinen Wahlrechts 1907, als sie 87 von 516 Mandaten (rund 17 %) errangen 113 • Wäre die Einführung von Arbeiter-Kurien allein vom Willen der Sozialdemokraten abhängig gewesen, hätten sie mit ihrer unnachgiebigen Haltung gegen deren Errichtung der Arbeiterschaft - gerechnet seit dem Antrag Baernreither 1893 - vier Jahre das Recht auf Petition und vierzehn Jahre lang das auf parlamentarische Antragstellung und Interpellation vorenthalten. Allgemein gesehen: Wäre der Petition Brandstetter 1872 Erfolg beschieden gewesen, hätten die Arbeiter bereits 23 Jahre, bevor sie einzelne parlamentarische Rechte (1897) und 33 Jahre, bevor sie alle hievon wahrnehmen konnten (1907), solche besessen.

110 111 112 113

Morscher, Siegbert, Die parlamentarische Interpellation, 1973. Salficky, S. 22. Salficky, S. 165. Zöllner, Erlch, Geschichte Österreichs, 1979, S. 435.

EIGENTUM UND GEMEINWOHL IM RÖMISCHEN RECHT* Von Wolfgang Waldstein Wenn man im Hinblick auf das antike römische Recht die Begriffe Eigentum und Gemeinwohl mit "und" verbindet, so könnte man meinen, dies bedeute eine contradictio in terminis. Begriffe, die sich ihrem Wesen nach widersprechen, würden hier verbunden. Für den römischen Eigentumsbegriff sei es gerade kennzeichnend, daß er rein individualistisch 1 egoistisch und in den Auswirkungen kapitalistisch 2 orientiert sei. Ihm seien all jene Mißbräuche zuzuschreiben, die

* Der Beitrag gibt in etwas erweiterter Fassung den Text des Vortrages wieder, den ich am 18.11.1992 an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau gehalten habe. Ich widme ihn in herzlich dankbarer Verbundenheit dem verehrten Jubilar, der sich in seinem wissenschaftlichen und politischen Wirken um die Grundlagen einer gerechten Gesellschaftsordnung in so hervorragender Weise bemüht hat. Durch das dieser Festschrift beigefügte Publikationsverzeichnis wird das eindrucksvoll dokumentiert. In mehreren Arbeiten werden auch die hier behandelten Probleme berührt. Auf sie im einzelnen einzugehen, hätte den Rahmen gesprengt. Auch sonst konnte kein Gewicht auf Literaturhinweise oder gar deren Vollständigkeit gelegt werden, weil der Zweck des Vortrages nur darin bestand, antike Quellen vorzuführen, die für die heutige Situation bedeutsam erscheinen. 1 Vgl. Römisches Recht, Aufgrund des Werkes von P. JÖrs/W. Kunkel/L. Wenger neu bearb. von H. Honsell/Th. Mayer-Maly /W. Selb, Berlin u. a. 41987 (künftig zit.: Kunkel / Mayer-Maly), S. 142 f.; ferner eingehend Simshäuser, Wilhelm: Sozialbindungen des spätrepublikanisch-klassischen römischen Privateigentums, in: Festschrift für H. Coing, München 1982, S. 329 ff., mit zahlreichen weiteren Hinweisen; jetzt vor allem die umfassende Untersuchung von Pennitz, Martin: Der ,,Enteignungsfall" im römischen Recht der Republik und des Prinzipats (= Forschungen zum römischen Recht 37), Wien / Köln/Weimar 1991, mit reicher Lit. Zum Gemeinwohl allgemein Honsell, Thomas: Gemeinwohl und öffentliches Interesse im klassischen römischen Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung (künftig zit.: ZRG Rom. Abt.) 95, 1978, S. 93 ff. mit zahlreichen weiteren Hinweisen. Vgl. auch unten Anm.21. 2 Vgl. etwa nur, wenn auch ohne Bezugnahme auf das römische Recht, Marx, Karl: Frühe Schriften, hrsg. von Hans-Joachim Lieber und Peter Furth (Wiss. Buchges. Darmstadt) I, 1981, S. 575 ff. Klang, Heinrich: Kommentar zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch 11, 1950, S. 131, führt den Eigentumsbegriff des § 354 ABGB zwar auch auf den damaligen Stand "der gemeinrechtlichen Lehre" zurück, weist aber bereits darauf hin, daß dieser Begriff durch "Beschränkungen, welche ... durch Rechte Dritter an der Sache oder aus den Vorschriften des öffentlichen Rechtes erwachsen können", eingeschränkt ist. Er sagt weiter: "Demzufolge wird im § 364 bestimmt, daß die ,Ausübung des Eigentums' nur insoferne statthabe, als sie mit den Rechten Dritter und den Gesetzen zur Erhaltung und Beförderung des allgemeinen Wohles vereinbar sei. Modernerer Auffassung entspricht es besser, diese Beschränkungen als inhaltliche Grenzen des Eigentums anzusehl?n und diese inhaltliche Begrenzung in die Begriffsbestimmung aufzu-

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schließlich zur marxistischen Revolution und zur Expropriation der Expropriateure geführt habe 3• Theo Mayer-Maly hat jedoch bereits darauf hingewiesen, daß der angeblich römischrechtliche "Eigentumsbegriff ... ein Werk der späten Neuzeit" ist 4 • Damit ist der Weg zu der Frage frei, wie das Verhältnis von Eigentum und Gemeinwohl in der römischen Antike wirklich war. Diese Frage wird nicht losgelöst von dem geistigen Hintergrund zu beantworten sein, der auch die Entwicklung des römischen Rechts geprägt hat. Der isolierte Blick auf die institutionellen Regelungen des Eigentumsrechts genügt nicht zur Beantwortung der Grundfrage, ob mit dem Eigentum auch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft verbunden sind, wie dies etwa in Art. 14 Abs. 2 GG gesagt wird. Dort heißt es: ,,Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen". Im Art. 1 des 1. ZP zur MRK wird eine gesetzmäßige Enteignung nur für zulässig erklärt, wenn "das öffentliche Interesse es verlangt". Dem Staat wird "die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse" gestattet. Sind die in diesen Bestimmungen zum Ausdruck kommenden Gedanken völlig neu, oder gab es solche Gedanken schon in der Antike? Bei der Suche nach Antworten auf diese Frage stößt man auf verschiedene Schichten des Problems. Die erste Frage ist, ob das Eigentum als solches, also noch vor der Frage nach dem Gebrauch, mit dem Gemeinwohl vereinbar ist. Daher möchte ich zunächst 1. kurz darstellen, was aus antiken Quellen zur gesellschaftlichen Bedeutung des Eigentums zu entnehmen ist. 2. will ich allgemeine Aussagen zur Frage "der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse" prüfen, 3. das Problem des Mißbrauchs kurz streifen und schließlich 4. die Ergebnisse kurz zusammenfassen.

I. Aussagen zur gesellschaftlichen Bedeutung des Eigentums Von ganz grundlegender Bedeutung für diese Fragen ist die eingehende Auseinandersetzung des Aristoteles in seiner Politik mit der Staatstheorie des Platon. Es ist natürlich in diesem Rahmen nicht möglich, die sorgfältigen Analysen des Aristoteles nachzuzeichnen. Ich will nur drei kurze, grundlegende Aussagen nehmen, ... ". Kaser, Max: Römisches Privatrecht, Juristische Kurz-Lehrbücher, 16 1992 (künftig zit.: RP), S. 205, nennt die römischrechtliche societas, die naturgemäß mit dem Gebrauch von Eigentum zusammenhängt, noch "die kapitalistische Erwerbsgesellschaft", weist aber darauf hin, daß die gegenseitigen Verpflichtungen nach dem Maßstab der bona jides zu beurteilen sind, weil die actio pro socio ein bonae jidei iudicium ist (dort S. 207). Auch dies bedeutet eine inhaltliche Beschränkung im Gebrauch des Eigentums. 3 Vgl. Rabe, Hannah: Expropriation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11, 1972, Sp. 877 f., mit weiteren Nachweisen. 4 Kunkel / Mayer-Maly, S. 142; vgl. auch die bereits in Anm. 1 genannten Abhandlungen.

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herausgreifen, die für die Beantwortung der ersten Frage wesentlich sind. In der ersten sagt Aristoteles: "Was nämlich als Gemeinbesitz (richtiger wäre -eigentum) sehr vielen gehört, dem wird das geringste Maß an Fürsorge zuteil. Denn am meisten kümmert man sich um das, was einem als Privatbesitz (-eigentum) gehört, und um den Gemeinbesitz (das Gemeineigentum) weniger, nur insofern der einzelne persönlich daran interessiert ist. Denn vom andern abgesehen nimmt man bei gemeinsamen Dingen gern an, daß bereits ein anderer sich darum kümmert, und vernachlässigt sie daher eher, ... "5. Diese Aussage steht zwar im Zusammenhang mit der Kritik an der Theorie, "welche die Frauen und Kinder als Gemeinbesitz haben"6 will, aber sie trifft auch auf das Problem des Eigentums zu. Dasselbe gilt für die zweite Aussage: "Denn zwei Dinge sind es, die in erster Linie bewirken, daß die Menschen sich um sie kümmern und Zuneigung empfinden: das Eigene und das Geliebte. Keines von beiden kann es jedoch bei denen geben, die in einer solchen Staatsordnung leben"7, in der alles Gemeineigentum ist 8 • Es geht hier um das eminente Gemeinwohl-Interesse daran, daß die Angelegenheiten der menschlichen Gemeinschaft gut verwaltet werden. Dies geschieht dann am besten, wenn jeder seine eigenen Angelegenheiten gut verwaltet. Dafür aber ist eine wesentliche Voraussetzung, daß die Dinge, die jeder zu verwalten hat, ihm selbst gehören. Thomas von Aquin hat diese Gedanken in seiner Antwort auf die vorher diskutierte Frage, ob es erlaubt ist, "eine Sache als Eigentum zu besitzen", nachdrücklich aufgenommen. Der überaus informative Text verdient hier wiedergegeben zu werden: ,,In bezug auf die äußeren Dinge steht dem Menschen zweierlei zu. Das eine ist die Berechtigung der Anschaffung und der Verwaltung. Und so weit ist es dem Menschen erlaubt, Eigentum zu besitzen. Das ist auch zum menschlichen Leben nötig, und zwar aus drei Gründen. Erstens, weil ein jeder mehr Sorge darauf verwendet, etwas zu beschaffen, was ihm allein gehört; denn weil jeder die Arbeit scheut, überläßt er das, was die Gemeinschaft angeht, den anderen; wie das so vorkommt, wo viele Diener beisammen sind. - Sodann, weil die menschlichen Angelegenheiten besser verwaltet werden, wenn 5 Aristot. pol. 2, 3; 1261 b 33-36. Übersetzungen hier und in den folgenden Textteilen im wesentlichen nach Siegfried, Walter: Aristoteles, Aufzeichnungen zur Staatstheorie [sog. Politik], Köln 1967, mit gelegentlichen eigenen Änderungen, wie vor allem im Text bei Anm. 7. Die Wiedergabe von 1:0 tölOV mit ,,Privatbesitz" im Gegensatz zu 1:0 l(OlVÖV mit "Gemeinbesitz" geht vom gewöhnlichen Sprachgebrauch aus, in dem zwischen "Besitz" und ,,Eigentum" nicht unterschieden wird. Aristoteles meint aber zweifellos das Eigentum. 6 Aristot. pol. 2, 3; 1261 b 24 f. 7 Aristot. pol. 2, 4; 1262 b 22 f. Bei Siegfried lautet die Übersetzung: ,,Denn zwei Dinge sind es, die in erster Linie bewirken, daß die Menschen sich bekümmern und Zuneigung empfmden, das was man ganz für sich zu eigen besitzt, und das, was einem sonst wertvoll und teuer ist, wovon weder das eine noch das andere bei Menschen vorhanden sein kann, die unter einer solchen Staatsordnung leben." 8 Das muß im Hinblick auf den an das Vorausgehende anknüpfenden Text hinzugedacht werden.

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jeder einzelne seine eigenen Sorgen hat in der Beschaffung irgendwelcher Dinge; ... - Drittens, weil auf diese Weise die friedliche Verfassung der Menschen besser gewahrt bleibt, wenn jeder mit seiner eigenen Sache zufrieden ist"9. Die Wichtigkeit der geordneten Eigentumsverhältnisse für das Gemeinwohl zeigt sich auch darin, daß der römische Jurist Gaius in D.41, 3, 1 sogar die Einführung der Ersitzung des Eigentums auf das Gemeinwohl zurückführt (Bono pub/ico usucapio introducta est) , damit die Eigentumsverhältnisse nicht lange unklar bleiben. Ich brauche hier nicht viele Worte darüber zu verlieren, wie sehr die Geschichte der Menschheit, und zwar gerade die jüngste Geschichte, die verheerenden Folgen der Übernahme der platonischen Utopie demonstriert hat. Aristoteles betrachtet dagegen das Eigentum als etwas, was "zur Natur des Menschen" gehört lO • Im dritten Text sagt Aristoteles: "Somit ergibt sich klar, daß es besser ist, das private Grundeigentum zu belassen, es aber durch die besondere Art der Benutzung zum Gemeinbesitz zu machen. Den Bürgern aber diese Gesinnung beizubringen, ist die dem Gesetzgeber eigene Aufgabe" 11. Aristoteles geißelt dann die Selbstsucht und Habgier, die den rechten Gebrauch des Eigentums stören oder verhindern. Er zeigt aber auch, daß ein Kollektiveigentum diese Übel nicht zu beheben vermag. Diese sind nicht auf das Eigentum an sich zurückzuführen, "sondern auf die Schlechtigkeit des Charakters" der Menschen, die es verwalten 12. Auf diesem Hintergrund bekommen die von Ulpian in D. 1, 1, 10, 1 formulierten iuris praecepta einen konkreteren Inhalt: sittlich gut zu leben, die Rechte eines anderen nicht zu verletzen und jedem das seine zukommen zu lassen \3 sind 9 Summa Theologica 11-11 9.66, 2 in der ,,Antwort" (Respondeo). Er sagt jedoch dort weiter: ,,Das andere aber, was den Menschen in bezug auf die äußeren Dinge zusteht, ist deren Gebrauch. Und in bezug darauf darf der Mensch die äußeren Dinge nicht als Eigentum betrachten, sondern als Gemeinbesitz (sed ut communes, was ebenfalls - vgl. Anm. 7 - mit "Gemeinbesitz" nicht ganz zutreffend wiedergeben ist), so nämlich, daß er sie ohne Schwierigkeit mitteilt zum Bedarf der anderen". Die weiteren Aussagen dort in den konkreten Stellungnahmen ,,zu" 1. - 3. bedürften eingehender Würdigung, die aber in diesem Rahmen nicht möglich ist. Diese Gedanken fmden sich bereits in der Auseinandersetzung um das Eigentum in der Mönchsbewegung der Spätantike; vgl. Barone Adesi, Giorgio: Monachesimo ortodosso d'Oriente e diritto romano nel tardo antico, Giuffre, Milano 1990, S. 155 ff. Sie spielen auch in der modemen kirchlichen Soziallehre eine wichtige Rolle; vgl. etwa nur Ettmayer, Wendelin: Der Eigentumsbegriff in der katholischen Soziallehre und sein Einfluß auf die Gestaltung der politischen Wirklichkeit in Österreich, in: Kirche und Staat: F. Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von H. Schambeck, 1976, S. 331 ff.; vgl. auch Schambeck, Herbert: Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: FS Messner, 1976, S. 467 ff., mit weiteren Hinweisen bes. dort Anm. 126, ferner ders.: Ethik und Staat, 1986, S. 31 f. 10 Aristot. pol. 2, 5; 1263 a 40- b 1. 11 Aristot. pol. 2, 5; 1263 a 37 -40. 12 Aristot. pol. 2,5; 1263 b 22 f.; dazu müßte man den ganzen Text des Kap. 5 lesen. 13 Zu den bei Ulpian stehenden suum cuique eingehend Waldstein, Ist das "suum cuique" eine Leerformel? In: lus humanitatis, FS Verdross, Berlin 1980, S. 287 ff. mit

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in der Tat grundlegende Normen des menschlichen Zusammenlebens, jene rechtliche und sittliche "Gesinnung", von der Aristoteles spricht. Die Ausführungen des Aristoteles lassen aber auch die Tatsache leichter verstehen, daß die römischen Juristen ganz selbstverständlich von einem Eigentum als Einrichtung des Naturrechts ausgehen 14. Was die römischen Juristen unter Naturrecht verstanden haben, kann ich hier nicht im einzelnen darlegen. Ich habe dies schon mehrfach in publizierten Arbeiten versucht. Kurz kann man dieses Recht mit einer Aussage des Cicero als jenes umschreiben, das der Mensch mit seiner Existenz vorfindet und das schon bestand, als es noch keinen Staat gab 15. Thomas von Aquin hat diese Lehren über das Eigentum im Mittelalter besonders nachdrücklich aufgegriffen und unterstrichen, daß im Hinblick auf den "Gebrauch ... der Mensch die äußeren Dinge nicht als Eigentum betrachten" darf, "sondern als Gemeinbesitz, ... "16. Damit stehen wir aber bereits vor der 2. Frage, nämlich nach Regelungen der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse.

11. Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse Im Zusammenhang mit dem Mißbrauch des Eigentumsrechts gegenüber Sklaven sagt Gaius inst. 1, 53: Wir dürfen von unserem Recht keinen schlechten Gebrauch machen (male enim nostro iure uti non debemus). Die Institutionen Justinians sind in diesem Punkt expliziter. Sie geben den Satz des Gaius in 1, 8, 2 mit den Worten wieder: Es gereicht zum Wohle des Gemeinwesens, daß niemand von seiner Sache einen schlechten Gebrauch macht (expedit enim rei publicae, ne quis re sua male utatur) 17. Hier wird der Gebrauch des Eigentumsrechts zum Wohle des Gemeinwesens (des Staates im heutigen Sinne wäre zu eng) deutlich eingeschränkt, was auch praktische rechtliche Konsequenzen hat. Der Eigentümer darf nicht immer einfach tun, was er will. zahlreichen Hinweisen. Alfred Verdross selbst hatte mich um die Untersuchung dieser Frage für die Österr. Zeitschr. f. öff. Recht gebeten. Die Festschrift zum 90. Geburtstag bot eine willkommene Gelegenheit, der Bitte zu entsprechen. Es war mir auch noch vergönnt, über diesen Beitrag mit Verdross sprechen zu können. Er versicherte mir, daß er meinen Ausführungen voll zustimme. 14 Vgl. nur Gaius inst. 2, 65 und 73; ferner D. 41, 1, 1 pr. und öfter, wo allerdings vom ius gentium, aber ratione naturali die Rede ist. Dazu jetzt eingehend Kaser, Max: lus gentium, Köln / Weimar / Wien 1993, besonders S. 104 ff. die Nr. 38, die überschrieben ist: Ius naturale (naturalis ratio) in Gai. inst. gegenüber ius gentium in Res cott. 15 Cic. leg. 1, 18 f. Weitere Hinweise bei Waldstein, ZRG Rom. Abt. 105, 1988, S. 702 ff.; auch ZRG 111, 1994, 1 ff (im Druck). 16 Vgl. Summa Theol. 11, 11 66, 2, 3 (Text oben Anm. 9) und zu alledem den eingehenden Kommentar von A. F. Utz in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 18,1953, S. 490 ff. 17 Die neue deutsche Übersetzung von Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler (Hrsg.), Corpus luris Civilis, Text und Übersetzung I, Heidelberg 1990, übersetzt: ,,Denn es ist dem Gemeinwohl förderlich, daß niemand seine Sache mißbraucht".

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Viel deutlicher wird die Bezogenheit des Eigentums auf das Gemeinwohl bei Cicero. In De officiis 1, 22 sagt er: ,,Aber da ja, wie von Plato vortrefflich geschrieben wurde, wir nicht nur für uns geboren wurden und einen Teil unserer Existenz das Vaterland beansprucht, einen Teil die Freunde, und, wie es den Stoikern gefällt, alles was auf Erden entstünde, zum Gebrauch der Menschen erschaffen werde, die Menschen aber um der Menschen willen geschaffen seien, daß sie sich selber untereinander zu nützen vermöchten, ... , so müssen wir hier der Natur als Führerin folgen, den allgemeinen Nutzen in die Mitte rücken (in medium adferre), durch Austausch von Pflichten, durch Geben und Nehmen, dann durch Künste, durch Arbeit, durch Fähigkeiten die Gesellschaft der Menschen untereinander fest verknüpfen" 18. Dieser Text umschreibt, wie viele andere, jenen "umfassenden Kreis sittlicher Pflichten, der die römische Gesellschaftsordnung zusammenhält", wie Max Kaser treffend formuliert 19. Cicero legt in seiner Schrift über die Gesetze ausführlich dar, daß jenes Recht, das die Grundlage einer gerechten menschlichen Ordnung bildet, in der Natur vorgegeben ist. Er zeigt schlüssig, daß derjenige, der dieses Recht nicht kennt, ungerecht ist, gleichgültig, ob es aufgeschrieben ist oder nicht. Besonders wichtig ist, daß er die utilitas im Sine der subjektiven Nützlichkeit nicht als einen Maßstab anerkennt, der ein Abweichen von diesem Recht erlauben könnte 20 • Utilitas spielt in den Schriften der römischen Juristen eine bedeutende Rolle. Besonders als utilitas publiea oder eommunis bezeichnet sie das Gemeinwohl, so etwa, wenn Papinian in D. 1, 1,7, 1 vom prätorischen Recht sagt, daß die Prätoren es um des allgemeinen Besten oder des Gemeinwohles wegen eingeführt haben 21. Dieser Text wie alle des 1. Titels der Digesten ist 18 Deutsche Übersetzung aus Sammlung Tusculum; hrsg. und übers. von K. Büchner, München/Zürich 31987, S. 21. Unmittelbar anschließend an diesen Text sagt Cic. off. 1,23: Fundamentum autem est iustitiaefides, id est dietorum conventorumque constantia et veritas. Büchner übersetzt: "Grundlage aber der Gerechtigkeit ist die Zuverlässigkeit, das heißt die Unveränderlichkeit und Wahrhaftigkeit von Worten und Abmachungen". Hier zeigt sich besonders deutlich die Schwierigkeit der Übersetzung. Fides ist viel mehr als ,,zuverlässigkeit", und dicta sind nicht einfach "Worte", sondern verbindliche Zusicherungen. Aber es würde auch schon genügen, wenn sich in einer Gesellschaft jeder auf das Wort des anderen verlassen könnte. Wieviel Streit und Leid könnte allein dadurch vermieden werden! 19 Kaser, Max: Das römische Privatrecht, I, 21971, S.577, zum römischen Begriff officium. 20 Cic. leg. 1, 42 ff. 21 Zur ",Publica utilitas' bei Juristen und Kaisern" vgl. Kaser, Max: ,Ius publicum' und ,ius privatum' , ·in: ZRG Rom. Abt. 103, 1986, S. 24 ff. mit zahlreichen weiteren Hinweisen; ferner Pennitz (Anm. 1), S. 73 f. und'bes. S. 215 mit Anm. 882. Allgemein Hibst, Peter: Utilitas Publica - Gemeiner Nutz - Gemeinwohl, Untersuchungen zur Idee eines politischen Leitbegriffes von der Antike bis zum späten Mittelalter (Bochum, Univ., Diss. 1989), Frankfurt a. M. u. a. 1991, aber ohne auf die Quellen des römischen Rechts einzugehen. Für die Antike werden Platon, Aristoteles, Cicero, Seneca, aus der lateinischen Patristik Lactanz, Ambrosius von Mailand, Augustinus und Isidor von Sevilla behandelt, S. 123 -157. Ohne auf die Antike einzugehen Baruzzi, Arno: Freiheit, Recht und Gemeinwohl: Grundfragen einer Rechtsphilosophie, Darmstadt 1990. Der Verf.

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in einer russischen Übersetzung der Bücher 1- 26 der Digesten Justinians enthalten, die breits 1984 erschienen ist. Die Geschichte dieser Übersetzung, die von I. S. Pereterskii bereits während des zweiten Weltkrieges unter abenteuerlichen Umständen begonnen wurde, zeigt den unbeugsamen Willen zu einer Rechtlichkeit, auf deren Verwirklichung damals keine realistische Hoffnung bestehen konnte 22 . Ein wahres Gemeinwohl kann es aber ohne Beachtung des von Natur gegebenen Rechtes nicht geben. Cicero sagt ausdrücklich, es ist "das Gesetz der Natur selber, das den Nutzen des Menschen bewahrt und umfaßt"23. Er sagt sogar, daß auch alle Tugenden aufgehoben würden, wenn das Recht nicht in der Natur begründet wäre. Vergeblich würde sich der Gesetzgeber bemühen, den Bürgern jene für den Gebrauch des Eigentums richtige "Gesinnung beizubringen", von der Aristoteles spricht 24 und die Cicero umschreibt. Er schließt diese Erklärungen mit der überraschenden Feststellung, daß alle jene Tugenden, die er vorher aufzählt, darin begründet sind, daß wir von Natur aus geneigt sind, die Menschen zu lieben, was die Grundlage des Rechtes ist (quod Jundamentum iuris est) 25. Diese völlig realitäts- und weltfremd scheinenden Aussagen werden im weiteren Text noch näher begründet, auf den ich nicht im einzelnen eingehen kann. Trotzdem bleibt nun die entscheidende Frage, hat das alles irgendeine Bedeutung für das römische Eigentumsrecht? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich nochmals auf die bereits zitierte Stelle aus den Institutionen des Gaius 1, 53 zurückkommen. Im vorausgehenden § 52 sagt Gaius, daß die Gewalt des Eigentümers über seine Sklaven eine Einrichtung des ius gentium ist, die bei allen Völkern das Recht über Leben und Tod der Sklaven einschließt. Der § 53 beginnt mit den Worten: Aber in dieser Zeit (in der Gaius schreibt) ist es weder römischen Bürgern noch irgendwelchen anderen Menschen, die im Bereich der Herrschaft des römischen Volkes sich zitiert zwar S. 161 das ,,(suum cuique)", bemerkt aber dazu in der Anm.32: "Der lateinische Spruch wird Gellius zugeschrieben (s. D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter ... )". Diese Bemerkung offenbart ein Mißverständnis der von Liebs angeführten Quellenbelege ebenso wie eine bedauerliche Unkenntnis der historischen Gegebenheiten, denn Gellius 13, 24, 1 zitiert dabei wörtlich Cato censorius, was Liebs auch korrekt anmerkt, und Cato starb 149 v. Chr., also mehr als 300 Jahre vor der Abfassung der Noctes Atticae durch Gellius. Der angegebene Beleg bei Cicero off. 1, 15, der immerhin um 200 Jahre vor Gellius liegt, wird einfach ignoriert. Zur Geschichte des Begriffes selbst Waldstein, FS Flume I, 1978, S. 216 ff. 22 Ein bereits 1956 in Moskau erschienenes Buch von Pereterskii über die Digesten Justinians, das die Texte der Titel I, 1 und 1, 3 im Anhang wiedergibt, ist von Y. Eminescu, der Gattin des rumänischen Romanisten Valentin Al. Georgescu, bereits 1958 in rumänischer Übersetzung herausgebracht worden. Ich bin der Autorin für die Übermitt1ung eines Exemplares dieses Buches zu besonderem Dank verpflichtet. 23 Cic. off. 3, 31 (Übers. Büchner, o. Anm. 18, S.243); dazu Honsell, ZRG Rom. Abt. 95, S. 97 ff. 24 Vgl. o. bei Am.n. 11. 25 Cic. leg. 1,42 f.

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aufhalten, gestattet, übennäßig und ohne Grund gegen Sklaven grausam zu sein 26. Dies mag sehr wenig erscheinen. Gemessen am theoretisch uneingeschränkten Eigentumsrecht und den tatsächlich in großer Zahl vorkommenden Grausamkeiten gegen Sklaven ist dies jedoch eine nicht zu unterschätzende Wendung, die durch das Kaiserrecht bereits seit dem 1. Jh. n. Chr. sich in zahlreichen einzelnen Maßnahmen manifestiert und die freie Verfügung des Eigentümers über Sklaven in verschiedener Hinsicht einschränkt. Ich erwähne zunächst nur den von Okko Behrends erhobenen Befund, daß bereits die von Ulpian in D. 7, 1,68 pr. überlieferte Meinung des Juristen Brutus im 2. Jh. v. Chr., wonach ein Sklavenkind keine Sachfrucht ist, auf einer Wendung "zu einem sozialen Naturrecht" beruht, die auf den Einfluß des Stoikers Antipatros von Tarsos zurückgeht 27 • Der Einfluß der stoischen Naturrechtslehre gewinnt in der Kaiserzeit deutlich wachsende Bedeutung, wie auch Wilhelm Simshäuser in seiner wichtigen Untersuchung zu den "Sozialbindungen des spätrepublikanisch-klassischen römischen Privateigentums" eindrucksvoll gezeigt hat 28 • Besondere Bedeutung kommt der Frage zu, ob es im Bereich des Bodeneigentums Beschränkungen im Interesse des Gemeinwohls gab. Hier kann man zunächst eine Reihe rechtlicher Einschränkungen erwähnen, wie die nachbarrechtlichen Legalservituten, die Leisner, auf den sich Simshäuser bezieht, "als ,einen Prototyp der Sozialbindung' bezeichnen" konnte 29 , ferner den Schutz vor Immissionen 30. Gerade das letztere ist eine Frage des Gemeinwohls, deren Dimensionen heute im Hinblick auf den Umweltschutz oder vielmehr die Umweltzerstörung erst voll ins Bewußtsein zu gelangen beginnt. Auch der Schutz vor der Gefahr durch vernachlässigte Gebäude (cautio damni infectip1 ist zu erwähnen. Dazu kommen "Gesetzliche Beschränkungen der Baufreiheit im Rahmen des Baurechts" 32, die auch der Stadtbilderhaltung dienten 33. Um alle rechtlichen Regelungen aufweisen zu können, bei denen im Gebrauch des Eigentums das Gemeinwohl eine Rolle spielte, müßte nun das gesamte Eigentumsrecht im einzelnen dargestellt Dazu auch Simshäuser, FS Coing, S. 352 f. Behrends, Okko: Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit - die römische Jurisprudenz gegenüber der Staatskrise des Jahres 133 v. Chr., in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition (Sympos. 70. Geb. F. Wieacker), hrsg. von K. Luig und D. Liebs, Ebelsbach 1980, S. 53; auch ders.: Prinzipat und Sklavenrecht, in: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung (Göttinger rechtswiss. Studien, Bd. 111), 1980, S. 68 ff. 28 FS Coing (0. Anm. 1), S. 352 f.; weitere Einzelheiten bei Waldstein, Wolfgang: Operae libertorum, Stuttgart 1986, S. 150 ff., 195 ff. und 297 mit weiteren Hinweisen. 29 FS Coing 332 f.; allgemein Kaser, RP, S. 110. 30 Vgl. Ulp. D. 8, 5, 8, 5-7; Alf. D. 8,5,17,2. 31 Dazu eingehend Rainer, J. Michael: Bau- und nachbarrechtIiche Bestimmungen im klassischen römischen Recht, 1987, S. 97 ff. 32 Dazu eingehend Rainer, S. 281 ff. 33 Dazu besonders Simshäuser, Wilhelm: Sozialbindungen des Eigentums im römischen Bauwesen der späten Kaiserzeit, in: Sodalitas, Scritti in onore di A. Guarino 4, Neapel 1984, S. 1793 ff.; ders. ergänzend und kritisch zu Rainer jetzt ZRG Rom. Abt. 110, 1993, S. 728 ff. 26 27

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werden, was natürlich hier nicht möglich ist. Aber es ließe sich zeigen, daß in vielfältigen Einrichtungen des reichen Instrumentars der klassischen Juristen ebenso wie in der Gesetzgebung der Kaiserzeit der Gedanke des Gemeinwohls zum Tragen kommt. Ich möchte nur noch einige Beispiele erwähnen. Ein heute wieder besonders aktuelles Problem ist die Wertbestimmung einer Sache, die in jemandes Eigentum ist. Dazu sagt Paulus in D. 35, 2, 63 pr., daß die Preise der Dinge sich nicht nach der besonderen Vorliebe noch nach dem Nutzen der einzelnen richten, sondern nach dem allgemeinen Wert, den die römischen Juristen als den objektiven Schätzwert bezeichnet haben, dem ein "gerechter Preis" entspricht. Die Feststellung dieses Wertes ist in vielen Fällen noch zusätzlich an den Maßstab der bonafides gebunden, die man damit umschreiben kann, was einer vom anderen im Rahmen des redlichen Verkehrs oder nach "Treu und Glauben" oder im "guten Glauben" erwarten darf. Daraus ist die Anfechtung eines Vertrages wegen "Verkürzung über die Hälfte"34 hervorgegangen, das heißt, daß der Verkäufer nicht einmal die Hälfte des wahren Wertes der Sache erhalten hat. Umgekehrt hat bekanntlich Diokletian ein Höchstpreisedikt erlassen, das für die Überschreitung der Höchstpreise sogar die Todesstrafe androhte und sich mit schärfsten Worten gegen das Übel der Habgier richtete. Ich meine, es ist nützlich, sich einige der im Jahre 301 n. ehr. getroffenen Feststellungen vor Augen zu führen. Nachdem er auf das Ende der Unterdrückung durch barbarische Stämme hinweist und darauf, daß er den römischen Staat ,,mit der gebührenden Schutzwehr der Gerechtigkeit umgeben" hat, sagt er: "Denn wenn noch irgend eine Rücksicht der Mäßigung die Elemente zu zügeln vermöchte, in denen eine grenzenlose Habsucht wütet, welche ohne Achtung des menschlichen Geschlechts nicht jährlich oder monatlich oder täglich, sondern fast in jeder Stunde, ja in jedem Moment wächst und sich vermehrt, oder wenn das Gemeinwohl (Diokletian verwendet hier den Ausdruckfortuna communis), diese zügellose Frechheit, durch die es täglich in solcher Weise zerfleischt wird, ertragen könnte: so wäre es vielleicht noch am Platze, die Dinge zu vertuschen und mit Schweigen zu übergehen. ... Aber weil die rasende Gier darin eins ist, der gemeinsamen Not gegenüber nicht wählerisch zu sein, und weil es bei den Gottlosen und Unredlichen für eine Art Gewissenspflicht der schleichenden, mit reißender Wut daherschäumenden Habsucht gilt, von der Zerstörung des Wohlstandes Aller" nur unter Zwang, und nicht freiwillig abzulassen, sieht er sich genötigt, dafür zu sorgen, "daß die Gerechtigkeit als Schiedsrichterin eingreife, damit," was entgegen langer Hoffnung die "Gesellschaft selbst nicht leisten konnte, durch die Mittel unserer Fürsorge zur Mäßigung aller beigetragen werde". Diokletian sagt dann weiter: ,,Fast zu spät kommt die Fürsorge". Er hatte erwartet, daß "die in den schwersten Vergehen ergriffene Menschheit sich" per iura naturae, also nach den Normen des Naturrechts, "von selbst bessern" werde (in gravissimis deprehensa delictis ipsa se emendaret humanitas)35. 34

Vgl. Kaser, RP, S. 193 f.

12 Festschrift Schambeck

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Der ganze weitere Text würde eingehender Betrachtung wert sein. Er macht klar, wie ernst Diokletian die von Aristoteles ausgesprochene Erkenntnis genommen hat, dem Bürger die der natürlichen Ordnung entsprechende Gesinnung im Gebrauch des Eigentums beizubringen. Aus allen hier nur stichprobenartig und kurz angeführten Erkenntnissen geht bereits die dem Eigentum innewohnende Gemeinwohlbezogenheit mit hinreichender Deutlichkeit hervor. Dazu ließen sich noch viele weitere Beispiele anführen, wie die Sittenaufsicht der Zensoren, die leges sumptuariae, die munera publica und vieles mehr, was besonders Simshäuser verdienstvoll aufgezeigt hat 36. Die Aktualität der antiken Erkenntnisse, besonders der Aussagen Diokletians, ist unübersehbar, vor allem in einer Situation, in der die sehr vielgestaltigen und feinen Instrumente jener sittlichen und rechtlichen Pflichten auch heute nicht mehr oder noch nicht wieder greifen, die eine Gesellschaftsordnung zusammenhalten und funktionieren lassen. Das Edikt Diokletians zeigt aber gleichzeitig die Ohnmacht gesetzlicher Bestimmungen gegenüber einer Situation, in der die sittlichen Pflichten und das Naturrecht eben nicht mehr das Leben der Menschen vorwiegend bestimmen und die wirtschaftlichen Gegebenheiten aus den Fugen geraten sind. Dem Edikt blieb bekanntlich der erhoffte Erfolg versagt. 111. Das Problem des Mißbrauchs des Eigentums

Es gibt nichts im menschlichen Leben, was der Mensch nicht auch mißbrauchen kann. Dies gilt vor allem für seine Freiheit, die an sich ein überaus hohes Gut ist, in der aber eben auch die Möglichkeit des Mißbrauches von allem begründet liegt. Es ist daher ganz selbstverständlich, daß der Mensch auch und gerade sein Eigentum, wie wir schon gesehen haben, mißbrauchen kann. Die römische Geschichte bietet dafür viele und teilweise schreckliche Beispiele. Sie sind aber auch nicht auf die römische Geschichte beschränkt. Sie haben vielmehr gerade im vorigen Jahrhundert eine der größten Tragödien der Welt ausgelöst. Die habgierige und brutale Ausbeutung menschlicher Arbeit konnte nicht hingenommen werden. Aber die leider einflußreichste "Therapie", mit der man dieses Übel zu beheben versuchte, hat sich inzwischen als ein noch weit größeres Übel erwiesen. Gegenüber den Theorien, denen diese "Therapie" entsprang, konnten sich bis vor wenigen Jahren jene Erkenntnisse, die uns die Antike zur Verfügung stellt, weithin nicht durchsetzen. 35 Vgl. Diokletians Preisedikt, hrsg. von S. Lauffer (Texte und Kommentare 5), Berlin 1971, Praef. 6-8; deutsche Übersetzung nach Bücher, Karl: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1922, S. 226. 36 Vgl. FS Coing, S. 334 ff., 339 f. und 341 ff. Von ganz allgemeiner Bedeutung für die Fragen ist insb. die Untersuchung von Behrends: Bodenhoheit und privates Bodeneigentum im Grenzwesen Roms, in: Die römische Feldmeßkunst, Interdisziplinäre Beiträge zu ihrer Bedeutung für die Zivilisationsgeschichte Roms, hrsg. von O. Behrends und L. Capogrossi Colognesi, Göttingen 1992, S. 192 ff.

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Auch in der Antike gab es Reaktionen auf den Mißbrauch des Eigentums. Die wohl bekanntesten Maßnahmen sind die Reformversuche der Gracchen im 2. Jh. v. Chr. Tiberius Sempronius Gracchus hatte 133 v. Chr. als Volkstribun ein Ackergesetz eingebracht, das eine der Absicht nach durchaus vernünftige und sachgerechte Neuverteilung von okkupiertem Staatsland herbeiführen sollte. Um die Maßnahmen zu Ende führen zu können, hatte Tiberius Gracchus aber verfassungswidrig eine Wiederwahl als Volkstribun angestrebt. Dies gab dem Senat den willkommenen Vorwand zu gewaltsamem Einschreiten. Tiberius Gracchus und zahlreiche seiner Anhänger wurden ermordet. Sein jüngerer Bruder Gaius Sempronius Gracchus versuchte 10 Jahre später das Reformwerk seines Bruders aufzunehmen. Dessen Agrarreform konnte er sogar noch ergänzen. Gaius Gracchus erlitt jedoch schließlich das Schicksal seines älteren Bruders. Die Einzelheiten können hier nicht ausgebreitet werden 37 . Tatsache ist aber, daß diese durch Mißbrauch des Grundeigentums veranlaßten und von sozialem Bemühen getragenen Reformversuche mit ihrem blutigen Ende jene nahezu 100 Jahre dauernden Wirren mit schrecklichen Bürgerkriegen eingeleitet, wenn nicht ausgelöst haben, die das Ende der Republik herbeiführten. In diese Zeit fallen auch die Sklavenaufstände, die gegen die unmenschliche Behandlung neuversklavter Kriegsgefangener und damit gegen den Mißbrauch des Eigentums in diesem Bereich gerichtet waren. Der bekannteste Führer eines solchen Aufstandes, Spartakus, der 71 v. Chr. fiel, ist zur viel bemühten und häufig falsch dargestellten Symbolfigur des menschlichen Aufstandes gegen unmenschliche Unterdrückung herangezogen worden 38 . Alle diese Erscheinungen zeigen, welch schreckliche Folgen die schon von Aristoteles erkannte Ursache des Mißbrauches des Eigentums haben kann, nämlich "die Schlechtigkeit des Charakters"39. Was Cicero über die Tugenden sagt, die aus der von Natur gegebenen Neigung hervorgehen, die Menschen zu lieben und die Cicero ihrerseits als das Fundament des Rechts bezeichnet 40, das hat bereits Aristoteles mit aller Schärfe in der konkreten Analyse der genannten Gefahren der "Schlechtigkeit des Charakters" gesehen und klar ausgeführt. Es ist für das Verständnis der schrecklichen Dinge, zu denen der Mensch fähig ist, wichtig, sich einiges von diesen antiken Erkenntnissen zu vergegenwärtigen. Aristoteles sagt zunächst unter anderem, daß es dem Menschen vor den anderen Lebewesen eigen ist, allein die Erkenntnis des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten zu haben. Auf der Teilnahme daran beruhen auch Hausgemeinschaft und Staat 41 • Aber er muß dann weiter sagen: "Wie nämlich der Mensch in seiner Vollendung das beste Lebewesen ist, 37 Vgl. dazu Dulckeit / Schwarz / Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, Juristische Kurz-Lehrbücher, 81989, S. 118 ff. 38 Dazu eingehend Guarino, Antonio: Spartaco, analisi di un mito, Napoli 1979, S. 119-154, mit zahlreichen Hinweisen. 39 Vgl. o. bei und in Anm. 12. 40 Vgl. o. bei Anm. 25. 41 Aristot. pol. I, 2; 1253 a 14-18. 12*

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so ist er losgetrennt von Gesetz und Recht das schlimmste von allen". Ja, er ist "ohne Tugend das ruchloseste und wildeste Wesen", und er fügt bei: "Die Tugend der Gerechtigkeit ist ... etwas, das ganz wesentlich zum Staate gehört"42. Zu diesen Aussagen des Aristoteles ist ein Text von Cicero besonders aufschlußreich und aktuell. Er ergänzt das von Herbert Schambeck zur "politischen Tugend bei Cicero" Gesagte 43 gerade für die Frage des Gemeinwohls in vielfältiger Hinsicht. Daher möchte ich den etwas längeren Text hier doch im Zusammenhang wiedergeben. Cic. off. 2, 77 - 79: "Kein Laster ist also scheußlicher ... als die Habsucht, vorzüglich bei führenden Männern und den Lenkern des Staates. Zur Erwerbsquelle nämlich das Gemeinwesen machen, ist nicht nur schändlich, sondern sogar verbrecherisch und ruchlos. Wenn daher der pythische Apoll das Orakel gab, durch nichts anderes werde Sparta zugrunde gehen, so scheint das nicht nur den Lazedämoniern, sondern allen reichen Völkern geweissagt zu sein. Durch nichts anderes aber können die, welche an der Spitze des Staates stehen, das Wohlwollen der Menschen leichter gewinnen als durch Enthaltsamkeit und Beherrschung. 78. Die aber volksfreundlich sein wollen und aus diesem Grunde entweder Ackerreformen in Angriff nehmen, so daß die Besitzer aus ihrer Heimstatt vertrieben werden, oder meinen, anvertraute Geldsummen 44 müßten den Schuldnern geschenkt werden, die lockern 45 die Grundlagen des Gemeinwesens, die Eintracht zuerst, die nicht bestehen kann, wenn den einen Geld weggenommen, den anderen geschenkt wird, dann die Gerechtigkeit, die ganz zerstört wird, wenn nicht einem jeden das seine 46 zu behalten möglich ist. Denn dies ist ... das Eigentümliche 47 eines Staates und einer Stadt, daß die Bewahrung des Eigentums frei und nicht mit Ängsten verbunden ist. 79. Und bei diesem Verderben des Gemeinwesens erreichen sie nicht einmal jene Gunst, die sie glauben. Denn wem sein Vermögen entrissen wurde, ist Feind. Wem es gegeben wurde, verbirgt noch, daß er es hat annehmen wollen, und besonders bei Schulden versteckt er seine Freude, damit es nicht scheint, als ob er nicht imstande gewesen wäre, zu zahlen .... Was aber ist das für eine Gerechtigkeit, daß einen Acker, der viele Jahre oder auch Menschenalter vorher in Besitz war, der besitzt, der keinen gehabt hat, der ihn gehabt hat, aber verliert?"48

Im weiteren Text zeigt Cicero an Hand verschiedener Beispiele, wie nicht nur "das aufs vortrefflichste eingerichtete Gemeinwesen" Sparta durch solche Miß42 Aristot. pol. 1,2; 1253 a 35 ff. Er sagt dort weiter:" ... und in bezug auf geschlechtliche Dinge und die Eßgier das schlimmste". 43 Ethik und Staat 30. 44 Pecunias creditas im Text sind technisch Darlehen, Kredite. 45 Das labefactant im Text ist mit "lockern" wohl etwas schwach wiedergegeben, es heißt eigentlich: "zugrunde richten, untergraben", "wankend machen, erschüttern"; vgl. Menge / Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache 1, Lateinisch-Deutsch, zu labefacto. 46 Zu dem hier bei Cicero stehenden suum cuique vgl. die Hinweise oben Anm. 13 und 21. 47 Das proprium im Text bedeutet eigentlich: es gehört zum Wesen des Staates oder ist für ihn wesentlich. 48 Übers. Büchner (oben Anm. 18).

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stände "auseinanderfiel". Denn "es stürzte nicht nur selber, sondern vernichtete auch das übrige Griechenland durch Ansteckung des Übels, das von den Lazedämoniern seinen Ausgang nahm und sich weiter ausbreitete", schließlich auch auf Italien 49. Nach den blutigen Wirren des 1. Jh. v. Chr. gelang es erst Augustus, auf einer neuen Grundlage eine neue Ordnung aufzubauen, der man, trotz der Schwankungen im 1. Jh. n. Chr., im ganzen eine gemeinwohlorientierte Stabilität nicht absprechen kann. Augustus wollte die Autorität des Rechtes wieder heben. Um dies zu erreichen, hat er sich auf die römische Rechtswissenschaft gestützt und hervorragenden Juristen das Recht verliehen, Rechtsgutachten mit der Autorität des Kaisers zu erteilen so, ein für die Folgezeit überaus wichtiges Recht. Es ist die Zeit, in der sich das römische Recht zu seiner höchsten Blüte entwickelt. Dabei sind auch zahlreiche, dem Eigentum wesentlich innewohnende Bindungen an das Gemeinwohl herausgearbeitet worden. Damit konnte offenbar auch der Mißbrauch des Eigentums durch längere Zeit soweit eingedämmt werden, daß eine friedliche und wirtschaftlich gesunde Entwicklung der Gesellschaft möglich war. Wie das Preisedikt Diokletians jedoch drastisch klarmacht, war in seiner Zeit die "Schlechtigkeit des Charakters" wieder soweit durchgebrochen, daß sie die menschliche Gemeinschaft zu vernichten drohte. Dies zwang Diokletian zum Eingreifen. Zur Verdeutlichung der Lage sei hier noch wiedergegeben, was er unmittelbar im Anschluß an den bereits oben 51 zitierten Text sagt: ,,Nun halten wir es für weit besser, die Zeichen unerträglicher Ausraubung dem gemeinsamen Urteil der Frevler selbst mit Verstand und Überlegung zu entziehen, derjenigen, welche täglich schlimmer werden, welche mit einer Art Geistesverblendung zur öffentlichen Sünde neigen und welche eine schwere Schuld als Feinde der einzelnen und der Gesamtheit unter der Anklage grausamster Unmenschlichkeit (uns) ausgeliefert hatte" 52. Der ganze weitere Text ist von einer unglaublichen Aktualität für unsere Zeit und überaus lesenswert. Es zeigt sich, wie brutal und unmenschlich rücksichtslos der Mensch zu allen Zeiten sein konnte und ist, wenn er die sittlichen und rechtlichen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens mißachtet.

IV. Ergebnisse Versucht man die Ergebnisse dieser kurzen Untersuchung zusammenzufassen, so kann man sagen, daß die Gemeinwohlbezogenheit des Eigentums in Rom von den frühesten Anfangen an immer mehr oder minder klar gesehen wurde. Die 49 50 51

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eic. off. 2, 80. Aufschlußreich ist auch der weitere Text. Pompon. D. 1, 2, 2, 49. Bei Anm. 35. Praef. 8, Übers. Bücher.

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theoretischen Erkenntnisse hinsichtlich der Bedeutung des Eigentums für die menschliche Gesellschaft, die vor allem von Aristoteles entwickelt wurden, sind besonders durch Cicero dem römischen Denken erschlossen worden. Die Frage, wie weit diese Erkenntnisse konkret auf die römische Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, besonders das Kaiserrecht, eingewirkt haben, ist umstritten. Es ist eine Frage, deren Untersuchung ich mir für die kommenden Jahre vorgenommen habe. Soviel kann man aber zweifellos schon jetzt sagen, daß die Ergebnisse der Arbeit der römischen Juristen mit den theoretischen Erkenntnissen über Wesen und Bedeutung des Eigentums weitgehend im Einklang stehen. Man kann daher die eingangs gestellte Frage, ob es die in modemen Menschenrechtskodiflkationen hinsichtlich der Gemeinwohlbezogenheit des Eigentums zum Ausdruck gebrachten Gedanken bereits in der Antike gab, eindeutig mit ja beantworten. Was uns davon in dem von Justinian so genannten iustitiae Romanae templum, den Digesten, überliefert ist, hat sich in dem Wechsel politischer und ökonomischer Systeme durch all die Jahrhunderte bis heute als Summe einer juristischen Hochleistung bewährt. Diese Ergebnisse müssen aber in der jeweiligen Gesellschaft den gegebenen Verhältnissen entsprechend umgesetzt werden. Es war für mich eine große Freude, von Leonid Mamut bei einem Vortrag in Salzburg zu hören, daß auch im heutigen Rußland das römische Recht als die Grundlage einer sachgerechten Privatrechtsordnung angesehen wird 53. Ich hoffe daher, daß die hier kurz skizzierten Erkenntnisse der Antike hinsichtlich des Eigentumsrechts etwas zur Lösung der großen Probleme beitragen können, auf die Wladik Nersessjanz wiederholt hingewiesen hat 54. Die antike Erfahrung lehrt zwar, daß die besten rechtlichen Normen allein das Gemeinwohl nicht herbeiführen können. Die Menschen müssen bereit sein, sie auch zu beachten, was heute in ganz Europa ein großes Problem ist. Denn dazu ist auch die Pflege jener Tugenden Voraussetzung, die erst ein menschenwürdiges Leben in der menschlichen Gemeinschaft möglich machen. Gerade Rußland hat dafür große Beispiele aufzuweisen. Es sind Beispiele für jenes gemeinsame "Erbe an geistigen Gütern", auf das die Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention sich bezieht 55 und das auch die Grundlage der Menschenrechte einschließt. Möge es den guten Kräften in Rußland und in allen anderen Ländern gelingen, in dieser schweren Zeit jene Grundlagen wiederherzustellen, auf denen allein es möglich sein wird, eine menschenwürdige Zukunft und eine wahre Einigung Europas zu erreichen. 53 Die Kenntnis weiterer Einzelheiten dieser Bemühungen verdanke ich jenem Aufenthalt in Moskau, der auch Anlaß für die hier vorgelegten Überlegungen wurde. Zur russischen Digestenübersetzung vgl. oben bei und in Anm. 22. 54 Vgl. etwa seinen Beitrag: Kapitalismus, Sozialismus, Postsozialismus? In: ,,Neue Zeit" (Politische Wochenschrift, Moskau, Gründungsjahr der deutschen Ausgabe 1945) 12, 1990, S. 36 f. 55 MRK Präambel Abs. 5; wiedergegeben bei R. Klecatsky / S. Morscher, Das österreichische Bundesverfassungsrecht, 31982, 1052; und bei Schäffer, Heinz: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgesetze Nr. 65, S. 2 (EL 16, November 1990).

11. Allgemeine Staatslehre

DIE POLITISCHE VERANTWORTUNG DES CHRISTEN IN DER HEUTIGEN ZEIT* Von Karl Carstens t

I. Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Gelegenheit geben, zu Ihnen über ein Thema zu sprechen, das mich seit vielen Jahren bewegt: Die politische Verantwortung des Christen in der heutigen Zeit. Ich spreche dazu als evangelischer Christ und als theologischer Laie, der seine Glaubensüberzeugung aus der regelmäßigen Lektüre der Bibel schöpft, übrigens häufig aus der Übersetzung von Jörg Zink, der für jeden Tag des Jahres einen Bibeltext ausgewählt hat. Ich lese in den Herrnhuter Jahreslosungen und in den Betrachtungen von Carl Hilty. Ich besuche Gottesdienste, evangelische, auch katholische, und höre dadurch Predigten sehr unterschiedlichen Inhalts. Ich höre häufig die morgendlichen Andachten im Rundfunk. Die meisten hinterlassen bei mir einen tiefen Eindruck, und ich lese kirchliche Zeitschriften und Nachrichtendienste. In den 35 Jahren, in denen ich politische Verantwortung trug, habe ich mich immer wieder, und je älter ich wurde, desto mehr, gefragt, welche Gebote aus christlicher Sicht für die von mir zu treffenden Entscheidungen galten. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen möchte ich heute sprechen.

Vieles von dem, was ich sagen werde, ist nicht ausschließlich christlich, sondern ist Teil des großen religiösen und humanitären Erbes der Menschheit. Ein Buddhist, mancher Mohammedaner, ein Jude, selbst ein Atheist, der ethische Gebote akzeptiert, könnte dem zustimmen. Aber ich möchte Ihnen meine ganz persönlichen Erfahrungen mit der Lehre des Christentums in meiner politischen Arbeit vortragen.

* Vortrag vor der Österreichisch-Deutschen Kulturgesellschaft in Wien am 12. Dezember 1985. Für die Festschrift zur Verfügung gestellt von Frau Dr. Veronika Carstens.

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11. Vertrauen und Fröhlichkeit

Ich möchte mit einer ganz einfachen These beginnen: Nach meiner Überzeugung sollte ein Christ, der sich seines Glaubens sicher ist, nicht Pessimismus oder gar Angst ausbreiten, sondern im Gegenteil Vertrauen, ja Fröhlichkeit. Nichts wirkt deprimierender als ein christlicher Sprecher, der jammert und den Hörer ratlos und verängstigt zurückläßt. "Die irdischen Zukunftshoffnungen schwinden dahin", hat ein prominenter Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland vor einigen Jahren gesagt. Aber bei dieser Feststellung, deren Richtigkeit ich übrigens bezweifele, dürfen wir keinesfalls stehenbleiben. Wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, darf uns kein Unglück aus der Fassung bringen, auch kein Unglück, dessen Eintritt wir in Zukunft befürchten. "Denn ich bin gewiß", sagt Paulus, "daß weder Tod noch Leben, noch Gewalten, weder gegenwärtiges noch zukünftiges, weder hohes noch tiefes, noch keine andere Kreatur kann uns trennen von der Liebe Gottes" (Römer 8). "Und ob ich gleich wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Dein Stecken und Stab tröstet mich" (Psalm 23). "Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet" (Römer 12). Und im 1. Tessalonicher Kap. 5 heißt es: "Seid allezeit fröhlich". Ich meine daher, wir sollten nie vergessen, daß Christen eine frohe Botschaft zu verkündigen haben, und das sollte man ihnen anmerken, ob sie nun als Pastor oder als Politiker tätig sind. 111. Nächstenliebe

Das zentrale Gebot, das Christus an uns richtet, ist das Gebot der Nächstenliebe. Wir sollen unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Für ein Feindbild ist da kein Raum. Die These, daß die Politik sich in einem Freund-Feind-Verhältnis ausdrükke, ist unchristlich. Wir sind nicht gehindert, für unsere politische Überzeugung kraftvoll zu kämpfen, aber niemals dürfen wir den politischen Gegner verunglimpfen, und mögen seine Ansichten nach unserer Auffassung noch so falsch, ja gefährlich sein. Immer müssen wir bedenken, daß nach christlicher Lehre jeder Mensch das Ebenbild Gottes ist. Deswegen, und nicht nur, weil es in unserer Verfassung steht, ist die Würde des Menschen für uns unantastbar. Gilt das auch für den werdenden Menschen, den menschlichen Embryo in seiner Schutzlosigkeit? Ich meine, wir sollten uns mit dieser Frage ernsthafter auseinandersetzen. Die Zahl der bekannt gewordenen Abtreibungen übersteigt allein in der Bundesrepublik Deutschland 200 000 im Jahr. Läßt uns das gleichgültig? Ich rede nicht einer Änderung der Strafbestimmungen das Wort. Damit ist nichts gewonnen. Aber gibt es nicht andere Möglichkeiten, das werdende Leben

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zu schützen? Als Kardinal Volk, der Bischof von Mainz, aufgefordert wurde, einen Aufruf gegen den Bau der Startbahn West im Frankfurter Flughafen zu unterschreiben, weil dadurch 40 000 Bäume bedroht waren, antwortete er: "Das Schicksal der Bäume ist mir nicht gleichgültig. Aber man muß die Proportionen sehen. In unserem Lande werden jährlich 200 000 werdende Menschen getötet. Müssen wir sie nicht noch mehr schützen?" Mir ist das als eine starke christliche Aussage erschienen ebenso wie eine Äußerung von Landesbischof Lohse, der vor kurzem in einem Interview sagte: "Es gehört zum Auftrag der Kirche, für das Leben einzutreten, auch für das ungeborene Leben". Auch wissenschaftliche Experimente mit menschlichen Embryos, und erst recht deren kommerzielle Verwendung, berühren die Würde des Menschen. Der Christ sollte sich dagegen aussprechen. Ebenso sollte er manche Formen der Zeugung von Menschen einer kritischen Prüfung unterziehen. Ich nenne als Stichwort Befruchtung im Reagenzglas, Einpflanzung des befruchteten Eies in den Körper einer anderen Frau, der sogenannten Leihmutter, Befruchtung weiblicher Eizellen mit den Samen anonymer Samenspender, so daß das Kind nicht weiß, wer sein Vater ist, Eingriffe in die menschlichen Gene, also in die Erbsubstanz des Menschen. Hingerissen von ihren Erfolgen schreitet die medizinische Wissenschaft auf diesem Wege schnell voran, und gewiß ist nicht alles verwerflich, was da geschieht. Aber eine Überprüfung dieser Vorgänge, am besten im europäischen Rahmen, durch Ethik-Kommissionen, deren Mitglieder zur Hälfte Frauen sein sollten, erscheint mir nötig. Wie überhaupt die Überprüfung des technischen Fortschritts unter ethischen und religiösen Gesichtspunkten angezeigt erscheint. In der Bundesrepublik Deutschland hat kürzlich eine Kommission, die unter dem Vorsitz des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda tagte, einen Bericht über diesen Fragenkomplex vorgelegt, in dem viele bedenkenswerte Vorschläge gemacht wurden. Aus meiner Sicht litt die Kommission freilich unter einem grundlegenden Mangel. Von 19 Mitgliedern gehörte ihr nur eine Frau an. Ganz allgemein ist zu sagen: Nicht alles, was technisch möglich ist, ist dem Menschen bekömmlich, und es ist gut, sich des großartigen Bibelwortes zu erinnern "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele" (Matthäus 16). Damit rede ich keiner technik-feindlichen Einstellung das Wort, sondern einem sinnvollen Gebrauch der technischen Errungenschaften. Das Gebot der Nächstenliebe und der Achtung vor der Würde des Menschen legt uns besonders auch die Brüder und Schwestern ans Herz, die in unserem eigenen Land und anderswo, vor allem in der Dritten Welt, Not leiden. Wir sollten uns noch mehr anstrengen, um ihnen zu helfen. Dabei denke ich in erster Linie an private Hilfe; der Ruf nach dem Staat, der auch in diesem Zusammenhang

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immer wieder ertönt, ist kein Allheilmittel. Der Staat kann nicht alles leisten, seine Möglichkeiten sind begrenzt.

IV. Frieden Das zweite christliche Gebot, mit dem wir uns alle ständig auseinandersetzen müssen, ist das Friedensgebot. Es ist ein zentrales Thema des christlichen Glaubens. Es gilt für alle Christen, Männer und Frauen, Pfarrer ebenso wie Laien, den Staatsmann, den Politiker, den Ingenieur, den Arbeiter, den Soldaten. Es ist ein Gebot, das den Christen in seinem gesamten irdischen Verhalten leiten muß. Geschichtlich gesehen war der Friedensgedanke ursprünglich eng mit der Gerechtigkeitsidee verknüpft. Nur ein gerechter Zustand verdiente nach dieser Auffassung den Namen Frieden. Damals wurde die Lehre vom gerechten Krieg entwickelt. Aber angesichts der Gefährlichkeit moderner Kriege hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß auch ein ungerechter Zustand nicht durch Krieg zwischen den Staaten beendet werden darf. Selbst gegenüber legitimen Zielen gilt international das Verbot der Anwendung von Gewalt. Das sind tragende Grundsätze der modernen Völkerrechtsordnung, und sie werden gewiß von den Christen bejaht. Aus dem Friedensgebot folgt, ebenso wie aus dem Gebot der Nächstenliebe, daß wir in unserem Gegner, sei es in der Innenpolitik, sei es in der Außenpolitik, nicht den Feind sehen dürfen. Wir dürfen ihn nicht hassen, auch dann nicht, wenn er uns haßt. Rachegefühle dürfen wir in uns nicht aufkommen lassen. Die Erziehung zum Haß gegen den Gegner, die in einigen Armeen betrieben wird, lehnen wir ab, weil sie die Beziehungen vergiftet; aber sie gibt uns nicht das Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wir dürfen also Unrecht nicht mit Unrecht und schon gar nicht mit Gewalt beantworten. Wir müssen den Gegner in das Liebesgebot des christlichen Glaubens einbeziehen. Aber was ist, wenn wir militärisch angegriffen, wenn wir mit Krieg überzogen werden? Dürfen wir uns dann unter Anwendung von Gewalt verteidigen, oder müssen wir den Angriff widerstandslos hinnehmen? Es ist eine zentrale Frage des christlichen Glaubens. Immer wieder haben sich christliche Kirchen und Sekten zur völligen Gewaltlosigkeit bekannt: die Täufer, die Quäker, die Zeugen Jehovas, auch heute wieder viele Anhänger der Friedensbewegung. Wir respektieren ihre Entscheidung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt jedem Wehrpflichtigen das Recht, aus Gewissensgründen den Wehrdienst zu verweigern. Als Christen billigen wir diese Bestimmung unserer Verfassung. Aber ist Wehrdienstverweigerung die für den Christen allein mögliche Entscheidung?

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Verbietet der christliche Glaube uns, uns zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden? Darauf lautet meine Antwort und wohl die Antwort der Mehrheit der Christen: Nein, ein solches Verbot besteht nicht. Wir dürfen uns verteidigen. Aus der Bergpredigt ergibt sich nicht anderes. Ich teile nicht die Meinung derer, die sagen, die Bergpredigt habe sich nur an die Jünger Jesu gerichtet. Sie gilt nach meiner Überzeugung für jeden Christen, auch für den, der politische Verantwortung trägt, so schwer es sein mag, ihre Gebote zu befolgen. Aber die Bergpredigt verbietet uns nach meiner Überzeugung nicht, das Leben der uns Anvertrauten vor gewaltsamer Auslöschung zu schützen. Es heißt dort zwar, wenn Dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dann biete auch die andere dar (Matthäus 5), aber es heißt nicht: Wenn einer deinen ältesten Sohn getötet hat, so biete ihm auch den jüngeren Sohn dar, damit er ihn gleichfalls töte. Die Hinnahme von Terrorismus, der hunderte, tausende von Menschen ohne jeden Sinn umbringt und mit Drohung und Erpressung gegen die Überlebenden arbeitet, wird uns nicht anbefohlen. "Wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen", sagt Jesus an einer anderen Stelle (Matthäus 26). Für den Schutz derer, die uns anvertraut sind, gibt die Bergpredigt keine Anweisung. Sicher meint das auch Luther, wenn er sagt: ,,Ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium zu regieren, sich zu unterfangen, das ist ebenso, als wenn ein Hirte in einen Stall Wölfe, Löwen, Adler und Schafe zusammentäte und ein Jegliches frei nebeneinander laufen ließe und sagte, da weidet und seid rechtschaffen". Daraus folgt nach meiner Überzeugung, daß wir uns im Falle eines Angriffs verteidigen dürfen, und daraus folgt weiter, daß wir uns im Frieden auf eine Verteidigung gegen einen möglichen Angriff vorbereiten dürfen. Die Aufstellung von Streitkräften, denen jeder Angriff untersagt ist, die nur der Verteidigung dienen, widerspricht keinem christlichen Gebot. So war es konsequent, daß beide großen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland nach der Schaffung der Bundeswehr vor 30 Jahren eine Militärseelsorge einrichteten, die den Soldaten geistlichen Beistand gibt. Aber, so lautet die nächste Frage, gilt das alles auch noch gegenüber einer Bedrohung mit Kernwaffen? Darf der Westen einen Gegner von einem nuklearen Angriff dadurch abzuhalten versuchen (dissuader - wie die Franzosen sagen, ein weit besseres Wort als das englische deter - abschrecken), daß er selbst ein nukleares Verteidigungspotential aufbaut mit der Folge, daß im Falle eines Krieges das Leben auf der Erde ausgelöscht werden könnte? Die Beantwortung dieser Frage ist schwer; niemand sollte ohne sorgfältige Prüfung seines Gewissens zu ihr Stellung nehmen. Nach meiner Ansicht ist die Politik der gegenseitigen Abschreckung oder der gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit, wie man sie auch nennt, auf der Grundlage des christlichen Glaubens vertretbar, wenn wir davon überzeugt sein dürfen, daß

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sie die bestmögliche, ja vielleicht zur Zeit noch die einzige Garantie für die Bewahrung des Friedens ist. Diese Überzeugung dürfen wir aufgrund der Erfahrungen der letzten 40 Jahre haben. Die Doktrin der dissuasion hat Europa seit über 40 Jahren den Frieden erhalten. Wo sonst auf der Welt kriegerische Konflikte ausgebrochen sind, besaßen die kriegführenden Parteien diese Fähigkeit zur gegenseitigen nuklearen Vernichtung nicht. Denken Sie an die verschiedenen Kriege im Nahen Osten, an den Golfkrieg zwischen Iran und Irak, den Vietnamkrieg, den Krieg Vietnams gegen Kambodscha, an die Invasion Afghanistans durch die Sowjetunion oder an den Krieg um dk Falkland-Inseln. Ja, man kann sicher noch einen Schritt weitergehen und sagen: zu dem einzigen bisherigen Einsatz nuklearer Waffen, nämlich 1945 gegen Japan, wäre es nicht gekommen, wenn Japan die Fähigkeit zum nuklearen Gegenschlag gehabt hätte. Deswegen gehen nach meiner Meinung diejenigen leichtfertig mit dem Frieden in Europa um, die von dem westlichen Bündnis den einseitigen Verzicht auf nukleare Waffen verlangen, ohne irgendeine Gewähr dafür zu haben, daß dann auch der Osten seine nuklearen Waffen abschafft. Die gegenseitige nukleare Vernichtungsfähigkeit ist, so schwer es uns ankommen mag, das einzugestehen, z. Z. leider immer noch die bestmögliche, ja wohl die einzige Garantie für die Erhaltung des Friedens. Das bedeutet nicht, daß jede Einzelheit des Verteidigungskonzepts der USA und der Nato Zustimmung verdiente. Ich muß es mir versagen, diese Einzelheiten hier zu erörtern. Aber ein Wort möchte ich doch zu dem viel umstrittenen strategischen Verteidigungsprojekt der Amerikaner, dem sogenannten SDI, sagen. Ich warne vor einer vorzeitigen Ablehnung dieses Konzepts. Für ein abschließendes Urteil ist es noch zu früh, weil wir bisher die technischen und die politischen Möglichkeiten nicht voll erkennen können. Einen Erfolg hat das Projekt allerdings schon jetzt gehabt. Es hat bewirkt, daß die Sowjetunion an den Genfer Verhandlungstisch zurückgekehrt ist, wo über nukleare Abrüstung gesprochen wird. Es ist also sehr wohl möglich, daß SDI die Chancen für die Bewahrung des Friedens vergrößern wird. Freilich gibt es keine hundertprozentig sichere Friedensgarantie. Wir bewegen uns im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. Dabei können wir darauf hinweisen, daß die Politik der beiden Supermächte im Verhältnis zueinander von großer Vorsicht gekennzeichnet ist. Das gilt auch für die Sowjetunion. Beide Supermächte attackierten einander bisher mit Worten, oft mit schärfsten Worten. Aber sie vermeiden Konflikte, die sie in eine unmittelbare militärische Konfrontation zueinander bringen würden. Wir haben auch deswegen Grund zur Hoffnung, daß der Krieg vermieden werden kann, aber wir haben keine Gewißheit. Daher bedarf alles bisher Gesagte einer wesentlichen Ergänzung. Es ist eine der wichtigsten Pflichten aller Politiker in Ost und West, dafür einzutreten, daß die nuklearen Waffen reduziert werden.

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Abrüstungsverhandlungen mit dem Ziel zunächst einer ausgewogenen Verminderung, später einer Abschaffung dieser Waffen im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtregelung, haben höchste Priorität. Keine Mühe darf uns Europäern zu groß sein, die Supermächte immer wieder an den Verhandlungs tisch zu bringen und mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln auf sie einzuwirken, damit es zu Abrüstungsvereinbarungen kommt. Außer den nuklearen müssen auch die biologischen und die chemischen Waffen in diese Vereinbarungen einbezogen werden. Die Abrüstungsverhandlungen sollten begleitet sein von Ost-West-Kontakten in anderen Bereichen mit dem Ziel, die politischen Spannungen abzubauen, die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern und die Lage der Menschen, die in Unfreiheit leben, zu verbessern. Die Begegnung zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow war ein wichtiger Schritt in der richtigen Richtung. Manches, was in Genf gesagt wurde, klingt hoffnungsvoll.

v. Freiheit Ebenso wie Friede ist Freiheit ein zentrales Thema der christlichen Glaubenslehre und zugleich die Grundlage jeder demokratischen Staatsverfassung, aber welche Unterschiede bestehen hier! Nach christlicher Lehre ist die Freiheit dem Menschen von Gott geschenkt. "Christus hat uns zur Freiheit befreit" (Galater 5). "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2. Korinther 3). Diese Freiheit bedeutet Freiheit von der Ichsucht, vom Selbstseinwollen, sie ist identisch mit dem Glaubensgehorsam. "Wo Gott allein herrscht, da erst sind wir ganz frei", sagt Augustin, und bei Paulus heißt es: "Gott hat euch zur Freiheit berufen, Brüder! Aber mißbraucht sie nicht als Freibrief für Selbstsucht und Lieblosigkeit" (Galater 5). Das Werkzeug dieser Freiheit ist vielmehr der selbstlose Dienst der Liebe. "Obwohl ich frei bin von allen, habe ich mich allen zum Knecht gemacht" (1. Korinther 9). Das hat Luther in die Worte gefaßt: ,,Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan, aber er ist zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan". Ganz anders ist die Sicht der freiheitlichen Staatsverfassungen seit der französischen Revolution. So heißt es in der Erklärung der Menschen- und Bürgen:echte von 1789: "Die Freiheit besteht darin, daß man alles tun kann, was keinem anderen schadet". In dieser negativen Definition des Freiheitsbegriffs hat sich der bürgerliche Liberalismus lange Zeit erschöpft, die darin liegenden Gefahren wurden nicht erkannt. Aber schlimm wurde es erst, als sich die modeme Pädagogik des emanzipatorischen Freiheitsbegriffs bemächtigte. Ichbezogene Selbstverwirklichung, Lustmaximierung des jungen Menschen, hießen die Stichworte dieser Lehre. Antiautoritäre Erziehung, Trennung des Kindes von seinen Eltern, wurde gefordert.

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Diesen Irrweg haben wir alle teuer bezahlt. ,,Es gibt eine Emanzipation, die alles zerstört: Moral, Sitte, Recht, Religion, Ehe, Liebesfähigkeit, Glaubensfähigkeit", hat der Probst von Neumünster, Karl Hauschildt, kürzlich gesagt. Und ich kann ihm nur zustimmen. Diese Art von Emanzipation führt zum Anspruchsdenken und zum Verlust der Bereitschaft, Aufgaben für die Allgemeinheit zu übernehmen. In ihr liegt eine große Gefahr für den jungen Menschen selbst und für die Gesellschaft insgesamt. Die Christen müssen ihr entschieden entgegentreten. Wir müssen fordern, daß die Nächstenliebe in den Mittelpunkt der Erziehung gerückt wird, daß Freundlichkeit, Geduld, Opferbereitschaft und Bereitschaft zur Vergebung Erziehungsziele werden. Dem jungen Menschen muß klargemacht werden, daß, wer Erfüllung nur in sich selbst sucht, unglücklich wird, daß er den Sinn des Lebens verfehlt. Daß im Gegenteil der Sinn des Lebens darin besteht, sich für ein Ziel einzusetzen, das über den Einzelnen selbst hinausweist, sei es der Dienst der Liebe an dem Nächsten oder die Erziehung der eigenen Kinder oder fremder Kinder oder eine andere soziale Aufgabe oder die Linderung der Not in der Dritten Welt oder das Eintreten für den Frieden oder ein Leben, das Gott geweiht ist. Der große Wiener Psychiater Viktor Frankl hat dazu in seinem Buch "Das Leiden am sinnlosen Leben" aus der Sicht des Arztes, der seelisch Kranke behandelt, Wesentliches gesagt. Der junge Mensch muß auch lernen, daß die Übernahme von Pflichten, das Einhalten gegebener Versprechungen, daß Entbehrungen und der Verzicht auf Annehmlichkeiten unausweichliche Vorbedingungen für sein persönliches Glück ebenso wie für den Zusammenhalt eines Volkes und einer Gesellschaft von Menschen sind. Daß die Erziehung zur Pflichterfüllung in der Vergangenheit in Deutschland für eine böse Sache mißbraucht worden ist, ändert nichts daran, daß die Bereitschaft zur Übernahme von Pflichten für die Bewältigung einer guten Aufgabe unerläßlich ist. Auch Dankbarkeit, Treue und Wahrhaftigkeit, Nüchternheit und Mäßigkeit, Hochherzigkeit und Tapferkeit, verdienen einen Platz in dem Katalog der Erziehungsziele. Erste hoffnungsvolle Ansätze zu einer Neuorientierung der Bildungspolitik sind in Deutschland erkennbar. Das beste Erziehungsmittel ist freilich immer noch das Vorbild der Erwachsenen. Deswegen richtet sich dieser Appell auch an sie, vor allem auch an die Politiker. Das großartige Paulus-Wort "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit", weist aber auch noch in eine andere Richtung. Es besagt nämlich, daß der Mensch, der in äußerer Unfreiheit und im Elend lebt, als Christ dennoch frei ist, wenn der Geist des Herrn bei ihm ist. Dafür hat Paulus mit seinem Märtyrertod selbst ein Beispiel gegeben und in jüngster Zeit wieder Dietrich Bonhoeffer, der noch im Angesicht des eigenen Todes seinen Mitgefangenen christlichen Trost zusprach und gelassen, ja beinahe heiter, den Weg zur Hinrichtungsstätte ging. Mit Dietrich Bonhoeffer verbinden wir das Bild eines Christen, eines christlichen Pastoren, der sich nach langem inneren Ringen einer Verschwörung an-

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schloß, deren Ziel der Tyrannenrnord, das heißt die Beseitigung Hitlers dadurch, daß man ihn tötete, war. Auch diese äußerste Konsequenz darf nach meiner Überzeugung der Christ ziehen. Wenn die Unterdrückung der Freiheit immer schrecklichere Formen annimmt, wenn die menschliche Würde Millionen von Menschen genommen wird bis hin zur Auslöschung ihrer leiblichen Existenz, dann darf der Christ gegen die Urheber dieses Übels Gewalt anwenden. Aber, so glaube ich, eben nur gegen die Urheber des Übels und nicht wahllos gegen ganz unschuldige Menschen. Deswegen können sich nach meiner Auffassung die Befreiungsbewegungen nicht auf den Widerstand gegen Hitler vor 45 Jahren berufen, wenn sie Terror und Gewalt gegen Unbeteiligte und Wehrlose zur Erreichung ihrer politischen Ziele anwenden. Wo unser Glaube uns die Anwendung von Gewalt verbietet, sind wir als Christen darauf verwiesen, durch die Macht des Wortes, durch unser Gebet und durch praktische Hilfe deutlich erkennbar auf die Veränderung freiheitswidriger Zustände hinzuwirken. Das gilt für die Unterdrückung der Freiheit, wo immer sie stattfindet. Wir schulden den Menschen, die sich dagegen auflehnen, unseren Respekt und unsere moralische Unterstützung. Das Schaurigste an Unterdrückung, Mord und Terror, das wir in den letzten 40 Jahren erlebt haben, hat sich in den 70er Jahren in Kambodscha ereignet, und die Christen, die immer wieder, und mit Recht, die Zustände in Südafrika kritisieren, haben wenig Aufhebens davon gemacht. Auch was in Afghanistan geschieht, darf uns nicht gleichgültig sein. Wir müssen uns davor hüten, mit zweierlei Maß zu messen, wenn wir uns gegen die Unterdrückung der Freiheit wenden. VI. Demut Neben den christlichen Geboten, über die ich bisher gesprochen habe: Nächstenliebe, Achtung vor der Würde des Menschen, Bewahrung des Friedens und der Freiheit, steht eine weitere christliche Tugend: die Demut. Über sie möchte ich gleichfalls einige Worte sagen. Als der Erzbischof von Canterbury vor einigen Jahren gefragt wurde, welches seiner Meinung nach die schwerste christliche Sünde sei, antwortete er: "Mangel an Demut". Mich hat dieses Wort zunächst überrascht, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr fand ich, daß es zutraf. Desto mehr wurde mir aber auch klar, wie schwer es ist, das Gebot der Demut zu befolgen. Bis zu einem gewissen Grade schließt die Demut alle anderen Tugenden ein. Die Liebe, die Friedfertigkeit, die Toleranz, den Respekt vor der Würde und Freiheit jedes Menschen. Aber Demut besagt noch mehr. Zu ihr gehört Bescheidenheit, Achtung vor der Meinung eines anderen, auch wenn sie von der eigenen Meinung abweicht. Man muß bereit sein einzuräumen, daß die eigene Meinung falsch sein könnte, 13 Festschrift Schambeck

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daß man irren kann. Eine Aufforderung, die von den meisten Menschen ein großes Maß an Selbstüberwindung erfordert. Die Protestanten lehnen das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes ab, aber seien wir ehrlich: glauben nicht viele von uns, daß sie allein im Besitz der Weisheit sind? Dabei lehrt uns die Geschichte, daß Christen immer wieder geirrt haben, ja auch, daß die Kirchen geirrt haben. Mangel an Demut tritt besonders krass zu Tage, wenn wir die moralische Schwäche eines anderen überheblich anprangern. Hier gilt das herrliche Lutherwort: "Denn so Du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, vor Dir bleiben?" Zur Demut sind wir aufgerufen, wenn wir unter Berufung auf das Wort Gottes in weltliche Auseinandersetzungen eingreifen. Gegen den Bau von Kraftwerken, von Flugplätzen, von Schiffskanälen, gegen die Stationierung von Raketen und neuerdings gegen SDI, hat es leidenschaftliche Proteste von Christen gegeben, die nicht bereit waren, eine andere Meinung gelten zu lassen, ja die oft nicht einmal bereit waren, sich sachkundig zu machen. Auch das gehört zu einem demütigen Verhalten, daß man alle Aspekte einer Sache sorgfältig prüft und nicht nur die, die die eigene Auffassung stützen. Ein eiferndes Verhalten, das Mitmarschieren in Demonstrationen, die in Gewalttätigkeiten ausarten, entspricht nicht dem Gebot christlicher Demut. Und noch etwas anderes gehört zur Demut: Die Erkenntnis unserer Ohnmacht vor der Größe der weltlichen Aufgaben, die uns gestellt sind. Wo ist der, der von sich sagen könnte: Ich kann aus eigener Kraft alle Probleme lösen? Die Überwindung des Ost-West-Konfliktes. Den Abbau der Waffen, vor allem der Kernwaffen. Die Beendigung der Kriege in Nahen und Mittleren Osten. Die Befreiung der Menschen, die durch politische Systeme unterdrückt, gefoltert und getötet werden. Die Beseitigung des Terrors. Die Überwindung der materiellen Not und des Hungers in der Dritten Welt. Die Beseitigung von Ungerechtigkeit in allen unseren Gesellschaftssystemen. Den Schutz der Umwelt vor den zerstörerischen Wirkungen der modemen Zivilisation. Wer könnte sich anmaßen, zu sagen, er habe die Lösung für diese und viele andere Probleme? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, keiner von uns hat sie. Wir können nur unser Bestes tun und zu Gott beten, daß er uns helfen möge. "Mit unserer Macht ist nichts getan", singt Luther, und im Vater Unser beten wir "Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden". Etwas von dieser Demut habe ich bei Clausewitz gefunden, der die Aufgabe eines Staatsmannes mit folgenden Worten beschreibt: ,,zum Staatsmann gehören zwei Eigenschaften:

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einmal ein Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichtes ist, die uns zur Wahrheit führen, und dann Mut, diesem schwachen Licht zu folgen". VII. Bekennen

Die wichtigste Aufgabe der Christen in der heutigen Welt besteht aber nach meiner Überzeugung darin, daß sie ihren Glauben bekennen, so daß jedermann sie als Christen erkennt. Das gilt nicht nur für die Pastoren. Mein Appell richtet sich auch an die christlichen Krankenhäuser. Sind sich die Schwestern, Krankenpfleger und Ärzte dieser Häuser bewußt, daß viele Patienten zu ihnen kommen, weil sie hoffen, bei ihnen mehr als eine medizinische Behandlung zu erhalten, weil sie auf geistlichen Zuspruch hoffen? Das ist nicht nur die Aufgabe der Krankenhauspfarrer. Alle, die an christlichen Krankenhäusern tätig sind, sollten sich in den Dienst dieser Aufgabe stellen. Sie sollten sich auch nicht scheuen, von der Auferstehung der Toten und dem Ewigen Leben zu sprechen, wenn sie es können. Ich appelliere auch an die evangelischen Kindergärten. Ich kenne Beispiele dafür, daß hier die Unterweisung der Kinder im Glauben gänzlich zu kurz kommt und stattdessen mit Schreckensbildern eines kommenden Krieges für die Friedensbewegung geworben wird. Ich appelliere an Arbeiter und Unternehmer, an Beamte und Soldaten, an Eltern und Lehrer, die Christen sind, sich zu ihrem Glauben zu bekennen. Ich appelliere auch an die Staatsmänner und Politiker. Man halte mir nicht entgegen, der Staat müsse in weltanschaulichen Fragen neutral sein. Dieses Argument hindert niemanden zu sagen, daß er Christ ist. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit einer Anrufung Gottes: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ... hat das deutsche Volk ... dieses Grundgesetz beschlossen". Ganz ähnlich lauten die Eingangsworte der Verfassungen von Baden-Württemberg, von NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz. Die Überschrift der schweizerischen Bundesverfassung heißt sogar: ,,Im Namen Gottes des Allmächtigen". Diese Worte gehen auf den ewigen Bund der drei Ur-Kantone von 1291 zurück und sind bis heute stehengeblieben. Eine Kommission, die vor Jahren den Auftrag erhielt, eine Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung vorzubereiten, sprach sich dafür aus, diese Worte stehenzulassen. Ebenso enthält die bayerische Verfassung von 1946 ein Bekenntnis zu Gott.

In ihrer Präambel heißt es u. a. ,,Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine

Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung

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vor der Würde des Menschen ... geführt hat, ... gibt sich das bayerische Volk nachstehende demokratische Verfassung". Von den österreichischen Verfassungen bezieht sch die Tiroler Landesordnung ausdrücklich auf Gott. In ihrer Präambel wird unter den geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol an erster Stelle "die Treue zu Gott" genannt. In den Verfassungen mehrerer deutscher Länder wird das religiöse Thema im Zusammenhang mit der Erziehung der jungen Menschen angesprochen. Die bayerische Verfassung nennt als oberste Bildungsidee u. a. "Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen." Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe zu erziehen", heißt es in der Verfassung von Baden-Württemberg. Auch die hessische Verfassung nennt die Nächstenliebe als Erziehungsziel. Nach der Verfassung von Nordhrein-Westfalen ist ,,Ehrfurcht vor Gott" vornehmstes Erziehungsziel. Ähnliche Bestimmungen enthalten die Verfassungen von Rheinland-Pfalz und des Saarlandes.

Aus alledem geht hervor, daß die Männer und Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die deutschen Verfassungen ausarbeiteten, die religiöse Dimension voll einbezogen haben. Daran sollten wir auch erinnern, wenn wir in diesem Jahr des 40. Jahrestages der deutschen Kapitulation gedacht haben. Nach dem Zusammenbruch besannen sich die Deutschen auf ihren christlichen Ursprung und gaben dem deutlichen Ausdruck. Daher ist ein Staatsmann oder Politiker, der in der Bundesrepublik Deutschland heute von Gott spricht, dazu auch verfassungsrechtlich voll legitimiert. Gewiß darf er die Gefühle Andersdenkender nicht verletzen. Das ist eine Frage des Taktes und der richtigen Formulierung. Aber darf er nicht z. B. von der Existenz des Bösen in der Welt reden? Was sollen wir denn anderes sagen angesichts unvorstellbarer Grausamkeiten und Terrorakte, deren Zeugen wir zu unseren Lebzeiten geworden sind? Die Erklärungsversuche von Psychologen und Soziologen, die diese Erscheinungen auf seelische oder gesellschaftliche Störungen zurückführen wollen, greifen zu kurz. Wir haben es mit einer existentiellen Bedrohung der Menschheit zu tun, vor der kaum einer gefeit ist. Deswegen beten wir ja auch "Erlöse uns von dem Bösen". Es heißt im Vater Unser nicht, ,,Erlöse uns von Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Zwang und Ausbeutung", so schlimm diese Übel sind, sondern es heißt: ,,Erlöse uns von dem Bösen". Meine größte Sorge im Hinblick auf die Zukunft sind nicht die Atomwaffen als solche, so schrecklich sie sind, ist nicht die Zerstörung der Umwelt, so sehr sie uns beunruhigt, und ist nicht die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt, so schwer es sein wird, dafür eine Lösung zu finden. Meine größte Sorge ist,

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daß wir in unserer Zivilisation die religiöse Dimension verlieren könnten. Dann allerdings könnte das Ende über uns hereinbrechen. Wenn der Mensch sich selbst zum Maßstab aller Dinge erhebt, wenn er das Gefühl dafür verliert, daß er letzten Endes aus eigener Kraft die ihm gestellten Aufgaben nicht lösen kann, sondern daß er dazu Gottes Hilfe braucht, daß er aber umgekehrt, wenn er versagt, auf Gottes Gnade hoffen kann - wenn dieses Gefühl verlorengeht, dann sieht es schlimm aus. Zu den Opfern des Nationalsozialismus in den Jahren zwischen 1933 und 1945 gehörte auch ein junger sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, Car10 Mierendorff. Er war viele Jahre im KZ, und als er schließlich entlassen wurde, sagte er zu einem Freund, dem Fürsten Fugger, mit dem er die Lagerhaft geteilt hatte: "Wissen Sie, als Atheist bin ich in das Konzentrationslager gekommen, und nach dem, was ich dort erlebt habe, verließ ich es als gläubiger Christ. Es ist mir klargeworden, daß ein Volk ohne metaphysische Bindung, ohne Bindung an Gott, weder regiert werden, noch auf die Dauer blühen kann". Das waren Erfahrungen, die ein tapferer Mann, ein großer Idealist, in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors gemacht hat, in einer Zeit der Gottlosigkeit und der Verfolgung der Christen. Aber glauben wir doch nicht, daß Gottlosigkeit und Christenverfolgung aus unserer Welt verschwunden sind. Wenn der Mensch entartet, ist er zu allem fahig. Die stärkste Kraft, die ihn davor bewahrt, ist der Glaube und das Gebot der Nächstenliebe. Dies zu sagen, immer wieder zu sagen, überall zu sagen, ist nach meiner Auffassung die wichtigste Aufgabe des Christen in unserer Zeit.

STELLUNG UND FUNKTION DES MITfELSTANDES IM DEMOKRATISCHEN RECHTSSTAAT Von Ludwig Fröhler

I. Demokratischer Rechtsstaat und Gerechtigkeit Der Begriff des Rechtsstaats wird in den Verfassungen Österreichs und Deutschlands nicht definiert. Das Verständnis vom Inhalt eines Rechtsstaats ist im Laufe der Zeit gewachsen, hat sich aber auch gewandelt. 1 Zunächst wurden vor allem formale Kriterien zu seiner Charakterisierung herangezogen. Zu diesen weiterhin gültigen Merkmalen gehören: - Aufstellung und Garantie einer Rechtsordnung - Gewaltenteilung bzw. Gewaltentrennung, d. h. Aufteilung staatlicher Macht auf verschiedene Organe bei gegenseitiger Kontrolle, - Bindung der gesetzgebenden Organe an die verfassungsmäßige Ordnung - Bindung von Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht sowie - Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte. Dabei dienen die genannten Kennzeichen bereits der Gewährleistung des materiellen Kriteriums der Gerechtigkeit, das immer mehr Gewicht erlangte. Die Rechtsnormen, die die Rechtsordnung bilden, werden nicht lediglich als Ausflüsse bzw. Ergebnisse von Interessen und Machtverhältnissen begriffen - auch wenn sie stets Erscheinungen der jeweiligen Gegenwart sind - , sie haben gleichfalls eine Interessenbewertung - orientiert an der Gerechtigkeit - zu beinhalten. Einer Rechtsordnung wird schließlich eher Folge geleistet, wenn die ihr unterstellten Personen diese Ordnung als "gerecht" erachten, sie somit für "legitimiert" halten. In diesen Fällen kann die Rechtsordnung die mit ihr verbundene Ordnungsfunktion, d. i. auch die Regelung des Zusammenlebens der ihr Unterworfenen, erfüllen. Dementsprechend wird als Rechtsstaat der "auf Verwirklichung und Sicherung der Gerechtigkeit zielende Staat" 2 charakterisiert bzw. vom Rechtsstaat wird die Sorge "für Gerechtigkeit und Rechtssicherheit" 1 Herbert Schambeck, Verfassungsstaatlichkeit und Integration in Europa, in: Bayerischer Monatsspiegel (Organ des Peutinger-Collegiums e. V.) 1992, Nr.5, S. 32 ff. (S. 33); Ernst Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (hrsg. von E. Benda, W. Maihofer, H.-I. Vogel unter Mitwirkung von K. Hesse), Berlin, New York 1983, S. 477 ff. (S. 477 /478). 2 Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (= VVDStRL) 12 (1954), S. 37 ff. (S. 39 mit Verweis auf Hans Peters, Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. 3, S. 67).

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verlangt 3. Der Rechtsstaat ist damit nicht länger bloßer Gesetzesstaat; es kam zur Abkehr vom juristischen Positivismus, der venneintlichen Eigengesetzlichkeit des Rechts. Bei der Gestaltung seiner Rechtsordnung, ihrer Ausführung und der Kontrolle der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt durch die entsprechenden Organe ist der Staat nach heutiger Auffassung der materialen Gerechtigkeitsidee verpflichtet. 4 Schwierigkeiten wirft die Frage auf, wie die von den Bürgern gewünschte Gerechtigkeit bestimmt und erreicht werden kann. Eine allgemeingültige Defmition von Gerechtigkeit ist nicht anzutreffen. Klassische Wege ZU ihrer Detennination waren z. B. der naturrechtliche Ansatz, der Ansatz Hegels von der historischen Vernünftigkeit, die Glückse1igkeitslehre bzw. der Eudämonismus, der Ansatz der Gleichbehandlung oder der bei Kant zu fmdende ethische Fonnalismus mit der Verallgemeinerungsfähigkeit als Richtschnur 5 • Bei ihnen findet sich entweder der Nachteil, daß sie mit unbestimmten Topoi operieren ("Natur der Sache", "aequitas"), daß die gefundenen fonnalen Abgrenzungskriterien wiederum vorausgesetzte Wertungen - Präjudizien - enthalten 6 oder daß sie Entscheidungen nur im Rückblick treffen 7 und damit keine Lösung für die Gegenwart liefern können. Das heißt: es ist den Menschen allenfalls ein Näherkommen an eine relative, nicht aber unbedingt an eine absolute Gerechtigkeit möglich. Selten lassen sich Übereinstimmungen in den Überzeugungen dergestalt feststellen, daß alle Menschen ohne Ausnahme nur eine von mehreren Lösungsalternativen als die einzig gerechte und somit richtige oder wahre ansehen. In der Regel sind bei einer Vielzahl von Personen auch unterschiedliche Ansichten anzutreffen, die sich dazu noch im Laufe der Zeit ändern können. So können Minderheitspositionen zu Mehrheitsmeinungen werden und umgekehrt. Ewig geltende Wahrheiten sind allenfalls in geringer Zahl überhaupt feststellbar. Die verschiedenartigen Vorstellungen von Gerechtigkeit können durch bestimmte Lebenserfahrungen bedingt, erziehungsbedingt oder auch möglicherweise anlagebedingt sein. Demzufolge gestaltet sich die für eine funktionsfähige Gemeinschaftsordnung notwendige Entscheidungsfindung, wann etwas als gerecht anzusehen ist, aufwendig. Sie kann sich in einem demokratischen Rechtsstaat nur unter Beachtung demokratischer Anforderungen vollziehen. Typisch für einen demokratischen Rechtsstaat sind: Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk 3 Wilfried Berg, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit, in: VVDStRL 51 (1992), S. 46 ff. (S.47). 4 Herbert Schambeck, Von den Aufgaben des Juristen, Juristische Blätter 1992, Heft 11, S. 677 ff. (681); weitere Nachweise bei Ludwig Fröhler, Die verfassungsrechtliche Grundlegung des sozialen Rechtsstaats in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Österreich, München 1967, S. 10 ff. (S. 12). 5 Einen Überblick über diese Lösungsansätze gibt Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1989, S. 88 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 6 Z. B. wenn Richtmaß für das Gesollte die wahre Natur sein soll. 7 Vgl. den prägnanten Satz: ,,Die Weltgeschichte ist das Weltgericht".

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bzw. seine Repräsentanten (nicht aber durch einen bestimmten Stand oder eine bestimmte Klasse), politische Gleichheit der Bürger und Mehrheitsentscheidungen in Fällen divergierender Auffassungen. D. h. zunächst ist ein kreativer Akt der Aufstellung mehrerer Lösungsentwürfe notwendig. Daran anschließend ist bedeutsam, was der Einzelne für gerecht hält; sein Urteil ist gefordert. Er wird sein Ergebnis u. a. im Wege logischer Schlußfolgerung, durch Überprüfung anband von Tatsachenerfahrungen, unter Zweckrnäßigkeitserwägungen und unter Berücksichtigung des eigenen Rechtsgefühls gewinnen. Zugleich fließt auf diese Weise ein gewisses irrationales Element mit in die Abwägung ein; die Entscheidung, zu der der Einzelne gelangt, ist angesichts der menschlichen Fehlbarkeit nicht die schlechthin ideale, sondern nur eine eventuell etwas bessere unter mehreren möglichen. Sie wird zudem bei Auftauchen neuer Probleme oft abgewandelt - z. B. eingeschränkt - , da immer auch der Anwendungsfall, für den die Problemlösung entwickelt wurde, mit zu berücksichtigen ist. Die gefundene Entscheidung besitzt folglich in der Regel keine absolute Allgemeingültigkeit. Letztlich ist also Grundlage für die Bestimmung von Gerechtigkeit die Gewissensentscheidung des Einzelnen. Er kann seinerseits die ihm abverlangte Entschließung keiner anderen - höheren - Instanz überlassen, selbst wenn ihm göttliche Gebote als Richtschnur dienen. Das individuelle Urteil kann aber in einer Demokratie allein dann mit der in einer Frage ermittelten oder zu ermittelnden Gerechtigkeit gleichgesetzt werden, wenn es für die Mehrheit der Bevölkerung konsensfahig ist. Als Ergebnis ist festzuhalten: Der demokratische Rechtsstaat soll idealerweise der Schaffung und Erhaltung eines materiell gerechten Zustands dienen. Nicht so sehr die Diskussion, ob eine absolute Gerechtigkeit schlechthin existiert bzw. vorstellbar ist, steht derzeit im Vordergrund; sondern die Ermittlung der als Grundlage angesehenen mehrheitlichen Übereinstimmung in Gerechtigkeitsfragen erscheint von größerer Wichtigkeit. Der Konsens der Majorität ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: zum einen für die Annäherung an eine als übergeordnet angesehene Gerechtigkeit (objektive Gerechtigkeit) und zum ander~n zur Verwirklichung dieser objektiven Gerechtigkeit bei Anwendung auf den Einzelfall und damit für die dem Einzelnen zuteil werdende (und damit subjektive) Gerechtigkeit.

11. Bedeutung des Mittelstandes für Ermittlung und Ausübung von Gerechtigkeit Im Rahmen der Bestimmung einer möglichst großen Einhelligkeit der Bürger bei Gerechtigkeitsüberlegungen ist erheblich, ob und inwieweit die einzelnen Bürger eine freie Gewissensentscheidung fällen. Ihnen muß die Möglichkeit eingeräumt sein, die jeweiligen Vor- und Nachteile verschiedener Entscheidungsmöglichkeiten abzuwägen und sich für die ihrer Ansicht nach bessere und damit gerechtere Alternative zu entscheiden. Das Ergebnis sollte rational begründbar

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bzw. vernunftbedingt und nicht rein durch Interessenvorteile geprägt sein. Die Bürger sollten überzeugt, nicht lediglich überredet sein. Bloße Mitläuferansichten sind nicht gefragt. 8 Gefordert wird folglich - neben einer möglichst wertungsfreien Information über die entscheidungserheblichen Tatsachen und denkbaren Lösungen - die freie Entfaltung von Meinungen und Gegenmeinungen. Meinungsmanipulationen, die sich nie ganz ausschließen lassen, sind möglichst gering zu halten. Zur Ermittlung von Gerechtigkeit tragen rechtsstaatliehe Verfahrensgrundsätze und die Tatsache, daß einige Grundsätze des Rechtsstaats sowie bestimmte Grundrechte in einem demokratischen Rechtsstaat als unantastbar festgelegt sind, bei. 9 Gleichwohl ist es nicht undenkbar, daß selbst in einem demokratischen Rechtsstaat die Bevölkerungsmehrheit aufgrund bestimmter Gegebenheiten und Einflüsse für etwas votiert, was sie - unbeeinflußt - als Ungerechtigkeit einstufen würde; Entscheidungen der Majorität sind nicht eo ipso gerecht. In der Realität einer pluralistischen Gesellschaft besteht die öffentliche Meinung zu einem großen Teil aus Gruppenmeinungen. Eine solche kann allerdings nicht immer zwingend mit der Ansicht der Mehrheit der Gruppenzugehörigen gleichgesetzt werden. Gruppenmitglieder vertreten zuweilen insgeheim abweichende Auffassungen, die sie aber aus vielerlei Gründen nicht zu äußern wagen. Die äußerliche oder selbst die nur innerliche Bindung an eine Gruppe führt unter Umständen dazu, daß der Einzelne sich eine Überzeugung zu eigen macht, die als Meinung der Gruppe gilt. Auf diese Weise können Gegenmeinungen verdrängt werden. Der Einfluß von Gruppenmeinungen auf die öffentliche Meinung insgesamt wie auf die Meinungsbildung des Einzelnen ist bedeutsam, da sich praktisch jeder zu einer bzw. zu verschiedenen Gruppen zugehörig fühlt. Es gilt daher, Beeinflussungen bei der Willensbildung möglichst gering zu halten, um herauszufinden, was von der breiten Mehrheit als gerecht angesehen wird. Zwar lassen sich Meinungsmanipulationen - vor allem die der subtileren Art - praktisch kaum ausschließen, schon durch die Wortwahl ist eine Beeinflussung möglich 10; jedoch ist Indoktrination in einem erheblichen Ausmaß besonders bei krassen Unterschieden in der Gesellschaft und bei wirtschaftlich stark abhängigen Personen ausführbar. Daher ist es wünschenswert, in der Bevölkerung eine breite Schicht zu haben, die nicht in Abhängigkeitsverhältnisse in einem Maße eingezwängt ist, daß sie regelmäßig nicht mehr nach eigenen vernunftbegründeten Überlegungen entscheiden kann, was ihrer Ansicht nach als gerecht zu gelten hat. 11 Eine solche ungebundene Bevölkerungsschicht stellt der Mittelstand dar,

Reinhold Zippelius, s. Fn. 5, S. 82. Zur Stabilitäts- und Kontinuitätsfunktion einer Verfassung mit einem festen Bestand bleibender Werte vgl. auch Herbert Schambeck, Über Grundwerte und Grundprinzipien europäischer Verfassungen, in: ÖJZ 1992, Heft 22, S. 745 ff. (S. 746). 10 Vgl. z. B. die auf denselben Sachverhalt angewandte Wortwahl: "friedensschaffende Maßnahme" / "Kampfeinsatz" . 8

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für den eine allgemeingültige Definition nicht existiert. Die Begriffsbestimmungen, die von verschiedenen Wissenschafts sparten wie Politologie, Soziologie oder den Volks- oder Betriebswissenschaften vorgenommen werden, differieren voneinander. Formal läßt sich der Mittelstand gleichwohl wie folgt abgrenzen: "Mittelstand ist die Schicht jenseits der sozialen Extreme, die Schicht, die nicht reich genug ist, um andere zu beherrschen, aber wohlhabend genug, um nicht von anderen beherrscht zu werden."12 Zu diesen Gütern, die die Unabhängigkeit von anderen Personen, Gruppierungen etc. begründen, gehört dabei nicht nur das materielle Vermögen. Im Mittelstand ist darüber hinaus regelmäßig ein bestimmtes Bildungsniveau vorhanden, das es erleichtert, Informationen von den durch den Informanten üblicherweise gleich mit überbrachten Wertungen zu befreien, um dann logisch nachvollziehbare Abwägungen vorzunehmen. Ist die Mittelschicht in dem geschilderten Sinne einer relativen Unabhängigkeit in einem demokratischen Rechtsstaat verhältnismäßig breit, hat sie entsprechendes Gewicht. Damit wird es zugleich erschwert, zur Indoktrination von Personen beispielsweise zu Formen der Demagogie zu greifen, ohne daß sie als solche entlarvt wird. Der Mittelstand trägt somit dazu bei, daß sich Meinungen - auch und vor allem in Fragen der materiellen Gerechtigkeit - unabhängiger bilden können. Damit ist das, was als mehrheitlicher Konsens letztlich in staatlichen Entscheidungen zum Ausdruck kommt, daneben zugleich stärker legitimiert, wenn die entsprechenden staatlichen Gerechtigkeitserwägungen sich auf die Mehrheit des den Staat tragenden Staatsvolks stützen können.

III. Demokratischer Rechtsstaat und Sozialptlicht Für westliche Demokratien wird zunehmend neben der Rechtsstaatlichkeit die Sozialstaatlichkeit als charakterisierend angesehen. 13 Sie soll zu dem Mindest11 Herbert Schambeck, Staat, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zu Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 18), Berlin 1992, S. 40. 12 Ludwig Fröhler, Die staatsrechtliche Relevanz des Mittelstandes, München 1968, S.25. 13 Zum Werden Österreichs auf einfachgesetzlichem Weg zum sozialen Rechtsstaat vgl. Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft am 6. 12. 1978, Zusammenfassung von Franz Schneider, in: ÖJZ 1979, Heft 20, S. 546 f. (S. 547); Herbert Schambeck, Interessenvertretung und Sozialpartnerschaft, Wirtschaftspolitische Blätter 1970, S. 25 ff.; derselbe, Landesbericht Österreich, in: Föderalismus und Regionalismus in Europa, Verfassungskongreß in Bonn vom 14.-16. September 1989 (hrsg. von Fritz Ossenbühl), Baden-Baden 1990, S. 55 ff. (102 f.); derselbe, Staat, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, s. Fn. 11, S. 12 f.; derselbe, Verfassungsrecht und Wirtschaftsrecht in Österreich, in: Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft, Festschrift für Ludwig Fröhler zum 60. Geburtstag (hrsg. von Peter Obemdorfer und Herbert Schambeck), Berlin 1980, S. 41 ff.

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standard eines Verfassungs staats zählen 14. Sozialstaatlichkeit steht wiederum mit dem Prinzip der Gerechtigkeit in Verbindung, und zwar dreht es sich speziell um die soziale Gerechtigkeit. Entsprechend den obigen Ausführungen zum Gerechtigkeitsgedanken allgemein, muß im gesamten Recht eines Rechtsstaats der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit und damit auch der der sozialen Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen. Insofern ist dem Rechtsstaat bereits der Sozialstaatsgedanke inhärent. Trotzdem ist in der Literatur nicht unumstritten, in welchem Verhältnis Rechtsstaat und Sozialstaat zueinander stehen. Durchgesetzt hat sich wohl die Auffassung, daß Sozialstaatsprinzip und Rechtsstaatsprinzip gleichwertig und gleichrangig einzuordnen sind und sich gegenseitig durchdringen. D. h. ein Staat ist nur dann Rechtsstaat, wenn er gleichzeitig Sozialstaat ist und umgekehrt ist ein Staatswesen nur dann Sozialstaat, wenn es ebenso Elemente eines Rechtsstaats aufweist. 15 Dabei läßt sich eine immer weitere Entfernung weg von der Idee des liberalen Rechtsstaats feststellen. 16 Vom liberalen Rechtsstaat wurde eine möglichst geringe Einmischung in die Sphäre des Bürgers verlangt. Dem sozialen Rechtsstaat wird dagegen geboten, eine aktivere Rolle bei dem Ausgleich sozialer Gegensätze zu übernehmen, soziale Gerechtigkeit herzustellen und zu erhalten, um so sozial Schwächeren gleiche Chancen zu eröffnen. 17 Doch kann der Staat insofern allenfalls äußerst behutsam vorgehen und Veränderungen bewirken, da zum einen bereits Grenzen durch die (geringe finanzielle) staatliche Leistungskraft und -fähigkeit gesetzt sind. Zum anderen hat der Staat immer zu beachten, daß die Förderung bestimmter Gruppen im Einklang speziell mit dem Gemeinwohl und allgemein in den Formen und innerhalb der Grenzen des Rechts erfolgt, damit auf diese Weise keine neuen Ungerechtigkeiten geschaffen werden. Die Umsetzung sozialstaatlicher Elemente soll nicht in einem reinen Wohlfahrts- und Versorgungs staat enden. Gleichheit im Sinne von Gleichmacherei ist im Rechtsstaat nicht erwünscht. Deshalb erscheint es angebracht, nicht quasi "von oben" dermaßen reglementierend einzugreifen, daß besser gestellten Personen etwas direkt weggenommen und an Unterprivilegierte verteilt wird, da dies zu einem allgemeinen Leistungsunwillen führen kann. Der Staat sollte sich nicht zum Vormund seiner Bürger machen, die daraufhin die eigene Fähigkeit zum sozialen Verhalten verlieren könnten. Sinnvoller dürfte es sein, schlechter gestellten Personen angemessen Gelegenheit einzuräumen, bei Erbringen entsprechender Leistungen in eine sozial höherstehende Bevölkerungsschicht aufzusteigen. Schon aus Gründen der Menschenwürde sollte aber in jedem Fall das Existenzminimum gesichert sein. Auch die Auffassungen, was 14 Helmut Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff. (S. 10). 15 Ludwig Fröhler, Die verfassungsrechtliche Grundlegung ... s. Fn. 4, S. 9. 16 Herbert Schambeck, Österreichs Wirtschaft und seine Kontrolle, in: ÖJZ 1971, Heft Nr. 22, S. 589 ff. (S. 589). 17 Herbert Schambeck, Demokratie und Gerichtsbarkeit, Österreichische Richterzeitung, Heft 10 /1992, S. 219 ff. (S. 221).

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als sozial gerecht anzusehen ist, unterliegen dem Wandel im Laufe der Zeit. Folglich ist immer wieder zu prüfen, ob breite Übereinstimmung im Hinblick auf das herrschende Sozialverständnis besteht. Zum Wesen des sozialen Rechtsstaats gehört die Grundrechtsmaximierung. D. h. die Zahl der Grundrechtsträger soll möglichst groß sein, ohne daß die Qualität der Grundrechte leidet. Mit anderen Worten: "Die zahlenmäßige Maximierung der Grundrechte muß zu einem Optimum an existentieller Gleichheit und die graduelle Maximierung der Grundrechte zu einem Optimum der individuellen Freiheitssphäre führen." 18 Daneben ist jedoch noch die Erkenntnis bedeutsam, daß Rechte und sogar Grundrechte des Einzelnen immer mit Rechten / Grundrechten anderer Personen der staatlichen Gemeinschaft kollidieren. Niemandem kann daher ein absoluter Freiheitsraum gewährt werden, sondern nur einer, der durch die Rechte der Mitmenschen begrenzt wird. Der Sozialstaat hat damit zugleich die Minderung persönlicher Freiheiten zur Folge. Um das Zusammenleben erträglich zu gestalten, ist die Rechtsordnung immer wieder darauf hin zu überprüfen, ob sie sozial gerecht gestaltet ist und ob ein sozial gerechter Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen der einzelnen Personen herbeigeführt wird. Somit weisen alle Rechte eine zumindest immanente soziale Bindung auf, das Gleichbehandlungsgebot steht zwar im Vordergrund, obendrein aber auch die Frage, welchem Recht im Fall der Kollision von Rechten allgemein oder im Einzelfall unter den Aspekten sozialer Gerechtigkeit der Vorrang gebührt. Der Staat wäre überfordert, wenn ihm in allen Fällen allein die Durchführung der für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit erforderlichen Maßnahmen obliegen würde. Er darf durchaus auch auf die individuelle Eigenvorsorge, die Übernahme von Verantwortung durch Selbstverwalt~ngskörperschaften und freie Verbände setzen sowie die Ausweitung derjenigen' Bevölkerungsschicht fördern, bei der soziale Gerechtigkeit am ehesten gewährleistet ist. Wir haben also auf der einen Seite eine Sozialpflichtigkeit der Bürger, sozialverträglich zu handeln und soziale Ungerechtigkeiten zu beheben bzw. auszugleichen, und auf der anderen Seite die Pflicht staatlicher Organe, für die Selbstverantwortlichkeit ausreichend Raum zu lassen bzw. ihr Beistand zu leisten. Schlagwörter sind insofern "Solidarität" und "Subsidiarität". Eine besondere Rolle nimmt im Rahmen der Sozialstaatlichkeit die Eigentumsordnung ein. Eine breite Verteilung des Eigentums führt einerseits regelmäßig zu einer starken staatsbildenden und staatserhaltenden sozialen Schicht. Andererseits ist das Eigentum für den einzelnen Menschen, für seine Freiheit und seine Persönlichkeitsentfaltung bedeutungsvoll. 19 Es bietet den Anreiz zur Entfaltung Ludwig Fröhler, Die staatsrechtliche Relevanz des Mittelstandes, s. Fn. 12, S. 30. Ludwig Fröhler, Die staatsrechtliche Relevanz des Mittelstandes, s. Fn. 12, S. 32 mit weiteren Nachweisen. 18 19

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und zu Leistung. Folglich ist eine möglichst große Zahl von Eigentümern anzustreben, ohne daß die Qualität des Eigentums allzu herabgesetzt wird. D. h. die Eigentumsordnung hat nicht allein die bereits Eigentum Besitzenden zu schützen bzw. im Enteignungsfall für eine Entschädigung zu sorgen, sondern sie muß es auch dem Einzelnen ermöglichen, vom Nichteigentümer zum Eigentümer werden zu können.

IV. Bedeutung des Mittelstandes zur Stützung des sozialstaatlichen Elements Im Mittelstand, und hier insbesondere bei dem sog. "selbständigen" Mittelstand (das sind vor allem selbständige Gewerbetreibende und Freiberufler), findet sich in der Regel eine breit gestreute Eigentumsansammlung. Nicht einige wenige haben außergewöhnlich viel Eigentum angehäuft, verfügen über dementsprechende Macht und können andere dominieren, sondern eine Vielzahl von Personen besitzt adäquates Eigentum. Dieses Eigentum, das einen gewissen Wohlstand verleiht, von staatlicher Hilfe unabhängig macht, dient in erster Linie der freien Entfaltung der Persönlichkeit und nicht der Beherrschung Anderer. Im Mittelstand ist damit eine als gerecht empfundene Eigentumsordnung verbreitet. Dem Gebot der Grundrechtsmaximierung ist hier in optimaler Weise entsprochen, da die Beschränkung auf eine mittlere Besitzgröße an Eigentum seine breite Streuung und damit eine große Beteiligung der Bevölkerung erlaubt. Daher gilt es, den Mittelstand auszubauen, damit eine möglichst große Zahl von Personen zu Eigentum gelangt, ohne daß sich starke Ungleichheiten zwischen Besitzenden und den noch Besitzlosen ergeben. Wird die Bezeichnung "Mittelstand" eng aufgefaßt (werden also nicht Beamte, Angestellte sowie qualifizierte Facharbeiter dazu gerechnet, sondern allein Handwerker, Landwirte, Einzelhändler, bestimmte andere Gewerbetreibende und Freiberufler), zeigt sich, daß diese Gruppe der Eigenverantwortlichkeit und Eigenvorsorge viel Aufmerksamkeit widmet. Der selbständige Mittelstand weiß mit der Selbstverantwortlichkeit umzugehen. Er trifft für Schicksalsfälle, Notsituationen sowie den Ruhestand meistens Vorsorge und arbeitet zudem häufig bis ins hohe Alter. Er verläßt sich nicht in erster Linie auf den staatlichen Beistand. Auf diese Weise werden zugleich staatliche Stellen entlastet, und es ist ihnen so wiederum eher möglich, sozial Schwächeren Hilfe angedeihen zu lassen, wenn der Mittelstand bloß in wenigen Ausnahmefällen auf Beihilfe und Unterstützung durch den Staat angewiesen ist.

V. Demokratischer Rechtsstaat und Wirtschaftsform Die Staatsform stellt regelmäßig nur den Überbau z~ der sozialökonomischen Situation dar, die als besonders erstrebenswert angesehen wird; sie" steht somit

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in Beziehung zur Wirtschafts- und Gesellschaftsfonn. Jede dieser Strukturen wird dabei durch die anderen geprägt und prägt sie wiederum mit. 20 Inhalte und Ausfonnungen sind nicht starr, sondern in pennanentem Wandel begriffen. Gekennzeichnet ist die Wirtschaftsordnung westlicher Demokratien in der Regel durch zwei Elemente, das marktwirtschaftliehe und das sozialstaatliche. Von der sog. freien Marktwirtschaft wurde in der Nachkriegszeit der Wandel zur sozialen Marktwirtschaft vollzogen. 21 Ein Wesensmerkmal der Marktwirtschaft ist die Privatautonomie, d. h. die freie eigenverantwortliche Betätigung auf dem Markt als Anbieter und Nachfrager. Parallel dazu folgt aus dem Sozialstaatsprinzip darüber hinaus die Forderung an den Staat, den Wirtschaftsablauf nicht allein den Selbstregulierungskräften des Marktes zu überlassen, vielmehr ihn global zu steuern, um die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft zu stützen und abzusichern 22 und auf diese Weise die Bildung von Machtmißbrauchsmöglichkeiten zu verhindern. Gleichwohl sollen die Einflüsse des Staates auf die Wirtschaft ihrerseits nicht so stark sein, daß eine staatliche Lenkung der Wirtschaft im Sinne einer Zentralverwaltungswirtschaft erreicht wird. Mit anderen Worten: Das grundlegende Prinzip ist die Wirtschaftsfreiheit. Und hier sind folgende Merkmale Bedingung für die Erzielung günstiger Ergebnisse: - Wettbewerb aufgrund dezentraler Unternehmensstrukturen (also keine Monopolbildungen), - genügende Kenntnisse und Fertigkeiten sowohl im technischen als auch im kaufmännischen Bereich, - Wille und Fähigkeit zum Leistungswettbewerb. Aber dort, wo die durch den Markt geschaffenen Resultate sozial nicht befriedigen können, sollen sie durch ergänzende Staatsinterventionen korrigiert bzw. verhindert werden.

VI. Bedeutung des Mittelstandes für die Wirtschaft In einer marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaft kommt dem selbständigen Mittelstand eine ordnungspolitische Schlüsselrolle zu, da er den Voraussetzungen für einen funktionierenden Markt am ehesten gerecht wird. Die Vielzahl mittelständischer Wirtschaftsunternehmen gewährleistet den Wettbewerb, sei es daß sie als Anbieter ihrer Waren und Dienstleistungen auf dem Markt oder als Nachfrager der für ihren Betriebsablauf erforderlichen Produkte und Dienste auftreten. Sie bilden damit ein Gegengewicht zu bestehenden Monopolen.

20 21

Herbert Schambeck, in FS Fröhler, s. Fn. 13, S. 4l. Zur Vereinbarkeit der österreichischen Verfassung mit der sozialen Marktwirtschaft

vgl. Herbert Schambeck, in FS Fröhler, s. Fn. 13, S. 54 ff. mit weiteren Nachweisen. 22 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl. München 1984, S.904; Herbert Schambeck, in: Festschrift Fröhler, s. Fn. 12, S. 55 ff.; HansJürgen Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, in: VVDStRL 35 (1977), S. 55 ff. (S. 56).

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Mittelständische Unternehmen tragen zur Funktionsfahigkeit und Leistungsfähigkeit der gesamten Wirtschaft bei, indem sie aufgrund ihrer größeren Flexibilität sich rascher an veränderte Marktsituationen, wandelnde Bedürfnisse der Verbraucher, sich ändernde technische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen anpassen können und als Zulieferer für Industrie- und andere Großunternehmen die von diesen benötigten Leistungen erbringen. Mittelständische Unternehmen sind flächendeckender verbreitet, die Versorgungswege für die Bevölkerung sind kürzer. Von diesen Unternehmen wird ein Großteil des für die Wirtschaft erforderlichen Nachwuchses ausgebildet; zudem werden Aufstiegsmöglichkeiten für Personen aus der Unterschicht geboten. Gerade bei mittelständischen Betrieben sind Inhaber bzw. Leiter in der Regel gründlich sowohl im fachtechnischen als auch im kaufmännischen Bereich ausgebildet. Sie beschäftigten sich vielfach mit der Produktion oder der Erbringung von Dienstleistungen in Bereichen, für die die Ablegung einer Meisterprüfung notwendig ist und haben daher eine mehrjährige gründliche Ausbildung durchlaufen und die in der Prüfung geforderten Kenntnisse und Fertigkeiten nachgewiesen. Zudem nehmen die den Wirtschaftskarnmern zugehörigen Personen an Weiterbildungsmaßnahmen sowie an Leistungswettbewerben ihres Fachbereichs teil, die die Kammerorganisationen in verstärktem Maß anbieten. Dies läßt den Verbraucher wiederum von einem mittelständigen Unternehmen zurecht eine qualifizierte fachgerechte Leistung erwarten. Selbst wenn im Mittelstand nicht in gleichem Maße finanzielle Mittel für Forschungsprojekte ausgegeben werden wie beispielsweise in der Großindustrie, so haben doch Mittelständler zahlreiche Erfmdungen gemacht, die sich vor allem als ausgesprochen praktische Lösungen vielerlei Probleme - auch von solchen des Alltags - darstellen. Obwohl dem Mittelstand ein gewisser Hang zum Konservativismus nachgesagt wird, hat er sich in den meisten Bereichen eher als innovationsfördernd denn als innovationshemmend erwiesen. Mittelständische Wirtschaftsunternehmen haben nach Kriegen oder nach Krisensituationen immer entscheidend zum wirtschaftlichen Wiederaufbau beigetragen. Die besonders intensive Verbindung zwischen Betriebsinhaber und Betrieb in mittelständischen Bereichen, die sich daraus ergibt, daß der Inhaber üblicherweise nicht einzig als Geldgeber auftritt, sondern selbst aktiv im Betrieb mitarbeitet, beinhaltet zugleich eine besondere Leistungsbereitschaft und den Willen mittelständischer Unternehmer, sich dem Leistungswettbewerb zu stellen. Der Grundtendenz nach liegt das Gewicht bei mittelständischen Unternehmen auf der Seite des persönlich bestimmten Wirtschafteris. Damit verbunden ist ein großes Verantwortungsbewußtsein für das Unternehmen insgesamt und für seine Arbeitnehmer. Arbeitskräfte werden bei mittelständischen Betrieben weniger rasch entlassen als beispielsweise in der Industrie oder in sehr kleinen Betrieben. Die Arbeitnehmer fühlen sich in mittelständischen Betrieben eher dem Betrieb zugehörig und sind zufriedener als in der Großindustrie, bei der sie ihrer Ansicht

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nach weniger als eigenständige Persönlichkeit denn als reine Arbeitskraft eingestuft und behandelt werden. Nicht zuletzt dürfte diese Identifikation eines Arbeitnehmers mit seiner Arbeitsstätte mit die Ursache dafür sein, daß selbst Fehlzeiten in mittelständischen Betrieben im Vergleich zu industriellen Betrieben im Durchschnitt weniger häufig anfallen. 23

VII. Demokratischer Rechtsstaat und Gesellschaft Zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung ist in jedem Staat ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen Gesellschaft und Regierungsform erforderlich. In einem demokratischen Staatsgebilde ist jedoch die staatstragende Gesinnung der Bürger von geradezu überragender Bedeutung, da das der Demokratie zugrunde liegende Mehrheitsprinzip verlangt, daß sich die bei der Entscheidungsfindung unterlegenen Personen dem Ergebnis beugen, ohne zu Gewaltakten Zuflucht zu nehmen, um ihre Anliegen und Ziele durchzusetzen. Namentlich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, in denen der Staat wenig Gestaltungsspielraum bezüglich der Festsetzung und Verteilung der Sozialleistungen besitzt, zeigt sich, ob und inwieweit die Bürger die bestehende Staatsform (noch) mittragen. Sind die sozialen Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft extrem, befindet sich ein Teil der Bevölkerung in Abhängigkeit zu einem anderen Teil, wird es schwierig, zu stabilen Mehrheiten zu gelangen, die die notwendigen Majoritätsentscheidungen tragen. Dann entbehrt die politische Einheit, die demokratische Staatsform mit der Zeit ihrer Grundlage und es wächst die Gefahr des Auseinanderbrechens der politischen Gemeinschaft. Aber selbst in einer wirtschaftlich gesunden Demokratie kann die Mehrheit nicht jederzeit ihre Auffassung ohne Rücksicht auf die Minderheit durchsetzen. Werden essentielle Interessen der Überstimmten mißachtet, steht gar ihre Existenz auf dem Spiel, besteht die Gefahr, daß die Unterlegenen sich der Mehrheitsentscheidung widersetzen und es zu Ausschreitungen kommt, die letztlich den demokratischen Staat als solchen bedrohen. Daher ist in einer Demokratie immer ein bestimmtes Maß an Homogenität erforderlich; die soziale Kluft zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen darf nicht zu groß werden. Zudem müssen Gruppierungen vorhanden sein, die bei Meinungsgegensätzen ausgleichen und vermitteln und die somit integrierend wirken können und wollen.

VIII. Bedeutung des Mittelstandes für die Gesellschaft SoziaIharmonie ist in erster Linie jenseits der Extreme und damit vor allem im Mittelstand zu finden. In einem starken Mittelstand mit relativ unbedeutenden 23 Vgl. für den handwerklichen Mittelstand eine Umfrage des Rheinisch-Westfälischen Handwerkerbundes, Düsseldorf, bei 3 000 Handwerksbetrieben, Deutsches Handwerksblatt 13 / 91, S. 37.

14 Festschrift Schambeck

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Unterschieden in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht ist die Homogenität groß, da die Einzelinteressen eher gering sind. Ferner ist ein gewisser Wohlstand vorhanden, der zur Zufriedenheit des Einzelnen beiträgt. Zudem findet der Mittelständler vielfach Verwirklichung in seinem Beruf. Dies alles trägt dazu bei, daß Personen des Mittelstandes an der Beibehaltung eines demokratischen Rechtsstaats, der für soziale Gerechtigkeit und Grundrechtsmaximierung steht, interessiert sind. Sie sind leichter bereit, bei ihrem Abstimmungsverhalten und somit im Rahmen der Gesamtwillensbildung dafür zu votieren, daß es zu dem erforderlichen wirksamen Ausgleich der Interessen der verschiedenen Gruppierungen innerhalb von Staat und Gesellschaft kommt. Bei Wahlen bevorzugen sie eher gemäßigte Parteien. Durch ihr Verhalten begrenzen sie wiederum die Herrschaft der Mehrheit, so daß im Idealfall die Entscheidungen von allen akzeptiert werden können und ein Auseinanderbrechen des politischen Staatsgefüges verhindert wird. Auf diese Weise wirkt der Mittelstand quasi als Puffer zwischen extremen Gruppierungen der Bevölkerung. Diese Funktion des Mittelstandes als staatstragender Faktor wurde bereits in der Antike erkannt 24 und hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Dies hat um so mehr in Zeiten zu gelten, in denen sich neben einer sich verbreiternden Kluft zwischen Arm und Reich - ein tiefgreifender Bewußtseins- und Wertewandel in der Gesellschaft vollzieht, und zwar im Sinne einer stärkeren Demokratisierung aller Bereiche unter Einbezug einer sozialen Komponente. Betroffen davon ist nicht nur das Verhältnis der Bürger zum Staat; ebenso sind die Verhältnisse der Bürger untereinander in der Gesellschaft tangiert. 25 Die Demokratisierung der Gesellschaft verlangt eine Teilhabemaximierung aller Gesellschaftsglieder. Das bedeutet: alle sollen gleichberechtigt und in möglichst großem Umfang ihre persönlichen Fähigkeiten entfalten sowie an der durch Arbeitsteilung ermöglichten Erfüllung individueller Bedürfnisse teilhaben können. Dabei sollten alle Mitglieder der Gesellschaft zugleich an der zur Erreichung dieser Ziele notwendigen Organisation und Herrschaftsausübung durch Mitbestimmungsbefugnisse Anteil haben. Für die somit erforderlichen. Mehrheitsentscheidungen gilt wiederum, daß sie Minderheitsinteressen nicht essentiell bedrohen dürfen. Mit anderen Worten: auch die Gesellschaft darf nicht alles. Insbesondere hat sie überragende Belange von Minderheiten zu berücksichtigen und damit Minderheiten gleichfalls zu schützen. Mit Hilfe eines breiten Mittelstandes und seines mäßigenden Einflusses lassen sich hier im Entscheidungsfindungsprozeß und im Vermittlungswege Resultate erzielen, denen alle Mitglieder der Gesellschaft folgen können.

24 Vgl. zum Mittelstand z. B.: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Mannheim, Wien, Zürich, Bd. 16, 1976, S. 342 f. Stichwort ,,Mittelstand"; Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., Mannheim, Bd. 14, 1991, S. 683, Stichwort "Mittelstand", jeweils mit weiteren Nachweisen. 25 Wemer Maihofer, in: Handbuch des Verfassungsrechts ... , s. Fn. 1, S. 1381 ff. (S. 1388).

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IX. Förderung und Verbreiterung des Mittelstandes als Anliegen eines demokratischen Rechtsstaats Als Fazit läßt sich die überragende Bedeutung des Mittelstandes für die Aufrechterhaltung des demokratischen Rechtsstaats konstatieren. Eine explizite Pflicht des Staafes zur Förderung und Verbreiterung des Mittelstandes ist in den Verfassungen Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland nicht normiert. Es ist auch fraglich, ob eine entsprechende ausdrückliche Aufgabenstellung überhaupt wünschenswert erscheint. Mit einer konkreten detaillierten Mittelstandsbeschreibung, die im Rahmen einer gesetzlichen Bestimmung angesichts der vorhandenen unterschiedlichen Auffassungen über den Begriff "Mittelstand" unerläßlich wäre, rückt die Gefahr eines erstarrten Mittelstandsbildes näher. Möglicherweise würde dann der Ausbau des Mittelstandes eher behindert denn begünstigt, wenn der dynamischen Weiterentwicklung des Mittelstandes aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Änderungen infolge des fest verankerten - "versteinerten" - Mittelstandsbegriffs nicht ausreichend Rechnung getragen werden kann. Zudem würden sich aus einer Staatszielbestimmung mit dem Inhalt "Verbreiterung des Mittelstandes" noch keine konkret einklagbaren subjektiven Ansprüche ergeben, da Staatszielbestimmungen aufgrund ihrer Abstraktheit wenig geeignet sind, unmittelbare Ansprüche für den Einzelnen zu setzen, sondern sie sich in erster Linie an den Gesetzgeber als Adressaten wenden. Dies schließt es aber nicht aus, daß in einer Norm bestimmt wird, daß z. B. mittelständische Betriebe bestimmter Bereiche gewisse Vorteile bzw. Schutz genießen, um sie gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen und auf diese Weise konkurrenzfähig zu erhalten und daß der Aufstieg tüchtiger Kräfte aus nichtselbständiger Arbeit zu selbständigen Existenzen zu fördern ist. 26 Wie dieses Anliegen im Einzelfall verwirklicht wird, obliegt dabei dem staatspolitischen Ermessen. Ein demokratischer Rechtsstaat wird die Förderung und den Ausbau des Mittelstandes, um die soziologische Homogenität der Gesellschaft zu erhöhen - wie oben ausgeführt - , schon unter politischen Erwägungen im Interesse seines weiteren Bestehens übernehmen. Denn jede vom Mittelstand abweichende Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur hin in die Extreme gefährdet den Bestand der demokratischen Sozialstaatlichkeit. Daher ist es in erster Linie Aufgabe des Staates, solche wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu schaffen, die den Einzelnen von staatlicher Fürsorge unabhängig machen. Gleichzeitig ist darauf hinzuwirken, daß einerseits keine allzu großen Abstände in Vermögen und Bildung vorkommen, daß aber andererseits trotzdem noch so große Differenzen vorhanden sind, daß jeder daran interessiert ist, Leistung zu erbringen, um noch etwas mehr Wohlstand zu erlangen, wobei er gleichzeitig etwas zu bewahren hat und daher eine gesellschaftlich harmonische Ordnung anstrebt und damit den Fortbestand des demokratischen Rechtsstaats sichert. Das bedeutet ferner, daß 26 14*

Vgl. Art. 153 der Bayerischen Verfassung.

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staatliche Unterstützung im demokratischen Rechtsstaat Ausnahmecharakter besitzt und nur subsidiär zum Einsatz gelangen sollte, damit am Schluß nicht der totale Versorgungsstaat steht, der den Bürger aufgrund seinen umfassenden Versorgungs- und Betreuungscharakters entmündigt. Dies würde letztlich das Ende des demokratischen Rechtsstaats bedeuten. 27 Im Mittelstand, dessen existentielle Bedeutung für den demokratischen Rechtsstaat bereits dargelegt wurde, sind die genannten Ziele der materialen Gerechtigkeit schon in bestmöglicher Weise erreicht.

27

Ludwig Fröhler, Die staatsrechtliche Relevanz ... , s. Fn. 12, S. 33 f.

DIE KATHOLISCHE KIRCHE UND DAS VERFASSUNGS STAATLICHE ERBE DER AUFKLÄRUNG Von Josef Isensee

I. Das widerspruchsvolle Bild der Geschichte 1. Sic et non: Ideen von 1789, Menschenrechte, Demokratie "Der römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Zivilisation aussöhnen und abfinden", so spricht Papst Pius IX. im Jahre 1861 1, freilich nicht in der Absicht, ein Ziel seines Pontifikats zu verkünden, sondern eine Gefahr zu benennen, gegen die er ankämpft, und einen Zeitirrtum zu definieren, den er verurteilt. Die Definition geht ein in den "Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores" von 1864, als letzter der 80 lehramtlich katalogisierten "hauptsächlichen Zeitirrtümer" 2. Nimmt man die Textstelle des Syllabus beim Wort, wie es die Zeitgenossen taten 3 , unter Vernachlässigung aller exegetischen Überlagerungen durch die seit1 ,,Romanus Pontifex potest ac debet cum progressu, cum liberalismo et cum recenti civilitate sese reconciliare et componere" (Ansprache "Iamdudum cemimus", 18. März

1861).

2 Syllabus als Anhang der Enzyklika "Quanta cura" vom 8. Dezember 1864. Zitiert wird nach der Quellensammlung von Arthur F. Utz / Brigitta Gräfin von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1976 (= U-G), Bd. I,

S. 52 f.

3 Das Wortverständnis deckt sich nicht mit dem, was der Papst an sich meint. Im originalen Kontext der Rede vom 18. März 1861, aus dem der Satz 80 stammt, versteht der Papst unter "moderner Zivilisation und Liberalismus" Maßnahmen gegen die Klöster, Quälereien der Geistlichen, Unterstützung der Feinde der Kirche, kurz: ein "System, dazu angetan, die Kirche zu schwächen oder zu stürzen". Dieser an sich beinahe unverfangliche Text, aus dem Zusammenhang gerissen und als selbständige Sentenz publiziert, ändert im Syllabus seine Bedeutung und wird zur grundsätzlichen Kampfansage an Fortschritt, Liberalismus und modeme Zivilisation. Er provoziert den Spott der antiklerikalen Gazetten, daß der Papst, der Fortschritt und Zivilisation verdamme, im Kirchenstaat Eisenbahnen, Dampfmaschinen und Gasbeleuchtungen verbieten wolle (vgl. Roger Aubert, Der Syllabus von 1864, in: StdZ 175 [1965], S. 1 [So 16]). Überhaupt sind die verhängnisvollen Konflikte, die der Syllabus errorum zwischen Kirche und Welt und zwischen innerkirchlichen Kräften (',liberalen" und "ultramontanen") ausgelöst hat, teilweise das Ergebnis von Mißverständnissen, die sich aus der unseligen Zitiertechnik und der scheinbaren Klarheit der Zitate ergeben. Zur Geschichte des Syllabus und seiner

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Josef Isensee

herige Beschwichtigungstheologie, so mag man die These wagen, daß just der von Pius IX. verurteilte ,,zeitirrtum" in weitem Maße das Papsttum der Gegenwart leitet: im Aggiornamento an die modeme Zivilisation und in der Zuwendung zu den politischen Ideen des Liberalismus, zu Menschenrechten und Demokratie. Papst Johannes Paul 11. begrüßt in seiner Enzyklika "Centesimus annus" den Sieg der liberalen Ideen, der im Jahre 1989 in den Ländern Mittel- und Osteuropas seinen Höhepunkt erreicht, aber auch im Zusammenbruch von Diktaturen anderer Weltgegenden sichtbar wird. Mit Genugtuung stellt der Papst fest, daß "einen wichtigen, ja entscheidenden Beitrag" dabei die Kirche in ihrem Einsatz "für die Verteidigung und die Förderung der Menschenrechte" erbracht habe 4. Er verwirft den Totalitarismus, zumal in seiner marxistisch-leninistischen Ausprägung, und bekennt sich zum Prinzip der Freiheit, zu den Menschenrechten, zur Demokratie (freilich mit Vorbehalten gegenüber manchen ihrer realen Erscheinungen und ideologischen Begründungen), zur Gewaltenteilung und zum Rechtsstaat, in dem das Gesetz herrscht und nicht die Willkür des Menschen 5 • Der Sache nach bekennt sich der Papst damit zum Konzept des Verfassungsstaates, in dem menschenrechtliche und staatsorganisatorische Prinzipien, zentriert um die subjektive Freiheit des Individuums, sich zu integraler Einheit verbinden: die demokratische Begründung der Staatsgewalt und ihre rechtsstaatliche Begrenzung, ihre Strukturierung durch Gewaltenteilung und ihre Bindung an Grundrechte 6• Der Verfassungsstaat ist das politische Werk der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Das historische Geburtsereignis,~uf kontinentaleuropäischem Boden ist die französische Revolution. Jedoch ergibt diese kein eindeutiges Paradigma. Sie steht für die Menschenrechte, aber auch für deren Perversion zu Jakobinerphrasen; für die liberale Demokratie, aber auch für deren Umschlag in Totalitarismus. Die historischen Umstände der französischen Revolution, in der sich der Verfassungsstaat in Kontinentaleuropa Bahn brach, irritieren jedoch den heutigen Papst nicht. Im Wirkungen: Aubert, a. a. 0., S. 17 ff.; ders., Vaticanum I, (dt.) 1965, S. 588 ff.; Klaus Schatz, Vaticanum I 1869-1870, Bd. I, 1992, S. 29 ff. Neuere Apologien des Syllabus: Joseph List1, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, S. 139 ff.; Joseph Ratzinger, Wie entscheidet die Kongregation für die Glaubenslehre?, dt. in: Deutsche Tagespost v. 11. September 1986/ Nr. 109, S. 7. 4 Enzyklika "Centesimus annus" vom 1. Mai 1991, n. 22 (dt. Ausgabe des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz, 1991, S. 26). 5 "Centesimus annus" (N 4), n. 44-48 (S. 52 ff.). 6 Zu den Leitgedanken neuerer päpstlicher Staatslehre, vor allem dem Bekenntnis zu Freiheit und Menschenwürde, damit an Grundrechten, und sozialem Staatsziel: Herbert Schambeck, Zur Staatsordnung, in: GS für Anton Burghardt, 1982, S. 95 (97 ff., 100 ff.). Zum Idealtypus des Verfassungsstaats: Josef Isensee, Staat, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft (= StL), Bd. 5,71989, Sp. 133 (140 f., 150 ff.). Zur Realisierung des Idealtypus in Deutschland: ders., Staat und Verfassung, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. I, 1987, § 13.

Kirche, Aufklärung und Verfassungs staat

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Gegenteil: bei seinem Besuch in Frankreich bekundet er seine Achtung den Revolutionsidealen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als im Grunde christlichen Ideen, auch wenn er wisse, daß jene, die diese Ideale formulierten, sich nicht auf das Bündnis des Menschen mit der Ewigen Weisheit berufen hätten. Der Papst hält ihnen zugute, daß sie zum Wohle der Menschheit hätten handeln wollen 7 • Auf dieser Linie liegt es, daß die katholische Kirche heute Abstand wahrt zu politischen Kräften, die gegen die Ideen von 1789 angehen, und darauf Bedacht nimmt, sich nicht von Integristen vereinnahmen zu lassen. Im September 1993 hält sie sich zurück bei der Gedenkfeier für den Aufstand der Vendee und an die Greuel seiner Niederwerfung. Der Erzbischof von Paris, Kardinal Jean Marie Lustiger, verhindert, daß am 21. Januar 1993 ein Requiem für König Ludwig XVI. in der Kathedrale Notre Dame zelebriert wird, am Todestag des Königs, 200 Jahre nach seiner Hinrichtung 8 • Vergessen scheint heute, daß die katholische Kirche die Hinrichtung als Frevel gegen den christlichsten König, den Gesalbten des Herrn, verdammt und die Revolution als Empörung gegen die gottgewollte Ordnung des Staates verworfen und gegen sie in der Allianz mit den alten Mächten angekämpft hat. Heute geht die Kirche schweigend darüber hinweg, daß sie unter der Verfolgung der Revolution furchtbar hat leiden müssen und ihre Getreuen gewaltigen Blutzoll erbracht haben, von denen viele sogar zur Ehre der Altäre erhoben worden sind, zuerst im Jahre 1906 die 16 Karmeliterinnen von Compiegne, zuletzt 1955 die 16 Märtyrer von Laval 9 • Die Sympathie, die Johannes Paul 11. den Ideen der Revolution bekundet, und die Gelassenheit gegenüber deren realer Erscheinung steht in schroffem Kontrast zu dem leidenschaftlichen Abwehrkampf der Päpste des 19. Jahrhunderts gegen die Ideen von 1789. Die Revolution war das ungeheure Trauma der Kirche, prägend wie kein anderes seit der Reformation. Repräsentativ ist das Urteil, das sich noch 1895 im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft findet: "Die Lobredner der großen Revolution scheinen unempfindlich gegen ihre Gräßlichkeiten zu sein. Der unsägliche Jammer des französischen Volkes rührt sie nicht.... Die Tugend verfällt dem Martyrium, und das Laster wird gekrönt; aber die Apologeten der Revolution merken nichts, nicht einmal von ihrer eigenen Einfalt und Charakterlosigkeit. Sie fahren fort im Lobe der großen Revolution" 10. Joseph de Maistre, 7 Die Äußerungen bei einem Besuch Frankreichs 1980 werden zitiert nach Alfred Grosser, Der schmale Grat der Freiheit, 21982, S. 16. 8 Dazu Jürgen Altwegg, Der verdrängte Vatermord, in: FAZ v. 21. Januar 1993, Nr. 17, S. 27. 9 Die Namen der in sieben Proklamationen zwischen 1906 und 1955 seliggesprochenen ,,Märtyrer von Frankreich": Otto Wimmer / Hartmann Melzer, Lexikon der Namen und Heiligen, 51984, S. 894 ff. 10 G. E. Haas, Revolution, in: StL, 4. Bd., 11895, Sp.915 (922). Keine Spur von dieser Polemik findet sich nunmehr in der ausgewogenen, distanzierten und relativieren-

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J osef Isensee

der die katholische Negation zu äußerster Schärfe zuspitzt, erkennt in der Revolution den "satanischen" Charakter: "Elle est satanique dans son essence" 11. Als der Papst erstmals nach Ausbruch der Revolution das Wort ergreift Pius VI. 1791 in seinem Breve "Quod aliquantum", herausgefordert durch die kirchenfeindlichen Maßnahmen der Nationalversammlung im Zuge der Zivilkonstitution 12 - , verurteilt er den neuen Freiheitsgedanken als völlig absurde, aus der Luft gegriffene Doktrin ("absurdissimum eius libertatis commentum"), als Widerspruch gegen göttliches Recht und Naturrecht und gegen die Lehre der Kirche, als Frevel, erneut vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Dem politischen Emanzipationsdrang und dem Willen zu demokratischer Selbstbestimmung stellt er die Gehorsamspflicht gegen die gottgewollte, monarchische Obrigkeit entgegen, unter Berufung auf Paulus (Röm. 13) und auf Augustinus: "Generale quippe pactum est societatis humanae obedire regibus suis" 13. Der Papst verwirft die Gedanken- und Handlungsfreiheit, wie sie die Nationalversammlung der Natur des Menschen zuschreibt, vor allem die Religionsfreiheit, jene aus der Gleichheit aller Menschen und aus ihrer natürlichen Freiheit abgeleitete "wahre Ungeheuerlichkeit" ("quae sane monstra"), daß kein Mensch in der Ausübung seiner Religion behindert werde, und daß jeder selbst darüber befinde, was er über religiöse Fragen denke, rede, schreibe, publiziere. Die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit liefen auf nichts anderes hinaus als darauf, die katholische Religion zu vernichten 14. Mit dem Widerspruch, den der Papst gegen die neuen Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie gegen die Demokratie erhebt, tritt die Kirche in prinzipielle Opposition zu den politischen Bestrebungen, aus denen der Verfassungsstaat hervorgeht. Der Widerspruch macht kirchengeschichtliche Epoche. Die Nachfolger Pius' VI. nehmen ihn auf und vertiefen ihn. Der Ton, der im Jahre 1791 angestimmt wird, hallt durch das 19. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Sein Nachklang ist noch vernehmbar in den Debatten des Zweiten Vatikanischen Konzils; er verstummt erst, als 1965 die Erklärung über die Religionsfreiheit ("Dignitatis humanae") zustande kommt. 2. Das theologische Dilemma Die Theologie hat derzeit ihre liebe Not, das "Sic et non" der Päpste zum verfassungsstaatlichen Erbe der Aufklärung, darin den Verfassungsideen der den Bewertung der Revolution in der jüngsten Auflage des Staatslexikons: Eberhard Schrnitt, Französische Revolution, in: StL, Bd. 2, 71986, Sp. 664 (667 f.). 11 Joseph de Maistre, Du Pape, Louvain 21821, S. XXill. Vgl. auch ders., Considerations SUT la France, Lausanne 1795, S. 66. 12 Pius VI., Breve "Quod aliquantum" v. 10. März 1791, in: U-G Bd. ill, S. 2652 (2662 ff.). _ 13 Zitiert nach Pius VI. (N 12, S. 2664). 14 Pius VI. (N 12), S. 2662 ff.

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französischen Revolution, zu bewältigen 15. Der Wahrheitsanspruch der Kirche wehrt sich gegen geschichtliche Relativierung. Sie will sich der Identität ihrer Lehre im Wechsel der Zeiten vergewissern. Das gilt sogar dort, wo ihre Essenz als Kirche allenfalls am Rande berührt wird, wie in den Aussagen zur legitimen Staatsform und zu der Freiheit des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt. Die Kirche verschmäht alle bequemen Auswege, die der Zeitgeist offenhält. Sie distanziert sich vom Relativismus und vom Historismus. Sie ergreift auch nicht die Option der Philosophie Hegels, daß sich die Wahrheit im dialektischen Prozeß der Geschichte enthüllt und entfaltet. Schwierigkeiten ergeben sich auch daraus, daß es nicht zum Stil der Kurie gehört, frühere Stellungnahmen förmlich zurechtzurücken oder ausdrücklich zu widerrufen. Im Gegenteil: wenn das Lehramt sich von bisherigen Äußerungen abkehrt und zu neuen Aussagen vorstößt, neigt es in besonderem Maße dazu, sich auf die Tradition zu berufen und auf den Hort der immer schon vorhandenen Erkenntnisse. So versteht sich die Erklärung des Zweiten Vaticanum zur Religionsfreiheit nicht etwa als Wende oder als Neuerung, sondern als Kontinuum. Das Konzil will Antwort geben auf die heute herrschenden Bestrebungen und befragt "die heilige Tradition und Lehre der Kirche, aus denen es immer Neues hervorholt, das mit dem Alten in Einklang steht"16. Die jüngere Verlautbarung ersetzt nicht die ältere, sondern legt sich über sie. Schicht lagert auf Schicht. Die obere wirkt auf die untere ein, die untere auf die obere zurück, eine Art Kompostierungsprozeß. Die Theologen, die sich heute mit Eifer der neuen Thematik der Menschenrechte und der Demokratie widmen, zeigen wenig Neigung, sich mit den sperrigen Positionen des Lehramtes aus vorkonziliarer Zeit, zumal aus dem 19. Jahrhundert, auseinanderzusetzen und zu entscheiden, ob hier Kontinuität oder Diskontinuität waltet 17. Soweit sie an das Problem rühren, zumeist nur beiläufig, neigen sie überwiegend dazu, Kontinuität anzunehmen und darzutun, daß die heutige Afflfmation der Menschenrechte und der Demokratie einer durchgehenden Leitlinie kirchlicher Staatslehre entspricht 18. Die Äußerungen der Päpste, von Pius VI. 15 Näher zur Interpretation der päpstlichen Verlautbarungen zu den Menschenrechten und ihren Problemen: Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZRG kan. Abt. LXXm (1987), S. 296 (299 ff., 302 ff.). 16 Vaticanum 11, Declaratio de libertate religiosa ("Dignitatis humanae") n. 1, v. 7. Dezember 1965, in: U-G Bd. I, S. 470 f. Dem Kontinuitätsanspruch dieser Deklaration stimmt zu Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit, 1988, S. 14 ff. (37). Ablehnend: EmstWolfgang Böckenförde, Einleitung zur Textausgabe der Erklärung über die Religionsfreiheit (1968), in: Heinrich Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, S. 401 (416 f.). Differenzierend Josef Fuchs, Kontinuität kirchlicher Morallehre?, in: StdZ 205 (1987), S. 242ff. 17 Analyse: Reinhold Sebott, Relighmsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, Rom 1972, S. 194 ff. Literaturbericht: Petrus Huizing, Über Veröffentlichungen und Themenstellungen zur Frage der Religionsfreiheit, in: Concilium 2 (1966), S. 621 (627).

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über Pius IX. bis Pius Xll., werden im Lichte der heutigen Auffassungen gedeutet und dabei nicht selten rückwirkend harmonisiert, als zeitbedingt und obsolet beiseite geschoben oder schlicht verdrängt. Die herrschende Tendenz geht dahin, die heutige Position der Kirche historisch zu fundieren und aufzuweisen, daß die Quellen des Verfassungsstaates - auch - im Christentum liegen und daß die Kirche in Lehre wie Praxis den Menschenrechten von jeher zugetan war l9 • Auch für diese Sicht gibt die Geschichte Argumente und Belege in Fülle.

3. Differenzierende Sicht der Staats- und Verfassungstheorie - Fünf Thesen Die theologische Auflösung der Widersprüche ist hier nicht das Thema. Vielmehr geht es um ihre Deutung aus der Sicht der säkularen Staats- und Verfassungslehre. Dabei ist von Anfang an Unterscheidung geboten zwischen den lehramtlichen Äußerungen der katholischen Kirche und der Wirkungsgeschichte des Christentums. Die historischen wie die aktuellen Wirkungen aber, nach denen hier gefragt wird, sind nicht die religiösen Kräfte als solche, sondern ihre politischen und soziokulturellen Folgen für die Genese und für das Leben des Verfassungsstaates. Damit aber wird der Weg frei zu differenzierender Betrachtung. Im Wechsel der Perspektiven ergeben sich folgende Thesen: 1. Der Verfassungsstaat ist geschichtliches Derivat des Christentums.

2. Die christliche Vorprägung der Gesellschaft, mag sie auch vielfach säkular gebrochen und vermittelt sein, ist heute eine soziokulturelle Voraussetzung für den Verfassungsstaat. 3. In seiner geschichtlichen Entwicklung stieß der Verfassungsstaat auf prinzipiellen Widerstand der katholischen Kirche, der sich gegen wesentliche seiner Elemente richtete: gegen die souveräne Friedens- und Entscheidungseinheit des modemen Staates und gegen seine Säkularität, gegen Volkssouveränität und Demokratie, gegen die Freiheitsrechte der Religion und des Gewissens, der Meinung, der Presse und der Lehre. 4. In langem historischen Prozeß hat die katholische Kirche zum Ausgleich mit dem Verfassungsstaat gefunden uno das in ihm verkörperte Erbe der Aufklärung sich anverwandelt und zu eigen gemacht. 5. Heute regen sich in der Kirche Bestrebungen, sich dem säkularen Verfassungsstaat in Form wie Inhalt anzupassen, ihre Botschaft auf das der Aufklärung 18 Vgl. Ratzinger (N 3), S.7; Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte, 1987, S. 209 ff.; Kasper (N 16), S. 8 ff.; Arthut Fridolin Utz, Vom Sinn religiöser Toleranz, in: Deutsche Tagespost v. 18. April 1987 INr. 46, S. 23 f. Dagegen konstatiert Josef Fuchs eine ,,konziliare Wende" (N 16, S. 248 ff.). 19 Theologische Tiefendimension: Kasper (N 16), S. 14 ff., 36 ff. Historisches Material: Punt (N 18), S. 17 ff., 87 ff., 175 ff. Kritik an der Harmonisierungstendenz: Bökkenförde (N 16), S. 416 f.

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kompatible Maß zurückzunehmen und so ihre genuin religiöse Sendung aufzugeben. Doch in dieser Anpassung würde die Kirche eine Erwartung des Verfassungsstaates enttäuschen, die sich auf sie als komplementäre Kraft richtet: daß sie darauf hinwirkt, seine religiösen und sittlichen Grundlagen zu festigen, die er, säkular, religiös neutral und grundrechtsgebunden, wie er seinem Wesen nach ist, nicht sicherstellen kann. Diese Thesen bedürfen der Erläuterung.

11. Der Verfassungsstaat als Derivat des Christentums 1. Politische Wirkungsgeschichte einer unpolitischen Botschaft Der Verfassungsstaat entwickelt sich im Kulturraum des Christentums: Europa und Nordamerika. Hier, und nur hier, treibt er tiefe Wurzeln, zeigt er Lebenskraft, erlangt er Dauer. Das ist kein Werk des Zufalls, sondern Ergebnis vielfaItiger geschichtlich wirkender Faktoren. Einer von diesen ist das Christentum 20. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Botschaft des Christentums sich auf die Prinzipien des Verfassungsstaates richtete oder daß es einen direkten Ableitungszusammenhang, sei er theologischer oder sei er juridischer Art, zwischen biblischer Verkündigung und menschenrechtlicher wie demokratischer Staatsverfassung gäbe. Das Evangelium enthält kein staatspolitisches Programm und kein sozialethisches System. Die wenigen neutestamentarischen Aussagen über den Staat ergeben kein Konzept für seine richtige Verfassung. Das Reich, das im Evangelium verkündet wird, ist das Reich Gottes 21. Und dieses Reich ist nicht von dieser Welt. Vor ihm versinken die diesseitigen Dinge, die politischen Probleme und die rechtlichen Unterscheidungen ins Wesenlose. Ob einer Herr oder Sklave ist, erweist sich aus eschatologischer Sicht als gleichgültig. Es zählt allein, daß der von Christus erlöste Mensch, sei er Herr oder Sklave, den Willen Gottes erfüllt 22 • Es kommt auch nicht darauf an, ob das jüdische Volk frei ist oder ob es dem römischen Kaiser Steuer zahlen muß. Entscheidend ist, ob es Gott gibt, was Gottes ist (Mt. 22, 21). Das Evangelium verkündet nicht den idealen Staat und nicht die optimale Verfassung. Es will 20 Zu den christlichen Voraussetzungen des Verfassungsstaates: Ernst-Wolfgang Bökkenförde, Zum Verhältnis von Kirche und Moderner Welt, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modemen Welt, 1977, S. 154 ff.; ders., Kirche und modemes Bewußtsein, in: Communio 15 (1986), S. 153 ff.; Johannes Schwartländer (Hrsg.), Modemes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981; Ernst-Wolfgang Böckenlörde I Robert Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987. 21 Dazu Helmut Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, 1983. 22 Aufschlußreich der Fall des Onesirnus im Philemon-Brief. Zu der Stellung des Christentums zur Sklaverei: Joseph Höffner, Christentum und Menschenwürde, 1947, S. 60 ff., 195 f.

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nicht das Paradies irdischer Gerechtigkeit heraufführen. Die menschlichen Maßstäbe der Gerechtigkeit werden im Reich Gottes gerade aufgehoben, so daß die Arbeiter im Weinberg des Gleichnisses, wie unterschiedlich auch Arbeitszeit und Arbeitsanstrengung des einzelnen gewesen sind, am Ende alle den gleichen Lohn erhalten; das Prinzip rechenhafter Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung gilt sub specie aeternitatis nicht mehr (Mt. 20, 1-16). Vom Inhalt der Offenbarung muß unterschieden werden die Wirkungsgeschichte. Wenn das Neue Testament auch keine Staatslehre enthält, so zeitigt es doch Einflüsse auf das staatliche Denken und Handeln. "Das Evangelium ist nicht soziale Botschaft, aber es wirkt als soziale Forderung. . .. Dieses Evangelium verlangt Entscheidung über alle Weltverhältnisse hinweg. Es setzt sich als Botschaft von einer anderen Welt aufs stärkste ab von dieser Welt; es fordert, nicht um die Welt nach Möglichkeit zu verbessern, sondern um den Menschen für das Reich zu wandeln. Dem Evangelium eignet also unbedingte Aktualität; es enthält radikale ,Kritik und radikale Forderung'''23. Keine politische Theorie und kein geschichtliches Ereignis hat das Staatsbewußtsein und die Staatsrealität so grundstürzend verändert wie das Christentum, das doch seinem Ursprung nach gar nicht auf solche Änderung ausgeht. Seine Wirkungen sind indirekter Natur, in praktischen Folgerungen aus der religiösen Botschaft, in Auseinandersetzung mit der vorgefundenen staatlichen und kulturellen Umwelt und Aneignung ihrer Gehalte, in philosophischer Reflexion und naturrechtlicher Deduktion. Die Wirkungen vollziehen sich im Prozeß der Säkularisierung: der Mutation religiöser Substanz in innerweltliche Denkweisen und Handlungsmuster 24. Säkularisierung aber ist eine Eigentümlichkeit des Christentums; für Hegel bedeutet die Verweltlichung des Christentums geradezu seine Sinnerfüllung durch Realisierung in der Welt 25 . Vergleichbare Säkularisierungsprozesse gehen von anderen Weltreligionen wie dem Islam nicht aus. Geschichtliche Wirkungen müssen nicht den Absichten derer entsprechen, welche die geschichtlichen Ursachen setzen. Sie entziehen sich ihrer Herrschaft und können sich sogar gegen sie kehren. So kann das Christentum in seinen historischen Wirkungen die Entstehung und Anerkennung der Menschenrechte begünstigen, obwohl das Lehramt der Kirche sich ihnen in einer bestimmten 23 Martin Dibelius, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: ders., Botschaft und Geschichte, Bd. 11, 1953, S. 178 ff. Zur neutestamentarischen Sicht auch Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 3. Neudruck der Ausgabe 1922, 1977, S. 16 ff. 24 Zum Begriff und zum Phänomen der Säkularisierung: Martin Heckei, Säkularisierung (1980), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11, 1989, S. 773 ff., bes. 822 ff.; Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 21983, S. 9 ff. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Der Geschichte der Philosophie zweiter Theil, Philosophie des Mittelalters, pr. (zuerst gehalten 1805/6) in: ders., Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. von Herrnann Glockner), 19. Bd., 31959, S. 107.

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historischen Situation widersetzt. Auch in den Beziehungen zwischen Verfassungsstaat und Kirche waltet Hegel' sche List der Vernunft. Ein der Modeme gnädiger Gott schreibt gerade auf den krummen Linien päpstlicher Enzykliken. Die These, daß der Verfassungsstaat ein Derivat des Christentums ist, bedeutet nicht, daß diese politische Form die einzig mögliche, die zwingende Konsequenz des Christentums sei. Die Geschichte kennt andere politische Derivate des Christentums; und manche davon sind inkompatibel dem Verfassungsstaat. Vielmehr sagt die These nur, daß das Christentum zu seinen historischen Ursachen gehört. Der Verfassungsstaat ist auf dem Kulturboden des Christentums entstanden. Hier nur ist seine Entstehung möglich gewesen.

2. Wechselwirkungen zwischen Christentum und politischer Umwelt - Ausstrahlung und Rezeption Weltgeschichtlich gesehen, liegen in der "unpolitischen" Botschaft des Christentums die Keime zu zahlreichen politischen Entwicklungen. Die eschatologischen Offenbarungsgehalte werfen Schatten in der Realität der Welt. So ist im Glaubenssatz von der Erlösung und der endzeitlichen Verantwortung des Menschen der Schluß auf die weltimmanente Personalität des Menschen angelegt, auf seine aktuelle Würde und Freiheit. Aus dem existentiellen Gebot der Nächstenliebe lassen sich institutionelle Folgerungen ableiten, daß das Gemeinwesen die Not des Schwächsten als die Sache der Allgemeinheit begreift und Solidarität übt. Die Botschaft des Neuen Testaments verweist den Christen auf die konkretindividuelle Lage, in welcher er den Anruf Gottes erfährt. Sie verweist damit auf die Geschichte. Aus offenbarungstheologischer Sicht ist das Christentum offen zur geschichtlichen Welt, wenn es sich um eine gerechte Ordnung im politisch-gesellschaftlichen Bereich bemüht. Da das Christentum kein eigenes Staatskonzept mitbringt, ist es beweglich und vermag, sich den unterschiedlichen staatlichen Ordnungen, die es in seiner Ausbreitung über die Erde und im Gang durch die Geschichte vorfindet, einzufügen, ohne sich mit einer von ihnen zu identifizieren oder sich vorbehaltlos anpassen zu müssen. Es fmdet seinen Ort im römischen Imperium der Spätantike wie im Reich des Mittelalters, im Feudalismus und im Absolutismus, in Monarchien und Republiken. Die geistige Auseinandersetzung mit der vorgefundenen säkularen Umwelt kann es nicht allein mit Hilfe der Offenbarungstheologie bestreiten, die auf die Fragen nach Staatsform, Staatszweck und Stellung des Bürgers, wenn überhaupt, dann keine abschließende Antwort gibt. Damit ist es verwiesen auf die natürliche Vernunft als Erkenntnisquelle und auf das Gespräch mit der "Welt". Die Kirche öffnet sich der Welt, auf die sie einwirken will. Die Entwicklung christlicher Staatsauffassungen vollzieht sich durch Annahme und Aneignung

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vor- und außer-christlicher Gehalte. Wichtig wird vor allem die Rezeption naturrechtlicher Lehren durch die Kirche. Am Anfang der christlichen Staatslehre steht die Rezeption des stoischen Naturrechts, als die Kirche in die spätantike Gesellschaft hineinwächst und die Reflexion über diese Gesellschaft notwendig wird 26. Die stoische Vorstellung von einem goldenen Zeitalter der Tugend, seinem Zerfall durch die Leidenschaften der Menschen, dem weltbürgerlichen Menschheitsziel, der universalen Weltvernunft lassen sich mit der christlichen Offenbarung verbinden: mit der Lehre vom paradiesischen Urzustand, von Sündenfall und Erlösung, von der göttlichen Lenkung des Weltgeschehens. Die Grundstrukturen dieser Naturrechtskonzeption bleiben für die christliche Staatsphilosophie offen oder latent wirksam, nicht minder für ihre säkularen Ableger in der Neuzeit bei Hobbes, Locke, Rousseau. Ihre höchste Reife erlangt die kirchliche Sozialphilosophie im Mittelalter, als Thomas von Aquin die aristotelische Philosophie aufnimmt und in ein universales System einschmilzt, in dem biblisch-stoische Tradition, römische und germanische Rechtsvorstellungen, kirchliche, imperiale wie feudale Institutionen, patriarchalisches Staatsdenken auf der Grundlage von Autorität und Pietät, ständisches Ethos von Treue und Fürsorge sowie das christliche Liebesgebot zusammenfinden. Die Rezeption säkularer Gehalte ist allerdings nur einer der Vorgänge in der Symbiose von Christentum und Welt. Beide Seiten geben und nehmen. Der gegenläufige Prozeß, der hier die vorrangige Aufmerksamkeit fordert, ist der Einfluß des Christentums auf die Welt, wie er sinnfällig wird im Gleichnis vom Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert.

3. Ambivalenz des Christentums a) Distanz zum Staat und Umgestaltung des Staates Wenn das Reich, das Christus verkündet, nicht von dieser Welt ist, kann kein irdischer Staat beanspruchen, die Verheißung zu erfüllen und das endzeitliche Reich des Heils zu sein. Zwischen der diesseitigen Welt und dem Reich Gottes besteht eine unaufhebbare Differenz. Die Botschaft des Neuen Testamentes ist weder konservativ noch progressiv zu verstehen. Sie dient weder dazu, die bestehende Ordnung, noch dazu, die Revolution zu legitimieren. Dennoch wirkt das Christentum, so wie es in der Spätantike politische Wirksamkeit erlangt, kraft seines geistlichen Anspruchs auf die bestehende staatliche Ordnung ein und verwandelt diese von Grund auf. Es sprengt die staatlichreligiöse Einheit, innerhalb deren Religion und Kult im Dienst des Imperiums stehen, und unterwirft die staatliche Herrschaft dem Wort des Christentums: "der größte Umschlag, der jemals vorgekommen"27. 26 Unübertroffene Darstellung, ungeachtet aller kulturprotestantischen Patina, Troeltsch (N 23), bes. S. 148 ff., 178 ff.

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Die Revolution vollzieht sich freilich nicht im ganzen Wirkungskreis des Christentums, sondern allein in seiner westlichen, der lateinischen Hemisphäre. Sie erfaßt nicht die östliche Hemisphäre, die griechische und die russische Orthodoxie. In Konstantinopel wie in Moskau, im zweiten wie im dritten Rom, tritt an die Stelle der heidnischen Imperialreligion die christliche Imperialreligion des Cäsaropapismus. Der religiöse Inhalt wechselt, die politische Struktur bleibt: die monolithische Einheit des Staatswesens, das sich die Kirche einverleibt und das sie als Gegenstand wie als Instrument der Herrschaft behandelt. Auch die lateinische Welt hält an der staatlich-kirchlichen Einheit des Corpus Christianum fest. Doch die Einheit differenziert sich aus zur Polarität von Imperium und Sacerdotium, lädt sich auf mit innerer Spannung, die in der Krise des Investiturstreites dazu führt, daß Kaiser und Papst ihre Sphären unterscheiden und die Reichweite des weltlichen wie des geistlichen Schwertes abgrenzen müssen. Thomas betrachtet zwar wie Aristoteles den Staat als societas perfecta; aber er relativiert die Deutung, indem er dem Staat die Kirche, ihrerseits societas perfecta, an die Seite stellt und die eine vollkommene Gemeinschaft dem natürlichen, die andere dem übernatürlichen Bereich zuordnet 28 • Damit setzen Entwicklungen ein, die in der Neuzeit, als die Glaubenseinheit zerbricht, zum Rückzug des Staates aus der Sphäre der Religion führen, zur Beschränkung auf innerweltliehe Aufgaben, kurz: zu seiner Säkularisierung 29 • Doch bereits in der mittelalterlichen Staat-Kirche-Polarität wird der christliche Dualismus geschichtsmächtig: zwischen Immanenz und Transzendenz, Profanem und Sakralem, Gesetz und Gewissen 30. Die Unterscheidungen treiben in der Neuzeit weitere, analoge Unterscheidungen hervor: zwischen Recht und Moral, zwischen Institution und Gesinnung, zwischen Natur und Innerlichkeit, zwischen Objektivität und Subjektivität. Die Entzweiung, die vom Christentum ausgeht, führt in ihren politischen Wirkungen das Prinzip Gewaltenteilung herauf, zunächst in der Beziehung von Staat und Kirche, sodann in der von Staat und Gesellschaft, schließlich im Innenbereich der Staatsorganisation zwischen ihren verschiedenen Funktionen. Die Entwicklung mündet schließlich ein in den Verfassungsstaat: den Typus des sektoralen, säkularen, gewaltenteiligen Staates, den Antitypus zum totalitären Staat, wie er, Ende des 18. Jahrhunderts inauguriert von den Jakobinern, im 20. Jahrhundert zu voller Entfaltung im Sozialismus von links und von rechts gelangt. 27 Zitat: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe von Rudolf Stadelmann, 1949, S. 149. 28 Zur Societas-perfecta-Lehre: List! (N 3), S. 104 ff. (Nachw.). 29 Zur Säkularisierung als Geburtsakt des modemen Staates: Ernst-Wolfgang Bökkenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat-Gesellschaft-Freiheit, 1976, S. 42 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970. 30 Zu dem Dualismus des Christentums: Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (N 20), S. 159 ff. Überzogen, wenn auch mit richtigem Kern: Peter Koslowski, Gesellschaft und Staat, 1982, S. 47 ff.

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Von jeher akzeptiert die katholische Kirche nur den in seinen Zielen und Mitteln begrenzten Staat. In allen politischen Epochen bringt sie das Postulat ein von vorgegebenen Grenzen der Staatsgewalt. In den letzten Jahrhunderten wird sie immer wieder mit politischen Totalitätsansprüchen konfrontiert. Sie stellt ihren Anspruch auf spirituelle und auf institutionelle Selbstbehauptung entgegen. Darin bleibt sie sich im Wandel der Zeiten treu. Wenn sie auch zuweilen Sukkurs sucht bei einem autoritären Staat, so erkennt sie den totalitären Staat in allen seinen Erscheinungen als ihren Feind, der, unbegrenzt in seinen Zielen, hemmungslos in seinen Mitteln, jedwede Gewaltenteilung rückgängig macht, auf den ganzen Menschen zugreift und selber Kirche sein will, Kirche einer politischen Heilslehre 3!. Noch einmal: Die Entwicklung zur Gewaltenteilung erfaßt nicht die ganze Welt der Christenheit. Der Osten, der Raum der Orthodoxie, nimmt nicht daran teil. Nur in der lateinischen Welt ereignen sich Renaissance und Aufklärung, die Geburt der Modeme und die Inkubation des Verfassungsstaates. Doch brechen sich diese Entwicklungen nicht an den konfessionellen Grenzen, wie sie seit der Reformation bestehen. In ihrer säkular-politischen Dimension wahrt die lateinische Christenheit über die konfessionelle Spaltung hinweg ein hohes Maß an Gemeinsamkeit 32. b) Rechtfertigung und Relativierung des Staates Mit dem Christentum gerät jede irdische Ordnung unter Rechtfertigungszwang vor einer transzendenten Ordnung, die ihr unverfügbar vorgegeben ist. Der Christ akzeptiert den Staat, wie immer er verfaßt ist, nur deshalb, weil er seine Gewalt von Gott empfangt. Er leistet ihm den bürgerlichen Gehorsam, doch nicht aus Furcht vor dessen Sanktionen, sondern aus Einsicht in die Anordnung Gottes (Röm. 13). Diese aber ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze der Staatsgewalt. Die bürgerlichen Pflichten enden am Widerstandsrecht, das der Christ sich vorbehält, weil er Gott mehr gehorchen muß als den Menschen (Apg. 5,29). In der Transzendenzperspektive gewinnt der Christ geistige Freiheit gegenüber der dies3!

Vgl. Hans Maier, Das totalitäre Zeitalter und die Kirchen, in: Historisches Jahrbuch

112 (1992), S. 383 ff.; Isensee (N 15), S. 324 f. Zu Begriff und Sache des Totalitarismus: Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen, 21976, S. 33 ff.; Bruno Seidl/ Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, 31974. 32 Auf reformatorischer Seite weist die geschichtliche Entwicklung deutliche Paralle-

len zur katholischen auf: von der Ablehnung der Menschenrechte und der Demokratie zu ihrer Annahme. Dazu: Martin Heckei, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie (1987), in: ders. (N 24), Bd.lI, S. 1122 ff. (Nachw.). Freilich verbleiben durch alle Säkularisierung hindurch konfessionstypische Unterschiede der politischen Mentalität und des sozialen Verhaltens. Aufschlußreich: Gerhard Schmidtchen, Protestanten und Katholiken, 1973; Andreas Püttmann, Ziviler Ungehorsam und christliche BÜfgerloyalität. Zum Zusammenhang von Konfession und Staatsgesinnung in der grundgesetzlichen Demokratie, (noch ungedruckte) phil. Diss., Bonn 1993.

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seitigen Autorität. Er akzeptiert sie nicht, weil sie selbst es will, sondern weil Gott es will. Die christliche Rechtfertigung des Staates bedeutet seine Relativierung. Der Christ gehorcht ihm, indem er zu ihm auf Distanz geht. Der christliche Letztvorbehalt gegenüber menschlichen Normen, wie er in den Clausula Petri (Apg. 5, 29) aufscheint, ist theonom begründet. In der Geschichte war es lange Zeit die Kirche, die der Obrigkeit und dem Bürger interpretierte, was Gottes Wille, mithin, was Staats- und was Bürgerpflicht sei, was nicht, wann Normalfall und wann Widerstandsfall bestehe. Doch spricht Gott auch unvermittelt zum Einzelnen im Anruf des Gewissens. In der theonomen Rechtfertigung des Staates liegt der Keim zu seiner säkular-autonomen Rechtfertigung aus der Subjektivität des Individuums.

4. Christliches Menschenbild und Menschenrechte Im Menschenbild des Christentums, das auf Schöpfung und Erlösung gründet, sind wesentliche Züge der modemen Menschenrechte angelegt: die Einheit des Menschengeschlechts, das auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeht, die Gleichheit aller, die von Gott erschaffen sind, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, in dem sich ein Gedanke Gottes verkörpert, seine Personalität und Eigenverantwortung. Die Schöpfungs- und Erlösungslehre begründet die Würde des Menschen, und zwar nicht nur für das Abstraktum Menschheit, sondern für jeden einzelnen, der geschaffen und erlöst, zum ewigen Heile berufen und deshalb zu irdischer Bewährung gehalten ist 33 • Die dignitas humana kommt dem Menschen als Person zu. Die dignitas gründet im göttlichen Ursprung des Menschen und in der Menschwerdung Gottes. Das Opfergebet der tridentinischen Messe faßt die christliche Begründung großartig in Worte: "Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti: da nobis per huius aquae et vini mysterium, eius divinitatis esse consortes, qui humanitatis nostrae fieri dignatus est particeps, Jesus Christus, Filius tuus, Dominus noster". Die Staatsverfassung vermag die Würde des Menschen nur anzunehmen, nicht aber zu begründen. Die Staatsphilosophie kann sie postulieren, nicht aber ableiten, weil der Grund der Würde, die dem Menschen unverlierbar und unverfügbar eigen ist, nicht in ihm selber liegen kann. Die Entsprechung des christlichen Menschenbildes mit dem der modemen Menschenrechte darf jedoch nicht als Kongruenz verstanden werden. Das Christentum zeigt den Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Diese aber präjudiziert 33 Zum christlichen Menschenbild und seinem Einfluß auf die modemen Menschenrechte: Kasper (N 16), S. 14 ff.; Frank-Lothar Hossfeld, Grundzüge des biblischen Menschenverständnisses, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung, 1993, S. 9 ff.; Hans Maier, Überlegungen zu einer Geschichte der Menschenrechte, in: FS für Peter Lerche, 1993, S. 43 (48 ff.).

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nicht ohne weiteres die Beziehung zur Staatsgewalt. Die Theologie der Willensfreiheit zieht nicht die Anerkennung grundrechtlicher Willensfreiheit nach sich, wie auch die Prädestinationslehre kein Argument zugunsten einer autokratischen Staatsform abgibt. Dennoch liegt die Analogie von transzendenten auf immanente Vorstellungen nahe. Die individualistischen Momente, welche die Beziehung zu Gott prägen, strahlen auf die innerweltlichen Beziehungen aus. Eine tatsächliche Affinität des Christentums zur Demokratie amerikanischer Art wird schon von Tocqueville festgestellt: Christen, deren religiöses Gemüt von Wahrheiten des Jenseits zehre, erwärmten sich "für die Freiheit des Menschen, die Quelle aller sittlichen Größe. Das Christentum, das alle Menschen vor Gott gleich werden ließ, wird sich nicht dagegen sträuben, daß alle Bürger vor dem Gesetz gleich werden"34. Das Christentum hat sich freilich im Mittelalter mit patriarchalischen Gewaltverhältnissen und mit universalistischem Staatsdenken verbunden. Erst in der Neuzeit bricht sich der Individualismus politische Bahn, und der Einzelne begreift seine Freiheit, Gleichheit und Würde als Recht, sich von hergebrachten Autoritäten und aus tradierten Ordnungen zu emanzipieren. Die Rolle der Kirche in der Wirkungsgeschichte der Freiheitsidee ist ambivalent. Sie hat den Entwicklungsprozeß der Menschenrechte behindert, und sie hat ihn gefördert. Das Urteil wechselt mit dem jeweils gewählten Abschnitt der Geschichte. Doch auch dort, wo sie, bei unhistorischer Rückprojektion heutiger Maßstäbe, sich im krassesten Widerspruch zu den Menschenrechten befand, bei den Ketzerverbrennungen, als sie dem Häretiker weder die Gewissensfreiheit zuerkannte noch das Recht auf Leben, achtete sie den geistlichen Kern seiner Person, maßte sie sich nicht an, über sein ewiges Heil zu verfügen und dem Spruch Gottes vorzugreifen. Wenn nach Thomas die staatliche wie die kirchliche Autorität den häretischen oder den abtrünnigen Christen (nicht jedoch den Heiden oder den Juden) zwingen durften, auch mit Drohung der Todesstrafe, ihr einmal gegebenes Taufversprechen zu erfüllen 35, also insoweit die Berufung auf das Gewissen nicht half, so erkannte Thomas dennoch dem Gewissen, sogar dem schuldlos irrenden Gewissen, sittliche Letztverbindlichkeit zu. Im Konflikt mit dem staatlichen oder dem kirchlichen Gebot gehe das Gebot des Gewissens vor, auch auf die Gefahr der Exkommunikation hin 36 • Wer im Gewissen überzeugt sei, der Glaube an Christus sei etwas Schlechtes, sei auch kraft seines Gewissen verpflichtet, sich diesem Glauben fernzuhalten 37 • Gewissensfreiheit im menschenrechtlichen Sinne war das nicht. Vor dem Ketzergericht bot die Berufung auf die Gewissenspflicht 34 Alexis de Tocqueville, De la democratie en Amerique (1835-40), (dt.) Über die Demokratie in Amerika (hrsg. von Jacob P. Mayer), 1976, I. Teil, Einleitung (S. 14). 35 Summa theologica, II 2 qu. 10, 8 und qu. 11, 3 ad 3. Dazu und zum Folgenden Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 41962, S. 63 ff. 36 Summa theologica, II 2 qu. 104, I ad I; De veritate XVll 5 ad 4. 37 Summa theologica, II 1 qu. 19,5.

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keinen Rechtfertigungsgrund. Doch sie wies auf die Rechtfertigung vor Gott. Darin aber ist der Kern des christlichen und der Keim des staatsethischen Individualismus bezeichnet: Der Einzelne steht, kraft seines Gewissens, wenn es um die letzten Dinge geht, unmittelbar zu Gott. Er ist insoweit nicht auf Vermittlung durch irdische Instanzen angewiesen. Dem Gewissen vermag auch der Scheiterhaufen nichts anzuhaben. Es bildet den unzerstörbaren und den unverfügbaren Grund der Person. Auf diesem religiösen Grund erwächst der Anspruch auf sittliche und auf rechtliche Autonomie auch gegenüber den Institutionen des Diesseits 38.

5. Aktivität und Rationalität Die jüdisch-christliche Religion enthält in sich vielfache Kräfte der Aufklärung. Sie ergeben sich schon aus dem Gottesbild. Da Gott sich als Geist offenbart, hat die Dingwelt nicht göttlichen Charakter. Sie ist weltlich und so dem Zugriff des Menschen verfügbar. Die Religion bannt die magische Angst vor der Natur, entzaubert die Erde und fordert den Menschen auf, sie sich untertan zu machen. Sie entbindet Zuwendung zur Welt im Handeln wie im Erkennen, Aktivität und Rationalität. Aufklärerisch ist auch die neutestamentarische Kritik am äußerlichen, verkrusteten Verständnis des Gesetzes und geistlosem Gehorsam gegenüber Regeln und Institutionen. Aktivität und Rationalität sind Wesenszüge des modernen Staates, der dazu organisiert und mit Blankovollmacht ausgestattet ist, daß er den jeweiligen Erfordernissen des Gemeinwohls situationsgemäß und wirksam Genüge tut 39• Dennoch ist seine Kompetenz, die Leistungen zu erbringen, die das Gemeinwohl erfordert, nur subsidiär. Die primäre Gemeinwohlkompetenz fällt den Bürgern und freien Verbänden zu. Das Gemeinwesen, das seinen Bestand wie sein Gedeihen auf die private und die politische Freiheit seiner Bürger gründet, baut auf ihre Initiative, Leistungsbereitschaft und Tüchtigkeit und vertraut auf ihre praktische Vernunft. Der Wille zur Aktivität des Individuums und das Vertrauen in seine Rationalität leiten denn auch den Emanzipationsdrang, der die politische Moderne kennzeichnet 40 • 38 Welzel deutet die thomasische Gewissenslehre als "einen Höhepunkt im Entwicklungsprozeß um die Herausbildung des auf sittliche Autonomie gegründeten Persönlichkeitsbegriffs" (N 35, S. 63). Vgl. auch Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (N 20), S.162. 39 Zu Rationalismus und Aktivität als Merkmalen des modemen Staates: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 21966, S. 53 ff., 62 ff. Vgl. auch Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Studienausgabe von Johannes Winckelmann, 2. Hbb., 1964, S. 1034 ff. - Zum Einfluß des Christentums, zumal dem des Katholizismus auf die okzidentale Rationalität: Gottfried Eisermann, Max Weber und die Nationalökonomie, 1993, S. 159 ff. 40 Zu diesen Erfassungserwartungen: Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR Bd. V, 1992, § 115 Rn. 228.

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Auswirkungen des Christentums auf die säkulare Mentalität werden deutlich im Kontrast zum Hinduismus. Wenn im Glauben an die Wiedergeburt das Leben als wiederholbar erscheint, ersteht eine Seelenverfassung des Gleichmuts und der Gleichgültigkeit angesichts der Daseinsprobleme, eine lethargische Kultur der stehenden Zeit in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der christliche Glaube an die Einzigartigkeit des Lebens als diesseitige Bewährung für das ewige Heil gibt das Kair6s-Bewußtsein: Die knappe, rasch und unwiederbringlich verrinnende Lebenszeit ist hier und heute optimal zu nutzen; als Anstrengung des Läufers in der Rennbahn, als Vorsorge des Bauern für den Tag der Ernte - alles freilich im Blick auf das transzendente Ziel, nicht aber auf die irdischen Güter, die Rost und Motten verzehren. Doch jenseitsorientierte Aktivität, Werkfrömmigkeit und Spiritualität kehren sich in der Neuzeit auf diesseitige Ziele, schlagen um in Entdeckungsdrang, Unternehmerinitiative, Arbeitsethos, innerweltliche Askese 41. Die christliche Einsicht, daß auf Erden kein Paradies herstellbar ist, bedeutet nicht Resignation und heiligt nicht Quietismus. Sie hebt die Pflicht des Christen nicht auf, sich hier und heute in der WeH, wie sie ist, zu bewähren, wohl aber läutert sie die irdischen Hoffnungen und Enttäuschungen, wenn sie zeigt, daß das Ziel der Vollkommenheit niemals erreicht werden kann, obwohl die Lebensaufgabe im Diesseits darin besteht, es nach Kräften anzustreben.

6. Das Prinzip des Amtes Der modeme Staat, der das mittelalterliche Feudalwesen ablöst, übernimmt von der katholischen Kirche das Prinzip des Amtes 42. Das Amt umfaßt einen rechtlich definierten Ausschnitt von staatlichen Befugnissen, die ihrem Inhaber zur treuhänderischen Ausübung im ausschließlichen Dienst und Interesse der Allgemeinheit überantwortet werden, unter Ausschluß des privaten Eigennutzes des Inhabers und seiner subjektiven Eigenmacht. Im Amt verwandelt sich die Handlungsmacht der Organisation in die persönliche Pflicht des Inhabers. Potestas wird officium. Das Amt ist der kleinste Baustein der verfassungsstaatlichen Organisation. An das Prinzip des Amtes knüpft die rechtsstaatliche Bindung der Staatsgewalt, die föderale Kompetenzverteilung, die demokratische Legitimation 43 • Dazu Max Weber (N 39), S. 413 ff. Dazu Hans Hattenhauer, Geschichte des deutschen Beamtenturns, 21993, S. 11 ff. Vgl. auch Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (N 20), S. 166 f. 43 Zu Tradition und aktueller verfassungsrechtlicher Bedeutung des Amtsprinzips: Wilhelm Hennis, Amtsgedanke und Demokratieprinzip, in: FS für Rudolf Smend, 1962, S. 51 ff.; Krüger (N 39), S. 253 ff.; Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlichrechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 227 ff.; Peter Graf Kielmansegg, "Die Quadratur des Zirkels", in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S. 9 ff.; Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR Bd. II1, 1988, § 57 Rn. 10, 57 ff. 41

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Die mittelalterliche Kirche kämpft im Investiturstreit um die Unabhängigkeit der Stellenbesetzung und der Amtsführung von der weltlichen Gewalt. Sie kämpft auch um die Lauterkeit, die Sachlichkeit, die hierarchische Loyalität des Amtes in der Abwehr von Simonie und Nepotismus. Der Zölibat fordert die vorbehaltlose Hingabe an die Sachaufgabe; er schließt die Erblichkeit des Amtes aus, damit private Verfügbarkeit. Mit dem Amtsgedanken übernimmt die Kirche antikes Staatsethos, daß Herrschaft nicht im Eigeninteresse des Herrschenden ausgenützt werden darf und das gute Gemeinwesen durch das Gemeinwohl konstituiert wird: res publica res populi. Die Res-publica-Tradition wird über die katholische Kirche dem neuzeitlichen Staat vermittelt, wie sie ihm denn auch sonst antikes Erbe, etwa das Römische Recht, weitergibt. Sie sichert europäische Kontinuität und wirkt mit, das staatsethische Fundament des modemen Staates zu legen: daß legitim nur die staatliche Herrschaft!ür das Volk ist. Dieses republikanische Prinzip geht dem demokratischen Prinzip voraus, das legitim ist nur die Herrschaft durch das Volk 44 • Der modeme Staat findet in der Kirche auch sein Organisationsmodell: die zweckrationale, hierarchisch strukturierte Anstalt.

Irr. Das Christentum als soziokulturelle Voraussetzung des Verfassungsstaates

1. Fortdauernde Bedeutung der christlichen Ursprungsbedingungen Zwischen Christentum und Verfassungs staat besteht nicht allein ein historischer, sondern auch ein aktueller Wirkungszusammenhang. Der Verfassungsstaat lebt weiter auf dem europäischen Kulturboden, in dem er entstanden ist, aus dem Humus seiner Geschichte, und er zehrt von seinen Substanzen, zu denen das Christentum gehört, das diesen Boden im Laufe der Jahrhunderte durchdrungen und geprägt hat. Hier kommt es nicht darauf an, wie weit sich die Gesellschaft von der Religion ihrer Herkunft gelöst hat. Die Herkunft aus dem Christentum ist ihr unablöslich mitgegeben, auch ohne daß sie sich deren erinnern und sich zu ihr bekennen müßte. Säkularisiert und vielfältig vermittelt, wirken christliche Momente in Psyche und Verhalten der Gesellschaft, in Ethos und Normen. Damit aber wirken sie auch auf die Institutionen des Verfassungsstaates ein. Mehr als jeder andere Staatstypus ist er abhängig von Voraussetzungen, die seinem Zugriff nicht unterliegen 45. Er gründet auf der Freiheit der Bürger, und, was ihm an Ordnungsrnacht zukommt, geht aus deren Leistungen hervor, die er, 44

Zum Res-publica-Prinzip: Isensee, Staat (N 6), Sp. 141 f.; ders. (N 43), § 57

Rn. 7ff., 90 ff., 100 ff.

45 Dazu Böckenförde (N 29), S. 69; ders., Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36 f.; Isensee (N.40), § 115 Rn. 7 ff., 162, 163 ff.

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aufs Ganze gesehen, nicht erzwingen und nicht ersetzen kann. Daher steht und fällt er damit, daß die Bürger, wenn nicht in der Absicht, so doch im Effekt, von ihrer Freiheit einen gemeinwohlförderlichen Gebrauch machen. Seine Erwartungen richten sich auf Aktivität, Tüchtigkeit, Ethos der Bürger, auf Potenzen der Moral und der Religion, in ihnen auf das christliche Erbe. Doch das Erbe wäre rasch verbraucht, wenn es sich nicht stetig erneuerte und mehrte und wenn die religiöse Quelle versiegte, aus deren Aufkommen der säkulare Staat schöpft. Damit richtet sich auf das Christentum eine Erwartung des säkularen Verfassungsstaates, die nicht seiner eigentlichen, religiösen Botschaft gilt, sondern deren säkularen, gemeinwohldienlichen Nebenwirkungen 46• Diese werden von den Theoretikern des Verfassungsstaates von jeher aufmerksam beobachtet. Nach Tocqueville rufen auch die Anhänger des modernen Freiheitsgedankens, "deren Blicke mehr auf die Erde als zum Himmel gerichtet sind", die Religion eilig um Hilfe; "denn sie müssen wissen, daß man das Reich der Freiheit nicht ohne die guten Sitten zu errichten und die guten Sitten nicht ohne den Glauben zu festigen vermag" 47. Montesquieu untersucht die verschiedenen Religionen der Welt auf den Nutzen hin, den der Staat aus ihnen zieht, und zwar gleich, ob es sich um eine Religion handele, die ihren Ursprung im Himmel habe, oder um die vielen anderen, die auf der Erde wurzelten. Er stellt fest, daß eine gemäßigte, freiheitliche Regierung gerade der christlichen Religion entspreche und daß diese, indem sie den Menschen befehle, einander zu lieben, auch darauf hinwirke, daß jedes Volk die besten politischen und bürgerlichen Gesetze habe. ,,Es ist wunderbar: die christliche Religion, die nur auf die Glückseligkeit des Jenseits zu zielen scheint, beschert uns auch das Glück im irdischen Leben"48.

2. Universalisierbarkeit des Verfassungsstaates als Problem Der Verfassungsstaat strebt nach weltweiter Verbreitung 49. Sein Erfolg ist heute größer denn je, seit sein wichtigster Rivale im 20. Jahrhundert, der totalitäre 46 Näher Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche Bd. 25 (1991), S. 104 ff. (bes. S. 136 ff.). 47 Tocqueville (N 34), S. 14. 48 Montesquieu, De I'Esprit des Lois (1748), XXXIV, 1,3 (dt. von Ernst Forsthoff, 21992, S. 160 f., 163). Zur Instrumentalisierung der Religion für Zwecke der Aufklärung: Christoph Link, Christentum und moderner Staat, in: Luigi Lombardi Val1auri / Gerhard Dilcher (Hrsg.), Christentum, Säkularisation und modemes Recht, Baden-Baden und Mailand 1981, S. 853 (854,858 ff. - ,,natürliche Religion" als Gebot der Staatsraison); Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 219 ff. 49 Zu den Universalisierungstendenzen der Menschenrechte: Christian Tomuschat, Probleme des Menschenrechtsschutzes auf weltweiter Ebene, in: Thomas Berberich / Wolfgang Holl / Knut-Jürgen Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 9 ff.; ders., Human Rights in a World Wide Framework, in: ZaöRV 45 (1985), S. 547 ff.; Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, bes. S. 107 ff. (Nachw.); Isensee, Staat (N 6), Sp. 139 f., 141 f.; Werner von Simson, Überstaatliche

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Staat des Sozialismus, politisch am Boden liegt, ökonomisch und moralisch diskreditiert. Unter den Staatstypen der Gegenwart hat der Verfassungsstaat des Westens die ideelle Hegemonie erlangt. Die Idee, die er verkörpert, erweist sich heute als die mächtigste aller politischen Ideen: die Freiheit in ihrer zwiefachen Ausprägung als grundrechtliche Selbstbestimmung des Individuums und als demokratische Selbstbestimmung des Volkes, die aus der Mitbestimmung des Bürgers hervorgeht. Die Menschenrechte, ihrer Intention nach angelegt auf universale Geltung für einen jeden, der Menschenantlitz trägt, werden weltweit anerkannt in Staatsverfassungen wie in internationalen Deklarationen und Pakten. Nahezu kein Staat, der sich nicht als demokratisch deklarierte. Neuerlich mehren sich auch die Bekenntnisse zu Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Parlamentarismus. Alle Welt erweist den Gedanken des Verfassungsstaates semantische Reverenz. Freilich handelt es sich weitgehend auch nur um Semantik, wenn sie außerhalb ihres europäisch-amerikanischen Herkunftsraumes Zustimmung fmden. Der Konsens im Namen der Menschenrechte und der Demokratie ist vielfach Formelkonsens, der den Dissens in der Sache verschleiert. Menschenrechte und Demokratie erweisen sich in der babylonischen Sprachenverwirrung, die in der Staatenwelt herrscht, als sinnvariabel. Hier wirkt sich der unterschiedliche Verständnishorizont der Kultur aus, die in ihren Grundlagen vorgeprägt ist durch die Religion. In Asien und Afrika ist es im wesentlichen die europäisierte Oberschicht, welche die genuin europäischen Staatsgedanken aufnimmt. Die Oberschicht aber ist dünn und fragil. Noch steht der Nachweis aus, ob der Verfassungsstaat tiefere Wurzeln treiben kann, ob etwa in Indien die "Westminster"-Demokratie den ganzen Demos erreicht oder ob die Menschenrechte unter heterogenen soziokulturellen Voraussetzungen effektive Wirksamkeit erlangen, etwa in einer afrikanischen oder asiatischen Gesellschaft, der emanzipatorische Bestrebungen fremd sind, die nicht auf die Freiheit des Individuums sieht, sondern auf seine Einbindung in Familie, Sippe, Orts- oder Stammesgemeinschaft. Zunehmend regen sich Zweifel daran, ob der Islam, dem die Trennung von Staat und Religion fremd ist, jemals zu einem modus vivendi wird finden können mit dem säkularen Verfassungsstaat, mit der Religionsfreiheit wie überhaupt mit individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Aus dem Islam wie aus anderen außereuropäischen Kulturkreisen erhebt sich prinzipielle Kritik am "Eurozentrismus" der Menschenrechte 50• Die Kritik läßt sich nicht leichter Hand abtun, indem man sich auf ein kosmopolitisches Menschenbild beruft. Denn dieses ist das Menschenbild der Europäer. Die Europäer aber können nach ihrem Bilde die Menschenrechte für alle Welt konzipieren, aber nicht die Menschen. Die Menschenrechte wie auch die demokratischen Rechte kommen den Menschen zu, wie sie kraft ihrer kulturellen Herkunft Menschenrechte, in: FS für Karl Josef Partseh, 1989, S. 47 ff.; Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR Bd. V, 1992, § 108 Rn. 45 ff., 54ff. 50 Dazu mit Nachw. Kühnhardt (N 49), S. 107 ff.

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und ihrer sozialen Umwelt tatsächlich sind, und sie können nur Wirksamkeit erlangen, wenn sie sich mit den autochthonen Kulturen und Strukturen verbinden. Die Frage, ob die europäischen Staatsgedanken tatsächlich universalisierbar sind, also über den christlich-europäischen Kulturkreis hinauswachsen können, läßt sich heute noch nicht beantworten. Das Experiment der Universalisierung läuft noch. Immerhin ist schon die weltweit verbreitete Semantik der Menschenrechte und der Demokratie ein Hoffnungszeichen für einen erfolgreichen Ausgang des Experiments. Die Geschichte gerade der jüngsten Zeit zeigt: Der Sieg des Wortes kann den Sieg der Sache nach sich ziehen. 3. Das Europäische der Europäischen Gemeinschaft Die Frage der soziokulturellen Fundierung des Verfassungsstaates gewinnt praktische Bedeutung für die Europäische Gemeinschaft, wenn sie sich zu entscheiden hat, welchem Beitrittsbegehren weiterer Staaten sie sich öffnen soll. Die Entscheidung stellt sich gegenüber der Türkei und den osteuropäischen Staaten. Der Staatenverein mit seirier wachsenden Kompetenzausstattung und Integrationsdichte und der zunehmenden Reichweite des Mehrheitsprinzips ist auf Homogenität seiner staatlichen Mitglieder angewiesen 51. Die Homogenität ergibt sich wesentlich aus ihren Verfassungen, doch nicht aus der verbalen Übereinstimmung der Verfassungstexte, sondern aus der substantiellen Gemeinsamkeit der rechtlichen Grundordnungen. Diese aber hängen ab von soziokulturellen Voraussetzungen. Kultur und gesellschaftliches Ethos sind nicht nur mittelbar bedeutsam im Hinblick auf die Verfassungen. Sie sind letztlich die Sache selbst: das Europäische an der Europäischen Union. Europa ist keine Einheit der physischen Geographie, sondern eine Einheit des in langer Geschichte gewachsenen und gereiften sittlichen und kulturellen Bewußtseins 52 • Dieser Kontinent des Geistes ist wesentlich geformt durch das Christentum, genauer: durch das lateinische Christentum, das der Ort übernationaler säkularer Erfahrung ist, wie sie sich in Renaissance und Barock, Aufklärung und in der wissenschaftlich-technischen Epoche vollzogen hat. Das ostkirchliche Europa hat diese Entwicklung nicht mitvollzogen. Im politischen Bewußtsein reicht "Europa" nicht bis zum Ural, sondern nur bis Finnland und zum Baltikum, bis Polen und Ungarn, Slowenien und Kroatien aber nicht darüber hinaus. Auf dem Balkan stoßen die religiös geformten Elemente des Erdteils unverträglich und unversöhnt aufeinander: das lateinische Element, das orthodoxe und das islamische. 51 Dazu Hans Peter Ipsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS für Günter Dürig, 1990, S. 159 ff. Näher Josef Isensee, Europa die politische Erfmdung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 103 (122 ff.). 52 Näher Isensee (N 51), S. 107 ff. (110 ff.).

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IV. Die historische Abwehrhaltung der katholischen Kirche gegen die politische Moderne Mit einigem Recht, wie wir gesehen haben, darf man die Menschenrechte und die Demokratie, darin allgemein den Verfassungsstaat, als Kinder des Christentums bezeichnen. Doch in geschichtlicher Hinsicht sind sie illegitime Kinder, gezeugt ohne den Segen der Kirche, von ihr verleugnet und verstoßen. Spät erst kommt es zur legitimatio per matrimonium subsequens.

1. Konservierung des Ideals der vormodernen Einheitswelt Der prinzipielle Gegensatz zwischen Katholizismus und politischer Modeme reißt auf, als sich im Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts der modeme Staat herausbildet, und zwar vorerst im Verfassungsgewande der absolutistischen Monarchie 53 • Er löst das Dilemma, das der Zerfall der mittelalterlichen Glaubenseinheit in der Reformation heraufgeführt hat: daß der Glaube, bisher Grundlage der staatlichen Einheit, sich in deren Sprengstoff verwandelt hat. Nunmehr verzichtet der Staat darauf, die verlorene Glaubenseinheit mit Gewalt wiederherzustellen, und zieht sich auf weltliche Ziele zurück. Deren erstes aber ist der innere Frieden, die institutionelle Überwindung des Bürgerkrieges, die Herstellung eines Gesamtzustandes der inneren Sicherheit. Der Weg dazu führt über Entwaffnung der potentiellen Bürgerkriegsparteien und Entmachtung der alten Feudalherren zur Aufrichtung der staatlichen Souveränität nach innen und nach außen. Am Ende erhebt sich der modeme Staat als machtbewehrte, gewaltmonopolistische Friedenseinheit und als souveräne Entscheidungseinheit im Horizont säkularer Zwecke 54. Der Verfassungsstaat übernimmt die Grundstruktur der Staatlichkeit von der absolutistischen Monarchie, gibt ihr die demokratische Legitimation und steckt ihr die rechts staatlichen Ziele und Grenzen 55 • Doch er teilt diese Grundstruktur mit allen Staatsformen der Gegenwart. Sie bildet den gemeinsamen Nenner der Staatlichkeit, auf dem die universale Ordnung des Völkerrechts aufbaut. Die Kirche stellt sich der Entwicklung des souveränen Staates von Anfang an entgegen. Die Souveränität tastet die Existenz der geistlichen Stände an. Sie trifft die politische Superiorität des Papstes. Die Kirche sieht den modemen Staat als generelle Gefährdung ihrer Unabhängigkeit; mit Grund fürchtet sie, daß er sie für seine Zwecke instrumentalisieren will. In erster Linie sind freilich ihre außergeistlichen Belange gefährdet. In den prinzipiellen Absagen der Päpste an die politische Modeme schwingt denn auch die Sorge um die Temporalien mit. Für 53 Zur Entstehung des modernen Staates Quaritsch (N 29), S. 243 ff., 395 ff.; Bökkenförde (N 29), S. 42 ff. 54 Dazu Krüger (N. 39), S. 32 ff.; Link (N 48), S. 855 ff. 55 Dazu Isensee, Staat (N 6), Sp. 135 ff.

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Pius VI. ist im Jahre 1791 die Zivilkonstitution der französischen Nationalversammlung Anlaß zur Abrechnung mit den Ideen der Revolution im Breve "Quod aliquantum" . Für Pius IX. geht es in seiner Kampfansage an die "freigeisterischen Irrlehren" in der Enzyklika "Quanta cura" mitsamt ihres Syllabus-Anhangs auch um den Bestand der weltlichen Herrschaft des Papstes im römischen Kirchenstaat 56 • Die Kirche verwirft die Säkularität des modemen Staates, weil sie ihr die Abkehr von der Wahrheit bedeutet, die sich in dem - allein wahren - christlichen Glauben verkörpert. Der Staat entzieht sich dem Heilsauftrag, der ihm obliegt wie der Kirche, wenn sie beide ihn auch jeweils auf ihrer Ebene und mit den ihnen eigenen Mitteln erfüllen, er indirekt, sie direkt, aber doch in gemeinsamer Verantwortung, einander zugeordnet wie Leib und Seele. Ein Staat ohne Gott oder ein Staat, der sich zu allen Religionen neutral verhält und sie ohne Unterscheidung auf ihren Wahrheitsgehalt als gleichberechtigt anerkennt, stellt sich nach Leo XIII. in Widerspruch zu Gerechtigkeit und Vernunft 57 • Wenn der Staat das Wohl seiner Bürger klug und zweckdienlich fördern will, muß er auch die Kirche erhalten und schützen, wie diese ihrerseits die staatliche Ordnung festigt und ihr Schutz bietet vor den Gefahren von Revolution und Reaktion 58. Eine Trennung von Kirche und Staat wird daher verworfen 59. Die versunkene Einheitswelt des Mittelalters erscheint in der Rückschau als die gottgewollte, wahre Ordnung. Sie stellt sich nun dar als das politische Ideal. Die Kirche hält an ihm fest, obwohl die religiösen und politischen Fundamente längst zerborsten sind. Was beim Aquinaten das ideale Abbild der zeitgenössischen Wirklichkeit gewesen ist, gerät jetzt zu deren kritischem Gegenbild, um sich am Ende zu verklären zum romantischen Traumbild vom verlorenen Paradiese. Eine Staatslehre, die sich mit dem Aquinaten erhoben hatte wie ein gotischer Dom über Markt und Giebelhäuser, über die ganze mittelalterliche Lebenswelt, wirkt nunmehr, in der Fortschreibung und Nachahmung des 19. und 20. Jahrhunderts, wie eine neugotische Vorstadtkirche im Ensemble der Werkhallen und Fabrikschlote; sie steht da als rührender Atavismus, wie die pseudomittelalterliche New Yorker St.-Patricks-Kathedrale inmitten der Wolkenkratzer.

2. Universalismus versus Individualismus Die altständische Ordnung gibt die historische Folie für die Deutung des Staates als Organismus. Hier fmdet ein jeder seinen sicheren Ort, seine vorbeAusdrücklich thematisiert im Syllabus n. 113-115 (N 2, U-G Bd. I, S. 50 f.). Leo xm., Enzyklika ,,Libertas praestantissimum" v. 20. Juni 1888 (U-G Bd. I, S. 200 ff., 210 f.). Vgl. auch ders., Enzyklika ,,Immortale dei" v. 1. November 1885 (UG Bd. m, S. 2134 ff.). Dazu PeterTischleder, Die Staatslehre Leos xm., 1925, S. 282 ff. 58 Leo xm., ,,Libertas" (N 57), S. 204 f. Weit. Nachw. Isensee (N 15), S. 323 f. 59 Ausdrücklich Pius IX., Syllabus n. 92 (N 2, S. 46 f.). 56 57

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stimmte Aufgabe, seine Pflichten 60 • Der Einzelne gliedert sich in das Ganze ein. Das Ganze aber ist vor dem Teil. An dem christlich adaptierten Universalismus aus der Schule des Aristoteles bricht sich der moderne Individualismus. Der Teil und das Ganze stehen einander nicht als Rechtssubjekte gegenüber. Der Teil hat kein Eigenrecht gegen das Ganze, da er doch um des Ganzen willen da ist. Zwischen den verschiedenartigen Gliedern des Organismus gibt es keinen Ansatz für abstraktes Gleichheitsdenken und unter den unterschiedlichen Aufgaben und Bedürfnissen der Glieder keinen Ansatz für ein abstraktes Prinzip der Freiheit. Das einseitige Bild des Menschen in seiner Vereinzelung, von dem die liberalen Freiheitsrechte ausgehen, fordert den Widerspruch der Kirche heraus. Papst Pius VI. verwirft die Gedanken- und Handlungsfreiheit, die von der franzö,sischen Nationalversammlung proklamiert werden, mit dem Argument, daß die Menschen nicht nur einzeln, um ihrer selbst willen, geschaffen worden sind, sondern auch um ihrer Mitmenschen willen und zu ihrer Unterstützung. "In ihrer natürlichen Schwäche bedürfen sie zu ihrer Erhaltung der gegenseitigen Hilfeleistung"61 die vorgegebene Grundpflicht zur Solidarität also als Einwand gegen den liberalen Freiheitsentwurf. Die Kirche beschwört die organische Einheit des Ständewesens gegen den Pluralismus der offenen Gesellschaft, die Statik und Geschlossenheit der vormodemen Welt gegen Unruhe, Wettbewerb, Antagonismus. Noch im Jahre 1931 baut Pius XI. darauf, daß ein modernisiertes Ständemodell von berufsgemeinschaftlichen "ordines" den Klassenkampf werde überwinden und die innere Ruhe des Gemeinwesens wiederherstellen können 62 . Auch nach ihrem epochalen Bekenntnis zum Subsidiaritätsprinzip im 20. Jahrhundert zeigt die Kirche wenig Gespür für die Selbststeuerungskräfte einer offenen pluralistischen Gesellschaft. Insbesondere mißtraut sie dem Markt, den gemeindienlichen Wirkungen des wirtschaftlichen Eigennutzes im freien Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Sie hält sich lieber an altruistische Modelle und hat daher eher eine Affinität zu sozialistischer Zwangsmoral der Wirtschaft als zum liberalen Ethos des marktgerechten Verhaltens. Mit noch ärgerer Verspätung als die Öffnung zum Verfassungsstaat vollzieht sich die Öffnung zur Marktwirtschaft, obwohl sie dessen freiheitliches Pendant ist. Der enge und schiefe marxisti60 Zum Folgenden näher mit Nachw. Isensee (N 15), S. 309 ff., 322 ff. Zu der weitgehend parallel laufenden Entwicklung im Bereich der evangelischen Kirche: Heckel (N 32); s. auch Link (N 48), S. 868 ff. 61 Pius VI. (N 12), S. 2662 f. 62 Pius XI., Enzyklika "Quadragesimo anno" v. 15. Mai 1931, n. 81-95 (U-G Bd. I, S. 602 ff.). Zu diesem vieldeutigen Modell: Adolf Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika "Quadragesimo anno", in: Zeitschrift für Öffentliches Recht XIV (1934), S. 208 ff.; Erik Voegelin, Der autoritäre Staat, 1936, S. 206 ff., 226 ff.; Gustav Gundiaeh, Fragen um eine berufsständische Ordnung, in: StdZ 125 (1933), S. 217 ff.; Anton Rauscher, Sozialphilosophische und ökonomische Realität, in: Ordo xn (1960/61), S. 433 ff.

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sche Dualismus von Kapital und Arbeit bestimmt die Perspektive Johannes Paul 11. in ,,Laborem exercens" und verstellt die Sicht auf die Marktpolarität von Angebot und Nachfrage. Nach der Implosion der real-sozialistischen Staaten findet der Papst in "Centesimus annus" endlich ein gutes Wort für die Marktwirtschaft, freilich nur ein kurzes, hingegen viele lange Worte für deren Mängel, Grenzen, Korrekturbedarf, im Ergebnis für einen staatlichen und überstaatlichen Interventionismus 63. Noch immer tut sich die Kirche schwer mit der Rahmenordnung der Freiheit. Das organische Staatsdenken der kirchlichen Tradition entspricht ihrem unpolitischen Intellektualismus: daß die richtige Ordnung des Gemeinwesens in ehernen Prinzipien des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit schon vorgegeben sei und nur erkannt und umgesetzt werden müsse. Hier ist kein Ort für voraussetzungslose politische Entscheidung und für die Souveränität des Volkswillens. Der staatliche Organismus ist gewachsen. Er wird nicht gemacht. Just das aber ist Ziel der politischen Modeme, seitdem die Renaissance den "Staat als Kunstwerk"64 begreift. Von der Machbarkeit des Staates gehen die verfassungspolitischen Bewegungen aus, die ihn als Gegenstand des Planens und Gestaltens begreifen. Auf dieser Prämisse gründet seit Thomas Hobbes die Philosophie, die ihn als Produkt menschlicher Vernunft rechtfertigt. Sie versteht ihn auch nicht als Organismus, vielmehr als Mechanismus. Allerdings bezieht sie sich nur auf den Staat im engeren Sinne als Staatsgewalt, als das Gegenüber der Gesellschaft, also nur als Teil des Gemeinwesens, indes der weitere Staatsbegriff gerade das Gemeinwesen umgreift und das Ganze meint, das noch nicht geschieden ist in Regierung und Regierte, in Herrschaftsorganisation und Gesellschaft. Der engere Staatsbegriff bezeichnet den Adressaten der Grundrechte sowie das Substrat der rechtsstaatlichen Freiheitsgarantien. Die Kirche aber meint das Gemeinwesen in seiner Ganzheit und Fülle als societas perfecta et completa, wenn sie vom Staat spricht 65 • Der Verfassungsstaat aber ist seiner Intention nach imperfekt und inkomplett: fragmentarische und subsidiäre Rahmenordnung der Freiheit. Schon im Staatsbegriff waltet Dissens zwischen Kirche und moderner Welt. Sie reden aneinander vorbei. Die Verständigung wird erschwert durch die scholastische Begrifflichkeit, deren sich die katholische Staats- und Soziallehre bedient bis tief in das 20. Jahrhundert hinein und mit der sie sich abschottet gegen den modemen Geist und seine Sprache, gegen die philosophischen Gründe des Verfassungsstaates und gegen seine juridischen Formen. Die prinzipielle Abwehrhaltung wird eindrucksvoll dokumentiert durch förmliche Bücherverbote. Der Index Ro63

Johannes Paul ll., "Centesimus annus", n. 30 ff. (N 4, S. 35).

64 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Überschrift des

Ersten Abschnitts (Ausgabe 1981, S. 27). 65 Ein engerer Staatsbegriff liegt allerdings der Lehre zugrunde von den Pflichten des Untertanen gegen die Obrigkeit ("potestas" im Sinne von Röm. 13). Zu den verschiedenen Staatsbegriffen Isensee, Staat (N 6), Sp. 144 ff.; ders. (N.43), § 57 Rn. 7 ff.

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manus führt nahezu alle Klassiker der politischen Moderne auf: Machiavelli, Guicciardini und Bodin, Hobbes, Locke und Pufendorf, Montesquieu, Rousseau und Kant 66 •

3. Keine menschenrechtliehe Freiheit für den Irrtum Als sich in der französischen Revolution das moderne Freiheitsbegehren radikal und geschichtsmächtig entlädt, tritt ihm der Papst schroff und prinzipiell entgegen. Er sieht in ihm die Hybris und den Abfall Luzifers, das unheilige ,,Non serviam" 67, die Rebellion gegen jenes Gebot, mit dem Gott schon im Paradiese die Freiheit der ersten Menschen beschränkt hat: nicht den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen 68 • Im Griff nach der Gewissensfreiheit und der Meinungsfreiheit vollzieht sich der Höllensturz der modernen Gesellschaft; Gregor XVI. gibt in seiner Enzyklika "Mirari vos" eine apokalyptische Vision 69 • Dem negativen Freiheitsentwurf der liberalen Menschenrechte setzt die Kirche ihren eigenen, positiven Freiheitsentwurf entgegen: Freiheit als Fähigkeit des Menschen, den Willen Gottes zu tun und darin das eigene Wesensgesetz zu erfüllen. Die Freiheit ist ausgerichtet auf die Wahrheit, und sie enthält aus dieser ihr Recht. Der Mensch hat nicht die Freiheit, die Wahrheit zu mißachten, den Irrtum zu verbreiten, das Böse zu tun. Die katholische Kirche, die das Recht der Wahrheit einfordert, ist sich sicher, im Besitz der Wahrheit zu sein. Das moderne 66 Ausweislieh des Index librorum prohibitorum aus dem Jahre 1835 (Ausgabe: Index librorum prohibitorum iuxta exemplar romanum iussu sanctissimi domini nostri, Mechliniae (Mecheln) 1838; vgl. auch Index Romanus. Verzeichnis sämtlicher auf dem römischen Index stehenden deutschsprachlichen Bücher, desgleichen aller wichtigen fremdsprachlichen Bücher seit dem Jahre 1750, hrsg. von Albert Sleumer, OsnabTÜck 111956) waren verboten (in Klammern der Zeitpunkt des Verbotes): Niccolo Machiavelli, Opera omnia (1564); Jean Bodin, De Republica libri VI (1592); ders., De Magorum Daemonomania (1594); ders., Methodus ad facilem Historiarum cognitionem (1596); ders., Universae Naturae Theatrum (1633); Francesco Guicciardini, La Historia d 'Italia con le postille in margine delle cose piii notabili, con la vita deli' Autore di nuovo riveduta, e corretta per Francesco Sansovino, con l'aggiunta di quattro libri lascati addietro dall'Autore (1627); ders., Loci duo ob rerum, quas continent, gravitatem cognitione dignissimi, ex ipsius Historiarum libris tertio et quarto dolo malo detracti, nunc ab interitu vindicati (1603), ders., Historiam sui temporis libri XX, ex Italico in latinum sermonem conversi. Coelo Secundo Curione interprete (1596); Thomas Hobbes, Opera omnia (1703); John Locke, An essay concerning human understanding (1734); ders., The reasonableness of christianity as delivered in the Scriptures (1737); Charles de Secondat de Montesqieu, De l'esprit des loix (1751); ders., Lettres persanes (1762); Samuel von Pufendorf, Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten in Europa (1692, in latein. Sprache: 1736); ders., De iure naturae et gentium, libri VIII (1711); ders., De officio hominis et civis iuxta legern naturalern, libri 11 (1751); ders., De statu imperii germanici liber I, notis ad praesens saeculum accomodatis auctus a. Jo. Godofr. Schaumburg (1753); Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, ou principes du droit politique (1766); Immanuel Kant, Critica della Ragione pura (1827). 67 Leo XIII., ,,Libertas" (N 57), S. 194 f. 68 So Pius VI. (N 12), S. 2662 f. 69 Gregor XVI., Enzyklika ,,Mirari vos" v. 15. August 1832, in: U-G Bd. I, S. 148 f.

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Dilemma, daß die Wahrheit ungewiß ist, Ziel des Suchens, Ursache des Streits, erschüttert sie nicht, weil sie kraft ihres Lehramtes die Antwort der Wahrheit bereithält. Sie verwirft die menschenrechtliche Lösung des Verfassungsstaates, sich der Entscheidung über die Wahrheitsfrage zu enthalten und sie den Individuen zuzuweisen. Sie traut diesen nicht zu, die Wahrheit unter den Bedingungen subjektiver Freiheit zu finden. Denn sie teilt nicht den naiv-aufklärerischen Glauben an das Gute im Menschen. Die durch Erbsünde verderbte Natur bedarf der Autorität. Daß nicht nur die menschenrechtliehe Freiheit, sondern auch die Autorität erbsündigen Menschen anvertraut ist, bedeutet keinen inneren Widerspruch, jedenfalls solange die staatliche Autorität über die kirchliche den Konnex mit der ewigen Wahrheit hält. In den modernen Freiheitsrechten reißt dieser Zusammenhang. Gregor XVI. prophezeit die Folgen: "Denn wenn der Zügel zerrissen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden, dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den Abgrund. . . . Die Erfahrung bezeugt es, und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel in sich zusammen, nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht" 70. Die Kirche verwirft auch den Rückzug des Verfassungsstaates auf die Legalität, seinen Verzicht darauf, Moralität zu erzwingen, seine Selbstbescheidung darin, das ethische Minimum zu gewährleisten. Dieser Begrenzung der Staatsgewalt entspricht aber der negative Freiheitsentwurf der liberalen Grundrechte, die dem guten wie dem bösen, dem verständigen wie dem törichten Gebrauch offenstehen.

4. Parteinahme für das monarchische Prinzip Im politischen Konflikt, der mit der französischen Revolution in Europa aufreißt, steht die katholische Kirche im Lager der alten Mächte. Sie nimmt Partei wider die demokratische Bewegung, für die monarchische Ordnung. Der Papst begrüßt im Jahre 1814 die Restauration des Königtums der Bourbonen in Frankreich, mit besonderer Freude darüber, daß nunmehr wieder ein Nachkomme aus dem Geschlecht des heiligen Königs Ludwig dazu berufen sei, die französische Nation zu regieren. Die Freude werde allerdings dadurch getrübt, daß der Entwurf der neuen Verfassung die Religions- und Gewissensfreiheit allen Konfessionen ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Irrtum zugestehe, und daß er die Pressefreiheit gewährleiste, die größte Gefahr für Sitte und Glauben heraufbeschwöre 71. Die Absage an die Demokratie wird theologisch untermauert durch die Ableitung der Staatsgewalt aus dem Willen Gottes (Röm. 13), die eine Ableitung aus 70 Gregor XVI., "Mirari vos" (N 69), S. 148 f. Zum Freiheitsbegriff der Päpste: Isensee (N 15), S. 310 ff. (Nachw.). 71 Pius VII., Litterae Apostolicae ,,Post tarn diutumas" v. 29. April 1814 (in: U-G Bd. I, S. 462 ff.).

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dem Willen des Volkes ausschließe. Das Prinzip der Volkssouveränität wird somit verworfen. Der Gehorsam, den der Christ nach Paulus der - nicht durch eine besondere Staatsform spezifizierten - "potestas" schuldet, wird gedeutet als dynastische Treupflicht 72 • Die Absage an die Volkssouveränität wirkt lange nach im politischen Katholizismus, der mit der demokratischen Grundnorm, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, seine Glaubensnot hat, obwohl dieser Satz nur die innerweltliche Legitimation der Staatsgewalt zum Thema hat, die Negation der Autokratie, indes die Frage der religiösen theonomen Begründung jenseits des säkularen Verfassungshorizontes liegt. Das Problem löst noch bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat eine Debatte aus 73.

V. Allmähliche Annäherung und Aussöhnung Zwischen der Verwerfung, die das verfassungsstaatliche Werk der Aufklärung nach 1789 durch die Päpste erfuhr, und der Zuwendung, die ihm heute der Papst bekundet, liegt eine kopernikanische Wende. Diese vollzieht sich nicht uno actu. Vielmehr verläuft sie in einem langen, schwierigen Prozeß, der sich durch zwei Jahrhunderte hinzieht. Er bewegt sich auf vielen, oft verschlungenen und unsichtbaren Wegen. Die Annäherung erfolgt schrittweise. Der Konfliktstoff wird nach und nach entschärft. Immerhin läßt sich der historische Zeitpunkt klar bestimmen, an dem die Kirche ihren letzten Dissens mit dem Verfassungsstaat amtlich beilegt, den Dissens über die Religionsfreiheit. Das Datum ist der 7. Dezember 1965, als das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung "Dignitatis humanae" annimmt.

1. Verbürgerlichung der Kirche Vor jeder lehramtlichen Annäherung vollzieht sich die soziologische Anpassung der Kirche an das bürgerliche Zeitalter, das sich mit der französischen Revolution in Europa etabliert hat. Seit sie ihre weltliche Herrschaft in der Säkularisation eingebüßt hat, rekrutiert sie ihr Führungspersonal kaum noch aus dem Adel, sondern überwiegend aus dem Bürgertum; es sind nicht zuletzt Handwerker- und Bauernsöhne, die nun die Bischofsstühle besetzen. Damit löst sich die hergebrachte Verflechtung der Kirche mit den regierenden Häusern und der Aristokratie. 72 Vgl. Pius VI. (N 12), S. 2664 f.; Gregor XVI. (N 69), S. 150 ff.; Leo XIII., Enzyklika "Diutumum illud" v. 29. Juni 1881 (in: U-G Bd. III, S. 2094 f.). Dazu: Tischleder (N 57), S. 208 ff. 73 Dazu Nachw. in: JöR n. F. 1 (1951), S. 198 f.; Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 11953, Art. 20 Anm. 5 (S. 136).

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Die äußere Anpassung an das Bürgertum wird begleitet durch die innere Verbürgerlichung der Kirche. Sie öffnet sich zunehmend bürgerlichen Wertvorstellungen und macht sich bürgerliche Tugenden, ein moralisches Erbe der Aufklärung, zu eigen: Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit, Ordnungs sinn, Sauberkeit, Sittsamkeit. Joseph Haydn, Katholik dörflicher Herkunft und barockhöfischer Berufsprägung, seufzt noch, als ihm sein aufklärerischer Librettist und Mentor van Swieten zumutet, ein ,,Lob des Fleißes" für das Oratorium der ,,Jahreszeiten" (1801) zu komponieren 74. Eine Generation später wird die Trägheit als Sünde im Beichtspiegel aufgeführt. Folgenschwer für die Kirche wird die Übernahme der bürgerlichen Sexualmoral, wie sie in der Aufklärung Gestalt angenommen hatte. Das Bürgertum hatte sich gerade in seiner Sittenstrenge abgesetzt von der Frivolität des Rokoko und von der Verderbtheit des ancien regime. Lessings "Emilia Galotti" ist hier literarisches Zeugnis. Die Kirche, im Barockzeitalter selbst einbezogen in die höfische Kultur der Sinnlichkeit, geht nun dazu über, die bürgerliche Moral mit eigenen Traditionen paulinischen, manichäischen, c1uniazensischen Ursprungs zu verbinden, sie zu verinnerlichen und zu überhöhen. Literarisches Zeugnis sind hier Manzonis "I promessi sposi". Die Beichtmoral des katholischen Volkes fixiert sich zunehmend auf das sechste Gebot, das vom Verbot des Ehebruchs zum Verbot der Unkeuschheit mutiert und sich mit absoluter Todsünden-Sanktion bewehrt. Die bürgerliche Kultur der Innerlichkeit, wie sie auf schönste erblüht in der Romantik, verbindet sich mit der katholischen Lebenswelt. Die rechtlichen Institutionen der Ehe und Familie laden sich nun auf mit Gemütswerten. Der Subjektivismus des Gefühls fließt in die Kirchenfrömmigkeit ein, die den innigen romantischen Ton annimmt, aber auch dazu neigt abzugleiten ins Süßliche und Fade. Die verbürgerlichte Kirche gewinnt an Spiritualität. Aber sie nimmt auch anämische Züge an. Die alte Symbiose der katholischen Kirche mit der Kultur, die den süddeutschen Barock hervorgebracht hatte und noch in Haydn und Mozart lebendig ist, zerfallt. Der Katholizismus zieht sich in ein Kulturghetto zurück, das ihn von den herrschenden geistigen Bestrebungen der Zeit abschirmt. Erst im 20. Jahrhundert tritt er zögernd aus ihm heraus. Es ist eine merkwürdige Fügung der Geschichte, daß, als der Katholizismus sein Ghetto vollends auflöst und die Kirche ihren letzten Vorbehalt gegen das politische Erbe der Aufklärung zurücknimmt, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die bürgerliche Welt samt bürgerlichem Sexualethos zusammenbricht in der Kulturrevolution. Während die Konzilserklärung zur Religionsfreiheit eine Mauer zur modemen Welt niederlegt, richtet die Enzyklika Pauls VI. "Humanae vitae" eine neue Mauer auf in der Absage an die zeitgenössische Sexualauffassung und an die künstliche Empfangnisverhütung. Obwohl der Papst nur die bisherige Morallehre der Kirche fortschreibt, nun jedoch nicht mehr mit bürgerlicher Rückendeckung, 74

Dazu Heinrich Eduard Jacob, Joseph Haydn, 1954, S. 340.

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führt "Humanae vita" in eine innerkirchliche Gehorsams- und Glaubwürdigkeitskrise, wie sie keine lehramtliche Verlautbarung des 19. Jahrhunderts ausgelöst hat, weder der Syllabus noch das Unfehlbarkeitsdogma.

2. Anpassung der kirchlichen Institution an die Moderne In dem Jahrhundert, das der französischen Revolution folgt, erleidet die Kirche politische und wirtschaftliche Einbußen. Sie wird zurückgeworfen auf ihre geistliche Sendung. Aber gerade das gibt ihr neue Kraft, sich unter den veränderten Bedingungen der modernen Welt zu behaupten. In dem Maße, in dem sie weltlichem Herrschaftsanspruch entsagt, verringert sich die Reibungsfläche mit dem Staat, soweit dieser seinerseits sich mit säkularen Aufgaben bescheidet und religös-weltanschauliche Neutralität wahrt. Die Kirche tritt ihm nicht mehr als konkurrierende, sondern als komplementäre Größe gegenüber. Unverändert legitimiert sie sich aus der Wahrheit des Glaubens. Doch die gelebte Einheit in der Wahrheit setzt Einheit in der Interpretation voraus. Die hobbesianische Urfrage des modernen Staates "quis interpretatitur?" wird von der katholischen Kirche auf ihre Weise aufgenommen und im Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit beantwortet. Auch sie definiert sich als Entscheidungseinheit, wie, in seinem Bereich des innerweltlichen Gemeinwohls, der moderne Staat. Beiden gemeinsam ist die Organisationsstruktur als zweckrationale Anstalt. Die heterogenen Institutionen folgen dem ungeschichtlichen Prinzip der Rationalität. Seit die Kirche ihren historisch gewachsenen Besitz an raumgebundener weltlicher Herrschaft verloren hat, kann die Kirche sich erst wirklich unitarisch verfassen, staatskirchliche Besonderheiten einebnen, ortskirchliche Eigenrechte aufheben, und sich der Ingerenzen des Staates, mögen sie noch so tief in der Geschichte begründet sein, erwehren. In ihrer hierarchischen, zentralistischen Struktur gefestigt, straff und mobil zugleich, vermag die universale Kirche zu bestehen im System der sich abkapselnden Nationalstaaten. Sie ist auch strukturell wohlausgerüstet für das post-nationalstaatliche Zeitalter der internationalen Verflechtungen.

3. Peripetie unter Leo XIII. Der Abwehrkampf, den die Päpste seit Pius IV. gegen die Ideen der französischen Revolution führen, erreicht seinen Höhepunkt unter Leo XIII. Tiefer und differenzierter als seine Vorgänger begründet er das Recht der Wahrheit. Aber gerade in seiner Differenziertheit leitet er die Wende ein, die auf Dauer zu Annäherung und Ausgleich führen wird. Er öffnet den Freiheitsrechten wenigstens einen Spalt breit die Tür, indem er anerkennt, daß in Ermessensfragen, die Gott den Menschen anheimgegeben habe, die Meinungs- und Pressefreiheit nicht zur Unterdrückung der Wahrheit verleite, sondern gerade deren Entdeckung und 16 Festschrift Schambeck

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Offenlegung bewirken könne 75, also: in dubiis libertas. Echte grundrechtliche libertas fordert der Papst in den Bereichen des Elternrechts, der Vereinigungsfreiheit, des Eigentums. Leo XIII. kündigt das Bündnis der Kirche mit der Monarchie auf, erklärt die Neutralität in der Frage der Staatsform und findet so einen modus vivendi mit der Republik und der Demokratie. Pius XII. wird sich in seiner Weihnachts-Rundfunkbotschaft vom 24. Dezember 1944, ungeachtet grundsätzlicher Vorbehalte, aktiv und positiv der modemen Demokratie zuwenden. Leo XIII. erkennt die Lösung der sozialen Frage - mithin die Bewältigung der Folgeprobleme des Liberalismus - als Aufgabe des Staates. Die sozialstaatliche Dimension, die dem Verfassungsstaat im 19. Jahrhundert zuwächst, findet von Anfang an die Zustimmung und den Zuspruch der Kirche. Der Hiatus zwischen Kirche und moderner Welt bleibt auch nach Leo XIII. gewaltig, zumal in den Fragen der liberalen Menschenrechte, die dem Individuum die Letztkompetenz zur Entscheidung der Wahrheitsfrage geben, der Religionsund Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Presse- und der Lehrfreiheit. Gleichwohl setzt nun der wenn auch vielfach verzögerte Prozeß der Annäherung ein, der von Indifferenz zu Zuwendung führt, von pragmatischer Duldung zu lehramtlicher Annahme.

4. Innerkirchliche Kräfte des Ausgleichs Der Annäherungs- und Rezeptionsprozeß kann nicht nur in der externen Beziehung zwischen Kirche und moderner Welt gesehen werden, sondern auch in den innerkirchlichen Strömungen. Das "weltliche" Gedankengut dringt über die sachnächsten Schichten in die Kirche ein, bis es sich im Abklärungsprozeß der innerkirchlichen Kontroversen von unten nach oben durchsetzt. Ehe Ideen des Liberalismus ihre Aufnahme in die Lehrschreiben Papst Leos XIII. finden, vergeht fast ein Jahrhundert, in dem der katholische Liberalismus um einen Platz in der Kirche kämpfen muß. Am Anfang der Entwicklung, die mit "Diuturnum illud" , dem Friedensschluß der Kirche mit den modemen Staatsformen, ihren Abschluß findet, stehen französische Bewegungen einer "democratie chretienne" sowie der tragische Vermittlungsversuch des AbM Lamennais 76 • Die päpstlichen Lehrverlautbarungen bilden somit in zweierlei Richtung ein Resümee: Sie resümieren Bewegungen, die extra muros ihren Ursprung haben, und solche, die intra muros wirken. Dieses Resümee kann nur vorsichtig gezogen werden, weil die autoritative Kraft und der universale Adressatenkreis Zurückhaltung gebieten. Es kann auch zeitlich nur in einer Phasenverschiebung gegenüber der allgemeinen Entwicklung erfolgen, weil es nicht darum geht, mit dem Anspruch der Originalität politische Initialzündungen zu geben und sozialtheoretische Pionierleistungen zu erbringen, sondern aus der Distanz heraus, wie sie eine alte Tradition ermöglicht, 75 76

Leo XIll., ,,Libertas" (N 57), S. 206 f., 209 ff. Dazu Hans Maier, Revolution und Kirche, 31973.

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das Beharrende der naturrechtlichen Ordnungsvorstellungen im Wechsel der Zeitströmungen geltend zu machen - mögen dabei im Ergebnis die Maßstäbe auch vom geschichtlichen Lebenssubstrat umgeprägt werden. Kräftiger als alle doktrinären Öffnungsversuche ist der pragmatische Ausgleich mit dem Verfassungsstaat über die tatsächliche Nutzung der Freiheitsrechte durch katholische Verbände, Parteien und Zeitungen, über die Partizipation der katholischen Bevölkerung an der Demokratie, über den Genuß rechtsstaatlichen Schutzes, kurz: über die Erfahrung mit dem Verfassungsstaat, die gerade nicht die apokalyptischen Ängste bestätigt, wie sie Päpste des 19. Jahrhunderts heimsuchen.1m Gegenteil: die Freiheit der liberalen Demokratie, die von jenen lehramtlieh und prinzipiell verurteilt wird, bietet dem Katholizismus gerade die Chance, sich unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zu behaupten und zu entfalten, sich unliebsamer Ingerenzen zu erwehren und seinerseits nach Kräften Einfluß zu gewinnen in Staat und Gesellschaft. In der angelsächsischen Welt arrangiert sich der Katholizismus von Anfang an zwanglos mit der liberalen Demokratie. Tocqueville berichtet mit Erstaunen, daß Amerika das demokratischste Gebiet der Erde sei und gleichzeitig das Land, in dem die katholische Religion den größten Fortschritt aufweise 77: Die angelsächsische Welt realisiert ihrerseits ein pragmatisches Modell des Verfassungsstaates, das, anders als das französische, keinen geschlossenen Weltentwurf darstellen und keine politische Religion inaugurieren will. Darin eben ruft die französische Revolution den Widerstand der katholischen Kirche auf den Plan 78. Der Fundamentalkonflikt spielt sich auch nur im Wirkungsfeld dieser Revolution ab, vornehmlich also auf dem europäischen Kontinent. Die angelsächsische Demokratie, in der die Katholiken ohnehin eine Minderheit bilden und auf grundr~chtlichen Schutz angewiesen sind, bleibt außen vor. Gerade aus dem amerikanischen Katholizismus kommen wichtige Impulse, die im 20. Jahrhundert zum Ausgleich führen. Dagegen hat die neuscholastisch operierende katholische Soziallehre keinen nennenswerten Beitrag zur verfassungsstaatlichen Wende der Kirche geleistet. Menschenrechte, Gewaltenteilung und Demokratie lassen sich nicht aus abstrakten Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsprinzipien einer ungeschichtlichen Naturrechtsdoktrin deduzieren. Sie sind konkrete Antwort auf geschichtliche Erfahrung, auf Unterdrückung des Humanum, Vorkehrung gegen Gefahr, Entwurf politischer Hoffnung. Das praktische Interesse ist ein wirksameres Vehikel der Menschenrechte als die philosophische Spekulation. Ein politisches Bedürfnis der Kirche, den Zugriff des Staates auf die Erziehung zurückzudrängen, leitet ihren eigenen schöpferischen Beitrag zu den Menschenrechten: die Entwicklung des Elternrechts, im verfassungsrechtlichen Ergebnis ein liberales Grundrecht, das die Erziehung und die Entscheidung über deren Ziele den Eltern, Christen oder Nichtchristen, überantwortet 79 • 77

78

16*

Tocqueville (N 34),11. Teil, 6. Kapitel, S. 513. Dazu Hans Maier, Kirche und Demokratie, 1979, S. 84 ff.

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5. Durchbruch zu differenzierender Sicht Die Kirche findet erst dann zum Ausgleich mit dem Verfassungsstaat, zumal mit der Religionsfreiheit, als sie die juridischen Unterscheidungen begreift, die ihm zugrunde liegen: daß die grundrechtliche Freiheit, die er gewährleistet, nur Freiheit in bezug auf den Staat und Abwesenheit von staatlichem Zwang bedeutet. Die Religionsfreiheit wehrt die staatliche Inpflichtnahme für eine religiöse Wahrheit ab. Aber sie enthält keine Absage an die Religion, und sie tastet die religiösen Pflichten nicht an, die im Gewissen begründet sind. Das Zweite Vaticanum nimmt diese Distinktion auf, wenn es die Religionsfreiheit als Abwehrrecht gegen den Staat anerkennt, den heteronomen Zwang zur Wahrheit verwirft, aber die autonome religiöse Pflicht zur Wahrheit um so deutlicher hervorhebt: daß die Menschen im Gewissen gehalten sind, die Wahrheit zu suchen, besonders über Gott und die Kirche, die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren und das Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen 80 • Über die Wende in der Menschenrechtsfrage hinaus wahrt hier die Kirche ihre Identität, wenn sie auf der Pflicht zur Wahrheit beharrt.

VI. Gefahren der Identifikation von kirchlichem Auftrag und politischer Aufklärung 1. Gefahren für die Kirche Wenn die Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts sich für Menschenrechte und Demokratie gegen totalitäre und autoritäre Despotie einsetzt, kann sie breiter Zustimmung sicher sein. Seit dem Zusammenbruch der totalitär-sozialistischen Systeme steht sie jedoch in Ost und West nicht mehr vor der Aufgabe, für die Freiheit zu kämpfen, sondern die verfassungsstaatlich etablierte Freiheit zu nutzen. Damit aber gerät sie in ein Dilemma neuer Art. Nach einer historischen Phase, in der sie das politische Werk der Aufklärung verworfen, nach einer weiteren Phase, in der sie mit ihm zum Ausgleich gefunden hat, scheint nun die Phase gekommen zu sein, daß sie sich mit ihm identifiziert und in ihm aufgeht, sich damit auf Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft reduziert, wie es ihr die Aufklärung von jeher zugestanden hat. Auf dieser Linie liegen kirchliche Bekenntnisse zu den Menschenrechten, zur Demokratie, zu den jeweils aktuellen Staatszielen wie soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. Alter kirchlicher Übung gemäß werden die verfassungsrechtlichen und politischen Kategorien verinnerlicht und überhöht: bei den Menschenrechten genüge nicht 79 Dazu: Josef Isensee, Elternrecht, in: StL, Bd. 2, 71986, Sp. 222 ff. 80 Vaticanurn 11 (N 16), n. 1, 2, in: U-G Bd. I, S. 470 f. Dazu Böckenförde (N 16), S. 409 ff.

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die Anerkennung des "Buchstaben", es bedürfe der Aufnahme ihres "Geistes"; Demokratie dürfe nicht nur "formal" verstanden werden, sondern ,,material", sie sei nicht bloß triviale Staats- und Regierungsform, sondern tief und umfassend zu begreifende "Lebensform". Auf dieser Linie liegt es, wenn die Kirche sich zunehmend auf Aufgaben beschränkt, die säkularen Gemeinwohlinteressen kompatibel sind: soziale, volkspsychiatrische und volkspädagogische Dienste, Entwicklungshilfe, Kulturpflege, Denkmalschutz. Eine dergestalt aufklärungskompatible Kirche fungiert als Dienstleister, Sinnanbieter, Moralvermittler, eine unter vielen Organisationen dieser Art auf dem pluralistischen Markt der Beliebigkeiten. Die vorbehaltlose Hingabe an die Aufklärung wird gefördert durch die Phobie der Kirche, sich das Stigma des Fundamentalismus zuzuziehen 81. Im Ergebnis ist aber die unkritische Anpassung für die Kirche nicht minder verhängnisvoll als vormals die unkritische Verwerfung. Mit der Selbstsäkularisation gibt sie die wesentliche Substanz der christlichen Offenbarung preis 82 • Es kann nicht ihr Ziel sein, in der Aufklärung aufzugehen, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen, sich in ihr zu läutern und anzureichern, letztlich aber durch sie hindurchzugehen, wie sie durch andere Epochen der Kulturgeschichte hindurchgegangen ist.

2. Gefahren für den Verfassungsstaat Die Selbstsäkularisation der Kirche gefährdet sogar den Verfassungsstaat 83. Da er eingebunden ist in ein System von Beschränkungen, da sich ihm die grundrechtliche Freiheit der Bürger nur negativ, als Abwehr gegen hoheitliche Eingriffe, darstellt, richtet sich seine Erwartung auf nicht entsprechend eingebundene gesellschaftliche Potenzen wie die Kirche, die auf den positiven, den gemeinwohldienlichen Gebrauch der grundrechtlichen Freiheit hinwirken können. Die Kirche leistet nicht darin dem Staat einen unentbehrlichen Dienst, daß sie ihn über die Grundrechte der Religions- und Gewissensfreiheit belehrt, sondern dadurch, daß sie christliche Religion ausübt und im Volke lebendig hält, und 81 Defmition und Deutung des Fundamentalismus: Karl Lehmann, Fundamentalismus als Herausforderung, in: FS für Anton Rauscher, 1993, S. 585 ff. 82 Zu diesen Gefahren unter verschiedenen Aspekten: Gerhard Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist, 1979, S. 194 ff.; Martin Krie1e, Befreiung und politische Aufklärung, 1980, S. 218 ff.; Wilhelm Weber, Wenn aber das Salz schal wird ... , 1984; Rupert Hofmann, Zur neuen Ökumene von Christen und Marxisten, in: MÜllchener Theologische Zeitschrift 35 (1984), S. 218 ff.; ders., Die eschatologische Versuchung, in: Die neue Ordnung 1986, S. 54 ff.; ders., Politik als Religion, in: FS für Helmut Kuhn, 1989, S. 77ff.; Wolfgang Ockenfels, Politisierter Glaube?, 1987; Friedhelm Hilterhaus/Michael Zöller (Hrsg.), Kirche als Heilsgemeinschaft- Staat als Rechtsgemeinschaft, 1993. 83 Dazu Kriele (N 82), S. 248 ff.; Lübbe (N 48), S. 257 ff.; JosefIsensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold / Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.; ders. (N 40), § 115 Rn. 258 ff.

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dadurch, daß sie das Gewissen der Menschen schärft und ihnen sittliche und religiöse Maßstäbe vennittelt. Der Verfassungsstaat, seiner Anlage nach nur sektorale Ordnung, kann und will nur den Bürger erfassen, nicht aber den ganzen Menschen. Doch der Staatsbüger läßt sich nicht isolieren vom übrigen Sein. Das staatsbürgerliche Leben kann nur glücken, wenn alle Dimensionen des Humanum sich entfalten. Auf die Kirche richtet sich die Verfassungserwartung, daß sie gerade dem Grundbedürfnis Genüge tut, vor dem der säkulare Staat versagt: dem religiösen Streben nach dem Absoluten. Solange die Menschen die absolute Wahrheit in der Transzendenz suchen, werden die Probleme der Immanenz relativiert, wird Politik von absoluter Heils- und Unheilsgewißheit entlastet, und es bleibt jenes gemäßigte Klima erhalten, auf das die liberale Demokratie angewiesen ist, mit offenem Diskurs, Kompromißzwang, Mehrheitsentscheid und Minderheitenschutz. Der Transzendenzglaube schützt vor der Flucht in die innerweltlichen Heilsreligionen, ihren politischen Absolutheitsanspruchen und ihren totalitären Neigungen. Die aufklärungsoffene.Religion, die fides und intellectus vereint, sich aber nicht in aufklärerischer Intellektualität erschöpft, verhindert, daß die Religiosität sich in voraufklärerische Primitivfonnen flüchtet, in Sektiererwesen, Schwarmgeisterei, Obskurantenturn. Eine aufklärungseifrige Kirche, die sich in diesseitorientierter Nützlichkeit erschöpft, beschwört herauf, was sie venneiden will: aufklärungsfeindlichen Fundamentalismus. Die Kirche leistet dem Verfassungs staat die wertvollsten Dienste als komplementäre Größe. Deshalb aber muß sie in die pluralistische Gesellschaft die metaaufklärerische Substanz einbringen. Die Verfassungserwartung fonnuliert schon Tocqueville bei der Betrachtung der ersten modemen Massendemokratie: "Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals völlige religiöse Unabhängigkeit und totale politische Freiheit ertragen kann; und ich bin geneigt, zu denken, daß er, wenn er nicht gläubig ist, hörig werden, und wenn er frei ist, gläubig sein muß"84.

84 Tocqueville (N 34), S. 506.

KULTUR DER DEMOKRATIE EIN ANLIEGEN DER KATHOLISCHEN SOZIALLEHRE Von Alfred Klose

I. Eine Herausforderung Die im vorigen Jahrhundert weithin ablehnende Haltung katholischer Institutionen und maßgebender Persönlichkeiten gegenüber der Demokratie hat sich in unserer Zeit ganz entscheidend verändert. Vergleicht man etwa die Enzyklika "Mirari vos" von Papst Gregor XVI. (1832) mit "Centesimus annus" (1991), wird dies besonders deutlich. Es war freilich ein langwieriger Prozeß, der zu diesem Umdenken geführt hat. Herbert Schambeck spricht von einem "neuen Verstehen der Demokratie durch die Katholische Kirche", das mit Pius XII. eingesetzt habe. Aber schon Leo XIII. hatte die Zulässigkeit der Demokratie 1888 im Rundschreiben "Libertas praestantissimum" anerkannt, wenn auch mit der Einschränkung, daß die katholische Lehre vom Ursprung der Staatsgewalt gewahrt bleiben müsse. Schambeck hat die einzelnen Stufen dieser Entwicklung hin zur Demokratie eingehend beschrieben. 1 Für uns ist entscheidend, daß die Kirche im 19. Jahrhundert vor allem mit jenem demokratischen Ideengut konfrontiert wurde, das auf die Französische Revolution zurückgeht und weniger mit der angloamerikanischen Entwicklung, die keinerlei Religionsfeindlichkeit gekannt hat; der Wertrang der Toleranzidee war im angloamerikanischen Denken immer von entscheidender Bedeutung. Auch Schambeck hebt hervor, daß die Katholische Kirche es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem mit einem Herrschaftssystem im Zusammenhang mit demokratischen Ideen zu tun hatte, das sich ablehnend gegenüber der Kirche verhalten hat. 2 Im übrigen ist es ein besonderes Anliegen des in dieser Festschrift geehrten Wissenschafters und Politikers Herbert Schambeck, sehr nachdrücklich zwischen der Demokratie als politischem Ordnungssystem und als einem innerkirchlichem Problem zu unterscheiden. Darin liegt eine besondere Herausforderung in unserer Zeit, in der starke Kräfte zu einer radikalen und totalen Demokratisierung drängen und die auch im innerkirchlichen Bereich darin ein entscheidendes Grundanliegen sehen. 1 2

Schambeck, Herbert: Kirche, Staat und Demokratie, 1992, S. 61 ff. Schambeck: S. 57 ff.

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Anton Rauscher hat deutlich gemacht, daß jene Demokratie-Ideologen, "die alle Autoritätsverhältnisse auflösen zu können glauben und die Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen fundamentaldemokratisch organisieren wollen", übersehen, daß ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen dem staatlichen Bereich und dem gesellschaftlichen Bereich bestehe: Das Gleichheitsprinzip gilt für den staatlichen Bereich, dagegen finden wir in verschiedenen gesellschaftlichen Gebilden, so schon in der Familie nicht nur Gleiche, sondern auch Ungleiche vereint. Ähnliches gelte für das Schul- und Erziehungswesen, aber auch für das Verhältnis von Meister und Lehrling, von Offizier und Soldat in der Armee. 3 Im Bereich der Universitäten und Hochschulen muß auch bei einer weitgehenden Autonomie und Demokratisierung ein gewisser Vorrang der Lehrenden gegenüber den Studenten gegeben sein, nicht nur im Prüfungswesen, sondern auch bei Berufungen und in allen Fragen, in denen das wissenschaftliche Niveau dieser Institutionen zur Diskussion steht. Rauscher stellt fest, daß eine totale Demokratisierung einerseits zur Herrschaft der Verbände - und vor allem ihrer Funktionäre - führen müßte, "den Staat als Ordnungsträger illusorisch machen" würde und damit auch die Kontrollmöglichkeiten zerstört würden. Wenn die Demokratie im Demokratismus entarte, stünde am Ende die totalitäre Macht der Ideologien. 11. Demokratie in der Kirche Diese Überlegungen bedeuten nicht, daß begrenzte Demokratisierungsversuche in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen keine Chance hätten. Betriebliche Mitbestimmung in gewissen Grenzen ist durchaus sinnvoll, ebenso eine Mitwirkung der Studenten an verschiedenen Ordnungsaufgaben der Universitäten. Entscheidend sind die deutlich sichtbaren Kompetenzen, die bei solchen Versuchen und neuen demokratischen Modellen gegeben sein sollen. Das gilt auch für die Kirche. Schambeck sagt in diesem Zusammenhang, daß Demokratie in der Kirche in Form von Mitverantwortung des Christen bei Fragen der Ämterbesetzung und in beratenden Gremien auf allen Ebenen von der Pfarre bis zum Papst möglich sei. Man müsse allerdings vom Grundgedanken ausgehen, daß der Demokratie ihrem Wesen nach ein Wertpluralismus zugrunde liegt, der in der Kirche nicht zulässig sei: Ihre Grundordnung und damit "die Bedingung ihres Wollens und HandeIns" sei ja durch Gott in Jesus Christus vorgegeben worden. Dies verpflichtet die Amtsträger der Kirche wie das Kirchenvolk. Eine Mitverantwortung des Volkes Gottes in der Kirche hält Schambeck schon deshalb für notwendig, daß sich "das Charisma Zugang zur Kirche verschaffen und sich entfalten" könne. ,,Eine dem Wesen der Kirche entsprechende Form der Demokratisierung" würde nicht nur zur "Mehrung des Verantwortungsdenkens in der Kirche, sondern auch 3

Rauscher, Anton: Kirche in der Welt, Bd. 2, 1988, S. 34 ff.

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zu einer Konzentration des Klerus auf seine eigentlichen Aufgaben führen", sagt Schambeck. 4 Wir sehen angesichts da und dort gegebener innerkirchlicher Auseinandersetzungen um Bischofsernennungen und Fragen der Leitung von Diözesen, daß das Verständnis für diese Differenzierungen weithin fehlt, daß auch das Wissen um die Demokratie und ihre möglichen Anwendungsbereiche vielfach nicht gegeben ist. Seit dem Zweiten Vaticanum sind zahlreiche beratende Gremien geschaffen worden, sowohl auf weltkirchlicher Ebene als auch in den Diözesen und den einzelnen Staaten, die sich mit den verschiedenen innerkirchlichen Fragen befassen, aber auch im Bereich der Gesellschaftspolitik Stellungnahmen abgeben. Von den verschiedenen auch teilweise mit Laien besetzten päpstlichen Kommissionen bis hin zu den Pfarrgemeinderäten werden in diesem Sinn - ganz in jener Bedeutung, auf die auch Schambeck hinweist - beachtliche Demokratisierungsmodelle entwickelt. Tatsächlich ist der Einfluß mancher dieser Gremien groß. Es geht vielfach darum, daß in der Praxis die fonnale Beratung zu echter Mitentscheidung wird. Besondere Bedeutung haben auf diözesaner Ebene weitgehend die Pastoralräte, aber auch die in zahlreichen Regionen einberufenen Synoden und synodalen Vorgänge. 111. Im Bemühen um eine bessere Ordnung In allen ihren Lebensbereichen sollen die Christen bemüht sein, eine bessere Ordnung in der Gesellschaft zu verwirklichen. Diese "Schlußmahnung" in der Enzyklika "Populorum progressio" (1967) gilt auch für den innerkirchlichen Bereich. Ganz allgemein sagt diese Enzyklika, daß es Aufgabe der Hierarchie sei, sittliche Grundsätze zu lehren, Aufgabe der Laien, "in freier Initiative ... das Denken und die Sitten, die Gesetze und die Lebensordnungen ihrer Gemeinschaft mit christlichem Geist zu durchdringen" (81). Diese Gedanken greift die Enzyklika "Octogesima adveniens" (1971) auf und fügt hinzu, daß es nicht genüge, "schreiende Ungerechtigkeit anzuprangern", sondern daß ,,Ernstnehmen der eigenen Verantwortung und ein entsprechend entschlossenes Handeln" entscheidend sei (48). Die Kirche will die Christen also nicht bevonnunden, sondern in allen Bereichen gesellschaftlicher Aktivität zum Engagement auffordern.

Im eindrucksvollen Katalog der Grundrechte in der Enzyklika ,,Pacem in terris" (1963) wird deutlich hervorgehoben, daß aus der Würde der menschlichen Person das Recht abzuleiten ist, "am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen und zum Gemeinwohl beizutragen"(26). "Centesimus annus" (1991) hebt hervor, daß wir heute nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus und zahl4

Schambeck: S. 71 ff.

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reicher autoritärer Systeme ein Überwiegen des demokratischen Ideals erleben, "verbunden mit einem lebendigen Bewußtsein und einer Sorge um die Menschenrechte"(47). Wir sehen aber zugleich, wieviel noch zur Durchsetzung eben dieser Menschenrechte in der Mehrheit der Staaten der Welt fehlt. Die Wiener Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1993 hat dies an zahlreichen Beispielen wieder deutlich gemacht. So haben besonders auch die ,,Nichtstaatlichen Organisationen" auf unfaßbare Fehlentwicklungen in vielen Ländern hingewiesen. Immer wieder wurde deutlich, wie groß die Unterschiede zwischen formalen Bekenntnissen zu den Menschenrechten und der politischen Wirklichkeit sind. Es ist aber so wichtig, daß das Weltgewissen durch derartige Kundgebungen wachgerüttelt wird, daß durch konkrete Fälle auch die betroffenen Regierungen unter Druck kommen und allmählich eine bessere politische Ordnung verwirklicht wird. Auch ,,Amnesty international" und ,,Justitia et pax" berichten laufend über vergleichbare Fehlentwicklungen weltweit. Am Beispiel Bosniens und Kambodschas, aber auch des Sudans erleben wir furchtbare Verletzungen der Menschenrechte und der Menschenwürde. Die zahlreichen Konfliktherde in unserer Welt stellen uns vor immer neue Aufgaben der Friedenssicherung und der Sorge um Flüchtlinge und Vertriebene. Die "bessere Ordnung", um die Christen im Sinne der Mahnungen der Sozialenzykliken der Päpste ringen, bleibt ein immer neu anzustrebendes Ziel. Die soziale Frage ist ein Kennzeichen nahezu jeder Gesellschaft: Der Sozialrealismus, der von Vertretern der Katholischen Soziallehre immer neu dargelegt wird, zwingt zu unaufhörlichen Anstrengungen, aber auch zur Einsicht, daß wir keine perfekte politische und soziale Ordnung erreichen können. Dennoch bleibt das Ziel einer Kultur der Demokratie, einer durch Toleranz und Humanität bestimmten politischen Kultur unabdingbar. Johannes Messner spricht von der Tatsache, daß jede Gesellschaft ihre soziale Frage habe. 5 Wir müssen freilich zwischen jenen schweren Fehlentwicklungen unterscheiden, bei denen Menschenrechte verletzt werden, und jenen sozialen Problemen, die durch eine sinnvolle Sozialgesetzgebung korrigierbar sind. IV. Kultur der Demokratie als Grundanliegen In seinem Kommentar zu "Centesimus annus" spricht Johannes Schasching von der Kultur der Demokratie: Diese sei dann gegeben, wenn die Demokratie auf Menschenwürde, auf eine selbst- und mitverantwortliche Gesellschaft und eine öffentliche Moral aufgebaut ist, die den Eigennutz dem Gemeinwohl unterordnet. 6 Messner, Johannes: Die soziale Frage, 71964, S. 21 ff. Schasching, Johannes: Unterwegs mit den Menschen - Kommentar zur Enzyklika "Centesimus annus" von Johannes Paul 11., 1991, S. 62 ff. 5

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Das sehr deutliche Bekenntnis von "Centesimus annus" zur Demokratie ist eng mit der Sorge um die Verwirklichung der Menschenrechte verbunden, die als Grundlage der Demokratie angesehen werden (47). Eine wahre Demokratie sei nur in einem Rechtsstaat und auf Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich (46). Für das Verhältnis von Staat und Kultur ist nun entscheidend, daß der einzelne seine Fähigkeiten in die Gesellschaft einbringen kann, seine Kreativität, seine Intelligenz, sein Wissen von der Welt, aber auch seine Fähigkeit zur Solidarität und zum Einsatz für das Gemeinwohl (51). Es geht um eine politische Kultur, die sich immer wieder jenes einmaligen Wertes des Menschen bewußt wird, der schon in ,,Redemptor hominis" (1979) so deutlich hervorgehoben wird: So sorge sich die Kirche immer wieder um "den Menschen in seiner individuellen, unwiederholbaren Wirklichkeit, in der unzerstörbar das Bild und das Gleichnis Gottes enthalten" sei (13). Eine Kultur der Demokratie ist nur in einem Staatswesen möglich, in dem der einzelne nicht nur seine Grund- und Freiheitsrechte garantiert bekommt, sondern wirkliche Chancen zur Mitgestaltung am gesellschaftlichen Leben hat, vor allem in jenem Kreis, der sein Leben besonders betrifft. So sind es wieder die kleineren Gemeinschaften, vorallem die politischen Gemeinden, die sehr viel zur Verwirklichung einer Kultur der Demokratie beitragen können. Centesimus annus sagt hier, daß außer der Familie auch andere gesellschaftliche Zwischenkörper wichtige Aufgaben erfüllen und "spezifische Solidaritätsnetze bilden": "Sie entwickeln sich zu echten Gemeinschaften von Personen, beleben das gesellschaftliche Gefüge und verhindern, daß es in die Anonymität und in eine unpersönliche Vermassung absinkt" (49). Centesimus annus weiß auch um die Gefahren, die sich aus Krisensituationen für die Demokratie und die politische Kultur ergeben können; Anliegen der Gesellschaft würden vielfach nicht nach den Kriterien der Gerechtigkeit und Billigkeit, sondern mehr ,,nach der Zahl der Wählerstimmen oder der Finanzkraft von Gruppen" verwirklicht (47). Leopold Neuhold spricht von einer Schwächung der Handlungsrelevanz der Werte, die gerade im politischen Entscheidungsprozeß immer wieder deutlich hervortritt. 7 Gruppeninteressen setzen sich oft stärker durch, politische Parteien orientieren sich in weiten Bereichen nicht so sehr an jenen Gemeinwohlzielen, die sie in ihren Programmen umschrieben haben, sondern mehr am Wählerwillen. Eine Beurteilung des Niveaus der politischen Kultur wird nicht so sehr die Zielvorstellungen in einem politischen System hervorheben, als vielmehr die Verhaltensweisen in der staatlich organisierten Gesellschaft; gewiß spielen auch die institutionellen Faktoren eine bedeutsame Rolle. 8 So wird für Österreich im System der Sozialpartnerschaft und der damit verbundenen Konsensdemokratie ein besonderes Kennzeichen seiner politischen Kultur zu 7 Neuhold, Leopold: Wertwandel und Christentum, 1988, S. 86 ff. Rausch, Heinz: Art. Politische Kultur, in: Staatslexikon, Bd. 4, 71988, Sp. 462 ff.

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sehen sein. Die Sicherung des sozialen Friedens und damit einer gewissen wirtschaftlichen Stabilität ist auch für die demokratische Entwicklung des Staates von Bedeutung. V. Daueraufgabe Demokratiereform Verhaltensweisen im politischen System unterliegen immer neuen Veränderungen. Die Kultur der Demokratie braucht stets Kräfte der Erneuerung. Institutionen dürfen nicht zum Selbstzweck werden, Erstarrungsprozesse im politischen Entscheidungsprozeß gefährden die Grundlagen der Demokratie. So geht es im demokratischen System um eine immer neue Auseinandersetzung um die Probleme einer Reform der institutionellen Gegebenheiten; vor allem aber muß die Chance gegeben sein, daß sich neue Ideen und neue politische Bewegungen durchsetzen können. So sollen die etablierten Parteien nicht versuchen, den Neuzugang kleinerer Gruppierungen bei Wahlen durch Sperrklausein einzuschränken. Ebenso sollen Praktiken vermieden werden, kleineren im Parlament vertretenen Parteien eine zu geringe Repräsentanz in den parlamentarischen Ausschüssen einzuräumen. Für die Kultur der Demokratie ist es entscheidend, daß auch die Möglichkeiten der Opposition nicht zu begrenzt sind. Sonst steht letztlich auch das demokratische System selbst in Frage. Demokratie muß in dem Sinn offen sein, als sie in der öffentlichen Meinung Diskussionen und Auseinandersetzungen über alle grundsätzlichen und aktuellen Fragen zulassen muß. In diesem Sinn geht es auch um eine entsprechende Medienpolitik, die sich das Ziel einer Erhaltung und Sicherung der Medienvielfalt stellt. Sehen wir heute doch weithin auch in Demokratien Vermachtungsprozesse bedenklicher Art im Medienbereich, die durch Konzentrationsprozesse im Verlagswesen ausgelöst werden. Kultur der Demokratie verlangt klare Kompetenzabgrenzungen im Sinne der traditionellen Lehre von der Gewaltenteilung, darüber hinaus aber auch effektive und nicht nur formale Kontrolleinrichtungen in allen Bereichen staatlicher Wirksamkeit. Auch hier zeigt die Praxis, daß allmählich sich manche Kontrollen als nicht mehr effektiv erweisen, daß Reformmaßnahmen notwendig sind. Das Beispiel der Volksanwälte hat deutlich gemacht, daß es sinnvoll sein mag, zu den vorhandenen Einrichtungen nach Bedarf auch neue zu errichten. Die Katholische Soziallehre hat der Frage der Demokratiereform in den letzten Jahrzehnten mehr Bedeutung eingeräumt. So warnt Centesimus annus vor den Entartungen im politischen System, die dann zu Mißtrauen und Gleichgültigkeit der Bürger führen und damit in weiterer Folge zur Abnahme der politischen Beteiligung und des Gemeinsinns in der Bevölkerung (47). Besonders gefährlich ist in dieser Hinsicht eine in vielen Ländern festzustellende Interesselosigkeit der Jugend (oder zumindest weiter Schichten) an der Politik. Junge Menschen fühlen sich oft vom politischen Entscheidungsprozeß ausgegrenzt. Gerade dies

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beweist wiederum die Bedeutung der kleineren Gemeinschaften, der politischen Gemeinden, der Interessenverbände und Gewerkschaften, der Genossenschaften und vieler weltanschaulich orientierter Vereinigungen: Sie alle können gerade jungen Menschen Eintrittsmöglichkeiten in das gesellschaftliche und politische Leben sicherstellen. Auch die so vielfliltigen katholischen Organisationen haben hier große Verdienste: In ihnen finden auch viele jüngere Menschen vielseitige Betätigungsmöglichkeiten,manche auch den Weg in die Politik. Im Konzilsdokument "Gaudium et spes" wird die Bedeutung der Mitarbeit aller Staatsbürger am öffentlichen Leben herausgestellt. Ohne jede Diskriminierung sollen diese in der Lage sein, "frei und aktiv teilzuhaben an der rechtlichen Grundlegung ihrer politischen Gemeinschaft, an der Leitung des politischen Geschehens, an der Festlegung des Betätigungsbereiches und des Zwecks der verschiedenen Institutionen und an der Wahl der Regierenden" (75). Gerade in diesen Fragen geht es aber nicht um einmal festzulegende Gegebenheiten, sondern es ist notwendig, hier immer wieder neue Initiativen zu setzen, um den geänderten Bedürfnissen im politischen System Rechnung zu tragen. Demokratiereform setzt konstruktive Kritik voraus, nicht nur von der Opposition, sondern von allen Staatsbürgern, die dazu willens sind, vor allem von jenen, denen die Aufgabe zukommt, die öffentliche Meinung in besonderer Weise mitzugestalten. In diesem Sinne kommt auch den christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften eine wichtige Rolle zu. Im besonderen gilt dies für die Katholische Kirche, die mit ihren sozialen Lehraussagen auf gesamtkirchlicher Ebene ebenso wie im Bereich der Teilkirchen bemüht ist, "alle Bereiche menschlichen Handeins durch ihre Lehre" zu erhellen und damit auch "die politische Freiheit der Bürger und ihrer Verantwortlichkeit" zu fördern (Gaudium et spes 76). Drastische Fehlentwicklungen bedürfen auch härterer Formen der Kritik. Notker Füglister spricht vom "prophetischen Protest als politischem Prinzip". Er erinnert an die Aufgabe der Propheten im Alten Testament, den herrschenden Mächten und Persönlichkeiten Fehlentwicklungen nachdrücklich vor Augen zu führen. Propheten seien dem Establishment unbequem, sagt Füglister und weist auf die Möglichkeit hin, den Propheten entweder zu verspotten, zu verfolgen oder ihn in das gegebene System zu integrieren. Die Kirche darf in diesem Sinn niemals Bestandteil des politischen Establishment sein, wenn sie nicht ihre sozialkritische Rolle verlieren will. Steht doch eben diese Kirche in der Gefolgschaft jenes Wortes von Paulus, daß prophetisches Reden nicht zu verachten ist (l Thess 5, 19-21).9 Demokratiereform ist vor allem dort notwendig, wo erst bescheidene demokratische Ansätze gegeben sind: Hier geht es eigentlich erst um den Aufbau einer Kultur der Demokratie. So könne sich demokratisches Bewußtsein, Vertrauen 9 Füglister, Notker: Der prophetische Protest als politisches Prinzip, in: Politik und christliche Verantwortung, Festschr. für F. M. Schmölz, hrsg. von G. Putz u. a., 1992,

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in die Rechtsordnung, ein Verantwortungsbewußtsein der Eliten nur allmählich in einem kulturellen Wandlungsprozeß herausbilden: Förderung einer Partipization, auch im ökonomischen Sinn, sei ein kultureller Faktor, sagt Margit Eckholt. Heute sind die lateinamerikanischen Gesellschaften in einem langwierigen Umstellungsprozeß begriffen: Die Inkulturation der Katholischen Soziallehre vermag auch radikalen Kräften einer einseitigen Befreiungstheologie entgegenzuwirken. Eckholt verweist auf die Bedeutung der Option für die Annen, die auch als soziales Prinzip den Eliten nahegebracht werden muß. 10 Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in weiten Teilen der Welt ist die Stärkung der Demokfatien und die Verwirklichung demokratischer Ordnungen in möglichst vielen Ländern ein Grundanliegen einer Soziallehre, die wie die Katholische im einzelnen Menschen und seiner Chance zur Verwirklichung seiner existentiellen Zwecke in allen Lebensbereichen ein Grundanliegen sieht. Zu diesen existentiellen Zwecken gehört die Möglichkeit zur Mitwirkung an jenen politischen Gemeinschaften, von denen letztlich die Lebenserfüllung des einzelnen mitbestimmt wird. Die Katholische Soziallehre bringt die Chance, das politische Handeln wieder mehr nach ethischen Grundwerten auszurichten, einer einseitigen Machtkonzentration entgegenzuwirken und eine freiheitliche Ordnung zu verwirklichen, eine Kultur der Demokratie zu schaffen, die auch Krisen überstehen kann.

VI. Kultur der Demokratie und Gesellschaftsordnung Wenn wir an die Tragik vieler europäischer Staaten in der Zwischenkriegszeit denken, wird uns bewußt, daß Demokratie nicht kurzfristig eingeführt werden kann, sondern einen Reifeprozeß im politischen System eines Landes voraussetzt. So ist die Weimarer Republik am Mangel einer fundierten demokratischen Tradition gescheitert; in Italien konnte der Faschismus ein zu schwaches demokratisches System überwinden; in Spanien und Portugal waren die demokratischen Kräfte nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Wir könnten noch eine Reihe weiterer Beispiele anführen. Demokratie muß zutiefst im politischen Bewußtsein einer staatlichen Bevölkerung verankert sein, wenn sie Krisensituationen überdauern will. In diesem Sinn geht es der Katholischen Soziallehre, wie dargelegt wurde, besonders darum, den Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat aufzuzeigen. Es sind die Menschenrechte, deren Wahrung zur entscheidenden gesellschaftspolitischen Aufgabe wird. Geschichtlich gesehen geht es dabei zunächst weithin um die Abwehr staatlicher Eingriffe in die persönliche Sphäre des einzelnen. Dieser sollte gegen den 10 Eckholt, Margit: Lateinamerika und katholische Soziallehre, in: Die Neue Ordnung, 3/1993, S. 207 ff.

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Mißbrauch der Staatsgewalt geschützt werden. Seit ,,Pacem in teeris" wird wie erwähnt die aktive Teilnahme am politischen Leben als Menschenrecht deutlicher herausgestellt, eben als "Vorrecht seiner Würde als Person" (73). Gertraud Putz weist darauf hin, daß mit J ohannes XXIII. die Katholische Kirche zur FÜTsprecherin aller Menschenrechte geworden ist. 11 Damit war auch für das Zweite Vaticanum der Weg frei zu einer positiven Haltung zur Religionsfreiheit, die untrennbar mit den anderen Menschenrechten verbunden ist. Gertraud Putz hebt dann noch die "Menschenrechte der dritten Generation" hervor: Als Menschenrechte der ersten Generation werden die politischen Freiheitsrechte und die sozialen Grundrechte bezeichnet, als solche der zweiten Generation jene, die eine Erklärung und Differenzierung der ersten Kategorie umfassen. Bei den (als solche umstrittenen) Rechten der dritten Generation handelt es sich um kollektive Grundrechte, die "strukturell jene Situationen herstellen sollen, welche die sozialen und politischen Rechte bei den Menschen zur Entwicklung bringen kann" (G. Putz). Solche Solidarrechte sind das Recht auf Entwicklung, auf Teilhabe bzw. Solidarität, das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf eine lebenswerte Umwelt, auf Frieden und letztlich auf Eigentum am gemeinsamen Erbe der Menschheit. 12 Wir sehen, daß es sich um Grundforderungen handelt, die in der Katholischen Soziallehre und vor allem in den Sozialenzykliken weithin enthalten sind. Man mag verschiedener Meinung darüber sein, ob die Kennzeichnung als Grundrechte besonderer Art sinnvoll ist. Auf jeden Fall besteht ein enger Zusammenhang zwischen diesen so wichtigen gesellschaftspolitischen Grundanliegen und den politischen und sozialen Grundrechten: Denn was nützt es, wenn staatliche Verfassungen das Recht auf Leben, auf Privateigentum und freie Berufsausübung vorsehen, ein großer Teil einer Staats bevölkerung aber in drückender Armut als besitzlose Landarbeiter oder in den Slums der Großstädte hoffnungslos dahinlebt. So zeigt sich eben ein enger Zusammenhang dieser Grundrechte der "drei Generationen". Die Kultur der Demokratie bedarf also neben der Sicherung der Grund- und Freiheitsrechte einer Gesellschaftsordnung, die jene Lebensvoraussetzungen schafft, die mit den Grundrechten der dritten Generation umschrieben wurden. Die Katholische Soziallehre will den aktiven Menschen, der durch seine Arbeit an der Gestaltung des öffentlichen und privaten Leben mitwirkt. Dazu müssen aber gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen gegeben sein, etwa die Sicherung der Eigeninitiative, die Garantie der öffentlichen Sicherheit, eine ausreichende soziale Sicherheit, der Schutz des Privateigentums und eine lebens werte Umwelt. "Laborem exercens" (1981) sieht den Menschen als arbeitendes Wesen, das Mitarbeiter des Schöpfers ist. Durch seine Arbeit "erwirbt der Mensch nicht 11 12

Putz, Gertraud: Christentum und Menschenrechte, 1991, S. 120. Putz: 234 ff.

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nur seinen Lebensunterhalt, sondern gelangt auch zu seiner Selbstverwirklichung" (W. Ockenfels). \3 Laborem exercens sieht die Rechte des arbeitenden Menschen im großen Zusammenhang der Menschenrechte: Die Achtung dieses weiten Gefüges der Menschenrechte stelle "die Grundbedingung für den Frieden in der Welt von heute dar, für den Frieden sowohl im Inneren der einzelnen Länder und Völker als auch international" (16). Auch die Gestaltung der Gesellschaftsordnung ist eine umfassende Arbeit, an der alle Bürger eines Staates mitwirken sollen. Demokratische Systeme müssen diese Möglichkeiten sichern. Heute geht es darum, die Gesellschaftsordnung in jenen Staaten, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine politische Neuordnung versuchen, mit der Zielrichtung "Kultur der Demokratie" zu entwickeln und zu festigen. Das können sie nur mit der Unterstützung der anderen demokratischen Staaten, vor allem der westeuropäischen, die aus der Vergangenheit gelernt haben. Gerade jene Staaten, die totalitäre und autoritäre Systeme erlebt haben, müssen Verständnis für die Schwierigkeiten der Länder Osteuropas aufbringen. Herbert Schambeck weist auf die großen Anstrengungen und Initiativen hin, die hier erforderlich sind, aber auch darauf, daß die Länder Mittel- und Osteuropas nicht "aus eigenem Verschulden an der Tragödie ihres Schicksals" leiden. Der Lauf der Geschichte habe ihnen diese Entwicklung aufgezwungen. 14 Gerade in den zahlreichen Kontakten und Begegnungen zwischen Persönlichkeiten aus diesen Ländern mit Vertretern westeuropäischer Staaten erfahren wir immer wieder den ungebrochenen Mut dieser Menschen, die Bereitschaft, auch unter schwierigen Bedingungen sich zu engagieren und neu zu beginnen. Wir erleben einen Idealismus, der in unserer so weithin von materiellen Werten geprägten Gesellschaft selten zu finden ist. Gerade bei katholischen Tagungen mit Vertretern aus dem Osten und Südosten unseres Kontinents, auch aus "Ostmitteleuropa", sind wir immer wieder beeindruckt von diesem so vielfältigen Engagement. Die Hoffnung, in diesen ehemals kommunistischen Ländern dauerhafte demokratische Systeme, eine wirkliche Kultur der Demokratie zu schaffen, mag manchen utopisch erscheinen. Wer hätte aber etwa vor dem Zweiten Weltkrieg einer Demokratisierung Westeuropas - nämlich aller Staaten - eine Chance gegeben? Centesimus annus mahnt uns, daran zu denken, daß die Neuordnung der bisherigen Kollektivwirtschaften der Länder Ost- und Mitteleuropas Probleme und Opfer mit sich bringen wird, die sich mit denen der westlichen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen lassen. Es sei nur gerecht, daß die ehemals kommunistischen Staaten in den jetzt gegebenen Schwierigkeiten "von der solidarischen Hilfe der anderen Nationen unterstützt werden". Sie müßten wohl selbst "Baumeister ihrer Entwicklung" sein, aber es müsse ihnen eine Möglichkeit dazu geboten werden (28). \3 14

Ockenfels, Wolfgang: Politisierter Glaube, 1987, S. 155. Schambeck: S. 211.

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Es ist der Realismus der Katholischen Soziallehre, der hier zum Ausdruck kommt. Es geht aber auch darum, daß sich die Menschen in Westeuropa bewußt werden, daß sie ihren wirtschaftlichen Wiederaufbau mit amerikanischer Hilfe geleistet haben. Es ist so gesehen ein Gebot der Fairness und Gerechtigkeit, in der derzeitigen Situation Solidarität mit den osteuropäischen Ländern zu zeigen. Es ist aber auch das gemeinsame Interesse an einer Friedensordnung und internationalen Sicherheit, das zu dieser Solidarität zwingt. Wir sehen zur Zeit die großen Gefahren aus einem übersteigerten Nationalismus, den die Katholische Soziallehre immer verurteilt hat. Johannes Paul 11. mahnt immer wieder, so auch in "Centesimus annus" , daß Europa nicht im Frieden leben kann, "wenn die vielfältigen Konflikte, die als Folge der Vergangenheit aufbrechen, sich durch wirtschaftlichen Niedergang, geistige Unzufriedenheit und Verzweiflung verschärfen" (28). Schambeck mahnt, wir sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und gemeinsam den Weg in die Zukunft beschreiten. 15

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Schambeck: S. 212.

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DIE FLUCHT AUS DEM VERFASSUNGS STAAT Von Alfred F. Kobzina

Die Freiheit ist immer in der Defensive und daher in Gefahr. Wo die Gefahr in einer Bevölkerung nicht mehr gespürt wird, ist die Freiheit fast schon verloren. K. Jaspers Das dem Jubilar, dem akademischen Lehrer des öffentlichen Rechts, gewidmete Thema ist ein staatsrechtliches. Ich hatte danach nicht gesucht. Ich bin daran nicht vorbeigekommen. Das Thema gibt der Staatsrechtswissenschaft gerade heute - aber nicht erst heute - brennende Fragen auf. Voran jene nach dem verbleibenden Sinn von Verfassung und Verfassungsstaat. Denn der politische Wille organisierter Interessen drängt in zunehmender Häufigkeit und Härte verfassungsfern, freiheitsbedrohend und demokratiefeindlich zur dezisionistischen Selbstgestaltung. Die Aushöhlung der Verfassung, ihre Sinnentleerung und Entfremdung ist zu einem wiederkehrenden politischen Alltagsgeschäft geworden. Die Bedrohung des Verfassungsstaates wird dabei zusehends radikaler und rücksichtsloser. Es ist, als künde sich heute wieder eine Art Ausnahmezustand an. Neu an der Entwicklung scheint, daß Regierung und Parlamentsmehrheit diese gemeinsam betreiben. Die Idee der Verfassung umspannt die Teilung der Gewalten, die Freiheitsrechte und den Schutz der Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, die Bindung des Staates an das Gesetz: die Herrschaft des Gesetzes. Verfassung ist insoweit ein Maßstab der Politik. Die normative Verfassung ist dem Schutz des unabhängigen Richters anvertraut. Unter Verfassungsstaat verstehen wir insgesamt eine die staatlichen Gewalten begrenzende Ordnung. 17*

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Die Verfassung ist nicht unabänderlich. Doch soll sie von Bestand und Dauer sein. Für ihre Änderung gelten besondere institutionelle Rechtserzeugungsregeln. Hier soll nicht mehr die Rede davon sein, daß man die Verfassung seit Jahrzehnten fortlaufend und opportunistisch von Fall zu Fall ändert und man sie eben dann, wenn sie ihre normative Kraft zu beweisen hätte, an einem Selbstzweck der Politik scheitern läßt. 1 Doch darf auch hier nicht daran vorbeigesehen werden, daß die opportunistische Verfassungsgesetzgebung einen Sinngehalt der Verfassung in Frage stellt und - wie die ,,Neigung ... zu Opportunitätsgesetzen" schlechthin - "einen zersetzenden, nicht bloß rechtsfeindlichen, sondern auch kulturfeindlichen Trieb" 2 in sich birgt. Seit Jahren ist es zur Übung geraten, den Parteien oder Verbänden mißliebige, im Gesetzesprüfungsverfahren ergangene, Richtersprüche des VfGH mit Verfassungsgesetzen oder Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen zu unterlaufen, um die vom Gerichtshof als materiell verfassungswidrig aufgehobenen Gesetzesstellen formell, wie man meint, unanfechtbar zu machen. 3 Auch diese Vorgänge sind bereits an anderer Stelle abgehandelt worden. 4 Der Entwicklung radikalstes und ungetarntes Zeichen setzte bislang und zunächst das BKA, das mit Noten vom 8. Februar 1993 5 und vom 2. März 1993 6 den Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes über Grundsätze der Anpassung und Bemessung der Höhe von Pensions ansprüchen gegenüber Gebietskörperschaften und die Höhe von Pensions beiträgen 7 versendete. 1 Kobzina, Die rechtsstaatliche Verfassung und was daraus geworden ist in: H. Mayer (Hg), Staatsrecht in Theorie und Praxis, FS R. Walter, 335 (331 ff.). 2 Gierke, Deutsches Privatrecht I, 121. 3 Vgl. dazu etwa Art I Z 8 der 10. KFG-Nov, BGBI 1986/106; Art I Z 9 der Nov zum GelVerkG, BGBI 1987/125 (gehört indessen nicht mehr dem Rechtsbestand an); Art I des BVG BGBI 1987/281 über die Begrenzung von Pensionen oberster Organe (nunmehr BGBlI990/446); BVG BGB11992/832 über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten. 4 Hengstschläger, Totaländerung der Verfassung durch Gesetzessanierung? in: H. Mayer (Hg), Staatsrecht in Theorie und Praxis, FS R. Walter, 216 ff. Vgl. weiters aaO 224 die Anm. 33-40; Kobzina, Die rechtsstaatliche Verfassung 331 ff.; Loebenstein, Das verfassungswidrige Verfas~ungsgesetz in: Mayer (Hg), Staatsrecht in Theorie und Praxis, FS R. ~alter, 437 ff.; Ohlinger, Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, OJZ 1990, 2 ff. In weiterer Folge Adamovich, Zur aktuellen Diskussion über die österr. Verfassungsgerichtsbarkeit in: Ballon-Hagen (Hg), Verfahrensgarantien im nationalen und internationalen Prozeßrecht, FS für F. Matscher, 1 ff.; Koja, Parlament gegen Verfassungsgerichtshof? Sind Verfassungsgesetze zur Ausschaltung von Gesetzesaufhebungen durch den Verfassungsgerichtshof zulässig?, Austrian Journal of Public and International Law, Bd. 44/1992, 55 ff. 5 GZ 920.800/0-11/ A/6/a/93. 6 GZ 920.800/3-11/ A/6/a/93. 7 Beilage 2.1 der Note vom 8. Februar 1993.

Die Flucht aus dem Verfassungsstaat

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Dieser Entwurf schlägt als § 1 eine Bestimmung des Inhaltes vor, daß die im § 1 Z 1 bis 5 näher bezeichneten (einfach-)gesetzlichen Regelungen als verfassungsrechtlich zulässig zu gelten haben. Die Erläuterungen zu § 1 Z 1 (hier wird

als Variante A die Übernahme des Nettoanpassungssystems der gesetzlichen Sozialversicherung in das Pensionsrecht der Bundesbeamten und als Variante B die Einführung eines flexiblen Pensionssicherungsbeitrages vorgeschlagen) enthalten dazu die nachstehenden Ausführungen, welche die hier mit dem vorgesehenen Verfassungsrang verbundenen Absichten überraschend freimütig offenlegen. Die Einführung eines Pensionssicherungsbeitrages - so wie die Übernahme des Nettoanpassungssystems der gesetzlichen Sozialversicherung in das Pensionsrecht der Bundesbeamten - seien "mit dem nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bestehenden Entgeltcharakter der Pensionsversorgung des Beamten und seiner Angehörigen nicht vereinbar . .. Die Schaffung einer verfassungsgesetzlichen Grundlage wird daher als erforderlich angesehen". 8 Als Erläuterungen zu § 1 Z 2 und 3 des Entwurfes finden sich die folgenden aufschlußreichen Sätze: "Der Wegfall der Rundungsbestimmung bei der Ermittlung der für die Pensionsbemessung maßgebenden ruhegenußfähigen Gesamtdienstzeit und der Entfall der begünstigenden Bestimmungen für die Ermittlung des für die Pensionsbemessung maßgebenden ruhegenußfähigen Monatsbezuges ist im Lichte der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zum Vertrauensschutz 8 zu sehen. Ob solche Bedenken tatsächlich gerechtfertigt sind, hängt davon ab, ob durch diese Regelungen ein plötzlicher und gravierender Eingriff in wohlerworbene Rechtspositionen vorgenommen wird. Maßgebend wäre dabei nicht der Eingriff an sich, sondern seine Plötzlichkeit und Schwere. Die verfassungsgesetzliche Grundlage soll eine in dieser Hinsicht problemlose Durchführung gewährleisten. "8 In den Erläuterungen zu § 1 Z 4 (diese Bestimmung betrifft die im Entwurf vorgesehene Einführung erhöhter Pensions bei träge für Bezugsteile über der in der gesetzlichen Pensionsversicherung geltenden Höchstbeitragsgrundlage) wird ausgeführt:

"Die verfassungsrechtliche Absicherung erfolgt hier - insbesondere im Hinblick auf die Anknüpfung an die Höchstbeitragsgrundlage nach dem ASVG ebenso wie im Falle der Z 2 und 3 aus Gründen gesetzgeberischer Vorsicht. "8 Die Erläuterungen des Entwurfes zu § 1 Z 5 lauten: "Der vorgesehene neue Berechnungsmodus der Witwen- und Waisenpension ... könnte als gravierender Eingriff in eine gesicherte Rechtsposition (Anwartschaft) eingestuft werden. 8 Aus diesem Grund ist auch hier eine verfassungsgesetzliche Grundlage notwendig."

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Sperrung(en) vom Verfasser.

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Alfred F. Kobzina

Von den zu diesem Entwurf im Begutachtungsverfahren abgegebenen Stellungnahmen seien lediglich zwei im Zusammenhang zitiert: Das Präsidium des VfGH hat mit Note vom 10. März 1993 9 dazu u. a. ausgeführt, in "dieser vom Entwurf vorgeschlagenen Technik der Verfassungsgesetzgebung liegt eine Verkennung der Funktion, die der Verfassung als Grundordnung der gesamten Staatstätigkeit zukommt. Indem der Entwurf eine unbeschränkte Ennächtigung an den einfachen Gesetzgeber erteilt, beseitigt er im Ergebnis die Verbindlichkeit der Bundesverfassung und damit auch der Grundrechtsordnung für das von den gesetzgeberischen Maßnahmen betroffene Rechtsgebiet. Der Verfassungsgerichtshof rät daher von dem im Entwurf des Bundesverfassungsgesetzes enthaltenen Regelungskonzept dringend ab." Auch das Amt der Tiroler Landesregierung hat sich in seiner Stellungnahme vom 9. März 1993 10 gegen den Entwurf gewendet und dessen Rechtsetzungstechnik sowie dessen inhaltliche Bestimmungen scharf abgelehnt. Zum verfassungsrechtlichen Thema rügt das Amt der Landesregierung, neben anderem, es sollen nach dem Entwurf des BVG "einfachgesetzliche Regelungen für zulässig erklärt werden, die gegen bisher geltendes Verfassungsrecht verstoßen. In den Erläuterungen zu diesem Entwurf ... wird sogar dezidiert angeführt, daß die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes durch diese verfassungsrechtliche Neuregelung ausgeschaltet werden soll. Diese bisweilen auch in anderen Bereichen geübte Praxis des Gesetzgebers erinnert an eine Vergangenheit, in der ebenfalls durch rechtstechnische Maßnahmen die Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts beseitigt wurde. "8 Die Bedenken gegen Fonn und Inhalt der vom BKA vorgeschlagenen Verfassungsnonn könnten treffender nicht zum Ausdruck gebracht werden. Auch der Blick auf die Erfahrungen einer leidvollen Vergangenheit ist zutre~fend und gerechtfertigt. Er erschließt die Sorge um die Rechtsordnung und Zukunft dieses Staates. Der Entwurf dagegen behandelt diese grundlegenden Verfassungsfragen mit einer Leichtfertigkeit, so als handle es sich hiebei nicht um fundamentale institutionelle Einwände, sondern bloß um untergeordnete fonnale Bedenken. Allen Protesten zum Trotz hat der NR die Vorstellungen des BKA nach dem Ergebnis stattgefundener Verhandlungen zwischen Vertretern der BReg und der Gewerkschaft öffentlicher Dienst in den wesentlichen Punkten angenommen und am 21. April 1993 über ein entsprechendes Pensionsrefonn-G 1993 11 Beschluß gefaßt. GZ 5290/3-Präs/93. Zl. Präs.Abt. n / EG-Referat-569/279. 11 Bundesgesetz BGBl1993 /334, mit dem das Pensionsgesetz 1965, das Gehaltsgesetz 1956, das Nebengebührenzulagengesetz, die BundesJorste-Dienstordnung 1986, das Bezügegesetz, das Post- und Telegraphenpensionsgesetz 1967, das Bundesgesetz über die 9

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Die Flucht aus dem Verfassungsstaat

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Das G. enthält in seinem Art XV eine Verfassungsbestimmung, wonach 1. im Dienstrecht die Erhöhungen der Ruhebezüge und der Versorgungsbezüge so zu regeln sind, daß sie der Aufwertung und der Anpassung der Pensionen in der gesetzlichen Sozialversicherung gleichwertig sind. Zur Herstellung dieser Gleichwertigkeit sind Pensionssicherungsbeiträge festzusetzen;

2. bei der Bemessung von Versorgungsbezügen des überlebenden Ehegatten, sofern es sich nicht um eine Erhöhung gern. Z 1 handelt, dessen sonstiges Einkommen zu berücksichtigen ist. Soweit es sich bei dieser Bemessung nicht um eine Erhöhung von Versorgungsbezügen auf eine Mindestversorgungsleistung handelt, ist dieses Einkommen nur in dem Ausmaß zu berücksichtigen, als es für Ansprüche oder Anwartschaften aus der Altersversorgung zugrunde zu legen ist. Der Gesetzgeber folgt mit dieser Verfassungsbestimmung dem vom Entwurf des BKA vorgegebenen Plan, die einfachgesetzlichen Regelungen des PRG 1993 verfassungsrechtlich unanfechtbar zu machen. 12 Diese Intention überschreitet - wie noch auszuführen sein wird - die dem Verfassungsgesetzgeber von der gewaltenteilenden rechtsstaatlichen (Bundes-) Verfassung gesetzten Grenzen. Der die gesamte österr. Rechtslandschaft beherrschende Grundsatz des Stufenbaues der Rechtsordnung reicht bis in die Tiefen des Verfassungsrechts. Der Grundsatz, daß ein Rechtsakt seine Grundlage in dem Rechtsakt der vorangegangenen Rechtsstufe zu finden, sich auf diesen zu gründen und von diesem vorausbestimmt zu sein hat, sodaß letztlich die Verfassung das Gesetz, das Gesetz die Verordnung und jene wiederum - sowie alle gemeinsam - den individuell-konkreten Rechtsakt, den Bescheid, tragen, gilt in Ansehung seiner Stufenbaufunktion auch im Bereich des Verfassungsrechts selbst. So können gern. Art 44 Abs 1 B-VG Verfassungsgesetze oder in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen vom Nationalrat (nur) in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden. Pensionsansprüche der Zivilbediensteten der ehemaligen k. u. k. Heeresverwaltung und ihrer Hinterbliebenen, das Bundestheaterpensionsgesetz 1958, das Dorotheumsgesetz, das Landeslehrer-Dienstrechtsgesetz 1984, das Land- undJorstwirtschaftliche Landeslehrer-Dienstrechtsgesetz 1985, das Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 und das VeifassungsgerichtshoJgesetz geändert werden (PensionsreJorm-Gesetz 1993 - PRG 1993). RV in 1014 d. B., Bericht des VA in 1030 d. B. Sten.Prot. NR XVIII. GP. 12 Vgl. dazu in gewissem Sinn u. a. schon das BVG BGBl1992/832 über unterschied-

liche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten und das sog. BVG: EndbesteuerungsG BGBl1993 111 sowie zuvor bereits die Verfassungsbestirnmungen in Art I Z 8 der 10. KFG-Nov BGBl19861 106, in Art I Z 9 der Nov zum GelVerkG BGBI 1987/125 und das BVG BGBI 1987/281 über die Begrenzung von Pensionen oberster Organe.

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Dagegen ist jede Gesamtänderung der Bundesverfassung einer strengeren Rechtserzeugungsregel unterworfen. Nach Art 44 Abs 3 B-VG ist jede Gesamtänderung der Bundesverfassung nach Beendigung des Verfahrens gern. Art 42, jedoch vor der Beurkundung durch den BPräs, einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen. Solcherart institutionalisiert das B-VG zwei Stufen des Verfassungsrechtes: a) Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen (Art 44 Abs 1 B-VG) sowie b) das Verfassungsrecht höherer Ordnung, das der Rechtserzeugung nach Art 44 Abs 3 B-VG unterliegt. (Auch) Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen haben im Stufenbau der Rechtsordnung ihre rechtliche Entsprechung in der höchsten Stufe des Verfassungsrechts, in jenen Normen also zu finden und sich auf diese zu gründen, deren Veränderung wegen ihres Regelungsinhaltes einer Gesamtänderung zuzuordnen ist und die solcherart deren höheren Bestandssicherung durch ein obligatorisches Referendum unterliegen. Somit ist aus Art 44 Abs 3 B-VG sowie aus dessen Art 44 Abs 1 unschwer erkennbar, daß auch die Erzeugung von Verfassungsrecht nur im Stufenbau der Rechtsordnung verfassungsmäßig sein kann. Auch die Einhaltung dieser Rechtserzeugungsregel unterliegt, wie im nachstehenden noch darzutun sein wird, der richterlichen Rechtskontrolle durch den VfGH.13 Unter Gesamtänderung der Bundesverfassung ist eine solche Veränderung zu verstehen, "die einen der leitenden Grundsätze der Bundesverfassung berührt" 13, die zu einem dieser Baugesetze in einem Widerspruch steht. Zu den leitenden Grundsätzen, den Baugesetzen, zählen die herrschende Lehre und die Rspr. neben dem demokratischen, dem bundes staatlichen und dem parlamentarischen, das rechts staatliche und das gewaltenteilende Prinzip, die Grundund Freiheitsrechte sowie die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. 14 Die institutionelle Gleichheit vor dem Gesetz und die richterliche Kontrolle durch die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts - sofern diese nicht überhaupt als eigenes Baugesetz aufgefaßt wird - zählen insgesamt zum Bestand, zum Rüstzeug, des rechts staatlichen Prinzips. Jedes einzelne dieser Strukturelemente steht nicht nur unter der Bedingung der Gewaltenteilung, sondern ist selbst wesenhaft ein Element der Gewaltenteilung. Die Grund- und Freiheitsrechte werden dem liberalen Baugesetz zugeordnet.

13 14

VfSlg.2455/1952. Vgl. Klecatsky-Morscher, Die österreichische Bundesverfassung6 , 61.

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Die Änderung der Bundesverfassung "auch nur in einem einzigen Punkt, der eines ihrer Grundprinzipien berührt",15 ist eine Gesamtänderung. Im einzelnen zählt es zum erklärten Ziel des PRG 1993, a) in mehreren umfanglichen Rechtsbereichen in wohlerworbene Rechte, und zwar in gesicherte Rechtspositionen bestimmter Personengruppen, in einer Art und Weise einzugreifen, die - wie in den Erläuterungen zum Gesetzentwurf des BKA ausdrücklich eingeräumt wird - nach ständiger Rspr. des VfGH der bestehenden Verfassungsrechtslage, insbes. dem Gleichheitssatz widerspricht. b) In Hinsicht auf die Zielsetzung des PRG 1993 soll- auch dies wird in den Erläuterungen zum Gesetzentwurf zugestanden - im Bereich des normativen Wesensgehaltes des PRG die Kompetenz des VfGH zur Normenprüfung sowie zur Kontrolle der danach verfügten Eingriffe in die Grundrechtssphäre der Normadressaten ausgeschlossen werden. Dieser Zugriff auf die Kompetenz des VfGH setzt sich in Widerspruch zur Gewaltenteilung, zur Rechtskontrolle über die Organe der Gesetzgebung und der Verwaltung durch die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts und damit insgesamt zum rechtsstaatlichen Prinzip. Zu a): Wie der VfGH u. a. in seinem Erk vom 18.3.1987 16 dargetan hat, müsse nach ständiger Rspr. jeder Eingriff in wohlerworbene Rechte vor dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz bestehen können. Es vermöge jedoch nicht jedes unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgebotes ins Gewicht fallende Motiv die Minderung wohlerworbener Rechte jedweder Art in jedweder Intensität sachlich zu begründen. Demnach sei etwa ein Eingriff in sog. wohlerworbene Rechte desjenigen Amtsträgers, der sein öffentliches Amt langjährig im Vertrauen auf diese Anwartschaft ausübt, durch strenge Ruhebezugskürzungen sachlich nicht gerechtfertigt. Er würde dadurch nämlich einem solchen Amtsträger völlig gleichgestellt, der entweder überhaupt schon im vorhinein oder zumindest während eines nicht unbeträchtlichen Zeitraums seiner Amtsausübung Kenntnis davon hat, daß sein späterer Ruhebezug einem rigorosen Kürzungssystem unterliegen werde. Die Bedeutung der Funktion des Ruhebezuges sei vorrangig darin zu erblicken, ein erhebliches Absinken unter einen einmal erzielten Standard der Lebensführung nicht eintreten zu lassen. Und in dem Erk vom 16.3. 1988 17 betont der Gerichtshof, diesen Rechtsstandpunkt fortführend, bei der Kürzung von Pensionen falle besonders 15 Vgl. dazu Hellbling, Bundes-Verfassungsnovellen und Verfassungskontinuität in: Salzburger Universitätsreden, H 23, 5. 16 VfSlg. 11.309/1987.

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ins Gewicht, daß die in Betracht kommenden Personen schon während ihrer aktiven Berufstätigkeit den Standard ihrer Lebensführung auf den Bezug einer später anfallenden Pension (eines Ruhegenusses ) einrichten. Häufig haben Pensionisten jahrzehntelang Beiträge in der Erwartung entrichtet, daß durch die Pensionierung kein erhebliches Absinken des während der Aktivzeit erzielten Standards der Lebensführung eintrete. Die Betroffenen vertrauten darauf, daß diese Erwartungen nicht durch plötzliche 8 , ihre Lebensführung direkt treffende Maßnahmen des Gesetzgebers beeinträchtigt werden. Eine Mißachtung dieses Vertrauens, so fährt der VfGH in seinen Entscheidungsgründen fort, wiege bei Pensionisten besonders schwer 8 , weil sich diese nachträglich meist nicht mehr auf geänderte Umstände einstellen können, wenn ihre Erwartungen infolge einer Änderung der Gesetzeslage nicht erfüllt werden. Ein punktuell von Pensionisten geforderter Akt der Solidarität werde daher in der Regel unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nicht zu rechtfertigen sein. Die sog. "Harmonisierung" des Pensionsrechtes der Beamten mit dem der Sozialversicherten ist eine politische Zielsetzung höchst gegensätzlicher politischer Geister, die sich hier - unbeschadet ihrer sonst heterogenen Auffassungen vom Gleichheitsgebot - einträchtig vordergründig auf eine ganz offensichtlich egalisierende Gleichheit berufen. 18 Sie verkennen damit gleichermaßen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, dem nach Rspr. und Lehre eine egalisierende Gleichheit fremd ist, und der nicht nur dann verletzt wird, wenn Gleiches ungleich behandelt wird, sondern stets auch dann, wenn - aus welchen Gründen immer - Ungleiches vorgeblich gleich behandelt werden soll, sowie im konkreten Fall auch die darauf Bezug habende Rspr. des VfGH. Danach handelt es sich "beim öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis und bei der Materie des Sozialversicherungswesens um tiefgreifend verschiedene 8 Rechtsgebiete" . 19 Diese Rechtslage werde, wie der VfGH, bezogen auf den dem szt. Prozeß zugrunde gelegenen Sachverhalt, ausgeführt hat, VfSlg. 11.665/1988. Vgl. dazu u. a. das Parteiprogramm der SPÖ (20. Mai 1978) das (unter Z 1.1.2) an den Beginn die Forderung nach "Gleichheit" stellt, polemisch eine ,,Absage an die Klassen- und Privilegiengesellschaft" erteilt und unter Z 3.4.2. "Soziale Sicherheit" die "Vereinheitlichung der Bedingungen für die Versicherten" postuliert. V gl. aber beispielsweise auch den Abg. z. NR Dr. Stummvoll, Sten.Prot. NR XVill. GP - 114. Sitzung - 21. April 1993, 13354: ,,Jahrelang war die Harmonisierung der Pensionssysteme eine Forderung. Das ist wahnsinnig schwierig. Das wissen wir alle. Nun wird ein wichtiger Schritt bei der Pensionsanpassung in Richtung Harmonisierung gesetzt." Es stimmt bedenklich, daß auf diesem Weg so auf eine alte sozialistische Vision, die "Volkspension", einträchtig zugegangen wird. Das durch das Parteiprogramm von 1978 ersetzte ,,Neue Parteiprogramm" der SPÖ (1958) forderte: ,,Eine Volkspension soll allen Staatsbürgern im Falle des Alters oder der Invalidität eine Mindestversorgung garantieren." 19 VfSlg. 5241/1966, VfSlg. 11.665/1988. 17

18

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"im Ergebnis aber verlassen, wenn die Bundesregierung das Weiterbestehen des Dienstverhältnisses beim Ruhestandsbeamten 'im Rahmen einer gleichheitsrechtlichen Beurteilung' mit der Lage beim ASVG-Pensionisten vergleicht und daraus Schlußfolgerungen zieht." 20 So hat der VfGH in ständiger Rspr. 21 dargetan, daß die den Ruhestandsbeamten gewährten Ruhegenüsse Entgeltcharakter besitzen. Gleiches gelte danach auch für die Versorgungsgenüsse. Von grundlegend anderer Art sei dagegen die Alterspension der Sozialversicherten, die im Gegensatz zum dienstrechtlichen Ruhegenuß des Beamten eine auf dem Versicherungsprinzip beruhende Versorgungsleistung darstelle. Aus eben diesem Grund erachtet der VfGH den Ruhegenuß des Beamten mit der Alterspension des Sozialversicherten für nicht vergleichbar. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die durch das PRG 1993 erfolgte Egalisierung im Wege eines sog. "Pensionssicherungsbeitrages" nach dem Vorbild des "Nettoanpassungsprinzips" der gesetzlichen Sozialversicherung und die Orientierung an diesem sowie die Junktimierung 22 der beiden in ihrem Wesen gleich gerichteten Regelungen zu sehen, deren Zweck es war, die Gleichbehandlung von - nach ständiger Rspr. rechtlich Ungleichem zu erzwingen. Zu b): Die Überprüfung eines Verfassungsgesetzes des Bundes auf die Verfassungsmäßigkeit seines Inhaltes erscheint zwar grundsätzlich nicht möglich, weil, wie der VfGH bereits in seinem Erk VfSlg. 1607 ausgeführt und in seinem Erk VfSlg. 2455 wiederholt hat, "ihm nach keinem der seine Zuständigkeit regelnden Artikel 137-145 B-VG eine solche Berechtigung zusteht". Wohl aber ist der VfGH "zur Überprüfung des formgerechten Zustandekommens eines Verfassungsgesetzes"23 und einer in einem einfachen Gesetz enthaltenen Verfassungsbestimmung berufen. In diesem Fall wird allerdings auch die Beurteilung "des Inhaltes der zu überprüfenden Gesetzesstelle mittelbar zur Vorfrage des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses" . 23 In seinem Erk vom 29. Sept. 1988, VfSlg. 11.829, hat der VfGH der Rechtsauffassung Ausdruck gegeben, wonach zu einem Widerspruch zu den leitenden Grundsätzen des Bundesverfassungsrechts (Art 44 Abs 3 B-VG) ,,Eingriffe in die Grundprinzipien der Bundesverfassung, wie etwa eine Einschränkung der GesetzesprüJungskompetenz des Verfassungsge20 21 22 23

VfSlg. 11.665/1988. VfSlg. 3389/1958, 3754/1960, 5241/1966, 8462/1978, 11.665/1988. Vgl. dazu das Vorblatt zur RV in 1014 dB, xvm GP, 12. VfSlg.2455/1952.

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Alfred F. Kobzina richtshofes oder eine Durchbrechung der Grundrechtsordnung, nicht nur führen" könnten, "wenn schwerwiegende und umfassende Eingriffe in die Grundprinzipien vorgenommen werden; vielmehr können auch bloß partiell wirkende Maßnahmen - gehäuft vorgenommen 8 - im Effekt zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung führen".

Damit hat der VfGH zunächst zutreffend erkannt, daß auch partiale Verfassungsänderungen, die Kernstücke der Verfassung beeinträchtigen, eine Gesamtänderung bewirken können. Das vom VfGH postulierte Kriterium "gehäuft vorgenommen", ist jedoch der hinlänglich geläufigen und wiederkehrend geübten Taktik der kleinen Schritte hilflos ausgeliefert. Die dem VfGH in letzter Zeit wiederholt vorgelegene Frage, wann eine in Ansehung eines Baugesetzes der Bundesverfassung sensible Verfassungsänderung als Gesamtänderung aufzufassen ist, kann im Wege einer Quantifizierung der Eingriffe kaum gelöst werden. Dieses Kriterium führt an die Grenzen der Judikabilität. 24 Jeder Eingriff in den Bestand der geltenden Verfassungs-Rechtsordnung hat eine bestimmte derogatorische Zielrichtung und ein bestimmtes Gewicht ggf. auch in Ansehung deren Baugesetze. An diesen qualitativen Kriterien wird zu messen sein, wo und wie sehr durch ein Verfassungsgesetz, durch eine Verfassungsbestimmung, in das institutionelle Gefüge eingegriffen wird. Dabei wird naturgemäß auch zu berücksichtigen sein, ob ein bestimmter Eingriff in die verfassungsrechtliche Grundordnung in der Zusammenschau mit bereits erfolgten Eingriffen unter dem Gesichtspunkt einer Gesamtänderung von rechtlichem Gewicht ist oder ob Auswirkungen auf ein Baugesetz allenfalls die Störung eines anderen Baugesetzes im Gefolge haben. In diesem Zusammenhang sei aber auch nicht verfehlt, mutatis mutandis an Ermacoras These zu erinnern, wonach jede punktuelle Änderung der föderalistischen Kompetenzverteilung als Totaländerung der Bundesverfassung angesehen werden müsse, weil nur so die Summierung solcher Änderungen zur völligen Vernichtung des Bundesstaates abgefangen werden könne. "Eine noch so geringe Veränderung der Kompetenzverteilung zuungunsten der Länder ist ein Schritt zur Vernichtung der Bundesstaatlichkeit der österreichisehen Rechtsordnung". 25

Wie der VfGH in ständiger Rspr. dargetan hat, "gipfelt der Sinn des rechtsstaatlichen Prinzips darin, daß alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sein müssen und ein System von S. Kobzina, Die rechtsstaatliche Verfassung, 344. Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, 148; ders. Über das Wesen des österr. Bundesstaates in Theorie und Praxis, JBI 1957, 550: ,,Man ist sich offenbar viel zu wenig bewußt, daß logisch gesehen, jede Kompetenzänderung qualitativ eine Gesamtänderung der Bundesverfassung ist". 24 25

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Rechtsschutzeinrichtungen die Gewähr dafür bietet, daß nur solche Akte in ihrer rechtlichen Existenz als dauernd gesichert erscheinen, die in Übereinstimmung mit den sie bedingenden Akten höherer Stufe erlassen wurden". 26.8 In gleicher Weise erkennt die h. L. in der Kontrolle generell abstrakter Normen durch den VfGH ein wesentliches Element des rechtsstaatlichen Baugesetzes. 27

Klecatsky-Morscher erkennen im "Vorhandensein einer Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts" dazu ein selbständiges Baugesetz. 28 Die Rechtskontrolle durch die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts - hier die Normenkontrolle durch den VfGH - ist in ihrem Wesen ein zentrales Element der Gewaltenteilung. Als solches sichert sie ein weiteres Wesensmerkmal des Rechtsstaatsprinzips: die Rechtssicherheit, die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des Staatshandelns also, einschließlich der Akte der zur Normsetzung berufenen Organe. Dementsprechend bedeutete für Kelsen eine Verfassung ohne Verfassungsgerichtsbarkeit, "eine Verfassung, derzufolge auch verfassungswidrige Akte und insbesondere verfassungswidrige Gesetze gültig bleiben müssen, weil sie aus dem Grund ihrer Verjassungswidrigkeit nicht aufgehoben werden können, von einem rechtstechnischen Standpunkt aus nicht viel mehr als einen unverbindlichen Wunsch". 29 Die zentralisierte Kompetenz des VfGH zur Prüfung generell abstrakter Normen ist im B-VG durchgängig institutionalisiert. Selbst der nur für die Gerichte geltende Grundsatz der absoluten Nichtigkeit nicht gehörig kundgemachter Rechtsvorschriften und die Kompetenz der Gerichte zur Prüfung der Kundmachung von Gesetzen, Verordnungen und Staatsverträgen (Art 89 Abs 1 B-VG) stellt hier insbes. in Hinsicht auf die Bestimmung des Art 139 Abs 3 lit c B-VG keine stichhaltige, ins Gewicht fallende Ausnahme dar. Auch Art 138a B-VG kann dagegen nicht ins Treffen geführt werden, da selbst Vereinbarungen nach Art 15 a Abs 1 B-VG der Prüfung - wiewohl nicht der Aufhebung - durch den VfGH unterliegen. Daraus folgt, daß Beschränkungen der Prüfungskompetenz des VfGH unter dem Gesichtspunkt einer Gesamtänderung zu den wohl sensibelsten Bereichen der Gesetzgebung gehören. VfSlg. 2455/1952 sowie insbes. 2929/1955,11.196/1986. Vgl. dazu etwa Kelsen, VVdDStRL, H 5, 78; Merkl, Die Baugesetze der österreichisehen Bundesverfassung in: Klecatsky (Hg), Die Republik Österreich 77 ff. (100); Antoniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht2 118; Adamovich, Die rechtliche Kontrolle in: Schambeck (Hg), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung 541; Korinek, Betrachtungen zur österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit in: Funk u. a. (Hg), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels, FS L. Adamovich 251 (251 ff.): "Verfassungsgerichtsbarkeit ... als Aufgabe, den Vorrang der Verfassung auch gegenüber dem Gesetzgeber sicherzustellen ...". 28 Klecatsky-Morscher, Die österreichische Bundesverfassung6 , 61. 29 Kelsen, VVdDStRL, H 5, 78. 26

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Es trifft die Auffassung zu, daß auch "die Kontrollkompetenz (des VfGH) aus der Normenhierarchie resultiert"30 und nicht umgekehrt. Allein es darf dabei nicht verkannt werden, daß die Konstruktion der rechtsstaatlichen Ordnung, wie sie im B-VG institutionalisiert ist und die der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts eine Angel- und Klammerfunktion 31 zuerkennt, ohne die der Bundesstaat ebenso wie der Rechtsstaat und der Verfassungsstaat schlechthin nicht effizient wären 32, ihrerseits Ansprüche an die Qualität der Rechtsordnung stellt. Werden diese nicht erfüllt, wird der Rechtsstaat zur Phrase. Denn die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts ist nicht nur der Garant, sondern - wie oben ausgeführt - auch eine Drehscheibe des Rechtsstaates. So ist die Konzentration der Normenkontrolle bei der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts ein gewichtiges Essentiale des rechtsstaatlichen Baugesetzes. Dagegen können aus den vernachlässigbaren Fällen der absoluten Nichtigkeit von Normen keine rechtlichen Schlüsse gezogen werden. Im Gegenteil. Gerade aus Art 89 Abs 1 B-VG erhellt der vorsichtige Umgang des Gesetzgebers des B-VG mit dem Institut der Nichtigkeit: eine gehörige Kundmachung ist unschwer zu erkennen und deren Prüfung ist zudem auf Gerichte beschränkt. Dazu kommt die gewählte Formulierung, aus der die Kompetenz der Gerichte erst im Umkehrschluß sichtbar wird. Jede Ausweitung des Geltungsbereiches der absoluten Nichtigkeit von Rechtsnormen als Folge der Einschränkung der Prüfungskompetenz des VfGH würde einer Öffentlichkeit - Adressaten ebenso wie Organen und Organwaltern schwierigste Fragen der materiellen Verfassungswidrigkeit aufbürden, sohin Rechtsunsicherheit in Verfassungsfragen erzeugen, und sich so gegen den Rechtsstaat im Ganzen wenden, der in seinem Wesen Rechtssicherheit zu verbürgen 30 Hengstschläger, Totaländerung, 253. 31 Vgl. dazu etwa die Ausführungen im Antrag des Verfassungsausschusses in 991 dB - konst. NY: ,,Das sechste Hauptstück schafft im Verwaltungsgerichtshoj und Verjassungsgerichtshoj zwei Grundpfeiler der künftigen staatlichen Organisation, die mit besonderer Absicht unter dem Titel der Garantien der Verfassung und Verwaltung in den Verfassungsentwurf aufgenommen sind. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Gerichtshöfe für einen Bundesstaat im allgemeinen wie im besondern für die bundesstaatliehe Organisation unseres Staatswesens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof sind gewissermaßen als die Klammem gedacht, welche die dualistische Konstruktion von Bund und Ländern zu einer höheren Einheit zusammenfügen und das nur zu leicht beziehungslose und anarchische Nebeneinanderfunktionieren der beiden organisatorischen Apparate zu einem harmonischen Zusammenwirken verbinden. Schon die vom Entwurf vorgesehene Zusammensetzung der beiden Gerichtshöfe, ... läßt sie gewissermaßen als eine dem Bunde und den Ländern gemeinsame und ihnen zugleich übergeordnete Instanz erscheinen". 32 Vgl. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 448: In der Demokratie ist das letzte Bollwerk für Verfassung und Recht der Richter; Hauriou, Precis de Droit Constitutionel2 267: Das richterliche Prüfungsrecht ist die consequence logique de la suprematie de la constitution; Kelsen, VVdDStRL, H 5, 119, 78 f.

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hat: die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit allen Staatshandeins. Dazu zählt nicht zuletzt auch die Gewißheit über den geltenden Rechtsnormenbestand. Gegen die im Bereich der Normenprüfung bestehende institutionelle Schlüsselfunktion des VfGH kann man rite auch nicht das parlamentarische Prinzip ins Treffen führen sowie eine daraus abgeleitete "Letztentscheidungskompetenz" des Parlaments. 33 Wider diese Auffassung einer absoluten Letztentscheidungskompetenz des Parlaments ist zunächst einzuwenden, daß die - trotz gegenteiliger Versicherungen - apriori schwerpunktmäßige Heranziehung und Betonung im wesentlichen eines einzigen Baugesetzes, nämlich des parlamentarischen Prinzips, ein verläßliches Auslegungsergebnis nicht erwarten läßt. Erst die Inbeziehungsetzung aller hier in Betracht kommenden Baugesetze, - des demokratischen, des parlamentarischen und des rechtsstaatlichen - kann eine verläßliche Antwort versprechen. Dabei soll vorweg die These nicht unwidersprochen bleiben, "daß nach dem ursprünglichen Verfassungsverständnis die Gesetzesprüfungskompetenz des VfGH kein leitendes Prinzip der Bundesverfassung iSd Art 44 Abs 2 (bzw heute - Abs 3) B-VG bildete".34 Für die aktuelle Verfassungsinterpretation wäre dieser Gesichtspunkt zwar von vornherein nicht von Gewicht, zumal die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts nach h. L. und Rspr. heute jedenfalls - das steht hier außer Streit - als Baugesetz zur verfassungsrechtlichen Grundordnung zählt. Dennoch soll die zitierte Behauptung nicht dahingestellt bleiben. Ihr widersprechen nämlich mit großer Deutlichkeit schon die Erläuterungen des Antrages des Verfassungsausschusses der konstituierenden NV betr. das BVG.31 Darin wird ausgeführt, "das sechste Hauptstück schafft im Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof zwei Grundpfeiler der künftigen staatlichen Organisation, die mit besonderer Absicht unter dem Titel der Garantien der Verfassung und Verwaltung in den Verfassungsentwurf aufgenommen sind".

Es kann daher von einem - ohne Zweifel problembeladenen - allmählichen "stillen Verfassungswandel "34 in Richtung eines Baugesetzes nicht die Rede sein. Kein geringerer als Hans Kelsen hat, ich wiederhole mich, von Anbeginn zutreffend die zentrale Schlüsselstellung der Normenprüfungskompetenz des VfGH, die Verfassungsgerichtsbarkeit, als conditio sine qua non des Verfassungsstaates erkannt und betont. 2910 diesem Sinn hat Kelsen in der Verfassungsgerichtsbarkeit ausdrücklich auch "ein geeignetes Instrument" gesehen, die "Diktatur der Majorität zu verhindern, die dem sozialen Frieden nicht minder gefährlich ist, als die Diktatur einer Minderheit". 35 33 34 35

Öhlinger, Verfassungsgesetzgebung, 7 f. Öhlinger, Verfassungsgesetzgebung, 6. Kelsen, VVdDStRL, 81.

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Die Kompetenz des VfGH zur Gesetzesprüfung mag durchaus als eine ,,Einschränkung eines reinen Parlamentarismus"36 aufgefaßt werden. Nun hat es aber einen ,,reinen Parlamentarismus" - was immer darunter zu verstehen sei - in Österreich nie gegeben und die Bundesverfassung bietet keinen normativen Anhaltspunkt für die Annahme eines Parlamentsabsolutismus' oder einer Allzuständigkeit des Parlaments. Schon das B-VG in seiner Fassung von 1920 läßt keinen Zweifel daran, daß das Baugesetz der parlamentarischen Demokratie nur Bestand haben kann als rechtsstaatliehe Demokratie. Und der Gesetzgeber der Bundes-Verfassungsnovelle von 1929 hat - aus leidvollen Erfahrungen - erkannt, daß die parlamentarisehe Demokratie nur als gewaltenteilende bestehen kann. Wo der Parlamentarismus verabsolutiert wird, relativiert man den Rechtsstaat. Wo aber der Rechtsstaat relativiert wird, ist die Freiheit seiner Bürger gefährdet. Damit sind wir am Kern des Problems angelangt. Im Interesse der Freiheit des Einzelnen wurden die sog. Staatsgewalten einem System der wechselseitigen Hemmung und Kontrolle unterworfen. Dieses System ist auf Rechtssicherheit und Berechenbarkeit des Staatshandelns gerichtet. Im Zweifel ist die Verfassung daher so auszulegen, daß die von der Verfassung verbürgten Werte der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung gewährleistet bleiben: In dubio pro libertate (individui); niemals aber in dubio pro collectivo! Genau dagegen richtet sich indes ein Interpretationsergebnis, das den Weg dahin eröffnet, daß eine Verjassungswidrigkeit - so etwa im PRG 1993 - in einem Akt normfeindlichen Dezisionismus zur Verfassungsmäßigkeit erhoben wird, um ihn der rechtsstaatlichen Normenkontrolle zu entziehen. Hier beginnt der Sinn der Verfassung und mit ihm der demokratische Rechtsstaat in Frage zu stehen. Gesellt sich dazu die Absicht, ein solches System - mit der Interpretationshilfe des parlamentarischen Prinzips - noch dadurch abzusichern, daß "der Begriff der Gesamtänderung auf grundlegende und weitreichende Verfassungsänderungen eingeschränkt werden"36 soll, so wird nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch die Demokratie (s. Art 44 Abs 3 B-VG) - zugunsten einer Funktionärsoligarchie - beseitigt. Es gehört zum Erfahrungsgut auch meiner Generation, daß eine der Gewaltenteilung feme Demokratie letztlich in einem absoluten Staat endet. Dem B-VG idF von 1929 ist die Absicht einer organisatorisch abgesicherten Ausgewogenheit staatlicher Macht zugrundegelegt. Dementsprechend würde das rechtsstaatliehe Prinzip in seiner wesentlichen institutionellen Wirkkraftbeschä36

Öhlinger, Verfassungsgesetzgebung, 7.

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digt, setzte sich das Parlament voluntaristisch über die vorgegebene Gewaltenteilung, deren "cheques and balances" , hinweg. Demgegenüber ist die gerichtliche Normenkontrolle von der Verfassung als eine "Garantie der Verfassung" mitbeschlossen. Ihr Funktionieren kann daher nie zu einer Beschädigung des parlamentarischen Prinzips führen. Die Rechtsunterworfenheit ist nach unserem Verständnis der einzige Legitimitätsgrund des Staates (Max Weber). So stehen im Verfassungsstaat - und die Bundesverfassung läßt daran keinen Zweifel- auch die Organe der demokratischen Rechtserzeugung unter dem Gesetz. Dementsprechend kann eine grundlegende Dezimierung der Normenkontrollkompetenz des VfGH und damit eine wesentliche Schwächung des rechtsstaatlichen Baugesetzes zugunsten des parlamentarischen Prinzips dem Gesetzgeber nicht zur Disposition stehen. Denn auch der Gesetzgeber steht in der konstitutionellen rechtsstaatlichen Demokratie nicht über der Verfassung. Auch er ist der Verfassung und ihren Baugesetzen unterstellt; hier dem rechtsstaatlichen und dem demokratischen Baugesetz. Letzteres unterwirft Gesamtänderungen obligatorisch dem Referendum des Bundesvolkes (Art 44 Abs 3 B-VG). Danach also liegt die Letztentscheidungskompetenz beim Volk und nicht bei seinen ,,Repräsentanten"Y Aus der kardinalen Stellung der Normenkontrolle des VfGH im Gefüge des rechtsstaatlichen Prinzips folgt, daß jede ins Gewicht fallende Ausschaltung der Normenprüfungskompetenz des VfGH baugesetzwidrig ist und daß weiters die Erträglichkeitsgrenze, unterhalb der Eingriffe des Gesetzgebers in die Prüfungszuständigkeit des VfGH als noch hinnehmbar gelten können, entsprechend deren leichten Verletzlichkeit empfindsam zu ziehen ist. Denn eine Rechtsordnung, die so umgestaltet wird, daß sie die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, vornehmlich deren Normenkontrolle, behindert, hört in Kürze auf, noch als rechtsstaatlich i. S. unseres B-VG zu gelten. Aus diesem Grund kann ich der Auffassung Hengstschlägers nicht beipflichten, wonach - etwa bei implizit erfolgtem Ausschluß der Prüfungskompetenz des VfGH - "weder eine nach der subjektiven Absicht des Gesetzgebers auf die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs abzielende Regelung, noch ein übermäßiger Gebrauch der Verfassungsform an sich geeignet ist, eine Gesamtände37 Anders etwa bezeichnenderweise die Verfassung der ehern. Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 idF v. 1974, dessen Art 48, der wie folgt lautete: ,,(1) Die Volkskammer ist das oberste staatliche Machtorgan ... (2) Die Volkskammer ist das einzige verfassungs- und gesetzgebende Organ . . . Niemand kann ihre Rechte einschränken. Die Volkskammer verwirklicht in ihrer Tätigkeit den Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung." Vgl. dazu u. a. auch Kelle, Schulze, Die Volkskammer der DDR - Sachwalter der Interessen des Volkes, NI 1981, 202 ff., (203): "Die Wahrnehmung der Funktion der Volkskammer als oberstes Machtorgan zeigt, daß sie mit den Maßstäben des bürgerlichen Parlamentarismus weder meßbar noch vergleichbar ist".

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rung der Verfassung zu bewirken". 38 Nach dieser Auffassung ließen nur" Verfassungsgesetze, die - unabhängig von der dahinterstehenden Intention des Gesetzgebers -" nicht sowohl die Zielsetzung einerseits der Erhöhung der Bestandskraft und andererseits die Verleihung derogatorischer Wirkung gegenüber anderen widersprechenden Verfassungsgesetzen erfüllen, "von ihrem objektiven Erscheinungsbild her keinen anderen Schluß zu, als daß der Gesetzgeber durch sie ausschließlich die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs beseitigen wollte".39 Danach würde es also allein von der Form der gewählten Rechtsetzungstechnik abhängen, ob die Prüfungskompetenz des VfGH - ungeachtet einer dahin zielenden Absicht des Gesetzgebers - rite ausgeschaltet werden kann. So wäre es dem Gesetzgeber demnach nur dann verwehrt, die Zuständigkeit des VfGH in verfassungskonformer Weise auszuschließen, wenn er etwa den relevanten Regelungsinhalt durch einfaches Gesetz normiert und dieser Regelung im Wege einer Verfassungsbestimmung den verfassungsrechtlichen Bestandschutz gewährt. 40, indem er beispielsweise anordnet, daß diese einfachgesetzlichen Bestimmungen der Bundesverfassung nicht widersprechen. Der Gesetzgeber müßte sich also erst einer "im B-VG nicht vorgesehenen Normenkategorie"41 bedienen, m. a. W., den Weg der Gesetzgebung "zur Schaffung eines unzulässigen Normentyps"41 mißbrauchen, um den Vorwurf einer Verfassungswidrigkeit auf sich zu ziehen. Es kann wohl keinen Unterschied ausmachen, ob die Ausschaltung der Normenprüfungskompetenz des VfGH expressis verbis oder implizit erfolgt. Ob eine implizite Ausschaltung der Prüfungskompetenz des VfGH vorliegt, ist eine von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller dabei relevanten Umstände nach den Regeln der Hermeneutik zu beantwortende Frage. Daß die Verfassungsbestimmung des Art XV des PRG 1993 darauf abzielt, die Kontrolle des VfGH auszuschließen, ist - wie oben dargestellt - schon aus den Gesetzesmaterialien unschwer erkennbar. Dies erfolgte in Hinsicht auf die vom Gesetz beabsichtigten Eingriffe in die Grundrechtsordnung sowie die ins Auge gefaßte Verletzung des Gleichheitssatzes. Zu letzterer sei noch eine Bemerkung angebracht: Der VfGH hat in seinem Erk VfSlg. 1708/1948 die Frage verneint, ob durch ein Bundesverfassungsgesetz, das den Gleichheitssatz "für die maßgeblichen Fälle seines Bereiches außer Kraft gesetzt hat", eine Gesamtänderung bewirkt worden sei. Dies mit der Begründung, Hengstschläger, Totaländerung, 234. Hengstschläger, Totaländerung, 235. 40 So etwa § 12 des Zweiten Verstaatlichungs-Entschädigungsgesetzes, BOBl 1960/3, oder § 103 Abs 2 KFO idF der Nov BOBl 1986/106. 41 Hengstschläger, Totaländerung, 241. 38

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daß "er in der gegenständlichen Ausschaltung des Gleichheitsgrundsatzes von vornherein nur eine Teiländerung der Bundesverfassung für den konkreten Anlaß, nicht aber eine Gesamtänderung der Bundesverfassung zu erblicken vennag". Der in dem zitierten Erkenntnis zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung ist die Gefolgschaft zu verweigern. Denn diese verstellt den Einblick in Grundsätzliches: Die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz - sie ist als Willkürund Diskriminierungsverbot ein Essentiale des Rechtsstaates - läßt Ausnahmen von dieser Gleichheit innerhalb der Rechtsgenossen nicht zu. Wann immer eine Gruppe, ja ein Einzelner von diesem Recht der "Gleichheit aller" ausgenommen werden soll, wird dieses Recht nicht durch eine Ausnahme "durchbrochen", nicht auf die verbleibenden "eingeschränkt", sondern zur Gänze fragwürdig. Dieses im B-VG, im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, in den beiden Staatsverträgen von 1919 und 1955 und nicht zuletzt in der MRK verbürgte gleichennaßen demokratische wie dem rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff immanente Recht besteht nur insoweit und insolange, als es alle Rechtsgenossen umschließt. Jede Einschränkung seines personellen Geltungsbereichs kann nur mit der rechtslogischen Konsequenz einer Aufhebung dieses verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes und damit um den Preis einer Gesamtänderung der Bundesverfassung verfügt werden. Insgesamt ist im PRG 1993 eine Regelung zu erkennen, die darauf abzielt u. a. die verfassungsgerichtliche Nonnenkontrolle in einem weiten Bereich des Pensionsrechtes der öffentlich Bediensteten auszuschalten, um so "problemlos" und massiv in die Grundrechtsordnung eingreifen und den Gleichheitssatz sistieren zu können. Mehrfache gewichtige Zugriffe auf das rechtsstaatliehe sowie ebensolche Eingriffe in das liberale Baugesetz kennzeichnen diese Rechtsvorschrift. Die dolose und zynische Mißachtung von Grundwerten der freiheitlichen rechtsstaatlichen Verfassung, ihre immer radikaler und brutaler werdende demokratieferne und rechtsstaatsfeindliche Sinnentleerung durch parlamentarische Mehrheiten ist längst zu einem bedenkenlos und fortgesetzt geübten System geworden. Der Rubikon ist überschritten. An diesem Punkt bedeutet Schweigen Mitschuld. Der Verfassungsstaat steht in Frage. Es hat das Amt der Tiroler Landesregierung am 9. März 1993 10, nicht ohne Grund, besorgt an die düstersten Zeiten dieses Landes erinnert: an die Zugriffe auf die Grundrechtsordnung und die Beseitigung der Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts. Die Staatsrechtslehre hat heute - ganz allgemein und nicht zum ersten Mal in der Geschichte - einen zunehmenden Autoritätsverlust der rechtsstaatlichen Verfassung festzustellen und in derem Gefolge ein Vordringen des Dezisionismus ' parlamentarischer Mehrheiten: 18'

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Das verfassungsmäßige Mitwirkungsrecht des Volkes am Zustandekommen von Gesamtänderungen der Verfassung wird ignoriert, die richterliche Normenkontrolle zurückgedrängt oder auf vielfaltige Weise umgangen. Der Einzelne soll einer utilitaristischen, nicht mehr berechenbaren Verfassungsgesetzgebung, die willkürlich in seine Rechtssphäre einbricht, schutzlos ausgeliefert sein. In der Einschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit kündigten sich seit jeher die Schwächung und letztlich der Abbau des Verfassungsstaates an. Es ist hier nicht der Ort, die vielfaltigen geistesgeschichtlichen Wurzeln des Weges der Abkehr vom verfassungsstaatlichen Normdenken und normgemäßen Handeln freizulegen, die philosophischen und soziologischen Linien, die von ihm wegführen, nachzuzeichnen. Und doch mag es nützlich sein aufzuzeigen, welche ideologiebelasteten Wege hier gedankenlos - es liegt mir fern, bedenkenlos und mit Absicht zu unterstellen - beschritten werden. Denn die Abwendung vom Normativen bis hin zum hier festgestellten Mißbrauch der Gestaltungsformen der Verfassung hat hohen Symbolcharakter. Sie zeugt nicht nur von der Einstellung, die Verfassung sei bis hin zum Rechtsformenmißbrauch disponibel sowie davon, daß heute großen und mächtigen politischen Gruppierungen der gebotene Respekt vor der Verfassung fehlt. Die folgenden Hinweise wollen dafÜberhinaus und im Rahmen der hier gebotenen Kürze die gefahrliche Nähe belegen, in die sich der Gesetzgeber mit dieser Auffassung von Verfassungsgesetzgebung begibt, und die langen dunklen Schatten andeuten, in die sich dieser zu stellen anschickt. Der absolutistische Dezisionismus schien einst durch die gewaltenteilende rechtsstaatliche Verfassung in die Schranken gewiesen. In der Folge entledigte er sich insbes. im radikal-demokratischen Neo-Absolutismus unseres Jahrhunderts, allem voran im sozialistischen sog. demokratischen Zentralismus und im Nationalsozialismus, seiner verfassungs staatlichen Fesseln und reduzierte das objektive Recht auf "ein bedeutendes Mittel, die Macht auszuüben"42 sowie die Gesetzlichkeit auf eine "demokratische Methode der staatlichen Leitung der Gesellschaft". 43 Österreichs Rechtslehre hat der modemen Welt vermittelt, daß "jede Staatsfunktion ... Rechtsfunktion " sei - und zu sein habe. 44 42 Vgl. Harrland, Unablässig für die Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit wirken, NJ. 1979, 102. 43 Kudrjawzew, Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtswissenschaft, NJ. 1981,

458 ff.

44 Vgl. dazu Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem unserer Zeit in: Imboden (Hg), Gedanke und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, 52.

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Am Weg des Rechts durch die Geschichte erkennen wir aber auch ein anderes, ein gegensätzliches Bild; das des "demokratischen Leviathan", 45 der die Rechtsetzung wesenhaft als politischen Akt begreift. 46 Er verkörpert den Satz, "alles juristische Wesen ... (sei) politischer Natur"Y. 48 Der heute festzustellende normfeindliche Umgang mit der Verfassung, der durch Rechtsformenmißbrauch maskierte Verfassungsbruch, der die Verfassung regelmäßig und eben dann einem Selbstzweck der Politik unterordnet, wenn sie ihre normative Kraft zu beweisen hätte, lassen uns erkennen, daß sich die politischen Parteien zusehends von der österreichischen Rechtstradition abwenden und einen rechtsstaatsfernen Weg beschreiten: den Weg eines dezisionistischen Mehrheitsabsolutismus, den Weg des Gesetzes ausschließlich als Politik, die sich solcherart nicht mehr als berechenbar erweist. 49 So droht die Verfassung zunehmend nicht mehr den absoluten Werten des klassischen Verfassungsdenkens verpflichtet, sondern der "Dynamik der Realprozesse"50.51 unterworfen zu sein. Auf diesem Weg wird nicht die Statik des Normativen, sondern die Dynamik des Machtstrebens zum Prinzip der Verfassung. 52 Ein in der "Realverfassung" seit Jahrzehnten festzustellender demokratischer Gewaltenmonismus läßt uns diese Gefahr nicht geringschätzen. Die institutionelle Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit ist unserer Verfassungswirklichkeit fremd geworden. 53 Wirksam gewesene Elemente einer gegenseitigen Hemmung der Macht haben heute an Bedeutung verloren. Alle Macht liegt bei den Parteiapparaten. Die von der Verfassung legitimierten Kontrollinstanzen werden als hemmend empfunden. Ihr Kompetenzbereich wird von den Zentren der Macht durch bedenkliche (Verfassungs-)Interpretationen einzuschränken gesucht. 54 45 Kägi, Rechtsstaat und Demokratie in: Imboden, Kägi u. a. (Hg) Demokratie und Rechtsstaat, FS für Z. Giacometti, 120. 46 Vgl. Lenins Auffassung, wonach "ein Gesetz ... eine politische Maßnahme" sei. Lenin, Werke Bd. 23,40. 47 Engels, Marx-Engels Werke Bd. 1, 585. 48 DJ 1939, 1341: "Wir tun das, was notwendig ist. Dann"tut man auch das, was richtig ist, und was richtig ist, ist auch gut. Reichsminister Funk". 49 Kobzina, Krise des Verfassungsstaates, ÖJZ 1993, 218: "Die Bundesverfassung hat so als wichtigstes Symbol für die Berechenbarkeit der Politik abgedankt." 50 Riege, Die Verfassungsproblematik im entwickelten Sozialismus, Staat und Recht

1983, 774 (771 ff). 51 Vgl. auch Honecker, Begründung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR, 27.9.1974, 6. 52 Marx, vgl. dazu Marx-Engels Werke Bd. 1, 259. Es sei notwendig, "daß der

Fortschritt zum Prinzip der Verfassung gemacht wird, ... Der Fortschritt selbst ist dann die Verfassung." 53 Kobzina, Parlamentarismus Wesen, Wandel, Wirklichkeit, ÖZöR 1972,7 ff.

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Auch darin erkennen wir einen Ausdruck des Dezisionismus'; denn dezisionistisches Denken lehnt jede Kontrolle ab. Dieser Geisteshaltung ist die Einsicht fremd, daß die Gewaltenteilung, ein System gegenseitiger Hemmung und Kontrolle also, das Lebenselement, die conditio per quam des Rechtsstaates ist. 55 Kollektivismus, Voluntarismus, Materialismus und Marxismus stehen neben anderen für die Destruktion des Normativen und der rechtsstaatlichen gewaltenteilenden Verfassung.

Es sollten die politischen Parteien, die sich nach ihren Programmen zum Verfassungsstaat bekennen, sich endlich des rechten Weges besinnen. Der "ganz überzeitliche Wert"56 des Verfassungsstaates steht (wieder einmal) in Frage. Verfassung bedeutet Selbstbeschränkung und Selbstbindung des Staates. 57 Die Idee, mit der die Verfassung "untrennbar verbunden ist, an der sich der richtige Verfassungsbegriff notwendig zu orientieren hat", ist die "Sicherstellung der Rechte und Freiheiten des Staatsbürgers vor der staatlichen Gewaltswillkür" . 58 Dort, wo diesem Satz die Anerkennung verwehrt bleibt, wird der Bürger zum Objekt einer unberechenbaren Politik gemacht. Karl Jaspers verlangt daher nach "hemmenden Instanzen gegen die selbstmörderischen Tendenzen einer formalen Demokratie". 59 Dieser Forderung ist beizupflichten. Dem dezisionistischen Umgang mit der Bundesverfassung und ihrer fortschreitenden Formalisierung, und dem "BundesVerfassungsrecht der leichten Hand"60 insgesamt, wäre ein stabiler Grundkonsens über die verfassungsrechtlichen und verfassungswürdigen Grundwerte voran die Freiheitsrechte, die Rechtssicherheit und die Gewaltenteilung - entgegenzusetzen. Zu diesem Zweck müßte die föderative bundesstaatliche Ordnung Österreichs 61 zur Geltung gebracht und es sollten die Bundes-

54 Vgl. dazu etwa: Fischer, APA-Aussendung vom 9.1.1992; Die Presse 27.4.1993, Lenhardt, Die alten SP-Krämpfe mit Recht und Richtern; Standard 3.5.1993, Lingens,

Die SPÖ und die Justiz: marxistische Reflexe; Die Presse 7.5. 1993, Maulkorb für Klestil sowie: SP-Klubchef gegen ,,Hineinregieren" des Bundespräsidenten. 55 Kägi, Rechtsstaat 138: "Der demokratische Rechtsstaat ist nur möglich auf der Grundlage der Gewaltenteilung." 56 Triepe1, VVdDStRL, H 7, 197. 57 Tatarin-Tarnheyden, Z ges. StW., Bd. 85, 11 f.: "Verfassung ist doch der Ausdruck einer erfolgten Selbstbeschränkung, einer Bindung an die Fessel der Rechtsordnung. Und darin liegt ein ... offenbar unterschätzter Ku1turwert." 58 Hsü Dau-Lin, Arch öff Rn. F. Bd. 22, 35. 59 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Fischer, 162. 60 Informationsblatt des Institutes für Föderalismusforschung 1987, H 2.

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länder in den Weg der Verfassungsgesetzgebung des Bundes wirksam eingebunden werden.

61 Schambeck, Österreichs Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip in: Bonin u. a. (Hg) FS für E. Kolb, 309 ff.; ders. Föderalismus und Gewaltenteilung in: Leibholz u. a. (Hg) Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, FS für W. Geiger, 643 ff.; ders. zum Werden und zu den Aufgaben des österreichischen Föderalismus in: Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, 17 ff.

STAATLICHE SOZIALGESTALTUNG IN EINER PLURALISTISCHEN GESELLSCHAFf Von Heribert Franz Köck

I. Einleitende Bemerkungen Es gehört zu den zentralen Einsichten der Neuzeit, daß die menschliche Gesellschaft eine ihrem Wesen nach weltanschaulich pluralistische l ist und es keiner menschlichen Instanz zukommt, eine Wertordnung mit Allgemeinverbindlichkeit vorzuschreiben 2 • Den daraus folgenden politischen Pluralismus 3 mittels eines Katalogs von Grund- und Freiheitsrechten 4 abgesichert zu haben, zählt damit auch zu den größten Errungenschaften der Neuzeit 5 • Sichern doch diese Rechte und die in Zusammenhang mit ihnen eingerichteten innerstaatlichen 6 wie internationalen 7 Rechtsschutzverfahren dem Individuum einen von staatlichen Eingrif1 Zum Begriff des Pluralismus vgl. allgemein Walter Kerber, Lothar Samson et al., Pluralismus, in: loachim Ritter und Karlfried Gründer, Hrg., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1969,988 ff.; Alexander Schwan, Pluralismus, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, 7. Aufl., Freiburg-Basel-Wien, 1988,427 ff.; K. Bosel, Pluralismus und pluralistische Gesellschaft, Salzburg 1968; Roman Herzog, Pluralismus und pluralistische Gesellschaft, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl. 1987, 2539 ff.; Franz Furger, Pluralismus, in: Aljred Klose, Woljgang Mantel und Valentin Zsijkovits, Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., Innsbruck-Wien-MünchenGraz-Köln 1980,2157 ff. 2 Vgl. Karl Rahner, Pluralismus, in: losef Höfer und Karl Rahner, Hrg., Lexikon für TheologieundKirche,Bd. 8, 2. Aufl., Freiburg 1963,566 f.;AlexanderSchwan, Wahrheit - Pluralität - Freiheit, Hamburg 1976. 3 Vgl. allgemein Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Bern 1970; D. Nicholls, The Pluralistic State, Basingstoke 1975; W. Steffani, Pluralistische Demokratie, Opladen 1980; K. Walter Hempfer und Alexander Schwan, Grundlagen der politischen Kultur des Westens, Berlin 1987. 4 Vgl. Ernst Forsthoff, Grundrechte, in: loachimRitter, Hrg., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 922 ff.; Herbert Reiger, Grundrechte, in: Katholisches Soziallexikon (oben Anm. 1), 1042 ff.; Konrad Hesse, Grundrechte, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft (oben Anm. 1), Bd. 2, 1986, 1111 ff.; umfassend Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 2. Teilband, Berlin 1970, 710 ff. 5 Vgl. Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre (oben Anm. 4), 712 ff., besonders 715 ff.; vgl. auch dens., Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. 1: Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Wien 1974. 6 Vgl. dazu nochmals Ermacora, Allgemeine Staatslehre (oben Anm. 4), 743 ff. 7 Vgl. hier allgemein u. a. Louis Henkin, Human Rights, in: Rudolj Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, Instalment 8, Amsterdam-New York-Oxford 1985,

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fen mehr oder weniger freien Raum, in dem es sich nach seinem Gutdünken selbst verwirklichen kann. 11. Pluralismus, Freiheit und staatliche Kompetenzen Die im 17. und 18. Jhdt. erdachten, im 19. und 20. Jhdt. zumindest in den Staaten mit abendländischer Rechtstradition 8 erstrittenen Grundrechte werden trotz verschiedener Gesetzesvorbehalte - im wesentlichen zugunsten von Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer als notwendig angesehen werden 9 - auch heute noch weitgehend als für die Sicherung der individuellen Freiheit ausreichend angesehen 10. Dem steht freilich in der Gesellschaft - wie der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, schon vor zwei Jahrzehnten festgestellt hat ll - nicht nur ein Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber, sondern auch eine Angst vor dem Staat gegenüber, "dessen Kompetenzen ständig anwachsen, weil ihm neben Aufgaben im Dienste des Rechts- und Machtzweckes auch solche der 268 ff.; Jochen Abr. Frowein, European Convention on Human Rights (1950), in: ibid., 184 ff.; Gerard Cohen Jonathan, Human Rights Covenants, in: ibid., 297 ff.; sowie Stephen P. Marks, Human Rights, Acivities of Universal Organizations, ibid., 274 ff. 8 Vgl. nochmals Hempler I Schwan, Grundlagen der politischen Kultur des Westens (oben Anm. 3); für den angloamerikanischen Bereich insb. E. Barker, Political Tbought in England 1848-1914,2. Aufl., Oxford 1928; D. B. Trueman, Tbe Govermental Process. Political Interests and Public Opinion, New York 1953; E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl., Stuttgart 1964. Ausdrücklich zu dieser abendländischen Rechtstradition bekennt sich die Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention, wo von der Entschlossenheit der Regierungen europäischer Staaten die Rede ist, "die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern [und] politischen Überlieferungen" besitzen. 9 Solche Vorbehalte finden sich beispielsweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention in den Art. 8, 9, 10 und 11. Zum Gesetzesvorbehalt vgl. insb. auch Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963, 18 und 26; schon vorher dens., Der verfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt, in: Die öffentliche Verwaltung 1960, 561 ff. 10 Hesse (oben Anm. 4), 1114, meint freilich, ,,[o]b die Grundrechte in der [herkömmlichen] Bedeutung heute und in der übersehbaren Zukunft ihrer Aufgabe gerecht werden können, Grundlagen eines Lebens in Freiheit und menschlicher Würde zu gewährleisten, ist auf Grund der neueren geschichtlichen Entwicklung fraglich geworden." Sein in der Folge entwickeltes Konzept von Grundrechten, die über bloße subjektive Abwehrrechte gegen den Staat hinausgehen und Ansprüche an den Staat zur ,.Daseinsvorsorge" begründen, bringt die Grundrechte in die Nähe des Gemeinwohlbegriffs. Dazu vgl. unten, bei Anm.20ff. 11 H erbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat. Vortrag gehalten auf der Veranstaltung der katholischen Akademikerarbeit Deutschlands anläßlieh des 84. Deutschen Katholikentages am Samstag, 14. September 1974, in Mönchengladbach, abgedruckt in: Herbert Schambeck, Kirche, Staat und Demokratie. Ein Grundthema der katholischen Soziallehre, Berlin 1992, 96 ff.

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Kultur und Wohlfahrt übertragen werden."12 Will man diese Phänomene von Mißtrauen und Angst gegenüber Gesetzgebung und Staat nicht als irrational abtun, so wird man hinter dem Sich-Bedroht-Fühlen des Einzelnen ein BedrohtSein erkennen müssen, wobei die Bedrohung offenbar vom Staate ausgeht und gegen welche die klassischen Grund- und Freiheitsrechte eben so offenbar keinen Schutz gewähren. Deren Konzept vom Ansatz her kritisch zu durchleuchten, erscheint unter diesen Umständen dringend geboten.

III. Die klassische Grundrechtskonzeption Ausgangspunkt der modemen Grundrechtskonzeption ist ein Raum unverzichtbarer Freiheiten, den sich das Individuum gleichsam gegenüber dem Staat vorbehalten hat 13, und in welchen einzugreifen dieser im übrigen totalitäre 14, d. h. mit einem umfassenden Gestaltungs- und Gehorsamsanspruch ausgerüstete Staat ausnahmsweise keine Kompetenz hat. Ein so auftretender Staat ist aber notwendig ein Weltanschauungs-Staat, auch wenn die von ihm getragene Weltanschauung, welche mit den Mitteln staatlicher Macht politisch in eine bestimmte Gesell12 Vgl. ibid., 97. 13 Diese Vorstellung wurde von lohn Locke in seinem Werk Two Treaties of Government (1690) begründet. Im Gegensatz zu Thomas Hobbes, der in seinem Leviathan (1651) den totalitären Staat als seiner Meinung nach einziges Mittel zur Erhaltung der inneren Sicherheit propagiert hatte, dem sich die Menschen bei der (in Vertragsform vorgestellten) Staatsgründung vollständig unterwürfen, sieht Locke die interne Sicherheit auch dann ausreichend gegeben, wenn die Staatsgewalt den Einzelnen gegenüber nicht mehr unumschränkt, sondern bloß noch beschränkt wäre. Diese Beschränkung konstruiert Locke, ebenfalls von der Vertragstheorie ausgehend, damit, daß sich die Menschen bei der Gründung des Staates einzelne ihrer sog. vorstaatlichen Rechte (nämlich auf Leben, Freiheit und Eigentum) zurückbehalten und in dieser Hinsicht dem Staat überhaupt keine Gewalt übertragen. Weil der Staat auf diesen Bereich keinen IZugiiff hat, spricht man auch vom staatsfreien Raum. Vgl. Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, 113 ff. und 122 ff., insb. 123. 14 Politischer Totalitarismus ist an und für sich kennzeichnend für den Staat einer weltanschaulich uniformen Gesellschaft. Weltanschauliche Uniformität wurde für den Staat in der Antike und im Mittelalter entweder aus praktischen Gründen - so etwa von Plato; vgl. sein Staatsmodell der Politeia (dazu Alfred Verdross, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1948, 81 ff.) - gefordert oder in naiver Weise - unter Einstufung des Andersdenkenden als Kriminellen; vgl. die Ketzerverfolgungen des Mittelalters - vorausgesetzt. Einen ganz anderen Hintergrund hat der von einer bloßen Rechtstheorie, welche jeden über sie hinausgehenden Ansatz als bloße Ideologie abtut, geförderte Totalanspruch staatlicher Rechtsmacht. Hier wird der vorstaatliche Freiheitsraum der immanenten Systemreinheit geopfert, wie dies etwa Hans Kelsen in seiner Allgemeinen Staatslehre 1925, Neudruck Berlin-Heidelberg-New York 1966, auf 154 tut: ,,Außerhalb der staatlichen Rechtsordnung - und jene Sphäre, die die Theorie mit Freiheitsrechten auszufüllen bemüht ist, liegt außerhalb der Rechtsordnung - kann es kein ,Recht'geben, es wäre denn ein Naturrecht. Und darum hat auch niemand einen rechtlich irgendwie qualifizierbaren Anspruch auf Freiheit vom Staat oder auf ein Unterlassen des Staates, wie man dieses angebliche subjektive öffentliche Recht im Anschluß an den Anspruch auf Zulassung zur Staatstätigkeit bezeichnet ... "

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schaftsordnung umgesetzt werden soll, im konkreten Fall Ergebnis eines Kompromisses und damit gleichsam ein weltanschaulicher Hybrid sein sollte. Der von diesem Staat geübten staatlichen Sozialgestaltung gegenüber erscheinen die klassischen Grund- und Freiheitsrechte als Abwehrrechte gegen unerträgliche Eingriffe in die Individualsphäre. Staatliche Sozialgestaltung wird also nicht grundsätzlich, sondern nur insoweit in Frage gestellt, als sie so unerträglich erscheint, daß ihr im Laufe der Zeit bestimmte Bereiche entzogen, mit anderen Worten: gegenüber dem totalitären Anspruch des Staates gewisse Grund- und Freiheitsrechte erkämpft worden sind. Das Konzept der klassischen Grund- und Freiheitsrechte als punktueller Abwehrrechte gegen den Staat setzt freilich voraus, daß diesem Staat grundSätzlich ein umfassender Gestaltungs- und Gehorsamsanspruch zukommt 15. Nun unternehmen es die verschiedenen und bedeutendsten Sozial- und Staatslehren 16, einen entsprechenden Gestaltungs- und Gehorsamsanspruch zu begründen. Sie gehen dabei vom Gemeinwohlauftrag des Staates aus 17, nehmen aber offenbar keine enge Grenze dieses Gemeinwohles an und überlassen es dem Staat, in Ausfüllung des Begriffes sozialgestalterisch tätig zu werden 18. Die sozialgestalterische Kompetenz des Staat endet daher für die Vertreter dieser Auffassungen regelmäßig erst dort, wo die sozialgestalterische Tätigkeit des Staates selbst an den Bereich 15 Eine Übersicht zum Problem der Rechtfertigung staatlicher Gewalt überhaupt gibt Ermacora, Allgemeine Staatslehre (oben Anm. 6), 374 ff. 16 Ermacora nennt ibid. 386 ff. als wichtigste Staats lehren die christliche, die absolutistische, die liberale, die sozialistische und die kommunistische. Diese Einteilung deckt sich teilweise mit der auf 1095 zu findenden, wo vom Staat abendländischer Prägung einerseits, volksdemokratischer Prägung andererseits und schließlich auch vom Staaten afro-asiatischer Prägung die Rede ist. Im zweiten Abschnitt seiner Allgemeinen Staatslehre: ,,Lehren vom Staat und vom Staatsbegriff die politische Wirklichkeit beeinflussend", behandelt Ermacora den StaatsbegriJfder Scholastik und der neuzeitlichen christlichen Staatslehre (75 ff.), der Aufklärung und des Liberalismus (90 ff.), Hegels und des Marxismus-Leninismus (143 ff.) und des Nationalsozialismus und Faschismus (176 ff.). 17 Zum Begriff des Gemeinwohls und seiner Geschichte vgl. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (oben Anm. 13),78 ff., 268 ff., bes. 272; dens., Der klassiche Begriff des "bonum commune" und seine Entfaltung zum "bonum commune humanitatis", in: 28 Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht (1977), 143 ff.; Roman Herzog et al., Gemeinwohl, in: Joachim Ritter, Hrg., Historisches Wörterbuch Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 248 ff.; Valentin Zsijkovits, Gemeinwohl, in: Katholisches Soziallexikon (oben Anm. 1), 854 ff.; Walter Kerber, Alexander Schwan und Alexander Hollerbach, Gemeinwohl, in: Staatsiexikon der Görres-Gesellschaft, Bd.2, Freiburg-Basel-Wien 1986, 857 ff. Vgl. auch Johannes Messner, Das Naturrecht Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 7. Aufl., Berlin 1984, 777: "Die Staatsgewalt ist die im Zweck des Staates begründete und im Recht des Einzelstaates näher umschriebene Herrschaftsbefugnis zur Verwirklichung seines Gemeinwohls." (Hvhbg. im Orig.) 18 "Tatsächlich sind alle Staatsdenker, die im Staat ein Wesen eigener Existenz, eigenen Zweckes und sittlichen Wertes sehen, angefangen von Plato und Aristoteles der Auffassung, daß die Staatsgewalt zwar an Recht und Gesetz gebunden ist, daß aber im Rahmen des Rechts nichts weniger als die weitblickende und tatkräftige Förderung des Gemeinwohls das Feld ihrer Tätigkeit bildet." ibid.

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der Grund- und Freiheitsrechte stößt und jede weitergehende Tätigkeit des Staates daher geeignet erscheint, Rechte dieses Bereiches zu verletzen 19.

IV. Der pluralistische GemeinwohlbegritT Theoretische Grundlage aller dieser genannten Auffassungen ist dabei die ausdrückliche oder stillschweigende Annahme, daß der Staat nun einmal hinsichtlich seiner sozialgestalterischen Rolle eine Grundsatzentscheidung treffen müsse, wobei die einzelnen Gesellschaftsmodelle für den weltanschaulich neutralen Staat relativ gleichwertig seien 20 , sodaß die konkrete Entscheidung für eines von ihnen lediglich von den politischen Macht- (in demokratischen Staaten: von den politischen Mehrheits-)Verhältnissen abhänge 21 • Insbesondere könne das altliberale System möglichster Enthaltung des Staates von sozialgestalterischen Maßnahmen keinen Vorrang vor anderen Konzepten - vom Staat der liberalen oder sozialen Marktwirtschaft bis zum sozialistischen Planungsstaat - für sich beanspruchen. Dies gelte auch für den Staat der pluralistischen Gesellschaft, gerade weil der ihm zugrunde liegende Mindestkonsens über den Staatszweck - der Staat als Garant eines existentiellen Minimums an persönlicher Sicherheit, Freiheit und Wohlfahrt - keine Einschränkung staatlicher Machtausübung rechtferti gen könne, soweit dieselbe nur den Bereich dieses Existenzminimums unangeta19 In diesem Sinn sieht Messner, ibid., 77 f., die Staatsgewalt nicht nur als die höchste Herrschajtsgewalt, sondern auch als unteilbar, unveräußerlich und unbeschränkt an. Unter letzterem versteht er die Unverantwortlichkeit der Staatsgewalt im Sinne einer im Bereiche ihrer Funktionen gegenüber einer anderen Autorität volle Autonomie (auf 778). Auch Messner läßt daher in diesem Zusammenhang die Staatsgewalt - wie früher Bodin, Locke und Bentham - nur an das Sittengesetz sowie "an die vom konkreten Rechtsbewußtsein und den Rechtsgewohnheiten des Volkes getragene rechtliche Grundordnung der staatlichen Gemeinschaft" - also an dessen positives Recht - "gebunden [sein]". 20 Ermacora, Allgemeine Staatslehre (oben Anm. 4), sieht auf 382 ff. die Staatszwecke als Grenzen der Staatsgewalt, wobei diese wiederum vom jeweiligen Menschenbild her abgeleitet werden. In diesem Sinne stellt Ermacora die Grenzen der Staatsgewalt nach der christlichen Staatslehre (386 ff.), nach der absolutistischen und liberalen Staatsauffassung (389 ff.), nach der sozialistischen Staatsauffassung (391 ff.) und nach der kommunistischen Staatsauffassung (394 ff.) dar. 21 So früher auch der Verfasser selbst; vgl. H eribert Franz Köck, Der erste Staatszweck in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Herbert Miehsler, Erhard Mock, Bruno Simma und Ilmar Tammelo, Hrg., lus Humanitatis. Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, Berlin 1980, 89 ff.; dens., Die Funktion des Naturrechts in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Dorothea Mayer-Maly und Peter M. Simons, Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für Rene Marcic, Berlin 1983, 803 ff., bes. 811 ff. Die von den politischen Kräften in der konkreten Gestaltung der gesamtwirtschaftlichen Ordnung gespielte entscheidende Rolle hat schon lohn Stuart Mill in seiner Schrift On Liberty (1859) - wenn auch als durchaus beklagenswert - herausgestellt: "The likings and dislikings of society, or of some powerful parts of it, are thus the main thing which has practically determined the mIes laid down for general observance, under the penalties of law or opinion." (Auf 117 der von CasteIl 1947 veranstalteten Ausgabe).

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stet lasse. Da dieser Bereich gleichzeitig jener der wesentlichen Grund- und Freiheitsrechte sei, habe einer anderweitigen sozialgestalterischen Aktivität des Staates gegenüber niemand ein Recht auf Widerstand. Daher müsse sich jeder auch die Errichtung einer ihm selbst nicht genehmen Sozialordnung gefallen lassen, soweit dieselbe nicht in eben jene seiner wesentlichen Grund- und Freiheitsrechte eingreife, deren Anerkennung als raison d' etre des Staates überhaupt ja vorausgesetzt werden muß22. Die eben dargestellte Position ist aber verfehlt, weil sie die Frage der Kompetenz des Staates zur Sozialgestaltung mit der Frage verknüpft, inwieweit es gegen staatliches Handeln einen legitimen Widerstand geben könne, und dort, wo das legitime Widerstandsrecht endet 23 , das positive Recht des Staates auf Sozialgestaltung beginnen läßt.

V. Legitimer staatlicher Kompetenzanspruch Tatsächlich ist die Grenze des legitimen Widerstandsrechtes des Einzelnen gegen die Tätigkeit des Staates wesentlich enger gezogen, als es jener Bereich ist, in welchem einzugreifen der Staat keine Kompetenz hat. Grund dafür ist der Umstand, daß jedenfalls der aktive Widerstand gegen die Staatsgewalt seinerseits geeignet erscheint, den durch den Grundkonsens in der pluralistischen Gesellschaft abgesteckten Bereich von Werten - gleichsam das existentielle Minimum 24 - zu gefahrden, weshalb daher zumindest ein solcher aktiver Widerstand nur dann geleistet werden darf, wenn der Staat bereits seinerseits in den Konsensbereich eingegriffen und damit das existentielle Minimum bedroht hat 25 • Aus Gründen dieser Güterabwägung kann daher der Einzelne gehalten sein, staatliches Eingreifen, welches zwar durch den pluralistischen Grundkonsens nicht gestützt 22 Zum staatlichen Schutzzweck als wesentlicher Grundlage staatlicher raison d'etre vgl. nochmals Köck, Der erste Staatszweck in einer pluralistischen Gesellschaft (oben Anm. 21), 98 ff. 23 Was das Widerstandsrecht anlangt, vgl. zur Übersicht Herbert Schambeck, Widerstand, in: Katholisches Soziallexikon (oben Anm. 1),3343 ff.; B. Koch, Rechtsbegriff und Widerstand, Berlin 1985; Christian Starck, Widerstandsrecht, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5 (oben Anm. 1), 989 ff. 24 Dieses existentielle Minimum umfaßt - wie schon gesagt - ein Mindestmaß an persönlicher Sicherheit sowie jenes Maß an Freiheit und Wohlfahrt, welches notwendig ist, damit der Einzelne sein eigentliches Ziel, nämlich jenes der Selbstverwirklichung, auch ausreichend verfolgen kann. 25 Denn in diesem Fall hat der Staat selbst den ihn tragenden pluralistischen Grundkonsens zerstört und sich damit auch selbst seine raison d' irre entzogen. - Ebenso sieht die Naturrechtslehre - wie Messner, Naturrecht (oben Anm. 17),78, ausführt - "im aktiven Widerstand ein Notwehrrecht des Staatsvolkes in Fällen, in denen das Gemeinwohl und seine höchsten Güter, wie die wesentlichsten Freiheiten der Bürger, schwerster Bedrohung durch den Mißbrauch der Staatsgewalt unmittelbar ausgesetzt sind und andere Möglichkeiten der Abwehr, nämlich verfassungsmäßige und friedliche, nicht bestehen."

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ist, andererseits aber das existentielle Minimum nicht direkt bedroht, hinzunehmen 26 • Damit ist aber ein solches staatliches Tätigwerden noch nicht gerechtfertigt; vielmehr bleibt eine Kompetenzüberschreitung seitens des Staates gegeben. Daraus ergibt sich, daß die Zuständigkeit des Staates zur autoritativen, d. h. dem einzelnen mit Gehorsamsanspruch entgegentretenden Sozialgestaltung auf den durch den pluralistischen Konsens abgesteckten Bereich des existentiellen Minimums beschränkt ist. Vergegenwärtigen wir uns diesen Bereich, in dem der Staat zugunsten eines Mindestmaßes persönlicher Sicherheit und Freiheit sowie der zur persönlichen Entfaltung notwendigen wirtschaftlichen Wohlfahrt tätig werden muß, so nähert sich der Staat mit derart limitierten Zwecken freilich insoweit dem liberalen Nachtwächterstaat 27 , als er kein Recht hat, den Einzelnen darüber hinaus in ein von ihm ausgewähltes System sozialer Gestaltung zwangsweise einzugliedern. VI. Legitime und illegitime staatliche Sozialgestaltung Bedeutet dies, daß der Staat überhaupt kein Recht hat, über diesen eng begrenzten Bereich hinaus Gesellschaftspolitik zu betreiben? Muß auf die sozialgestalterischen Möglichkeiten des Staates, welche ja aufgrund der ihm umfassend zur Verfügung stehenden Mittel beträchtlich sind, völlig verzichtet werden? Ist damit Sozialgestaltung durch den Staat schon etwas in sich nicht zu Rechtfertigendes? Oder verleiht nicht der Umstand, daß die Staaten immer wieder, und zwar unter den verschiedensten sozialen Modellen 28, gesellschaftspolitisch tätig werden, der sozialgestalterischen Kompetenz des Staates eine zumindestens prima faciePlausibilität? 26 Dies ergibt sich aus dem pluralistischen Ansatz insoweit, als die vom pluralistischen Konsens getragenen Werte allgemein anerkannte sind und daher logisch (und somit auch normativ) allen anderen Werten vorgehen, die nicht im selben Maße vom pluralistischen Grundkonsens getragen sind. Aber auch hier ist wiederum die Parallele zur traditionellen Naturrechtslehre festzustellen, denn ,,[a]lle [deren] Vertreter ... betonen einmütig, daß die Berechtigung zum aktiven Widerstand ... an die Bedingung der Gewißheit gebunden ist, daß daraus nicht ein gleiches oder noch größeres Unheiljür das Gemeinwesen erwachse als die Gewaltherrschaft, die beseitigt werden solt'. (Hvhbg. im Orig.) 27 Ermacora, Allgemeine Staatslehre (oben Anm. 4), 383 f., sieht als klassischen Vertreter dieser Auffassung Wilhelm von Humboldt mit seinem Werk "Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates" (1792) an, der die Sorge des Staates auf das physische und ,,negative" Wohl des Bürgers beschränkt. - Zur Kritik des liberalen Staates als ,,Nachtwächterstaat" vgl. auch lose! Oehlinger, Liberalismus, in: Katholisches Soziallexikon (oben Anm. 1), 1652 ff., auf 1656 und 1663. Vgl. auch Lothar Gall, Liberalismus, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft (oben Anm. 1), Bd. 3 (1987) 1916 ff. 28 Für eine Besprechung dieser Modelle sei einerseits nochmals auf Ermacora, Allgemeine Staatslehre (oben Anm. 4), 75 ff., andererseits auf Messner, Das Naturrecht (oben Anm. 17) und seine dort 725 ff. gegebene Darstellung der verschiedenen Staatstheorien verwiesen.

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In der Tat kann sich der Staat einer solchen Sozialgestaltung gar nicht entziehen. Dies wird sofort einsichtig, wenn man bedenkt, daß in diesem Zusammenhang keine Sozialpolitik des Staates notwendigerweise ebenfalls bereits Sozialpolitik ist, die sich von jeder anderen nur dadurch unterscheidet, daß sich hier der Staat jedes ihm möglichen Eingriffes enthält und damit indirekt jene Teile der Gesellschaft begünstigt, welche aufgrund der faktischen Gegebenheiten besser als andere in der Lage sind, ihre Interessen durchzusetzen. Dies zeigt, daß der Staat in sozialpolitischen Fragen geradezu Stellung nehmen muß, und sei es auch nur, daß er dadurch, daß er in die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht eingreift, zur Erhaltung derselben in ihrer konkreten Gegebenheit beiträgt. Eine gesellschaftspolitsche Abstinenz des Staates ist also gar nicht denkbar 29 •

Wie ist diese Erkenntnis aber mit der vorher gewonnenen, daß der Staat nämlich keine über den extistentiellen Mindestzweck hinausgehende sozialgestalterische Komptenz besitzt, vereinbar? Eine befriedigende Antwort darauf kann offenbar nur in einer Differenzierung der Art und Weise des staatlichen Eingreifens gefunden werden.

VII. Der Staat als Zwangsorganisation Wie wir schon weiter oben festgestellt haben, ist der Staat berechtigt, im Zuge der Gewährleistung des existentiellen Minimums dem Einzelnen autoritativ gegenüberzutreten, weil angenommen werden muß, daß über eine entsprechende Kompetenz des Staates, welche ja zu eben dieser Garantierung des existentiellen Minimums notwendig ist, allgemeiner Konsens besteht. Freilich können auch in diesem Bereich bereits gesellschaftliche Konflikte darüber ausbrechen, wo im konkreten die Grenze des existentiellen Minimums und damit auch die autoritative sozialgestalterische Kompetenz des Staates liegt. Die Mölichkeit solcher Differenzen bei der praktischen Umsetzung dieser Kompetenz anzuerkennen, ist nun eines; die Kompetenz des Staates im Bereich der Sozialgestaltung aber überhaupt unbegrenzt sein lassen, ein anderes. Beide Probleme können daher höchsten formal, und zwar dahingehend verknüpft werden, als man die Frage nach jener Instanz stellt, welche in jedem der beiden Fälle über die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des staatlichen Handeins zu entscheiden hat 30• Materiell sind 29 In diesem Sinn hält der Verfasser seine diesbezüglichen Ausführungen im Beitrag zur Verdross-Festschrift von 1980 über den ersten Staatszweck in einer pluralistischen Gesellschaft (oben Anm. 21), auf 103 f., aufrecht. 30 Diese Instanz wird in demokratisch verfaßten Staaten mit rechtsstaatlichen Rechtschutzverfahren in erster und letzter Linie eine politische, dazwischen aber eine gerichtliche sein. Sie wird in erster Linie eine politische sein, weil die Initiative zur staatlichen Sozialgestaltung in jenen Rechtsstaaten, wo die staatliche Verwaltung nur auf der Grundlage von Gesetzen ausgeübt werden darf, beim Gesetzgeber liegt. Aber auch dort, wo es für die staatliche Verwaltung genügt, daß sie im Rahmen der Gesetze bleibt, die

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beide Probleme aber jedenfalls, und zwar deshalb verschieden, weil die Antwort einer solchen Instanz immer nur eine vorläufige sein kann und dem Einzelnen nicht das Recht nimmt, letztlich selbst zu beurteilen, ob hier ein staatlicher Kompetenzexzeß vorliegt 31. Als letztes Mittel bleibt in diesem Fall dem Einzelnen immer noch die Ausübung des schon oben besprochenen Widerstandsrechts 32 •

Initiative also von der Regierung ausgehen kann, bleibt die Entscheidung fürs erste eine politische. Die Entscheidung ist in zweiter Linie eine gerichtliche, weil die so getroffenen politischen Entscheidungen - seien es jene des Gesetzgebers, seien es jene der Regierung - in Rechtsschutzverfahren vor den für Verfassungsfragen zuständigen Gerichten überprüft und gegebenenfalls revidiert im Sinne von aufgehoben werden können. Die Entscheidung wird aber in letzter Linie wiederum eine politische sein, weil es zuletzt dem Verfassungsgesetzgeber unbenommen ist, die ursprünglich auf einfachgesetzlicher Ebene getroffene Entscheidung auf Verfassungsebene zu heben und sie damit vor Gerichten unanfechtbar zu machen. Bis zu welcher Entscheidungsebene eine bestimmte Frage der Sozialgestaltung gebracht werden muß, hängt nicht zuletzt von der Rolle ab, welche einerseits die Legislative und andererseits die Judikative für sich im Rahmen der Sozialgestaltung in Anspruch nehmen. Daß man für das Verhältnis dieser beiden Gewalten zueinander keine endgültige, für alle Fälle passende Formel f"mden kann, zeigt die mehr als 200jährige amerikanische Verfassungspraxis, in der sich der Supreme Court der Problematik von judicial review und judicial self-restraint immer wieder sehr bewußt gestellt hat. Vgl. dazu in Übersicht William B. Lockhart, Yale Kamisar und Jesse H. Choper, Constitutional Law. Cases - Comment - Questions, St. Paul, Min. 1967, Part 1: The Nature and Scope of Judicial Review, 1 ff., insb. Chapter 2: Limitations on Judicial Power and Review, 35 ff.; ebenso Paul G. Kauper, Constitutional Law. Cases and Materials, 3. Aufl., Boston-Toronto 1966, Part 1: Governmental Authority and its Distribution under the Constitution, Chapter 1: The Federal Govemment - Its Powers and the Division of Authority within it, I. The Federal Judiciary - The Doctrin and Practice of Judicial Review, 1 ff. 31 Ein solches Recht des Einzelnen anzuerkennen, mag manchem befremdlich erscheinen; es handelt sich dabei aber nur um die unabweisliche Konsequenz aus der Verneinung jedes staatlichen Totalitätsanspruchs. Dieses von der Staatslehre und den jeweiligen Verfassungslehren als heikel angesehene Problem, das eng mit der Frage nach der Begriindbarkeit des Widerstandsrechtes im positiven staatlichen Recht zusammenhängt, wird im Bereich des Völkerrechts viel unbefangener behandelt. Offenbar wegen des vergleichsweise größeren Gewichtes der einzelnen Rechtsgenossen (also insbesondere der Staaten) im Verhältnis zur Gesamtheit der internationalen Gemeinschaft erscheint dort ein Residualrecht jedes Völkerrechtssubjekts auf Selbstbeurteilung der Rechtmäßigkeit internationaler Akte fast selbstverständlich. In diesem Sinne hat auch der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten über Gewisse Ausgaben der Vereinten Nationen aus 1962 zwar festgestellt, daß grundSätzlich jedes Organ einer internationalen Organisation das Recht habe, seine Kompetenzen selbst zu bestimmen. Eine solche Autointerpretation seiner Kompetenzen durch ein Organ sei für die Mitgliedstaaten jedenfalls soweit verbindlich, als das Organ bei seiner Kompetenzfeststellung nicht offensichtlich exzediert habe. Vgl. ICJ-Reports 1962, 155 ff. Damit gesteht der Gerichtshof allen Mitgliedern der Vereinten Nationen zu, selbst zu beurteilen, ob ein bestimmtes Organ derselben in einem konkreten Fall ultra vires gehandelt habe; in letzterem Fall sind sie an die Kompetenzfeststellung durch das Organ nicht gebunden. 32 Dabei muß es sich ja nicht immer um das aktive Widerstandsrecht handeln; ein passiver Widerstand wird darin bestehen, daß sich der Einzelne bestimmten Folgen staatlicher Sozialgestaltung zu entziehen sucht. Auch wenn es manchem frappant oder gar anstößig erscheinen mag: Die vielfach feststellbare vergleichsweise niedrige Hemmschwelle in Fällen wie Steuerhinterziehung, Pfuscherbeschäftigung oder Schwarzarbeit 19 Festschrift Schambeck

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VIII. Der Staat als soziales Organisationsinstrument Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß der Staat zwar über den Bereich des existentiellen Minimums hinaus kein Recht hat, dem Einzelnen seine sozialpolitischen Entscheidungen aufzuerlegen, daß er aber andererseits sehr wohl das Recht hat, sozialgestalterisch tätig zu werden. Nicht-autoritative Sozialpolitik des Staates kann aber nur bedeuten, daß derselbe bestimmte sozialpolitische Modelle dergestalt umsetzt, daß sie sich als Angebotefür den Einzelnen darstellen, deren er sich bedienen kann, nicht aber bedienen muß. Was damit wegfällt, ist nicht die sozialpolitische Hilfestellung seitens des Staates für den Einzelnen, sondern lediglich dessen Zwangsbeglückung 33 • Die Teilnahme an den vom Staat umgesetzten sozialpolitischen Modellen ist daher für den einzelnen Staatsbürger nicht mehr obligatorisch, sondern nur noch fakultativ. Die sich derart ergebende Begrenzung staatlicher sozialgestalterischer Kompetenz nähert sich in der Praxis dem in der katholischen Sozial/ehre erarbeiteten, mittlerweile aber zu einem weithin anerkannten Grundsatz gewordenen Subsidiaritätsprinzip. Es deckt sich mit demselben aber deswegen nicht, weil dem Subsidiaritätsprinzip der Gedanke der Aufgabenteilung zwischen dem Einzelnen, der Familie, verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen und schließlich dem Staat zugrunde liegt, wobei der jeweils höheren Organisationseinheit die Kompetenz zum Handeln in jenen Bereichen zukommt, die von der niedrigeren Organisationseinheit nicht mehr befriedigend bewältigt werden können. Die Kompetenz der jeweils höheren Organisationseinheit, und schließlich jene des Staates, bestimmt sich daher auf Grund materieller Betrachtungsweise nach den jeweiligen konkreten Gegebenheiten, sodaß man von vornherein keinen Bereich von der autoritativen Sozialgestaltung durch den Staat ausnehmen kann. Demgegenüber endet die Kompetenz des Staates zur autoritativen Sozialgestaltung auf pluralistischer Grundlage beim existentiellen Minimum; alles was darüber hinausgeht, so zweckmäßig es auch im Einzelfall sein mag, kann, ja soll vom Staat zwar aufgegriffen, darf dem Einzelnen jedoch nicht aufgezwungen, sondern lediglich offeriert werden. Dieses Modell mag fürs erste mit dem Nachteil behaftet erscheinen, daß der Staat bei seiner sozialgestalterischen Tätigkeit den Einzelnen nicht einfach in Pflicht nehmen und damit auch nicht von vornherein mit dessen Teilnahme an der Verwirklichung der vom Staat entworfenen Konzepte rechnen kann. Dieser ist zumindest gelegentlich auch auf eine bewußte oder unbewußte Mißbilligung der konkreten Art und Weise zurückzuführen, in welcher der Staat seiner sozialgestalterischen Funktion nachkommt und die dafür notwendigen Mittel aufzubringen sucht. 33 Eine solche Zwangsbeglückung wird sowohl von der liberalen als auch von der christlichen Gesellschaftslehre den kollektivistischen Sozialtheorien vorgeworfen, seien es die korporativ-faschistischen Modelle, seien es die sozialistischen und kommunistischen Modelle. Vgl. dazu einerseits Ermacora (oben Anm. 4), 75 ff., 143 ff. und 176 ff.; andererseits Messner (oben Anm. 17),738 ff. und passim.

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Nachteil ist aber nur ein scheinbarer, weil er erstens dem Einzelnen ein Höchstmaß des kostbaren Gutes der Freiheit zur eigengestalteten Selbstverwirklichung erhält, und überdies auf das vom Staat angebotene System dadurch als Regulativ wirkt, als derselbe tatsächlich um die beste Lösung bemüht sein muß, wenn er nicht mit einer breiten Ablehnung seiner sozialgestalterischen Pläne rechnen will 34. Was unter einer staatlichen Sozialpolitik des Angebots, unter einem Modell bloßJakultativer Teilnahme am vom Staat umgesetzten sozialpolitischen System zu verstehen ist, sei an einem aus dem Bereich der Sozialversicherung entnommenen Beispiel verdeutlicht. Es kann davon ausgegangen werden, daß ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit - z. B. auf den Sektoren der Krankheits- oder Altersvorsorge - zu jenem existentiellen Minimum gehört, hinsichtlich dessen eine Kompetenz des Staates zu autoritativer Sicherung als vom pluralistischen Konsens getragen angesehen werden muß. Da ein solches Mindestmaß an Krankheitsund Altersvorsorge aber vom Einzelnen selbst auf verschiedene Art und Weise getroffen werden kann, beschränkt sich die primäre Kompetenz des Staates in diesem Zusammenhang lediglich auf eine entsprechende Kontrolle,. soweit der Einzelne also selbst eine entsprechende Vorsorge trifft, hat der Staat über diese Kontrolle hinaus keine Kompetenz zu weiterer Veranlassung mehr. Nur wenn es der Einzelne unterläßt, die entsprechende Vorsorge selbst zu treffen, kommt dem Staat eine korrespondierende Subsidiarkompetenz zu. In Ausübung derselben darf er auch in die Sphäre des Einzelnen eingreifen, ihm also z. B. für eine staatliche Kranken- und Altersversicherung eine angemessene Abgabe auferlegen. Diese Abgabe darf freilich nicht höher sein, als es für die Sicherung jenes Minimums an Krankheits- und Altersvorsorge notwendig ist, welches man noch als existentiell bezeichnen kann. Das bedeutet, daß staatliche Sozialversicherung als Zwangsversicherung nur hinsichtlich jener Glieder der Gesellschaft gerechtfertigt ist, die nicht von sich aus eine entsprechende Vorsorge zu treffen bereit sind, und nur in jener Höhe, die nach dem Versicherungsprinzip das existentielle 34 Der Sache nach deckt sich die hier dargelegte Auffassung durchaus mit jener; welche auch Messner in seiner Summe "Das Naturrecht" auf 862 f. vertritt: "Was ist die naturrechtliche Begrenzung der Sozialpolitik? Die Bevollmächtigung des Staats hört dort auf, wo seine Verpflichtung aufhört, die ihren Grund im Gemeinwohl hat. Auch für die Sozialpolitik gilt das allgemeine Subsidiaritätsprinzip, nämlich das Prinzip, daß dem Staat die Verantwortungen und Zuständigkeiten nur erwachsen, soweit die Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben von den Eigenkräften und der Eigenverantwortung der Gesellschaftsglieder nicht zu erwarten ist. Mit der für die Sozialpolitik geltenden Subsidiaritätsordnung sind gleichzeitig naturrechtlich die Grenzen der Politik der sozialen Sicherheit und des sozialen Wohlfahrtsstaates gezogen. Wird diese Grenze überschritten, dann besteht die Gefahr, daß diese Politik mit zunehmend kollektivistischen Bindungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens einhergeht, weil die dann sicherzustellenden Sozialleistungen, wie schon die unbedingte Vollbeschäftigung, nur unter planwirtschaftlichen Maßnahmen erfolgen kann, womit unvermeidliche Eingriffe in wesentliche persönliche Freiheitsrechte verknüpft sind, die durch die naturrechtliche Subsidiaritätsordnung geschützt sind."

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Schutzminimum abdeckt 35 • Jede darüber hinausgehende staatliche Sozialversicherung ist dagegen nicht als Zwangsversicherung, sondern auf der Grundlage der Freiwilligkeit zu konzipieren, die es dem Einzelnen erlaubt, sowohl über seine Teilnahme überhaupt als auch über den dadurch zu erlangenden niedrigeren oder höheren Versicherungsschutz selbst zu entscheiden. Eine darüber hinausgehende zwangsweise Heranziehung der Einzelnen aus dem Titel der Solidarität zur Finanzierung des vom pluralistischen Konsens getragenen existentiellen Minimums im Bereich des sozialen Schutzes für jeden kann freilich über das System des bloß freiwilligen Beitrages hinaus notwendig sein, dann aber nur in jenen engen Grenzen, wie es zur Ausdehnung dieses Schutzes auf Personen notwendig erscheint, die (unverschuldet oder verschuldet) ihren Beitrag zum System der sozialen Vorsorge nicht erbracht haben. In der Eingangsphase wird dieses System jedenfalls auch dem zugutekommen müssen, der sich einer entsprechenden Beitragsleistung zuvor entzogen hat; für die Zukunft wird aber der Staat aus Gründen der Gerechtigkeit dafür sorgen müssen, daß sich niemand seiner entsprechenden Verpflichtung entzieht, damit nicht andere schließlich die Folgen seines asozialen Verhaltens zu tragen haben.

IX. Staat und Gesellschaft Nun mag sich noch die Frage stellen: Mißbraucht der Staat nicht seine Organisationsstrukturen, wenn er in einem Bereich sozialgestalterisch tätig wird, der durch den pluralistischen Konsens nicht mehr abgedeckt ist, auch wenn er im Zuge dieses Tätigwerdens nicht autoritativ auftritt, seine Machtmittel also nicht zur Durchsetzung einer bestimmten Sozialordnung einsetzt, sondern eine solche grundsätzlich dem Einzelnen nur anbietet? Die Frage ist mit Nein zu beantworten. Der Grund hiefür liegt freilich nicht darin, daß der Staat grundsätzlich berechtigt wäre, auch ohne entsprechende Kompetenzen zu handeln. Er liegt vielmehr darin, daß es eigentlich gar nicht der Staat ist, der beim bloßen Anbieten einer bestimmen Sozialordnung tätig wird. Spricht man doch richtigerweise von staatlichem Handeln im eigentlichen Sinn nur dort, wo es dem Staate zukommt, autoritativ, also mit Gehorsamsanspruch, aufzutreten, und seine Entscheidungen gegebenenfalls gegenüber den Rechtsunterworfenen auch mit Gewalt durchzusetzen. Durch dieses Gewaltmonopol und das Recht, es im Rahmen seiner Kompetenzen einzusetzen, unterscheidet 35 Zurecht unterstreicht daher Messner, daß auch die soziale Gerechtigkeit in erster Linie die gesellschaftlichen Gruppen verpflichtet. Das Naturrecht, 863, Anm. I, sowie allgemein 420 ff. Er kritisiert daher die von Jacques Maritain, Men and the State. London 1954, auf 18 vertretene Auffassung, die vorzüglichste Pflicht des modemen Staates sei die Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit. Dies berücksichtigt nach Messner die inhärenten Grenzen der staatlichen Sozialpolitik zu wenig.

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sich ja gerade der Staat als eine Zwangsorganisation 36 von der Gesellschaft 37 , die zwar auch organisiert sein und auf diese Weise ihre Ziele besser verfolgen kann, dabei aber auf die Kooperation ihrer Glieder angewiesen ist 38 • Wo der Staat also Sozialordnung nicht auferlegt, sondern bloß anbietet, und zwar nicht etwa deshalb, weil er sich selbst zurücknimmt, sondern, weil er zu einer solchen autoritativen Auferlegung keine Kompetenz hat, ist es eigentlich nur die Gesellschaft bzw. ihre Mehrheit, die sich organisiert 39 , um ein bestimmtes Sozialmodell für diejenigen, die dasselbe akzeptieren können, zu verwirklichen. Eine solche Organisierung der Gesellschaft oder eines Teiles derselben ist aber durchaus legitim, ja nichts anderes als die Ausgestaltung des dem Einzelnen aufgrund des pluralistischen Konsenses zugesicherten Freiheitsraumes. In diesem Zusammenhang kann es dahingestellt bleiben, ob die organisierte Gesellschaft, die hier sozialgestalterisch tätig wird, gut daran täte, klar als solche aufzutreten und sich damit vom Staat als Machtapparat eindeutig abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung mag demjenigen als notwendig erscheinen, dem Staat und Gesellschaft als zwei völlig wesensverschiedene, einander gegenüberstehende Größen erscheinen. Wem hingegen eine solche Wesenstrennung künstlich erscheint, wer den Staat nur als eine besondere, nämlich die politische Organ isa36 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, 289: ,,Es ist üblich, den Staat als eine politische Organisation zu kennzeichnen. Aber damit kommt nur zum Ausdruck, daß der Staat eine Zwangsordnung ist. Denn das spezifisch ,politische'Element dieser Organisation besteht in dem von Mensch zu Mensch geübten, von dieser Ordnung geregelten Zwang, in den Zwangsakten, die diese Ordnung statuiert. Es sind eben jene Zwangsakte, die die Rechtsordnung an die von ihr bestimmten Bedingungen knüpft." Vgl. auch Messner (oben Anm. 17), Kapitel 116 - Der Staat: Machtorganisation, 738 ff. Vgl. losef Isensee, Staat, VI. Der Verfassungsstaat und die nichtstaatlichen Potenzen, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft Bd. 5, Freiburg-Basel-Wien 1989, 152 ff., auf 154: "Im Raster von Staat und Gesellschaft ist, jedenfalls schwerpunktmäßig, die Gesellschaft der Ort für Religion, Kultur und Wirtschaft. . .. Die religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Einheiten sind jener des Staates inkongruent. Sie können nicht ohne weiteres als Teilgliederungen des Gemeinwesens betrachtet werden. Sie gehen nicht im staatlich verfaßten Gemeinwesen auf und sind nicht notwendig um das staatliche Gemeinwohl zentriert wie Planeten um die Sonne .... Der Relativität der Gemeinwohlperspektiven entspricht die Polyzentrik der sozialen Systeme, unter denen der Staat nur eines von vielen ist, freilich ein hochbedeutsames. Seine innere Souveränität wird dadurch nicht in Frage gestellt, weil diese sich nur auf eine begrenzte, die für die staatliche Entscheidungs- und Friedenseinheit erhebliche Materie bezieht." 37 Der heute übliche Gesellschaftsbegriff geht auf das Zeitalter der politischen Emanzipation des Bürgertums zurück, wo man die bürgerliche Gesellschaft als freies wirtschaftspolitisches Betätigungsfeld des Bürgertums ansah: ,,Das materielle Substrat der bürgerlichen Gesellschaft ist die Wirtschaft als staatsfreie Sphäre." Vgl. P. Kaupp, Gesellschaft, in: Ritter (Hrg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 459 ff., auf 461 f.; vgl. weiters M. Riedei, Gesellschaft, bürgerliche, in: ibid., 466 ff. 38 Nach Messner (oben Anm. 17),839, bilden "die individuellen und körperschaftlichen Personen mit ihren Eigenzwecken und ihrer Eigenverantwortlichkeit die ,Gesellschaft'zum Unterschied zum Staat". 39 Nach Messner, ibid., "ist das Subsidiaritätsprinzip das Rechtsfundament der ,Gesellschaft'gegenüber dem Staate".

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tionsform der Gesellschaft betrachtet, daher davon ausgeht, daß es letztlich auch im Staat die Gesellschaft ist, die hier, wenngleich eben in einer besonderen Organisationsform, handelt, dem wird eine solche Abgrenzung von Staat und Gesellschaft im Zusammenhang mit dem sozialgestalterischen Handeln weniger wichtig sein. Das Unterlassen einer klaren Abgrenzung darf freilich nicht dazu führen, daß bei den Einzelnen der Eindruck erweckt wird, staatliches, und damit doch irgendwie verbindliches Handeln liege auch dort vor, wo Sozialordnung nicht mehr auferlegt werden darf, sondern nur noch angeboten werden kann.

X. Ergebnis Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daß sich der Sozialgestaltungsauftrag des Staates am Gemeinwohl bemißt. Die Feststellung, was zu diesem Gemeinwohl gehört, und welchen Umfang demnach der Sozialgestaltungsauftrag des Staates hat, ist jedoch nach keinem der weltanschaulichen Konzepte zu beurteilen, welche von den verschiedenen politischen Gruppierungen im Staat vorgelegt werden. Für den Sozialgestaltungsauftrag des Staates ist daher jedes dieser weltanschaulichen Konzepte, ob nun beispielsweise das sozialistische, das liberale oder das christliche, irrelevant. Vielmehr bestimmt sich der Sozialgestaltungsauftrag des Staates nach dem pluralistischen Gemeinwohl, welches jenes existentielle Minimum darstellt, auf welches sich vom Wesen des Staates her alle weltanschaulichen Gruppierungen einigen müssen, weshalb für diese Einigung eine unwiderlegliche Präsumtion besteht. Die Inanspruchnahme einer darüber hinausgehenden Sozialgestaltungsfunktion durch den Staat ist daher nicht legitim. Zusätzlich steht es freilich der Gesellschaft bzw. den maßgeblichen Teilen derselben durchaus offen, unter Inanspruchnahme der staatlichen Organisation, aber ohne Rückgriff auf das Mittel des staatlichen Zwanges, Sozialgestaltung im Sinne einer Selbstorganisation der Gesellschaft unter Anbieten eines bestimmten sozialen Konzeptes an alle Glieder der Gesellschaft zu betreiben. Die zwangsweise Einbeziehung von jenen Mitgliedern der Gesellschaft, welche die Teilnahme an einem solchen konkreten Sozialkonzept ablehnen, und damit dessen zwangsweise Auferlegung überschreitet hingegen die Grenzen der Legitimität und ist damit Ausdruck eines ungerechtfertigten Kollektivismus, gleichgültig, auf welche weltanschauliche Tradition sich ein solcher im einzelnen berufen mag.

AUF DEM WEG ZUM "UNSICHTBAREN STAAT" "Entöffentlichung" der Staatsgewalt? Von Walter Leisner

I. Der Staat zwischen Abstraktion und Realität 1. Der Staat: unsichtbar als geistige Wesenheit

"Staat" ist im heutigen 1 - aber auch bereits im antiken - Verständnis das Wort für den nicht- oder übermenschlichen Träger der höchsten Macht 2. Sie kann nur als eine Befehlsgewalt - als ein imperium - gedacht werden, die von ihren physischen Trägern, von den tatsächlich Macht-Ausübenden getrennt ist. Da dieser Staat stets vor allem eines war: Entmachtungsmechanismus der mächtigen physischen Personen3, konnte er nur, im anthropomorphen Denken der abendländischen Geistigkeit seit den Griechen, über diese Mächtigen treten, wenn er selbst zur Person 4 wurde, zum Herrn über andere - Subjekte des Rechts, seines Rechts. Diese Staatlichkeit ist also Zurechnungspunkt der Macht, sie ist aber noch mehr: Ein wirklicher Träger der öffentlichen Gewalt, welche sie ebenso innehat wie die natürlichen Personen ihr Eigentum (dominium)5. Hat es Sinn, diese höchste Machtpersönlichkeit als eine ,,Abstraktion"6 zu qualifizieren? Da scheint nichts zu sein, wovon Staatlichkeit "abgezogen" würde, 1 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, HdbStR, Bd. 1, Heidelberg 1987, § 13, Rdnr. 71 ff.; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 292 f.; Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 521 f. 2 Im traditionellen französisch-staats theoretischen Sinn der Souverainete en Droit interne. 3 Im Deutschen Staats-Wörterbuch (Bluntschli/Brater), 1. Aufl. 1865, IX, S.617 heißt es schon zur historischen Entwicklung: "Der Staatskörper diente vorerst dem Ganzen; indem der Staat sich vervollkommnete, wurde das Gesamtdasein vollkommener, dann erst diente er den Einzelnen. " 4 Bluntschli / Brater (Fn. 3), S. 617 f.; Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1970, S. 1075 ff.; Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925 (Neudruck Bad Homburg 1966), S. 71 ff. 5 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 821 f. 6 Hermann Heller, Staatslehre 1934,6. rev. Aufl., Tübingen 1983, S. 259 f.; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1913,7. Neudruck, Bad Homburg 1960, S. 140.

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nichts, was einer solchen Abstraktion als Halt dienen könnte, nichts auch, was ein Staat als "abstrakte Idee" ,,höher", "vollendeter" darstellen könnte. Die rein physische Macht der Regierenden wird einem anderen Träger nicht nur zugerechnet, sondern ihm geradezu übertragen. Doch sie bleibt, ihrer Natur nach, diese selbe höchste, letzte Zwangsgewalt, gleich ob sie nun von einem Tyrannen oder Monarchen, oder vom modernen Rechtsstaat ausgeht. Der Unterschied liegt nicht in dem Wesen dieser höchsten Macht, das immer dasselbe bleibt, sondern in ihrer Legitimität?, darin, daß sie von den Herrschenden nicht als eigene ausgeübt, von den Beherrschten nicht als eine vom Menschen kommende angenommen wird. Dieser Staat kann also nur gedacht werden als eine geistige Wesenheit, wobei es zunächst gleich bleibt, ob man dies im Sinne einer rein menschlichen Setzung, also einer Fiktion 8, versteht, oder ob man von einem geistigen Wesen ausgeht, das, im Sinne der höchsten Steigerung des Idealismus in der Philosophie Hegels, "an sich" über allen natürlichen Personen steht. Wie immer die Antwort ausfällt: Aus diesem seinen geistigen Wesen heraus kann der Staat, und zwar ganz wesentlich, als ein unsichtbarer vorgestellt werden. Personifiziert mag er, muß er wohl, wie gesagt, werden, als solcher mag er dann dem Sokrates begegnen, den er auch im Angesicht des Todes nicht verlassen will. Doch all dies bleiben unsichtbare Vorgänge, und so scheint denn die ganz einfache Folgerung zu sein: Der Staat ist als solcher unsichtbar, etwas anderes kann er nie sein; seine Vertreter sind Repräsentanten des Unsichtbaren, so wie die Priester einen unsichtbaren Gott entweder vor den profanen Augen verbergen oder, ganz einfach, zu vertreten vorgeben. 2. Und doch: Volle Staatssichtbarkeit, vor allem in der "Öffentlichkeit der Demokratie"

Trotz dieser seiner ihn verunsichtbarenden geistigen Wesenheit wird Staatlichkeit heute als etwas wesentlich "Sichtbares" begriffen; Sichtbarkeit ist geradezu eine Form der Ausübung von Staatsgewalt. Dies zeigt sich bereits in der Gegenwart des Staates in seinen Monumenten, Staatsgebäuden und Staatssymbolen. Staatliche "Gebäude der Macht" sind nicht nur Zentren der Gewaltausübung, von den Parlamenten bis zu Kasernen und Gefängnissen, sondern auch "staatliche ? Hier liegt wohl das eigentliche Zentrum des Legitimitätsbegriffs (earl Schmitt, Legalität und Legitimität 1932; Ermacora (Fn. 4), S. 348 f.; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl., München 1991, § 16), denn auch für die monarchische Legitimität kommt es, selbst in ihrer strengen Ausprägung bei Joseph de Maistre (Betrachtungen über Frankreich: Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen 1924) oder Karl L. von Haller (Restauration der Staatswissenschaften I, 2. Aufl., Winterthur 1820-1825) darauf an, daß die Macht dem Monarchen "von oben geliehen" ist. 8 Heller (Fn. 6), S. 259 f.; Jellinek (Fn. 6), S. 163.

Auf dem Weg zum "unsichtbaren Staat"

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Monopolbauten" wie Eisenbahn- und öffentliche Straßen-Trassen. Überall tritt hier die Verbindung der Hoheitsgewalt mit ihren sehr realen Grundlagen ins Blickfeld. Staatsarchitektur, welche hier gestaltet, hat nicht nur Symbolwert, als äußere Zeichensetzung für das, was sich hinter diesen Fassaden, aus ihnen heraus, nun abspielen wird 9• Ebenfalls evident wahrnehmbar tritt der Staat sichtbar in seinen Staatssymbolen in Erscheinung 10. Die Staatsrnacht tritt in "sichtbarer Würde" hervor, von der Festung bis zum Monument. In "sichtbarer Staatsexistenz" bedarf hier die Macht weiterer Begründung nicht mehr. Das Sichtbare wirkt gerade mit der Gewalt der Einschüchterung, einem Ersatz für Machtkräfte verbrauchende Sanktionen. Und diese Sichtbarkeit ist weit mehr als nur irgendeine Form der Fühlbarkeit der Macht, sie verstärkt sich in Evidenz, im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Überhaupt stärkt die Sichtbarkeit die Staatsrnacht. Die Sichtbarkeit des Staates wirkt nicht nur als vermuteter, befürchteter, vorweggenommener Einsatz von Hoheitsrnacht; sie schafft, nach den Erkenntnissen der neueren Staatslehre, geradezu den Träger dieser eigenartigen Höchstmacht; dies ist der Sinn der klassischen Integrationslehre Rudolf Smends 11. Gerade das "Sichtbare" ist stets auch das Integrationszentrum. Der Grundidee der Verfassung entspricht es, daß deren Integrationskraft gerade darin liegt, daß sie in besonderem Sinne "sichtbares", jedenfalls "greifbares", "tragbares" Recht beinhaltet. Der Rechtsstaat ist in besonderer Weise sichtbare Staatsgewalt, die Legalität ist etwas wie vorveröffentlichte Staatlichkeit. Ihr Bestimmtheitsgebot soll Evidenz sichern; in Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit soll sich diese Sichtbarkeit bewähren. Öffentlichkeit wird heute als Rechtsprinzip aller Staatlichkeit erkannt, insbesondere der in der Demokratie: Sie stellt den Staat in Sichtbarkeit. Die Medienrechte zwingen den Staat in die Öffentlichkeit, die Wahldemokratie steht in rechtlichem Drang in diese Publizität. Öffentliche Sichtbarkeit ist geradezu Quelle der Staatlichkeit. Staatsgeheimnisse werden immer weiter zurückgedrängt, selbst die Prozesse der Entscheidungsfindung sollen sichtbar werden. Die Parlamentsöffentlichkeit wird zum Prototyp einer Sichtbarkeit von Motiven und Umfeld aller Staatstätigkeit. Öffentlichkeit als Staatsgrundsatz bedeutet also: Sichtbarkeit im Zweifel für alles Staatliche. Wenn man also vom "Unsichtbaren Staat" spricht - muß dies nicht, von vornherein, illegale Krypto-Gewalt bedeuten, das Ende der Öffentlichkeits-Demokratie, Freiheitsgefährdung? 9 Krüger (Fn. 5), S.226; Adolf Arndt, Die Demokratie als Bauherr, Berlin 1961; Theodor Schieder, Symbole und Namen des Nationalstaates, in: Das deutsche Kaiserreich als Nationalstaat, Würzburg 1961, S. 72 ff. 10 Eckart Klein, Die Staatssymbole, in: HdbStR (Fn. 1), § 17. 11 Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 475 ff.; Richard Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, Diss. Erlangen-Nümberg 1964; Zippelius (Fn. 7), § 7 I.

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11. Grundsatz-Legitimation des "Unsichtbaren Staates" Trotz aller Anstrengungen, die Staats sichtbarkeit gerade in der ÖffentlichkeitsDemokratie noch zu steigern, häufen sich gerade in letzter Zeit Anzeichen für das Wachsen eines "Unsichtbaren Staates". Hier soll versucht werden, einige grundsätzliche Begründungsmöglichkeiten für eine solche unfaßbare Staatlichkeit aufzuzeigen. Am Anfang können dabei nicht Grundsätze oder gar Einzelnormen geltender Verfassungsordnungen stehen. In Überlegungen, welche mehr einer allgemeinen Staatslehre zuzuordnen sind, gilt es zuallererst aus dem Wesen jener Staatlichkeit heraus zu argumentieren, welche schließlich auch die gegenwärtige Demokratie geerbt und institutionell in ihren Grundlinien übernommen hat. Zwar mag diese Volksherrschaft heute nur mehr "eine Staatslehre ihres Regimes" akzeptieren, wie dies etwa in den Versuchen typisch demokratischer Staatsrechtfertigung in besonderer Weise deutlich wird 12; sie kann sich dennoch nicht vollständig absetzen von allen in "vordemokratische Perioden" hinaufreichenden Staatslegitimationen, welche zugleich solche der Macht an sich sein können, und daher vielleicht mit historischer, im demokratischen Gemeinwesen ja nicht grundsätzlich geleugneter, Notwendigkeit legitimierend auch heute noch zu wirken vermögen. Damit ist dies ein Kapitel über Legitimationsversuche unsichtbarer Staatlichkeit, es sind aber zugleich Betrachtungen über mögliche vordemokratische Legitimationen demokratischer Staatsentwicklungen. Letztlich steht dahinter auch die Problematik der historischen Begrenztheit der sich nicht selten vor- und überstaatlich gebenden Volksherrschaft: Fallen staatliche Unsichtbarkeitsschatten bis hinein in das Licht ihrer Öffentlichkeit, aus dem Wesen des Staats und seiner Macht?

1. Ent-Menschlichung der Herrschaft

Der moderne Staat versteht sich, jedenfalls in seinen "demokratischen" Formen, als Aufhebung der Herrschaft von Menschen über Menschen, als eine Übertragung der Macht auf den vergeistigten Träger Staat oder geradezu als ihre volle Spiritualisierung, in einem transpersonalen, geistigen Selbstand 13, unter diesem selben Namen. Derartige Entwicklungen laufen seit dem Beginn der näher bekannten Geschichte nahezu ununterbrochen ab, sie setzen sich in der Demokratie fort, welche geradezu als Vollenderin derartiger Evolutionen erscheint.

12 13

Kelsen (Fn. 4), S. 27 ff.; Zippelius (Fn. 7), § 17 III. Im Sinn von Othmar Spanns "Wahrem Staat", 4. Aufl., Jena 1938.

Auf dem Weg zum .,unsichtbaren Staat" a) Der Staat als Über-Mensch -

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im Unsichtbaren verankert

Was immer die ursprünglichen Bedeutungen und Funktionen der Götterbilder gewesen 14, wie sie sich entwickelt haben mögen - hier hat sich eine "Verbildlichung der Macht" als solcher vollzogen, welche nicht mehr der menschlichen Person von Herrschenden zugeschrieben wurde, diese übten sie vielmehr nur für einen anderen aus; dies mochte zunächst einmal eine neue Form der Sichtbarwerdung der Macht bedeuten. Daß darin Vorstufen einer Staats-Werdung lagen, kann nicht zweifelhaft sein, wenn man derartige Erscheinungen in ihrer Entwick1ung über die Götterbilder der Polis und der Göttin Roma 15 bis zu den Staatssymbolen verfolgt. Überall wird darin "Herrschaftsausübung für einen anderen" bezeugt, in seinem Namen jedenfalls, nicht im eigenen der Herrschenden. Noch nicht eine Ent-Persönlichung findet statt, wohl aber eine Ent-Menschlichung, sie war auch stets letzte Grundlage der theologisch begründeten Legitimation monarchischer Macht 16. Darüber hinaus fragt es sich aber, ob eine derartige Ent-Menschlichung nicht von jeher, seit eben von einer Staatlichkeit die Rede sein kann, zum Wesen von deren Legitimation gehört. Mag diese auch noch so deutlich sichtbar gemacht werden, damit die Herrschaft faßbar sei, vom Götterbild bis zur Fahne - dahinter steht doch immer die Vorstellung von einem Wesen dieser höchsten Gewalt, die nicht nur mehr, sondern vor allem etwas ganz anderes ist als das, was von irgendeinem physischen Träger und seinem Willen an Macht ausgehen könnte. Selbst dort, wo der Träger der Staatlichkeit den Gewaltunterworfenen noch als eine Persönlichkeit zum Glauben vorgestellt wird, vom Herrschergott der monotheistischen Religionen über den divinisierten früheren Machtinhaber, den auf die Altäre erhobenen römischen Kaiser oder die Heiligen, bis hin zu dem seine Stelle im Geiste der Bürger vertretenden republikanischen Monument 17 - stets ist da mehr als menschliche Macht, und selbst aus den Standbildern des Volkstribunen 18 spricht die von ihm geführte höhere Macht des ganzen Volkes, besser noch: der auf dieses noch übergreifenden überzeitlichen Nation 19. Im Transperso14 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß weder im Griechischen das Agalma, noch im Lateinischen das Simulacrum ursprünglich und primär das .,Götterbild" bezeichnet, vielmehr nur das ,,Abbild", die Vergegenständlichung von Lebewesen oder Sachen, vgl. Wilhelrn Pape, Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, Braunschweig 1914, Agalma; Karl-Ernst Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Leipzig 1918, Simulacrum. 15 Vgl. Livius, Hist., 43, 6, 5; Tacitus, Annalen 4, 37. 16 Jellinek (Fn. 6), S. 186 ff.; von Haller (Fn. 7), S. 340. 17 So ist denn auch die Idee des ,,Monumentalstaates" (siehe dazu Walter Leisner, Der Monumentalstaat - Staatlichkeit als .,Große Lösung", Berlin 1989), im Grunde gerade republikanisch, wenn nicht demokratisch begründet. 18 Mit denen die liberal-demokratische Staatlichkeit seit dem 19. Jahrhundert die westlichen Länder überzogen hat, von Dantons Monument in Paris bis in die Höhen der amerikanischen Präsidenten-Köpfe.

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nalismus schließlich als Machtlegitimation, wie er sich aus "unmittelbar vordemokratischem Denken" bis in die materiale Wertlehre 20 der Demokratie hinein fortsetzt, wird wiederum die Bedeutung des Menschen, seiner Kräfte und Werte, bis ins Über-Menschliche gesteigert. Wenn dies aber Phänomene der Machtstaatlichkeit schlechthin sind, wie sie sich im theokratischen Staat ebensowohl feststellen lassen wie in der römischen Militärstaatichkeit, im Fürstenstaat des 19. Jahrhunderts wie in den demokratischen Staatsgrundlagen vor- und überstaatlicher Werthaftigkeit - was anderes wäre denn auch die Legitimation aus einer "MenschenwÜfde"21 - so liegt eben etwas von der hegelianischen Vorstellung vom "Staat als Über-Mensch" tief im Wesen der Staatlichkeit überhaupt verankert, von einer Macht, die im wahren Wortsinne "vom Menschen abgezogen", also doch "abstrakt" geworden ist. Wenig Unterschied macht es dann, ob es ein päpstlicher Hohepriester ist oder ein aufgeklärter preußischer Monarch, beide werden tätig in der Ausübung einer entmenschlichten Macht, die daher weder ihnen noch irgendeinem anderen voll zugerechnet werden kann. Doch damit beginnt ein Rückzug aller Staatsgewalt aus der Sichtbarkeit, welche eine volle für Menschen immer nur in der Inkarnation durch eine natürliche Person sein kann. Die Staatsgewalt wird in ihrer Sichtbarkeit auf gewisse Äußerlichkeiten beschränkt, die ihre Existenz nur mehr symbolisieren, mögen auch ihre Handlungen eindeutig als die der physisch Herrschenden erscheinen. Wenn aber über diesen der Staat als Über-Mensch im hegelianischen Sinne stets zu denken ist, darf er dann überhaupt voll in die Sichtbarkeit der natürlichen Personen herabgezogen werden, muß nicht immer etwas, ja etwas Wesentliches bleiben von seinem unsichtbaren, nicht Hinter-, sondern Höher-Grund? Dieser Problematik kann man nicht mit den einfachen Kategorien der Rechtsfähigkeit einerseits, der Handlungsfähigkeit 22 andererseits entgehen, jene dem Staat, diese den für 19 Siehe dazu R. Carre de Malberg, Constribution a la Theorie generale de I'Etat, Paris 1920. 20 Günter Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, in: JR 1952, S. 259 ff.; ders., in: Theodor Maunz / Günter Dürig, GG, Art. 1 Abs. I Rdnr. 1-16; ders., Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. 11 des GG, in: AöR 81 (1956), S. 117ff. 21 Mag diese nun von der individuellen Würde des Einzelmenschen ausgehen (vgl. zur h. L. Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Franz L. Neumann / Hans Carl Nipperdey / Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, 2. Bd., Berlin 1954, S. I (3); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. ill/ 1, München 1988, S. 11 f.; vgl. zur Rspr. BVerfGE 45, S. 187 (228)), oder - eher transpersonalvon einer "Würde der Menschheit" (so der BayVerfGH in E n. F. I, S. 29 (32); 2, S. 85 (91)). 22 Die ja nach herkömmlichem Prozeßrecht immer nur eine solche der "inkamierenden" physischen (Herrscher-) Persönlichkeiten sind (Peter Hartmann, in: Adolf Baumbach / Wolfgang Lauterbach / Jan Albers / Peter Hartmann, ZPO, 51. Aufl., München 1993, § 52 Anm. 1 B; Ferdinand Kopp, VwGO, 9. Aufl., München 1992, § 62 Rdnr. 14).

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ihn herrschenden Menschen zuschreiben. Wenn der Staat seinem Wesen nach entmenschlichte Macht ist, so kann er wohl kaum "vollständig sichtbar bleiben". Wenig Sinn hat dann aber die politische Forderung - und das ist an dieser Stelle nun entscheidend - all seine Äußerungen in maximale Öffentlichkeit hineinstellen zu wollen; denn dies bedeutet ja nichts anderes, als daß diesen Herrschaftsäußerungen - gerade die wesentliche Staatsqualität und deren Legitimation wieder genommen wird, daß sie nämlich aus dem Über-Menschlichen, und damit letztlich Unsichtbaren, kommen. Die Demokratie vor allem könnte sich dann leicht dem Vorwurf eines primitiven Anthropomorphismus aussetzen, wollte sie einfach das sichtbare "Volk" mit ihrem "Staat" gleichsetzen. Wenn aber das "Volk" auch in ihr immer nur als erstes Organ des Staates gedacht werden darf 23 , so kann doch auch jene realfaßbare Öffentlichkeit, die nichts anderes bedeutet als "alle BÜTgeraugen, die sich auf alle Staatlichkeit richten sollen", den Staat nie voll sichtbar machen. Im Kern muß auch hier die über-menschliche Macht, schon um dieses ihres Wesens willen, eine unsichtbare bleiben; und daher ist es dann auch ein echtes HoheitsZeichen für sie, wenn sich dies in bedeutsamen Staatsaktivitäten bewährt, die nicht alle in Sichtbarkeit ,,hervorzutreten" brauchen, schon deshalb nicht, weil damit ihr Träger allzusehr "vermenschlicht" würde. Ist Staats sichtbarkeit also, in allem und jedem, nicht ein primitivierender Rückschritt in eine anthropomorphe Staatsanschauung, und sei es auch in kollektiver Personifizierung der Volkssouveränität, wird damit nicht eine Spiritualisierungsentwicklung von vielen Generationen rückgängig gemacht? Liegt es nicht in dieser Entwicklung, ganz allgemein, daß sich die souveräne Macht des Staates immer weiter zurückzieht aus "Äußerlichkeiten", "Inkarnationen", aus allem "Menschlichen - Allzumenschlichen", damit aber eben auch aus vielen Formen einer Staats-Sichtbarkeit? Nun mag man dagegen einwenden, gerade deshalb gelte es, diesen "im Kern unsichtbaren Staat" immer wieder, und heute besonders, faßbar zu machen in der Öffentlichkeit seiner Machtäußerungen, damit diese nicht dem Bürger gefährlich werden könnten und seiner Freiheit. Doch wer so Staatssichtbarkeit begründen will, muß wissen, daß er damit nicht mehr aus "dem Wesen des modernen Staates" argumentiert, sondern - dagegen, zu seiner machtmäßigen Begrenzung. Mit derselben Problematik ist dies belastet, wie der bekannte Versuch, "den Staat auf Freiheit zu gründen" - mit der Bremse als Motor zu fahren (Herbert Krüger). Wenn einmal das Wesen der Staatlichkeit als in die Unsichtbarkeit hineinreichend erkannt wird, so fällt es weit schwerer, seine Machtäußerungen doch 23 Nämlich das Volk als Kompetenz-Träger, vor allem als Wahl-Volk, wie es ja letztlich auch Art. 20 GG zugrunde liegt ("Alle Macht geht vom Volke aus"), Theodor Maunz / Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 28. Aufl., München 1991, § 10 III 1; Stern (Fn. 21), Bd. 11, 1980, S. 11 ff.

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wieder ins Licht einer Öffentlichkeit zu heben, die dann ihrerseits stets unter dem Begründungszwang steht, sie wolle ja nur Freiheitsgefährdung vermeiden. Ist der Staat schon in seiner Über-Menschlichkeit wesentlich im Unsichtbaren verankert, so wird die demokratische Staatsform für ihre Öffentlichkeitsforderung beweispflichtig, sie kann diese dann nicht mehr aus dem Staatsbegriff selbst heraus legitimieren. Und der "unsichtbare Rest der Staatlichkeit" könnte dann, mit der Dynamik seiner wesentlichen Über-Menschlichkeit, bald größer werden, entscheidend. Wer sich also auf Ent-Menschlichung der Staatsgewalt, auf den Staat als "abstrakte Macht" beruft, in welchem Zusammenhang immer 24, der ist dabei, die demokratische Beweislast der grundsätzlichen Staats-Öffentlichkeit umzukehren, diese "beweispflichtig" zu machen, aus der Freiheitssicherung heraus. Diese aber kann, die Grundrechte zeigen es, immer nur in Grenzen, oft nur punktuell wirken. Alles andere am Staat dürfte dann "unsichtbar bleiben", vielleicht sogar die Macht in ihren eigentlichen Zentren, und manchen Demokraten mag die Sorge beschleichen, das Licht seiner Öffentlichkeit könne nie in diese Mittelpunkte einer Macht hineinreichen, deren abstraktes, nicht-menschliches Wesen doch gerade als so große Errungenschaft der Volkssouveränität erscheint. Grundsätzlich gilt also: Der Weg zur ent-menschlichten Staatlichkeit ist eine Straße zum "Unsichtbaren Staat". b) Die Demokratie zwischen "abstrakter Staatsgewalt" und "Gewaltaneignung durch Öffentlichkeit" Auf solchen allgemein-historischen Grundlagen läßt sich nun sogar etwas wie eine demokratische Theorie des Unsichtbaren Staates als Träger über-menschlicher Gewalt entwickeln. Abstrakt ist diese, "abgezogen" von der Person der physisch Herrschenden in jenen Gesetzen, deren Geltung an die Stelle der Gewalt von Mensch über Mensch tritt. Unter ihnen erst stehen die Gewaltträger, so wie es die Devise der Frühzeit der Französischen Revolution ausdrückt: La Loi et le Roi 25. Abstrakt bleibt das Wesen des Souveränitätsträgers auch in der revolutionären Folgephase der jakobinischen Volkssouveränität. An dieses Volk wird nicht primär die Frage nach seiner Sichtbarkeit oder Nicht-Wahrnehmbarkeit gestellt, "irgendwie abstrakt" steht es über den realen Gewaltunterworfenen, den BÜfgem 26 , noch deutlicher gilt dies für die Nation der "Souverainete nationale", den Träger der französischen republikanischen und revolutionären Tradition 27 • 24 Etwa im Zusammenhang mit dem "Machtmonopol", der unwiderstehlichen Macht des demokratischen ,,Allgemeinen Willens" oder dem Reeht des Staates, seine eigenen Aufgaben (weitestgehend) zu defInieren, Hans Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1977, S. 213 ff.; Günter Hesse, Staatsaufgaben. Zur Theorie der Legitimation und Identifikation staatlicher Aufgaben, 1. Aufl., BadenBaden 1979. 25 Die vor allem über den normativen Akten der früheren Revolutionszeit steht, vgl. den Recueil des Lois et Decrets (,,Reeueil Seguin"), Paris 1789 ff.

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Im Mittelpunkt heutiger Demokratie steht ebenfalls ein Abstractum als Träger der Macht: Der Gleichheitsbürger als eine "abstrakte Figur", mit Konturen, welche von der Unauswechselbarkeit des Einzelmenschen gewissermaßen "abgezogen" sind, obwohl diese doch sonst in der Grundrechtstheorie stets besonders betont wird 28 • Gerade im Interesse dieses Gleichheitsbürgers, eines Gewaltunterworfenen mit all den Zügen, die sich auch in allen anderen, "Seinesgleichen", wiederfinden, zum Schutz dieser eben doch abstrakten Bezugsperson aller demokratischen Staatlichkeit, wird jene Öffentlichkeit hergestellt, in welcher der Staat sichtbar werden soll. Heißt dies aber nicht, daß es der Demokratie nicht so sehr um ,,reale Faßbarkeit" der Herrschaftsträger und ihrer Handlungen geht, daß diese vielmehr immer nur in einer Abstraktion auftreten sollen - in einer Weise eben, die so vieles und geradezu Entscheidendes im Bereich einer Staatsunsichtbarkeit beläßt, die sich eben hinter solchen ,,Abstraktionen" verbergen kann? Konkret: "Sichtbar" wäre dann nur der Gleichheitsstaat zu machen in der Demokratie, wesentlich "unsichtbar", im Sinne des Nicht-Öffentlichen, dürften die Gewaltäußerungenjener Einzelentscheidung bleiben, in denen aber doch so häufig das eigentliche Wesen der zugreifenden Gewalt erst gefunden werden kann; und der gleichheitsbewahrenden Gesetzespublizität steht ja in der Tat das wesentliche Administrativgeheirnnis gegenüber. Der demokratische Staat wird also der Forderung nach "totaler Sichtbarkeit aller Staatlichkeit in Öffentlichkeit" den Grundsatz einer (nur) "abstrakten Öffentlichkeit" entgegensetzen, einer "Gleichheits-Sichtbarkeit", die sich auf das beschränkt, was die Gewaltunterworfenen egalisiert, im wesentlichen auf die Gesetzespublizität. Allenfalls der in Gleichheit sichtbare Staat kann also Dogma der Demokratie sein - gerade darin bleibt diese weithin bei jener "StaatsAbstraktion" stehen, auf die sich letztlich eine Theorie des "Unsichtbaren Staates", wie dargelegt, gründen läßt. Wenn der geschützte Bürger, nur als Abstraktion sichtbar zu machen ist, kann dann nicht die auf ihn zugreifende Staatsgewalt im Einzelfall auch vieles verbergen? Gerade der demokratische Staat setzt schließlich konsequent fort, was alle Staatlichkeit vor ihm auch schon mit dem Begriff "Staat" verbunden hat: Gebrochen werden soll die Aneignung der Macht durch deren physische Träger, sie muß daher stets als eine irgendwie abstrakte, über ihnen stehende gedacht werden. Einer radikalen "Sichtbarkeits-Theorie" könnte nun aber der Vorwurf gemacht werden, gerade sie begünstige eine derart weitgehende"Verkörperung" der Macht durch die ausübenden Organe, daß dies praktisch nur in einer Machtaneignung wieder enden könne, in welche diese physisch Herrschenden durch die ständig 26 Dazu näher Walter Leisner, Volk und Nation als Rechtsbegriffe der französischen Revolution, in: Festschr. für Hans Liermann, Erlangen 1964, S. 97 ff. 27 Vgl. Fn. 19, insbes. S. 101 ff. 28 Vor allem im Zentralbereich der Menschenwürde, der Persönlichkeitsentfaltung und ihrer Ausstrahlungen, vgl. die in Fnen. 20 und 21 Zitierten.

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intensivierte Öffentlichkeitsforderung geradezu gedrängt würden: Praktisch läßt sich dies unschwer verdeutlichen: Wird der Staats- oder Regierungschef, eben um der gesteigerten Machtfülle seiner Funktion wegen, in eine "volle Publizität" gestellt 29 , so begünstigt dies bei dem Medienbetrachter notwendig eine immer vollere Identifikation von realer Person und abstrakter Macht, diese letztere tritt wirklich nur mehr in ihrer Innehabung in Erscheinung, "in der Person" eben des Staatsorgans. Dann aber bringt doch Sichtbarkeit das Gegenteil dessen, was sie demokratisch legitimieren sollte: nicht klar defmierte Kontrollierbarkeit, Machtminimierung durch die vielen auf den Staat gerichteten Augen, sondern Machtverstärkung durch einen Zusammenfall von "abstrakter" über-menschlicher Staatsgewalt und konkretem Herrschaftswillen einer physischen Person. Anders gewendet: Steht die Demokratie nicht in einer "VermenschlichungsGefahr" ihrer Staatsgewalt, durch die Wirkungen ihrer übersteigerten Öffentlichkeit, lenkt sie damit nicht sogar zu den Anfangen organisierter Staatlichkeit zurück, in die doch nun wirklich wesentlich "vordemokratischen" Praktiken einer Persönlichen Gewalt 30? Kann diese nun nicht nur dadurch wieder zurückgedrängt werden, daß der übermenschlich-abstrakte Charakter der Staatsträger und all ihre Wirksamkeit in einer wenigstens im Kern noch gewahrten Unsichtbarkeit erhalten bleibt, welche vielleicht allein die offene Machtaneignung durch Einzelne verhindert? Muß also nicht gerade die Demokratie ihre Macht "in den Unsichtbaren Staat hinein" entwickeln, in Sicherheit bringen?

2. Staat - der stets wesentlich "unsichtbare Gott auf Erden" Die historische Entwicklung der Staatsidee läßt sich nicht nur über eine laufende Entfaltung und Steigerung von deren Abstraktion als ein Weg zum "Unsichtbaren Staat" deuten, diese letztere kann nicht nur darin eine grundsätzliche auch und gerade demokratische Begründung finden. Noch klarer folgt eine solche aus der Betrachtung einer weiteren Stufe in der Entwicklung des Begriffs öffentlicher Gewalt, die vielleicht gar als solche "wesentlich unsichtbar" gedacht wird. Die abstrahierende Trennung der absoluten Gemeinschaftsgewalt von denjenigen, welche sie ausüben wollen, ist ja nur ein erster Schritt in Richtung auf eine Vergeistigung, die allerdings auch bereits als solche, wie eben dargelegt, Zentren der Macht und ihrer Legitimation in die Unsichtbarkeit verlegt. Diese letztere wird, darüber hinaus, als solche zum legitimierenden Wesen der Staatlichkeit immer dort, wo die sie tragende, jedenfalls im Kern rechtfertigende göttliche Gewalt als eine wesentlich unsichtbare verehrt wird. Diese Entwicklung von der Abstraktion zur Unsichtbarkeit vollzieht sich historisch wohl auf verschlungenen 29 Wie dies gerade hier mit dem sog. "Kanzlerprinzip" sogar einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung entspricht, Roman Herzog, in: Maunz / Dürig (Fn. 20), Art. 62 GG Rdnr. 10; Stern (Fn. 21), Bd. n, 1980, S. 301 ff. 30 Zu deren wesentlich "vordemokratischen" Wurzeln Walter Leisner, Der FührerPersönliche Gewalt: Staatsrettung oder Staatsdämmerung? Berlin 1983.

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Einzelwegen, jedenfalls aber in dem Augenblick entschieden und im Großen, wo der wesentlich unsichtbare Herrschergott der Christen die Civitas Dei konstituiert und lenkt. Hier kann die Frage nur gestellt, allenfalls im Ansatz beantwortet werden, ob sich damit nicht eine entscheidende Spiritualisierung des gesamten Staatsbegriffs vollzogen hat: von Staatlichkeitsvorstellungen, die zwar der Abstraktion platonischer Ideenvorstellungen verpflichtet sein mochten, sich aber bis in die CäsarenDivinisierungen hinein auf potente Sichtbarkeit stützten - nunmehr hin zu einer in all ihren zentralen Kräften wesentlich unsichtbaren Staatlichkeit. Daß das christlich geprägte Mittelalter eine solche Unsichtbarkeits-Spiritualisierung des Staates so weit gesteigert hat, daß dieser geradezu verdämmerte, über den realen, brutalen Phänomenen der tatsächlichen Macht, daß hier eines der Zentralproblerne des mittelalterlichen Denkens über Staat und Reich zu suchen ist, belegt gerade Dantes Staatsdichtung, in welcher erst im unsichtbaren Jenseits die Ordnung der Macht wahrhaft gelingt. Das protestantische Staatsdenken trägt solche Traditionen erkennbar weiter, in einem oft bis ins Ikonoklastische gesteigerten Abbau von Staats-Äußerlichkeiten, die einhergehen mit einer um so entschiedeneren Spiritualisierung und Rationalisierung nicht nur der Staatsträgerschaft, sondern aller Erscheinungsformen des Staatshandelns 31 • Damit kommt es zunächst schon zu einer Entformalisierung vieler Staatstätigkeiten, welche diese aus früherer "Sichtbarkeit" drängen. Historische Forschung könnte auf diesen Wegen vielleicht die modeme Staatsentwicklung bis in ihre aufklärerischen Grundrechts-Spiritualisierungen hinein 32, erweisen, als eine Abkehr von äußerlicher Staats-Sichtbarkeit. Die bisherigen Betrachtungen legen bereits nahe, daß dies nicht ohne Auswirkungen bleiben konnte auf alle Formen der Wahmehmbarkeit von Staatsphänomenen: Verdämmern diese an einer Stelle, werden sie nicht sogleich durch Ersatz-Sichtbarkeiten kompensiert, und seien es solche der "Ablenkung", so wird die Staatlichkeit auch in anderen Bereichen in eine dann als selbstverständliche Normalität empfundene Unsichtbarkeit zurückfallen. Deutlich zeigt sich dies in der Entformalisierung der Verwaltungsverfahren, im Abbau äußerer Formen der Ausübung von Staatsgewalt, welche dem Kampf gegen staatliche ,,Äußerlichkeiten" zum Opfer fallen. Der wesentlich unsichtbare Gewaltinhaber kann auch in den Äußerungen seiner Macht entformalisiert werden, bis sich dann im neueren Verwaltungsrecht das Prinzip der Formfreiheit 33 ebenso durchsetzt wie im Zivilrecht, weil eben auch dort die staatliche 31 So entsteht in Preußen das Beamtenturn als Träger der Staatstätigkeit als ein Dienst an diesem abstrakt-unsichtbaren Gemeinwesen, im Wohlfahrtsstaat, der "ganz großen protestantischen Gemeinde", vgl. Otto Hintze, Der Beamtenstand, Dresden 1911. 32 Die ihrerseits wieder im engen Zusanunenhang stehen mit der eben erwähnten protestantischen Macht-Spiritualisierung, vgl. dazu Georg lellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 2. Aufl., Leipzig 1904. 33 FerdinandKopp, VwVfG, 5. Aufl., München 1991, Vorbern. § 1 Rdnr. 27 ff.; Klaus Obermayer, Komm. z. VwVfG, 2. Aufl., Neuwied 1990, § 10 Rdnr. 2 ff.

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Legitimation nicht mehr aus der besonderen Autorität von Siegeln und Urkunden, von Formeln und Titeln sich ergibt. Doch darin erschöpft sich die Vergeistigungs-, damit aber Verunsichtbarungswirkung der hier betrachteten Entwicklung nicht. Die absolute, potentiell grenzenlose Macht, fortgedacht im "Gewaltmonopol" , der virtuell jedenfalls unbegrenzte Reichtum des Staates, und sei es auch nur über ein heute praktisch schrankenloses Steuererhebungs- und Steuererfindungsrecht 34 - all dies läßt sich doch nur legitimieren aus geistigen Anleihen bei jener unsichtbaren, absoluten Macht des Herrschergottes, den gerade der modeme Staat auf Erden ersetzt - oder vertritt. Muß er dann nicht in seinem Kern so werden wie jener, unsichtbar "also auch auf Erden", wie der göttliche Wille, der in Seinem Reich auch zu uns kommen soll? Die grundrechtlichen Schranken seiner Allmacht schließen dies nicht grundsätzlich aus, lassen sie sich doch ebenso auf jene wesentlich unsichtbare Macht zurückführen 35 , liegt doch ihr Zentrum in einer unsichtbar-spiritualisierten Freiheit, welche ihrerseits wieder als Staatsgrundlage erscheint. Solchen Überlegungen kann entgegengehalten werden, sie verwechselten Spiritualisierung und Unsichtbarkeit des Staates, wobei doch erstere faßbare Machtträgerschaft und deren Handlungsphänomene keineswegs ausschließe. Auch als säkularisierter Gott auf Erden könne der Staat in einer politischen Öffentlichkeit sichtbar werden, wie er dies auch in seiner Kirche stets gewesen sei. Doch gerade an dieser Stelle zeigt sich eben das eigenartige Wesen einer in ihrem Zentrum unsichtbaren Gewalt: Liegt der eigentliche Mittelpunkt der Legitimation des Staates außerhalb der Sichtbarkeit eben dieses Staates, so bedarf er weder deren Halt, noch kann, darf er vollständig in ihr von der Öffentlichkeit kontrolliert werden. Rechtlich zu ordnen sind dann zwar seine "äußeren Seiten", hinter ihnen liegt aber, und tritt immer wieder hervor "das eigentlich Göttliche" - "eigentlich Staatliche", das in kein menschliches, normatives oder politisches Gefäß zu fassen, dort voll zu erkennen ist. Der Staat als "Gott auf Erden" wird zwar immer wieder sichtbar hervortreten, seine Propheten schicken, vielleicht einen Messias, doch seine eigentliche Macht bleibt im Unsichtbaren; keine Staatsform darf sie dann voll ins Licht der Öffentlichkeit führen, solche Staatssichtbarkeit wäre nichts als ein Rückfall in einen geradezu heidnischen Anthropomorphismus 36.

34 Klaus Tipke / Joachim Lang, Steuerrecht, 13. Aufl., Köln 1991, S. 72 ff.; Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: HdbStR (Fn. 1), Bd. I, 1987, § 27.

35 So versucht es jedenfalls die Imago-Dei-Lehre des christlichen Naturrechts (vgl. dazu Johannes Messner, Das Naturrecht, 5. Aufl., Innsbruck, Wien, München 1966). 36 In diesem Sinne ist den Ausdrucksforrnen moderner Faschismen bis hin zum Stalinismus - ein Zug zum Paganismus im Führertum ihrer Persönlichen Gewalt durchaus eigen, damit aber eine grundSätzliche Spannung zu christlichen Kirchen- und Staatsvorstellungen, mehr aber noch zum jüdischen, völlig unsichtbaren, Monotheismus.

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Hier geht es nicht um die Frage, ob solche Ableitungen historisch zwingend sind, ob sie durch staatsphilosophische Gegenkonstruktionen widerlegt werden könnten; unzweifelhaft ist die Wirkkraft religiöser Analogien bis in die heutige Staatsbegründung hinein, in diesem Sinne gehört die theologische Staatsrechtfertigung noch längst nicht der Vergangenheit an 37. Das ius publicum war als ein solches der Kirche lange vor dem römischen Staatsrecht ein wirkmächtiger Vorläufer moderner Staatlichkeit 38, als eine stets nur teilweise, ja punktuelle Ordnung gewisser äußerer Erscheinungen einer in ihrem Wesen letztlich im Unsichtbaren verharrenden Macht, einer Gewalt, die sich aus diesem ihrem Wesen heraus gerade legitimiert und stets auch zu neuer Rand-Sichtbarkeit auflädt. Solche staats theologischen Hintergründe können gerade dann nicht ignoriert werden, wenn selbst die Kirchen, als Träger eigenartiger öffentlicher Gewalt 39, in eine Öffentlichkeit hineindrängen 4O, ohne daß dies aber den Verlust ihrer sie letztlich, legitimierenden Unsichtbarkeit bedeuten müßte. Könnte nicht auch die Demokratie, in Analogie zu solchen Entwicklungen, in ihrer Öffentlichkeitssuche verstanden werden lediglich als eine "Vertreterin unsichtbarer Staatlichkeit", deren letzte Macht gerade deshalb stets im Dunkel bleiben muß? Wenn ein "Unsichtbarer Staat" aus solchen Gedanken auch nur unklar-irrationale Sympathien gewinnen mag, so können diese ihn doch aus den Zwängen einer totalen Ver-Öffentlichung aller seiner Machterscheinungen befreien. Wo aber sind überzeugende Grenzen? Wird dann nicht doch Unsichtbarkeit zum Grundprinzip der Staatlichkeit? Am Ende dieser Betrachtungen mag die These stehen: Die Idee einer unsichtbaren Göttlichkeit kann, jenseits aller faßbaren Erscheinungen, zur Machtlegitimation und zum politischen Kraftquell des Staates werden, gerade in ihrer Unbestimmtheit; und hier ging es nur darum, gewisse ferne Koordinaten aufzuzeigen, welche heutige Staatsorganisation aber oft bis in deren Einzelheiten orientieren.

3. "Herrschaft als Hilfe" - Gegenwärtigkeit unsichtbarer Macht Politische Mächtigkeit wurde, in der Entwicklung des Staates, zunächst durch Abstraktion von ihren politischen Trägern entpersönlichend getrennt, sodann, in ihrem Zentrum, in die Unsichtbarkeit eines gottähnlichen Gewaltträgers hineinverlegt - auf beiden Stufen in deutlichen Legitimationsansätzen für eine weitreichende unsichtbare Staatlichkeit. Eine gerade in der Demokratie sich heute voll37 Und sei es auch nur in Ausstrahlungen der "Analogia entis" iSv. Erlch Przywara, (Analogia entis, München 1932). 38 Zum letzteren noch immer grundlegend: Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. unveränd. Aufl., München, Berlin 1966. 39 BVerfGE 18, S. 385 (387 f.). 40 Axel Freiherr von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl., München 1983, S. 71; Klaus Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. TI, Berlin 1975, S. 231 ff.

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ziehende weitere Metamorphose des Begriffes der Staatsgewalt gilt es noch zu betrachten, in ihrer möglichen Bedeutung für eine theoretische Grundlegung des "Unsichtbaren Staates"; und dies leitet bereits über zu dem Problemkreis "Unsichtbarkeit - Abbau von Staatsgewalt", der hier allerdings nicht vertieft werden kann. Um diese Staatsrnutation geht es nun: Macht soll heute in erster Linie verstanden werden als Zuständigkeit und Möglichkeit einer Hilfe für die Glieder der Gemeinschaft, vor allem die Schwächeren unter ihnen. Derartige Konzeptionen beschränken sich nicht auf Umverteilungsideologien, sie haben im Dienstleistungs-, im sozialen Staat 41 ein ständig sich erweiterndes Anwendungsfeld gefunden; dort findet eine Transformation eben der Hoheitsgewalt in etwas statt, das man als "Hoheitshilfe", als Staats-Dienst in einem ganz neuen Sinn bezeichnen könnte. Es muß hier schon deshalb auch grundsätzlich betrachtet werden, weil sich bei den Phänomenen der Unsichtbar-Werdung der Staatlichkeit vor allem solche einer neuen Service-Gemeinschaft finden werden. Dann aber fragt es sich, ob dies nicht in einer tieferen, grundsätzlichen Mutation grundgelegt ist, auf einer gerade jetzt bewußt erreichten Stufe der Entwicklung des Staats-Begriffes. In den täglichen politischen Auseinandersetzungen der Demokratie läßt sich, um dies in politischen Selbstverständlichkeiten auszudrücken, schon längst nicht mehr allein in Kategorien von Macht und Gewalt argumentieren, all dies wandelt sich in Begrifflichkeiten einer "Gewalt als Hilfe"; dann aber stellt sich doch die Frage, ob ein "Unsichtbarer Staat" nicht ganz allgemein daraus sich legitimieren könnte, bei dem es dann aber vor allem auf diesen Service ankommt, während hier Öffentlichkeit und Wahrnehmbarkeit aber weit weniger bedeutsam ist als Effizienz. Wenn schließlich Staatsgewalt legitim nur mehr ist als Staatshilfe, so stellt sich in besonderem Maße die Effizienzproblematik einer neuartigen Fragestellung: Ein demokratisches Gütesiegel trägt dann alle Staatsveranstaltung insoweit, als sie in dieser ihrer Hilfe wirksam ist - während Gewalt-Effizienz in einem Rechtsstaat letztlich nicht ein Ziel an sich sein kann 42 sie würde ja im "totalen Staat" enden. Geht es aber zuallererst um Steigerung dieser Wirksamkeit des Staates, so könnte die gesamte demokratische Sichtbarkeitslegitimation, die der öffentlichen Kontrollen, hinter der doch immer in erster Linie die Begrenzung der eingreifenden Staatsrnacht steht, überhaupt zurücktreten, als solche vielleicht gar überholt sein. Ob und inwieweit der Staat als solcher "sichtbar" sein soll, ist dann nicht mehr entscheidend; wesentlich ist nur mehr, wie effizient er hilft - offen oder auch "im Stillen". Dies letztere aber kann wirksamer sein als Fassaden und spektakuläre Existenzbeweise der helfenden Instanz; private, oft geradezu anony41 Herzog (Fn. 29), Art. 20 GG Anm. vm Rdnr. 36 ff.; Christian Tomusehat, Güterverteilung als rechtliches Problem, in: Der Staat 12 (1973), S. 433 ff. 42 Vgl. Walter Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen 1971.

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me Hilfsveranstaltungen zeigen es; ihr "unbürokratisches" - d. h. aber meist: "nicht spektakuläres" - unsichtbares Wirken wird dem Staat geradezu als Modell vorgehalten. Kurz gesagt: "Staatlichkeit als effizienter, allgegenwärtiger Dienst" ist etwas ganz anderes als sichtbare - eindrucksvolle "Macht". Zwar bedarf auch dieser helfende Sozialstaat zur Wahrung der Gleichheit öffentlicher Kontrollen. Doch er wird nie jene Sichtbarkeit anstreben, in der der Eingriffsstaat einschüchternd seine Existenz beweisen muß und sogar seine Zwangsanstrengungen minimieren kann. Deshalb muß sich auch der ServiceStaat in den Formen seiner Tätigkeit nicht wesentlich von privaten Veranstaltungen unterscheiden, für die "Sichtbarkeit" nie eigentlich zum Problem geworden ist. In Verbindung bringen läßt sich übrigens auch diese Entwicklungsstufe der Staatlichkeit mit den theologischen Parallelen zur transzendenten Macht, welche bereits gezogen wurden, vom Götterbild bis zum unsichtbaren Herrschergott. Auch bei diesem letzteren bleibt ja die Betrachtung religiöser Mächte nicht stehen, seit langem vielmehr, heute aber in besonderem Maße, rückt sie den gerade in seiner unsichtbaren Allmacht Helfenden, den Gütigen, eben den Gott in den Mittelpunkt. Daß auch hier wieder allgemeinere geistige Strömungen in dieselbe Richtung tragen, im kirchlichen Bereich etwa vom Recht der ordnenden und strafenden Institutionen zur Lex charitatis 43, bedarf in einer Zeit keiner näheren Belege, in welcher auch die kirchliche Karitas als Gottesdienst, als geradezu liturgische Sichtbarmachung christlicher Nächstenliebe vom Staatsrecht der Demokratie anerkannt ist 44 • Wenn der Bürger in Namen des "Unsichtbaren" dem Nächsten seine Hilfe gewährt, wenn der eigentliche Träger allerhöchster Gewalt gerade darin auf Erden überzeugend sichtbar wird, dürfte dann nicht auch sein säkularisiertes Abbild, die Staatlichkeit, in jener Unsichtbarkeit, Anonymität verharren, die als solche nie gefährlich werden kann, solange sie es gerade ist, welche Staats-Karitas erst effizient ermöglicht? Dann müßte sich die Frage anschließen, ob es nicht gerade gewisse Unsichtbarkeiten des Staatlichen sind, welche solche Staats-Karitas in besonderer Weise ermöglichen. Genügt es nicht, wenn der Staat nur in seiner individuellen Hilfe sichtbar wird, nicht vor den Augen aller, die ihn, in übersteigerten öffentlichen Kontrollen, eher hemmen? Dies waren nur einige Grundsatzfragen, welche das Phänomen des "Unsichtbaren Staates" aufwirft. Daß es aber eine solche Entwicklung gibt, vorbei an allem "Öffentlichen", das heute so stark konsensgetragen erscheint - das sollte hier im Grundsätzlichen aufgezeigt werden. Hat vielleicht der "Umschlag ins Gegenteil" schon begonnen - von der Öffentlichkeitsdemokratie in den Unsichtbaren Staat, in ganz neuer Gefährdung der Freiheit? 43

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Klassisch beschrieben von Johannes Heckel, Lex charitatis, München 1953. BVerfGE 53, S. 366 (392 f.); 70, S. 138 (163).

KIRCHE -

SÄKULARISIERUNG -

POLITIK

Von Anton Rauscher In der wissenschaftlichen Literatur ist die Frage wenig beachtet worden, die Josef Isensee bereits 1986 aufgeworfen hat. Damals stellte er die These auf, daß die Säkularisierung der Kirche die Säkularität des Staates gefahrde. 1 Der modeme Staat, der das Gemeinwohl für eine religiös und weltanschaulich pluralistische Gesellschaft zu gewährleisten hat, ist nicht mehr wie im Mittelalter ein Glaubensstaat, er kann auch nicht mehr der weltliche Arm und der Schutzherr der Kirche sein - eine Vorstellung, die durch die Reformation keineswegs abgebaut, sondern eher noch verstärkt worden war. Der säkulare Staat steht im Dienste aller Bürger, unabhängig davon, zu welchen religiösen Überzeugungen sie sich bekennen und ob sie einer Kirche oder einer Glaubensgemeinschaft angehören oder nicht. Der Staat ist nicht mehr eingebunden in die Heilswirklichkeit, die die Schöpfungs- und Erlösungsordnung umgreift. Er ist zum säkularen Staat geworden, der für das diesseitige Wohl der Menschen verantwortlich ist.

I. Auch der säkulare Staat ist wertgebunden Der modeme Staat ist weltanschaulich neutral; das heißt aber nicht, daß er wertneutral ist oder sein könnte. In der politischen Diskussion taucht immer wieder die Neigung auf, die weltanschauliche Neutralität des Staates in eine Wertneutralität umzudeuten, so als ob der Staat, insbesondere der demokratisch verfaßte Staat, nur die religiösen Überzeugungen und die sittlichen Wertvorstellungen seiner Bürger zu registrieren, zu achten und zu schützen, aber nicht selbst für bestimmte Werte einzutreten hätte. Sicherlich gehört es zu den vorrangigen Aufgaben des Staates, die Rechte und Pflichten der Bürger zu schützen. Diese Rechte umfassen sowohl die Grundrechte oder Menschenrechte, die jedem Menschen zustehen, als auch die Bürgerrechte, die den Bürgern, weil sie zur staatlichen Gemeinschaft gehören, zukommen. Zu den Grundrechten, die der Staat zu schützen hat, gehört auch das Recht auf Religionsfreiheit, das nicht auf die negative Religionsfreiheit verkürzt werden darf. Es beinhaltet, eine religiöse Überzeugung haben, sie öffentlich bekennen, einer Religionsgemeinschaft angehören, der eige1 Isensee, Josef: Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Hunold, Gerfried W. / Korff, Wilhelrn (Hrsg.): Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, München 1986, S. 164-178.

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nen Überzeugung gemäß leben und die gesellschaftlichen Lebensbereiche so mitgestalten zu können, wie es dieser Überzeugung entspricht. Um dieses Recht auf Religionsfreiheit für alle Bürger zu schützen, darf der Staat nicht Glaubensstaat sein. Er muß weltanschaulich ,,neutral" und in diesem Sinne "säkular" sein. Der säkulare Staat ist aber nicht gleichbedeutend mit einem wertneutralen Staat. Schon um die Grundrechte der Bürger schützen zu können, muß der säkulare Staat einen Bezug zu den Grundwerten haben, die den Grundrechten inhaltlich zugrunde liegen. Nur wenn die Religionsfreiheit in ihrem positiven Inhalt gesehen wird, können die staatlichen Organe den Vorstößen, sie auf die negative Religionsfreiheit einzuschränken, entgegentreten. Ähnliche Probleme entstehen nicht nur dann, wenn Grundrechte anders oder neu "interpretiert" werden, sondern wenn sie nicht mehr allgemein gelten und für bestimmte Gruppen außer Kraft gesetzt werden. Dies ist der Fall, wenn das Grundrecht auf Leben für ungeborene Kinder nicht mehr unter dem vollen staatlichen Schutz steht, wobei die Willkür einer solchen Einschränkung besonders krass durch die dabei zu beachtende Frist deutlich wird. Der Staat ist deshalb nicht berechtigt, über das Leben eines Menschen zu verfügen, seinen Beginn oder sein Ende festzulegen, weil er nicht der Schöpfer des Lebens ist und die Bürger nicht ihm das Lebensrecht verdanken. Der Staat findet das Leben wie auch alle übrigen Grundwerte vor. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Grundrechte in vielen modernen Verfassungen als "unantastbar" gelten. Die Grundrechte sind nicht vom Staat verliehen. Die Grundrechte und damit die Grundwerte sind Staat und Gesellschaft vorgegeben. Die Wertgebundenheit des säkularen Staates wird besonders deutlich, wenn man über die "Würde" des Menschen reflektiert. Leider wird heute oft genug von der Menschenwürde gesprochen, ohne daß das, was damit gemeint ist, bedacht wird. Würde weist nämlich auf etwas hin, was nicht mehr innerweltlichdiesseitig faßbar ist. Würde hat nur Sinn, wenn damit auch der Bezug zu ihrem transzendenten Grund mitgesehen wird. Daß einem Menschen "Würde" zukommt und er deshalb auch "unantastbare" Rechte besitzt, dies kann nicht innerweltlich begründet werden. Alle. Kulturen, in denen der Mensch eine Sonderstellung einnimmt, bringen ihn in einen Zusammenhang mit dem Numinosen, mit der Transzendenz, mit Gott. Erst recht gilt dies für das Christentum. Im Schöpfungsbericht des Alten Testaments heißt es, daß Gott den Menschen als sein Abbild geschaffen hat (Gen 1, 27). Die Würde des Menschen ist nach christlicher Auffassung in dieser Ebenbildlichkeit begründet. Wenn ein Staat, wenn eine Verfassung sich zur Würde des Menschen bekennt, dann sind diese Zusammenhänge mit im Spiel, so wie auch der Begriff "säkular" seine volle Aussagekraft erst erhält, wenn komplementär auch die Transzendenz berücksichtigt wird. Weder der frühere Glaubensstaat noch der säkulare Staat von heute ist der Urheber der Würde des Menschen und seiner unantastbaren Rechte. Der Staat findet sie vor, so wie auch das sozio-kulturelle Leben nicht vom Staat ausgeht

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und getragen wird, sondern von den Menschen. Die Würde und die Grundrechte des Menschen sind aber dem Staat nicht nur vorgegeben, damit er sie schützt und sichert, sie bilden die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens und insbesondere des Staates. Diesem Zusammenhang tragen viele modeme Verfassungen Rechnung, wenn sie auf die Würde des Menschen und seine Rechte rekurrieren. Hier sei an das Wort Ernst-Wolfgang Böckenfördes erinnert, daß der Staat von Voraussetzungen lebe, die er nicht von sich aus garantieren kann. 2 Damit kommt die Religionsfreiheit beziehungsweise die Kirche ins Spiel. Auch sie hat die Würde des Menschen und die Werte, die den Menschenrechten zugrunde liegen, nicht geschaffen. Im Unterschied zum Staat jedoch, vor allem zum säkularen Staat, hat die Kirche, haben die christlichen Kirchen, ein ursprüngliches Verhältnis zu diesen Werten, weil ihnen die geoffenbarten Wahrheiten und Werte der Schöpfungs- und Erlösungswirklichkeit anvertraut sind, weil es zu ihren Aufgaben gehört, diese Wahrheiten und Werte zu bewahren und sie im persönlichen und im gesellschaftlichen Bewußtsein wachzuhalten. Damit leisten die Kirchen für die Gesellschaft und für den Staat einen wichtigen, ja unersetzbaren Dienst, indem sie für die vorgegebenen Wahrheiten und Werte eintreten und damit die Grundlagen des Staates, auch des säkularen Staates, im Fluß der Geschichte und der verschiedenen Auffassungen und Anschauungen immer neu festigen. 3 Dieser Dienst ist noch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung. Die Kirche als religiös-moralische Gemeinschaft weiß um das Gewissen als innerstern Kern der sittlichen Person. Der Mensch erfährt in seinem Handeln die Verpflichtung, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Indem die Kirche für die persönlichen und sozialen Werte, für das Gemeinwohl eintritt und sich an das Gewissen des Menschen wendet, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Wertorientierung der Bürger im säkularen Staat. Hier hat die Verantwortung ihren Sitz. In Ländern, in denen sich noch nicht die weltanschauliche Neutralität des Staates durchgesetzt hat, ist es wiederum die Religion, die für den Wertbezug der Menschen und des Gemeinwesens maßgebend ist. Allerdings ist hier die Gefahr größer, in den Bannkreis politischer oder fundamentalistischer Positionen zu geraten, wie dies seit geraumer Zeit in islamischen Ländern geschieht. Vor dem skizzierten Hintergrund muß die von Isensee gestellte Frage gesehen werden. Weil die Kirche eine überaus bedeutsame Rolle bei der Erkenntnis und 2 Böckenförde, Emst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42-64,60. 3 Das Zweite Vatikanische Konzil weist in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes den Dienst der Kirche an den Wahrheiten und Werten der Schöpfungswirklichkeit auf, besonders: Nr. 12, 15,25 ff., 36, 41 f., 73 ff. - Vgl. auch den aufschlußreichen Beitrag von: Maier, Hans: Dienste der Kirche am Staat. Entwurf einer Typologie, in: Marre, Heiner / Stüting, Johann (Hrsg.): Essener Gespräche zum Thema Kirche und Staat, Band 25, München 1991, S. 5-24.

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Anerkennung der Grundwerte und der sittlichen Orientierungen in Gesellschaft und Staat spielt, muß sich eine Säkularisierung der Kirche auf die Rechte und Pflichten der Bürger und auf ihre Bereitschaft, dem Gemeinwohl zu dienen, äußerst negativ auswirken. Auf diese Weise werden nämlich die besagten Voraussetzungen, von denen der Staat lebt und die er nicht selbst schaffen und auch nicht gewährleisten kann, mehr und mehr abgebaut. Es ist die Frage nach der Möglichkeitsbedingung der Säkularität des Staates. Gehört zu ihren Voraussetzungen eine Kirche, die im Unterschied zum Staat gerade nicht säkular werden darf, sondern die ihre religiöse Sendung, wie das Zweite Vatikanische Konzil betont, zu erfüllen hat?4 Der Prozeß der Säkularisierung der Kirche, der die Entchristlichung ganzer Völker nach sich ziehen kann, ist Gegenstand vieler Untersuchungen. Aber daß die Säkularisierung der Kirche den modernen Staat, und zwar in seinen Grundlagen, gefährdet, dies ist eine Frage, die bisher in der Theologie, aber auch in den profanen Wissenschaften kaum behandelt wird, geschweige denn in den Massenmedien Beachtung findet. Die Frage geht meist in die entgegengesetzte Richtung: Wie muß sich die Kirche verändern, das heißt, sich selbst dem Säkularisierungsprozeß weiter öffnen, damit sie in einem säkularen Staat und in einer Gesellschaft, die weitgehend von der Säkularisierungswelle erfaßt ist, bei den Menschen noch ankommt? Diese Problemstellung berührt natürlich in besonderer Weise den christlichen Politiker. Er will sich von seinem Glauben her für die Würde und Freiheitsrechte der menschlichen Person einsetzen, wie diese in der Schöpfungsordnung begründet sind. 5 Der christliche Politiker spürt, wie sehr eine Säkularisierung der Kirche ihm den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Er hat deshalb ein primäres Interesse an der Klärung der Frage, warum die Säkularisierung der Kirche gerade den Staat in seiner Säkularität gefährdet.

D. Zum Problem der Säkularisierung Die erste große Welle der Säkularisierung, die Europa im Zuge der Aufklärung und eines liberal-individualistischen Menschenbildes erfaßte und in der Französischen Revolution zum Ausbruch kam, hat die ständische Gesellschaftsordnung und die mittelalterliche Zuordnung von Kirche und Staat hinweggefegt. Man sah in diesem Prozeß eine Emanzipation der Gesellschaft von der Vorherrschaft oder, ins Negative gewendet, von der Bevormundung durch die Kirche. Der Glaube selbst wurde zunächst noch nicht in Frage gestellt, auch wenn die moderne Sicht Gaudium et spes, Nr. 42. Diesem Anliegen weiß sich der Jubilar, Professor Herbert Schambeck, dem diese Festschrift gewidmet ist, verpflichtet. In seinen Veröffentlichungen befaßt er sich vielfältig mit dem Verhältnis von Staat und Ethik, mit der Zuordnung von Kirche, Staat und Gesellschaft, mit dem Dienst, den die Kirche dem Staat leisten kann. 4

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des Menschen in vielfältiger Spannung zum christlichen Schöpfungsverständnis stand. Die Kirche wurde durch die Säkularisation in Deutschland (1803) und ähnliche Vorgänge in anderen Ländern stark geschwächt. Dennoch blieb die religiöse Substanz im Volk noch so stark, daß es im 19. Jahrhundert zu kräftigen Erneuerungsbewegungen des Katholizismus und der Kirche kam. In diesem Zusammenhang sei an den Kulturkampf, ebenso an den Beitrag erinnert, den der soziale und politische Katholizismus zur Lösung der "sozialen Frage" in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft leistete. 6 Im Unterschied zum Liberalismus und ebenso zum Sozialismus ging er vom christlichen Menschenund Gesellschaftsverständnis und ihrem naturrechtlichen Fundament aus. Die geschichtliche Entwicklung hat den Realismus des christlich-sozialen Denkens bestätigt. Nicht die Abschaffung des Privateigentums, sondern seine soziale Pflichtigkeit, nicht der Klassenkampf, sondern die soziale Partnerschaft zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern, nicht eine herrschaftsfreie Gesellschaft, wohl aber der soziale Rechtsstaat und seine Fähigkeit zum Ausgleich zwischen Starken und Schwachen ermöglichten die allmähliche Integration der Arbeiterschaft in die Industriegesellschaft. Das bedeutet nicht, daß die Anstöße zur Überwindung der sozialen Frage nur von den Christen ausgegangen wären und andere Strömungen nichts dazu beigetragen hätten. Aber die Christen brauchen ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Die geistig-religiösen und sittlichen Verheerungen, die die großen Ideologien des Nationalsozialismus und des Kommunismus / Sozialismus und ihre totalitären Herrschaftssysteme angerichtet haben, lassen sich schwer ermessen. Der christliche Glaube und die Kirchen wurden radikal bekämpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Westdeutschland zu einer Besinnung auf die christlichen Grundwerte, die mit Füßen getreten worden waren. Der Wiederaufbau in Deutschland und die Überwindung der nationalen Gegensätze in Europa wurden hauptsächlich von Politikern getragen, die sich auf die christlichen Wertorientierungen beriefen. Dieser Prozeß war begleitet von einer spürbaren Wiederentdeckung des Glaubens und einer Zuwendung zur Kirche. 7 In den von der Sowjetunion beherrschten 6 Vgl. hierzu: Morsey, Rudolf: Der Kulturkampf, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, Band I, München - Wien 1981, S. 72-109. - Roos, Lothar: Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik, in: ebda, Band 11, München - Wien 1982, S. 52-158; Rauscher, Anton / Roos, Lothar: Die soziale Verantwortung der Kirche. Wege und Erfahrungen von Ketteler bis heute, Köln 21979. 7 Einen Überblick gibt: Forster, Karl: Neuansätze der gesellschaftlichen Präsenz von Kirche und Katholizismus nach 1945, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Kirche und Katholizismus 1945-1949, München - Paderbom - Wien 1977, S. 109-133; ders.: Der deutsche Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, Band I, München- Wien 1981, S. 209 - 264. - Die beiden Artikel sind wieder abgedruckt in: Forster, Karl: Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, zweiter Band: Kirche und Welt, Würzburg 1982, s. 14-7-214.

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Ländern des Ostblocks kam es hingegen zu einer verschärften Unterdrückung des Glaubens und der Kirche. Nur in Polen konnte die Kirche als eigentliche "Opposition" ihre Stellung behaupten. Mit der Gründung der Gewerkschaft Solidamosc wurde, wie man im Rückblick feststellen kann, das Ende des Kommunismus eingeläutet, wobei Johannes Paul 11. einen unschätzbaren Dienst der Ermutigung, des Durchhaltens und des Widerstandes bei vielen Katholiken leistete. Von der Besinnung auf die naturrechtliche Sicht nach dem Weltkrieg ist auch die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahre 1948 bestimmt. Dies war eine Sternstunde der Menschheit. Dabei wurde der Geburtsfehler, der dem modemen Staat anhaftete, korrigiert. Die Menschenrechte waren 1789 nicht als von Gott verliehene Rechte, sondern als rein innerweltlich begründete Rechte betrachtet worden. Die bitteren Erfahrungen mit den totalitären Systemen haben den Weg frei gemacht für die Erkenntnis, daß die Menschenrechte "unantastbar" und damit Gesellschaft und Staat vorgegeben sind. Damit war der Stein des Anstoßes, der eine Versöhnung zwischen Kirche und moderner Kultur blockiert hatte, weggeräumt. Zu den Menschenrechten, die nicht mehr innerweltlich begründet werden, kann sich auch die Kirche bekennen, wie dies Johannes XXIII. in der Enzyklika Pacem in terris, aufbauend auf der Sozialverkündigung Pius' XII., getan hat. 8 Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1963-1965) wurden insofern neue Maßstäbe gesetzt, als die Soziallehre der Kirche in einen inneren Zusammenhang mit der Glaubensverkündigung gestellt wurde. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes wurden die Grundwerte des christlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes herausgearbeitet und zugleich die Weichen für das Zusammenleben und -wirken der Christen in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat gestellt. Die Erklärung über die Religionsfreiheit, in der nicht nur die Verpflichtung des Menschen der Wahrheit gegenüber, sondern in erster Linie seine Freiheit betont wird, hat auch die Voraussetzungen für das Wirken der Kirche in der Welt auf eine neue Grundlage gestellt. Nicht wenige Bischöfe sprachen auf dem Konzil von einem neuen Frühling für die Kirche. Womit die Konzilsväter nicht gerechnet hatten, war der Einbruch einer neuen Woge der Säkularisierung, die sich nicht nur über alle gesellschaftlichen Lebensbereiche ergoß, sondern in zunehmendem Maße auch die Gläubigen und kirchliche Gruppierungen erfaßte. Hetzschriften gegen die Kirche hat es immer gegeben. Neu war, daß ein Stück wie "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth (1963), in der Pius XII. regelrecht verleumdet wurde, in der breiten Öffentlichkeit hochgespielt werden konnte. In demselben Jahre erschien die 8 Zur Rezeption der Menschenrechte in der katholischen Soziallehre vgl.: Punt, Jozef: Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die modeme katholische SozialverkÜßdigung (Reihe: Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 26), Paderborn - München - Wien - Zürich 1987, besonders S. 145 ff.

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Schrift Carl Amerys, der behauptete, der katholische Christ sei durch seine Einbindung in die Gemeinschaft der Kirche zu einer selbständigen Teilnahme am öffentlichen Leben nicht befähigt. 9 Anders ausgedrückt: Je mehr sich die Katholiken aus den religiös-sittlichen Bindungen lösen würden, um so eher könnten sie an der Gestaltung des öffentlichen Lebens mitwirken. Die Kirche als Hindernis der gesellschaftlichen Verantwortung? Hinter dieser Position wird die Stoßrichtung der neuen Säkularisierungswelle sichtbar, die, begünstigt durch den in der Wiederaufbauphase erreichten Wohlstand, in den sechziger Jahren das intellektuelle Umfeld besetzen und die gesellschaftlichen Lebensbereiche überziehen konnte. Man knüpfte an die Positionen der Aufklärung an, die Kultur und Gesellschaft von Glaube und Kirche trennen wollte, die den Menschen aus allen Bindungen befreien wollte, so daß er souverän über sich verfügen könnte. Das aufklärerische und liberale Erbe, das mit dem Begriff der Emanzipation verknüpft ist, entwickelte die Vorstellung einer weltimmanenten Autonomie des Menschen. Die Gesellschaft wurde gedacht als losgelöst aus dem Zusammenhang mit der Religion; sie war nur noch diesseits gerichtet und getragen von einer grenzenlosen Fortschrittsgläubigkeit und einem unbeschränkten anthropologischen Vertrauen in die Bewältigung aller Probleme. Dieses Freiheitsverständnis hatte keine Öffnung zur Freiheit Gottes mehr. Die Forderung nach gesellschaftlicher Emanzipation geriet zum Gegenpol des kirchlich vennittelten Heils. 10 Inspiriert wurde die zweite Säkularisierungswelle hauptsächlich von Kräften und Gruppierungen, die der "neuen Linken" zuzurechnen sind. Hier sind die Frankfurter Schule und neo- beziehungsweise spätmarxistische Denker wie Herbert Marcuse zu nennen, die seit der Studentenrevolution von 1968 einen großen Einfluß auf die deutsche Gesellschaft ausüben konnten. 11 Im Zentrum der revolutionären Veränderung von Gesellschaft und Staat steht die Frage nach der Änderung des Bewußtseins des Menschen, des individuellen ebenso wie des kollektiven. Mensch und Gesellschaft müssen sich von aller ,,Entfremdung" befreien. Die Autonomie des Menschen und die herrschaftsfreie Gesellschaft werden zu Gegentopoi zur Unterdrückung und Versklavung in der bisherigen Geschichte der Menschheit. In diesem Klima konnten sich in der politischen Szene jene Strömungen durchsetzen, die die Forderung nach "inneren Refonnen" erhoben. Dieser Begriff war irreführend. Es ging nämlich nicht um die Erneuerung, vielAmery, earl: Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, Reinbek 1963. Vgl.: Forster, Karl: Emanzipation oder Freiheit. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Emanzipation und kirchlich vermitteltem Heil, in: ders.: Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, zweiter Band: Kirche und Welt, Würzburg 1982, S. 55. - Karl Forster hat sich in zahlreichen Artikeln mit dem Phänomen der Emanzipation und Säkularisierung befaßt. Vgl.: I. Kapitel: Glaube - Kirche -Gesellschaft, S. 9-146. 11 Vgl.: Habermas, Jürgen: Theorie und Praxis, Neuwied und Berlin 1963; ders.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968. - Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung' Frankfurt 21969. 9

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mehr legte man Hand an Kulturwerte und Rechtsnormen, die das Fundament des Zusammenlebens bildeten. Die Auseinandersetzungen um den umfassenden Schutz für das ungeborene Leben und um den staatlichen Schutz von Ehe und Familie, die seit den 70er Jahren mit zunehmender Schärfe geführt wurden, betreffen das Grundgesetz in seinem Kern. Es setzten die Bemühungen ein, die Grundrechte, die auch durch qualifizierte Mehrheit im Bundestag in ihrer Substanz nicht geändert werden können, zu ,,hinterfragen", neu zu "interpretieren" und sie auf diesem Wege verfügbar zu machen. 12 Anders als zur Zeit des Kulturkampfes und der ideologischen Gegensätze in der Weimarer Zeit meldeten sich im katholischen Bereich zunehmend auch Stimmen zu Wort, die von den beschriebenen Denkansätzen angetan waren und bisherige Positionen der Kirche und des Katholizismus eher als Belastung denn als hilfreiche Wegweisung empfanden. 13 Viele Katholiken waren im Zuge des Konzils fasziniert von den Maximen der Offenheit und des Dialogs, der Entideologisierung und der Partizipation. Die Losung vom Aggionarmento, die Johannes XXIII. für das Konzil ausgegeben hatte, wurde begeistert aufgenommen und nicht so sehr im Sinne des Heutigwerdens der Kirche, sondern mehr der Anpassung an die Welt, an den neuen Zeitgeist verstanden. Zwar konnten die massiven Vorstöße, das unantastbare Recht auf Leben der ungeborenen Kinder auszuhöhlen und den umfassenden rechtlichen Schutz des Staates einzuschränken, zunächst noch abgewehrt werden. Aber selbst in Kernbereichen der sittlichen Wertorientierung gab es im Katholizismus Aufweichungserscheinungen. Schon die Umfragen unter den Katholiken, die die deutschen Bischöfe zur Vorbereitung der Würzburger Synode veranlaßten, ergaben eine breite Kluft zwischen den Wertorientierungen, die in der Kirche vertreten und hochgehalten werden, und den Wertorientierungen in der Gesellschaft. 14 Der Einbruch des Säkularismus auch in das Kirchenvolk und in seine Gliederungen wurde bestätigt. Klaus Gotto gelangte auf der Sozialethiker-Tagung im Mai 1988 zu der Feststellung: Die Zahl der kirchentreuen Katholiken ist seit den 60er Jahren fast halbiert worden, wobei von der "Hälfte der faktisch aus der Kirche Ausgewanderten mindestens 50 % den Glauben verloren haben. Die Zehn Gebote haben für die nicht kirchentreuen Katholiken zumindest bei einem Drittel ihre Verbindlichkeit eingebüßt. Glaube, Moral- und Wertvorstellungen in der katholischen Welt sind also von einer deutlichen Erosion betroffen." 15 12 Mit ihren Thesen für eine Trennung von Kirche und Staat machte sich die FDP zur Vorkämpferin für eine Neuorientierung nicht nur der Kirchenpolitik, sondern auch der Kulturpolitik. Vgl.: Rauscher, Anton: Soll die Kirche aus dem öffentlichen Leben verbannt werden? (Reihe: Kirche und Gesellschaft, Nr. 1), Köln 1973. 13 Hier ist vor allem der Entwurf einer politischen Theologie zu nennen, die von Johann Baptist Metz vorgelegt wurde: Zur Theologie der Welt, Mainz 1968. 14 Vgl.: Schmidtchen, Gerhard: Zwischen Kirche und Gesellschaft. Forschungsbericht über die Umfragen zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg - Basel - Wien 1972.

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111. Die Auswirkungen auf den Staat Mit dem Einbruch des Säkularismus in die Kirche und in den Katholizismus stellt sich die eingangs aufgeworfene Frage, ob uIid wie diese Entwicklung die Säkularität des Staates gefährdet. Bisher haben die Kirchen wesentlich dazu beigetragen, die Grundwertpositionen, die der Staat selbst nicht schaffen kann, auf die er jedoch zu seinem Bestand angewiesen ist, zu bewahren, gegen die verschiedensten Angriffe zu verteidigen und auch unter veränderten Verhältnissen immer wieder einzufordern. Je mehr die Kirchen an Gewicht in Gesellschaft und Politik verlieren, je mehr sie von den Massenmedien in die Ecke gedrängt werden, je mehr auch die Christen, Katholiken und Protestanten, die Orientierung am christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild nur noch als eine Art Leitidee, aber nicht mehr als für sie verbindliche Grundlage betrachten, desto stärker gerät der Grundkonsens, der die pluralistische Gesellschaft zusammenhält und dem demokratischen Staat Gestalt gibt, ins Wanken. Die Säkularisierung der Kirche bewirkt, daß sozusagen die countervailing power fehlt, die bisher der Erosion des Wertbewußtseins entgegengetreten ist. Vor allem unterliegt der Wertkonsens und damit die Bereitschaft der Bürger, ihre Auffassungen und ihre Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen, einer ständigen Aushöhlung. Auch die Verantwortung für die sozialen Aufgaben und Ziele wird weitgehend privatisiert. Die Rechtsnormen erscheinen unter diesen Umständen mehr und mehr als äußerliches Regelwerk, dessen Gestaltung der jeweiligen demokratischen Mehrheit obliegt. Es ist interessant zu beobachten, daß die Vorkämpfer der Säkularisierung der Kirche und der Ent-Wertung des öffentlichen Lebens die fehlende "Vision" in der Politik beklagen. In der Tat: Wenn man die Werte und Wertbezüge in Gesellschaft und Staat immer niedriger hängt, sie auf den Abfallhaufen der Geschichte wirft, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Politik niemanden mehr bewegen und die widerstreitenden Interessen nicht mehr auf gemeinsame Zwecke hinlenken kann. Eine weitere Auswirkung dieses Säkularisierungsprozesses ist die Stärkung der individuellen und kollektiven Interessen und Ansprüche, deren Einlösung vom Staat erwartet wird. Werte, vor allem die Grundwerte besitzen keine verpflichtende Kraft mehr, die die Egoismen der Menschen in Schach halten, die sie auch zur Rücksichtnahme bis hin zum Verzicht und Opfer ermutigen könnte. Dort, wo diese Werte ihre verpflichtende Kraft weitgehend verloren haben, tritt an ihre Stelle der meist rücksichtslose und unbarmherzige Kampf um die eigenen 15 Gotto, Klaus: Erosion christlicher Wertvorstellungen? Kritische Anfragen an Kirche und Unionsparteien, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Christ und Politik (Mönchengladbacher Gespräche, Bd. 10), Köln 1989, S. 11. - Vgl. auch Renate Köcher, die von einem Zusammenbruch einer religiösen Kultur spricht: Religiös in einer säkularisierten Welt, in: Noelle-Neumann, Elisabeth / Köcher, Renate: Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987, S. 164-281.

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Vorteile und den größtmöglichen Nutzen. Die auf sich selbst zurückgeworfene Säkularität des Staates hat es sehr viel schwerer, den inneren Frieden im Volk auch nur halbwegs zu sichern und die vielberufene, aber wenig oder nur gezwungenermaßen praktizierte Solidarität zu mobilisieren. Je kleiner die Wertgrundlage und die öffentliche Sittlichkeit geschrieben werden, desto mehr wird der säkulare Staat zu einem Objekt der wirtschaftlichen und politischen Machtinteressen. Wenn nicht die Anzeichen trügen, so dürfte mit der Säkularisierung der Kirche die Neigung vieler Bürger Hand in Hand gehen, überzogene Erwartungen an die Politik und an den Staat zu stellen. Je mehr das Bewußtsein um die Schöpfungswirklichkeit, um die Begrenztheit, auch um das Versagen der Menschen sowohl im persönlichen als auch im sozialen und politischen Leben schwindet, um so stärker scheint der Glaube an die Machbarkeit der Verhältnisse zu werden. Politik ist dann nicht mehr die Kunst des Möglichen; vielmehr soll sie auch das Unmögliche möglich machen. Dies ist der Nährboden nicht nur für Utopien, die doch nicht eingelöst werden können, sondern für Enttäuschungen, die auch das Ansehen der Politiker in den Keller rutschen läßt. Spannt sich vor diesem Hintergrund nicht der Bogen zu der heute oft beklagten Politikverdrossenheit? Woran liegt es, daß viele Bürger mit der Politik und mit den politischen Parteien unzufrieden sind? Wo liegen die Ursachen dafür, daß die Politikverdrossenheit um sich greift? Wie kommt es, daß bei der jüngeren Generation, auch bei den Erstwählern die Neigung, nicht zur Wahl zu gehen, zunimmt? Unwillkürlich denkt man an diejenigen Politiker, die das ihnen anvertraute Amt dazu mißbraucht haben, ihre privaten Interessen zu pflegen und sich in der einen oder anderen Weise zu bereichern. Sie haben sich dadurch nicht nur selber diskreditiert, sondern dem Ansehen der Politik und der Politiker schwer geschadet. Man kann es den Massenmedien nicht verübeln, daß sie in ihrem Hang zur Sensation diese Fälle ausschlachten. Leider wird über diejenigen Politiker kaum geredet, die hier unbeschmutzte Hände haben und sich redlich darum bemühen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Auch die Frage des Rücktritts eines Ministers, dem weder persönlich noch in seiner Amtsführung etwas vorzuwerfen ist, der aber, wie es heißt, die "politische Verantwortung" für ein Versagen oder Fehlverhalten in seinem Zuständigkeitsbereich trägt, müßte sehr viel differenzierter gesehen und beurteilt werden. Stärker dürfte zur Politik- beziehungsweise Parteienverdrossenheit der Bürger beitragen, wenn sich die politischen Parteien, obwohl es um wichtige Fragen geht, nicht zu einer Lösung durchringen können und die Probleme unentschieden vor sich herschieben. Die Unfähigkeit der Parteien, das, was nötig ist, zu tun und einen vertretbaren Komprorniß zustande zu bringen, widert die Bürger an. Die Parteien scheinen gar nicht mehr zu bemerken, wie ihnen der Boden unter den Füßen entgleitet. Sie kochen munter ihr Süppchen weiter, bis der Vertrauensverlust zu entsprechenden Stimmenverlusten bei den Wahlen führt.

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Die Bürger ärgern sich über die politischen Parteien, wenn sie den Eindruck gewinnen müssen, daß es den Politikern vor allem um ihre Wiederwahl geht und sie sich deshalb vornehmlich Aufgaben und Lösungen zuwenden, von denen sie sich einen günstigen Einfluß auf die Wähler versprechen. Auch christliche Politiker sind versucht, eher vordergründig zu argumentieren, als bei wichtigen Fragestellungen auch auf die Grundwerte zurückzugreifen. Die Belange des Gemeinwohls, unangenehme Entscheidungen werden leicht parteitaktischen Überlegungen und Winkelzügen geopfert. Dabei wird übersehen, daß auch unpopuläre Entscheidungen, wenn sie wirklich notwendig sind und dies der Bevölkerung mit überzeugenden Argumenten auch klargemacht wird, durchaus verstanden und mitgetragen werden. Die Mehrheit der Bürger ist nicht einfach auf den größtmöglichen Nutzen bedacht; sie sehen durchaus ein, daß ihr persönliches Wohl letzten Endes auch vom Gemeinwohl abhängt. Aber sie wollen reinen Wein eingeschenkt bekommen und möchten nicht an der Nase herumgeführt werden. Zur Politikverdrossenheit tragen auch die konjunkturellen und mehr noch die strukturellen Schwierigkeiten bei, die gegenwärtig der Wirtschaft zu schaffen machen. Damit ist auch der finanzielle Spielraum geringer geworden, um mit den vielfältigen sozialen Aufgaben und Problemen fertig zu werden, die sich in den neuen Bundesländern und in den osteuropäischen Ländern, aber auch in den Ländern der Dritten Welt stellen. In der Bevölkerung wachsen unter diesen Umständen die Kritik und die Skepsis gegenüber dem, was die Politik zu bewirken vermag. Es gibt Leute, die sich von der Politik abwenden und sich in die Privatheit zurückziehen. Dabei spielen auch die vielen Negativmeldungen über politische Entwicklungen, besonders im ehemaligen Jugoslawien und in den GUS-Staaten eine Rolle. Das Wort "Politik ist ein schmutziges Geschäft" scheint erneut bestätigt zu werden. Es fällt auf, daß junge Leute, die durchaus über eine politische Begabung verfügen, nur noch selten den Weg in die Politik finden und sich lieber anderen Berufsfeldern wie dem der Medizin zuwenden. Dies gilt leider auch für Christen, die früher oft in den Jugendverbänden und im vorpolitischen Raum für die Mitarbeit in den Parteien gewonnen wurden, um die Grundwerte der christlichen Menschen- und Gesellschaftsauffassung zur Geltung zu bringen und das Gemeinwohl zu fördern. Heute steht eher die Frage im Vordergrund, welchen Nutzen die politische Tätigkeit einbringt und ob sie der eigenen Karriere dienlich ist. Zusammenfassend kann man feststellen: Die Säkularisierung der Kirche und des Katholizismus wird nicht zu einer Stärkung des säkularen Staates führen. Vielmehr werden die politischen Unsicherheiten und Schwierigkeiten eher weiter zunehmen. Die Besinnung auf die Wertgrundlagen und auf den Dienst der Kirche würde auch dem Staat zugute kommen.

21 Festschrift Schambeck

ZUR ENTWICKLUNG DER BEZIEHUNG VON KIRCHE UND STAAT IN EUROPA NACH DEM ZUSAMMENBRUCH DES KOMMUNISMUS Von Rudolf Weiler

I. Kirche und Verfassungsstaat In seinem Buch Ethik und Staat 1 hat Herbert Schambeck die Einsicht in die Beziehung von Ethik und Staat einleitend für eine menschliche Ordnung der Politik schicksalhaft genannt. Der Rechtsgelehrte Schambeck weiß in bemerkenswerter Weise seine wissenschaftliche Berufung mit einer politischen parlamentarischen Laufbahn zu verbinden und so von zwei Seiten seines Wirkens her dem Rechtsgedanken zu dienen. Die in vielen Publikationen von ihm besonders beleuchtete Frage der Grundrechtsordnung im Staat als Voraussetzung guter staatlicher Funktionserfüllung im pluralistischen Gemeinwesen 2 stellt er auf eine rechtsethische, naturrechtliche Basis. Damit wird der einzelne Bürger wie die (bürgerliche) Gesellschaft eigenberechtigt dem Staat gegenübergestellt gesehen. Ihnen kommt Freiheit vor dem Staat zu, eine Freiheit, die letztlich im Wesen des Menschen und im Naturrecht gründet. Auf diesen Zusammenhang hat Schambeck näher auch an anderer Stelle unter Bezug auf "die Bedeutung des Personbegriffes" hingewiesen. 3 Die Entwicklung der klassischen Grundrechte seien rechts- und verfassungsgeschichtlich "Ergebnis der Säkularisation alten christlichen Gedankengutes". Vom Naturrechtsverständnis her erfülle der Staat durch seine legitime Ordnungsautorität in seiner Gemeinwohlbestimmung seine Ordnungsaufgabe im Sinne des primären Naturrechts durch dessen Anwendung mittels Gesetzen. Für ihn gehen sowohl die Kirche als der Staat vom Gedanken der Menschenwürde aus, in dem der "Anstoß zu einer Rangordnung der Werte" gegeben ist. 4 Für den Zusammenhang mit dem hier gewählten Thema sind die von Schambeck nur auszugsweise zitierten Positionen von entscheidender Bedeutung im Berlin 1986 (Schambeck I). Vgl. Schambeck I, 135. 3 V gl. den Artikel Recht und Staat im Lichte der Kirche, im Sammelband: Kirche, Staat und Demokratie, Ein Grundthema der katholischen Sozialiebre, Berlin 1992, 2950 (Schambeck 11). 4 Schambeck 11, Kirche und Demokratie, (71-95), 86. 1

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Bezug vor allem auf die Trennung von Staat und Gesellschaft und Individuum einerseits und Kirche und Staat andererseits. Der demokratische Verfassungs staat steht in der Pflicht der langen Tradition der Grundrechte, die zu schützen und zu entwickeln immer notwendig ist. Ebenso hat die Bedeutung der Religionsund Gewissensfreiheit in der Ausformung und Anwendung von seiten der Kirche bezüglich ihrer Sendung in der Gesellschaft und ihrer Sicht der Trennung vom Staat und seiner Gemeinwohlaufgabe eine lange Entwicklung bis zum 2. Vatikanischen Konzil und bis heute durchgemacht. 5 Die Grundrechte als Gewissensanspruch haben ihre Rechtsgeschichte gerade im Kontext der Beziehung von Kirche und Staat. "Der religiös und weltanschaulich neutrale Staat, der durch seine Legitimitätsbasis, die Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, seine Wertorientierung erhält, kann deren transzendenten Bezug nicht selbst repräsentieren", schreibt treffend Hans R. Klecatsky.6 Er müsse, so folgert er, diese Aufgabe den Kirchen überlassen, insbesondere heutzutage in der pluralen Gesellschaft. Einerseits ist im freiheitlichen Staat die plurale Gesellschaft eine "offene" geworden. Damit ist aber die Religion nicht ,,Privatsache" im Sinne eines kirchenfeindlichen Aufklärungsdenkens von der Trennung von Kirche und Staat. Die öffentlich-rechtliche QualifIkation der Kirchen hat aber ebenso eine neue grundlegende Dimension für die Gegenwartsgesellschaft gewonnen. Klecatsky spricht von einer "adäquaten ,Partnerschaft' "7 zwischen den Kirchen und dem säkularen Verfassungsstaat.

11. Die Wende in Osteuropa und die Folgen für das Verhältnis von Kirche und Staat 1989/90 Sowohl für das Staats- und Verfassungsverständnis wie für die Kirche und ihren Anspruch auf Religionsfreiheit war diese " Wende" ein tiefgreifendes Ereignis. Es hat aber durchaus eine lange Vorbereitungsgeschichte im Rechtsbewußtsein der Gesellschaft dort. Unter bescheidenem Hinweis auf eigene Erfahrungen in Dialogen besonders auch mit Wissenschaftern marxistischer Grundorientierung oder zumindest äußerer Option und Anpassung darauf hat der Verfasser seit 25 Jahren an der unterschwelligen Diskussion und Entwicklung daran in den kommunistischen Ländern Europas davon manches erfahren. So hat der Verfasser schon 1976 der Hoffnung auf eine langfristig zu erwartende Änderung der Religionspolitik in diesen Ländern nicht zuletzt aufgrund des Wirkens des ,,Rechtsgewissens in den Menschen und Völkern" bezüglich der Religionspolitik entgegen der 5 Vgl. o. a. Sammelband, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, 96113 und ebenso Die Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, 114-138. 6 Die Religionsfreiheit in der österreichischen Reform der Grund- und Freiheitsrechte, in: Festgabe für Theodor Veiter, Wien 198~, (1-15), 12. 7 A. a. 0.13.

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offiziellen Ideologie zum Ausdruck gebracht. 8 Mit der Pastoralpolitik des Heiligen Stuhles gegenüber den kommunistischen Staaten, als "Vatikanische Ostpolitik" etikettiert, wurde der Politik dort der Unterschied und ein positives Trennungsverhältnis von Staat und Gesellschaft und Staat und Kirche nahe gebracht und den Menschen am Beispiel der Religionsfreiheit der Menschenrechtsgedanke auch ganz allgemein dargelegt. 9 Die politische Geschichte des kommunistischen Osteuropa unter der Hegemonialmacht Sowjetunion zeigt seit dem 2. Weltkrieg und später auch nach Stalins Tod verschiedene Phasen des Anspruchs des System auf den Sieg des Kommunismus in Verbindung mit der praktischen Suche nach Überleben unter dem Mantel der Ideologie. Entsprechend wechselnd war zu Zeiten bereits das Verhältnis des Staates zur Kirche, insbesondere der russischen Orthodoxie. Verschieden ist auch im Westen heute die Einschätzung der Ursachen des Zusammenbruches nach der geistigen oder der realpolitischen Seite hin. Jedenfalls waren die Ereignisse 1989/90 in nachträglicher Betrachtung nicht so völlig überraschend und ohne vorherige Anzeichen nach außen vor sich gegangen. Die fortschreitende Phase der Perestroika leitete zuletzt freilich die entscheidende Änderungen der Religionspolitik ein. Der ehemalige Dissident und orthodoxe Geistliche Gleb Jakunin, heute als Priester wieder tätig und in das russische Parlament gewählter Abgeordneter, schrieb in seinem 1989 in Moskau im Verlag Progreß erschienenen Buch ,,Auf dem Weg zur Religionsfreiheit" 10 einen Beitrag über das Verhalten der Moskauer Patriarchatsverwaltung angesichts des Personenkults um Stalin unter dem Titel: Im Dienste am Kult. Angesichts der historischen Belege für die servile Haltung des Patriarchates und des ganzen Episkopates der russisch-orthodoxen Kirche Stalin gegenüber fragt Jakunin wohl zurecht: "Wie konnte es nur zu einem so tiefen ,kollektiven' Verfall der Hierarchen ... kommen? Während die meisten kirchlichen Teilnehmer an der Verherrlichung Stalins eine durchaus objektive Vorstellung von seiner Persönlichkeit und seiner wahren historischen Rolle hat8 Vgl. Weiler, Rudolf: Religionsfreiheit im sozialistischen Staat? Theorien, Aporien und Überlegungen, in: Festschrift für Alexander Dordett, Convivium utriusque iuris, Wien 1976,319-334. 9 Vgl. aus Schambeck 11: "Centesimus annus" und die neue Ordnung in Europa, 204214; beachte 209, den Hinweis auf Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli und das Zitat aus' einer Rede von ihm und die dort angesprochenen Gründe für das Scheitern der kommunistischen Ideologie! 10 Sammelband der Beiträge über das religiöse Leben in der UdSSR. (Die Druckfahnen einer deutschen Übersetzung aus 1989 liegen dem Verfasser vor.) Vgl. dazu west!. Stimmen wie Bourdeaux, Michael: Gorbachev, Glastnost and the Gospel, London 1990, und Forest, Jim: Free at Last?, The Impact of perestroika on religious life in the Soviet Union, London 1990. Letzterer zitiert Erzbischof Chrysostomos von der russisch-orthodoxen Diözese Irkutsk mit einem Wort aus 1988: "all of us are compromised, all of us are sinners, none of us is adequate." Zit. nach Times Literary Supplement, March 29, 1991,23.

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ten, ihm aber entweder aus faktischen Erwägungen oder aus Angst, sonst Verfolgungen ausgesetzt zu sein, huldigten, hatten Patriarch Aleksij und einige andere Leiter des Patriarchates zweifellos ein aufrichtiges Verhältnis zu Stalin. An welcher Trübung der geistigen Sehkraft mußte man leiden, um in dem ,ungekrönten Kaiser' nicht einen ,neuen Nero', sondern einen ,neuen Konstantin' zu erblikken? Wie konnte es dazu kommen? Welches waren die geistigen, historischen und psychologischen Voraussetzungen für die Verwicklung des Moskauer Patriarchates am Personenkult Stalins?" Jakunin sieht die Last der Geschichte während der ganzen Zeit seit der Gründung des Moskauer Patriarchats als eine Folge der Herrschaft des Cäsaropapismus. Eine kirchenrechtliche und auch rechtsethische Lösung des Problems zwischen Kirche und Staat, sieht er auch nicht ansatzweise. Der Verfasser erinnert sich an ein Gespräch mit dem dritten Mann der russisch-orthodoxen Hierarchie, der seinerzeit selbst lange das Außenamt des Patriarchats geleitet hatte, schon zu Gorbatschows Zeiten bei einer internationalen Konferenz zu Abrüstungsfragen. Auf die Frage, warum er und seine Kirche immer kritiklos die Außenpolitik seines Landes verteidigten, war seine einfache Antwort: Ich bin Russe und das ist doch russische Politik, warum sollte ich da anders denken? Sosehr die christlichen Wurzeln in der europäischen Geschichte bis heute prägend sind, so sind im Detail der Entwicklung der politischen Ordnung unter dem Einfluß der Verschiedenheit der Traditionen der Beziehung zwischen Kirche und Staat im Ost-West-Zusammenhang die Unterschiede bis heute zu beachten. Dies erfordert für das gegenwärtige Verständnis einen kurzen Rückblick.

III. Die historische Entwicklung der Beziehung von Kirche und Staat in Ost- und Westeuropa und die Auswirkungen insbesondere für das jeweilige Staatskirchenrecht Unter Berufung auf die grundlegenden Forschungen Hugo Rahners 11 nennt Walter Gut in seinem Artikel Zur Stellung der Kirche in Gesellschaft und Staat 12 ein Grundthema hervorragender Vertreter der Kirche schon in den ersten christlichen Jahrhunderten: die Kirchenfreiheit. Die Entwicklungsgeschichte verlief aber schon im ersten Jahrtausend grundverschieden nach Ost und West, Konstantinopel und Rom. Hugo Rahner schreibt: "In dem theologischen Genius des Augustinus wurde der abendländischen Kirche der Mann geschenkt, der die Quadern des neuen Hauses der Freiheit beha\Jen hat; und Papst Leo, der auf der Höhe des Jahrhunderts theologisches Feingefühl mit meisterlicher Diplomatie verband, wird daraus seine Lehre vom Papsttum als dem Mittelpunkt kirchlichen Rechts

11 12

Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961.

In der Zeitschrift Gewissen und Freiheit 1991/ Nr. 37, (7 -19), 7.

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und damit religiöser Freiheit gestalten: aus Augustinus aber und aus Leo baut dann am Ende des Jahrhunderts Papst Gelasius seine Sätze, die ins staatskirchlich unheilvoll gefesselte Byzanz hinübergerufen werden, aber auch wie ein nimmer enden wollendes Echo durch die kommenden Jahrhunderte tönen."13 Der Kaiser sei ein Sohn der Kirche, nicht ein Bischof der Kirche! 14 Nach langer Auseinandersetzung mit der kaiserlichen Gewalt - die Reichsteilung und der Zerfall des westlichen Imperiums war der Kirche hier zu Hilfe gekommen! - war der Weg für die Kirche frei geworden, hingegen die geistige Kluft zwischen Ost und West politisch verfestigt worden. Als Papst hat dann Gelasius am Ende des 5. Jahrhunderts in einem Brief an Kaiser Anastasius die Lehre von den zwei Gewalten darglegt in Entwicklung der Staatstheologie des Augustinus: "Das ,Himmlische' wird" - nach den Worten Hugo Rahners 15 - ,,konkret geschaut in der sichtbaren Kirche und ihrem Oberhaupt, dem von Gott eingesetzten Bischof von Rom." Und Rahner folgert: "Der Brief des Gelasius stößt alle Tore des Mittelaters auf, ... ist aber zugleich auch schon die prophetische Absage an den kirchlichen Osten, der sich solcher Weisheit auch jetzt entzog." Jakunin untermauert seine These von den Gründen, die zum Staatskirchentrum in der russischen Orthodoxie führten und zur Unfreiheit der Kirche mit der hier herrschenden Verherrlichung des "Dritten Roms", die einherging mit einer "Herabsetzung des Zweiten Roms, des Stuhls von Konstantinopel". Ja, nach einer von ihm zitierten Analyse des Moskauer Kanonisten Prof. Troizki aus 1947 16 hätte mit dem Untergang des byzantinischen Reiches der Patriarch von Konstantinopel seinen Anspruch auf den Vorrang in der Orthodoxie die Grundlage verloren. Allzu leicht war scheinbar aber den Hierarchen jener Epoche die hetzerische Agitation gegen den Papst in Rom und die Diplomatie des "Vatikans" zur Unterstützung der sowjetischen Propaganda gefallen. 17 Das Moskauer Patriarchat fühlte 13

A. a. 0., 205.

14 Imperator ... filius est, non praesul Ecclesiae. So in einem Brief von Gelasius im

Jahre 488, zit. bei Rahner, 252 f. 15 227. 16 Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, 1947/12, 35. 17 Artikel in der Zeitschrift des Moskauer Patriarchates der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die fünfziger Jahren geben davon Zeugnis. Pius XII., als ,,Freund" des amerikanischen Präsidenten Truman, und der Vatikan werden zu ,,Kriegsbrandstiftern" , "Kollaborateuren" mit Faschisten und Kriegsverbrechern Hitlers. Die gläubigen Katholiken sollten den Vatikan zwingen, einen anderen Weg zur christlichen Moral zu wählen; der Papst daran denken, er sei in erster Linie Bischof von Rom und erst in zweiter das Oberhaupt eines ,,mikroskopisch kleinen Staates" (vgl. dazu die Nr. 1947/8,34). Höhepunkt der Anti-Rom-Haltung jener Jahre war sicher die gewaltsame Abtrennung der Unierten der griechisch-katholischen Kirche in der Westukraine und ihre Angliederung an das Moskauer Patriarchat 1946 durch Stalin mittels einer sogenannten "Synode von Lemberg". Suttner, Ernst ehr.: Die Unterdrückung der Ukrainischen Unierten Kirche unter Stalin und das Moskauer Patriarchat, in: Stimmen der Zeit, 1993/8, 560-572, kommt allerdings aus Dokumenten belegt zum Schluß: ,,Kein Jubel am Patriarchensitz

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sich auch in jener Zeit, selbst unter Stalin, wie seit seinem Bestehen als Hort der christlichen Rechtgläubigkeit 18. Die Idee des Mönches Filofej aus dem Kloster in Pskow von Moskau als dem Dritten Rom hat seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach wie vor ihre Wirkung. Dies gilt vor allem deshalb, weil die Orthodoxie keine Sozial- und Staatslehre entwickelt hat. Seit der Väterzeit und dem letzten ökumenischen Konzil 787 gibt es für sie keine Möglichkeit, verbindlich speziell auf die Entwicklungen im Verhältnis Staat und Kirche zu reagieren. Es hat sich nur verschieden nach Zeit und Ort die Idee vom Verhältnis der Symphonia zwischen Staat und Kirche erhalten und ausgeprägt, anders als in Rom und Westeuropa, wo es zur Freiheit der Kirche vom Staat kommt. Symphonia bedeutet aber eine innere Solidarität von Staat und Kirche, eine geistige Nähe, wenn auch Unterschiedlichkeit im gegenseitigen Verhalten. Dies setzt einen dauernden Normalzustand der politischen Gewalt voraus, den christlichen Kaiser oder doch die Staatsautorität als Fügung Gottes! 19 Das aber schließt die enorme Gefahr ein, wie Gleb Jakunin 20 sie für die östliche Orthodoxie sieht, die Neigung zu Fatalismus und Passivität, die Versuchung, alles als durch Gottes Willen geschehen hinzunehmen und zu erdulden. Der Vorwurf, der sogar von katholischen Naturrechtsgegnern gegen die Soziallehre der Kirche wegen angeblicher Ideologieanfälligkeit erhoben wurde 21, trifft hier wohl gerade wegen des Fehlens einer Staatsphilosophie und Soziallehre auf Basis von Vernunftprinzipien, zurecht zu. Da sich in der Orthodoxie keine Rechtsethik entwickeln konnte, war auch ekklesiologisch vom Rechtsdenken her für das Kirchenmitglied kein unterscheidendes Kriteriium seiner Rechtsstellung im Staat zu sehen. Das Recht ist von der Kirche der Staatsgewalt, es zu setzen, einfach anvertraut, selbst auch das Kirchenrecht, in gewisser Voraussetzung der bestehenden Symphonia. So war auch 1905 die Religionsfreiheit in Rußland nur für nichtorthodoxe russische Untertanen verkündet worden.

zu Lebzeiten Aleksijs" (568). Das faktische Verhalten nicht nur einzelner Persönlichkeiten der Orthodoxie, wie Suttner meint, und ebenso die offiziöse Geschichtsschreibung sprechen freilich eine andere Sprache auch für die Zeit des Patriarchen Aleksij bis heute. 18 Vgl. Schäder, H.: Moskau, das 3. Rom, Hamburg 1929. 19 Der Wegfall der ekklesialen Funktion des Kaisers 1453 mit dem Fall Konstantinopels läßt in der Orthodoxie die Frage entstehen, ob und wer ein Konzil noch einberufen könnte! 20 A. a. O. 21 Vgl. etwa Knoll, August Maria: Kirche und scholastisches Naturrecht, Wien 1962.

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IV. Die Rezeption des Menschenrechts auf Religionsfreiheit in der katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil Die Unterscheidung von Kirche und Staat in den Rechtsbeziehungen war die Voraussetzung der Freiheit der Kirche. Von hier erst kann es zur Klärung des Verhältnisses von Kirche und Staat und zur Zusammenarbeit in erstrebenswerter Harmonie zwischen zwei Rechtsbereichen kommen. Das ist etwas ganz anderes als die Annahme einer Symphonia in der Orthodoxie. Entsprechend kommt es in der abendländischen Rechtsentwicklung zur getrennten Sicht des Kirchenmitglieds und des Staatsbürgers. Die Neoscholastik, Leo XIII. und auch Pius XII. haben unter Verwendung der Societas-perfecta-Lehre Kirche und Staat in ihren Bereichen vollberechtigt gegenübergestellt, um die Zuständigkeit und Freiheit der Kirche 22 und die Gemeinwohlpflicht des Staates hervorzuheben. Sie haben aber mit der Tradition in der Lehrentwicklung immer auch an den Eigenrechten der Gesellschaft und der menschlichen Person festgehalten. Zur Verbindung des gesellschaftlichen Freiheitsbegriffs und der Sicht des Staates zwar als Gesamtgesellschaft, aber in einem umfassenden gesellschaftlichen Pluralismus hat die katholische Soziallehre seit der Mitte des 19. Jahrhunderts viel beigetragen. 23 Dem Staat mit seinem Gewaltenmonopol verbunden durch das Gemeinwohl, eigenberechtigt durch das Freiheitsprinzip, entspricht die plurale Gesellschaft. Der Standort der Kirche aber ist die Gesellschaft mit ihrer Eigenberechtigung und ihrer eigenen Freiheit. Sie ist kein privater Verein und sie ist dem Einzelstaat gegenüber auch universal! 24 Der Staat ohne plurale Gesellschaft wäre aber totalitär. Zwischen Kirche und Staat ergibt sich prinzipiell Distanz, also in realiter jeweils eine adäquate Distanz aus dem Wesen und den Umständen dann. Auf dem Boden der abendländischen Entwicklung der Naturrechtslehre und der Freiheit der Kirche im Verhältnis zum Staat kommt es mit der Aufklärung und dem gesellschaftlich-weltanschaulichen Pluralismus zur Herausbildung des säkularen Rechtsstaates, der Bürger- und Menschenrechte, und stellt sich neu die Frage der Religions- und Gewissensfreiheit für Gesellschaft, Staat und Kirche als aktuelles Kapitel der Freiheitsgeschichte aus der Menschenwürde heraus. Nach dem Ringen um religiöse Toleranz erhebt sich die Grundfrage des Menschenrechts. Nach Roland Minnerath führt also der Weg des Fortschritts über die Toleranz zur Religionsfreiheit. 25 22 Die Kirche ist wie ein Staat, ihre Freiheit ist ontologisch aber auf Christus begründet! Vgl. Minnerath, Roland: Le droit de L'Eglise a la Liberte, Du Syllabus a Vatican 11, Paris 1982, insbes. 201 -204. 23 Vgl. den zit. Artikel von Gut, 8-10, und die dort angeführte Literatur, bes. auch Emst-Wolfgang Böckenförde! 24 Vgl. Weiler, Rudolf: Freie Kirche in freier Gesellschaft: Zum Prinzip der Religionsfreiheit, in: Glaube und Politik, Festschrift für Robert Prantner, Berlin 1991, 256-262. 25 A. a. 0., 125.

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Die Frage stand daher auf der Tagesordnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965). Die Antwort durch die Erklärung Über die Religionsfreiheit konnte am letzten Abstimmungstag, dem 7.12.1965, verabschiedet werden: De libertate religiosa. Zwei Standpunkte hatten sich entwickelt und standen zu lösen als Grundlage des Rechts der Menschen auf Religionsfreiheit. Die Wahrheit der Religion oder die Würde des Menschen. Kann der Irrtum im Gewissensspruch des Menschen über die religiöse Wahrheit ein Rechtsanspruch an die Öffentlichkeit sein oder soll er nur toleriert werden. Das Konzil hat sich hier für die Würde des Menschen und seines persönlichen Gewissens, auch im angenommenen Irrturns fall, entschieden. Möglich war dies, weil die staatliche Gewalt im Rechtsstaat konstitutionell begrenzt ist und nicht über die religiöse Wahrheitsfrage zu entscheiden hat. Er ist vielmehr auch nach dem Konzil dem politischen Prinzip von der freien Gesellschaft verpflichtet. 26 Herbert Schambeck behandelt die Gedanken und die Rechtsentwicklung um die Religionsfreiheit im Zusammenhang mit dem "Wandel im Begriff der Kirche". Das positive Recht könne sich ändern im Sinne eines Fortschritts in den Folgerungen. 27 Er sieht somit ungeschmälert in seiner Bedeutung die große Gestalt Papst Pius XII. 28 Ebensolches gelte in besonderem Maß der Enzyklika Johannes XXIII. Pacem in terris schon zur Zeit des Konzils mit der vollen Rezeption der Menschenrechte in die Lehre der Kirche und deren Wirkung auf die Konzilsberatungen. Ernst-Wolfgang Böckenförde 29 hebt in einer Ausgabe der Erklärung "Über die Religionsfreiheit", Dignitatis humanae personis, den sachlichen Kern hierbei nach der Naturrechtslehre, an der die Kirche ja in anderen Bereichen beharrlich festhielte, hervor: Subjekt der Religionsfreiheit sei der Mensch und nicht "die Wahrheit"! Der Fortschritt beim Konzil führe "vom Recht der Wahrheit" zum "Recht der Person". Die Kirche selbst habe in ihrem Verhältnis zur modemen Welt und ihrer spezifischen Ordnungsform, dem modemen Staat, einen neuen Orientierungspunkt gefunden! Damit stellt sich die Frage Kirche und Staat in der modemen säkularen und pluralen Gesellschaft mit neuen Konsequenzen. Im säkularen Staat wird nicht jede Form des Glaubens oder gar einer Religionsgemeinschaft abgelehnt. Dieser Staat ist nicht a-religiös. Der Staat ist vom Allgemeinwohl her am Beitrag von Religion und Kirche für die Kultur, für Moral und Sitte, im Erziehungswesen usw. interessiert und zur Förderung zuständig, 26 Vgl. Sebott S.J., Reinhold: Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, Rom 1977, 115 ff. und 132 ff. Sebott entwickelt die Vorgeschichte der von ihm im Vorwort als "eines der umstrittensten Themen" des Konzil bezeichneten Frage mit der Würdigung des nordamerikanischen Theologen John Courtney Murray. 27 Schambeck n, Die Kirche - Gottes Volk in der Welt, (151-158), 154 ff. 28 Schambeck n, Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der Lehre Papst Pius' XII., (169-188), insbes. hier 180. 29 Authentischer Text der AAS und Deutsche Übersetzung in: Auftrag der deutschen Bischöfe, Aschendorf, Münster, Westfalen 1968, 8 ff.

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aber unabhängig von Entscheidungen über die persönliche Überzeugung seiner Bürger, aus den Folgen für das Gemeinwohl.

v. Zur Umsetzungsgeschichte des Konzilsdekrets Setzt nach der heutigen Lehre der Kirche die Religionsfreiheit die Gewissensund Kultfreiheit jedes Menschen voraus, so auch die Freiheit, seinen Glauben öffentlich und privat zu lehren und zu verkünden und in angemessener Form Mission zu betreiben. Der Heilige Stuhl hatte anläßlich der Wiener KSZEFolgekonferenz in einem am 30.1.1987 in Wien von Mons. Audrys Backis, Untersekretär beim Rat für die öffentlichen Anliegen der Kirche, vorgetragenen Vorschlag seine Ansicht formuliert, was er im Detail für die volle Religionsfreiheit in einem Staat als unabdingbar ansieht: ,,1. Das Recht von Eltern, einen Glauben ihren Kindern weiterzuvermitte1n; 2. Respektierung religiöser Überzeugungen im weltlichen Erziehungswesen; 3. das Recht einer Person auf individuelle oder in Gruppen organisierte religiöse Erziehung; 4. das Recht jeder religiösen Gemeinschaft, ihre Geistlichen in eigenen Institutionen auszubilden; 5. das Recht religiöser Gemeinschaften auf Gottesdienst in respektierten Gebäuden; 6. das Recht auf offenen Austausch religiöser Information und den Erwerb von Schriften; 7. das Recht, zu religiösen Zwecken Medien einzurichten und zu anderen Medien Zugang zu haben; 8. das Recht, sich ungehindert zu versammeln, einschließlich Pilgerfahrten im 10- und Ausland; 9. das Recht auf Gleichbehandlung ohne Diskriminierung in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher oder kultureller Hinsicht; 10. das Recht jeder religiösen Gemeinschaft, sich nach eigenem Gutdünken zu organisieren. " Natürlich hat dies auch innerkirchliche Auswirkungen auf die Ausübung des Lehr- und Hirtenamtes und die Reinhaltung der kirchlichen Lehre in Glaubensund Sittenfragen, da sich die Kirche hier an ihre göttliChe Verfassung und Sendung gebunden weiß. Das betrifft auch die Gläubigen und ihren Glaubensgehorsam hinsichtlich der kirchlichen Lehrautorität und deren Funktion bei der Gewissensbildung jedes Gläubigen. Das letzte Konzil hat sich vor allem pastoral verstanden mit der Aufgabe, den Herausforderungen der Zeit zu entsprechen. Es besteht die

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Gefahr hierbei, daß im Mißverständnis. über das Wesen der Kirche mit dem Maßstab bürgerlicher Rechtsvorstellungen und indifferentistischer relativistischer Wertvorstellungen in Staat und Gesellschaft an kirchliche ,,Erneuerung" herangegangen würde. Bischof Kurt Krenn schreibt dazu in einem Artikel Die Auferstehung der Kirche in Osteuropa: 30 "Der erste Schritt zu einer Erneuerung der Kirche liegt in der Erkenntnis, daß das Eintauchen der Kirche in die Welt der Gleichsetzungen eine vielfache Gefahr zur ,Gnosis' ist. Der Endpunkt der Gnosis ist immer das Ende des Glaubens. Die Kenosis der Kirche in Osteuropa in den letzten Jahrzehnten hat erwiesen, daß die Kirche ohne Gleichsetzungen, ohne Anpassung, ohne Strategie und ausgebautes Instrumentarium bestehen kann, wenn sie im Geheimnis Christi erfahren hat, daß Leiden, Sterben und Auferstehung eine einzige bleibende Gegenwart im Heilswirken Gottes sind. Der Glaube muß die Gegenwärtigkeit des Ganzen dessen sein, was Jesus Christus ist, lehrt und wirkt." Kurt Krenn geht es darum, im Verhältnis der Kirche zur modemen Gesellschaft ihre Identität mit ihrem innersten Wesen, dem Mysterium Christi beizubehalten und daraus, vom Evangelium her in der Welt präsent zu sein. Die staatsrechtliche Interpretation und Sicherung der Religionsfreiheit genügt der Kirche noch nicht, um die Sendung ihres göttlichen Stifters an der Welt zu erfüllen: Verkündigung des Evangeliums schließt seine Inkulturation ein, religiös, sittlich und rechtlich. Evangelisierung bedeutet mehr als eine Bürgerrechtsbewegung. 31 Freilich steht dieser Einfluß auf die Kultur - personal wie gesellschaftlich! - unter dem Anspruch des Evangeliums dessen, der von sich sagen kann: ich bin die Wahrheit und das Leben. Dieser Wahrheitsanspruch an das Gewissen, das durch die gelebte Kultur auch soziale Wirkung hat, gilt in der Zeit der "Kenosis der Kirche" ebenso wie umso mehr als Pflicht zur Evangelisation der Gesellschaft in Zeiten freien religiösen Lebens. Falsch wäre es sicher, zum Instrument des Staatskirchentums zurückzukehren zu wollen, wie es von orthodoxen und staatlichen Kreisen heute in Rußland wieder allenthalben erstrebt wird. 32 Zum Problem der "Staatsreligion", in der europäischen Kirchengeschichte ein Faktum mit langer unterschiedlicher Tradition, hat sich einer der am Dokument an seiner Vorbereitung beteiligten Konzilstheologen im nachfolgenden Kommentar richtungweisend geäußert, Pietro Pavan: 33 Die Staatsgewalt habe aus Gründen des Gemeinwohls den Bürgern zur Ausübung ihrer Rechte und zur Erfüllung ihrer Pflichten im religiösen Bereich beizutragen. Dabei kann und soll die Staats30

In: Ethos 1993 Sonderausgabe Nr. I, (117-129),128.

Vgl. Krenn. So hat das russische Parlament am 14. Juli 1993 ein Gesetz beschlossen, das ,,Ausländern" ohne staatliche Akkreditierung die öffentliche religiöse Tätigkeit verbietet! 33 Die wesentlichen Elemente des Rechts auf Religionsfreiheit, in: Die Konzilserklärung Über die Religionsfreiheit, Text mit Kommentaren, hrsg. von Hamer OP, Jerome und Congar OP, Yves, Paderbom 1967, (167-225), 204. 31

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gewalt "auch ihr besonderes Interesse der Religion der großen Mehrheit der Bürger oder der Religion wichtiger Gruppen zuwenden; ... nicht ohne Auswirkungen auf die Rechtsordnung des Staates, wobei der betreffenden Religion dann eine besondere rechtliche Stellung zuerkannt wird." Besonders hinsichtlich des Gemeinwohls ergibt sich für die Staatsgewalt, aber auch für die Kirche zur Erfüllung ihres Heilsauftrags die Trennung von Politischem und Nichtpolitischem, von Kirche und Welt durch die Garantie der Bürgerrechte. Erst so kann, nach einem Wort Herbert Schambecks 34 , die "Weltverantwortung des Katholizismus im Zusammen von Lehramt der Kirche und dem Laienapostolat mit seinem speziellen Weltauftrag fruchtbar werden, ohne das Bekenntnis des Glaubens zu verpolitisieren oder zur Entkonfessionalisierung der Politik" beizutragen. Damit tritt erneut für die Gemeinwohlkultur der Gesellschaft die jeweilige eigene Rolle und Aufgabe von Kirche und Staat zur Regelung ihrer Beziehungen hervor, die traditionell in der abendländischen Rechtsgeschichte durch Staatsverträge oder Konkordate für die katholische Kirche zur Wahrung ihrer Aufgaben und ihrer Unabhängigkeit geschlossen werden. Es erhebt sich die Frage, ob es heute nicht eine "Krise der Konkordate" gäbe. Es gibt Kreise, die die Wurzel einer solchen Krise im System des "Konstantinianismus" sehen, unter Rückführung auf die Kirchenpolitik der (ost)römischen Kaiser seit Konstantin dem Großen. 35 Durch das Zweite Vatikanische Konzil kommt es zu einer kirchenrechtlichen Aufwertung des Laienstandes, zu einer Öffnung der Kirche und zu einer Entwicklung des Trennungsverhältnisses von Kirche und Staat. Mit der Annahme des Pluralismus der Gesellschaft auch im weltanschaulich-religiösen Bereich entfällt aber nicht der Auftrag der Kirche zur Evangelisierung und die Aufgabe auch des modemen Staates für die Sicherung religiöser Kultur. Auch nach dem Konzil geht es von beiden Seiten her um die beidseits wertvolle Nutzung des Rechtsinstituts der Konkordate. Es dient nicht nur im Bezug auf individuelle innerstaatliche Rechte, es ist auch sozial innerstaatlich und auch im Bereich der internationalen Beziehungen sehr bedeutsam. Man bedenke die Sicherung des Rahmens der Autonomie der Religionsgemeinschaften in den Staaten und der Völkergemeinschaft, die auch für die kollektiven religiösen Interessen im Rahmen der Religionsfreiheit erfolgt und von einer rechtlichen Gleichberechtigung der Konfessionen und Religionen ausgeht. Aus der österreichischen Erfahrung mit dem bestehenden Konkordat hat Herbert Schambeck 36 dazu auch wertvolle Hinweise erarbeitet. Vor allem zeigt er die Wahrnehmung der staatlichen Unterrichtshoheit hier gegenüber dem ReliSchambeck n, Kirche und Demokratie, (71-95),93. Vgl. CasusceIli, Giuseppe: Concordati, Intese e Pluralismo Confessionale Milano 1974, 15 ff. ' 36 Kirche und Staat in Österreich, in: Schambeck 11, 189-193. 34

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gionsunterricht und weist auf die Stellung privater Bekenntnisschulen hin oder spricht die Militärseelsorge an. Die Lehre der Kirche mit ethischen Ansprüchen an das Gewissen trifft auf die Pluralität der Gesellschaft. Dies wirft natürlich auch Fragen für die Haltung der Kirche politischen Parteien gegenüber auf, wo es um Gewissenskonflikte geht. Dennoch plädiert Schambeck völlig zurecht für ein "geordnetes Verhältnis in staats- und völkerrechtlicher Sicht", nämlich für ein Konkordat, würde doch die Kirche auch heute den Staat prägen. 37

VI. Inkulturation des Evangeliums Den Auftrag, das Evangelium mit der Kultur im Vorgang der Inkulturation nach Ort und Zeit heute zu verbinden, schließt die Möglichkeit, um nicht zu sagen Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Positionen im rechtlichen und morali sehen Bereich zwischen Staat und Kirche mit ein. Hier mag es "überholte und unhaltbare Positionen der kirchlichen Lehre" geben, die nach Ernst-Wolfgang Böckenförde aufzugeben sind, "ohne doch den Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens in Frage zu stellen". 38 Der Abschluß neuer Konkordate nach dem Konzil bestätigt das zum Beispiel im Falle Italiens und Spaniens. Insoferne hat die von Böckenförde 39 hervorgehobene neue Sicht der individuellen Freiheitsrechte durch die katholische Kirche ihre Wirkung gehabt. Bzw. war es eine Fortwirkung, wie Minnerath betont, der Naturrechtstradition von der christlichen Menschenwürde. 40 Ungeschmälert bleibt aber die Welt- und Gesellschafisverantwortung der Kirche und die Bedeutung des vor allem durch das Laienelement getragenen Katholizismus. 41 Für die Staatsgewalt geht es in ihrer Gemeinwohlverantwortung auch darum, die Bedingungen für die (neue) Evangelisierung als säkularer Staat im weltlichen Pluralismus auf dem Boden der Grundrechte heute zu garantieren. Für die Kulturhöhe des Gemeinwohls einschließlich der politischen Kultur bietet die Religion stets Bindung, Antrieb, Hingabe und Ausdauer und ist Quelle von Opferkraft entgegen ökonomistisch-materialistischer Einstellung! 42 Diese Kulturkraft des Religiösen gedeiht nicht im konfessionalistischen Streit, sondern in einer Ökumene der zutiefst menschlichen Werte aus Glaubenskraft, der die Religionsfreiheit den Boden bereitet. A. a. 0., 192. A. a. 0., 5. 39 A. a. O. 40 A. a. O. 41 Schambeck II hat hierzu wertvolle Hinweise geboten, im Hinweis etwa auf die "Weltverantwortung des Katholizismus", o. a. Sammelband ,,Die Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche", 114-126. Ein konkretes Beispiel ist der Artikel ,,Die Verantwortung des Gesetzgebers und der Schutz des ungeborenen Lebens", 194-203. 42 Vgl. das eindrucksvolle Kapitel in Johannes Messners immer noch aktueller Kulturethik, Innsbruck 1954, Kultur als Lebensform, die Religion, 376-395, insbes. 379 f. unter Bezug auf C. Dawson, Religion and Culture. 37 38

111. Verfassungsrecht

1. Allgemeines Verfassungs recht

22 Festschrift Schambeck

DER FREIHEITS BEGRIFF DES "MATERIELLEN GRUNDRECHTSVERSTÄNDNISSES" Von Walter Berka

I. Im wissenschaftlichen Werk des Jubilars nimmt die Beschäftigung mit den Grundrechten einen zentralen Platz ein. In eindrucksvollen Analysen wurde die Stellung der Grundrechte im demokratische~Verfassungsstaat beleuchtet, wurden die Zusammenhänge zwischen dem Sozialstaat und den Grundrechten aufgezeigt und wurde die Frage nach dem dahinter stehenden Menschenbild aufgeworfen 1. Weil sich Herbert Schambeck dabei stets einem wertbezogenen Verständnis der Grundrechte verpflichtet wußte, mußte es auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der älteren Judikatur des VfGH kommen. Ihr wurde zum Vorwurf gemacht, daß sie "zum Neutralismus und Relativismus der Werte" geführt und die "Bedeutung der Grundrechte als allgemeine Wertentscheidungen" nicht ausreichend beachtet habe 2. Von diesem Ausgangspunkt ausgehend hat Herbert Schambeck den markanten Wandel in der Grundrechtsjudikatur anfangs der 80iger Jahre mit Zustimmung registriert, ja sogar von einer ,,Aufbruchsstimmung" in der Grundrechtsdogmatik gesprochen, die in dieser Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden habe 3• Die Staatsrechtslehre hat diese neuere Judikatur mit dem Prädikat eines "materiellen Grundrechtsverständnisses" versehen; auch von einem neuen, wertbewußten Grundrechtsverständnis ist die Rede sowie von einer ,,Entformalisierung der Judikatur" und einer ihr eigenen verstärkten Rechtsinhaltsbetrachtung 4 • Bekannt 1 Vgl Sclulmbeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: MessnerPS (1976) 445; ders, Grundrechte und Sozialordnung (1969) 107; ders, Menschenbild und Menschenrechte im österreichischen Verfassungsrecht, in: Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs (1983) 57. 2 Sclulmbeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, JBI 1980, 225 (233 ff.). 3 Vgl Schambeck, Zur Theorie und Interpretation der Grundrechte in Österreich, in: Machacek-Pahr-Stadler (Hrsg), 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Österreich (1991) 83 (95). 4 Vgl in diesem Sinne Sclulmbeck, Theorie und Interpretation (Pn 3) 89 ff.; vgl ferner weitgehend übereinstimmend die übrige Literatur: zB Nowak, Lebendiges Verfassungsrecht (1986), JB11990, 621 (624); ders, Lebendiges Verfassungsrecht (1988), JB11992,

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sind auch die wesentlichsten Ausprägungen dieses neuen Grundrechtsverständnisses, die in der jüngeren Literatur mehrfach herausgearbeitet wurden s; So drückt sich beispielsweise das materielle Grundrechtsverständnis in der Judikatur zum Gleichheitssatz aus, die Entscheidungen des Gesetzgebers einer Prüfung nach Sachlichkeitsgesichtspunkten unterwirft, welche Wertungsfragen nicht mehr ausspart 6 • Es kommt auf der methodischen Ebene der Grundrechtsinterpretation zum Tragen, die sich verstärkt der teleologischen Interpretation bedient 7 • Es zeigt sich bei den umfassenden Abwägungspflichten, zu denen Gesetzgeber und Vollziehung durch die neuere Judikatur verpflichtet werdenS. Vor allem anderen drückt sich das neue Grundrechtsverständnis aber im Wandel von einer formellen zu einer materiellen Sicht der Gesetzesvorbehalte aus 9 , der dazu geführt hat, daß die grundrechtlichen Schranken nicht mehr nur nach Maßgabe des formalen Prinzips der Gesetzmäßigkeit, sondern nach inhaltlichen Maßstäben beurteilt werden müssen. Mit den Schranken der Freiheit hängt der Begriff der Freiheit untrennbar zusammen. Deshalb soll im folgenden geprüft werden, ob das ,,materielle Grundrechtsverständnis" auch in dem Begriff der grundrechtlichen Freiheit ihren Niederschlag fmdet, wie er den Freiheitsrechten des österreichischen Verfassungsrechts zugrunde liegt. Als Ausgangspunkt für diese Fragestellung bietet sich dabei jenes ,.klassisch-liberale" Grundrechtsverständnis der Entstehungszeit des StGG an, zu dem sich der VfGH noch in den 70-iger Jahren bekannt hat lO •

481; Schäfter, Hauptströmungen des österreichischen Verfassungsrechts in bezug auf das Sozialversicherungsrecht, in: Tomandl (Hrsg), Verfassungsrechtliche Probleme des Sozialversicherungsrechts (1988) 1 (4 ff.); Wenger, Grundriß des österreichischen Wirtschaftsrechts I (1989) Rz 242; Korinek, Entwicklungstendenzen in der Grundrechtsjudikatur des Verfassungsgerichtshofes (1992) 6, 10; H oloubek, Die Interpretation der Grundrechte in der jüngeren Judikatur des VfGl!, in: Machacek-Pahr-Stadler (Hrsg), 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Osterreich (1991) 43; Funk, Bericht Osterreich, in: Battis-Mahrenholz-Tsatsos (Hrsg), Das Grundgesetz im internationalen Zusammenhang der Verfassungen (1990) 53 (67) ua. 5 Vgl Korinek, Entwicklungstendenzen (Fn 4); Holoubek, Interpretation der Grundrechte (Fn 4) 43; Pernthaler, Raumordnung und Verfassung 1lI (1990) 392 ff. 6 Vgl Korinek, Entwicklungstendenzen (Fn 4) 13; Korinek-Holoubek, Gleichheitsgrundsatz und Abgabenrecht, in: Gassner-Lechner (Hrsg), Steuerbilanzreform und Verfassungsrecht (1991) 73 (82 ff.). 7 Vgl Schambeck, Theorie und Interpretation (Fn 3) 87; Korinek, Zur lnterpretation von Verfassungsrecht, in: Walter-FS (1991) 363 (380 ff.); Schlag, Einige Uberlegungen zur Struktur fmaler Grundrechtsnormen, JBI 1991,545 (551). S Vgl mwN Berka, Das "eingriffsnahe Gesetz" und die grundrechtliche Interessenabwägung, in: Walter-FS (1991) 37. 9 So Schambeck, Theorie und Interpretation (Fn 3) 90; Korinek, Entwicklungstendenzen (Fn 4) 11. 10 Vgl VfSlg 7400/1974 Fristenlösung, VfSlg 8136/1977 - UOG.

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ll. Der Begriff der Freiheit hat sich im 19. Jahrhundert aus dem Gegensatz zu den ständischen libertates entwickelt, der in der Gegenüberstellung der konservativen ,,Freiheiten" und der liberalen "Freiheit" seinen Ausdruck fand. Die ,,moderne" politische Freiheit als Singularbegriff war dabei auf eine umfassende Autonomie des Individuums in der Gesellschaft ausgerichtet, die im einheitlich organisierten Staat ihre Sicherung finden sollte 11. Um die Selbstbestimmung innerhalb der dem Staat gegenüberstehenden Gesellschaft zu gewährleisten, sollte diese Freiheit in der Form einer umfassenden Handlungsfreiheit verbürgt werden. Die in den Verfassungen kodifizierten Grundrechte bezogen sich demgegenüber auf einzelne historische Freiheitsbedrohungen. Zur verfassungsrechtlichen Wirksamkeit gelangt, verloren sie allerdings im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihren konkret-geschichtlichen Zusammenhang. Für die liberale Rechtsstaatslehre des späten 19. Jahrhunderts waren sie bereits in dem allgemeinen Freiheitsrecht des status negativus aufgegangen. Dieser stand für eine allgemeine Handlungsfreiheit, die nach dem Durchbruch des Gesetzmäßigkeitsprinzips auf die historischen Erfahrungen der Grundfreiheiten nicht mehr angewiesen war l2 • Am eindrucksvollsten hat G. Jellinek diesen Sachverhalt beschrieben, wenn er in seinem System der subjektiven öffentlichen Rechte die Freiheitsrechte der Verfassungen auf den Begriff einer umfassenden Freiheit brachte, von der es heißt: "Prüft man nun diese Freiheit (gemeint ist der status negativus der Grundrechte) ihrer juristischen Seite nach, so ergibt sich, daß sie identisch ist mit den für den Staat rechtlich irrelevanten Handlungen der Subjizierten. Wenn kraft der Pressefreiheit jemand eine Druckschrift veröffentlicht, so ist das ein Vorgang, der als solcher ... niemandes, namentlich aber nicht des Staates Recht tangiert, der mit dem Genusse des eigenen Weines, dem Spazierengehen auf eigenem Grundstücke auf gleicher Linie steht." Denn "alle Freiheit ist einfach Freiheit von gesetzwidrigem Zwang" 13.

So einen Begriff der Freiheit kann man mit Recht als einen formalen Begriff der Freiheit bezeichnen, weil hier die einzelnen benannten Grundrechte in der einen Freiheit aufgehen, vom Staat nicht in einer gesetzlich nicht gedeckten Art und Weise in Anspruch genommen zu werden. Eine solche Freiheit ist als allgemeine Handlungsfreiheit umfassend, aber inhaltsleer. Eine solche Freiheit kann auch nur mehr von ihren Grenzen her beschrieben werden, denn das, was die einzelnen benannten Grundrechte schützen, geht in der allgemeinen Legalität 11 Vg1 Dipper, Artikel Freiheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 11 (1975) 488 ff. 12 Vg1 dazu Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz (1982) 51 ff. 13 G. lellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Neudruck der 2. Aufl Tübingen 1919 (1964) 104.

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auf und erscheint bestenfalls als historische Reminiszenz an überwundene Gefährdungen. Als Freiheit vor gesetzwidrigem Zwang ist sie sachlich umfassend, aber ohne materiellen Gehalt. Für die ältere Grundrechtsjudikatur des VfGH läßt sich gleiches sagen: Zwar sind die einzelnen benannten Freiheitsrechte maßgeblich geblieben, weil sie als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte den Zugang zur Verfassungsgerichtsbarkeit eröffneten. Doch die gewährleistete Freiheit selbst wurde nur von den Schranken her sichtbar, weil sie zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stand und weil nur der gesetzlose (denkunmögliche) Eingriff das Grundrecht verletzten konnte. Auf diese Weise bedingten sich der Freiheitsbegriff und die Grundrechtsschranken wechselseitig: Als formale Freiheit begriffen konnte sie dem Grundrechtseingriff keine inhaltlichen Grenzen setzen, so wie den Gesetzesvorbehalten keine inhaltlichen Bindung des schrankenziehenden Gesetzes entnommen werden konnte.

III. Im folgenden soll die These belegt werden, daß sich unter dem Vorzeichen eines materiellen Grundrechtsverständnisses auch der Begriff der grundrechtlichen Freiheit gewandelt hat. Dies zeigt sich in verschiedenen dogmatischen Zusammenhängen. Die neue Sicht der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, die durchgängig als materielle Gesetzesvorbehalte begriffen werden, hat zur Folge, daß die gesetzlichen Schranken der Freiheit am Maßstab der Verhältnismäßigkeit gemessen werden müssen. Sie sind nur dann und soweit legitim, wenn sie - um die für die Erwerbsfreiheit geprägte Formel aufzugreifen - durch das öffentliche Interesse geboten, geeignet, zur Zielerreichung adäquat und auch sonst sachlich zu rechtfertigen sind 14. Gleiches gilt auch für die Rechte der MRK, in die der Gesetzgeber nur dann eingreifen darf, wenn der Eingriff einem ausgewiesenen öffentlichen oder privaten Interesses dient und zur Erreichung dieses Zwecks "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist"15. Der Gesetzgeber ist daher gehalten, einen materiellen Ausgleich zwischen den gewährleisteten Freiheiten und den entgegenstehenden Gemeinwohlinteressen anzustreben. Dieser Ausgleich setzt aber voraus, daß in die Güterabwägung eine Freiheit eingestellt werden kann, die einen Eigenwert hat, der sich in einer besonderen ,,Bedeutung und Funktion"16 der Freiheit in der demokratischen Gesellschaft ausdrücken kann. Dies gilt für alle mit dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit verbundenen Prüfungsschritte. So setzt bereits die Frage nach dem mildesten, zur Erreichung 14 Vgl zB VfSlg 11.483/1987 - Güterbeförderung. 15 Vgl zB VfSlg 11.314/1987 - Verbreitungsbeschränkungen. 16 So VfSlg 11.996/1989 - unkollegialer Ziviltechniker.

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eines angestrebten Zwecks erforderlichen Mittels voraus, daß die Schwere des Eingriffs im Lichte der Freiheit bewertet wird: Daß die Festlegung von Sperrzeiten durch ein Verwaltungsorgan in diesem Sinn unverhältnismäßig ist, wird erst deutlich, wenn man die eigenverantwortliche Gestaltung der Ladenschlußzeiten als ein milderes Mittel qualifiziert, weil die unternehmerische Dispositionsfreiheit ein Ausdruck der gewährleisteten Freiheit ist 17. Noch viel deutlicher wird dieser Umstand bei der eigentlichen Abwägungsentscheidung, dh der Überprüfung der Angemessenheit des Eingriffs. Denn da es eine übergreifende Wertrangordnung zwischen den grundrechtlich geschützten Werten und den anderen Gemeinwohlinteressen nicht gibt, muß das "Gewicht" der Freiheit, um die es geht durch eine Wertung im Einzelfall bestimmt werden. Diese Wertung setzt voraus, daß den Freiheiten bestimmte "Bedeutungen und Funktionen" zugeordnet werden. Daher kann die Bestrafung wegen einer bestimmten Meinungsäußerung deshalb als unverhältnismäßig bewertet werden, weil eine demokratische Gesellschaft auf Pluralität, Toleranz und Freiheit beruht, die durch die Meinungsfreiheit geschützt werden 18. Was sich am Beispiel der Schrankenziehung zeigt, kommt aber auch bei der tatbestandlichen Abgrenzung der Freiheitsrechte zum Tragen. Daß auch kommerzielle Werbung eine Form der grundrechtlich geschützten Meinungsäußerungsfreiheit ist 19 und daß die Eigentumsgarantie auch die Privatautonomie umfaßt 20 oder daß auch bloße Vertriebsbeschränkungen in die Pressefreiheit eingreifen 21 , versteht sich jeweils nicht von selbst. Begründen lassen sich solche Auslegungsergebnisse nur aus einer teleologischen Interpretation, die nach dem Sinn und Zweck der einzelnen Freiheiten fragt: Liegt der Sinn des Art 10 MRK in der umfassenden Gewährleistung freiheitlicher Kommunikationsbedingungen, rechtfertigt das auch die Einbeziehung der Werbung, selbst wenn sie historisch nicht von der Garantie erfaßt war. Und wenn der Zweck des Art 8 MRK darin liegt, daß die ,,Privatheit des Lebens" schlechthin gewährleistet ist, schützt dieses Grundrecht auch vor atypischen Eingriffen, wie zB dem Erschließen einer Steuerquelle 22. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn sich der Begriff des Grundrechtseingriffes selbst ändert. Für die ältere Judikatur war es kennzeichnend, daß als Eingriff immer nur jenes hoheitliche Handeln gewertet wurde, das mit Befehl und Zwang gezielt und direkt in einen Freiheitsbereich eingriff. Nunmehr wird auch der Effekt einer grundrechtsbeschränkenden Maßnahme mit ins Kalkül gezogen, wie

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VfSlg 11.558/1987 - Sperrhalbtag I. Vgl VfSlg 10.700/1985 - Winterstein. VfSlg 10.948/1986 - Ganze Woche. VfSlg 12.227/1989 - Erdöl-BevorratungsG. VfSlg 11.314/1987 - Verbreitungsbeschränkungen. VfSlg 12.689/1991 - Videoabgabe.

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sich dies deutlich in den Entscheidungen zur Kunstfreiheitsgarantie 23 oder den straßenverkehrsrechtlichen Bewilligungspflichten zeigt 24, in denen auch nichtintentionale Schranken und Eingriffe am jeweiligen Grundrecht gemessen werden. Auch hier ist es wiederum der Sinn und Zweck einer gewährleisteten Freiheit, der in der Rechtsanwendung zum Tragen kommt. Ein bestimmtes inhaltliches Freiheitsverständnis zeigt sich schließlich dort, wo aus einem gewährleisten Grundrecht positive Handlungspflichten abgeleitet werden. Ein Beispiel dafür ist der Anspruch auf Rückübereignung bei zweckverfehlender Enteignung, der aus dem Wesensgehalt der Eigentumsgarantie folgt25. Auch die grundrechtlichen Schutzpflichten kann man dazu rechnen, die aus Freiheitsrechten abgeleitet werden können, die nach dem bisherigen Verständnis Rechte des status negativus waren 26 • Denn jede Handlungspflicht setzt ein bestimmtes Ziel des Handelns voraus: So läßt sich die dem Staat obliegende Schutzpflicht bei Demonstrationen mit der Erwägung begründen, daß die Versammlungsfreiheit prinzipiell den friedlichen Verlauf von erlaubten Demonstrationen gewährleiste. Was diese Beispiele verbindet ist der Umstand, daß der Grundrechtsschutz auf einen vorausgesetzten Begriff der Freiheit aufbaut, der in der Abwägungsentscheidung, der Interpretation des grundrechtlichen Schutzbereichs, bei der QualifIkation des Grundrechtseingriffs und bei der Ableitung von Handlungspflichten zum Tragen kommt. In diesem Sinne kommt der jeweiligen Freiheit ein Eigenwert zu, der in die Rechtsanwendung einfließt. Die grundrechtlichen Freiheiten werden damit nicht mehr von ihren Schranken her konkretisiert, sondern von ihrem sachlichen Gehalt, der sich auf bestimmte Lebensbereiche und Zustände bezieht, in denen sich von Verfassungs wegen eine freiheitliche Ordnung verwirklichen soll. Die damit angesprochene Vorstellung von einer dem Grundrecht vorausgesetzten freiheitlichen Ordnung kommt bei einzelnen Grundrechten ganz deutlich zum Ausdruck, wie sich das etwa bei der Erwerbsfreiheit zeigen läßt. Solange die Erwerbsfreiheit durch einen nur formalen Gesetzesvorbehalt bestimmt war, war die Freiheit ohne einen eigenständigen sachlichen Gehalt, weil sie der einfache Gesetzgeber ohne nähere Bindung gestalten und begrenzen konnte. Daher war es auch durchaus folgerichtig, wenn der VfGH alle Versuche zurückwies, diesem Grundrecht irgendwelche ordnungspolitischen Entscheidungen zu unterstellen, ob es sich um die Grundsätze einer freien Marktwirtschaft 27 oder um die Grundsät23 Vgl VfSlg 11.567/1987 und VfSlg 11.737/1988; dazu Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip und Grundrechtsschutz in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs und des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (1991) 113 ff. 24 VfSlg 11.651/1988 Informationstische. 25 VfSlg 8981/1980 - Rückübereignung. 26 VfSlg 12.501/1990 Hosi. 27 Vgl VfSlg 5831/1968, 5966/1969.

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ze einer sozialen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 28 gehandelt hatte. Mit dem Durchbruch des Verhältnismäßigkeitsprinzips erlangte die gewährleiste Freiheit jenen bereits oben beschrieben Eigenwert, der in der Abwägungsentscheidung zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne hatte bereits Korinek von dem "Bild" eines Wirtschaftssystems gesprochen, das dem Verfassungsgesetzgeber "vor Augen stand", als er das Grundrecht der freien Erwerbsbetätigung verfassungsrechtlich garantierte 29 • In der Judikatur des VfGH fand diese Vorstellung im Konzept eines "freien Wettbewerbs" ihr Entsprechung: Danach habe die Erwerbsfreiheit prinzipiell "einen freien Wettbewerb und damit einen Konkurrenzkampf zur Folge", die "vom Verfassungsgesetzgeber ... mitgedacht" seien 30• Damit wird das Grundrecht ganz deutlich auf eine bestimmte Ordnungsvorstellung bezogen, die der Grundrechtsgewährleistung ihren Sinn und Zweck gibt: Die mit einem funktionsfähigen Wettbewerb verbundenen Erwartungen, etwa die Sicherung einer funktionsgerechten Einkommensverteilung nach Marktprinzipien oder die Allokationsfunktion des Wettbewerbs, konnten in der Rechtskonkretisierung weiter entfaltet werden 31 ; die Funktionsbedingungen des Wettbewerbs, wie zB die Sicherung untemehmerischer Dispositionsfreiheit, konnten als eigenständige Gewährleistungsinhalte gedeutet werden 32; die Differenzierungen der Judikatur zu Art 6 StGG, wie sie etwa in der Unterscheidung zwischen Erwerbsantritt und Erwerbsausübung oder zwischen subjektiven und objektiven Zulassungsbedingungen zum Ausdruck kommt 33, gewannen ihre Überzeugungskraft vor dem Hintergrund dieser Ordnungsvorstellungen 34. Auf ein ähnliches Denken in Ordnungskategorien stößt man aber auch bei der Meinungsfreiheit: So deutet bereits die seit einigen Jahren in der Judikatur verwendete Bezeichnung "Kommunikationsfreiheit" an, daß der Gerichtshof die einzelnen in den Artikeln 13 StGG und 10 MRK verankerten Ansprüche in einem größeren funktionalen Zusammenhang sieht, der - vergleichbar der in Art 6 StGG vorausgesetzten Wettbewerbsordnung - als Ausdruck einer freiheitlichen Kommunikationsordnung verstanden werden kann. Sie ist der Bezugspunkt für die vom VfGH explizit angekündigte "weite Auslegung des Schutzumfanges des Art 10 MRK", die der Tendenz nach alle Formen und Funktionen von Kommunikation umschließt und deren Ziel die umfassende Gewährleistung offener Kommunikationsprozesse ist 35 • Vgl VfSlg 4753/1964. Vgl Korinek, Das Grundrecht der Freiheit der Erwerbsbetätigung als Schranke für die Wirtschaftslenkung, in: Wenger-FS (1983) 243 (259). 30 Vgl VfSlg 11.483/1987, 11.625/1988, 11.749/1988. 31 Vgl zB die Rechtsprechung zu den Mindesthonoraren der Ziviltechniker VfSlg 12.481 /1990. 32 Vgl zB das Erkenntnis zum NahversorgungsG VfSlg 12.379/1990. 33 Vgl Grabenwarter, Die Freiheit der ErwerbsbetätigunS! in: Machacek-Pahr-Stadler (Hrsg), 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Osterreich (1992) 553 (563). 34 Vgl dazu mit weiteren Beispielen Grabenwarter, Erwerbsbetätigung (Fn 34) 612 ff. 35 Vgl VfSlg 10.948/1986 Ganze Woche, 11.297/1987 - Informationsfreiheit. 28

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Den verfassungsgesetzlich gewährleisten Rechten liegen damit bestimmte durch das jeweilige Grundrecht verbürgte freiheitliche Ordnungen zugrunde. Es sind bestimmte, sachlich strukturierte Lebensbereiche und Zustände, die in der Rechtskonkretisierung zum Tragen kommen. Insofern unterscheidet sich der Begriff der grundrechtlichen Freiheit von der formalen Freiheit, wie sie zB bei G. Jellinek sichtbar wurde. Denn diese Freiheiten sind nicht indifferente Freiheiten von gesetzwidrigem Zwang, sondern je für sich stehende, durch sachliche Gehalte geprägte Verbürgungen freiheitlicher Ordnungen. Insofern kann man auch tatsächlich von materiellen Freiheiten sprechen, die in der jüngeren Grundrechtsjudikatur ihren Niederschlag finden.

IV. Das Grundrechtsdenken und damit auch die Grundrechtsjudikatur sind freilich vielschichtig. Das zeigt sich daran, daß es in der Judikatur auch noch eine traditionelle Linie gibt, die neben dem bisher beschriebenen materiellen Grundrechtsverständnis ihren Platz hat. Das soll am Beispiel einer Entscheidung verdeutlicht werden, in der der Gerichtshof Grundrechtsschutz gewährt hat, ohne daß ein benanntes materielles Grundrecht zur Verfügung stand. In diesem Fall waren Sicherheitswachebeamte ohne gesetzliche Grundlage in eine Garage eingedrungen, aus der sie verdächtige Arbeitsgeräusche gehört hatten. Grundrechtlich betrachtet schied die Berufung auf das Hausrecht aus, weil keine Durchsuchung stattfand; auch Art 8 MRK konnte wegen der fehlenden Wohnungsqualität der behördlich besichtigen Räume nicht zum Tragen kommen. Der VfGH wertete das behördliche Vorgehen als grundrechtswidrig, weil die Beamten das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichheit durch ihr gesetzloses und daher willkürliches Handeln verletzt hatten 36. Im Ergebnis läuft eine solche Entscheidung auf die Annahme eines grundrechtlichen Schutzes der allgemeinen Handlungsfreiheit hinaus, die immer dann verletzt wird, wenn ein gesetzloses Handeln der öffentlichen Gewalt vorliegt, wobei wohl auch hier die Denkunmöglichkeit der Gesetzlosigkeit gleichzuhalten ist. Sachlich geschützt wird damit die Freiheit des Bürgers schlechthin, wie dies in der Logik einer allgemeinen Handlungsfreiheit liegt37: Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich das in Art 2 Abs 1 GG verankerte Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung als Gewährleistung einer allgemeinen Handlungsfreiheit gedeutet, die jedes menschliche Handeln schützt, daher etwa 36

Vgl VfSlg 12.135/1989.

37 Auch im Rahmen eines Gesetzprüfungsverfahrens kann der Gleichheitssatz als

Ersatz für eine fehlende allgemeine Handlungsfreiheit herangezogen werden; vgl VfSlg 11.917/1988.

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auch das Taubenfüttem 38 , das Reiten im Wald 39 oder den Betrieb einer Mitfahrzentrale 40 - gerade so wie G. Jellinek vom Genuß des eigenen Weins oder dem Spazierengehen auf dem eigenen Grundstück sprach. Auch wenn man diese Rechtsprechung als eine ,,Banalisierung" der Grundrechte kritisiert hat 4 !, hält das BVerfG an ihr fest und auch in der Schweizer Verfassungsrechtsprechung zeigt sich ein vergleichbares Bemühen um ein Auffanggrundrecht, das mithilft, Lücken im Grundrechtsschutz zu schließen 42 . Der Judikatur des VfGH liegt wohl das gleiche Bedürfnis zugrunde, effektiven Grundrechtsschutz auch dort zu gewähren, wo andere Grundrechte nicht zu Verfügung stehen. Was hier geschützt wird ist aber nicht die materielle Freiheit in dem zuvor entwickelten Sinn. Vielmehr ist die im Willkürverbot verankerte allgemeine Eingriffsfreiheit die formale Freiheit, nicht durch gesetzlose Akte der öffentlichen Gewalt belastet zu werden. Sie ist eine Freiheit zur willkürlichen Willensbetätigung innerhalb der gesetzlichen Schranken, aber keine freiheitliche Ordnung, wie sie den benannten Grundrechten mit ihren je eigenen Schutzbereichen zugrunde liegt. Der formale und ein materieller Begriff der Freiheit schließen sich demnach nicht aus. Sie können sich vielmehr gegenseitig stützen und ergänzen, auch wenn der eine stärker den Traditionen des formalen Rechtsstaats und der andere stärker den Ideen eines materiellen Rechtsstaats verpflichtet ist. Ein umfassender Grundrechtschutz ist auf beide Seiten der Freiheit angewiesen.

Vgl BVerfGE 54, 143 (146). BVerfGE 80,137 (152 ff.), EuGRZ 1989, 341 mit abweichender Meinung von Grimm; dazuPieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG, AÖR 1990,33. 40 BVerfGE 17,306 (313 ff.). 4! Vgl Scholz, Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AÖR 100 (1975) 80 (82 f.); ferner Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland!? (1990) Rz 426 ff. 42 Vgl dazu J. P. Müller-S. Müller, Grundrechte. Besonderer Teil (1985) 12,308 f. 38

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ZUR VERFASSUNGSRECHTLICHEN HERLEITUNG DES VERHÄLTNISMÄSSIGKEITSPRINZIPS Von Detlef Merten

I. Vom Übermaß des Übermaßverbots 1. Die in der Regel synonym 1, vielfach auch kumulativ 2 gebrauchten Begriffe "Verhältnismäßigkeitsprinzip" und "Übermaßverbot" sind zu einer carte blanche für die (Verfassungs-)Interpretation geworden 3• Heutiger Rechtsanwendung, die Individualgerechtigkeit kultiviert 4 und Rechtssicherheit reduziert, ermöglicht sie eine modisch beliebte Feinabstimmung 5 und Ausdifferenzierung, Abwägungsintensivierung 6 und Optimaleffektuierung 7 • Gleichzeitig urnmäntelt sie Erwägun1 Vgl. BVerfGE 34, 261 (266); BVerwGE 30, 313 (316); 48, 299 (3,92); 49, 36 (43); BAGE 33, 140 (175); Klaus Stern, Zur Entstehung und Ableitung des Ubermaßverbots, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Lerche-Festschrift, 1993, S. 165 ff. passim; Fritz Ossenbühl, Maßhalten mit dem Übermaßverbot, ebd., S. 152 sub I 1; Eberhard Grabitz, AöR 98 (1973), S. 570 f.; Georg Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: Kutscher / Ress / Teilgen / Ermacora / Ubertazzi, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 4 ff. (11); Hans Jarass, NJW 1981, S.728 sub ill; dens., Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Aufl., 1984, RN 46; Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 1993, S. 232; zu terminologischen Differenzierungen Hans Schneider, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 11, 1976, S. 392 f.; Hans-Uwe Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, 3. Aufl., 1982, S. 13. 2 Vgl. BVerfGE 20, 351 (361); 22, 114 (123); 23, 127 (133); 28, 175 (188); 38, 348 (368); 49, 220 (232); 52,131 (175); 76,1 (50); Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, 7. Aufl., 1993, Art. 20 RN 776. 3 Kritisch auch Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 139 f.; Friedrich E. Schnapp, Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, JuS 1983, S. 850 f.; Eberhard Schmidt-Aßmann, in: HStR I, 1987, § 24 RN 87. 4 Hierzu auch Georg Ress, Die "Einzelfallbezogenheit" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Völkerrecht als Rechtsordnung, Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S. 719 ff. (721 ff.); Merten, NJW 1983, S. 1998. 5 So Michael eh. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1985, S. 8 oben. 6 Vgl. Peter Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl., 1983, S. 67 ff.; Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, insbes. S. 143 ff. (S. 144: ,,Abwägungsenthusiasmus"); Karl-Heinz Ladeur, Abwägung - ein neues Paradigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff. 7 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl., 1993, RN 318; Eberhard Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S.84.

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gen der Billigkeit 8 und des Ennessens, Forderungen der Rechtspolitik und der Gesellschaftsrefonn, weil nun im Gewande objektiver Verfassungsnotwendigkeit erscheint, was oft bloße subjektive Dezision ist. Auf diese Weise bietet sich die Verhältnismäßigkeit wegen ihrer Konturlosigkeit "als spanische Wand für praktisch jedes gewünschte Ergebnis"9 und als "Einfallstor eines unkontrollierbaren und unkontrollierten Gerechtigkeitsgefühls" 10 an. Sie wird gar zu einem trojanischen "Vehikel, mit dessen Hilfe sich wandelnde Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen in die Festung traditioneller Rechtsdogmatik einziehen können" 11, wobei hinter angebetetem Zeitgeist mitunter bloßer minoritärer Gruppengeist verborgen ist 12. Frühe Warnungen vor Maßlosigkeit mit dem Mäßigungsgrundsatz 13 und Verfonnungen der Fonn 14 blieben unbeachtet, und so wurde Verhältnismäßigkeit der Masse Maß. Als "Gleich- und Weichmacher''15 kann sie dabei nicht immer der Gefahr entgehen, auch als Software für Softies und als "Obemonn" 16 für Oberlehrer zu dienen. 2. Unmäßiger Umgang mit der Verhältnismäßigkeit führte zu übennäßiger Kasuistik. Einerseits "übergreifende Leitregel allen staatlichen Handeins" 17, soll das Prinzip Prüfungsmaßstab doch nur für den Gesetzesinhalt, nicht für das Gesetzgebungsverfahren sein 18, dabei zwar nicht auf bestimmte Rechtsgebiete beschränkt l9 , andererseits bei staatlicher Kreditaufnahme 20 und im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis 21 unanwendbar sein. Eingriffe in die komI

8 In diesem Sinne Hans Peter Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1982, S. 131; zum Unterschied von Billigkeit und Verhältnismäßigkeit Gerrick v. Hoyningen-Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht, 1978, S. 99 ff. (101); Franz Wieacker, Geschichtliche Wurzeln des Prinzips der verhältnismäßigen Rechtsanwendung, in: Festschrift für Robert Fischer, 1979, S. 867 (873). 9 Wolfgang Grunsky, ZRP 1976, S. 131 sub 11 2; ähnlich Ernst Wolf, Das Recht zur Aussperrung, 1981, S. 301: "beliebige Inhalte und Bezüge"; siehe auch aaO, S. 321; Rupert Scholz, NJW 1983, S. 709: "ordnungsauflösender Rechtsrelativismus". 10 Manfred Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1600 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Ferdinand Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 35. 11 Erhard Denninger, JZ 1970, S. 145 (152). 12 Vgl. Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1987, S. 209 ff. \3 Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 7; hierauf machen Ossenbühl (Lerche-Festschrift, S. 151 f.) und Stern (ebd., S. 165) aufmerksam. 14 Eberhard Schmidt, NJW 1969, S. 1137 (1141). 15 Ossenbühl, VVDStRL 39, 1981, S. 189 (Diskussionsbeitrag). 16 Ossenbühl, Lerche-Festschrift, S. 156 sub I 3. 17 BVerfGE 23, 127 (133 sub 11 4); 76, 1 (50). 18 Vgl. Christoph Gusy, ZRP 1985, S. 291 ff. (295); zur Problematik einer optimalen Methodik des Gesetzgebers als Verfassungspflicht auch Merten, in: Hermann HilI (Hg.), Zustand und Perspektive der Gesetzgebung, 1989, S. 81 ff. m. w. Nachw. 19 So BVerfGE 76, 256 (359). 20 BVerfGE 79, 311 (341).

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munale Selbstverwaltung werden am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen 22, gelegentlich aber auch nicht 23. Als Instrument der Freiheitsverteidigung 24 soll das Übennaßverbot den einzelnen vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahren 25 , aber auch 26 - mitunter auch nicht 27 - im Zivilrecht und im Arbeitsrecht 28 , insbesondere im Arbeitskampfrecht 29 beachtlich sein, dort in frappierender Weise jedoch nur bei der Abwehraussperrung, nicht aber beim Angriffsstreik 30. Für die Leistungsverwaltung wird das Übennaßverbot vereinzelt herangezogen 31. Dogmatisch qualifiziert man es als Schranke für Grundrechtseingriffe 32 (Schrankenschranke 33 ), bisweilen auch als Grundrecht 34• 21 BVerfGE 81, 310 (338 sub C 11 4); a. A. Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, insbes. S. 397 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 VII, RN 72; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 2. Aufl., 1992, Art. 20 RN 57; Michael Kloepfer, Der Staat 13 (1974), S. 457 (466 FN 37); vgl. auch Gunther Kisker, Der Staat 14 (1975), S. 187 f. 22 BVerfGE 26, 228 (239); 56,298 (313); 76, 107 (119, 123); 86,90 (109); BVerfG (Vorprüfungsausschuß) DVBI. 1982, S.27 (29); NVwZ 1982, S. 95 f.; BVerwGE 67, 321 (323); vgl. auch VerfGH NW DVBI. 1979, S. 668 (669); BayVerfGHE 34, 64 (75); VGH Bad.-Württ. DÖV 1988, S. 649 (651 f.); Hans J. Wolff / Otto Bachof / Rolf Stober, Verwaltungsrecht 11,5. Aufl., 1987, § 86 RN 165; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII, RN 72; Schmidt-Aßmann, HStR I, § 24 RN 87; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 RN 57; Heinrich Siedentopf, Die Rastede-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, 1990, S. 7. 23 Vgl. BVerfGE 79, 127 Rastede -; hierzu Friedrich Schoch, Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung nach der Rastede-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, VerwArch. 81 (1990), S. 18; Eberhard Schmidt-Aßmann, Kommunale Selbstverwaltung ,,nach Rastede", in: Bürger - Richter - Staat, Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 121 (135 f.); Ossenbühl, Lerche-Festschrift, S. 151 (160 f.); Siedentopf, aaO.; Edzard Schrnidt-Jortzig, Gemeinde- u~d Kreisaufgaben - Funktionsordnung des Kommunalbereichs nach ,,Rastede" - , OOV 1993, S. 973 ff. 24 So BVerfGE 81, 310 (338 sub C 11 4). 25 Vgl. BVerfGE 17,306 (314); 30,250 (263). 26 Vgl. BVerfGE 63, 88 (115); ähnlich schon E 57, 361 (388); vgl. auch E 35, 202 (221); 67, 329 (340); BGHZ 109, 306 (312); Dieter Medicus, AcP 192 (1992), S. 35 ff. 27 BVerfGE 30, 173 (199). 28 Vgl. BAG AP Nr. 70 zu § 626 BGB; BAGE 33, 1 (11); Wolfram Zitscher, Der Grundsatz der "Verhältnismäßigkeit" im Arbeitsvertragsrecht als Blankettformel, BB 1983, S. 1285 ff. 29 BVerfGE 84, 212 (230 f.); BAGE 23, 292 (306); 33, 140 (174); 185 (190 ff.); BAG NJW 1993, S. 218 ff.; vgl. auch Hugo Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 148 ff.; dens., Arbeitskampfparität und Übermaßverbot, 1979, passim, insbes. S. 88 ff.; Heinz Krejci, Aussperrung, 1980, S. 90 ff.; Manfred Löwisch, Das Übermaßverbot im Arbeitskampfrecht, ZfA 1971, S. 319 ff.; Theo Mayer-Maly, Die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für das kollektive Arbeitsrecht, ZfA 1980, S. 473 ff.; Herbert Buchner, Übermaßverbot als Grenze tarifbezogener Arbeitskämpfe, in: Lieb/von Stebut/Zöllner, Arbeitskampfrecht, Seiter-Symposion, 1990, S. 21 ff.; Harald Kreuz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampf, 1988; Katharina Czerweny von ArIand, Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 1993. 30 BVerfGE 84, 212 (230 f.). 31 Vgl. Görg Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats. Verhältnismäßigkeitsgebot und Freiheitsschutz im leistenden Staatshandeln, 1983, passim, insbes. S. 11 ff., 174 ff.;

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Der sich beschleunigende Ausbau 35 der VeThältnismäßigkeit hat nicht nur die Architektur des Prinzips beeinträchtigt, sondern auch die Statik gefabrdet. Will man Klarheit gewinnen, ob die Überladenheit noch tragbar ist, so gilt es, die Fundamente freizulegen, was jedoch seltener geschieht 36• Trotz ebenso stereotyper wie pauschaler Ableitungsnachweise vor allem in der Judikatur hat sich an der Feststellung Dürigs 37 , man habe den verfassungsrechtlichen Standort des Prinzips "noch niemals exakt lokalisieren" können, auch nach fast vier Jahrzehnten nicht viel geändert.

11. Mäßigung als Ethikregel und Gerechtigkeitspostulat 1. Das Gebot der Mäßigung und des Maßhaltens sowie die Vermeidung des Übermaßes sind allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich schon in der Antike finden 38. Wenn Hesiod 39 wie Euripides 40 zum Maßhalten mahnen, Senedens., VVDStRL47 (1989), S. 231 f. (Diskussionsbeitrag); Walter Mallmann, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, VVDStRL 19 (1961), S. 165 (173); Lothar Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 73 f.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 154 ff.; Hans Peter Ipsen, Fragwürdiges zur Sozialstaatlichkeit, in: Ansprachen aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundessozialgerichts, 1979, S. 39 (50); Alexander Schink, DVBl. 1989, S. 1182 (1184); VGH Kassel, NJW 1993, S. 3088; zur Anwendbarkeit im sozialversicherungsrechtlichen Leistungsbereich Tzong-li Hsu, Verfassungsrechtliche Schranken der Leistungsgesetzgebung im Sozialstaat, 1986, S. 91 ff.; a. A. Reinhard Mußgnug, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistung~recht, VVDStRL 47 (1989), S. 113 (126 ff.); Manfred Froch / Christoph Gusy, Das Ubermaßverbot als Maßstab staatlicher Subventionsvergabe? , VerwArch. 81 (1990), S. 512 (529 ff.); widersprüchlich Dirk Ehlers, DVBl. 1993, S. 861 (866 f. sub VII 1 a): kein Rechtsprinzip, aber mit ,,rechtlichem Gehalt". 32 Besonders deutlich BVerfGE 81, 310 (L. 5, 338 sub C 11 4): "Schranke(n) für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen"; vgl. auch E 19, 342 (349); 44, 353 (373). 33 Vgl. Karl August Bettermann /Ernesto Loh, BB 1969, S. 70 sub I 2; Bodo Pieroth/ Bernhard Schlink, Grundrechte, Staatsrecht 11, 9. Aufl., 1993, RN 317; zum Begriff Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1968, S. 5; ders., JBI. 1972, S. 66; Albert Bleckmann, Staatsrecht 11 - Die Grundrechte, 3. Aufl., 1989, S. 380; Pieroth/ Schlink, RN 315; Schnapp, JuS 1983, S.851 sub 11 1; Manfred Zuleeg, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1990, S. 24. 34 Rupprecht v. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, S. 37 ff. (39). 35 Im ersten Registerband der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Bände 1-10) nahm das Stichwort "Verhältnismäßigkeit" knapp eine Spalte ein, und es wurde auf 14 Entscheidungen verwiesen. Im letzten Registerband (Bände 71 - 80) beansprucht das Stichwort "Verhältnismäßigkeit(sgrundsatz)" mehr als vier Spalten und enthält Verweisungen auf 45 Erkenntnisse; zur Anwendung der Verhältnismäßigkeit in immer weiteren Teilbereichen der Rechtsordnung Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswis. senschaft, 6. Aufl., 1991, S. 488. 36 Zur Kritik auch Hans Joachim Becker, RiA 1977, S. 212; siehe jedoch jüngst Stern (FN 1) und Albert Bleckmann, Begründung und Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips, JuS 1994, S. 177 ff. 37 Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), S. 117 ff. (146).

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ca 41 später maßlose Bestrafung als grausam geißelt und die Septuaginta 42 aufgibt, das Maß gegen keinen Menschen zu überschreiten, so handelt es sich um ethische oder religiöse Appelle, wie dann auch die Ritterethik des Mittelalters Zucht und Maßhalten in allen Lebenslagen heischt. Nicht zufällig kürt Maximilian 1., "der letzte Ritter", das "tene mensuram" zu seinem Wahlspruch. Das naturrechtliehe Denken übernimmt die Maxime. Fenelon 43 , den später auch Friedrich der Große lesen wird 44 , rät den Fürsten, im Interesse der Sicherheit und des Schutzes ihrer Staaten den Nachbarn Mäßigung zu beweisen. Nach Justi 45 erfordert es "die Natur der Sache, die Billigkeit und die Wohlfahrt des Staates", daß die Regierung "sich selbst mäßiget und ihre Gewalt aus eigener Bewegung einschränket". 2. Der "Geist der Mäßigung" wird dann als Credo der Aufklärung für Montesquieu zum Leitmotiv seines Hauptwerkes 46 • Sein Ideal sind die "gouvernements moderes", weil sich nur hier politisch Freiheit fmdet 47 , und seine Forderung nach Gewaltentrennung 48 bezweckt letztlich nur Gewaltenhemmung ("le pouvoir arrete le pouvoir"49) und damit auch Gewaltenmäßigung. Der ,juste proportion des peines avec le crime", die sich schon in der Magna Carta findet 50, widmet der französische Baron ein eigenes Kapitel im "Esprit"51, wie er schon in seinen "Lettres persanes" abgestufte Strafsanktionen gefordert hatte 52. Friedrich der 38 Hierzu Wieacker (FN 8), S. 874 ff. 39 Werke und Tage (Hauslehren), V. 694: ,,Maß in allem bewahrt." Bertha Kern-von

Hartmann (Hg.), Hesiods Werke, übersetzt von J. H. Voß, 1911, S. 79. 40 Hippolytos oder Phädra, 11, 2, V. 264 (Amme): "Drum preis' ich den Spruch: Fleuch Unmaß stets und beachte das Maß". Die Dramen des Euripides, übersetzt von Johannes Minckwitz, Bd. 7, Stuttgart o. J., S. 16 f. 41 De c1ementia, 11, 4, 3, in: ders., Philosophische Schriften, hg. von Manfred Rosenbach, Bd. V, 1989, S. 16 f. 42 Sir. 33,30. 43 Suite de quatrieme livre de l'Odyssee d'Homere, ou les Avantures de Telemaque, fils d'Ulysse, 1699, X; deutsch 1984, S. 178. 44 Vgl. Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm 1., 2. Aufl., 1941, S. 50 ff.; Friedrich Förster, Friedrich Wilhelm 1., König von Preußen, Potsdam 1834, Bd. I, S. 94 ff.; Theodor Schieder, Friedrich der Große, 1983, S. 28. 45 Die Natur und das Wesen der Staaten ... , Berlin, Stettin, Leipzig 1760, § 57, S. 92. 46 De l'esprit des lois, XXIX, l. 47 AaO, XI, 4; siehe auch VI, 9: ,,La douceur regne dans les gouvernements moderes"; ferner dens., Lettres persanes (Lettre XIX, Usbeck a Rustan): "un regime doux et tempere'. In diesem Zusammenhang Walter Kuhfuß, Mäßigung und Politik, 1975, passim, insbes. S. 131 ff. 48 AaO, XI, 6. 49 AaO, XI, 4. 5~, 20: ,,Liber homo non amercietur pro parvo delictu nisi secundum modum delicti

51 VI, 16; vgl. auch VI, 9. 52 Lettre LXXX (Usbek a Rhedi): "On punit toujours par degres"; vgl. auch Lettre

CII (Usbek albben): "la proportion que doit etre entre les fautes et les peines".

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Große, in vielem von Montesquieu beeinflußt, plädiert in seiner "Dissertation sur les raisons d'etablir ou d'abroger les lois" von 1749 dafür, leichte Vergehen gelind zu ahnden und die Todesstrafe für schwere Delikte vorzubehalten; Strafe und Verbrechen sollten einander entsprechen, wobei auch der Preußenkönig für eine "proportion" eintritt S3 . Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 bestimmt dann, daß Geldstrafen gegen unbemittelte Personen "in eine verhältnismäßige Strafarbeit oder Gefängnisstrafe verwandelt" werden sollen (§ 8511 20).

III. Verhältnismäßigkeit als Staatszweckbegrenzung 1. Unter dem Einfluß der Aufklärung wandelt sich der absolutistische Verwaltungs- oder ,,Policey"-Staat in einen "Staat der Vemunft"s4, dessen umfassende Staatsbeglückung durch individuelle Privatglückseligkeit SS ersetzt werden und für den Sicherheit und nicht länger Wohlfahrt im Vordergrund stehen solls6. Deshalb geht Wilhelm von Humboldt der Frage nach, "Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?"57, und zeiht Kant 58 , für den Freiheit das "innere Principium der Welt" ist 59, ein imperium paternale, das Untertanen wie unmündige Kinder behandelt, des Despotismus. Seine Forde-

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