Fotoalben als Quellen der Zeitgeschichte [1 ed.] 9783737014113, 9783847114116, 9783847014119

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Fotoalben als Quellen der Zeitgeschichte [1 ed.]
 9783737014113, 9783847114116, 9783847014119

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ZEITGESCHICHTE Ehrenpräsidentin: em. Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl († 2014) Herausgeber: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Redaktion: em. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Ardelt (Linz), ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Ingrid Bauer (Salzburg/ Wien), SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler (Innsbruck), Dr.in Lucile Dreidemy (Wien), Dr.in Linda Erker (Wien), Prof. Dr. Michael Gehler (Hildesheim), ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Robert Hoffmann (Salzburg), ao. Univ.-Prof. Dr. Michael John / Koordination (Linz), Assoz. Prof.in Dr.in Birgit Kirchmayr (Linz), Dr. Oliver Kühschelm (Wien), Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler (Linz), Dr.in Ina Markova (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Mueller (Wien), Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz (Wien), Univ.-Prof. Dr. Dieter Pohl (Klagenfurt), Univ.-Prof.in Dr.in Margit Reiter (Salzburg), Dr.in Lisa Rettl (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Innsbruck), Mag.a Adina Seeger (Wien), Ass.-Prof. Mag. Dr. Valentin Sima (Klagenfurt), Prof.in Dr.in Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main), Dr. Christian H. Stifter / Rezensionsteil (Wien), Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in Heidemarie Uhl (Wien), Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS (Vorarlberg), Mag. Dr. Florian Wenninger (Wien), Assoz.-Prof.in Mag.a Dr.in Heidrun Zettelbauer (Graz). Peer-Review Committee (2021–2023): Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Tina Bahovec (Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Arnd Bauerkämper (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin), Günter Bischof, Ph.D. (Center Austria, University of New Orleans), Dr.in Regina Fritz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Historisches Institut, Universität Bern), ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Univ.-Prof. i. R. Dr. Hanns Haas (Universität Salzburg), Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch (Salzburg), Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Doz. Dr. Hans Heiss (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Robert G. Knight, Ph.D. (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University), Dr.in Jill Lewis (University of Wales, Swansea), Prof. Dr. Oto Luthar (Slowenische Akademie der Wissenschaften, Ljubljana), Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien), Mag. Dr. Peter Pirker (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Prof. Dr. Markus Reisenleitner (Department of Humanities, York University, Toronto), Dr.in Elisabeth Röhrlich (Institut für Geschichte, Universität Wien), ao. Univ.-Prof.in Dr.in Karin M. Schmidlechner-Lienhart (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Wien), Prof. Dr. Gerald J. Steinacher (University of Nebraska-Lincoln), Assoz.-Prof. DDr. Werner Suppanz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA (Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien), Prof. Dr. Stefan Troebst (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Universität Leipzig), Prof. Dr. Michael Wildt (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin), Dr.in Maria Wirth (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien).

© 2022 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783847114116 – ISBN E-Book: 9783847014119

zeitgeschichte 49. Jg., Heft 2 (2022)

Fotoalben als Quellen der Zeitgeschichte Herausgegeben von Vida Bakondy, Lukas Meissel, Eva Tropper und Adina Seeger

V&R unipress Vienna University Press

Inhalt

Vida Bakondy / Lukas Meissel / Eva Tropper / Adina Seeger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Artikel Vida Bakondy / Eva Tropper Fotoalben beforschen. Voraussetzungen, Impulse, Methoden eines interdisziplinären Forschungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Ulrich Prehn Selbst-(Re-)Präsentationen von Körperlichkeit, Geschlechter- und Generationenbeziehungen: Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend aus den 1920er- und 1930er-Jahren . . . . . . . . . 155 Lukas Meissel SS-Fotoalben als visuelle Leistungsnachweise und Legitimationsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Markus Wurzer Kolonialkrieg im visuellen Familiengedächtnis. Erinnerungsproduktion durch transgenerationale Albumpraktiken in Südtirol/Alto Adige . . . . . 209 Monica Rüthers „… euer Blick war so, ‚wie er zu sein hatte‘“: (Post-)Sowjetische Bildpraktiken und Albenkultur am Beispiel von Kinderfotos . . . . . . . 237

zeitgeschichte extra Christian Angerer „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“. Diskursanalytische Anmerkungen zur Karriere eines Fotos im 20. und 21. Jahrhundert . . . . 265

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Inhalt

Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Rezensionen Gabriella Hauch Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Peter Malina Ernst Berger/Ruth Wodak, Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginalisierten Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Hans de Vries Andreas Schrabauer, „… und der Block war judenleer“. Die NS-Verfolgung von Juden in den Niederlanden und ihre Ermordung im Konzentrationslager Mauthausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Autor/innen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Vida Bakondy / Lukas Meissel / Eva Tropper / Adina Seeger

Editorial

Die Beforschung von Fotoalben als historischer Quelle hat in den vergangenen Jahrzehnten wesentliche Impulse erhalten. Das Objekt Album wird nicht mehr nur als eine „neutrale Hülle“ verstanden und der Fokus auf einzelne Bilder und deren visuelle Inhalte gelegt, sondern als Dispositiv und eigenständiger visueller Ordnungszusammenhang mit quellenspezifischen Narrationsformen. Fotoalben ermöglichen durch ihre Form der Zusammenstellung, Reihung und Kommentierung von Bildern einen Zugang dazu, wie Fotografien benutzt und betrachtet worden sind. Das verstärkte Interesse an der Materialität, Objekthaftigkeit und Medialität des Albums korreliert mit einer neuen Aufmerksamkeit für die konkreten Praktiken der historischen AkteurInnen und für ihre lebensweltliche Verankerung. Im Zentrum stehen damit akteurs- bzw. subjektzentrierte Strategien des meaning-making und historische Zuschreibungen an Fotografien, für deren Beforschung die historischen Kontexte von Alben wesentliche Anhaltspunkte liefern können. Das vorliegende Heft bietet einen Überblick über theoretische und methodische Entwicklungen im Feld der interdisziplinären, zeitgeschichtlich orientierten Albumforschung. Die AutorInnen analysieren Albumpraktiken in verschiedenen geografischen Räumen, Gesellschaften, Kontexten und politischen Regimen von den 1920er-Jahren bis in die Gegenwart. Ein einleitender Beitrag von Vida Bakondy und Eva Tropper dient zur Kartierung des Forschungsfeldes. Dies gelingt, indem Zugänge zum fotografischen Album in ihrer historischen Entwicklung nachgezeichnet und aktuelle internationale Debatten und Ansätze vorgestellt werden. Als theoretisch-methodische Klammer rahmt diese Einleitung die anderen Beiträge und arbeitet dabei die Besonderheit des Albums als bildliche kultur- und zeithistorische Quelle heraus, um Möglichkeiten einer transdisziplinären Erschließung und Interpretation auszuloten. Ulrich Prehn stellt in seinem Beitrag Überlegungen zu Visualisierungen von Körperlichkeit sowie Geschlechter- und Generationenverhältnissen in Fotoalben von Jugendlichen vor. Den Ausgangspunkt bilden Alben, deren AutorInnen aus

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verschiedenen politisch-weltanschaulichen Spektren der deutschen Jugendbewegung der 1920er- und 1930er-Jahre stammen. Prehn diskutiert die Bedeutung von Fotoalben als performative Akte und Medien individueller und kollektiver (Re-)Präsentation und (Selbst-)Verortung. Lukas Meissel beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Fotoalben der Schutzstaffel (SS). Er zeigt, wie Alben in der Form von Bildberichten als visuelle Leistungsnachweise und Legitimationsberichte dienten und wie diese auch vom ideologischen Selbstverständnis und vom Blick der SS auf ihre Taten erzählen. Der analytische Fokus liegt dabei auf einem aus heutiger Perspektive irritierend wirkenden Album zur Kaninchenzucht in Konzentrationslagern, dessen Gewaltzusammenhang mit Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit sowie die dahinter stehende NS-Ideologie fotoanalytisch decodiert werden. Markus Wurzer nimmt Alben zum Abessinienkrieg von deutschsprachigen Südtiroler Kolonialsoldaten und ihren Angehörigen als Ausgangspunkt für die Analyse transgenerationaler Erinnerungsprozesse innerhalb von Familien. Sein Fokus richtet sich auf die Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte der Alben, die nicht selten nachträgliche Eingriffe einzelner Familienmitglieder aufweisen. Wurzer analysiert diese Eingriffe als „bedeutungstragende Bestandteile“ der Alben und ihrer vielschichtigen Objektbiografien. Monika Rüthers geht am Beispiel von Kinderfotos der Frage nach spezifischen sowjetischen Bild- und Albumpraktiken im Zeitraum der 1930er- bis 1970erJahre nach. Dabei interessiert sie vor allem die Wechselwirkung zwischen privaten und öffentlichen Bildpraktiken. Die Autorin zeigt zudem auf, welchen Einfluss der radikale politische Umbruch nach der „Wende“ auf die privaten Bildpraktiken der 1990er-Jahre hatte, die sich, je nach generationaler Zugehörigkeit, zwischen vertrauter Konvention und demonstrativem Aufbruch bewegten. Den zeitgeschichte-extra-Beitrag hat Christian Angerer beigesteuert. Darin befasst sich der Autor mit der Rezeptionsgeschichte der fotografischen Abbildung eines Steinbruchs aus dem Jahr 1933, die fälschlicherweise bis in die Gegenwart für eine Aufnahme des Steinbruchs im KZ-Mauthausen gehalten wird. Mittels einer historischen Diskuranalyse diskutiert der Autor die zweifelhafte Karriere dieses Bildes. Ziel der HerausgeberInnen des Heftes ist es, vielfältige Perspektiven auf die Beforschung von Alben aufzuzeigen und die Bedeutung dieser spezifischen visuellen Quellengattung für die zeitgeschichtliche Forschung herauszustreichen. Die Beiträge zu verschiedenen Zeiträumen und Kontexten verdeutlichen dabei die Bandbreite an Themenfeldern, Methoden und Theorien und das große Potenzial von Fotoalben als Quellen für unterschiedliche Aspekte zeitgeschichtlicher Forschung.

Artikel

Vida Bakondy / Eva Tropper

Fotoalben beforschen. Voraussetzungen, Impulse, Methoden eines interdisziplinären Forschungsfeldes

Der Appell, visuelle Quellen als „deutbaren Stoff der Geschichte“1 zu analysieren, hallt bereits seit mehreren Dekaden durch die zeithistorische Forschungslandschaft. Dabei ist insbesondere auch die private Fotografie als Quelle entdeckt worden. Doch wenn es um die relevanteste Form ihrer Verwahrung im 19. und 20. Jahrhundert – das Fotoalbum – geht, so blieb das Interesse von Seiten der Geschichtswissenschaften lange überschaubar. Noch 2009 beklagte Cord Pagenstecher den Mangel an zeithistorischen Forschungen zu diesem „wohl umfangreichsten Quellenfundus zur Bildgeschichte des 20. Jahrhunderts“.2 Eine Dekade später lässt sich hier durchaus eine veränderte Dynamik beobachten. Sowohl in kulturwissenschaftlichen bzw. interdisziplinären Kontexten3 als auch im Feld der Zeitgeschichte hat die Auseinandersetzung mit Alben an Relevanz gewonnen. Allein in den letzten Jahren sind eine Reihe von zeithistorischen Studien erschienen.4 Ein weiteres Indiz für eine gesteigerte Aufmerk-

1 Ilsen About/Clément Chéroux, Fotografie und Geschichte. Vortrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, hg. v. Julia Blume/Günter Karl Bose, Leipzig 2004 (erschienen im Institut für Buchkunst), 41. 2 Cord Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quellen, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History, 6 (2009) 3, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de /16126041-Pagenstecher-3-2009 (abgerufen 29. 6. 2021). 3 Eine wegweisende Publikation in diesem Zusammenhang war der Band von Anke Kramer/ Annegret Pelz (Hg.), Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen 2013, der auf eine gleichnamige Konferenz in Wien zurückging. 2020 hat sich auf Initiative von Judith Riemer und Sandra Starke die interdisziplinäre, online zusammentreffende Arbeitsgruppe forum foto + album formiert. 4 Als Beispiele zu nennen: Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019; Monica Rüthers, Picturing Soviet Childhood. Photo Albums of Pioneer Camps, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 67 (2019) 1, 65–95; Markus Wurzer, Die sozialen Leben kolonialer Bilder. Italienischer Kolonialismus in visuellen Alltagskulturen und Familiengedächtnissen in Südtirol/Alto Adige 1935–2015, phil. Diss., Karl-Franzens-Universität Graz 2020; Vida Bakondy, Montagen der Vergangenheit. Flucht, Exil und Holocaust in den Fotoalben der Wiener Historikerin Fritzi Löwy (1910–1994), Göttingen 2017; Maiken Umbach, Selfhood, Place, and

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samkeit sind etwa zwei aktuell erscheinende Hefte der Zeitschrift „Fotogeschichte“, die sich in einer erstmaligen Schwerpunktsetzung mit Fotoalben des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts beschäftigen.5 Und schließlich lässt sich im Bereich der Museen und Archive, die vielfach als bewahrende Institutionen von Albenbeständen auftreten, eine gesteigerte Auseinandersetzung mit albumspezifischen Fragestellungen registrieren.6 Ein zunächst sporadisches Interesse von Seiten einzelner Forscherinnen und Forscher entwickelt sich zusehends zu einem regen Forschungsfeld. Gemeinsam ist diesen Zugängen nicht nur eine Aufmerksamkeit für das Album als eigenständiges Objekt, sondern auch eine explizite methodische Offenheit, die sowohl vom interdisziplinären Charakter der Albumforschung, als auch von der Rezeption von Studien aus dem internationalen beziehungsweise angloamerikanischen Raum profitiert.7 Denn in der Tat ist die Beschäftigung mit Fotoalben methodisch herausfordernd. Private Alben aus der Hochzeit ihrer Verbreitung in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg haben bisher kaum Eingang in öffentliche Archive gefunden und befinden sich noch immer in privatem bzw. Familienbesitz.8 Zugleich sind die Überlieferungsbedingungen innerhalb der Gedächtnisinstitutionen häufig von einem „uninventarisierte[n]

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Ideology in German Photo Albums, 1933–1945, in: Central European History 48 (2015) 3, 335– 365. Bernd Stiegler/Kathrin Yacavone (Hg.), Norm und Form. Fotoalben im 19. Jahrhundert, Fotogeschichte 161 (2021). Ein zweites Heft zu Fotoalben des 20. Jahrhunderts ist in Vorbereitung. Siehe etwa der von Eva Tropper und Friedrich Tietjen konzipierten Workshop „Ordnungen der Bilder. Fotoalben und (museale) Praktiken“, der 2019 im Rahmen der Museumsakademie Joanneum durchgeführt wurde, URL: https://www.museum-joanneum.at/museumsakademie /programm/veranstaltungen/events/event/8164/ordnungen-der-bilder (abgerufen 29. 6. 2021). Einen Sammelaufruf von privaten Alben lancierte das Wiener Museum für Volkskunde im Kontext der Ausstellung „ALLE ANTRETEN! ES WIRD GEKNIPST! Private Fotografie in Österreich 1930–1950“, URL: https://www.volkskundemuseum.at/privatefotografie (abgerufen 29. 6. 2021). Die Auseinandersetzung mit Fotoalben hat im angloamerikanischen Raum bereits eine längere Tradition, siehe etwa Richard Chalfen, Snapshot Versions of Life, Bowling Green, Ohio 1987; Andrew Walker/Rosalind Moulton, Photo Albums: Images of Time and Reflections of Self, in: Qualitative Sociology, 12 (1989) 2, 155–182; Martha Langford, Suspended Conversations. The Afterlife of Memory in Photographic Albums, Montreal & Kingston/London/Ithaca 2001. Einen ersten Meilenstein in der Aufarbeitung der privaten Fotografie im 20. Jahrhundert stellte die 1965 im Auftrag von Kodak-Pathé und unter Leitung von Pierre Bourdieu entstandene Studie „Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie“ dar, insofern sie methodisches Neuland beschritt, weil sie die soziale Funktion und Einbettung privater Fotografie in den Mittelpunkt rückte. Eine wichtige Quellengrundlage bildeten hierbei private Albumbestände. Pierre Bourdieu/Luc Boltanski u. a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main 1983. Mette Sandbye, Looking at the family photo album: a resumed theoretical discussion of why and how, in: Journal of Aesthetics & Culture, 6 (2014) 1, 1–17; 4, URL: http://dx.doi.org /10.3402/jac.v6.25419 (abgerufen 29. 6. 2021).

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Schattendasein“ geprägt.9 Für Forschende stellt sich dabei die Frage des Zugangs und der Erschließung, wenn Alben von ihren lebensweltlichen Kontexten und den sie begleitenden mündlichen Erzähltraditionen abgeschnitten sind. Der Fotohistoriker Timm Starl, ein früher Pionier der Albumforschung im deutschsprachigen Raum, formulierte diesbezüglich Mitte der 1990er-Jahre einen nüchternen Befund: „Die wenigsten Albumnachlässe erschließen sich dem Außenstehenden so weit, daß zumindest eine ungefähre Rekonstruktion der Biografie möglich ist. Sie stehen meist erst dann für eine Bearbeitung zur Verfügung, wenn die betroffenen Personen verstorben sind und die übernächste Generation sich von den Alben trennt.“10 Die Art und Weise der Überlieferung stellt aber eine wesentliche Grundbedingung dafür dar, welche Fragen an das Material gestellt werden können: Gibt es eine gesicherte Provenienz? Sind zusätzliche biografische und historische Informationen erhalten bzw. auffindbar? Können mit den AlbumbesitzerInnen oder deren Nachkommen noch Interviews geführt werden? Manchmal sind Antworten auf diese Fragen möglich, öfter aber bleiben Forschende mit der Herausforderung konfrontiert, mit weitgehend kontextarmem Material zu arbeiten. In dieser methodologischen Herausforderung liegt allerdings auch ein Potenzial, das grundlegende Fragen historiografischer Praxis berührt, wie die Historikerin Erika Hanna ausführt: „Indeed, the insurmountable empirical barriers which many of these albums seemingly present, provide us with an opportunity to both foreground and question research methods implicit to historical study, and consider how we can use new approaches to make the most of our sources.“11 Zeithistorische Forschungen haben von einer solchen Methodendiskussion und vom interdisziplinären Zuschnitt des Forschungsfeldes in hohem Maß profitiert. Es sollen im Folgenden daher ausschnitthaft zentrale Entwicklungen im interdisziplinären Feld der Albumforschung herausgearbeitet und aktuelle Tendenzen und Fragestellungen nachgezeichnet werden, um Potenziale und Möglichkeiten im Umgang mit dem Album als einer eigenständigen Quelle aufzuzeigen und zu weiteren zeithistorischen Forschungen in diesem Bereich anzuregen.

9 Pagenstecher, Fotoalben, 449. 10 Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München/Berlin 1995 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung], 157. 11 Erika Hanna, Snapshot Stories. Visuality, Photography and Social History of Ireland, 1922– 2000, Oxford 2020, 19.

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I.

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Zur Genese eines interdisziplinären Forschungsfeldes

Wie mit Alben umgegangen wird, welcher Quellenwert ihnen zugeschrieben wird und welche Begrifflichkeiten für ihre Beforschung leitend sind, hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach verändert. Als ein Startpunkt der Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum lassen sich die 1970er-Jahre identifizieren. Im breiteren Kontext eines neuen alltagsgeschichtlichen Interesses und mit dem Imperativ, auch eine Geschichte „von unten“ zu schreiben, rückten – parallel zur Etablierung einer Oral History – Bilder vermehrt nicht nur unter Wert-zuschreibenden Kategorien eines kunsthistorischen Blicks oder als illustratives Beiwerk, sondern als Objekte von sozial- und kulturgeschichtlichem Interesse in den Vordergrund. Die ersten Zugänge zum Fotoalbum wurden allerdings nicht im Bereich der Geschichtswissenschaften gesucht, sondern im Rahmen einer Ausstellung. Als Pionierarbeit gilt in diesem Zusammenhang die von Ellen Maas und Wolfgang Brückner gestaltete Ausstellung zum Fotoalbum aus dem Jahr 1975 sowie der begleitende Ausstellungskatalog,12 dem Ellen Maas 1977 mit der Veröffentlichung einer weiteren, wissenschaftlichen Studie folgte.13 In diesem Zusammenhang ging es zunächst einmal darum, die Geschichte des Albums als eines seit den 1860er-Jahren virulenten Objekts der Alltagskultur zu rekonstruieren, Typologien entsprechend seiner Funktionen zu entwickeln und nach seinem Quellenwert für die Kultur- und Sozialgeschichte zu fragen. Ab den 1980er-Jahren bot die Zeitschrift „Fotogeschichte“, die sich der Beforschung historischer Fotografie und fotografischer Praktiken widmet, eine neue, wichtige Plattform. In einzelnen Beiträgen der Zeitschrift wurden private Fotoalben thematisiert und als autobiografische Quelle diskutiert beziehungsweise nach dem Quellenwert anonymer Alben gefragt.14 Hier erschienen ab den späten 1980er-Jahren auch vermehrt Texte zu Alben im historischen Zusammenhang von Nationalsozialismus und Holocaust und analysierten deren Entstehungs-, Überlieferungs- und Gebrauchsgeschichten.15 Die in der Zeitschrift veröffent12 Ellen Maas, Wolfgang Brückner: Das Photoalbum 1858–1918. Eine Dokumentation zur Kultur- und Sozialgeschichte, München 1975 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Münchner Stadtmuseum]. 13 Ellen Maas, Die goldenen Jahre der Photoalben. Fundgrube und Spiegel von gestern, Köln 1977. 14 Jürgen Steen, Fotoalbum und Lebensgeschichte, in: Fotogeschichte 3 (1983) 10, 55–67; Timm Starl, Denkwürdige Tage, Gesichter, New Look… Aus einem privaten Album von 1948, in: Fotogeschichte 4 (1984) 13, 65–86; Michael Rutschky, Schneider. Sieben Seiten Lektüre eines anonymen Fotoalbums, in: Fotogeschichte 8 (1988) 27, 40–54. 15 Dabei wurden sowohl Alben von Verfolgten als auch Alben aus der Täterperspektive vorgestellt und historisch kontextualisiert. Hanno Loewy, Nähmaschinen-Reparatur-Abteilung. Ein Album von 1943 aus dem Ghetto Lodz, mit einer Vormerkung versehen von Hanno Loewy, in: Fotogeschichte, 9 (1989) 34, 11–30; Hanno Loewy, P. O. W. K. Arieh Ben Men-

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lichten Beiträge sind als das Ergebnis der einsetzenden quellenkritischen Erschließung fotografischer Quellen aus der NS-Zeit und aus den Konzentrationsund Vernichtungslagern seit den 1980er-Jahren zu sehen, wofür die „Fotogeschichte“ im deutschsprachigen Raum ein wichtiges Veröffentlichungsmedium darstellte. Darüber hinaus rückten seit den 1990er-Jahren im Bereich der Holocaust Studies die privaten Bilderwelten – seien es Familienfotografien von Opfern und Verfolgten des Holocaust oder Knipserbilder von Tätern, darunter Angehörige der Wehrmacht16 – vermehrt in den Fokus nicht nur eines wissenschaftlichen, sondern auch eines kuratorischen und vermittlungspädagogischen Interesses.17 Daraus entwickelte sich ein zusehends fruchtbar werdendes, interdisziplinäres Forschungsfeld zum Album, das in den folgenden Jahrzehnten eine steigende Zahl an Publikationen hervorbringen und auch in Ausstellungskontexten weiter an Relevanz gewinnen sollte.18

achems Album, in: Fotogeschichte 11 (1991) 39, 35–46; Ute Wrocklage, „Architektur zur Vernichtung durch Arbeit“. Das Album der „Bauleitung d. Waffen-SS u. Polizei K. L. Auschwitz“, in: Fotogeschichte 14 (1994) 54, 31–43; Jacqueline Giere, Genya Markon, Das Album von Ephraim Robinson. Jüdische Überlebende in DP-Lagern im Nachkriegsdeutschland, in: Fotogeschichte, 15 (1995) 55, 35–42; Cornelia Brink, Beim Sichten des fotografischen Nachlasses. Privatfotos in Auschwitz, in: Fotogeschichte 15 (1995) 55, 3–9. 16 In diesem Zusammenhang bildete die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung in den 1990er-Jahren eine wichtige Zäsur im deutschsprachigen Raum: Nicht nur löste diese einen „Bildbruch“ in der öffentlichen Wahrnehmung und Repräsentation der NS-Verbrechen aus, indem sie erstmals private Fotos von Wehrmachtssoldaten zeigte, „die ihre Opfer mißhandelten, töteten oder bei Erhängungen und Exekutionen zuschauten“ (Cornelia Brink, Foto/Kontext. Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, Innsbruck/ Wien/München/Bozen 2003, 67–85, 74). Darüber hinaus hatten die Debatten rund um den Einsatz privater Fotografien in der Ausstellung in den Folgejahren eine verstärkte reflexive Auseinandersetzung mit fotografischen Quellen und ihrer Anerkennung als eigene Quellengattung im Bereich der Geschichtswissenschaften zur Folge. 17 Cornelia Brink, How to bridge the gap? Überlegungen zu einer fotografischen Sprache des Gedenkens, in: Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Susanne Lanwerd (Hg.), Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945–1995, Berlin 1999, 108–119, 109 und 112; Brink, Foto/Kontext, 73; Marianne Hirsch, Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge/London 1997; Hanno Loewy, 2400 Fotografien, gefunden in Birkenau, in: Fotogeschichte 15 (1995) 55, 11–18; Brink 1995. 18 Zu nennen ist hier insbesondere die Ausstellung „Fremde im Visier“, die Fotoalben von Wehrmachtssoldaten zur Grundlage hatte und seit 2009 an bislang sieben Orten gezeigt wurde. Die Ausstellung und der dazu publizierte Katalog bildeten zugleich den Abschluss eines mehrjährigen Forschungsprojektes von Petra Bopp zu den privaten Fotografien deutscher Wehrmachtssoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung].

142 1.1

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Narration als Leitbegriff

Wesentliche methodische und theoretische Impulse und eine neue Perspektivierung des Albums sollten in den 1990er-Jahren vor allem von den Kulturwissenschaften ausgehen. Die verschiedenen cultural turns, die in unterschiedlichen Disziplinen dazu führten, sich der Untersuchung kultureller Bedeutungen und symbolischer Ordnungen zuzuwenden19, schärften auch den Status von Bildern als Repräsentationen, die sich – so eine prägende Formulierung – „wie ein Text“ entschlüsseln ließen. Die Textwissenschaften als Leitwissenschaften bedeuteten für die Analyse von Bildern, dass diese methodisch analog zu „Texten“ konzeptualisiert wurden: als ein Zusammenhang von Zeichen, der sich wie ein Text interpretieren lässt. (Fotografische) Bilder wurden dabei als eine kulturelle Ausdrucksform unter anderen angesehen, in der gleichermaßen semiotische Prozesse am Werk sind. Der große Gewinn an einer solchen Konzeptualisierung des Bildes bestand darin, dass es nicht mehr als der „irrationale“ Gegenpol zur „rationalen“ Sprache verstanden wurde, sondern genauso als eine kulturelle Signifikationspraxis in den Blick kommen konnte.20 Auf dieser Basis etablierte sich auch das Feld der Visual History – mit der Prämisse, historische Prozesse in ihrer Medialität zu erfassen und zu analysieren.21 Zugleich kam aus den Geschichtswissenschaften die prägende Debatte um Gedächtnis und Erinnerung, und das heißt um die kontinuierliche Neuaushandlung des gesellschaftlichen Blicks auf die Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit dem Album profitierte davon gleichermaßen. In den Mittelpunkt des Interesses rückte nun zusehends die Frage der Bedeutungsproduktion, wobei als ein Leitbegriff in der Auseinandersetzung mit Alben in den 1990er- und 2000er-Jahren derjenige der „Narration“ bezeichnet werden kann. Der Fokus darauf, wie in privaten Fotoalben Deutungen des eigenen Lebens jeweils (neu) ausgehandelt werden, hat bis heute nichts an Relevanz eingebüßt. In der zeithistorischen Auseinandersetzung hat dies die Aufmerksamkeit verstärkt auch auf jene bedeutungsstiftenden Praktiken gerichtet, die entstehen, wenn Fotos ihren historischen Kontext wechseln, vielschichtige Verwendungsgeschichten aufweisen und von Akteuren und Akteurinnen betrachtet werden, die zeitlich und räumlich vom Moment 19 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2018. 20 Vgl. Weingart, Brigitte, Where is your rupture? Zum Transfer zwischen Text- und Bildtheorie, in: Stefan Andriopulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums. Köln 2001 (Mediologie 2), 25–33. 21 Für einen Überblick zur Genese des Forschungsfeldes der Visual History im deutschsprachigen Raum siehe Gerhard Paul (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Gerhard Paul, Vom Bild her denken. Visual History 2.0.1.6., in: ders./Jürgen Danyel/Annette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, 15–72.

Vida Bakondy / Eva Tropper, Fotoalben beforschen

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ihrer ursprünglichen Produktion entfernt sind.22 In die Zeitspanne der 1990erJahre fällt auch Timm Starls Band zur Geschichte der Knipserfotografie in Deutschland und Österreich, der 1995 begleitend zu einer Ausstellung im Münchner Stadtmuseum erschien und eine umfassende historische Aufarbeitung der Geschichte privater fotografischer Praxis, ihrer zentralen Topoi sowie ihrer technischen und gesellschaftlichen Voraussetzung vorlegte.23 Methodisch bezog sich die Frage nach Narrationen und Topoi im Album dabei weitgehend auf die Ebene der versammelten visuellen Inhalte, die Frage danach, wie über spezifische Motive und Bilderfolgen Bedeutung generiert wird.

1.2

Im Fokus: Materialität und Gebrauch

Die Entwicklungen der letzten Dekaden bauen wesentlich auf diesen Fragestellungen auf, überlagern und ergänzen sie aber doch entscheidend. Als ein neuer Leitbegriff hat derjenige der „Materialität“ an Relevanz gewonnen – mit dem Anspruch, über die visuelle Dimension von Albumnarrationen hinauszugehen. Mehrere Entwicklungen laufen hier zusammen. Zunächst einmal hat insbesondere in der Fotografiegeschichte ein neues Interesse an der Objekthaftigkeit der Fotografie Raum gewonnen. Fotografien werden dezidiert nicht (mehr) nur als zweidimensionale visuelle Inhalte, sondern als Objekte in einer je spezifischen materiellen Verkörperung verstanden. Nicht von ungefähr fand dieser Paradigmenwechsel unter dem Eindruck der Wende zum digitalen Bild statt, insofern damit ein neuer Blick auf die materiellen Aspekte des Fotografischen möglich wurde.24 Ein Interesse an Materialität kommt im Zusammenhang mit der Beforschung von Alben aber auch aus einer medienhistorisch informierten Richtung. So rückte insbesondere das Album selbst – als Organisationszusammenhang von Bildern – in den Fokus. Problematisiert wurde die Vorstellung, Alben seien bloße „Behälter“ visueller Inhalte, die diesen äußerlich blieben. Mathias 22 Elizabeth Harvey/Maiken Umbach, Introduction: Photography and Twentieth-Century German History, in: Central European History 48 (2015) 3, 287–299, 292. Das veranschaulichen etwa Forschungen zu den sogenannten Täteralben aus der NS-Zeit und ihrer vielschichtigen Gebrauchs- und Rezeptionsgeschichte nach 1945. Siehe exemplarisch: Yasmin Doosry, Vom Dokument zur Ikone: Zur Rezeption des Auschwitz-Albums, in: dies. (Hg.), Representations of Auschwitz. 50 Years of Photographs, Paintings, and Graphics, Os´wie˛cim 1995, 95–103. 23 Starl, Knipser. Starl reflektiert darin auch über das private Album als autobiografische Praxis der Bedeutungszuschreibung und bildlicher Lebensentwurf; siehe insbesondere das Kapitel „Erinnerungen als Bild, Fotografie als Gedächtnis. Funktionen der Knipserfotografie“, 148– 157. 24 Vgl. Constanza Caraffa, „Wenden!“ Fotografien in Archiven im Zeitalter ihrer Digitalisierbarkeit: ein material turn, in: Rundbrief Fotografie 18 (2011) 3, 8–15.

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Bickenbach hat in diesem Zusammenhang den Begriff des Dispositivs eingebracht und Alben als „räumliche Ordnungssysteme für Vorgefundenes“ bezeichnet: „Ihr Raum eignet sich Material an und strukturiert es neu.“25 Diesen Zugang vertieft etwa Judith Blume, wenn sie aus der Analyse historischer Patentschriften Aspekte wie „Mobilität und Fixierung“, „Sortieren und Umsortieren“ oder „Wiederholung und Revision“ als Spannungsfelder der Ordnungsform Album ausmacht, die sich aus dessen spezifischen materiellen Voraussetzungen ergeben.26 Und schließlich sind es Zugänge aus der visuellen Anthropologie, und hier vor allem die Arbeiten von Elizabeth Edwards, die zu einem neuen Blick auf die Materialität des Albums beitragen und insbesondere den Aspekt des Gebrauchs auf neue Weise in den Fokus nehmen, indem sie sich für Spuren historischer Praktiken am fotografischen Material interessieren. Fragen zur – oft komplexen, mehrfachen – Autorschaft, zur Auswahl der Bilder, zur Anordnung, Beschriftung und Kommentierung sind entscheidend bei einem solchen Zugang – mithin jene Elemente, die zeigen, wie Fotos im Lauf der Zeit verwendet worden sind und welche Bedeutungen sich so an ihnen angelagert haben. Mit einer solchen Perspektive geht es darum, die „sozialen Biografien“27 der Alben und der in ihnen enthaltenen Bildobjekte zu rekonstruieren, indem man ihre Wege durch unterschiedliche private und institutionelle Kontexte nachverfolgt.28 Dabei ist insbesondere die methodische Herausforderung ins Bewusstsein gerückt, dass Ordnungs- und Beschriftungspraktiken in Alben mehrere Zeitschichten aufweisen können – etwa im Zusammenhang mit biografischen Brüchen wie Flucht und Exil, wenn Lebensgeschichten in ihrer bisherigen Ordnung neu zur Disposition gestellt worden sind.29 Ebenso sind Albumerzählungen von Leerstellen und Lücken geprägt, sei es, dass Objekte nachträglich aus dem Raum des Albums entfernt worden sind, sei es, dass gewisse Erzählungen von vornherein keinen Eingang ins Album gefunden haben. Auf die Entfernung von Fotos und mehr25 Matthias Bickenbach, Die Enden der Alben. Über Ordnung und Unordnung eines Mediums am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns Schnitte, in: Kramer/Pelz (Hg.), Album, 107–122, 107. 26 Vgl. Judith Blume, Wissen und Konsum. Eine Geschichte des Sammelbildalbums 1860–1952, Göttingen 2019, Kapitel 2: „Was ist ein Album? Antworten aus Patentschriften, Titelbildern und Zeitschriften“, 43–86. 27 Eine wichtige Bezugnahme bildet in diesem Zusammenhang Igor Kopytoffs Konzept der kulturellen Biographie der Dinge. Elizabeth Edwards, Objects of Affect: Photographs Beyond the Image, in: Annual Review of Anthropology 41 (2012), 221–234, 222; Elizabeth Edwards/ Janice Hart, Introduction: Photographs as objects, in: dies. (Hg.), Photographs Objects Histories. On the materiality of images, London/New York 2004, 1–15, 5. 28 Vgl. dazu auch: Randi Marselis, Personal Albums and Cultural Encounters: The Photo Albums at the Dutch National Maritime Museum, in: Museum & Society 16 (2018) 1, 56–71, 57. 29 Anton Holzer, Das Familienalbum im Exil. Zur Fotografie in den Texten von Dubravka Ugresˇic´, in: Fotogeschichte 21 (2001) 79, 41–57; Leo Spitzer, Hotel Bolivia. The Culture of Memory in a Refuge from Nazism, New York 1998, 49–56.

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fache Umgestaltung von Kriegsalben ehemaliger Wehrmachtsangehöriger – auch durch andere Familienangehörige – hat etwa Petra Bopp in ihrer Studie „Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“ hingewiesen,30 und Bernd Boll konstatiert, dass „beunruhigende Fotos“ aus dem Zweiten Weltkrieg oft auch weggesperrt wurden und keinen Eingang ins Album fanden.31 Unter Anlegung einer Perspektive der Materialität rückt damit gewissermaßen das „Tun“ mit den Bildern in den Vordergrund. Elizabeth Edwards, die in diesem Zusammenhang auf die Unzulänglichkeit rein linguistischer bzw. semiotischer Modelle der Bedeutungsproduktion hinweist, hat diesen Paradigmenwechsel folgendermaßen pointiert: Es gehe nicht nur um die Frage „how (do) images signify?“, sondern auch um eine andere, nämlich: „why do photographs as ‚things‘ matter for people?“32 Auf diese Weise hat sich das interdisziplinäre Feld der historischen Albumforschung zunehmend ausdifferenziert. Heute sind Perspektiven auf das Album interessiert am komplexen Akt des meaning-making und verknüpfen eine akteurszentrierte Betrachtungsweise mit einer hohen Sensibilität für die Materialität und den Gebrauch von Alben. Aber auch inhaltlich ist das Interesse am Album – in unterschiedlichen Disziplinen – vielseitig. Es reicht von Salonalben der Frühen Neuzeit33 über die Scrapbooks des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts34 bis zu Sammelbild-35 oder Postkartenalben36 im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Doch auch im Bereich der Beforschung fotografischer Alben ist das Feld weit gespannt und deckt historisch eine Zeitspanne von circa 1860 bis in die Gegenwart ab, wobei das private Fotoalbum, so wie es sich in einem Zeitraum zwischen den 1890er- und 1930er-Jahren ausgebildet hat37, bisher überdurchschnittlich stark untersucht worden ist. Dabei sind private Fotoalben, die in der Forschung dominieren, nur ein Segment. Erst in Ansätzen beforscht wurden etwa Alben zu Repräsentationszwecken, als Geschenke für Herrscher30 Petra Bopp, Fremde, 155–156. 31 Bernd Boll, Vom Album ins Archiv. Zur Überlieferung privater Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Anton Holzer (Hg.), Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, 167–178, 173. 32 Edwards, Objects of Affect, 224. 33 Margarete Zimmermann, Salonalben. Kollektive Gedächtniswerke der frühen Neuzeit, in: Kramer/Pelz (Hg.), Album, 254–270. 34 Monika Seidl, Das Scrapbook, in: Kramer/Pelz (Hg.), Album, 204–210; Patrizia di Bello, Women’s Albums and Photography in Victorian England. Laies, Mothers and Flirts, London 2007. 35 Judith Blume, Wissen und Konsum. 36 Eva Tropper, Praktiken im Postkartenalbum. Spuren sozialer Netzwerke, biografische Narration und Wissensorganisation, in: Bernd Stiegler/Kathrin Yacavone (Hg.), Norm und Form. Fotoalben im 19. Jahrhundert, Fotogeschichte 41 (2021) 161, 43–56. 37 Vgl. Anna Dahlgren, The ABC of the modern photo album, in: Jonathan Carson/Rosie Miller/ Theresa Wilkie (Hg.), The Photograph and the Album, Edinburgh 2013, 80.

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häuser und Regierungsträger, als Firmen-Dokumentation oder – mit Ausnahme der NS-Zeit – zu Dienstzwecken bzw. als Leistungsnachweis für Vorgesetzte etc.38

1.3

Typologien aufbrechen

Gemeinsam ist neueren Zugängen im interdisziplinären Feld der Albumforschung darüber hinaus der Versuch, konkrete Albumpraktiken zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen, statt bereits von einer bestimmten Vorstellung vom privaten Album auszugehen. Wie hartnäckig solche Vorstellungen wirksam sind, hat auf einer theoretischen Ebene die kanadische Kunsthistorikerin Martha Langford in den Blick genommen. In ihrer umfassenden Albumstudie „Suspended Conversations“ spricht sie von einer Mythenbildung rund um das private Album, die gewissermaßen Ergebnis der grundlegenden methodischen und theoretischen Vernachlässigung des Mediums sei.39 Nicht nur wurde dieses von verschiedenen TheoretikerInnen der Fotografie beständig mit dem Familienalbum gleichgesetzt, sondern von einer allgemein gültigen „Idee“ des Albums („a general idea of album“) überformt.40 Im Zuge dessen habe sich eine spezifische Vorstellung vom privaten Album als einer Kohärenz stiftenden, zumeist einer Lebenschronologie folgenden Erzählung durchgesetzt, die lediglich die schönen Seiten des Lebens dokumentiere und für Themen wie persönliche Verluste, Tod, Krankheit, persönliche Konflikte oder soziales Scheitern keinen Raum ließe. Damit verbunden sind oft klare Vorstellungen über den Inhalt, den Aufbau, gängige Motive und die Autorschaft – etwa der Mutter als Kompilatorin des Familienalbums und Bewahrerin des Familiengedächtnisses41. Alle Familienalben zeigen dasselbe, lautet eine wiederkehrend daraus abgeleitete Schlussfolgerung.42 Und eine weitere – im Fotografiediskurs lange Zeit über dominierende –, dass die primäre Funktion des privaten Albums in der Repräsentation, Bestätigung und Legitimierung dominierender Ideologien von Familie, von Geschlechterrollen oder Gemeinschaft liege.43 Wie Gillian Rose argumentiert, fußen diese 38 Vgl. dazu Verna Posever Curtis, Photographic Memory. The Album in The Age of Photography, aperture: Library of Congress, New York 2011; Nathalie Patricia Soursos, The Dictator′s Photo Albums: Photography under the Metaxas Dictatorship, in: Journal of Modern History 16 (2018) 4, 509–525. Zu Firmenalben am Beispiel der Firma Krupp siehe Klaus Tenefelde (Hg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994. 39 Langford, Suspended Conversations, 24. 40 Langford, Suspended Conversations, 23 [Hervorh. im Orig.]. 41 Pagenstecher, Fotoalben, 453; zur Kritik daran Langford, Suspended Conversations. 42 Zur Frage der Redundanz und Ähnlichkeit von Motiven im Familienalbum, differenziert betrachtet, siehe Chalfen, Snapshot. 43 So etwa sehr früh formuliert in Bourdieu/Boltanski et al., Illegitime Kunst.

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Einschätzungen nicht allein auf der Konventionalität, Konformität und Redundanz der Motive privater Fotografie, sondern auch auf dem fehlenden Interesse an der Frage der konkreten sozialen Gebrauchsweisen der Alben, ihrem audiencing und den sie begleitenden emotionalen Aspekten.44 Analysen konkreter Fallbeispiele sind in der Lage, solche Konzepte produktiv in Frage zu stellen. Dass private Fotoalben nicht grundsätzlich dominierende Konzepte von Familie bestätigen, zeigen etwa Forschungsarbeiten zur privaten Fotografie aus queerer Perspektive. Sie eröffnen den Blick auf autobiografische Selbstentwürfe alternativer Familiengenealogien und Gemeinschaften, die mittels Rückgriff auf das kulturelle Format Album konstruiert werden und damit gleichzeitig hegemoniale Vorstellungen und gesellschaftliche Normen von Familie und Geschlechterrollen zur Disposition stellen.45 Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage zu stellen, ob das Album diesem Bedürfnis nach alternativen Genealogien gerade deshalb entgegenkommt, weil es traditionell ein selbstverständliches Medium für die Konstruktion und Abbildung von „legitimen“ heterosexuellen Paarbeziehungen und von heteronormativem Familienleben darstellt. Die Unzulänglichkeit einer homogenisierenden Vorstellung vom privaten Fotoalbum veranschaulichen aber auch jene Arbeiten, die sich der Frage widmen, welchen Niederschlag traumatische Erfahrungen wie Krieg, Flucht und Verfolgung in privaten Alben finden. So zeigen Untersuchungen zu privaten Alben von jüdischen Überlebenden der NS-Verfolgung und ihren NachfahrInnen auf eindrückliche Weise, dass für diese eine kohärente, einer Lebenschronologie folgende und auf Zukunft ausgerichtete Erzählung in der Regel nicht möglich war. Es zeigt sich aber auch das Fehlen klassischer Motive, oder die Vielschichtigkeit bestimmter Bildmotive, deren Bedeutung häufig sprichwörtlich hinter der Bildoberfläche verborgen liegt.46 Doch es geht nicht nur darum, gängige Konzepte und Zuweisungen an das private Fotoalbum aufzubrechen. Auf einer allgemeineren Ebene stellt sich die Frage, inwiefern die in der Forschungsliteratur lange gängige Praxis der Kate44 Gillian Rose, ‚Everyone’s cuddled up and it just looks really nice‘: an emotional geography of some mums and their family photos, in: Social & Cultural Geography 5 (2004) 4, 549–564, 550–551. 45 Siehe zum Beispiel Susanne Regener: Vom Wohnzimmer auf die Straße, Zum Motiv der Maskerade in der Schwulenbewegung, in: dies./Katrin Köppert (Hg.), privat/öffentlich. Mediale Selbstentwürfe von Homosexualität, Wien 2013, 41–69; Stefanie Snider, „This Book was made for Lesbians“. The possibilities of visualising community in Lesbian photo albums, in: Carson/Miller/Wilkie (Hg.), The Photograph, 319–345; Siehe auch Erika Hannas Analyse der Fotoalben von Dorothy Stoke, in denen alternative, weibliche Lebensentwürfe verhandelt werden: Erika Hanna, Reading Irish Women’s Lives in Photograph Albums. Dorothy Stoke and her camera (1925–1953), in: Cultural & Social History 11 (2014) 1, 89–109. 46 Starl, Knipser, 124; Spitzer, Hotel Bolivia; Bakondy, Montagen.

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gorisierung – also der Einteilung in ein Genre bzw. in bestimmte Albumtypen wie Familienalben, Reisealben, Sammelalben47 – nicht überhaupt auf ihren heuristischen Wert hin zu überprüfen ist. Der identifizierende Blick auf das Album ist zwar hilfreich, um Themen- und Motivschwerpunkte zu ermitteln und auf Abweichungen und Alternativnarrative aufmerksam zu machen,48 nicht jedoch um den „privaten Sinn“ einzelner Bilder zu erfassen.49 „[A]lbums deny closure by categorization“, so Martha Langford. Diese vorab vorgenommenen Kategorisierungen würden mitunter den Blick auf die vielfältigen kreativen Nutzungen und Ausdrucksweisen versperren, die in einem Album zum Vorschein kommen, und seien durchaus ahistorisch konzipiert.50 In eine ähnliche Richtung argumentiert Matthias Bickenbach, wenn er meint, dass sich bereits in der begrifflichen Eingrenzung in z. B. Fotoalbum oder Sammelalbum eine „Verengung auf eine bestimmte Form und Ordnung“ vollziehe, die der Heterogenität individueller Albumpraktiken und -formen nicht gerecht werde.51 So nutzen AlbumautorInnen verschiedene (auch massenhaft hergestellte, zusammengesammelte) Bildquellen, um Alben zu kompilieren und ihren individuellen Erinnerungen und Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Ein Grund mag in der Tatsache begründet sein, dass zumindest bis in die 1920er-Jahre der Besitz einer eigenen Kamera für die unteren Einkommensschichten noch ein nicht leistbares Gut darstellte.52 Zudem wurden, wie Anna Dahlgren in ihrer Analyse schwedischer, fotografischer Ratgeberliteratur zum Album herausarbeitet, AlbumautorInnen in den 1930er- und 1940er-Jahren auch dazu ermuntert, Fotografien mit gedruckten Bildern, Texten, Symbolen und Zeichen zu vermischen.53

47 Die Schweizer Historikerin Nora Mathys identifiziert in Anlehnung an ein Modell von Andrew Walker und Rosalind Moulton sechs verschiedene Albumtypen im privaten Bereich „1) autobiographisches Album, 2) Familien-, 3) Reise-, 4) Ereignisalbum, 5) thematisches und 6) gewidmetes Album“. Mathys, Nora, Ein Fotoalbum als visuelle Spur einer Lebensgeschichte, in: Schweizer Volkskunde, 95 (2005), 88–97, 91. 48 Mathys, Fotofreundschaften, 91. 49 Pagenstecher, Fotoalben, 454. 50 Langford, Suspended Conversations, 18. 51 Bickenbach, Die Enden, in: Kramer/Pelz (Hg.), Album, 107–122, 110. 52 So Starls Befund zur privaten Fotopraxis für Deutschland und Österreich, vgl. Starl, Knipser, 17. 53 Dahlgren, The ABC, 84. Timm Starl wiederum konstatiert ein verstärktes Aufkommen der Collage in privaten Fotoalben seit den 1960er-Jahren in Deutschland und Österreich und führt dies auch auf veränderte Seh- und Rezeptionsgewohnheiten infolge der zunehmenden Verbreitung des Fernsehens zurück, das „[…] eine Epoche des beinahe ununterbrochenen Bildkonsums“ eingeleitet habe (Starl, Knipser, 139).

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Was Alben „tun“: Zur performativen Bedeutungsproduktion

Im Kontext des wachsenden Interesses an den sozialen Gebrauchsweisen und Funktionen der Fotografie – „what photographs do and are expected to do in the world“54 – rückt das Album auch als performatives Medium eines fortgesetzten meaning-making in den Fokus der Betrachtungen. Das betrifft zunächst die Ebene des Kompilierens, mit der sich Menschen über fotografische Praktiken, Anordnungen und Zusammenstellungen in ein Verhältnis zum Erlebten, zur eigenen Geschichte und zu ihrem Dasein in der Welt setzen. Darin spiegeln sich auch soziale und gesellschaftliche Rahmungen und Wissensordnungen wider. Erica Hanna spricht in diesem Zusammenhang vom Album als einer Art kuratierten Selbstentwurfs: „[…] albums are a demotic form of life curation that open up new possibilities for historians beyond traditional objects of study such as diaries and letters“.55 Die Einblicke, die AlbumautorInnen dabei in ihr Leben eröffnen, sind immer selektiv und geben Aufschluss darüber, was aus Sicht der AlbumautorInnen bedeutend und erinnerungswürdig ist.56 Die Schweizer Historikerin Nora Mathys hat in ihrer Untersuchung von Freundschaftsbeziehungen und deren Visualisierung im Album dargelegt, wie das Medium zudem die Möglichkeit bietet, sich Personen „anzueignen“ und Beziehungen darzustellen – etwa, indem Fotos auf Albumseiten verschieden positioniert, ausgeschnitten und kommentiert werden.57 Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass Anordnungen in Fotoalben eben nicht nur soziale Beziehungen widerspiegeln, sondern auch miterzeugen. Alben sind daher, wie von Mette Sandbye hervorgehoben, nicht als statische, sondern als soziale und dynamische Objekte zu betrachten: „They perform stories about gender, national identity, the family, and much more“.58 Das zeigt Susanne Regener in ihrer Untersuchung von Fotoalben eines homosexuellen Paares im Dänemark der späten 1950er-Jahre. Diese versammeln private Aufnahmen von Karnevalfesten, die Cross-Dressing und transgressive Geschlechterrollenspiele unter Freunden im geschützten privaten Rahmen festhalten. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Unterdrückung und Verfolgung homosexueller Lebensweisen, die als „Effeminierung und Mann-in-Frauenkleidern öffentlich konnotiert wurden“, dokumentiere diese fotografische Alltagspraxis nicht nur eine homo54 Elizabeth Edwards, The Thingness of Photographs, in: Stephen Bull (Hg.), A Companion to Photography, Oxford 2020, 97–111, 110. Vgl. auch Sandbye, Looking, 2. Sehr früh hat sich der US-amerikanische Anthropologe Richard Chalfen mit dieser Frage in seinem Buch Snapshot Versions of Life (1987) beschäftigt. 55 Hanna, Snapshot Stories, 19. 56 Chalfen, Snapshot, 98. 57 Mathys, Fotofreundschaften, 24–25. 58 Sandbye, Looking, 13–14.

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sexuelle Subkultur, sondern konstituiere diese auch mittels einer „Taktik der Selbstermächtigung“.59 Doch Aspekte performativer Bedeutungsproduktion erschöpfen sich nicht im Akt des Kompilierens. Sie setzen sich in den Praktiken des Zeigens und gemeinsamen Betrachtens der Alben fort, in denen Bedeutung kontinuierlich und vielstimmig ausgehandelt wird. Verschiedene AutorInnen wie Richard Chalfen, Elizabeth Edwards und Martha Langford haben besonders auf die kommunikativen Aspekte des Albums hingewiesen, insofern es laufend, und bei jedem Betrachten neu, zu Geschichten und Dialogen anregt: „The album is an instrument of collective show and tell. ‚It engenders a text’ that is not a text but a conversation. An album is an oral-photographic-performance“.60 Martha Langford argumentiert, dass die Organisation von Fotografien in Alben ein Weg gewesen sei, die Strukturen mündlicher Überlieferung für neue, gegenwärtigere Gebrauchsweisen zu erhalten.61 Zugleich liege in genau dieser kommunikativen Verfasstheit auch ein methodisches Potenzial für die Auseinandersetzung mit historischen Alben, nämlich „to reopen an album through conversation“.62 Insofern verwundert es nicht, dass Interviews mit AlbumautorInnen oder deren NachfahrInnen – sofern möglich – einen zentralen methodischen Zugang in der Erschließung von Alben vor allem von VertreterInnen der soziologischanthropologischen Fachdisziplinen bilden.63 Im Fall anonymer Alben könne der gekappte kommunikative Faden indirekt wieder aufgenommen werden, indem Menschen mit ähnlichem sozioökonomischen Hintergrund und geografischer Verortung mit dem Album konfrontiert und eingeladen werden, ihre Interpretationen zu teilen. Einen solchen Zugang wählte etwa das Tropenmuseum in Amsterdam im 2012 gestarteten Projekt „Foto zoekt familie“ / „Photo Seeks Family“. In diesem Projekt wurde ein anonymer Bestand von Fotoalben aus der ehemaligen Kolonie „NiederländischIndien“ (heute Indonesien) digitalisiert und versucht, Kontakt mit jenen source communities herzustellen, die an einer gemeinsamen Lektüre der Alben interessiert waren, wie Randi Marselis ausführt.64 Über Blogbeiträge und die Mög59 60 61 62

Regener, Wohnzimmer, 55. Langford, Suspended Conversations, 20. Langford, Suspended Conversations, 21. Martha Langford, Speaking the Album: An Application of the Oral-Photographic Framework, in: Annette Kuhn/Kirsten Emiko McAllister (Hg.), Locating Memory: Photographic Acts, New York/Oxford 2008, 223–246, 227. 63 Mathys, Fotofreundschaften, 37; Chalfen, Snapshot; Rose, emotional geography; Roswitha Breckner, Sozialtheorie des Bildes. Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien, Bielefeld 2010. 64 Randi Marselis, Photo Seeks Family: Digitization, Visual Repatriation and Performative Memory Work, in: Amy Levin (Hg.), Global Mobilities: Refugees, Exiles, and Immigrants in Museums and Archives, London 2017, 348–367.

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lichkeit, sich in Dialogen über die in den Alben dargestellten Szenen und Personen zu unterhalten, wurde so eine performative Erinnerungsarbeit angestoßen, die nicht nur neue Aspekte der Alben zutage förderte65, sondern insbesondere auch einen gegenwärtigen Dialog über Vergangenes anstieß. In diesem Sinn lässt sich das Fotoalbum mit Elizabeth Edwards als ein interaktives Objekt bezeichnen, weil es Geschichten und Geschichte entstehen lässt und Erinnerungen und Gefühle hervorruft, die sonst nicht artikuliert werden würden: „Photographs allow people to articulate histories in interactive social ways that would not have emerged in those particular figurations if photographs had not existed. Photographs become a form of interlocutor. They literally unlock memories and emerge in multiple soundscapes, allowing the sounds to be heard and thus enabling knowledge to be passed down, validated, absorbed and prefigured in the present.“66

II.

Albumpraktiken und Zeitgeschichte

Die methodische Öffnung, die das Feld der Albumforschung in den letzten Dekaden erfahren hat, ist weitreichend. Vom Wissenstransfer aus unterschiedlichen Disziplinen wie den Kulturwissenschaften und der Kulturanthropologie haben insbesondere auch zeithistorische Forschungen profitiert – und umgekehrt haben zeithistorische Forschungen selbst genuine Beiträge geliefert, um das Album in seinem komplexen Quellenwert zu verstehen. Gerade Aspekte des Gebrauchs und der vielschichtigen Verwendungsgeschichte fotografischen Materials haben in der zeithistorischen Auseinandersetzung mit dem Album immer schon eine zentrale Rolle gespielt, da die Entstehungs-, Gebrauchs- und Rezeptionsgeschichte in der Analyse von zentraler Bedeutung ist. Im Mittelpunkt zeithistorischen Interesses steht weiterhin vor allem das (private) Fotoalbum. Anhand einzelner Fallbeispiele oder ganzer Sammlungsbestände werden Fra65 Dabei seien, wie Randi Marselis unter Rückgriff auf einen Begriff von Elizabeth Edwards schreibt, sowohl „forensische Lektüren“ vorgenommen worden – also der Versuch der BetrachterInnen, Menschen und Orte zu identifizieren oder die ursprünglichen BesitzerInnen der Alben herauszufinden – war es doch ein Ziel des Tropenmuseum, die anonymen Alben wenn möglich den Nachkommen ihrer BesitzerInnen rückzuerstatten. Über die „forensischen Lektüren“ hinaus aber sei es vor allem darum gegangen, Dialoge anzuregen und die Alben als Orte vielstimmiger, sich überschneidender Geschichten für das gemeinsame Gespräch zu öffnen. Marselis, Photo Seeks, 356. Zum Begriff der „forensic readings“ und zum Potenzial kollektiver Lektüren von Alben vgl. Elizabeth Edwards, Talking Visual Histories: Introduction, in: Laura Peers/Alison K. Brown (Hg.), Museums and Source Communities: A Routledge Reader, London 2003, 84–97. 66 Elizabeth Edwards, Photographs and the Sound of History, in: Visual Anthropology Review, 21 (2005) 1+2, 27–46, 36.

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gestellungen zum privaten Leben67 (Freizeit, Familie, Urlaub, Alltag), zur Visualisierung verschiedener Formen von Gemeinschaft68 und zur visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung gesellschaftlicher Ereignisse und Verhältnisse (von Krieg, Diktaturen, Kolonialismus etc.)69 untersucht. Das Album dient dabei als (autobiografische) Quelle für Wahrnehmungs- und Identitätsbildungsprozesse sowie als subjektives Erinnerungsmedium, wobei Forschungen zu Albumpraktiken im Kontext von Unrechts- und Gewaltregimen sowie kriegerischen Konflikten dominieren. Untersuchungen zur NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg, hier insbesondere Fotoalben von Angehörigen der Wehrmacht, der SS und anderer nationalsozialistischer Einheiten sind überdurchschnittlich stark vertreten,70 demgegenüber sind Forschungen zu Alben aus der Provenienz von Opfern und Verfolgten des NS-Regimes bis heute die Ausnahme.71 In den letzten Jahren rückte zudem das Interesse an Alltagsfotografien und privaten Bildpraktiken in verschiedenen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu-

67 Starl, Knipser; Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben, 1950–1990, Hamburg 2003 [Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 86]. 68 Mathys, Fotofreundschaften; Ulrike Pilarczyk, Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel, Göttingen 2009. 69 Bopp, Fremde; Umbach, Selfhood; Monica Rüthers, Das Leben als Expedition. Die Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs (1940er- bis 1970er- Jahre), in: Zeithistorische Forschungen 14 (2017) 1, 128–148 und Rüthers, Picturing; Wurzer, Die sozialen Leben. 70 Exemplarisch: Doosry, Representations; Boll, Album; Bopp, Fremde; Maja Naef, Augen_ Zeugen: Geordnete Erinnerung. Das Fotoalbum eines Wehrmachtssoldaten, in: Heiko Haumann (Hg.), Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse – Analysen – Methoden, Frankfurt a. M. 2010, 79–100; Stephan Matyus, Auszeit vom KZ-Alltag. Das Bretstein-Album, in: DÖW (Hg.), Täter. Österreichische Akteure im Nationalsozialismus, Wien 2014 [Österreichisches Jahrbuch 2014], 107–133; Ute Wrocklage, Die Fotoalben des KZ Kommandanten Karl Otto Koch – Private und öffentliche Gebrauchsweisen, in: Hildegard Frübis, Clara Oberle, Agniesza Pufelska (Hg.), Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis, Wien/Köln/Weimar 2019; Brutman/Hördler/Kreutzmüller, fotografische Inszenierung. 71 Ein Grund für diese Diskrepanz in der Forschung mag auf ungleiche Voraussetzungen der Überlieferung zurückzuführen sein und auf die Tatsache, dass für den deutschsprachigen Raum die nachhaltige Tradierung einer Vielzahl an „Täterbildern“ konstatiert wird. Zu Alben aus der Provenienz von Opfern und Verfolgten vgl. Cord Pagenstecher, Vergessene Opfer. Zwangsarbeit im Nationalsozialismus auf öffentlichen und privaten Fotografien, in: Fotogeschichte 17 (1997) 65, 59–71; Cord Pagenstecher, 1998 Knipsen im Lager? Privatfotos eines niederländischen Zwangsarbeiters im nationalsozialistischen Berlin, in: Fotogeschichte, 18 (1998) 67, 51–60; Cord Pagenstecher, Privatfotos ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – eine Quellensammlung und ihre Forschungsrelevanz, in: Meyer, Winfried/ Neitmann, Klaus (Hg.), Zwangsarbeit während der NS-Zeit in Berlin und Brandenburg. Formen, Funktion und Rezeption. Potsdam 2001, 223–246; Leora Auslander, Reading German Jewry through Vernacular Photography: From Kaiserreich to the Third Reich, in: Ventral European History 48 (2015) 3, 300–334; Bakondy, Montagen.

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nehmend in den Fokus der Forschung.72 Eine zentrale Gemeinsamkeit dieser Forschungen kreist um die Frage, wie sich verschiedene politische-repressive Systeme, hegemoniale Ideologien, sowie Umbrüche und Krisenerfahrungen in privaten Bildbeständen abbilden und welchen Einfluss diese auf die private Fotografier- und Albumpraxis haben. Ausgehend von einer akteurszentrierten Betrachtungsweise richtet sich der Fokus der Analyse auf visuelle Deutungen des eigenen Lebens vor dem Hintergrund des unmittelbaren sozialen, politischen und gesellschaftlichen Rahmens, der Reproduktion und Affirmation dominanter Ideologien, aber auch möglichen Spuren von Dissens und Kritik. So hat etwa Cristina Cuevas-Wolf Alben aus der DDR in der Zeitspanne der 1950er- bis 1980er-Jahre als einen jener wenigen Orte analysiert, „where individual expression had the license to be less guarded and playful, and where the private self was openly documented over time“.73 Ein Beispiel eines die Staatsmacht affirmierenden Bezugs hingegen untersucht die Historikerin Maiken Umbach am Beispiel von Alben aus dem nationalsozialistischen Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre. Sie arbeitet dabei heraus, wie Grundsätze der nationalsozialistischen Ideologie in fotografischen Praktiken und Inhalten sowie der nachträglichen Zusammenstellung im Album zum Ausdruck kommen. Das zeige sich nicht nur in Fotografien mit explizit politischem Inhalt bzw. Symbolik, so ein zentrales Argument der Autorin, sondern vielmehr in der Behauptung einer vermeintlichen Normalität trotz des politischen Umbruchs – exemplarisch ausgeführt an der Dokumentation touristischer Reisen im Album und der wiederkehrenden Bezugnahme zu „Heimat“.74 Bezogen auf Forschungen zum privaten Album hat Laura Wexler dieses als einen Ort bezeichnet, an dem „Staatsmacht“ und „Familie“ zusammentreffen. Sie plädiert dafür, das Familienalbum als Quelle zu analysieren, „that creates, conserves and reflects the meaning of state power as vividly as do official government documents, albeit in alternate forms“75. Private Albumpraktiken müssen demnach im Kontext staatlicher Politik, die sich auf Individuen auswirke, reflektiert 72 Zu nennen sind hier z. B. die Arbeiten von Maiken Umbach zum nationalsozialistischen Deutschland, Cristina Cuevas Wolf zur DDR sowie Monica Rüthers und Oksana Sarkisova sowie Olga Shevchenko zur Sowjetunion: Umbach 2015; Cristina Cuevas-Wolf, Making the Past Present: GDR Photo Albums and Amateur Photographs, in: Visual Resources 30 (2014) 1, 33–56; Oksana Sarkisova, Olga Shevchenko, The Album as Performance. Notes on the Limits of the Visible, in: Julie A. Buckler, Julie A. Cassiday, Boris Wolfson (Hg.), Russian Performances. Word, Object, Action, Madison 2018, 42–53; Oksana Sarkisova, Olga Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography. Events, Evidence, Erasure, in: Olga Shevchenko (Hg.), Double Exposure. Memory and Photography, New York 2017, 147–174; Rüthers, Leben als Expedition; Rüthers, Picturing. 73 Cuevas-Wolf, Making the Past, 38. 74 Umbach, Selfhood. 75 Laura Wexler, The State of the Album, in: Jennifer Orpana/Sarah Parsons (Hg.), Seeing Family [Photography & Culture 10 (2017) 2], 99–103, 100.

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werden. Wexler nennt als ein Beispiel die rechtlich-administrativen Vorgaben in Bezug auf legitime – und illegitime – Familienformen, die entscheidenden Einfluss darauf nehmen würden, was bzw. wer überhaupt abgebildet wird bzw. abbildbar ist: „It is governments that determine not only what social and biological forms will be recognized in the legal regime as a family but also which members of said family forms will be able to be available to be photographed as such in the first place, and in what ways they may or may not become visible.“76 So gedacht wird das Album als Quelle lesbar, die auf Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen verweisen kann, ebenso wie auf Strategien der Selbstermächtigung und Repräsentationen nicht-hegemonialer Lebensentwürfe. Ausgehend davon lässt sich etwa untersuchen, wie migrationsbedingte Erfahrungen von biografischen Diskontinuitäten und Bruchlinien in Alben dargestellt werden – etwa hinsichtlich der Repräsentation transnationaler Familienkonstellationen bzw. „getrennter Familien“ als Folge ökonomischer und sozialer Ursachen, sowie restriktiver Migrationsgesetzgebung,77 oder hinsichtlich der visuellen Darstellung und Aushandlung transkultureller Erfahrungen und von Zugehörigkeit über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Die Quelle Album, das zeigt die rege Forschungslandschaft, eröffnet daher den Blick auf unterschiedliche historische Akteure und Akteurinnen und ihre Aushandlungen bzw. Aneignungen von Geschichte. Die zum Vorschein kommenden Erzählungen und Gebrauchsweisen enthalten subjektive Wahrnehmungen und Sichtweisen auf Vergangenes. Als biografisches Ordnungssystem verstanden, erzählt das Album, in den Worten Anton Holzers, „Lebensgeschichte, die immer auch eine Gesellschaftsgeschichte aus subjektivem Blickwinkel ist“.78 Die Entstehungsgeschichte sowie die (nachträgliche) Gebrauchs- und Rezeptionsgeschichte von Alben referiert daher auf die jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Konstellationen, die sie rahmen. Eine Auseinandersetzung mit ihnen hat das Potenzial, auf einer inhaltlichen als auch methodisch-theoretischen Ebene zu neuen Sichtweisen auf Geschichte und Geschichtsschreibung beizutragen.

76 Ebd. 77 Vgl. Vida Bakondy, Objekte der Erinnerung – Erzählungen zur Migration. Ein Sammlungsprojekt und eine Ausstellung zur Migrationsgeschichte im Wien Museum, in: Johanna Gehmacher/Klara Löffler/Katharina Prager (Hg.): Biografien und Migration, ÖZG, 31 (2018) 3, 189–201, 194. 78 Holzer, Familienalbum, 47.

Ulrich Prehn

Selbst-(Re-)Präsentationen von Körperlichkeit, Geschlechterund Generationenbeziehungen: Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend aus den 1920er- und 1930er-Jahren*

Private Fotografien stellen eine reichhaltige Quelle zur Untersuchung von Bildern dar, die bestimmte soziale Gruppen, kulturelle und generationelle Milieus im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert – und bis in die Gegenwart hinein – von sich entwarfen und teilten. Dabei sind in der (foto-)historischen Forschung in den letzten Jahren vor allem Fotoalben verstärkt in den Blick gerückt; eine Reihe von AutorInnen entsprechender geschichtswissenschaftlicher und ethnologischer Studien haben analysiert, wie – speziell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – fotografische AmateurInnen versuchten, Themen wie „Freundschaft“, „Kameradschaft“ und „Gemeinschaft“ visuell zu verhandeln.1 Den FotoAmateurInnen2 scheint es – bewusst oder unbewusst – ein zentrales Anliegen gewesen zu sein, „visuelle Formulierungen“3 für Themen wie Freundschaft, Kameradschaft und Gemeinschaft zu finden oder, in den Begriffen des Kunsthistorikers Max Imdahl ausgedrückt, solche sprachlich abstrakt klingenden In* Für wertvolle Hinweise, Anregungen und Kritik, die den Text bereichert und meinen Blick auf die Foto-Motive geschärft haben, bedanke ich mich herzlich bei Veronika Springmann, Levke Harders, Elissa Mailänder sowie den HerausgeberInnen des Heftes. 1 Vgl. etwa Nora Mathys, Fotofreundschaften. Visualisierung von Nähe und Gemeinschaft in privaten Fotoalben aus der Schweiz 1900–1950, Baden 2013; sowie Christin Pinzer, Konstruktionen von Wirklichkeiten. Variierende Erzähl-Strukturen in einem privaten Fotoalbum des 20. Jahrhunderts, Berlin 2019. 2 Ich bevorzuge diesen Begriff gegenüber der gängigen, häufig von einem geringschätzigen Unterton grundierten Rede von den „KnipserInnen“. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe „Knipser“ und „Fotoamateur“ für den hier untersuchten Zeitraum kaum trennscharf voneinander abzugrenzen sind, da die Amateurspraxis spätestens seit den 1920er-Jahren eine erhebliche Bandbreite – von technisch und ästhetisch vollkommen nicht versierten AkteurInnen bis zu ambitionierten, und z. T. in technischer Hinsicht sehr kenntnisreichen HobbyfotografInnen – aufwies. 1938 brach der Autor mehrerer auflagenstarker Foto-Ratgeber, Hans Windisch, eine Lanze für die häufig geschmähten „Knipser“; vgl. ders., „Knipser…“, in: Die Foto-Schau 3 (1938), Juli 1938, 4–5. 3 Diesen überzeugenden Begriff hat die bildwissenschaftlich arbeitende Erziehungswissenschaftlerin Ulrike Pilarczyk geprägt; vgl. dies., Grundlagen der seriell-ikonografischen Fotoanalyse. Jüdische Jugendfotografie in der Weimarer Zeit, in: Jürgen Danyel/Gerhard Paul/ Annette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, 75–99, 87.

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halte oder Topoi vor allem vermittels bildkompositorischer Verfahren zur „Anschauung“ zu bringen.4 Dass sich diese im Hinblick auf visuelle Repräsentationen und Inszenierungen attraktiven Themen wie „Erlebnis“ und „Gemeinschaft“ auch in Fotoalben von Angehörigen von Jugendbewegungen finden, ist also nicht erstaunlich. Ziel meiner Analyse ist es, den besonderen Wert der Quellengattung Fotoalbum als narratives Medium der Selbst-(Re-)Präsentation für Angehörige einer Bewegung, die in auch in anderen – vorwiegend schriftlichen – Formen von Selbstzeugnissen und programmatischen Texten die Bedeutung des unmittelbaren Erlebens von „Gemeinschaft“ betonte, herauszuarbeiten. Denn hinsichtlich dieser von Angehörigen der deutschen Jugendbewegung angefertigten Ego-Dokumente ist zu bedenken, dass deren AkteurInnen – bislang in der historischen Forschung weitgehend vernachlässigt – auch visuelle, vielfach von „Pathosformeln“ (Aby Warburg) geprägte Mittel zur Stilisierung von Erlebnis-Dimension und „Gemeinschafts“-Erfahrung einsetzten. Mit Blick auf das Verhältnis von „Erfahrung“ und deren Repräsentationsweisen, insbesondere in der (seriell-) narrativen Form des Fotoalbums, ist also zu fragen: Welche Bedeutung hatte das Album für die zeitgenössischen AkteurInnen als Ordnungsmedium, bot es Raum zur Selbstverständigung und Selbstvergewisserung, ja womöglich zur (Selbst-) Reflexion? Und welche konkreten Züge weist das albenübergreifende Phänomen der von den jeweiligen UrheberInnen durch Mittel der fotografischen Repräsentation sowie durch narrative Verfahren erzeugten Verdichtung von Erlebnissen zu einer generalisierbaren „Erfahrung“ auf ? Oder ist anstatt von einer Verdichtung womöglich nur von einer (retrospektiven) Stilisierung von Erlebnissen etwa zur vergeschlechtlichten oder zur generationellen Erfahrung zu sprechen? Über diese spezifischen Fragestellungen hinaus würde es den Rahmen dieses Textes sprengen, den Wert und die Qualitäten von Fotoalben als Quelle für die (kultur-)historische Forschung sowie Kontinuitäten und Wandlungen in Bezug auf Formen und Funktionen des Mediums im 19. und 20. Jahrhundert5 zu diskutieren. An dieser Stelle kann ich nur stichpunktartig auf ausgewählte Aspekte verweisen, die für die im vorliegenden Aufsatz vorgenommene Analyse von Bedeutung sind: 4 Vgl. Max Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 300–324. 5 Vgl. etwa Martha Langford, Suspended Conversations. The Afterlife of Memory in Photographic Albums, Montreal u. a. 2001; Matthias Bickenbach, Das Dispositiv des Fotoalbums: Mutation kultureller Erinnerung. Nadar und das Pantheon, in: Jürgen Fohrmann/Andrea Schütte/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Medien der Präsenz: Museum Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001, 87–128; sowie Ellen Maas, Die goldenen Jahre der Fotoalben. Fundgrube und Spiegel von gestern, Köln 1977.

Ulrich Prehn, Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend

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1. Sowohl das Medium Fotografie als auch das „Dispositiv des Fotoalbums“6 boten den UrheberInnen oder AutorInnen eine große Bandbreite von Äußerungs- und Gestaltungsformen: zunächst einmal, für die einzelnen Aufnahmen, im Hinblick auf fotografischen Ausdruck und Formgebung sowie in Bezug auf die (An-)Ordnung der Abzüge im Album selbst, im Sinne von Präsentation und Wahrnehmung, für die die Gestaltung des Albums zentral ist (Montage, grafisches Design, Betextung, Materialfülle). Überdies spielt in einem (aus dem 21. Jahrhundert rückblickend) breit ausdifferenzierten Medienensemble das Fotoalbum eine wichtige Rolle im Hinblick auf Verfahren und (kombinierte, textuell-visuelle) Gestaltungsweisen seriellen Erzählens. 2. Das komplexe Verhältnis von Fotografie und Erinnerung, also etwa der Erinnerungswürdigkeit von fotografisch repräsentierten Situationen sowie des Aspekts der Erinnerungsordnung und -steuerung durch Fotografien, wirft Fragen auf, die ein entsprechendes Themenfeld der material culture studies tangieren (Überlieferung, Funktion, Gebrauchspraxen von Fotografien) 7 und auf Grundannahmen neuerer Forschungen zu verschiedenen Gedächtnisformen (individuell, kollektiv, kulturell)8 verweisen. Dabei ist, einem Befund der britischen Kulturanthropologin und Fotohistorikerin Elizabeth Edwards folgend, immer auch das Verhältnis der Einzelbilder zu ihrer speziellen Funktion im Album mitzubedenken – nämlich im Hinblick darauf, wie durch ihre Einordnung in das Album (die die Bildaussage des jeweiligen einzelnen Fotos zu modifizieren, beschränken oder nahezu auszulöschen vermag) eine narrative Struktur entsteht.9 3. In den je spezifischen Ausformungen fungieren Fotoalben als Ego-Dokumente als mediale Organisationsformen von Selbstentwürfen und stellen gleichzeitig einzigartige Repräsentationen von Erinnerungs-Ordnungen, dar, die nicht zuletzt Einblicke in spätere Neuordnungs-, Umdeutungs- und „Zensur“Möglichkeiten und -Praktiken gewähren.10 6 Siehe hierzu Bickenbach, Dispositiv, 101: „Das Album visualisiert als Dispositiv der Sammlung […] vor allem zwei Figuren: Die variable Anordnung, das Montageprinzip sowie das Prinzip der Serie, die in die Zeit hin offen ist.“ (Hervorhebung i. O.). 7 Vgl. Elizabeth Edwards, The Thingness of Photographs, in: Stephen Bull (Hg.), A Companion to Photography, Hoboken 2020, 97–112. 8 Vgl. als Überblick: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin, New York 2004; in Bezug auf Fotografien: Harald Welzer (Hg.), Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus, Tübingen 1995. 9 Siehe Elizabeth Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, in: History and Theory 48 (2009) 4, 130–150, hier 147. 10 Instruktiv im Hinblick auf die Rolle, die das Fotoalbum als „Ordnungs- und Speichermedium“ für die individuelle „Erinnerungsarbeit“ der jeweiligen UrheberInnen (mit der Möglichkeit, durch Montage und retrospektive Kommentierung unterschiedliche Materialien und Fragmente neu zusammenzusetzen) spielt, ist der Ansatz von Vida Bakondy, Montagen der

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Als übergreifende, auf die ausgewählten Bildtopoi bezogene Fragestellung werden im Folgenden Überlegungen systematisiert, in deren Zentrum die fotografischen Repräsentationsweisen von Körperlichkeit sowie von interpersonellen Beziehungen – zugespitzt auf die Aspekte „Geschlecht“ und „Generation“ – stehen, wie sie in privat überlieferten Fotoalben11 zu finden sind. Die AutorInnen oder ursprünglichen BesitzerInnen der analysierten Alben stammen aus verschiedenen politisch-weltanschaulichen Spektren der deutschen Jugendbewegung (von der Arbeiterjugend bis ins bürgerlich-liberale und völkisch-radikalnationalistische Milieu) oder gehörten einer Gliederung der Hitler-Jugend an. Im Rahmen einer Analyse der durch die Alben transportierten Selbstbilder und Körper-Bilder von Jugendlichen in den 1920er- und 1930er-Jahren soll insbesondere danach gefragt werden, wie „Geschlecht“ und „Generation“ – zumeist miteinander verschränkt – ins Bild gesetzt werden. Ein solcher Ansatz kann – gerade im Rahmen neuerer kulturgeschichtlicher Fragestellungen, deren zentrale Kategorien „Erfahrung“ und „Wahrnehmung“12 sind – helfen, das im vorliegenden Aufsatz untersuchte Material sinnvoll zu erschließen und angemessen zu interpretieren.13 Auch werden im Hinblick auf das Medium Fotoalbum wichtige allgemeine Fragen wie die nach spezifischen Erzählmustern und Gestaltungsweisen sowie nach den unterschiedlichen Stilen und Thematiken (was Fokus und Motivik der einzelnen Aufnahmen und „Bildstrecken“ angeht) in die Untersuchung miteinbezogen.

Vergangenheit. Flucht, Exil und Holocaust in den Fotoalben der Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy, Göttingen 2017, hier 239f. 11 Die untersuchten Fotoalben entstammen einer rund 100 Alben umfassenden Sammlung, welche von mir seit 2010 systematisch in Bezug auf Fotoalben aus Deutschland (bzw. aus den zwischen 1939 und 1945 vom nationalsozialistischen Deutschen Reich besetzten Gebieten) angelegt wurde, die inhaltlich-motivisch einen Zeitraum von ca. 1875 bis in die 1970er-Jahre abdecken. Zur vergleichenden Analyse werden zusätzlich eine Seite und ein Einzelmotiv eines Fotoalbums aus einem Bestand des Archivs der „Werkstatt der Erinnerung“, dem OralHistory-Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, herangezogen. 12 Anregend sind vor allem die grundlegenden Überlegungen von Ute Daniel zum „Erfahrungs“-Begriff im Rahmen eines wahrnehmungsgeschichtlichen Zugriffs, auch wenn die Historikerin sie nicht in Bezug auf Fotoalben, sondern auf lebensgeschichtliche Erzählungen formuliert hat; vgl. dies., Erfahren und verfahren. Überlegungen zu einer künftigen Erfahrungsgeschichte, in: Jens Flemming u. a. (Hg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, 9–30, hier 17–18. 13 Ute Daniel, die sich im deutschsprachigen Raum neben Reinhart Koselleck am intensivsten mit dem „Erfahrungs“-Begriff als Analysekategorie für (kultur-)geschichtliche Fragestellungen auseinandergesetzt hat, stellt die drei Ansätze „erfahrungsgeschichtliche Perspektive“, „geschlechtsspezifische Differenzierung“ und „generationsspezifische Herangehensweise“ nebeneinander – ich plädiere für deren Verschränkung. Vgl. Daniel, Erfahren und verfahren, 11.

Ulrich Prehn, Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend

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Dabei gehe ich in drei Schritten vor: Im ersten Abschnitt untersuche ich nicht nur, wie die in den Alben enthaltenen Fotografien Körperlichkeit thematisieren, sondern analysiere die Alben vor allem im Hinblick auf (fotografisch-)performative Praktiken des „doing gender“.14 Im zweiten Abschnitt, der den Fokus auf transgenerationale Beziehungen in den Fotomotiven sowie in den Beschriftungen der entsprechenden Albumseiten richtet, wird herausgearbeitet, dass die Kategorien „Geschlecht“ und „Generation“ in den Alben als miteinander verschränkte Topoi verstanden werden müssen. Im letzten Abschnitt werden die narrativen Strukturen der drei Alben skizziert, um die Bedeutung von Fotoalben als Versuch individueller und kollektiver Selbstthematisierungen bzw. von Bild und Schrift kombinierenden Lebens(abschnitts)erzählungen genauer zu bestimmen. In Verbindung damit wird das Verhältnis von „Erlebnis“/„Erfahrung“ einerseits und fotografischen sowie (im Albumskontext) narrativen Repräsentationsweisen andererseits diskutiert – zugespitzt in der Frage nach der Möglichkeit, Spuren individueller oder kollektiver Erfahrung(en) durch die Analyse von Fotoalben herauszuarbeiten.15 Selbstverständlich – dies sei vorausgeschickt – können anhand von (nur) drei Alben keine generalisierenden Aussagen über fotografische Repräsentationen und spezifische Erinnerungs- und Präsentationsformen (Album) der „deutschen Jugendbewegung“ in ihrer bürgerlichen und proletarischen Ausprägung oder auch der Hitler-Jugend getroffen werden. Die Auswahl der Alben (aus einer weitaus größeren Vergleichsgruppe) basierte auf folgenden Kriterien: Sie sollten motivisch ergiebig sein im Hinblick auf möglichst viele der drei für meine Fragestellung zentralen Themenkomplexe (Repräsentationen von Körperlichkeit, Geschlechter- und Generationenbeziehungen) sowie zumindest ein gewisses Spektrum von jugendlichen bzw. „jugendbewegten“ Milieus und den Zeitraum von Weimarer Republik und (früher) NS-Zeit abdecken.16 Damit im Folgenden 14 Hierzu grundlegend: Sarah Fenstermaker/Candace West (Hg.), Doing Gender, Doing Difference. Inequality, Power, and Institutional Change, New York u. a. 2002. 15 Selbstverständlich sind, wenn hier von „Spuren“ von Erfahrung(en) die Rede ist, Warnungen vor einer essentialisierenden Lesart des Erfahrungsbegriffs ernst zu nehmen, wie sie v. a. Joan Scott in ihrem grundlegenden Aufsatz formuliert hat; vgl. dies., The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17 (1991), 773–797. Scott weist auch auf die komplexen Deutungszusammenhänge hin, in die der Erfahrungsbegriff eingebunden ist und die „Erfahrung“ selbst herstellt: „Experience is at once always already an interpretation and something that needs to be interpreted.“ Ebd., 797 (Hervorhebung i. O.). 16 Um die – noch immer überschaubare – Forschung darüber, welchen Beitrag die Analyse historischer Fotografien für die Historiografie der deutschen Jugendbewegung zu leisten vermag, sei auf folgende Titel verwiesen: Winfried Mogge, Bilddokumente der Jugendbewegung. Stichworte für eine Ikonografie der jugendbewegten Fotografie, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 14 (1982/83) 141–158; Barbara Stambolis/Markus Köster (Hg.), Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. Fotos und Fotoalben wurden auch bereits

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immer deutlich ist, auf welches Fotoalbum ich mich jeweils beziehe, stelle ich sie zunächst kurz vor: Das erste Album ist mit 60 Seiten das umfangreichste; es handelt sich um ein gebundenes Steck-/Klebealbum im Format 17 x 22 cm mit einem grau-grün-blau gemusterten Halbleineneinband, der mit goldenen Prägeverzierungen und dem Schriftzug „Erinnerungen“ versehen ist. Es enthält neben Naturaufnahmen überwiegend Fotografien von Freizeitaktivitäten einer Gruppe von Pfadfindern (deren Dachorganisation in Deutschland der 1911 gegründete Deutsche Pfadfinderbund darstellte17), die in strikt chronologischer Abfolge einen Zeitraum von 1929 bis Frühjahr 1933 abdecken. Im Folgenden wird es als „Pfadfinderalbum“ bezeichnet.18 Das zweite Album wurde nicht von einem Angehörigen der bürgerlichen Jugendbewegung, sondern der Arbeiterjugendbewegung angelegt. Es ist ein 48seitiges (nur bis zur Hälfte beklebtes), 68 Abzüge enthaltendes kordelgebundenes Klebealbum im Format 22 x 32,5 cm. Thematisch behandelt das Album des jungen Mannes aus Sachsen, der einer Gruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ)19 angehörte, einiges mehr als lediglich die Freizeit- und politischen Aktivitäten der Gruppe, u. a. Familie und die Liebesbeziehung zu einer jungen Frau, in einem Zeitraum von ca. 1924 bis 1934, wobei die narrative Struktur des Albums weitaus stärker von Themenkomplexen oder motivischen „Clustern“ bestimmt wird als von chronologischen Gliederungselementen. Aufgrund der Beschriftung ausgewertet in der Studie von Horst-Pierre Bothien, Die Jovy-Gruppe. Eine historisch-soziologische Lokalstudie über Jugendliche im „Dritten Reich“, Münster 1995, 119–127. Materialreich, aber analytisch eher zurückhaltend: Achim Freudenstein/Arno Klönne, Bilder Bündischer Jugend – Fotodokumente von den 1920er Jahren bis in die Illegalität, Edermünde 2010. 17 Der Deutsche Pfadfinderbund zählte zu Beginn der 1930er-Jahre „schätzungsweise 12.000 Mitglieder einschließlich der deutschen Auslandsgruppen“. Vgl. Wilhelm Fabricius, Der Deutsche Pfadfinderbund, in: Hertha Siemering (Hg.), Die Deutschen Jugendverbände. Ihre Ziele, ihre Organisation sowie ihre neuere Entwicklung und Tätigkeit. Dritte, neu bearb. Folge der beiden Handbücher Die deutsche Jugendpflegeverbände und Die deutschen Jugendverbände, Berlin 1931, 45–47, 47. 18 Es ist Teil der Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 091. 19 Mit ihren rund 50.000 Mitgliedern zählte die SAJ 1927 – zu einem Zeitpunkt, da von den insgesamt 9 Mio. im Deutschen Reich lebenden Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren immerhin 4,1 Mio. Jugendorganisationen unterschiedlichster Couleur angehörten – zu den kleineren Arbeiterjugendverbänden der Weimarer Republik. Vgl. Bilder der Freundschaft. Fotos aus der Geschichte der Arbeiterjugend. Hg. vom Archiv der Arbeiterjugendbewegung Oer-Erkenschwick, Münster 1988, 114. Die SAJ war aus den Arbeiterjugendvereinen hervorgegangen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg aus der Vormundschaft der SPD zu lösen begannen; auf ihrem 1920 in Weimar abgehaltenen Jugendtag bekannten sie sich zur Jugendbewegung und gaben sich dort ihren neuen Namen. Vgl. Arno Klönne, Die Bündischen unter dem Druck der Politisierung, in: G. Ulrich Großmann/Claudia Selheim/Barbara Stambolis (Hg.), Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013, 113–119, 114.

Ulrich Prehn, Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend

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auf der ersten Albumseite wird es im Folgenden als (SAJ-)Album „Erinnerungen an meine Jugendzeit“ bezeichnet.20 Das dritte Album schließlich ist ein anlassbezogenes Album, das Fotos von einem „Kameradschaftslager“ enthält, das die Hitler-Jugend21 in Verbindung mit der Herrnhuter Brüdergemeinde und der evangelischen Badischen Landeskirche in Königsfeld (Schwarzwald) im Sommer 1935 abhielt. Dabei handelte es sich um für Jungen und Mädchen getrennte Zeltlager. Als Autorin des Albums ist ein Mädchen/eine junge Frau anzunehmen: Auf der Einbandinnenseite ist der Name „I. Herrfahrdt“ zu finden; dass das Initial für einen weiblichen Namen steht, kann aus einer der Beschriftungen von Albumseite 17 („Bei uns Mädeln […]“, siehe unten, Abb. 7) geschlossen werden. Das 30-seitige Steckalbum mit grün-beigebraun quergestreiftem Stoffeinband und Metallringbindung im Format 18 x 27 cm enthält 20 Abzüge verschiedenen Formats. Es wird im Folgenden als „HJKameradschaftslager-Album“ bezeichnet.22

I.

Körperlichkeit und „doing gender“

Thematisierungen von adoleszenter Körperlichkeit und „Geschlecht“ fanden in Fotoalben von Angehörigen des bereits in begrifflicher Hinsicht tendenziell unscharfen, „ausfransenden“ Milieus der deutschen Jugendbewegung23 in den 1920er- und 1930er-Jahren in verschiedensten Weisen Ausdruck. Diese erstrecken sich von Foto-Motiven und entsprechenden albumspezifischen Erzählweisen, die homosoziale Vorstellungen von Freundschaft und „Kameradschaft“24 transportieren, bis hin zu spielerisch-transgressiven Formen fotografischer Repräsentationsweisen, die die traditionell(-binären) Vorstellungen von „Ge-

20 Überliefert als: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 072. 21 Vgl. v. a. Kathrin Kollmeier, Ordnung und Ausgrenzung. Die Disziplinarpolitik der Hitlerjugend, Göttingen 2007; sowie zur weiblichen Jugendbewegung und zum „Bund Deutscher Mädel“ – insbesondere zu den jeweiligen Geschlechterverhältnissen: Dagmar Reese (Hg.), Die BDM-Generation. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus, Berlin 2007. 22 Überliefert als: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 078. 23 So arbeitet etwa Wilfried Ferchhoff die Unterschiedlichkeit „in den Zielen der Gemeinschaften und Gesellungsformen“ heraus, die vor allem zwischen der Arbeiterjugendbewegung und „bürgerlichen Wandervögeln“ bestanden; vgl. Wilfried Ferchhoff, Wandervogel, Jugend und Jugendkultur, in: Werner Faulstich (Hg.), Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Das Erste Jahrzehnt, München 2006, 117–133, 121. 24 In Bezug auf die Jugendbewegung ist zu betonen, dass für das „Verhältnis zum anderen Geschlecht […] die Idee der Kameradschaft, die Erotik überdeckend, leitend“ war. Siehe Meike Sophia Baader, Geschlechterverhältnisse, Sexualität und Erotik in der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Großmann/Selheim/Stambolis (Hg.), Aufbruch der Jugend, 58–66, 63.

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schlecht“ und Geschlechterordnungen, zumindest für einen Moment, in Frage zu stellen geeignet waren (und sind). Die im eingangs beschriebenen „Pfadfinderalbum“ enthaltenen 144 Fotos sind insofern repräsentativ für Fotoalben von Angehörigen der (bürgerlichen) deutschen Jugendbewegung, als Frauen hier kaum sichtbar sind,25 nämlich in nur zwei Aufnahmen, die größere Gruppenkonstellationen zeigen, sowie auf zwei weiteren Fotografien, auf denen Frauen lediglich als Randfiguren im Bildhintergrund zu sehen sind.26 Die im Album enthaltenen Aufnahmen sind – erneut typisch für das Gros entsprechender Alben – mehrheitlich fotografische Repräsentationen eines ( jugendlichen) „Männerbundes“. Die narrative Struktur des Albums erschließt sich auf den ersten Blick nicht, doch bei genauerer Analyse zieht sich als bedeutsamer „roter Faden“ ein „Freundschafts“-Motiv durch das gesamte Album, das über bloße Repräsentationen von „Kameraderie“ weit hinausgeht. Zwei der abgebildeten Jungen kristallisieren sich im Verlauf der Albumerzählung als dessen Protagonisten heraus. Einer der beiden kann ziemlich sicher als Autor und ursprünglicher Besitzer des Albums angenommen werden. Als charakteristische Abbildungsform ist das Doppelporträt einer offenbar als besonders „innig“ empfundenen (und als solche zu erinnernden) Freundschaft auszumachen. Auf Seite 26 des Albums sind die beiden Jugendlichen mit der Bildunterschrift „Amsterdam 2 Weltenbummler“ abgebildet, auf Seite 44 (Abb. 1) firmieren sie als „2 Sonnenbrüder!“.27 Dass der kleinere von 25 Damit ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Fotoalben, die Aktivitäten von Angehörigen der sozialistischen Arbeiterjugendbewegung zeigen, und solchen, die Freizeit und Lebenswelt von bürgerlichen „Jugendbewegten“ thematisieren, angesprochen: Während im arbeiterjugendlichen Milieu in der Regel männliche und weibliche Jugendliche gemeinsam „auf Fahrt“ gingen (und dies fotografisch festhielten), ist der Regelfall für Fotoalben aus dem bürgerlich„jugendbewegten“ Milieu eher die Repräsentation der „männerbündlerisch“ inszenierten Jungengruppe, auch wenn keineswegs alle Bünde das gemeinsame Wandern von Jungen und Mädchen ablehnten. Beispiele (Deutsche Freischar, Freischar junger Nation) nennt Elizabeth Harvey, Serving the Volk, Saving the Nation: Women in the Youth Movement and the Public Sphere in Weimar Germany, in: Larry Eugene Jones/James Retallack (Hg.), Elections, Mass Politics, and Social Change in Modern Germany, Cambridge 1992, 201–221, 217. 26 Uniformierung und paramilitärische Züge (etwa in den Geländespielen der Pfadfinder) lassen die von der Historikerin Ute Frevert in Bezug auf das Militär entwickelte Interpretation der „Schule der Männlichkeiten“ auf das Pfadfindermilieu durchaus übertragbar erscheinen. Vgl. Ute Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, in: Ulrike Brunotte/Rainer Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008, 57–75. 27 Die Beschriftung, nämlich die Betonung der Zweierkonstellation, unterstreicht den Bildausschnitt, den entweder der Fotograf gewählt hat oder – weniger wahrscheinlich – auf einen späteren Eingriff ins Originalformat (also einer ursprünglich weiter kadrierten Aufnahme) qua Ausschnittvergrößerung zurückgeht. Dass hier durch die Beschriftung der Fokus auf die zwei „Sonnenbrüder“ gerichtet wird, ist umso erstaunlicher, als bei näherer Betrachtung des Motivs an der Hüfte des rechts abgebildeten Jungen die Hand einer dritten Person sichtbar ist, der – bis auf die Hand – nicht mitabgebildet ist und um dessen Schulter der rechts

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beiden die Hand seines Freundes, der ihm seinen Arm um die Schulter gelegt hat, hält, drückt – zumal in Anwesenheit des Fotografen – die Innigkeit der Freundschaft aus.

Abb. 1: „Pfadfinderalbum“, ca. 1929–1933 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 091, Seite 44)

abgebildete Junge vermutlich seinen linken Arm gelegt hat. Das Zusammenspiel von Beschriftung und Bildausschnitt kreiert also erst das „Duo“ aus einer mindestens aus drei Personen bestehenden Gruppe.

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Zwei Beispiele aus einem Fotoalbum, dessen Motive vor allem für das arbeiterjugendliche Milieu der 1920er-Jahre typische Freizeitaktivitäten zeigen, können als prototypisch für fotografische Topoi angesehen werden, die das (Selbst-)Bild linker Angehöriger der deutschen Jugendbewegung im Hinblick auf Körperlichkeit und Geschlechterbeziehungen veranschaulichen. Es handelt sich um ein Album aus dem Besitz der Eheleute Tamara und Heinrich Schmalhans,28 geboren 1911 bzw. 1909 in Hamburg, in verschiedenen Lagern der linken Jugendbewegung aktiv – Tamara als Jungpionierin im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands sowie im Arbeitersportverein Fichte,29 Heinrich zunächst, bis zu seinem Eintritt in die KPD 1932, in der SAJ – und seit 1934 miteinander verheiratet. Es geht aus den lebensgeschichtlichen Interviews nicht hervor, wer von den beiden das Album angelegt hat; zweifellos dominiert jedoch ein männlicher Blick die enthaltenen Aufnahmen, und für die gesamte Albumerzählung sind die Wander- und „Fahrt“-Erlebnisse einer Gruppe männlicher Jugendlicher zentral. Sie präsentieren sich auf den Fotos als „wild“, naturverbunden und dem einfachen Leben in proletarisch-„zünftiger“ Tradition verpflichtet und stets mit „Klampfe“ und Geige unterwegs, wie eine Auswahl an Bildunterschriften (auf Seiten, die hier nicht abgebildet werden können) verdeutlicht: „Wilde Gesellen“ bzw. „Zünftige Gesellen“, „Fürsten in Lumpen und Loden“, „Vom Sturmwind durchweht“, „Hallih, Hallah, wir fahren [/] wir fahren in die Welt ohne Geld“ und „In Hamburg wurde die Fahrkarte nach Prag zusammen Geschallert [sic]“, also durch Straßenmusik finanziert. Während die Beschriftungen des auf der folgenden Albumseite (Abb. 2) rechts oben montierten Fotos („Wenn die Arbeitszeit zu Ende“; „Irgendwo in einer Herberge nach Feierabend“) zugleich auf die Klassenzugehörigkeit der Abgebildeten sowie auf den Stellenwert ihrer Freizeitaktivitäten verweist, transportiert vor allem der in der Mitte montierte Abzug das jugendlich-männliche Selbstbild der Gruppe. Die Fotos veranschaulichen auch die Bedeutung von Kleidung (Stichwort: „Kluft“) als „stilbildendes“ Element eines jugendkulturellen Milieus, das sich äußerlich wie habituell sowohl vom Bürgertum als auch vom Kleidungsstil der Eltern-Generation abzugrenzen suchte.30 28 Bei diesen Namen handelt es sich um Pseudonyme; für die beiden ZeitzeugInnen liegen ausführliche lebensgeschichtliche Interviews vor, die der Historiker Alfons Kenkmann zwischen dem 26. August und dem 5. Oktober 1993 mit ihnen führte; Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Werkstatt der Erinnerung 180. 29 Korrekt lautet der Vereinsname „Freier Turn- und Sportverein Fichte Hamburg-Eimsbüttel von 1893 e. V.“. 30 Durch Kleidervorschriften werde „Geschlecht als ‚echte‘ Erfahrung am Körper spürbar“, betonen Marguérite Bos, Bettina Vincenz, Tanja Wirz, Erfahrung: Alles nur Diskurs? Auseinandersetzung mit einer Debatte um einen vielschichtigen Begriff, in: dies. (Hg.), Erfahrung, 9–21, 19. Im Umkehrschluss kann die Wahl eines eigenen, von Vorschriften und

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Abb. 2: Abfotografierte Seite aus einem Fotoalbum von Tamara und Heinrich Schmalhans, ca. 1920er-Jahre (Quelle: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Werkstatt der Erinnerung [FZH/WdE] 180)

Die Beschriftung – „Braungebrannt sind wir und verwegen [/] Das Lieben [sic] die Mädels so sehr“ – zeigt eine weitere Facette dieses Selbstbildes auf: Die fotografischen Selbst-(Re-)Präsentationen dienen nicht zuletzt als Projektionsfläche der von den jungen Männern angenommenen Wünsche ihrer Alters- und „Fahrten“-Genossinnen, also als Projektionsfläche (imaginierten) weiblichen Begehrens innerhalb der peer group. Genuin mediale Praxen des „doing gender“ finden hier konkreten (geschlechts-)spezifischen Ausdruck im Sinne eines „doing masculinity“, d. h. auf der betreffenden Albumseite: in Form der gewählten fotografischen (Selbst-)Repräsentation und einer entsprechenden sprachlich durch die Beschriftung verstärkten Präsentation des Fotos im Album. Ein weiteres, auf einer anderen Albumseite montiertes Foto (Abb. 3) zeigt eine junge Frau als Zentralfigur der fotografierten Gruppe, die sich als AkteursKollektiv im Akt des (Bade-)Verbots-Übertritts inszeniert; die beiden jungen Normen abweichenden Kleidungsstils eben auch als Teil eines Selbstentwurfs – hier eines männlichen – gelten, der die insbesondere durch fotografische Inszenierungen vermittelten Körper und den Habitus der Gruppenmitglieder gleichsam an der Schnittstelle von „Geschlecht“ und Generationszugehörigkeit ansiedelte und „ausstellte“. Den Aspekt der theaterhaften „Aufführung“ bringt eine Kapitelüberschrift in Marjorie Garbers 1992 veröffentlichtem Buch auf den Punkt: „Dress Codes, or the Theatricality of Difference“; siehe Marjorie Garber, Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety, New York u. a. 1992, 21.

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Männer links und rechts haben ihre Fäuste in die Hüften gestemmt und rahmen kraftvoll-körperbetont die Gruppe. Freundschaft, „Kameradschaft“ und Nähe drückt sich in den Umarmungen bzw. den auf die Schultern der/des jeweiligen „Nachbar(i)n“ gelegten Händen aus. Auch deutet sich in der eingenommenen Pose eine Gleichberechtigung der Geschlechter an: Auf der Ebene der Bildkomposition ist eine junge Frau fotografisch repräsentiert, die (ohne dass sie selbst die beiden direkt neben ihr Stehenden berührt) „eingerahmt“ wird von vier männlichen Altersgenossen. Doch gleichzeitig ist sie, ausgesprochen selbstbewusst wirkend, als Zentralfigur hinter dem Verbotsschild positioniert.

Abb. 3: Abfotografiertes Motiv einer mit vier Schwarzweiß-Abzügen beklebten Seite aus einem Fotoalbum von Tamara und Heinrich Schmalhans, ca. 1920er-Jahre (Quelle: FZH/WdE 180)

Kennzeichnend für eine Vielzahl der in den „jugendbewegten“ Alben enthaltenen Aufnahmen ist der hoch performative Charakter des Agierens vor der bzw. für die Kamera. Dass – und auf welche Weisen – für die Kamera „posiert“ wurde, soll an dem „Erinnerung an meine Jugendzeit“ betitelten Album eines SAJ-Angehörigen herausgearbeitet werden. Posen, Verkleidungspraktiken und „Rollenspiele“ nehmen dort einigen Raum ein. Auf Seite 15 ist der Protagonist (und vermutliche Urheber) des Albums – hier, was die Kleidung angeht, eindeutig in die Frauenrolle „geschlüpft“ – abgebildet als „Gäthe“ (Abb. 4). Der gewählte Name, so steht zu vermuten, stellt die sächsisch-mundartlich eingefärbte Version des Namens Käthe dar, denn die SAJ-Gruppe Grüna/

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Abb. 4: (SAJ-)Album „Erinnerungen an meine Jugendzeit“, ca. 1924–1934 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 072, Seite 15)

Schönau hatte, wie aus der Beschriftung der Seite hervorgeht, ihr Zeltlager im mittelsächsischen Großhartmannsdorf aufgeschlagen. Die von „Gäthe“ eingenommene Pose31 – die frontal der Kamera zugewandte Haltung, das Schnüren der „Bluse“ – spielt in Verbindung mit der Kleidung eine wichtige Rolle für die die Betrachterin bzw. den Betrachter direkt „adressierende“, auf die „Zeugenschaft“ der Betrachtenden hinsichtlich der „Aufführung“32 setzende Bildwirkung. In Verbindung mit der humoristischen (Namens)-Beschriftung verweist das Foto von „Gäthe“ auf eine doppelte, verschränkte Performativität, nämlich der Handlung selbst und deren medialer Repräsentation.33

31 Zum Akt des Posierens vor der bzw. für die Kamera vgl. Craig Owens, Posieren, in: Hertha Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, 92–114. 32 Auch das mit „Die Nachtwache“ beschriftete Fotomotiv jener Albumseite wirkt, insbesondere durch die beinahe bühnenhaft wirkende künstliche Beleuchtung wie eine „Aufführung“. Zu den Konzepten von „Performanz“ und „Perfomativität“ grundlegend: Doris Kolesch, Biographie und Performanz – Problematisierungen von Identitäts- und Subjektkonstruktionen, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, 45–53. 33 Siehe ebd., 46. Kolesch betont hier, „dass Performativität nicht einfach heißt, dass etwas getan wird, sondern dass ein Tun aufgeführt wird, dass Ausführen immer auch Aufführen heißt“ (Hervorhebung i. O.).

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Zudem steht „Gäthe“ in jenem Foto, das so wirkt, als sei es „hinter den Kulissen“ bzw. am Rande eines „Auftritts“ aufgenommen worden, vor einem Kleiderstapel, der möglicherweise als eine Art Fundus gedient hat. Diese Deutung liegt insofern nahe, als eine Vielzahl von Aufnahmen von Arbeiterjugendlichen „auf Fahrt“ Akte des Verkleidens und Crossdressing-Praktiken zeigen;34 das Spiel mit Geschlechteridentitäten kann also, neben anderen Formen transgressiver „Rollenspiele“,35 durchaus als typisch für fotografische Selbstrepräsentationen von Arbeiterjugendlichen und deren Freizeitaktivitäten gelten.

Abb. 5: (SAJ-)Album „Erinnerungen an meine Jugendzeit“, ca. 1924–1934 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 072, Seite 19)

Doch stellt das Foto des Protagonisten in einer nicht eindeutig männlich konnotierten Repräsentation die zeitgenössisch-traditionellen (hetero-normativen)

34 Hierzu grundlegend: Garber, Vested Interests. Einen materialreichen Fundus im Hinblick auf vergleichbare, in bzw. für Fotografien inszenierte Praxen im Kontext deutscher Wehrmachtsangehöriger bieten der vom Londoner Archive of Modern Conflict herausgegebene Band: Ed Jones/Timothy Prus (Hg.), Nein, Onkel! Snapshots from Another Front, 1938–1945, London 2007; sowie Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2019. 35 Eine Reihe anschaulicher Foto-Beispiele sind abgedruckt in: Bilder der Freundschaft. Fotos aus der Geschichte der Arbeiterjugend. Hrsg. vom Archiv der Arbeiterjugendbewegung OerErkenschwick, Münster 1988, etwa: 66–67, 91, 153, 181–182.

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Geschlechterverhältnisse im Rahmen der Albumerzählung keineswegs in Frage – im Gegenteil. Eine Reihe weiterer enthaltener Aufnahmen (z. B. Abb. 5) sorgt für die Stabilisierung der herkömmlichen Geschlechterordnung – hier in Form eines von hinten aufgenommenen „Paar-Porträts“, welches sich auf der Albumseite eigentümlich – auf den ersten Blick scheinbar überflüssig – doppelt, da der zweite „Schnappschuss“ extrem unscharf ist. Andererseits stellt sich bei der Betrachtung der beiden unteren Abzüge, in Kombination mit der in der Beschriftung formulierten (Suggestiv-)Frage „Wer wird das sein?“ eine Art „filmischer“, seriell erzählender Effekt ein: Das Paar, vermutlich der Urheber des Albums und seine Freundin, geht – von der halbnahen (linken) Aufnahme in die Totale (rechts) springend – zugleich in die Unschärfe und entschwindet, der Konvention einer Schlusseinstellung klassischer Spielfilmnarrationen entsprechend, in den ins „Unendliche“, per Straßenverlauf aus dem Bildrahmen herausführenden Bildhintergrund, in eine imaginierte Zukunft.

II.

Transgenerationale Beziehungen

Für „jugendbewegte“ Arbeiterjugendliche spielte offenbar, was die fotografische Repräsentationsebene anbelangt, das transgenerationelle Moment eine weitaus weniger prominente Rolle als für die bürgerlichen „Wandervögel“, in deren Fotoalben viele Aufnahmen von der großen Bedeutung der Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Alterskohorten für die Aktivitäten, das Selbstverständnis und den inneren Zusammenhalt der „Bünde“ zeugen. War die sogenannte Älterenfrage, also die Debatte über Status und Funktion der „Älteren“ entweder als mögliche Vorbilder oder als „Belastung“ und Hindernis für die Jugendlichen, ein kontrovers diskutierter Topos in „bündischen“ Zeitschriften bis in die frühen 1930er-Jahre hinein,36 so vermag in Bezug auf die Fotoalben der Grad an „überhöhender“ Inszenierung in (und durch) Aufnahmen, die interbzw. transgenerationelle Begegnungen und Strukturen zeigen, durchaus zu überraschen. Dieser Befund gilt jedoch nicht nur für die Jugendbünde in Deutschland vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Er gilt ebenso für die Hitler-Jugend, über deren Verhältnis zu den Jugendbünden der 1920er- und frühen 30er-Jahre (Strukturähnlichkeit bzw. Übernahme von Gesellungsformen, Vergemeinschaftungspraktiken, Symbolen und rituellen Hand36 Vgl. etwa für das protestantisch-radikalnationalistische Lager Heinz-Dietrich Wendland: Gegenwart und Zukunft der Jugendbewegung, in: Deutsches Volkstum 6 (1924), 189–195, 194; vgl. außerdem den Aufsatz des Führers des Bundes Deutscher Neupfadfinder (dem u. a. auch Claus Graf Schenk von Stauffenberg angehörte): Martin Voelkel, Zur Älteren- und Führerfrage, in: Der weiße Ritter 4 (1923), 90–95.

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lungen) in der Forschungsliteratur seit den späten 1970er-Jahren verstärkt Meinungsverschiedenheiten zutage traten.37 Zunächst soll der Blick auf Repräsentations- und Inszenierungsweisen von Inter-/Transgenerationalität als Topos im Fotoalbum von I. Herrfahrdt über die in Baden 1935 veranstalteten Sommerzeltlager für männliche und weibliche Angehörige der Hitler-Jugend gerichtet werden. In der Bildmotivik zeigt es ein für entsprechende Alben aus der NS-Zeit typisches Narrativ: fotografische Inszenierungen jugendlicher Körper als „Körper“-Kollektiv (oder bisweilen, das Individuum in der Masse auflösend, als „Kollektiv-Körper“) sowie als Träger von „Dienst“, „Pflicht“ und „Leistung“. Eine entgegengesetzte Inszenierungsstrategie ist in Bezug auf fotografische Repräsentationen von Generationen-„Begegnungen“ und -verhältnissen zu konstatieren. Hier werden zumeist konkret fassbare Individuen als Proto- oder Idealtypen in Szene gesetzt, wie die beiden auf folgender Albumseite (Abb. 6) abgebildeten Personen. Obwohl beide individuelle Züge tragen, bleiben sie auf der Seite anonym und werden, per Bildunterschrift, unter ein übergeordnetes Motto der tagesaktuellen (Dienst-)„Aufgabe“ gestellt. Die Botschaft der fotografischen Inszenierung der beiden jungen Männer ist vor allem durch die Gestik der scheinbar sprechenden, mit dem Zeigefinger auf ihr Gegenüber deutenden rechten Person im Prinzip schon eindeutig genug: Der (möglicherweise ältere, „erfahrene“) „Führer“, körperlich als „in sich ruhend“ in Szene gesetzt, instruiert den ihm zugewandten Untergebenen. Verstärkt wird die Botschaft durch den Einsatz fotografisch-gestalterischer Mittel extremer Ästhetisierung; die Gegenlicht- und Profilaufnahme erzeugt einen schattenrissähnlichen Effekt, der zeitgenössischen BetrachterInnen aus anderen Kunst-/ Medienformen wie der Lithographie, aber vor allem dem Stummfilm überaus geläufig war. Auch die „sprechende“ Bildunterschrift erinnert in gewisser Weise an die gesetzten, entweder Dialoge transportierenden oder die Handlung „vorantreibenden“ Zwischentitel – nur dass im Medium Fotoalbum Bild und Schrift auf einer Seite zusammenmontiert werden können. Im gesamten Albumzusammenhang ist die oben gezeigte Aufnahme diejenige, die das Verhältnis von zwei jungen Männern, deren Altersunterschied nicht allzu deutlich erkennbar ist, als ausgesprochen hierarchisches in Szene setzt.38 37 Gute, zugespitzte Überblicke geben Michael H. Kater, Bürgerliche Jugendbewegung und Hitlerjugend in Deutschland von 1926 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), 127– 174; sowie Arno Klönne, Bündische Jugend, Nationalsozialismus und NS-Staat, in: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 1985, 182–189. 38 Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass die Geste des rechts Abgebildeten (die ausgestreckte – auf der Bildebene „ins Herz“ des links Abgebildeten zielende – Hand) eine Verbundenheit der Körper (auf der Bildebene) sowie – zwischen Weisungsgeber und Weisungsempfänger – eine Verbundenheit „des Geistes“ suggeriert.

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Abb. 6: „HJ-Kameradschaftslager-Album“, ca. 1935 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 078, Seite 13)

Dabei gilt es zu bedenken, dass in dem Album zwei unterschiedliche Sorten von Fotografien und Abzugsformaten enthalten sind: zum einen Aufnahmen, die wie der in Abb. 6 wiedergegebene, mit schmalem weißen Rand versehene Abzug, in gestalterischer Hinsicht (Kadrage, Untersicht, Belichtung/Kontrastsetzung) extrem durchkomponiert erscheinen, und zum andern typische, „Knipser“-Fotos (vgl. unten, Abb. 13) im entsprechenden mit Büttenrand versehenen Kleinformat. Die Autorin des Albums unterstreicht den hierarchischen Aspekt der vermutlich von einem professionellen Fotografen angefertigten Aufnahme, der Eingang in ein „privates“ Fotoalbum gefunden hat, durch die im Ton einer „offiziellen“ (Dienst-)Anweisung gehaltenen Beschriftung. Die Albumseite erscheint somit gekennzeichnet durch eine Mischung aus einer „fremdbezogenen“ ( jedenfalls nicht von der Urheberin hergestellten) Aufnahme eines professionellen Fotografen und einer die Bildaussage im Sinne der NS-Ideologie verstärkenden, durch Verwendung direkter Rede vermeintlich durch Augen- und Ohrenzeugenschaft bezeugenden Beschriftung. Doch steht zu vermuten, dass die Urheberin des Albums wohl kaum dieser fotografischen Inszenierung beigewohnt hat, sondern es sich bei der gestalteten Seite vielmehr um ein die Albumerzählung unterstützendes Element der (Pseudo-)Authentifizierung handelt.

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Thematisiert werden die (z. T. weitaus deutlicheren) Altersunterschiede der Jungen und Mädchen in den beiden Lagern zu anderen wichtigen „Persönlichkeiten“, die der unbekannte Fotograf oder die unbekannte Fotografin nicht nur für abbildungswürdig, sondern für akzentuierenswert im Rahmen der angestrebten visuellen Darstellung des „Lagerkosmos“ hielten. Sie sind entweder in Einzelporträts oder in Gruppenkonstellationen als respektabel („Bischof Jensen.“), ernst und mit Autorität versehen („Der Lagerleiter: Erich Breitsohl.“) und sympathisch, herzlich und über die in Aufsicht abgebildete Situation (beim Essen) als „eine von uns“ („Die Lagerführerin: Elis. Scharschmidt.“) festgehalten.39 Generationelle Hierarchien im Sinne von (älteren) „Führern“ und jüngerer „Gefolgschaft“ bzw. eine eigentümliche Mischung von („Volks“-)Nähe und Distanz zeigt die folgende Albumseite (Abb. 7).

Abb. 7: „HJ-Kameradschaftslager-Album“, ca. 1935 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 078, Seite 17)

Der springende Punkt in der Beschriftung der Foto-Motive durch die Urheberin des Albums ist die Affirmation der Perspektivierung, die schon die fotografische Inszenierung nahelegt: Maßgeblich ist der Blick (und sind die Gesten) des „Gebietsführers“. Der von der Urheberin des Albums der Bildmontage hinzugefügte 39 Die entsprechenden Albumseiten – die jeweiligen Bildunterschriften sind im Original zitiert – können hier aus Platzgründen nicht reproduziert werden. Es handelt sich um die Albumseiten 9, 11, und 15 aus: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 078.

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Text betont den „volksgemeinschaftlichen“ Impetus der nationalsozialistischen, hier fotografisch versinnbildlichten Botschaft. Der „Gebietsführer“ wendet sich im Prinzip allen zu, fotografisch inszeniert als Individuen oder als Gruppe, die etwas anderes repräsentieren als er selbst: Frauen und/oder deutlich älteren bzw. jüngeren Menschen. Die fotografische Inszenierung „funktioniert“ – entgegen der Beschriftung, die eine beide Altersgruppen als mit „gleichbehandelnder“ Zuwendung bedacht suggeriert („Bei uns Mädeln und bei Mutter Lange“) – äußerst unterschiedlich: Im linken Foto scheint die große Mädchengruppe im Bildhintergrund dem „Gebietsführer“ an den Lippen zu hängen, während dessen zugewandt-joviales Händeschütteln „Mutter Lange“ gegenüber auf dem rechten Foto, zumal unter der vermittelnden Aufsicht von „Bischof Jensen“ (in der Mitte abgebildet), wie eine Ehrerbietung der jüngeren „Führerpersönlichkeit“ gegenüber der älteren Frau (deren „Mutter“-Funktion im Kontext der HJ-„Kameradschaftslager“ sich dem/der heutigen BetrachterIn nicht erschließt) wirkt. Doch verschleiert die „zugewandt“ wirkende Geste die je unterschiedlichen Repräsentationsweisen des männlichen – im Foto auf die ältere Frau herabblickenden – NS-Funktionsträgers und der lediglich von schräg hinten abgebildeten, tendenziell gesichtslosen, vor allem durch ihre Kleidung als Typus der bäuerlichen „einfachen“ Frau ausgewiesenen „Mutter Lange“. In der fotografischen Inszenierung des „Gebietsführers“ auf der gesamten Albumseite zeigt sich, dass Generationen- und Geschlechterverhältnisse in einer NS-typischen Behauptungs- und „Auflösungs“-Formel münden, nämlich in einer visuell in Szene gesetzten „Volksgemeinschaftspropaganda“ – im hier diskutierten Fallbeispiel mit dem unschwer zu entschlüsselnden Ziel, reale soziale, geschlechts- und generationsbedingte Gegensätze aufzuheben und diese in ein visualisiertes, auf Gesten, Körperhaltung sowie, im Hinblick auf Betrachterinnen und Betrachter, auf Affekte (Respekt, Identifikation etc.) setzendes Modell von „gegliederter“, also hierarchisch strukturierter Gemeinschaft zu übersetzen und umzudeuten. Angehörige dreier Altersgruppen inszeniert die folgende optimistisch-freudig wirkende Gruppenaufnahme (Abb. 8). Die Abgebildeten, unter denen „Bischof Jensen“, im Vordergrund platziert, den größten Bildraum einnimmt, blicken, wahrscheinlich an einem Fahnenmast stehend, auf ein außerhalb des Bildausschnitts liegendes Geschehen. Ins Bildzentrum ist der von den Dreien am meisten erfreut wirkende „Gebietsführer“ gerückt worden, und die Beschriftung der Albumseite folgt dem Bildaufbau mit der seitlichen Zuordnung der Bezeichnung der abgebildeten Personen links und rechts im Motiv, während der den „Gebietsführer“ bezeichnende Schriftzug beinahe über die gesamte Breite der Seite läuft und so die zentrale Bedeutung jener „Führerpersönlichkeit“ im Kontext des Lager-Geschehens unterstreicht. Im „Pfadfinderalbum“ wiederum taucht ein „Älterer“ als „Führerpersönlichkeit“ zum ersten Mal auf Seite 19 der Albumerzählung, zeitlich angesiedelt im

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Abb. 8: „HJ-Kameradschaftslager-Album“, ca. 1935 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 078, Seite 19)

Frühjahr 1931, auf (Abb. 9). Es handelt sich dabei um einen zeitgenössisch als „ehrwürdig“ angesehenen Protagonisten der deutschen Pfadfinderbewegung, Carl Freiherr von Seckendorff. Die im unteren Fotomotiv der Albumseite abgebildete Körpersprache von Seckendorffs – die Arme in die Hüften gestützt, den Jung-Pfadfindern zugewandt – wird unterstützt durch die Beschriftung des in das Album eingeklebten Abzugs, die ein „Manko“ der rein visuellen Repräsentation – die „Ansprache“ kann fotografisch nicht wiedergegeben werden – versucht, in einer pathetisch verdichtenden Formel als sprachliche Botschaft aufzufangen: „An sein Volk!“ Eine Gruppenaufnahme vom Oktober 1932 (Abb. 10) schließlich zeigt die beiden Protagonisten des Albums (die beiden „Sonnenbrüder“) – einer von ihnen kann, da am weitaus häufigsten in Einzel- oder Doppelportraits abgebildet, als Autor und ursprünglicher Besitzer des Albums angenommen werden – in der unteren Dreierreihe sitzend (in der Mitte und rechts) zusammen abgebildet mit einem gleichaltrigen Kameraden und sechs weiteren Pfadfindern, von denen drei Männer erheblich älter wirken als die ihnen zu Füßen sitzenden Jugendlichen. Diese Gruppenaufnahmen transportieren ein Gefühl von Gemeinschaftsgeist und hochgradiger Kohäsion der Gruppe, trotz aller Altersunterschiede.

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Abb. 9: „Pfadfinderalbum“, ca. 1929–1933 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 091, Seite 19, Ausschnitt)

Abb. 10: „Pfadfinderalbum“, ca. 1929–1933 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 091, Seite 49, Ausschnitt)

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III.

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Erlebnis – Erfahrung – Erzählung: Das Fotoalbum als Erinnerungs- und Repräsentationsmedium

Zwar sind schon in den vorigen Abschnitten narrative Muster der untersuchten Alben benannt worden, jedoch bezog sich meine Analyse vornehmlich auf „Binnenerzählungen“, die für ausgewählte Albumseiten auszumachen sind, sowie auf entsprechende Techniken: Montage, Beschriftung, Bilderabfolge/serielles Erzählen. Solche Techniken sind vor allem für das „Erinnerungen an meine Jugendzeit“ betitelte Album eines SAJ-Angehörigen, dessen Schilderung von Romantik und Paarbildung an Techniken des klassischen (fiktionalen) Erzählkinos erinnern, herausgearbeitet worden. Darüber hinaus lässt sich angesichts der Vielzahl der in diesem Album behandelten Themen – Familie, Adoleszenz, Romantik, (SAJ-)Freizeit – nur schwer dessen narrative Gesamtstruktur herausarbeiten. Zwar ist im Rahmen dieses Aufsatzes eine solche Analyse für keines der drei Alben zu leisten, aber es können einige grundlegende Aussagen über deren Erzählstrukturen bzw. Erzählmodi getroffen werden. Das „Pfadfinder“-Album durchzieht ein Narrativ von Freundschaft und „Kameradschaft“, zum einen in Gruppenaufnahmen und zum anderen in den Einzel- und Doppelporträts der beiden Protagonisten. Doch erzählen die letzten Seiten des streng chronologisch geordneten Albums, überraschenderweise und relativ unvermittelt, von der zunehmenden Sichtbarkeit der „Bünde“ in der politischen Öffentlichkeit in den ersten Monaten nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – und auch von ihrer Radikalisierung.40 Während die Fotomotive bis einschließlich Seite 5341 „unpolitisch“ (zumindest in einem engeren Sinn) erscheinen, bricht auf Seite 54 die unmittelbar politische Sphäre in die Narration ein – und zwar durch ein Motiv, das eine Form demonstrativer „bündischer“ Sichtbarkeit in der städtischen Öffentlichkeit zeigt. Das einzige auf jener Seite montierte Foto zeigt einen „Aufmarsch der Bündischen Jugend (Bremen.)“, datiert auf den 14. Mai 1933. Abgebildet ist ein Zug männlicher Jugendlicher, die eine Vielzahl von Bannern mit den unterschiedlichsten Emblemen tragen.42 Auffällig ist dabei eine Fahne mit einem an eine Rune oder ein

40 So der Befund von Rüdiger Ahrens, „Privatleben ist Fahnenflucht“. Prägekräfte der bündischen Jugend (1918–1933), in: Barbara Stambolis (Hg.), Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, 145–167, 160. 41 Seite 52 des Albums ist u. a. beschriftet mit „März 1933“. 42 Fotografische Inszenierungen von „Fahnenmeeren“ stellen ein gängiges Motiv für Fotos von Aktivitäten deutscher und österreichischer Jugendbünde dar. Vgl. Susanne Rappe-Weber, Kranich, Lilie, Rune und Kreuz. Gestaltung und Gebrauch der Fahnen in der deutschen Jugendbewegung, in: Großmann/Selheim/Stambolis (Hg.), Aufbruch der Jugend, 73–81, 73 und 78 (Foto-Abb.).

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Sensenkreuz erinnerndes Emblem, die auch die von einem Angehörigen der 13köpfigen Gruppe (augenscheinlich vom Urheber des Albums) gehaltenen Fahne ziert, die im unteren Foto auf Seite 57 (Abb. 11) zu sehen ist. Das Emblem ähnelt stark dem des 1905 von Knud Ahlborn gegründeten Bundes Deutscher Wanderer,43 mit der Ausnahme, dass der das runenartige Kreuz kreisförmig umrahmende Ring auf der im Foto abgebildeten Fahne fehlt. Die – womöglich anstelle des Rings – das Emblem rahmende Beschriftung lautet „WIR HALTEN ZUSAMMEN IN HEILIGEN FLAMMEN“.44 Wie der Beschriftung zu entnehmen ist, posierte die Gruppe am 17. oder 18. Juni 1933, also nur wenige Tage nach dem Aufmarsch der „Bündischen“ in Bremen, im oldenburgischen Hölscher Holz. Warum verdient nun dieses Datum, im Hinblick auf die Albumerzählung, besondere Erwähnung? Weil am 17. Juni, nur wenige Stunden nach seiner Berufung zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“, Baldur von Schirach die aus NS-Sicht gefährlichste „bündische“ Konkurrenz zur Hitlerjugend im bürgerlichen Milieu, den unter der Führung Admiral Adolf von Trothas stehenden Großdeutschen Bund, für aufgelöst erklärt hatte – und mit ihm acht (angeschlossene) traditionelle Bünde der Weimarer Republik, unter ihnen auch der Deutsche Pfadfinderbund.45 Dies mag erklären, warum die Albumerzählung an diesem Punkt der Chronologie abrupt abbricht – lediglich eine mit 13 kleinformatigen Abzügen beklebte und einem gezeichneten farbigen Wimpel verzierte Seite (Abb. 12) bildet den wortlosen Schluss des Albums. Es handelt sich dabei um die einzige der 60 Seiten des Albums, die nicht beschriftet ist. Man kann diese Seite also als eine Art visuellen Abgesang auf die Gruppe verstehen (bzw., im weiteren Sinne, auf „offizielle“ Organisationsformen „bündischen“ Lebens in der NS-Diktatur). Einer nüchterneren, „pragmatischen“ Lesart zufolge könnte es sich allerdings auch nur um die zu füllende letzte Seite des Albums handeln, und es waren Kontaktabzugsbögen übrig, die der Autor – wie für die Montage einer anderen, früheren Albumseite (Seite 40, die jedoch sorgfältiger komponiert erscheint und außerdem beschriftet ist) – zerschnitt. Was Montage und Erzählstruktur anbelangt, erweist sich das „HJ-Kameradschaftslager-Album“ als weitaus schematischer als das „Pfadfinder-Album“ und als vergleichsweise schlicht. Das auffälligste Merkmal der verwendeten Foto43 Abgebildet in: Rudolf Kneip, Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände 1919–1938, Frankfurt am Main 1974, 61. 44 Einen textlichen Bezug hierzu stellt die dritte Strophe der sog. preußischen „Volkshymne“ („Heil dir im Siegerkranz“) dar, die abgedruckt ist in: Pfadfinder-Liederbuch. Hg. im Auftrage des Deutschen Pfadfinderbundes, Berlin, Heidelberg 1914, 47. Die Strophe lautet: „Heilige Flamme, glüh, glüh und erlösche nie fürs Vaterland! |: Wir alle stehen dann mutig für einen Mann, kämpfen und bluten gern für Thron und Reich!“ 45 Vgl. Kater, Bürgerliche Jugendbewegung, 156–157 (dort sind auch die Namen der acht Bünde genannt).

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Abb. 11: „Pfadfinderalbum“, ca. 1929–1933 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 091, Seite 57)

grafien liegt in der unterschiedlichen Materialität der Abzüge selbst. Nicht nur zahlenmäßig überwiegen die augenscheinlich von einem/einer professionellen FotografIn gemachten Aufnahmen, die in Abzügen mit einem geraden weißen Rand vorliegen. Alle bislang im vorliegenden Aufsatz reproduzierten Seiten aus

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Abb. 12: „Pfadfinderalbum“, ca. 1929–1933 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 091, Seite 60)

dem Album zeigen diesen „offiziellen“ Blick auf jene „Kameradschaftslager“. Doch sind in das Album auch vier kleinformatige Schwarzweißabzüge mit für Amateuraufnahmen zum privaten Gebrauch typischem Büttenrand eingeklebt. Sie zeigen eher Alltäglich-Banales – und auch der Ton der Beschriftung weicht, etwa im Vergleich zur Beschriftung von Abb. 6 („‚Das muss heute noch erledigt werden!‘“), von dem das Album dominierenden Stil ab. Ein gutes Beispiel für trivial erscheinendes „Privates“ in der fotografischen Repräsentation des „Lagerlebens“ stellt folgende Albumseite dar:

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Abb. 13: „HJ-Kameradschaftslager-Album“, ca. 1935 (Quelle: Sammlung Ulrich Prehn, Fotoalben, 078, Seite 23)

Die narrative Struktur des Albums wird jedoch von diesen wenigen Aufnahmen, die wie ästhetisch ungelenke private Memorabilia wirken, keineswegs bestimmt. Vielmehr werden jene laienhaft „geschossenen“ Erinnerungsfotos überlagert von einem (NS-)„offiziellen“, von einem/einer professionellen FotografIn inszenierten (und mit dem Ziel der Weiterverbreitung produzierten) Lager-Narrativ. I. Herrfahrdt war vermutlich nur eine unter vielen AbnehmerInnen jener „vorgefertigten“ Erinnerungen. Schließlich bleibt die eingangs aufgeworfene Frage zu diskutieren: Stellen Fotoalben mediale Repräsentationen von „Gemeinschafts“-Erfahrung dar? Oder wird in den Alben, d. h. in einzelnen Fotografien oder Fotostrecken oder gar in der gesamten Albumnarration, vielmehr Bezug genommen auf vorgefundene „jugendbewegte“ Erfahrungen – Erfahrungen also, die der jeweiligen Aufnahmesituation oder der Zeitebene der Montage des Albums vorgelagert sind?46 Mit dem „HJ-Kameradschaftslager-Album“ ist keine der beiden Thesen eindeutig zu belegen. Aber wie im Hinblick auf das „Pfadfinderalbum“ und die beiden Alben von SAJ-Angehörigen ist auch für das Album von I. Herrfahrdt zu konstatieren, 46 So bringt Ute Daniel die v. a. von Joan Scott vertretene Position auf den Punkt; vgl. Ute Daniel, Die Erfahrungen der Geschlechtergeschichte, in: Bos/Vincenz/Wirz (Hg.), Erfahrung, 59–69, 63.

Ulrich Prehn, Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend

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dass sich das Medium Fotografie und das Dispositiv des Fotoalbums im hier untersuchten Zeitraum als effektive, nicht zuletzt in affektiver Hinsicht wirkmächtige Mittel zur (visuellen) Stilisierung und Überhöhung der Erlebnis-Dimension von „Kameradschaft“ und „Gemeinschaft“ erwiesen. Doch kommen wir noch einmal zurück zu der grundsätzlichen Frage, ob die im Medium des Albums enthaltenen fotografischen Repräsentationen bzw. die durch das „jugendbewegte“ Fotoalbum hergestellten Repräsentations- (und Erzähl-)Ordnungen vornehmlich als Bezüge auf Erfahrungen bzw. „Erfahrungs“-Narrative früherer „Wandervogel“-Generationen zu interpretieren sind. In der Forschungsliteratur zur Bedeutung von „Erfahrung“ als historiographischer Analysekategorie wird immer wieder auf die grundlegenden Ausführungen Reinhart Kosellecks über „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘“ verwiesen.47 Koselleck zufolge sind „Erfahrung und Erwartung […] zwei Kategorien, die geeignet sind, indem sie Vergangenheit und Zukunft verschränken, geschichtliche Zeit zu thematisieren.“48 Aus meiner Sicht ist es plausibel, Kosellecks generalisierenden Befund mit Blick auf das von mir analysierte Material zuzuspitzen auf eine der folgenreichsten Umbruchsphasen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: die politisch-ideologisch heterogene, mit entsprechenden Alltagspraxen und Visualisierungsformen verbundene Mentalitäten- und Ideenwelt der Weimarer Republik, in der sich – Stichwort „Erwartungshorizont“ – „der Glaube an eine geschichtliche Sendung der jungen Generation“49 stark ausbreitete. Mir scheint jedoch, es ist gar nicht nötig, Begriffshülsen wie die von der angeblichen „geschichtlichen Sendung“ einer Generation zu bemühen, um die Bedeutung von Fotoalben als Transmissionsriemen, als Vermittlungsinstanzen – angesiedelt an der Schnittstelle der Repräsentation (oder Vermittlung50) von Erlebnis und historischer Erfahrung bestimmter Individuen oder Gruppen – zu ermessen. 47 So z. B. von Ute Daniel; vgl. dies, Erfahren und verfahren, 9 und 15f. 48 Siehe Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, 349–375, 353. 49 Siehe Klönne, Die Bündischen, 115. Eine nach wie vor überzeugende Charakterisierung der Ideenwelt der deutschen Jugendbewegung bietet Frank Trommler, Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt am Main 1985, 14–49, indem er als wichtige Figuren neben dem „Jugendkult“ u. a. die „Ideologisierung der Gemeinschaft“ und die „Politisierung des Jugendmythos“ herausarbeitet. Siehe ebd., 16 und 25. 50 Ich beziehe mich hier auf Ute Daniels – von der Bemerkung, dass Erfahrungen keineswegs in „Akten des Erlebens“ aufgingen, eingeleiteten – Befund: „Da es erst die Vermittlung ist, die zum Niederschlag von Erfahrungen in tradierten Quellen führt, sind die historisch erforschbaren Erfahrungen letztlich diejenigen, die vermittelt bzw. aufgezeichnet worden sind. Siehe Daniel, Die Erfahrungen der Geschlechtergeschichte, 60.

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Wie in den vorigen Abschnitten erläutert, legen gerade die Thematisierungen von „Geschlecht“ und „Generation(alität)“, vom jeweiligen Standpunkt der FotografInnen bzw. der jeweiligen AlbenautorInnen aus formuliert, folgende These nahe: Fotoalben wie die von mir analysierten sind Ausdruck der Bemühungen ihrer UrheberInnen, durch das Medium Fotoalbum fotografierte Erlebnisse im Rahmen der Albumnarration zu Repräsentationen von Erfahrungen zu verdichten. Dabei findet jene Verdichtung auf zwei medialen Ebenen statt, nämlich auf der des Einzelfotos (inklusive seiner Beschriftung) sowie auf der erzählerischen Ebene des Albums bzw. bestimmter Sequenzen, für die Montage und Beschriftung eine wichtige Rolle spielen. Verdichtung bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass in den Erzählungen der AlbenautorInnen historische Erfahrung auf bestimmte visuelle (wie schriftlich versprachlichte) Topoi reduziert und damit stilisiert werden. Solche Stilisierungspraktiken sind als Strategie individueller wie kollektiver (Selbst-)Verortung und Selbstvergewisserung zu begreifen. Ganz in diesem Sinne hat sich die Historikerin Joan Scott in ihrem Plädoyer für die Historisierung von „Erfahrung“ dafür ausgesprochen, die „Prozesse der Identitätsproduktion“ in den Blick zunehmen, und damit – notwendigerweise – auch „the discursive nature of ‚experience‘ and […] the politics of its construction“ zu berücksichtigen.51 Es ist in den ersten beiden Abschnitten des Aufsatzes gezeigt worden, dass „Geschlecht“ und „Generation(alität)“ in den Alben überwiegend als miteinander verschränkt verhandelt werden; die Körper der Fotografierten werden als vergeschlechtlichte Körper und auch als „junge“ bzw. „alte“ Körper repräsentiert. Als Resultat und Effekt solcher Inszenierungen (oder, neutraler ausgedrückt: solcher „visueller Formulierungen“) ist die Produktion bestimmter Selbstreferenzen „des Männlichen“ bzw. „des Weiblichen“ zu benennen. Fotografische Selbstthematisierungen, die die Aspekte von Körperlichkeit und Geschlecht bzw. von Generation in den untersuchten Fotoalben widerspiegeln, sind als Topoi auszumachen,52 auch wenn sie das Narrativ des jeweiligen Albums nicht strukturieren. Auf einer übergeordneten Ebene hat die Analyse der in den Alben enthaltenen fotografischen Selbstthematisierungen von „jugendbewegten“ Individuen und Gruppen erwiesen, dass diese als performative Akte sowie – auf der 51 Siehe Scott, The Evidence of Experience, 797 (meine Übersetzung des ersten Zitat-Teils, U.P.). 52 Dieser Befund deckt sich mit dem Fazit, das Meike Sophia Baader 2013 zog: „Was die Sexualität betrifft, gibt es […] in der Jugendbewegung ein auffälliges Missverhältnis zwischen latenter Präsenz einerseits und mangelnden Foren andererseits, in denen sich Jugendliche sexuelles Wissen aneignen und sich über ihre Such- und Orientierungsbewegungen austauschen konnten.“ Siehe Baader, Geschlechterverhältnisse, 65. Vgl. darüber hinaus, die unterschiedlichen Vorstellungen von Sexualität in der bürgerlichen gegenüber der proletarischen Jugendbewegung betonend, den Aufsatz von Ulrich Linse, „Geschlechtsnot der Jugend“. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Koebner/Janz/Trommler (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“, 245–309.

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Repräsentationsebene des Albums und dessen Erzählung(en) – als retrospektive visuelle (Selbst-)Verortungen in einem bestimmten Milieu und Erfahrungszusammenhang von erheblicher Bedeutung sind.

Lukas Meissel

SS-Fotoalben als visuelle Leistungsnachweise und Legitimationsberichte1

Visuelle Quellen prägen die zeitgenössische Dar- und Vorstellung des Nationalsozialismus. Der Fotokorpus zum „Dritten Reich“ ist gigantisch, umfasst Aufnahmen von FotografInnen, FilmemacherInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und KnipserInnen mit gänzlich unterschiedlichen Intentionen, von der nationalsozialistischen Propaganda geprägt, als Akte des Widerstandes oder als Dokumentation während der Befreiung gedacht, zur Beweissicherung von Verbrechen oder auch schlicht für den privaten Gebrauch ohne vordergründige Verbindung zum Nationalsozialismus. All diese unterschiedlichen Quellentypen benötigen, im Sinne einer quellenkritischen Visual History2, spezifische Forschungsansätze sowie methodische und theoretische Herangehensweisen, um sie als geschichtliche Quellen der Wissenschaft zu erschließen. Insbesondere Fotos, die von NationalsozialistInnen aufgenommen wurden, vermitteln in vielen Fällen ganz bestimmte Bilder des Nationalsozialismus, die bis heute beschönigen, verbergen und legitimieren. Gerade ihr vielfach stark ideologischer Bildgehalt macht sie jedoch zu einzigartigen Quellen für die Täterforschung, können sie doch Einblicke in die Bildwelten von TäterInnen geben, da sie praktische und ideologische Vorstellungen und Ziele vermitteln. Täterfotografien als Quellen zur Geschichte der NS-Verbrechen haben dabei oftmals einen paradoxen Wert, da sie tatsächliche Gewalttaten in vielen Fällen nicht direkt abbilden. Durch eine kritische Fotoanalyse und Untersuchung des Entstehungskontextes kann jedoch Gewalt als Teil der Bildproduktion sichtbar gemacht werden. 1 Dieser Artikel basiert auf Arbeiten im Rahmen meines Promotionsprojektes an der Universität Haifa, Israel, unter Betreuung von Amos Morris-Reich und Ofer Ashkenazi. Der Projekttitel lautet: „The Perpetrator’s Gaze: SS Photographs taken at Concentration Camps“. Ich möchte mich außerdem bei Bertrand Perz für wichtige Kommentare und hilfreiche Hinweise ganz herzlich bedanken. Vielen Dank auch Lisa Marine von der Wisconsin Historical Society für die Genehmigung zur Nutzung von Fotografien für diesen Artikel. 2 Zum Begriff der „Visual History“, insbesondere im Bezug zur visuellen Geschichte des Nationalsozialismus siehe: Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“, Göttingen, 2020.

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Der vorliegende Artikel widmet sich einer spezifischen Art von visuellen Dokumenten des Nationalsozialismus und möchte den Wert dieses Quellentypus exemplarisch aufzeigen: Fotoalben von nationalsozialistischen Tätern3, konkret: offiziell in Auftrag gegebene Fotoalben der Schutzstaffel (SS). Die zentrale These lautet, dass diese Alben in erster Linie Bildberichte darstellen, die innerhalb der SS als Legitimations- und Rechtfertigungsberichte funktionierten und – aus Sicht der Täter – Erfolge und Leistungen dokumentieren. Der Begriff „Bildbericht“ verweist hier einerseits auf einen Quellenbegriff aus dem sogenannten StroopBericht, auf den im Artikel eingegangen wird, und andererseits auf die Funktion von Fotoalben als Kommunikationsmittel innerhalb der SS. Der Fokus des Artikels liegt auf Fotografien, die in nationalsozialistischen Konzentrationslagern von offiziellen SS-Fotografen aufgenommen wurden. Im Forschungsinteresse stehen drei Quellenkorpora, die exemplarisch in das Thema einführen sollen. In einem ersten Schritt wird anhand der Historiografie des sogenannten „Auschwitz-Albums“ bzw. „Lily Jacob-Albums“ die rezente Forschung zu nationalsozialistischen Täteralben überblickshaft dargestellt. Es handelt sich dabei um das am besten erforschte SS-Album aus einem Lager, die Nachgeschichte seiner Nutzung nach 1945 spiegelt dabei auch das sich wandelnde Forschungsinteresse an visuellen Quellen allgemein wider. In einem zweiten Schritt wird die Verbindung von Fotoalbum und Bildbericht in der SS anhand des „Stroop-Berichts“ erläutert. In einem abschließenden Teil wird die Annahme, dass es sich bei SS-Fotoalben oft um Leistungsnachweise und Legitimationsberichte handelt, anhand eines in der Forschung bisher kaum behandelten, auf den ersten Blick bizarr wirkenden Fotoalbums zur Kaninchenzucht in Konzentrationslagern geprüft. Die Untersuchung dieser abschließenden Quelle soll auch allgemein auf Potentiale und Herausforderungen von SS-Fotoalben für die NS-Forschung hinweisen. Das erste Album ist eines der bekanntesten Fotoalben aus der NS-Zeit und wird im vorliegenden Artikel nicht analytisch untersucht, sondern seine Historiographie als Beispiel herangezogen. Das zweite Beispiel behandelt ebenfalls eine in Forschung und interessierter Öffentlichkeit bekannte Fotografie, möchte jedoch die Deutung solcher Quellen als Teil einer Bilderzählung im historischen Kontext betonen. Schließlich steht im analytischen Zentrum ein SS-Fotoalbum, dass aufgrund seiner (vermeintlich) harmlosen Bildmotive die Gewalt in den Konzentrationslagern verdeckt. Genau dieser Aspekt der Nichtsichtbarkeit von Gewalt auf Fotografien aus einem Konzentrationslager, der für mit der Materie nicht vertrauten BetrachterInnen irritieren mag, soll fokussiert werden, um durch eine methodische Analyse der visuellen Narrationen das Album zu kon3 Bei den hier vorgestellten visuellen Quellen waren die Ersteller nach dem bisherigen Stand der Forschung ausschließlich Männer.

Lukas Meissel, SS-Fotoalben als visuelle Leistungsnachweise

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textualisieren und einen scheinbar unproblematischen Bericht in Fotografien als Ausdruck von NS-Ideologie zu decodieren. Die Gewalt im Konzentrationslager und insbesondere die Verbindung von scheinbar harmlos wirkenden Motiven mit Zwangsarbeit und Kriegsindustrie, die den visuell-geschichtlichen Kontext des Albums darstellen, soll sichtbar gemacht werden. Selbstverständlich sind Fotografien, die den Massenmord in einem Vernichtungslager wie Birkenau dokumentieren, und etwa Aufnahmen von Tierzuchtstationen in Konzentrationslagern in ihrem Gewaltgehalt nicht gleichzusetzen. Trotzdem entstammen auch vordergründig harmlose Aufnahmen aus Konzentrationslagern ebenfalls einem Gewaltkontext, den es als quellenkritischeR HistorikerIn zu entschlüsseln gilt. Da nur das dritte Beispiel auch fotoanalytisch vertiefend untersucht wird, stammen auch die große Mehrzahl der Abbildungen aus diesem Konvolut.

I.

Fokuswechsel in der Historiografie am Beispiel des „Auschwitz-Albums“

Die NS-Herrschaft wurde fotografisch und filmisch mit unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert. In der direkten Nachkriegszeit entstanden zusätzlich Bildmaterialien, die das Geschehene visuelle festhielten bzw. vermitteln sollten.4 In der Erforschung des Nationalsozialismus nahmen Fotografien und Filme als spezifische zeitgeschichtliche Quellen hingegen über Jahrzehnte keinen zentralen Stellenwert ein. Bildquellen spielten in der Vermittlung der NS-Verbrechen zwar immer eine zentrale Rolle – tatsächlich bereits während der NS-Herrschaft und insbesondere durch Reeducation-Maßnahmen der Alliierten nach der Befreiung5 – visuelle Medien wurden aber kaum in Bezug auf ihre besonderen Quelleneigenschaften kritisch untersucht. In der Nachkriegszeit im deutschsprachigen Raum war insbesondere eine Publikation für das Bildgedächtnis zum Nationalsozialismus und insbesondere der NS-Verbrechen von großer Bedeutung: Gerhard Schoenberners „Der Gelbe Stern“, ein kommentierter Bildband, der erstmals 1960 erschien.6 Der Autor versammelte darin eine Vielzahl an Aufnahmen mit gänzlich unterschiedlichem Hintergrund und Entstehungskontext, kommentierte diese mit Texten, oft Zitaten aus historischen Dokumenten, und versuchte so ein Bild der Schrecken des Nationalsozialismus für ein breiteres Publikum zu zeichnen. 4 Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart, 2012. 5 Siehe etwa den folgenden Reeducation Film: Hanusˇ Burger, Billy Wilder, Death Mills, USA 1945. 6 Gerhard Schoenberner, Der Gelbe Stern, Hamburg, 1960.

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Schoenberner verwendete dabei auch Bilder, die von nationalsozialistischen FotografInnen aufgenommen wurden und gibt ihnen durch die Einbettung in seine Publikation und die begleitenden Texte neue Bedeutungen – ein Ansatz, der bereits während der NS-Zeit in antifaschistischen Publikationen angewandt wurde.7 Trotz Veränderung der Bedeutung einer Fotografie durch ihren Veröffentlichungszusammenhang reproduzieren diese Fotos dennoch eine spezifische Bildsprache. Nationalsozialistische Erzählungen und ihre entmenschlichenden Visualisierungen von Opfern werden somit wiederholt oder sogar als vermeintlich objektive Illustrationen festgeschrieben. An prominenter Stelle bedient sich Schoenberner an Bildmotiven aus dem sogenannten „Auschwitz-Album“, so auch am Titelbild der Erstausgabe und vieler weiterer Nachdrucke. Das „Auschwitz-Album“ ist ein Fotoalbum, das Aufnahmen von SS-Fotografen des Erkennungsdienstes, also der offiziellen Lagerfotografen, aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager AuschwitzBirkenau enthält. Das Album wird auch als „Lili Jacob-Album“ bezeichnet, benannt nach der jüdischen Überlebenden Lily Jacob, die das Album während der Befreiung sicherstellen konnte und somit der Nachwelt bewahrte. Der tatsächliche Name des Albums lautet jedoch: „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“ und ist ein Bildbericht in sechs Kapiteln zur sogenannten „Selektion“ – oder wie es im Album genannt wird: „Aussortierung“ – von deportierten Jüdinnen und Juden nach ihrer Ankunft in Birkenau, also die Separierung der Deportierten durch SSMänner in unmittelbar in den Gaskammern zu Ermordende und ZwangsarbeiterInnen im Konzentrationslager.8 Eine Reflexion der Nachgeschichte des „Auschwitz-Albums“ lässt Einblicke in die Historiografie der visuellen Geschichte des Nationalsozialismus allgemein zu, insbesondere zu Fotoalben. Im Folgenden kann kein umfassender Überblick über die gesamte Forschung zu diesem besonderen Album zusammengefasst werden, hingegen sollen Interessensschwerpunkte in der Auseinandersetzung mit dem Album betont werden. Erstmals wurden Fotografien des „Lily Jacob-Albums“ im Jahr 1949 von Friedrich Bedrˇich Steiner in seiner Dokumentensammlung „Tragédia slovenských Zidov“ verwendet, in der die Fotografien die Ermordung slowakischer Jüdinnen und Juden illustrieren.9 Das eingangs zitierte Buch „Der Gelbe Stern“ von Gerhard Schoenberner war ein weiterer wesentlicher Schritt in der Popularisierung von Aufnahmen aus dem SS-Album, die Fotografien wurden jedoch aus dem ursprünglichen Entstehungskontext herausgenommen. Das Interesse galt Aufnahmen einzelner abgebildeter Jüdinnen und Juden – im Gegensatz zu den 7 Habbo Knoch, Die Tat als Bild: Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg, 2001, 78. 8 Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt, 2019, 134. 9 Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Album aus Auschwitz, 11.

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SS-Fotografen stand jedoch ein empathischer Zugang zu den Abgebildeten im Vordergrund, sie sollten durch die Kontextualisierung in der Publikation und begleitende Texte in ihrer Individualität gewürdigt werden. Beispielhaft sei eine ältere Frau genannt, die vor einem Güterzug in Birkenau von einem SS-Fotografen aufgenommen wurde. Die Frau mit Kopftuch hat einen gelben Stern an ihrer Jacke angeheftet und blickt direkt in die Kamera. In Schoenberners Publikation wurde das Foto auch als Titelbild verwendet, im Verwendungszusammenhang des Buches evoziert das Bild Empathie mit der Frau, die kurze Zeit nach der Aufnahme der Fotografie von SS-Männern in einer der Gaskammern von Birkenau ermordet wurde. Das Foto ist ein Beispiel für die Nutzung von Täteraufnahmen zur symbolischen „Re-humanisierung“ von NS-Opfern. Die Publikation „Das Auschwitz Album. Die Geschichte eines Transports“ von Israel Gutman und Bella Gutterman, herausgegeben von der israelischen Shoahgedenkstätte Yad Vashem, folgte diesem Ansatz und nutzte die Fotografien des „Auschwitz-Albums“, um die Geschichte der deportierten Jüdinnen und Juden zu erzählen.10 Fotografien und Seiten des Albums wurden dazu in der Publikation nachgedruckt.11 Yad Vashem bot Überlebenden und deren Angehörigen die Möglichkeit, ihre Familie, FreundInnen oder Bekannte auf den Fotografien zu suchen und zur Identifizierung der Abgebildeten beizutragen. Erst in den letzten Jahren wurde das Fotoalbum in seiner Medialiät selbst ins Zentrum von Forschungsprojekten gestellt. Die neueste, umfassendste Publikation von Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller nutzte Methoden und Theorien der Bildanalyse in einer grundsätzlichen Untersuchung des SS-Albums, beschäftige sich etwa auch mit den SS-Fotografen des Auschwitzer Erkennungsdienstes, die für die Aufnahmen verantwortlich waren.12 Die Autoren konnten dabei durch Anwendung kontextualisierender Verfahren in der Fotoanalyse, ausgehend von den Bildfolgen, belegen, dass die Fotografien tatsächlich über einen längeren Zeitraum als bisher gedacht aufgenommen wurden. Die visuelle Erzählung des Bildberichts zeige aus Sicht der SS die erfolgreich abgeschlossenen sogenannten Ungarnaktion, also die Ermordung von Jüdinnen und Juden aus Ungarn in Birkenau im Sommer 1944.13 Das genaue bildanalytische Verfahren des Auto10 Israel Gutman/Bella Gutterman (Hg.), Das Auschwitz Album: Die Geschichte eines Transports, Göttingen 2005. 11 Für einen umfassenden Nachdruck des Albums siehe: Serge Klarsfeld (Hg.), L’Album d’Auschwitz, Romainville/Paris 2005. 12 Siehe insbesondere die Arbeiten von Cornelia Brink zum „Auschwitz-Album“, etwa: Cornelia Brink, Klage und Anklage. Das „Auschwitz-Album“ als Beweismittel im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 25 (2005), 15–28. 13 Siehe die tiefgehende Analyse des Albums in: Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Album aus Auschwitz, 133–273.

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renteams eröffnete neue Perspektiven auf ein bisher breit erforschtes Album und verdeutlichte somit auch das Potential der Anwendung dieses Verfahrens in anderen Fotoanalysen. Im Vergleich zu früheren Forschungen besticht diese neue Arbeit durch die zentrale Rolle von Methoden der Bildwissenschaft und neue Interpretationen des Bildmaterials, die wiederum als Anstoß neuer Diskussionen des Albums dienen können. Die Geschichte des „Auschwitz-Albums“ nach 1945 verdeutlicht also den Interessenswandel an Bildern des Nationalsozialismus und der NS-Verbrechen beispielhaft. Wurden Fotografien und Alben in einer ersten Phase vor allem illustrative Bedeutungen zugesprochen, sind sie vermehrt zur Visualisierung von Opfergeschichte eingesetzt worden und erst ab den 1990er-Jahren im Rahmen einer neuen Welle kritischer Visual History-Projekte zunehmend in ihrem historischen Entstehungszusammenhang verortet und quellenkritisch interpretiert worden.14 Fotoalben und die darin enthaltenen Fotografien haben einen Bedeutungswandel vollzogen. Die Geschichte von Bildern nach 1945, eingehend erforscht etwa von Habbo Knoch und Cornelia Brink15, die auf den ikonenhaften Charakter der Nachnutzung von Fotografien hinwies, steht hier nicht im Zentrum des Interesses. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Fotografien bereits in unmittelbarer zeitlicher Nähe ihrer Entstehung neue Bedeutungen zugeschrieben wurden, die unterschiedliche Nutzungen definierten. Auch das „Auschwitz-Album“ der SS-Fotografen wurde noch vor Kriegsende zum Erinnerungsstück für Lily Jacob und vier Jahre danach für Friedrich Bedrˇich Steiner in seinem Band zur Ermordung der slowakischen Jüdinnen und Juden zur Illustration einer anderen Teilgeschichte des Holocausts16. In einer umfassenden Analyse von visuellen Täterdokumenten muss der Wandel ihrer Bedeutung berücksichtigt werden, um den vollen Quellenwert erschließen zu können. Der Fokus soll nun aber auf einem spezifischen Aspekt von SS-Fotoalben liegen: den ursprünglichen Bedeutungen der Alben für die AuftraggeberInnen.

14 Zur Historiografie fotohistorischer Forschungen zur NS-Diktatur für diesen Zeitraum siehe: Miriam Y. Arani, Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Heft 3/2008. 15 Knoch, Tat als Bild; Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung: Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. 16 Die Begriffe „Shoah“ und „Holocaust“ werden im vorliegenden Artikel als Bezeichnungen für den nationalsozialistischen Genozid an den Jüdinnen und Juden verwendet, nicht für die NSVerbrechen allgemein.

Lukas Meissel, SS-Fotoalben als visuelle Leistungsnachweise

II.

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Historisierung und Quellenpotential am Beispiel einer Fotografie aus dem Warschauer Ghetto

Die Rekonstruktion des historischen Entstehungszusammenhanges von Fotoalben ist – neben der konkreten Nutzungs- und Gebrauchsgeschichte – ein zentraler Schlüssel zur quellenkritischen Analyse und zur Erschließung des geschichtswissenschaftlichen Quellenwertes von einzelnen Alben. Visuelle Quellen verleiten durch ihre vermeintliche Eindeutigkeit besonders zu Fehlinterpretationen, die wiederum in vielen Fällen mögliche historische Erkenntnisse verdecken. Anhand eines Bildbeispiels soll dieses Problemfeld skizziert werden, um auf den spezifischen Quellenwert von SS-Fotoalben überzuleiten. Der Fokus soll auf ein weit verbreitetes Bild gelenkt werden. Nach Cornelia Brink wäre es als „Ikone“ zu charakterisieren, da es vielfach zur Visualisierung der Shoah eingesetzt wird.17 Trotz der Bekanntheit dieser Fotografie ist der Entstehungszusammenhang selten Teil ihres Veröffentlichungszusammenhangs, das Foto als historische Quelle wird über das unmittelbar Sichtbare kaum reflektiert. Bei besagtem Bild handelt es sich um eine schwarz-weiße Fotografie, darauf ist eine Gruppe an Menschen mit erhobenen Armen, die aus einem Hauseingang gehen, zu sehen. Es handelt sich um Frauen, Kinder und Männer. Am vorderen Bildrand ist ein Junge mit Schirmmütze abgebildet, auch er hebt seine Hände, sein Gesichtsausdruck lässt Angst vermuten. Links neben ihm blickt eine Frau über ihre linke Schulter auf bewaffnete und uniformierte Männer, die die Gruppe beobachten. Die Fotografie wird, teilweise in geschnittener Form, in der Rezeption zumeist auf den kleinen Jungen im Vordergrund reduziert, der auch bildgestalterisch im Zentrum der Aufnahme ist, da er mit etwas Abstand zum Rest der Gruppe und in direkter Blickachse eines der Bewaffneten steht. Die Fotografie war Teil eines Bildberichtes des SS- und Polizeiführers Jürgen Stroop zur Niederschlagung des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto durch SS-Einheiten unter seiner Führung im Jahr 1943.18 Sebastian Schönemann untersuchte die kulturelle Bildsemantik des Bildes des Jungen aus dem Warschauer Ghetto unter Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher Studien zu dieser Fotografie. Sein Text ist eine gute Einführung in die bisherige Historiografie der Fotografie, die das Bild vor allem als „Ikone“ untersuchten. Schönemann untersucht diese „Objektgeschichte“19 der Aufnahme, die in der Bundesrepublik Deutschland erstmals 1960 einem breiteren Publikum 17 Siehe Fußnote 15. 18 https://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft%20Word%20-%206051.pdf (10. 6. 2021). 19 Zu den Begriffen „social and cultural biography“ von Fotografien siehe: Elizabeth Edwards/ Janice Hart, The cultural biography of a box of ‘ethnographic’ photographs, in: Elizabeth Edwards, Janice Hart (Hg.), Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, London/New York 2004.

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im Rahmen der Ausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ vermittelt wurde, aus der auch Gerhard Schoenberners „Der gelbe Stern“ entstand (Schoenberner hat an der Ausstellung als Ko-Kurator mitgewirkt).20 Auch in künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Shoah wird das Foto referenziert, etwa in den Werken des jüdisch-litauischen Überlebenden Samuel Bak in den 1990er-Jahren – dieser bezeichnete den Jungen auf dem Foto sogar als „das symbolträchtigste aller Holocaustbilder“21 – oder von Jennifer Gottschalk, einer in Australien lebenden Künstlerin, die das Foto in einer Grafik aus Namen von 1.692 Holocaustopfern reproduzierte.22 Beide künstlerischen Darstellungen der Fotografie unterstreichen den Charakter des Bildes als visuelle Ikone der Shoah durch einen gelben Davidstern, den sie dem Jungen auf seine Jacke setzen, der aber auf dem Originalfoto nicht vorhanden ist und im Warschauer Ghetto in dieser Form von den Nationalsozialisten auch nicht eingesetzt wurde. Die Bildikonen „Junge aus dem Warschauer Ghetto“ und „Gelber Stern“ verschmelzen also zu einem verdichteten Symbol des nationalsozialistischen Genozids an den Jüdinnen und Juden.23 Die Nachgeschichte der Aufnahme aus dem Warschauer Ghetto löste die Fotografie aus ihrem historischen Entstehungszusammenhang und schreibt ihr neue, in erster Linie symbolische Bedeutungen zu. Sie wird zum „Symbolbild“24. Diese Dynamik ist typisch für die wiederholte Verwendung von in der Öffentlichkeit bekannten historischen Fotografien. Aus historischer Sicht ist dies problematisch, da unkritischer Umgang mit historischen Quellen nicht nur die Geschichte hinter den Dokumenten verdeckt, er öffnet auch die Möglichkeiten zu Fehlinterpretationen, wirft in Bezug auf die Abbildung von Opfern ethische und moralische Fragen auf und verunmöglicht eine Vielzahl an Erkenntnissen, die vertiefende Analysen ermöglichen. In Bezug auf das Foto aus dem Warschauer Ghetto, das vielfach zur Repräsentation von Opferschicksalen verwendet wird, verschwindet die ursprüngliche Motivation hinter der Aufnahme: Ein stolzer Bericht zur Niederschlagung des jüdischen Aufstandes, dokumentiert und inszeniert von den Tätern selbst.

20 Sebastian Schönemann, Kulturelles Bildgedächtnis und kollektive Bilderfahrung. Die visuelle Semantik der Erinnerung am Beispiel des Fotos des Jungen aus dem Warschauer Ghetto, Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 12 (2013), 53. 21 Ebd., 55. 22 Ebd., 57. 23 Ebd., 60. 24 Knoch, Tat als Bild, 32–34.

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Abb. 1: Warschauer Kopie des Bildberichts „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!“, des sogenannten Stroop-Berichts, 1944 (Instytut Pamie˛ci Narodowej – Komisja S´cigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu25)

25 Der Bericht ist in zwei Fassungen überliefert, der sogenannten Warschauer Kopie und der amerikanischen Kopie, die bei den Nürnberger Prozessen als Dokument vorgelegt wurde und heute in der National Archives and Records Administration (NARA) aufbewahrt wird: https://catalog.archives.gov/id/6003996 (30. 8. 2021). Der vollständige Bericht in der War-

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Die Aufnahme entstammt dem sogenannten Stroop-Bericht mit dem Titel „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!“. Der gesamte Bericht umfasst eine Auflistung von SS-Soldaten, die während der Niederschlagung des Aufstandes von jüdischen WiderstandskämpferInnen getötet wurden, einen schriftlichen historischen Abriss über die Geschichte von Ghettos seit dem Mittelalter, tägliche Meldungen der Kämpfe um das Ghetto und einen als Bildbericht betitelten Teil, bestehend aus Fotografien und Beschreibungen. Auf einer Seite dieses Bildberichtes ist das oben beschrieben Foto mit der Bildbeschreibung „Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt“ abgedruckt. Die Fotografien dienten als visuelle Beweise des gesamten Berichts, unterstreichen seine Rechtmäßigkeit; der Bildbericht dient als Leistungsnachweis und kann als Teil eines Legitimationsdiskurses verstanden werden – und Habbo Knoch folgend in dieser Funktion auch als Teil der Taten der TäterInnen selbst.26 Beide Funktionen entsprechen ebenfalls dem bereits vorgestellten „AuschwitzAlbum“. Sowohl das „Auschwitz-Album“ als auch der Stroop-Bericht sollten aus Sicht der Täter eine erfolgreiche „Aktion“ innerhalb der SS, eine erbrachte Leistung, dokumentieren. Die beiden Konvolute erfüllten also konkrete Funktionen der jeweiligen Auftraggeber gegenüber ihren Vorgesetzten und übergeordneten Stellen. Der Historiker Bernd Boll unterstreicht in seiner Forschung die wichtige Bedeutung von Fotoalben als Kommunikationsmittel besonders für die Waffen-SS, für die Zeit ab Ende 1940 seien sie sogar „die gängige Form der Kontaktpflege zu Vorgesetzten [gewesen]. Damit zollte man ihnen gleichermaßen Respekt, wie man ihnen seine Truppe auf vorteilhafte Weise präsentierte.“27 SS-Fotoalben, die nach offiziellem Auftrag entstanden sind, entsprechen jener Dokumentengattung, müssen also auch in erster Linie als spezifische Form des Bildberichtes gedeutet werden. Das Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto, das tatsächlich den Titel „Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt“ trägt, steht beispielhaft für den gravierenden Kontrast zwischen Nachkriegsinterpretation und ursprünglicher Intention hinter der Fotografie. Die historische Funktion der Aufnahme und ihre Bedeutung in ihrem zeitgenössischen Nutzungszusammenhang eröffnen jedoch Einblicke in das Selbstbild der Täter und die Perspektive der SS auf die Niederschlagung des jüdischen Aufstandes. Der visuelle Erzählzusammenhang des Bildes kann über eine Analyse ihrer Platzierung im Bildbericht und ihren Beschauer Fassung wurde abgedruckt in: Andrzej Z˙bikowski (Hg.), Jürgen Stroop, Z˙ydowska Dzielnica Mieszkaniowa W Warszawie Juz˙ Nie Istnieje!, Warschau 2009. Die Angaben im vorliegenden Artikel beziehen sich auf die Warschauer Kopie. 26 Knoch, Tat als Bild, 40. 27 Bernd Boll, Das Adlerauge des Soldaten. Zur Fotopraxis deutscher Amateure im Zweiten Weltkrieg, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Krieg und Fotografie, 22. Jahrgang, Heft 85/86 (2002), 82.

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zügen zu anderen Fotografien und der Gesamtgestaltung des Dokuments rekonstruiert werden. Der Stroop-Bericht und ähnliche SS-Bildberichte können also mit Methoden und Theorien der Albumanalyse als Quellen erschlossen werden, insbesondere wenn ihre Erzählstruktur in den Fokus genommen wird und ihre Struktur und ihr Aufbau als spezifische visuelle Narration gedeutet werden. Bildberichte innerhalb der SS sind dabei in ihrer Gestaltung offiziell in Auftrag gegebenen repräsentativen Fotoalben ähnlich. Der Bildberichtteil des Stroop-Berichtes besteht aus 49 Seiten, das Foto des Jungen mit den erhobenen Armen ist auf Seite 14 dieses Teiles abgebildet. Auf der anschließenden Seite ist eine Aufnahme von drei Männern und zwei Frauen in Zivilkleidung mit erhobenen Händen zu sehen, im Hintergrund ein brennendes Gebäude, die fünf Personen werden von drei bewaffneten Männern in Uniform beobachtet. Die Fotografie zeigt die Verhaftung einer Gruppe jüdischer WiderstandskämpferInnen durch SS-Soldaten. Die Beschriftung lautet „Diese Banditen verteidigten sich mit der Waffe“. Der Begriff „Banditen“ wird mehrmals im Bericht als Beschreibung der jüdischen Aufständischen verwendet, so etwa auf einer der folgenden Seiten, auf der eine Aufnahme abgebildet ist, die SS-Männer inmitten einer brennenden Straße zeigt. Hier wird sprachlich vordergründig etwas differenziert – die Beschreibung lautet „Ausräucherung der Juden und Banditen“ – der Narrativ bleibt jedoch eindeutig: Die Jüdinnen und Juden sind „Banditen“ (die nationalsozialistische Bezeichnung für PartisanInnen), und als solche nicht von ZivilistInnen unterscheidbar. Der Bildbericht soll anhand der Fotografien als visuelle Beweise ein zentrales Narrativ der SS (aber auch der Wehrmacht) bestätigen: „Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan.“28 Eine weitere Aufnahme von drei Frauen in Zivilkleidung ist beschriftet mit „Mit Waffen gefangene Weiber der Haluzzenbewegung“. Damit ist die zionistische Jugendbewegung mit dem Hebräischen Namen HeHalutz (Deutsch: Der Pionier) gemeint. Die Beschreibung der abgebildeten Jüdinnen als Mitglieder dieser Bewegung ist durchaus glaubhaft, da der Widerstand im Warschauer Ghetto zu einem Großteil von zionistischen Jugendbewegungen getragen wurde. Die Betitelung der Aufnahme gibt auch Hinweis darauf, dass sich die Täter der Identität ihrer Opfer über antisemitische Fremdzuschreibung hinaus durchaus bewusst waren bzw. diese zumindest ernst zu nehmen schienen. Der Bildbericht reproduziert in der Darstellung der Widerstandskämpferinnen zusätzlich das Motiv der „Flintenweiber“, eine Bezeichnung vor allem für Soldatinnen der Roten Armee, die in Fotoalben und Berichten deutscher Soldaten an der Ostfront

28 Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München, 2009, 658.

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verbreitet war.29 Die Fotografien sind also für die Täter nicht nur visueller Beweis für den Erfolg der SS-Einheiten, sondern auch Bestätigung ihrer ideologischen Deutung der Geschehnisse und Legitimation ihrer Taten. Die 7.000 Jüdinnen und Juden, welche die Kämpfe mit der SS überlebten, aber nicht rechtzeitig aus dem brennenden Ghetto fliehen konnten – also auch jene Männer, Frauen und Kinder, die auf den SS-Fotos abgebildet sind – wurden nach ihrer Festnahme im Vernichtungslager Treblinka von SS-Männern vergast.30 Das Bild des Jungen ist also gerahmt von einer spezifischen visuellen Erzählung: SS-Soldaten besiegen eine Gruppe aufständischer „Banditen“, die als Zivilisten verkleidet einen Häuserkampf führen, inmitten von Frauen und Kindern. Noch dazu seien in ihren Reihen sogar bewaffnete Frauen gewesen, ebenfalls in Zivilkleidung. Für die Täter ergibt sich die Bestätigung eines zentralen Narratives: Juden sind grundsätzlich „Banditen“, sie müssen demnach radikal bekämpft werden, ihre endgültige Ermordung wird zu einer sicherheitspolitischen Notwendigkeit. Das Foto des Jungen ist visueller Beweis dieser Erzählung, selbst Kinder seien unter den Reihen der „Banditen“, die jüdische Zivilbevölkerung wird bildlich zu einer homogenen Gruppe aus „Banditen“ und „Flintenweiber“, die es auszulöschen gilt. Der Bildbericht dient somit als visuelle Bestätigung eines als bereits erwiesen betrachteten Zusammenhangs von „Banditentum“ und Judentum. Die Fotografie des Jungen mit den erhobenen Armen bekam ihre neue Bedeutung als „Ikone“ erst in der Nachkriegszeit. Im Kontrast zum Entstehungskontext wurde das Bild nun mit Empathie und als Individualisierung eines Shoahopfers interpretiert und dabei zu einem der berühmtesten Holocaustfotos. Der Stroop-Bericht selbst wurde im Jahr 2017 auf Vorschlag des polnischen Instytut Pamie˛ci Narodowej IPN (Institut für Nationales Gedenken) sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Auf der Internetseite der UNESCO wird das Album auch mit dem Foto des Jungen mit den erhobenen Armen illustriert.31 Das IPN betonte dabei, einerseits, die historische Wichtigkeit des Berichtes und, andererseits, die vielfache Verwendung von Fotos des Berichts als Illustrationen in Publikationen, Büchern und Filmen.32 Die symbolhafte Bedeutung steht zunehmend im Vordergrund, wohingegen die ursprüngliche Bedeutung der Fotografie in den Hintergrund rückte. Nachnutzung und Neuinterpretation ver29 Siehe dazu das Kapitel „Flintenweiber“ in: Petra Bopp, Fremde im Visier: Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, 95–113. 30 https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/warsaw-ghetto-uprising (03. 06. 2021). 31 http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/memory-of-the-world/re gister/full-list-of-registered-heritage/registered-heritage-page-4/juergen-stroops-report/ (17. 05. 2021). 32 https://ipn.gov.pl/en/news/1096,The-Institute-of-National-Remembrance-has-received-theUNESCO-Memory-of-the-Worl.html (30. 8. 2021).

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deckten, was die intendierte Funktion der Aufnahme innerhalb der SS darstellte: Das Foto war für die Täter visueller Beweis für die Notwendigkeit der Ermordung eines jüdischen Kindes aus sicherheitspolitischen Gründen.

III.

Wollproduktion für den Krieg im Konzentrationslagersystem

In rezenten Forschungsarbeiten liegt der Fokus vielfach auf „Alltäglichem“ auf Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus.33 Fotoalben der SS werden hingegen zumeist eingehend erforscht, wenn sie in offensichtlicher Verbindung zu Verbrechen stehen. Das „Auschwitz-Album“ ist sicherlich das bedeutendste Beispiel dafür. In den letzten Jahren erschienen jedoch auch wichtige Studien zu weniger bekannten SS-Alben, wie etwa die wichtigen und in vielerlei Hinsicht pionierhaften Arbeiten von Ute Wrocklage. Ihr Ansatz ist es, Fotoquellen von NS-TäterInnen in ihrem konkreten Entstehungs- und Nutzungszusammenhang zu interpretieren, beispielhaft sind ihre Arbeiten zu einem Fotoalbum aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück oder auch zu den Alben des Lagerkommandanten Otto Koch.34 Eine breite auch mediale Rezeption erfuhren kürzlich die Veröffentlichungen von Sammelbänden zum sogenannten „HöckerAlbum“, das SS-Angehörige in der Nähe des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau zeigt – fotografiert von Männern des Erkennungsdienstes des Lagers35 – sowie zu einem Fotoalbum eines SS-Mannes, der sowohl im nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm, als auch im Vernichtungslager Sobibor tätig war.36 In Österreich waren insbesondere die Arbeiten von Stephan Matyus 33 Zu alltäglichen visuellen Quellen des Nationalsozialismus siehe etwa die beiden wissenschaftlichen Projekte „Ephemeral Films Projects. National Socialism in Austria“ des United States Holocaust Memorial Museum, Österreichisches Filmmuseum und Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (https://efilms.at, 8. 6. 2021) und „Fotografie im Nationalsozialismus. Alltägliche Visualisierung von Vergemeinschaftungs- und Ausgrenzungspraktiken 1933–1945)“, das von Michael Wildt, Ulrich Prehn, Linda Conze und Julia Werner an der HU Berlin durchgeführt wurde und u. a. in folgender Publikation mündete: Journal of Modern European History 16 (2018), 4 / Special Issue: Photography and Dictatorships in the Twentieth Century. 34 Ute Wrocklage, Das SS-Fotoalbum des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück: Begleitband zur Ausstellung, Berlin 2011, 233–251; Ute Wrocklage, Die Fotoalben des KZ-Kommandanten Karl Otto Koch – Private und öffentliche Gebrauchsweise, in: Hildegard Frübis/ Clara Oberle/Agnieszka Pufelska (Hg.), Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis, Graz 2018. 35 Christophe Busch/Robert Jan van Pelt/Stefan Hördler, Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016. 36 Bildungswerk Stanisław Hantz e. V./Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hg.), Fotos aus Sobibor: Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020.

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wichtige Forschungsbeiträge zur visuellen Geschichte der Verbrechen in den Konzentrationslagern; er beschäftigte sich auch eingehend mit einem privaten Fotoalbum eines SS-Mannes aus Mauthausen und dem Außenlager Bretstein, das als privates Album auch Aufnahmen von SS-Fotografen des Erkennungsdienstes beinhaltet.37 Der Übergang von privaten zu offiziellen Fotoalben ist also mitunter fließend, auch in Bezug auf das oben genannte „Höcker-Album“, das zwar vermeintlich private Szenen zeigt, diese jedoch von den offiziellen Lagerfotografen aufgenommen wurden. Alben können also auch als Quellen für Täternetzwerke und die Durchlässigkeit vermeintlich klar getrennter Kategorien wie „privat“ und „dienstlich“ herangezogen werden. SS-Fotoalben, die nicht vordergründig mit Verbrechen in Verbindung stehen, stellen allerdings ein Forschungsdesiderat dar. Die vermeintliche Eindeutigkeit von Fotografien aus Konzentrationslagern, Vernichtungslagern oder anderen NS-Verbrechen ist in der Fotoanalyse jedoch mitunter mehr Hindernis als Hilfe. Gerade scheinbar untypische Bildquellen können einen analytischen Blick schärfen, losgelöst von gängigen Interpretationsmodellen und Kategorisierungen. Auch wenn Analysen von Fotoalben, die von Tätern erstellt wurden, ohne zusätzliche schriftliche Quellen methodisch und theoretisch durchaus eine Herausforderung darstellen, sind sie nichtsdestotrotz einzigartige visuelle Dokumente, deren quellenkritische Analyse sich interdisziplinär arbeitende HistorikerInnen zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht haben. Im Zentrum des Interesses stehen hier vielfach Fragen nach visuellen Narrativen, NS-Wertvorstellungen, ideologischen Zielen, den Funktionen von Fotos und die historische Bedeutung von Aufnahmen in ihrem Entstehungszusammenhang, also deutlich mehr als eine reine kritische Beschreibung des konkret Sichtbaren. Im Folgenden soll diesem Ansatz entsprechend ein Fotoalbum eingehender besprochen werden, das gerade deshalb ausgewählt wurde, weil es auf den ersten Blick irritierend wirken mag und nicht in den etablierten Bildkanon des Nationalsozialismus zu passen scheint. Es handelt sich dabei um ein ca. 40 x 35 cm großes Fotoalbum, eingebunden in weiße Angora-Wolle mit einer schwarzen Bestickung: „ANGORA“, darüber in schwarz und weiß die doppelte Sigrune, das Zeichen der SS. Das Album, hier nun als „SS Angora-Album“ bezeichnet, besteht aus rund 150 Fotoabzügen, Karten, Grafiken und Beschriftungen. Sigrid Schultz fand das Album als Mitarbeiterin einer US-amerikanischen Geheimdienstbehörde, dem American Counter Intelligence Corps, im Winter 1944/1945 auf der Suche nach Dokumenten des Reichsführers-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler mitsamt 37 Stephan Matyus, Auszeit vom KZ-Alltag: Das Bretstein-Album, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, (Hg.), Täter. Österreichische Akteure im Nationalsozialismus [Jahrbuch 2014], Wien 2014, 107–133.

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anderer Materialien in einer Scheune unweit seiner Villa. Im Jahr 1961 übergab Schultz als Korrespondentin der Chicago Tribune Berlin das Fotoalbum an die Wisconsin Historical Society, die es bis heute in ihrem Archiv aufbewahrt.38 Das „SS Angora-Album“ hat als Thema die in der Forschung bisher kaum beachteten Angorakaninchen-Zuchten innerhalb der Konzentrationslager.39 Angorakaninchen sind eine spezielle Kaninchenrasse, die für ihre besonders flauschige und weiche Wolle gezüchtet werden, ihre Wolle kann in der Textilproduktion eingesetzt werden. Das Album verdeutlicht die klare Verbindung der Herstellung von Angorawolle im Konzentrationslagersystem mit dem nationalsozialistischen Eroberungskrieg: Die Wolle wurde für Soldaten erzeugt und sollte ihnen ermöglichen, auch bei großer Kälte kämpfen zu können. Der Gewaltzusammenhang, in dem das Album entstand, beschränkt sich also nicht nur auf die Konzentrationslager selbst, sondern geht darüber hinaus. An 31 Standorten, darunter Konzentrationslager, richtete die SS Zuchtstationen für diese Kaninchen ein und verarbeitete ihre Wolle. Das Zuchtprogramm unterstand fachlich der Aufsicht der Hauptabteilung VI des Amts W 5 im Wirtschafts-VerwaltungsHauptamt (WVHA), die Wolle sollte zur Fertigung von Fliegerjacken eingesetzt werden.40 Die Zuständigkeiten der einzelnen Standorte war vor dem Dezember 1942 noch nicht einheitlich geregelt, zumeist unterstanden die Zuchtstationen den jeweiligen Lagerverwaltungen. Zur Betreuung der Kaninchen wurden Konzentrationslagerhäftlinge eingesetzt.41 Das aufwendige Projekt zeigte sich schlussendlich als nicht kostendeckend, da der Kilopreis der Reichswollverwertung die Instandhaltungskosten der Einrichtungen trotz Einsatz von Zwangsarbeit nicht deckte.42 Das Fotoalbum selbst umfasst Aufnahmen von Kaninchen, den Zuchtbaracken, der Pflege der Tiere, sowie erläuternde Statistiken. Viele Fotografien tragen Bildunterschriften, ein zusätzlicher begleitender Text ist nicht enthalten, die Bilder sollten in Verbindung mit den Grafiken eine Erzählung für sich bieten. Die Fotos selbst referenzieren auf etablierte fotografische Genres, die Hinweise auf 38 http://www.wisconsinhistory.org/Records/Article/CS3952, http://www.wisconsinhistory.org /Records/Image/IM44239 (3. 6. 2021). Grundlage des Artikels sind online einsehbare Scans dieses Albums. 39 Ausnahmen stellen Erwähnungen des Zuchtprogramms in den Arbeiten von Bertrand Perz (siehe Fußnote 41) und Hermann Kaienburg dar: Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003, 835–839; Hermann Kaienburg, Der Militär- und Wirtschaftskomplex der SS im KZ-Standort Sachsenhausen-Oranienburg. Schnittpunkt von KZ-System, Waffen-SS und Judenmord, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Band 16, Berlin 2015, 352. 40 Kaienburg, Militär- und Wirtschaftskomplex Sachsenhausen-Oranienburg, 352. 41 Kaienburg, Wirtschaft der SS, 836, 838. 42 Bertrand Perz, Verwaltete Gewalt. Der Tätigkeitsbericht des Verwaltungsführers im Konzentrationslager Mauthausen 1941 bis 1944, Wien 2013, 58.

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die Intention hinter den Bildern geben. Einige Seiten des Albums sollen nun, nach Motivgruppen gegliedert, einen Einblick in dessen Gestaltung und Erzählung gewähren. Das Fotoalbum beginnt in einem ersten Teil, nach einer Seite mit Erläuterung des Inhaltes („Die Angora-Zuchtstationen des SS Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes“), einer Landkarte mit den 31 Zuchtstationen in den Konzentrationslagern und der Fotografie eines Kaninchens, auf zwölf Seiten mit Beispielsaufnahmen aus verschiedenen Zuchtstandorten.

Abb. 2: „SS Angora-Album“, Seite 9 (Wisconsin Historical Society)

Die 30 Fotografien auf diesen zwölf Seiten sind jeweils mit dem Namen des Ortes ihrer Entstehung beschriftet und zeigen Barackenanlagen mit Kaninchenkäfigen. Die Größe der Zuchtstationen wird betont, der Stil der Fotografien aus den einzelnen Lagern unterscheidet sich dabei jedoch. Manche Bilder entstanden aus einer Perspektive von oben, andere, wie das hier gezeigte Beispiel aus dem Konzentrationslager Dachau, zeigen die Beschriftungen der Baracken und SS-

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Angehörige auf den Fotos, wieder andere Aufnahmen sind aus Distanz zu den Baracken entstanden. Es ist anzunehmen, dass die Bilder von SS-Fotografen der Erkennungsdienste der Konzentrationslager aufgenommen wurden, da diese als offizielle Fotografen der Lager tätig waren und Fotoaufträge, die an die Kommandanturen der Lager ergingen, ausführten.43 Auf die Fotos der Zuchtstationen folgt eine Statistik des Kaninchenbestandes zwischen 1941 und 1943, es ist also davon auszugehen, dass die Fotografien um das Jahr 1943 entstanden. Das Erstellungsdatum könnte auch mit der Funktion des Albums in Verbindung stehen: Da das Zuchtprogramm der SS nicht kostendeckend war, gab es Ende 1943 Überlegungen, die Aufzucht der Kaninchen an die Luftwaffe zu übergeben, die selbst über ein größeres Angorazuchtprogramm verfügte. Das Album könnte also Legitimationsbericht für die Effizient des SS-Programmes gewesen sein.44 Obwohl die Fotografien direkt in Konzentrationslagern aufgenommen wurden, ist von der alltäglichen Gewalt in den Lagern nichts zu sehen, die man aus heutiger Perspektive auf solchen Fotografien vermuten könnte. Sie erinnern in ihrer Gestaltung, der Ästhetik und durchaus auch der Funktion vielmehr an das fotografische Genre der Industriefotografie, bzw. Arbeitsfotografie45, der Fokus liegt auf der Produktivität und Effizienz, ästhetisch vermitteln sie auch den Eindruck zeitgenössischer Lagerfotografie. Dieses Bild entspricht durchaus den Ordnungsvorstellungen der SS und der Gestaltung der Konzentrationslager zum Großteil ihres Bestehens als „saubere“ und „ordentliche“ Lager mit klaren Strukturen und einem brutal geführten Ordnungsregime.46 Zentrales Bildmotiv des Albums sind die Angorakaninchen selbst. Nach den Bildern der Zuchtstationen folgen Aufnahmen der Tiere. Die spezifischen Artenmerkmale der Angorakaninchen werden visuell betont, gerade im Vergleich mit rassistischer Fotografie ist bemerkenswert, wie „Rasse“ anhand von Tierbildern verhandelt und positiv dargestellt wird.47 43 Neben meinem Promotionsprojekt zu SS-Fotografie habe ich mich in meiner Masterarbeit und wissenschaftlichen Artikeln eingehend mit dem Erkennungsdienst des Konzentrationslager Mauthausen beschäftigt, siehe etwa die publizierte Fassung der Masterarbeit: Lukas Meissel, Mauthausen im Bild. Fotografien der Lager-SS. Entstehung – Motive – Deutungen, Wien 2019. 44 Kaienburg, Wirtschaft der SS, 839. 45 Siehe etwa: Ulrich Prehn, Von roter Glut zu brauner Asche? Fotografien der Arbeit in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Marc Buggeln und Michael Wildt (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, 187–213. 187–213. 46 Meissel, Mauthausen im Bild, 73. 47 Siehe auch die gezielte Züchtung von Hunderassen, die in Konzentrationslagern durch SSHundeführer zur Bewachung eingesetzt wurden. Im Gegensatz zu den Angorakaninchen, deren spezifische Rassemerkmale positiv dargestellt wurden, setzte die SS auf die Vermischung von Hunderassen, um effizientere Wachhunde zu produzieren. Siehe: Bertrand Perz, „… müssen zu reißenden Bestien erzogen werden“. Der Einsatz von Hunden zur Bewachung in den Konzentrationslagern, in: Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte

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Abb. 3: „SS Angora-Album“, Seiten 9, 12 und 14 (Wisconsin Historical Society)

Neben der Dokumentation des Aussehens der Kaninchen sind die insgesamt 27 Nahaufnahmen verhältnismäßig kunstvoll gestaltete Fotos, die Tiere sind aus verschiedenen Perspektiven abgebildet, die schwungvollen Bildbeschriftungen in Handschrift geben dem offiziell in Auftrag gegebenem Album einen vermeintlich privaten Charakter. Der schwarze Hintergrund unterstreicht den Kontrast zu den weißen Kaninchen. Die Tiere werden in einer bewusst künstlich gestalteten Umgebung, losgelöst von natürlichem Umfeld inszeniert. Die klinisch saubere Umgebung vermittelt objektive Porträtaufnahmen. Die Aufnahmen betonen durchaus die Niedlichkeit der Kaninchen, zeigen sie in verschiedenen Posen, ohne erkennbaren wirtschaftlichen oder dokumentarischen Grund. Es ist gut möglich, dass diese Bildstrecke in der zentralen „Muster- und Lehrstation Thorn (dem polnischen Torun´) aufgenommen wurden, die im Album auf Seite 5 als erste Zuchtstation bildlich vorgestellt wurde. Dort befand sich die größte Zuchtstation und auch die Verwaltung der Hauptabteilung VI des Amtes W 5 des WVHA, der das Zuchtprogramm unterstellt war.48 Auffallend ist die geschlechtsspezifische Inszenierung der Kaninchen. Die Fotografien der Rassekaninchen nach Geschlecht und mit Fokus auf ihren distinktiven Arteneigenschaften erinnern insgesamt auf beunruhigende Art an zeitgenössische anthropologische und rassistische Aufnahmen von „Menschenrassen“.49 Die folgenden Seiten zeigen verschiedene Arbeitsaspekte der Tierzucht, wie „Zubereitung des Weichfutters“, „Tierpflege“, „Wollpflege“ etc. anhand einiger Fotografien. Die beiden Seiten (Abb. 4) entstammen der Bildserien „AngoraWollschur“ (links) und „Gewichtskontrolle“ (rechts). Die linke Seite zeigt auf zwei Aufnahmen eine Frau beim Scheren eines Kaninchens mit einem elektrischen Rasiergerät und ein geschorenes Tier. Die drei Aufnahmen dürften in einem Studio oder zumindest einem für die Fotografien extra ausgewählten der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 12. Jahrgang 1996 Heft 12 (November 1996) Konzentrationslager: Lebenswelt und Umfeld, 152–153. 48 Kaienburg, Wirtschaft der SS, 838. 49 Siehe dazu etwa Amos Morris-Reich: Race and Photography: Racial Photography as Scientific Evidence, 1876–1980, Chicago 2016.

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Abb. 4: „SS Angora-Album“, Seiten 37 und 43 (Wisconsin Historical Society)

Raum entstanden sein, womöglich am gleichen Ort, an dem auch die Porträtaufnahmen der Kaninchen zuvor entstanden sind. Die junge Frau trägt Zivilkleidung, eine auffallende Kette mit rundem Anhänger und eine aufwendige Frisur, auf einer Aufnahme lächelt sie in die Kamera. Die Fotografien vermitteln den Eindruck, dass es sich dabei nicht um eine Zwangsarbeiterin handelt, was bei Angora-Zuchten in Konzentrationslagern naheliegend wäre (dieser Eindruck kann jedoch täuschen). Das vierte Bild wirkt stilistisch völlig anders, es zeigt eine Gruppe Frauen in weißer Arbeitskleidung nebeneinander sitzend beim Scheren von Kaninchen, auf der linken Bildseite ist eine Tabelle mit der Aufschrift „Schurtermin“ zu sehen, sowie eine nicht identifizierbare Schrift an der Wand. Der Tisch, an dem die Frauen arbeiten, wirkt wie ein Fließband, die Abgebildeten schauen konzentriert auf die Kaninchen, die Aufnahme vermittelt den Eindruck, dass die Anwesenheit der FotografIn nicht bemerkt werden würde. Die Fotografie suggeriert Professionalität, die Frauen sitzen, Fabriksarbeiterinnen ähnelnd, aufgereiht und arbeiten strukturiert nach Zeitplan (suggeriert durch die Tabelle an der Wand). Der Fokus auf Effizienz ist auch auf der rechts abgebildeten Seite zentrales Motiv. Sie zeigt einen Mann beim Wiegen eines Kaninchens. Sein weißer Kittel vermittelt Professionalität, sein im Profil festgehaltener Gesichtsausdruck und kantige Haarschnitt Ernsthaftigkeit. Nur die schwarzen Lederstiefel, die unter dem Mantel zu sehen sind, lassen vermuten, dass es sich um einen SS-Angehörigen handelt. Vergleichbar wie die „Porträtaufnahmen“ der Kaninchen vermittelt auch diese Aufnahme eine Laboratmosphäre. Gerade im Vergleich zu den Aufnahmen, die einige Seiten davor eine lächelnde junge Frau mit Tier zeigt, steht der geschlechtlich aufgeladene Topos des vermessenden und objektiven Mannes stellvertretend für die kategorisierende Trennlinie von Emotion und Ratio. Das Narrativ des Albums enthält also, einerseits, lieblich

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wirkende Fotografien, betont durch niedliche Tieraufnahmen, lächelnde Frauen und die handschriftlichen Beschriftungen, und, andererseits, männlich konnotierte, vermeintlich objektivierende Darstellungen der Effizienz und Produktivität des Zuchtprogramms. Die Verbindungen zur zeitgenössischen Industriefotografie, geprägt durch ähnliche Motive und Ästhetik, ist augenscheinlich.50

Abb. 5: „SS Angora-Album“, Seite 47 (Wisconsin Historical Society)

Das SS-Album endet mit der oben gezeigten Statistik zum Potential der produzierten Angorawolle, die in der Gestaltung des Albums an die erste Seite mit der Karte zum Zuchtprogramm anknüpft und die Erzählung des Albums rahmt: Die effiziente Verbindung von Kaninchenzucht und Kriegsproduktion. Die Statistik nimmt dabei die Funktion einer visuellen Erzählung mit konkret geschaffenem Assoziationsraum ein.51 Der Aufbau des Albums erstreckt sich also von einem 50 Siehe Fußnote 45. 51 Die Illustration von Statistiken mit Fotografien ist zeitgenössisch durchaus üblich gewesen, siehe etwa auch Fotoalben aus dem Ghetto Łodz´, die von der statistischen Abteilung des sogenannten Judenältesten hergestellt werden mussten: Hanno Loewy: „NähmaschinenReparatur-Abteilung“. Ein Album von 1943 aus dem Ghetto Łódz´, mit einer Vorbemerkung

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Überblick des Zuchtprogrammes, über Porträtaufnahmen der Rassenkaninchen – durchaus mit verspielten Motiven – zu Dokumentationsaufnahmen in betont ernsthaften und effizienten Stil zu einem abschließenden Überblick über die (kriegs-)wirtschaftlichen Erträge des Programms. Das Album ist Dokumentations-, wie auch Legitimationsbericht eines Projektes im Konzentrationslagersystem, das SS-intern unter Druck geriet, da es wirtschaftlich nicht kostendeckend war. Trotz des vermeintlich harmlosen Inhaltes des Fotoalbums steht es – genauso wie das Zuchtprogramm selbst – in direktem Zusammenhang mit NS-Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Verbindung der Wollproduktion mit den nationalsozialistischen Eroberungskriegen war auch den Häftlingen, die zur Betreuung der Kaninchen eingesetzt waren, bewusst. So verweigerten im Konzentrationslager Ravensbrück eine Gruppe an Häftlingen, die als Zeugen Jehovas deportiert wurden, die Arbeit in der Kaninchenzucht, als sie erfuhren, dass die Wolle zur Ausfütterung von Fliegerjacken verwendet wurde.52 Vermutlich war das Album an übergeordnete Stellen, mitunter Heinrich Himmler persönlich, adressiert.53 Als Bildbericht erzählt es eine Erfolgsgeschichte. Der tatsächliche Ertrag des Angora-Züchtung war allerdings bescheiden. Inwieweit der Bildbericht also Erfolg bei den Vorgesetzten des Lagersystems erzielt hat, ist nicht dokumentiert. Das „SS Angora-Album“ ist nur sehr bedingt als repräsentative Quelle für die tatsächlichen Verhältnisse für den Großteil der Häftlinge in nationalsozialistischen Konzentrationslagern geeignet. Jedoch kann das Album als visuelle Erzählung der Täter über Aspekte des Lagersystems interpretiert werden, vermittelt es doch ein Bild der Lager nach den – im nationalsozialistischen Sinne – idealisierten Vorstellungen der SS. Es ist also Quelle für die Ideologie hinter den Konzentrationslagern, die u. a. geprägt war durch ein nationalsozialistisches Verständnis von Produktivität, Arbeitsmoral und Kriegswichtigkeit. Selbst unscheinbare visuelle Quellen, wie ein Album über Kaninchen, vermitteln jene ideologische Bausteine, die wiederum konkret mit der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen oder wie am Beispiel der Wollproduktion ersichtlich mit den nationalsozialistischen Eroberungskriegen verknüpft waren, also in einem Gewaltzusammenhang stehen. Aus heutiger Sicht mögen die Bildmotive irritieren und diese Verbindungen verdecken, für die Fotografen und ihre Auftraggeber waren diese jedoch klar. Die Konzentrationslager bestanden nicht nur aus Mordstätten. Jeder Lagerbereich, so harmlos er auch wirken mag, stand mit diesen jedoch in direkter Verbindung – und das war auch den SS-Fotografen, versehen von Hanno Loewy, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. 9. Jahrgang, Heft 34 (1989), 11. 52 Kaienburg, Wirtschaft der SS, 838. 53 Perz, Verwaltete Gewalt, 58.

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ihren Auftraggebern und vermutlich auch den RezipientInnen des Albums bewusst.

IV.

Fazit

Trotz des irritierenden Motivs – Kaninchen im Konzentrationslager – und scheinbar fehlenden Verbindungen zu Verbrechen in den Lagern, verdeutlicht das „SS Angora-Album“ Grundsätzliches zu Täteralben aus Konzentrationslagern: Sie zeigen nur einen ganz bewusst ausgewählten Ausschnitt. Die Realität der Lager für einen Großteil der Häftlinge und ihre Lebens- und Sterbebedingungen sind nicht Teil der Erzählungen. Die Tätigkeiten der SS werden als Erfolgsgeschichte dokumentiert, die Alben selbst sind dafür als visueller Leistungsnachweis gestaltet. Fotografien sind die Beweise der korrekten Durchführung und Legitimation der Tätigkeiten der SS in den Konzentrationslagern. Diese Aspekte sind auch für andere SS-Alben mit unterschiedlichem Inhalt zentral, wie etwa das „Auschwitz-Album“. Beide Alben stehen aufgrund ihrer verschiedenen Themen nur vermeintlich im Widerspruch zueinander. Ihre visuellen Erzählungen sind geprägt durch die Betonung von Effizienz, von rationalen Abläufen, Kategorisierungen, klinisch sauberen Settings und objektivierender Darstellungen von „Arbeitsabläufen“ in Konzentrationslagern. Die Alben können in ihrer Funktion als visuelles Kommunikationsmedium innerhalb der SS – gerade im Vergleich zum „Stroop-Bericht“ – als Bildberichte und somit als typisch für den Gebrauch von Fotografien in der SS gedeutet werden. Solche visuellen Berichte waren allgemein in der SS ein beliebtes Mittel der internen Kommunikation, sei es von wirtschaftlichen Leistungen (zumeist de facto Zwangsarbeit), von militärischen Erfolgen (vielfach Kriegsverbrechen) und erfolgreichen Projekten im Lagersystem (etwa abgeschlossene Mordaktionen). Sie sind also in erster Linie Dokumente für die Wertigkeiten, Ziele und ideologischen und praktischen Vorstellungen der SS. Sie zeigen, wie etwas auszusehen hatte, sie sind positiv konnotierte Selbstzeugnisse und keine „objektiven“ Darstellungen: Aus anderen Quellen lässt sich vielfach ableiten, dass das vermittelte Bild nicht der Realität entsprach. Die Bildberichte umspannen ein breites Themenfeld und spiegeln die Schwerpunkte von SS-Einheiten, Lagern oder Institutionen wider. Vordergründig Gezeigtes verdeckt jedoch mitunter den Blick auf den historischen Kontext. Das „SS Angora-Album“ war in seiner ursprünglichen Funktion Dokumentations- und Legitimationsbericht. Es zeigt jedoch für HistorikerInnen auch anderes, abseits der Intention der Auftraggeber: Die Verbindung von Produktionsstätten in Konzentrationslagern mit den Eroberungs- und Vernichtungskriegen des Deutschen Reiches, sowie das Nebeneinander von vermeintlich

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harmlosen Betrieben wie Kaninchenzucht und den Kernfunktionen von Konzentrationslagern: Zwangsarbeit, politischer Repression und Massenmord. Die Gleichzeitigkeit scheinbar unzusammenhängender Aspekte irritiert in erster Linie aus einer gegenwärtigen Perspektive, die Verbindungen dieser Aspekte werden erst durch eingehende Beschäftigung mit dem Entstehungskontext der Fotografien klar. Aus heutiger Sicht irritierende Alben werfen oft mehr Fragen auf, als sich durch das Fotoalbum beantworten ließen. Die Leerstellen, die übrig bleiben – wie wurde das jeweilige Album rezipiert? Wie waren die Reaktionen auf die Fotografien? Welche Wertigkeit wurden ihnen beigemessen? Waren sie zynisch gemeint, lustig, beschönigend oder bewusst dramatisiert? – lassen sich vielfach nicht abschließend klären. Fotoanalyse braucht auch Mut zur Uneindeutigkeit, Nichterklärbarkeit von Fotos muss transparent gemacht werden. Bildberichte von Tätern als Albumgenre verdecken die Realität mitunter mehr, als dass sie sie festhalten. Sie sind jedoch vor allem ausdrucksstarke Dokumente für den Blick der Täter auf ihre Taten.

Markus Wurzer

Kolonialkrieg im visuellen Familiengedächtnis. Erinnerungsproduktion durch transgenerationale Albumpraktiken in Südtirol/Alto Adige

In den Geschichtswissenschaften dominiert die Annahme, dass private Fotoalben vor allem als autobiografische Quellen zu verstehen seien, die sich für die Untersuchung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern bzw. biografischen Erzählstrategien eignen würden.1 Dahinter steht die Vorstellung, dass der „Knipser“, so Timm Starl in seinem gleichnamigen Buch, nicht nur für die Bildproduktion verantwortlich zeichne, sondern auch Urheber und Besitzer des Albums sei. Ergo diene das private Album ausschließlich einem biografischen Zweck – woraus sich eben auch sein Quellenwert begründe.2 Studien zu privaten Alben – vor allem zu Wehrmachtsalben – haben allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass die Albenpraxis nicht nur den Veteranen betrifft. Private Kriegsalben kommen im Normalfall nicht in Archive oder Museen. Familien bewahren sie über Generationen hinweg auf – und verändern sie.3 Über diesen Befund hinaus reichende Analysen zum transgenerationalen Umgang mit Alben von NS-(Mit-)TäterInnen stehen zwar noch aus, man kann aber davon ausgehen, dass Kriegsalben nicht nur verändert, sondern zum Teil von Familien überhaupt erst angelegt worden sind. Diese Beobachtung stellt Allgemeinplätze der Albenforschung betreffend die Urheberschaft und Funktion von privaten Kriegsalben infrage: Können von der „Kindergeneration“ arrangierte/veränderte Alben Auskunft über die Kriegserfahrungen der „Erlebnisgeneration“4 geben? Muss Kriegsalben ihr Quellenwert 1 Vgl. Cord Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quellen, in: Zeithistorische Forschungen 6 (2009) 3, 449–463, 454. 2 Vgl. Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, 155. 3 Vgl. Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, 156; Bernd Boll, Vom Album ins Archiv. Zur Überlieferung privater Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Anton Holzer (Hg.), Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, 167–178, 176. 4 Eine Generation definiert sich durch äußere Ereignisse, die im jungen Erwachsenenalter passiert sind, vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928/1929) 2–3, 157–184. Referenzpunkt in diesem Beitrag ist der

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abgesprochen werden, weil die Veteranen, die noch über die Motive hinausreichende Bedeutungen reaktualisieren konnten,5 verstorben sind? Der Wert von Quellen bestimmt sich vor allem über das Erkenntnisinteresse.6 Die Zeitgeschichtsforschung hat in den letzten Jahren durch die Impulse der Memory Studies neue Erkenntnisinteressen, etwa was die Erinnerung an Faschismus und Kolonialismus in Familien betrifft, hervorgebracht. Anhand dieses Beispiels argumentiere ich in diesem Beitrag, dass „nachträgliche“ Eingriffe in Alben nicht als Verletzungen ihrer Authentizität, sondern als bedeutungstragende Teile ihrer Objektbiografien zu verstehen sind.

I.

Album und Familiengedächtnis

Die Analyse von Familiengedächtnissen konzentrierte sich bisher auf sogenannte „Tischgespräche“, also auf mündliche Vergegenwärtigungen von Vergangenheit.7 Dieser Zugang liegt an der theoretischen Konzeption von Familiengedächtnissen: Die soziale Kleinstgruppe bilde ein spezifisches Erinnerungsmilieu, das sich durch soziale Interaktion konstituiere und etwa drei bis vier Generationen oder 80 bis 100 Jahre zurückreiche.8 Diese Theoretisierung als zentraler Modus des kommunikativen Gedächtnisses führte dazu, dass ihre Erforschung häufig mittels Oral History erfolgte.9 In deren Rahmen fungierten Einzelfotografien oder Alben als Erzählanlässe, nicht aber als Erkenntnisobjekte;10 die materielle und mediale Geprägtheit von Familiengedächtnissen wurde ignoriert.11 Diese kann über das Konzept des sozialen Gedächtnisses in den Blick genommen werden. Es erkennt nicht nur in Interaktionen, sondern u. a. in Bildern wie auch in Alben Gedächtnismedien, deren sozialer Gebrauch Geschichte er-

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Italienisch-Äthiopische Krieg (1935–1941). Ich setze diese Begriffe unter Anführungsstriche, um ihre Konstruiertheit anzuzeigen. Vgl. Starl, Knipser, 23. Vgl. Gunilla Budde, Quellen, Quellen, Quellen…, in: Gunilla Budde/Dagmar Freist/Hilke Günther-Arndt (Hg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, 52–69, 53–54. Für einen ausführlichen Forschungsstand vgl. Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 12. Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 3. Aufl., Stuttgart 2017, 14. Vgl. Sabine Moller, Das kollektive Gedächtnis, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/ Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, 85–92, 88. Vgl. Marianne Hirsch, Family frames. Photography, narrative and postmemory, Cambridge/ London 1997; Valeria Deplano, Una questione privata? Il colonialismo nelle memorie familiari die sardi, in: I sentieri della ricerca 12 (2015) 22, 185–206, 190. Vgl. Erll, Gedächtnis, 137, 150–151.

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zeugt.12 Es ist plausibel, dass Erinnerungsarbeit, verstanden als performativ, dynamisch und stets gegenwartsbezogen,13 an einem in einer Familie überlieferten Album Gebrauchsspuren hinterlässt, die erheb- und analysierbar sind. Davon abgeleitet, untersucht der Beitrag, wie Familien mit Fotoalben aus Gewaltkontexten umgingen. Meine These ist, dass die Deutung der Kriegserfahrung eine transgenerationale Beschäftigung darstellte, die nicht nur die Veteranen, sondern mehrere Familienmitglieder involvierte: Sie entfernten Einzelbilder, fügten Beschriftungen hinzu, entsorgten oder re-arrangierten ganze Alben und brachten neue Deutungen über gewaltsame Vergangenheiten hervor.

II.

Historische Kontextualisierung und methodologische Überlegungen

Dieser Beitrag stützt sich auf ein Korpus von 26 Alben, die in 22 deutschsprachigen Familien in Italiens nördlichster Provinz, der Autonomen Provinz Bozen/ Bolzano – Südtirol/Alto Adige mit mehrheitlich deutschsprachiger und ladinischer Bevölkerung, überliefert sind und die ich im Zuge meines Dissertationsprojekts (2016–2020) erhoben habe.14 Die Fotografien dieser Alben stammen aus dem Italienisch-Äthiopischen Krieg15, der 1935 begann, nachdem das faschistische Italien das Kaiserreich Äthiopiens überfallen hatte. Nach der Eroberung der Hauptstadt አዲስ ፡ አበባ/Addis Abeba 1936, erklärte Benito Mussolini den Krieg für beendet und Äthiopien zur Kolonie. Die Gewalt aber endete erst 1941, als die italienischen Besatzer durch britische Streitkräfte und äthiopische WiderstandskämpferInnen vertrieben wurden: Bis zu 760.000 ÄthiopierInnen verloren ihr Leben.16 Als „Experimentierfeld der Gewalt“17 nahm der Konflikt viel von dem vorweg, womit die faschistischen Regime die Welt in den folgenden Jahren 12 Erll, Gedächtnis, 47. 13 Vgl. ebd., 6–7. 14 Vgl. Markus Wurzer, Die sozialen Leben kolonialer Bilder. Italienischer Kolonialismus in visuellen Alltagskulturen und Familiengedächtnissen in Südtirol/Alto Adige 1935–2015, phil. Diss., Universität Graz 2020, 295–313. 15 Die Geschichtswissenschaften führen eine Debatte darüber, ob es sich um einen Kolonialkrieg oder um einen Totalen Krieg gehandelt habe. Vgl. dazu: Giulia Brogini Künzi, Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? (Krieg in der Geschichte 23), Paderborn 2006. Wenngleich der Konflikt in Punkto rassistisch motivierter Massengewalt ein neues Ausmaß erreichte, bezeichne ich ihn auch als Kolonialkrieg. Seine Mediatisierung und zeitgenössische Deutung waren nämlich durch die europäischen Traditionen kolonialer Kriege geprägt – was die private Erinnerungsproduktion beeinflusste. 16 Vgl. ebd. 17 Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941 (Kultur – Philosophie – Geschichte. Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern 3), Zürich 2005.

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überzogen. Das betrifft die Entgrenzung der Gewalt durch modernste Waffentechniken (wie Giftgas), die gezielte Involvierung der Zivilbevölkerung in die Kriegsführung sowie die konsequente Verfolgung, Internierung (in Konzentrationslagern) und Vernichtung einzelner Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeiten zu Gruppen, die dem Kolonialregime aufgrund politischer, rassistischer oder anderer Gründe missliebig waren.18 Der Krieg war aber auch ein beispielloses Medienereignis: Mussolinis Regime tarnte seinen brutalen Eroberungskrieg durch den massiven Einsatz visueller Technologien als „Zivilisierungsmission“, die ausgerechnet den Unterworfenen zugutekommen sollte.19 Bereits in den 1980er-Jahren setzte in Italien eine Beschäftigung mit Kolonialismus und Fotografie ein.20 Zunächst widmeten sich Forschende vor allem der Kolonialpropaganda.21 Erst in den 2000er-Jahren fand auch die private Bildpraxis das Interesse von HistorikerInnen.22 Diese Studien nutzten zwar Fotoalben als Quellen, beschränkten sich aber vor allem auf Einzelbildanalysen. Untersuchungen über Formen, Gestaltungs- und Verwendungsweisen von Alben fehlen laut Luigi Tomassini dagegen noch.23 Während Fotografien mittlerweile als Quellen für die Erforschung der Kolonialvergangenheit in Italien wahrgenommen werden,24 gilt das für Alben als eigenständige, bedeutungstragende Objekte nicht. Diese Forschungslücke ist erstaunlich, zumal es sich bei Alben, so Benedetta Guerzoni, um den populärsten Erinnerungsmodus unter Veteranen gehandelt habe.25 Unter den rund 400.000 Veteranen befanden sich auch Männer aus rund 1.000 deutschsprachigen Familien aus der Provinz Bozen/Bolzano.26 Die Beschränkung auf die transgenerationalen Albenpraktiken dieser Gruppe ermöglicht es, die 18 Vgl. Aram Mattioli, Der Abessinienkrieg in internationaler Perspektive, in: Gerald Steinacher (Hg.), Zwischen Duce und Negus. Abessinienkrieg und Südtirol 1935–1941 (Veröffentlichung des Südtiroler Landesarchivs 22), Bozen 2006, 257–268, 264–265. 19 Vgl. Benedetta Guerzoni, Una guerra sovraesposta. La documentazione fotografica della guerra d’Etiopia tra esercito e Istituto Luce, Reggio Emilia 2014, 19. 20 Vgl. etwa: Adolfo Mignemi (Hg.), Immagine coordinata per un impero. Etiopia 1935–1936 (Image + Communication), Turin 1984; Luigi Goglia (Hg.), Colonialismo e fotogafia. Il caso italiano, Messina 1989. 21 Vgl. Mignemi, Immagine; Angelo Del Boca/Nicola Labanca, L’impero africano del fascismo nelle fotografie dell’Istituto Luce, Rom 2002; Guerzoni, guerra. 22 Für einen ausführlichen Forschungsstand vgl. Wurzer, Leben, 25–26. 23 Vgl. Luigi Tomassini, L’album fotografico come fonte storico, in: Paolo Bertella Farnetti/ Adolfo Mignemi/ Alessandro Triulzi (Hg.), L’impero nel cassetto. L’Italia coloniale tra album privati e archivi pubblici (Passato prossimo 12), Mailand/Udine 2013, 59–70, 59–60. 24 Vgl. Valeria Deplano, L’isola oltremare. Il colonialismo italiano nelle immagini, lettere e memorie dei sardi, in: Valeria Deplano (Hg.), Sardegna d’oltremare. L’emigrazione coloniale tra esperienza e memoria, Rom 2017, 77–106, 81–82. 25 Vgl. Guerzoni, guerra, 21. 26 Vgl. Thomas Ohnewein, Südtiroler in Abessinien – Statistisches Datenmaterial, in: Steinacher (Hg.), Duce, 269–272, 271.

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„multidirektionale Erinnerung“27 von Familien zu untersuchen, deren eigene Vergangenheiten durch Erfahrungen der faschistischen Unterdrückung geprägt waren und die sich in ihrer Erinnerungsproduktion gleichzeitig zur Unterwerfung „Anderer“, an der sie selbst auch auf die ein oder andere Weise partizipiert hatten, positionieren mussten. Das südliche Tirol und das benachbarte Trentino waren erst 1920 – infolge des Ersten Weltkrieges – von Italien in Besitz genommen worden. Um die behauptete Italianness der Provinz zu bekräftigen, verfolgte das Regime eine repressive Denationalisierungs- und Italianisierungspolitik gegen die mehrheitlich deutschsprachige und ladinische Bevölkerung, was etwa das Verbot der deutschen Sprache in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens bedeutete. Ziel dieser war es nicht nur die Deutschsprachigen durch hohen Druck zu „echten“ ItalienerInnen zu machen, sondern auch jene, die sich diesem nicht beugten, durch die Ansiedelung von italienischen StaatsbürgerInnen zu verdrängen.28 Die sogenannte „Option“ bildete 1939 den Schlusspunkt dieser nationalistischen Politik: Sie stellte ein Agreement mit NS-Deutschland dar, um die bündnisbelastende „Südtirolfrage“ zu lösen: Die Bevölkerung in Südtirol/Alto Adige wurde gezwungen, zu entscheiden, ob sie als italienische StaatsbürgerInnen in Italien bleiben oder als deutsche in das Deutsche Reich auswandern wollte. Aufgrund der unsicheren Perspektiven und des Kriegsverlaufes wanderte nur ein geringer Teil aus: Im Spätsommer 1943, mit dem Kriegsausscheiden Italiens, erübrigte sich die Emigration ins „Reich“: NS-Deutschland besetzte mit weiten Teilen Mittel- und Norditaliens auch die Provinz Bozen. Nach 1945 verblieb Südtirol/Alto Adige allerdings bei Italien.29 Weder der Fall des faschistischen 1943 noch das Ende der NS-Regimes 1945 bilden Brüche für die Erinnerungsproduktion der deutschsprachigen Ostafrikaveteranen in Südtirol/Alto Adige. Vor wie nach diesen politischen Zäsuren war ihnen ein öffentliches Erinnern – im Gegensatz zu Veteranen in anderen Regionen Italiens – unmöglich: Die deutschsprachige Mehrheit nahm den faschistischen Staat als feindlich wahr; wer für diesen gekämpft hatte, konnte – ganz anders als die Ex-Wehrmachtssoldaten – nicht auf soziales Ansehen hoffen. Im Gegenteil standen die Ostafrikaveteranen im öffentlichen, von deutsch-nationalistischen Akteuren wie dem „Südtiroler Kriegs- und Frontkämpferverband“ dominierten Erinnerungsdiskurs unter Druck, sich für ihren Kriegseinsatz rechtfertigen zu müssen, um nicht unter Verdacht der Komplizenschaft oder 27 Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021. 28 Vgl. Roberta Pergher, Mussolini’s Nation-Empire. Sovereignty and Settlement in Italy’s Borderlands, 1922–1943, Cambridge 2018, 13. 29 Vgl. Horst Schreiber, Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. Opfer – Täter – Gegner, Innsbruck 2008, 369.

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Loyalität zu stehen. Viele Kolonialveteranen lösten das, indem sie unter Verweis auf Marginalisierung und Zwang ihre Biografien in das pauschalisierende Viktimisierungsnarrativ der deutschsprachigen Gesellschaft einwebten: Demnach erschienen alle Deutschsprachigen qua ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Opfer des Faschismus.30 Zum Kriegsdienst eingezogen wurden unterdessen nur die Jahrgänge 1911 bis 1913. Es meldeten sich sehr wohl aber auch jüngere und ältere. Ihre Motivationen, freiwillig am Krieg in Ostafrika teilzunehmen, waren unterschiedlich und reichten von Abenteuerlust bis hin zur Hoffnung, in der Kolonie attraktivere Zukunftsaussichten vorzufinden.31 Im erinnerungspolitisch heiklen Klima Südtirols/Alto Adiges blieb den deutschsprachigen Ex-Kolonialsoldaten nach ihrer Heimkehr einzig der private Raum, also der gemeinsame Austausch mit anderen Veteranen, die die Erfahrung der erinnerungskulturellen Marginalisierung teilten und die eigenen Familien, um ihre Erlebnisse zu erinnern.32 Um Albenpraktiken in Familien untersuchen zu können, bediene ich mich eines methodisch-kombinierten Ansatzes, der qualitative Interviewerhebung und historische Quellenkritik33 mit dem technoanthropologischen Zugang David G. Morleys verknüpft. Morley etablierte diesen, um (visuelle) Kommunikationstechnologien als Gebrauchsgegenstände zu beschreiben und um das „soziale Leben von visuellen Objekten“34 in den Blick zu bekommen. Dazu baut er auf zwei Prämissen auf: Erstens sind Materialität, Medialität und Performativität für Bedeutungsproduktion essenziell. Zweitens werden visuelle Objekte als mobile Gegenstände verstanden, deren Bedeutungen sich während ihrer Reisen durch Zeit und Raum verändern können.35 Dieser Zugang ermöglicht es also, Kriegsalben als kommunikative Gebrauchsgegenstände zu beschreiben, die im Alltag von Familien in unterschiedliche Verwendungszusammenhänge eingebettet wurden. Die Analyse folgt den „Biografien“ der Alben und versucht anhand der – den „ursprünglichen“ Zustand überformenden – Gebrauchsspuren nachzuverfolgen, wer diese wann, wo und wozu nutzte.36

30 Vgl. Wurzer, Leben, 258–260. 31 Vgl. Nicola Labanca, Erinnerungskultur, Forschung und Historiografie zum Abessinienkrieg, in: Steinacher (Hg.), Duce, 33–57, 34; Wurzer, Leben, 106. 32 Vgl. Wurzer, Leben, 305–313. 33 Vgl. besonders Jens Jäger, Überlegungen zu einer historiografischen Bildanalyse, in: Historische Zeitschrift 304 (2017) 3, 655–682. 34 Gillian Rose, Visual Methodologies. An Introduction to the Interpretation of Visual Materials, 4. Aufl., London 2010, 275. 35 Vgl. ebd., 277. 36 Vgl. ebd., 257, 278–281.

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Die Analyse wird durch eine qualitative Interviewerhebung mit Angehörigen der „Kindergeneration“37 flankiert. Im Rahmen der Erhebungsphase besuchte ich die Familien zwei Mal – dazwischen sorgte ich für die Digitalisierung der Alben. Im Rahmen meiner Besuche führte ich mit den „Kindern“ teilstrukturierte Interviews,38 wobei ich in diesen nicht nur biografische Daten, sondern auch Informationen über Albenpraktiken erhob. Die Alben bildeten in diesen Gesprächen oft Erzählanlässe. Das Besprochene beschäftigte meine Gegenüber oft über die Dauer der Unterhaltung hinaus, sodass sich diese mitunter nochmals bei mir meldeten, um Informationen nachzureichen. Wichtiger Teil meiner methodologischen Überlegungen war es auch, die eigene Position als „weißer“ Historiker aus Österreich, meine Erwartungshaltung an die Gespräche und deren spezifische Dynamik ausgiebig zu reflektieren.39 Wiewohl in diesem Beitrag die Aufmerksamkeit dem Erzählen und Zeigen gilt, ist darauf hinzuweisen, dass diese Praktiken die Ausnahme waren und das NichtErinnern sowie Nicht-Zeigen in Familien dominierten. Das spiegelte sich in Erinnerungen einiger „Kinder“ wider, die von den kolonialen Vergangenheiten ihrer Väter lange Zeit nichts ahnten.40 In diesen Familien erhielten die Fotografien „keine identitätsstiftende Funktion, die sie bei dem biografisch ausgerichteten Knipsen üblicherweise haben, vor allem dann, wenn die Abzüge zur Erinnerung zu einem Album zusammengestellt werden“41.

III.

Die Albenpraxis der Ex-Kolonialsoldaten

Die Männer, die in Ostafrika Kriegsdienst leisteten, waren – fotohistorisch gesprochen – eine besondere Generation: Der Boom der Foto-Industrie Italiens Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre hatte dazu geführt, dass Fotoapparate wesentlich günstiger und technisch besser handhabbar wurden. Das machte die Fotografie zu einer populären Alltagspraxis. Während die private Praxis im Ersten Weltkrieg vornehmlich auf Offiziere, also Angehörige vermö-

37 Die Alben sind nach wie vor im Besitz der „Kinder“. Nur in einer von 22 Familien besaß es die Enkelin, weil ihre Eltern dieses entsorgen wollten, vgl. Interview mit SP, 21. 9. 2016. 38 Der Autor führte alle in diesem Beitrag zitierten Interviews; zitierte Aufnahmen, Protokolle, E-Mails und Kurznachrichten befinden sich beim Autor. Dem Autor sind die Klarnamen der GesprächspartnerInnen bekannt. 39 Für eine ausführliche Reflexion meines methodologischen Zuganges vgl. Wurzer, Leben, 51– 58. 40 Vgl. Interviews mit LP, 19. 9. 2016; TN, 13. 8. 2018; SP, 21. 9. 2016; EM, 19. 9. 2016, 26. 2. 2018. 41 Petra Bopp, Fremde im Visier. Private Fotografien von Wehrmachtssoldaten, in: Holzer (Hg.), Kamera, 97–117, 115.

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gender Bevölkerungsgruppen, beschränkt war,42 fotografierten in Ostafrika auch „einfache“43 Mannschaftssoldaten, die vor dem Krieg Bauern, Handwerker und Angestellte gewesen waren. Die visuelle Revolution hatte sie zu „Visual Men“44 gemacht, die daran gewöhnt waren, Erfahrungen eher visuell denn durch andere kulturelle Codes zu strukturieren. Dementsprechend war es für „einfache“ Soldaten in Ostafrika auch eine beliebte Beschäftigung, möglichst spektakuläre und viele Aufnahmen zu sammeln. Wer keine eigene Kamera besaß, bemühte die Angebote des kommerziellen Fotogewerbes oder der militärisch-staatlichen Propaganda, oder versuchte von anderen Soldaten Bilder zu erhalten.45 Während des Kriegsdienstes im kolonialen Raum erfüllten die Fotografien unterschiedliche Kommunikationsfunktionen. Die Soldaten verwendeten sie, um über räumliche Distanzen hinweg soziale Beziehungen zu bekräftigen, wahrgenommene „Fremdheit“ anzueignen und diese ihren Familien in (ausgewählten) Episoden zu vermitteln sowie als Kriegstrophäen, die den militärischen Erfolg belegen sollten. Nach der Heimkehr fielen die Bilder aus diesen Gebrauchszusammenhängen.46 Während manche Soldaten ihre Bilder in Boxen oder Kuverts verstauten und womöglich darauf vergaßen, legten andere Alben an und refunktionalisierten sie so als Gedächtnismedien. Der Gestaltungsprozess von Alben war komplex: Zu Beginn stand eine Bildauswahl,47 die ästhetischen, narratologischen und – weil ein Album immer auch für ein Publikum angelegt wird48 – sozialen Kriterien folgte. Die Provenienz der Bilder, ob aus staatlicher Propaganda, dem kommerziellen Fotogewerbe oder der privaten Produktion, war dabei offenbar unerheblich, solange das visuelle Material die erwünschte Erzählung unterstützte.49 Die ausgewählten Fotografien wurden auf den leeren Blättern angeordnet, eingeklebt und gegebenenfalls mit Beitexten versehen.50 Durch die sequenzielle Anordnung (und Kommentierung) entstanden semantische Bezüge zwischen den Einzelbildern, die ihre Instabilität überwanden und eine visuelle Erzählung etablierten.51

42 Vgl. Jens Jäger, Fotografie und Geschichte (Historische Einführungen 7), Frankfurt a. M./New York 2009, 72. 43 Darunter verstehe ich Angehörige der Mannschafts- aber auch der Unteroffiziersdienstgrade sowie niedrige Offizierschargen. 44 Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel (Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte 1), Göttingen 2016, 14. 45 Vgl. Wurzer, Leben, 126–144. 46 Vgl. ebd., 145–200. 47 Vgl. Pagenstecher, Fotoalben, 454. 48 Vgl. Tomassini, album, 61–62. 49 Vgl. Wurzer, Leben, 168. 50 Vgl. Pagenstecher, Fotoalben, 454. 51 Vgl. Tomassini, album, 61–62.

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Alben sind nicht bloße Container für Bilder; durch ihre Materialität und Medialität prägen sie die Erzählung wesentlich mit. So gab das Format dem Veteranen vor, wie viele Bilder er überhaupt auf einem Blatt arrangieren konnte. Für die Konstruktion der Erzählung war das insofern relevant, als dass eine Seite oft einer Sinneinheit entsprach.52

Abb. 1: „A.[frica] O.[rientale] I.[taliana] / Divisione Gran Sasso / 24a Comp.[agnia] Trasmissioni / Napoli 17-5-1936 [sic!] / Napoli 10-8-1937“53 (Quelle: Tiroler Landesarchiv, Nachlass Josef Valentin, Blatt 1)

Die von Veteranen gestalteten Alben sind in Umfang und Format, aber auch im Hinblick auf die Erzählstruktur sehr different: Während die Mehrzahl der Veteranen ihre Erzählung chronologisch strukturierte, arrangierten andere ihre Bilder nach thematischen Gesichtspunkten.54 Der Veteran Josef Valentin mischte unterdessen beide Modi. Während die Erzählung chronologisch beginnt und die Reise von ኣስመራ/Asmara nach አክሱም/Aksum thematisiert,55 löst sie sich da52 Vgl. Pagenstecher, Fotoalben, 454; Tomassini, album, 59–60, 62. 53 Übersetzung: „Italienisch-Ostafrika / Division Gran Sasso [benannt nach der höchsten Erhebung in den Apenninen, Anm. d. A.]“. 54 Vgl. Tomassini, album, 61. 55 Vgl. Tiroler Landesarchiv, Nachlass Josef Valentin, Album, Blatt 6–11.

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nach in thematische Blöcke auf und widmet sich auf je ein bis zwei Seiten der Durchfahrt des Suezkanals, Sehenswürdigkeiten in der Kolonie, Fauna und Flora sowie indigenen Personen. Auf einem Blatt versammelte er sämtliche Portraitfotos, die ihm seine Bekannten geschenkt hatten.56 In seiner Gestaltung verzichtete er ganz auf Bildbeitexte. Einzig auf der ersten Seite (Abb. 1) gab er eine dürftige Orientierung darüber, wann er von Neapel aus aufgebrochen und zurückgekehrt war sowie in welchem Truppenkörper er seinen Dienst versehen hatte. Der Sohn Josef Valentins erinnert sich, dass ihm sein Vater in seiner Kindheit öfters aus dem Kolonialkrieg erzählt habe. Dann habe er ihn auf den Schoß genommen und gemeinsam das Album durchgeblättert; dabei fungierten die Einzelbilder als Abrufhinweise. Der Vater präsentierte den Krieg dabei als Abenteuer in einer exotisch anmutenden Landschaft mit ihm, Josef, in der Hauptrolle. Während seines Einsatzes war er – seinem Kriegstagebuch zufolge – stets in der Etappe, außerhalb des unmittelbaren Gefahrenbereichs, verblieben und erst nach einiger Zeit in erobertes Gebiet befohlen worden. Während dieser Zeit wünschte er sich, gerade zu Anfang – später verebbte der Wunsch – auch an die Front beordert zu werden, um sich als Soldat zu beweisen.57 In seiner Fotoproduktion erfüllte er sich seinen Wunsch und inszenierte sich als Abenteurer und Eroberer. Er posierte mit indigenen Personen oder lokalen Sehenswürdigkeiten als exotischem „Beiwerk“, das seinen persönlichen Triumph bezeugen sollte (Abb. 2).58 Durch die Gestaltung des Albumumschlags unterstützte er diese Deutung. Den Umschlag (Abb. 3) aus Leinenstoff in Grau-, Braun- bis Ockertönen empfand Valentin vielleicht deshalb als passend, weil sie farblich den „schwarzen“ Kontinent symbolisierten. In die dunkelbraune Kordel, die die Albumblätter zusammenhält, knüpfte Valentin außerdem je zwei braun-orange Perlen und Medaillen ein. Letztere hatte er wahrscheinlich selbst verliehen bekommen. Während die eine Medaille die Eroberung von አድዋ/Adua im Oktober 1935 feierte, erinnert die andere an den Sieg Italiens in der Schlacht von ሽረ/Scirè im März 1936. Jedenfalls handelt es sich hierbei um Objekte, die in großen Auflagen an ganze Truppenkörper verteilt wurden. Die Verwendung der Medaillen am Album könnte für das Albumpublikum die Vorstellung geweckt haben, dass es sich bei deren Träger um einen heroischen, weil kampferprobten Kolonialsoldaten gehandelt habe.

56 Vgl. ebd., Blatt 19–21, 29–32, 35–36. 57 Vgl. Tiroler Landesarchiv, Nachlass Josef Valentin, Tagebuch, 6. 10. 1935. 58 Vgl. ebd., Album, Blatt 10–11, 14, 18.

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Abb. 2: Auf der Aufnahme links unten präsentiert sich Josef Valentin stehend mit zwei hockenden „Dubat“59 (Quelle: Tiroler Landesarchiv, Nachlass Josef Valentin, Blatt 18)

Das Album Valentins ist ein aussagekräftiger Beleg dafür, dass Alben keine neutralen Behälter sind, sondern eigene Bedeutungen hervorbringen.60 Die spezifische Medialität von Alben bestimmt auch ihren Angebotscharakter: Es ermöglicht den Veteranen nicht nur die Bilder aufzubewahren, sondern durch ihr Arrangement ihre Erfahrung in eine vermeintlich kohärente Erzählung zu transformieren, womit sie auch der biographischen Selbstvergewisserung dienten.61 Kriegsalben waren aber immer auch Erzählanlässe und als solche dazu hergestellt, um ausgewählte Episoden der Kriegserfahrung einem antizipierten Publikum präsentieren zu können.62 Dieses Bedürfnis war mit dem Wunsch nach Prestigeerwerb verknüpft.63 Für ihren Kriegseinsatz für den faschistischen Staat konnten die deutschsprachigen Veteranen naheliegender Weise auf keine soziale 59 Der Begriff stammt aus der kolonialen Praxis und bezeichnet Männer aus der Kolonie Somalia, die vom Kolonialregime zum Militärdienst angeworben wurden. 60 Vgl. Tomassini, album, 60. 61 Vgl. Erll, Gedächtnis, 147–148; Pagenstecher, Fotoalben, 453. 62 Vgl. Bopp, Fotografien, 106; Erll, Gedächtnis, 147–148. 63 Vgl. Pagenstecher, Fotoalben, 453.

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Anerkennung seitens der deutschsprachigen Gesellschaft hoffen. Folglich war – wie weiter oben schon ausgeführt – für sie nach der Heimkehr nach 1937 kein öffentliches Erinnern möglich, weshalb sie sich in den privaten Raum zurückzogen. In den Familien bildeten gerade die Kinder für einige Heimkehrer ein willkommenes Publikum, vor dem sie sich ungeniert als koloniale Abenteurer inszenieren konnten. Anders als die deutschsprachige Gesellschaft begegneten sie den väterlichen Erzählungen ohne politische Verurteilungen und mit kindlichem Interesse gegenüber allem Unbekannten, fehlte ihnen doch schlichtweg das Wissen der „Erlebnisgeneration“, deren Biografien vom Trauma rund um den Ersten Weltkrieg und die faschistische Herrschaft geprägt waren.64

Abb. 3: Umschlag des Albums von Josef Valentin (Quelle: Tiroler Landesarchiv, Nachlass Josef Valentin, Album)

Die anekdotenhaften Erzählungen, so wie sie die „Kindergeneration“ heute erinnert, waren in ihren Details zwar verschieden, dennoch vereint sie, dass die Väter den Kolonialkrieg als abenteuerliche Safari, zu der Erfahrungen von extremer Kälte und Hitze, das damit verbundene Durstleiden und das Verbot, schmutziges Wasser zu trinken, genauso gehörten, wie die Begegnungen mit als 64 Vgl. Wurzer, Leben, 298.

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exotisch und „anders“ wahrgenommenen Menschen, Tieren und Pflanzen.65 Der Krieg und die Gewalt blieben in diesen Geschichten freilich absent.66 Wenn Aufnahmen davon überliefert waren, belegten sie die Veteranen oft mit Sehverboten: Während sich der Sohn Valentins beispielsweise erinnert, dass Josef im gemeinsamen Betrachten zwei Doppelseiten im Album, die etliche Gräuelbilder zeigen, bewusst überblätterte,67 berichtet ein anderer Sohn davon, dass dessen Vater ihn entsprechende Bilder nicht anschauen habe lassen.68 Die übrigen Bilder statteten die selektiven, selbstheroisierenden Narrative mit vermeintlicher Evidenz aus.69 Diese rückten allerdings nicht nur den väterlichen Kriegseinsatz in das „richtige“ Licht, sondern mit diesem auch den faschistischen Eroberungskrieg und verankerten in impliziter Weise den Mythos der anständigen Kolonialherren, – dahinter steckt die Annahmen, dass die koloniale Herrschaft Italiens im Vergleich zu jener anderer europäischer Staaten besonders human gewesen sei70 – verdichtet in der Person des Vaters, auch im sozialen Rahmen der Familie.

IV.

Albenpraktiken der „Kindergeneration“

Generell kümmerten sich in Familien oft nicht die Männer, sondern ihre Ehefrauen und Töchter um Bildbestände.71 Dieser Befund bestätigt sich auch im vorliegenden Korpus: In neun von 22 Familien – was 40 (!) Prozent entspricht – zeichneten nicht die Heimkehrer, sondern andere, vornehmlich weibliche Familienangehörige – zunächst vor allem deren Ehefrauen, später ihre Töchter – für das Anlegen und/oder Bewahren von Kolonialalben verantwortlich.72 Das musste nicht unbedingt rasch nach der Heimkehr, sondern konnte mitunter erst mit großem Abstand erfolgen: In einer Familie beschloss die Ehefrau erst fast ein halbes Jahrhundert später, erst in den 1980er-Jahren, in einer Schachtel aufbe-

65 Vgl. Interviews mit MC, 21. 9. 2016, 21. 2. 2018; WG, 22. 2. 2018; AL, 27. 3. 2018; OH, 20. 04. 2016, 21. 2. 2018; E-Mail von AP, 28. 12. 2016. 66 Vgl. Wurzer, Leben, 297. 67 Vgl. Interview mit NV, 7. 3. 2018. 68 Vgl. Interview mit EM, 22. 2. 2018. 69 Vgl. Valeria Deplano, Introduzione, in: Deplano (Hg.), Sardegna, VII–XIII, VIII. 70 Vgl. Angelo Del Boca, Italiani, brava gente? Un mito duro a morire (Biblioteca editori associati di tascabili 117), Mailand 2014. 71 Vgl. Patricia Holland, History, Memory and the Family Album, in: Patricia Holland/Jo Spence (Hg.), Family Snaps. The Meanings of Domestic Photography, London 1990, 1–14, 9; Elizabeth Edwards, Photographs as Objects of Memory, in: Marius Kwint/Christopher Breward/ Jeremy Aynsely (Hg.), Material Memories, Oxford 1999, 221–236, 233–234. 72 Vgl. Interviews mit ED, 19. 4. 2016; OH, 20. 4. 2016, 21. 2. 2018; E-Mail von MG, 21. 8. 2018.

222

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wahrte Bilder aus Ostafrika in einem Album zu arrangieren und ihrem Mann als Weihnachtsgeschenk zu überreichen.73 Für den dominanten Modus des Familiengedächtnisses, das Tischgespräch, haben Studien belegt, dass die transgenerationale Weitergabe von Erinnerungsinhalten nicht unwidersprochen als linearer Prozess funktioniert, sondern einen komplexen Prozess darstellt: Rezipierende modifizieren das Gehörte vor ihrem eigenen Erfahrungshorizont, vergessen Unpassendes und füllen Leerstellen mit stereotypen Annahmen.74 Im Hinblick auf die Weitergabe von Alben gilt dies in ähnlicher Weise: Die „self-appointed archivists“75 verwahrten die Bildbestände beileibe nicht so, wie sie überliefert waren. Sie veränderten nicht nur deren materielle Erscheinungsformen, indem sie etwa das lose Bildkonvolut in ein Album transferierten, sondern griffen auch in den Inhalt ein: Beispielsweise intervenierten Ehefrauen in den Sammlungszusammenhang und setzten die Entfernung von als anstößig und unpassend empfundenen Bildern, etwa von Aufnahmen von „schwarzen“, nackten Frauen, durch.76

4.1

Die Weitergabe

Während manche der „Kindergeneration“ – wie sie sich selbst erinnern – mit dem Übergang in das Jugendalter das Interesse an den fantastisch klingenden Safarigeschichten der Väter (und bei der Familie lebenden Onkel) verloren,77 beteiligten sich andere bereits in diesem Alter, noch zu Lebzeiten ihrer Eltern, an den Albenpraktiken. Sie überführten koloniale Bildbestände in Alben und übernahmen so auch die „Archivarinnen“-Rolle ihrer Mütter. Diese Handlungen können als Versuch gelesen werden, das innerfamiliäre Schweigen, das die Vergangenheit der Väter umgab, aufzubrechen. Das brachte die „Kinder“ allerdings auch in Konflikt mit diesen. Tochter MM legte beispielsweise als Jugendliche gemeinsam mit ihrem Vater, der sehr an seinen Kriegstraumata gelitten habe, ein Album an, um das Erlebte – so die Hoffnung von Ehefrau und Tochter – besser verarbeiten zu können. Der Versuch scheiterte allerdings; der Vater zerstörte das Album später in einem Anflug von Verzweiflung (Abb. 4). Den geretteten Rest bewahrt MM bis heute auf.78 Als RS, eine weitere Veteranen73 Vgl. E-Mail von WG, 22. 2. 2018. 74 Vgl. Karoline Tschuggnall/Harald Welzer, Rewriting memories: Family Recollections of the National Socialist Past in Germany, in: Culture & Psychology 8 (2002) 1, 130–145, 130–138. 75 Britta Schilling, Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014, 170. 76 Vgl. Interviews mit WK, 28. 7. 2018; OH, 21. 2. 2018. 77 Vgl. Interviews mit MC, 21. 9. 2016; GS, 21. 2. 2018. 78 Vgl. Interview mit MM, 5. 7. 2018.

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Tochter, Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre die Bilder ihres Vaters in ein Album ordnete, sei dieser, wie sie sich im Gespräch mit mir erinnerte, „von dieser Aktion nicht begeistert [gewesen] und [habe] sich uninteressiert“79 verhalten.

Abb. 4: Ein Blatt im beschädigten Album Leonhard Maders (Quelle: Privatsammlung Mader, Album, Blatt 7)

Das Dahinscheiden der „Erlebnisgeneration“ stellt einen kritischen Punkt in der Gebrauchsgeschichte der Alben dar. Mit dem Tod jener Person, die mit dem 79 E-Mail von RS, 15. 8. 2018.

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Visualisierten über die Abbildungen hinaus vertraut war, schwand nämlich auch das narrative Potential des Albums und sie verloren ihre Funktion als autobiografische Gedächtnismedien.80 Betrachten andere Personen ein Album, können sie mangels Kontextwissens zwar auch „Proto-Narrationen“81 aus den Fotografien hervorbringen; diese bleiben allerdings fragmentarisch, anekdotisch und „verbinden sich nicht [mehr] zu einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang“82. Um der Gefahr des Vergessens vorzubeugen, sorgten einige Veteranen noch in ihren letzten Lebensjahren dafür, dass die visuelle Evidenz ihres „Abenteuers“ über ihren Tod hinaus erhalten werden würde. Manche nahmen ein „Kind“ in die Pflicht und trugen diesem auf, das Album aufzubewahren,83 andere baten Schwiegersöhne oder -töchter darum.84 Falls sich die Veteranen nicht um den Verbleib ihrer Alben nach ihrem Tod kümmerten, fanden sie die „Kinder“ erst, wenn sie die nun leerstehenden Wohnungen und Häuser entrümpelten. Wenn diese auch sonst – bis auf einige anekdotenhafte Erzählungen – nicht viel über das väterliche Kriegserleben in Ostafrika wussten, so waren ihnen zumindest oft die Alben, in rudimentärer Weise, deren kolonialer Kontext und Aufbewahrungsort bekannt gewesen.85 In der Regel wurden sie entweder im elterlichen Schlafzimmer86 oder im Wohn(Ess-)Zimmer87 aufbewahrt. Die Entscheidung über den Aufbewahrungsort der Bildbestände verrät etwas über den Umgang mit diesen:88 Während das Schlafzimmer einen privaten Raum darstellt, ist der Wohn- und Essbereich dagegen jener, in dem sich die Familie versammelt und auch Besuch empfangen wird. Wenn also koloniale Bildbestände in diesen „offeneren“ Räumen aufbewahrt wurden, deutet dies mitunter daraufhin, dass sie öfter und einem breiteren Publikum präsentiert wurden.

80 Vgl. Jäger, Fotografie, 71. 81 Andreas Kröber, Bilder als Quellen – Bilder als Darstellungen: Bilder zum Rekonstruieren von Geschichte; Geschichte in Bildern de-konstruieren, in: Johannes Kirschenmann/Ernst Wagner (Hg.), Bilder, die die Welt bedeuten. „Ikonen“ des Bildgedächtnisses und ihre Vermittlung über Datenbanken (Kontext Kunstpädagogik 4), München 2006, 169–193, 171, zit. nach: Christoph Hamann, Wechselrahmen. Narrativierungen von Schlüsselbildern – das Beispiel vom Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto, in: Werner Dreier/Eduard Fuchs/ Verna Radkau/Hans Utz (Hg.), Schlüsselbilder des Nationalsozialismus (Geschichte – Geographie – Politische Bildung 6), Innsbruck/Wien/Bozen 2008, 28–42, 40. 82 Starl, Knipser, 23. 83 Vgl. E-Mail von AW, 9. 8. 2018. 84 Vgl. Interviews mit KB, 28. 12. 2015; EM, 22. 9. 2016. 85 Vgl. Interviews mit MMP, 20. 4. 2016; MC, 21. 2. 2018; SE, 8. 3. 2018; EM, 22. 2. 2018; OH, 21. 2. 2018; CG, 21. 2. 2018. 86 Vgl. Interviews mit OH, 21. 2. 2018; EM, 22. 2. 2018. 87 Vgl. Interviews mit NV, 7. 3. 2018; MM, 5. 7. 2018. 88 Vgl. Pohn-Lauggas, Wörtern, 77.

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In anderen Familien stellte nicht der Tod des Vaters die Zäsur dar, sondern der der Mutter, weil sie als „Archivarin“ die Alben aufbewahrt hatte.89 GesprächspartnerInnen gaben an, dass sie im Zuge der Entrümpelungen Vieles der „Elterngeneration“ weggeworfen hatten.90 In vielen Familien mag das auch koloniale Bildbestände betroffen haben. In jenen, die mich im Zuge meines Forschungsprojekts kontaktierten, überdauerten die Alben allerdings. Diese wegzuwerfen sei für die „neuen“ BehüterInnen keine Option gewesen, da ihr Verlust „ewig schade“ gewesen wäre; weshalb es nur „logisch“91 sei, sie zu übernehmen und aufzubewahren. Die meisten nahmen sie als Andenken an den verstorbenen Vater wahr,92 auch deshalb, weil man nur „ganz wenig habe von ihm“93. In den Interviews zeigte sich ein weiteres Motiv: „Kinder“ fühlten eine moralische Verpflichtung, die Alben bis zur Weitergabe an den eigenen Nachwuchs aufzubewahren.94 MM, jene Tochter, deren von ihr angelegtes Album vom Vater zerstört worden war und das sie vor der Entsorgung gerettet hatte, machte sich Jahre später daran, das beschädigte Album zu reparieren. Antrieb für dieses Unterfangen war es, das Album für die Weitergabe an ihren Sohn vorzubereiten.95 Dazu klebte sie nicht nur die durch den Vater herausgerissenen Bilder wieder ein, wobei sie durchaus versuchte ihre ursprüngliche Ordnung aufgrund der Klebestellen zu rekonstruieren. Zudem fügte sie auf der Titelseite, die zwei Portraits des Vaters – einmal in zivil und einmal in Uniform – (siehe Abb. 5), ein Textfeld ein, das biografische Informationen über den Vater (Geburtsdatum und Kriegseinsätze) listet und die wichtigsten Stationen der Objektbiografie transparent macht: Auf Gestaltung und Zerstörung bildet die Neuordnung für ihren Sohn 2005 den (vorerst) letzten Schritt.96 Diese Beweggründe deuten darauf hin, dass die „Kindergeneration“ auch Kriegsalben als zentrale „Referenzpunkte der Familienerinnerung“97 wahrnahm. Das hängt natürlich mit der Fotografien zugesprochenen indexikalischen Qualität zusammen, die „die Gegenwärtigkeit von Generationserfahrungen und die Nachzeitigkeit von Erfahrungsgenerationen verbindet“98. Dementsprechend ist 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Vgl. Interviews mit WG, 22. 2. 2018; MMP, 20. 4. 2016, 3. 8. 2018. Vgl. Interviews mit EM, 19. 9. 2016; NV, 7. 3. 2018. Interview mit TN, 13. 8. 2018. Vgl. Interviews mit SE, 8. 3. 2018; AL, 27. 3. 2018; CG, 21. 02. 2018; EM, 22. 2. 2018; Interview mit EM, 19. 9. 2016. Interview mit CG, 21. 2. 2018. Vgl. Interviews mit MC, 21. 2. 2018; OH, 21. 2. 2018. Vgl. Interview mit MM, 5. 7. 2018. Vgl. Privatsammlung Leonhard Mader, Album, Seite 1. Corbin Alain, Kulissen, in: Philippe Ariès/Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4, Frankfurt a. M., 419–629, 434, zit. nach: Jäger, Fotografie, 42. Habbo Knoch, Gefühlte Gemeinschaften. Bild und Generation in der Moderne, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, 295–319, 298, 300–301, zit. nach: Bopp, Fotoalben, 24.

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Abb. 5: „Fotoalbum für Vater – Leonhard Mader geb. am 7. Feb[ruar] 1911. / – angelegt in den 70er Jahren von Tochter Monika Mader / – 1. Fotos = Kriegsdienst für den italienischen Staat – Herrschaft des Mussolini, Eroberung der Kolonie Eritrea in Afrika – 1935–1934 [sic!] / – viele Fotos von Vater in einem Anfall von Verzweiflung zerstört – um 1985–1990? / – 2. Fotos = 2. Weltkrieg – Westfront – Frankreich“ (Quelle: Privatsammlung Mader, Album, Blatt 1)

auch ihre Verwendung im Familienalltag ritualisiert, während Alben nur „ab und zu, wenn es in die Hände fällt“99 angeschaut würden, werden sie vor allem anlässlich von Familienfesten und Besuchen von Bekannten und Verwandten

99 Interview mit AL, 27. 3. 2018.

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hervorgeholt,100 „weil bei solchen Anlässen meist von früher geratscht101 wird und man gerne Fotos anschaut“102. Die Entsorgung schließlich wird einzig in Erzählungen der „Enkelgeneration“ sichtbar, die vom mitunter überraschenden Auffinden unbekannter Alben, dem elterlichen Entschluss der Entsorgung und der eigenen Intervention und Rettung berichtet.103

4.2

Bewahren und Eingreifen

Was aber stellte die „Kindergeneration“ nun mit den Kriegsalben an, die sie an sich nahmen? Die meisten Angehörigen gaben an, dass sie sie ablegten und zunächst nichts weiter unternahmen.104 Unbesprochen und ungesehen blieben die Alben viele Jahre – wie auch Petra Bopp im Zusammenhang von Wehrmachtsalben beobachtet – „für die nachfolgenden Generationen häufig unerforschte Gräber des Familiengedächtnisses“105. Sofern sie die elterlichen Wohnräume geerbt hatten und nun nutzten, wurden die Alben oft sogar an denselben Orten weiteraufbewahrt.106 Bei der Analyse der Albenpraktiken der „Kindergeneration“ ist zu beobachten, dass der Großteil die Alben so aufbewahren wollte, wie diese auf sie gekommen waren.107 Andere wiederum griffen sehr wohl in Form und Umfang der väterlichen Bildbestände ein. Sohn JU eignete sich beispielsweise die wenigen Bilder seines Vaters an, indem er sie just in das Album integrierte, das seine eigene Biografie, unter anderem auch seine eigene Militärdienstzeit in der Armee Italiens, erzählte.108 Diese identifikatorische Geste gestaltete eine Narration, die über die eigene Lebensspanne des Sohnes hinausreichte. Identifikationspotential bot der Vater wohl deshalb, weil die in der Familie tradierte Geschichte über seine koloniale Kriegsteilnahme mit Episoden über Zwang und Unterdrückung, aber auch von Widerstand gespickt war: So sei der Vater ob seiner kriegskritischen Kommentare in der Feldpost von den faschistischen Behörden als „politisch unzuverlässig“109 eingestuft und in die Küche strafversetzt worden. Diese Erinnerungsfigur 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. Interview mit MC, 21. 2. 2018; E-Mail von SE, 30. 11. 2017. Übersetzung: „gesprochen“. E-Mail von MMP, 8. 4. 2017. Vgl. Interviews mit EM, 22. 9. 2016; SP, 21. 9. 2016. Vgl. Interviews mit LP, 19. 9. 2016, 23. 2. 2018; GS, 21. 2. 2018. Bopp, Fotoalben, 24. Vgl. Interview mit HM, 22. 2. 2018. Vgl. Interview mit MC, 21. 2. 2018. Vgl. Interview mit JU, 22. 4. 2016. Der Abessinienkrieg. Erinnerungen von Josef Unterkofler. Niedergeschrieben von JU, 19. 2. 2016.

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ließ sich gut in die kollektive Opfererzählung der deutschsprachigen Bevölkerung einpassen, was die Identifikation mit dem Vater letztlich auch ermöglichte. MG intervenierte auf andere Weise: Als sie das Kolonialalbum mit den Kolonialbildern ihres Großonkels, das ihre Mutter angelegt hatte, übernahm, ergänzte sie sämtliche Beitexte, die sie auf Fotorückseiten finden konnte, unter diesen, um diese wieder lesbar zu machen.110 Eine andere Veteranen-Tochter, MMP, unterschlug wiederum in der Aneignung der väterlichen Bilder genau diese: Ihre Mutter hatte Jahre zuvor ein Familienalbum angelegt und dabei auch die väterlichen Fotografien aus der Kolonie inkludiert. Als MMP das Album übernahm, entschied sie letztere zu entnehmen, weil das Album durch den häufigen Gebrauch bereits ganz „zerfleddert“111 gewesen sei. Sie ordnete die Bilder in ein neues Album, wobei sie versuchte, dieses grob chronologisch zu strukturieren:112 Auf die Abreise und die Schiffsüberfahrt folgen Seiten, die sich jeweils einzelnen Themen widmen: Auf Gruppenfotos von Soldaten folgen Repräsentationen des Kriegs, wie Bilder von Waffen und von Stellungen. Daran schließen Blätter an, die Fotografien indigener Bevölkerung und von Tieren beinhalten.113 Die Bilder klebte sie in einer Weise ein, die die Bildrückseiten – und das auf ihnen gespeicherte Wissen – unzugänglich machte. Nimmt man Abbildung 6 vorsichtig aus dem Album, erkennt man, dass es sich um eine Postkarte handelt. Das wiederholte Einkleben und Entfernen beschädigte die Rückseite allerdings so stark, dass weder SenderIn, EmpfängerIn noch der Inhalt lesbar sind. Ähnliche Postkarten wurden von Soldaten verwendet, um vor ihrer Abreise nach Afrika ein letztes Lebenszeichen an ihre Familien zu senden. Im Album der Tochter erhielt die Aufnahme jedoch qua ihres proto-narrativen Potentials eine andere Funktion: Gleich zu Beginn der visuellen Erzählung, auf Albumblatt 2, soll sie von der Überfahrt nach Eritrea berichten.

110 111 112 113

Vgl. E-Mail von MG, 21. 8. 2018. Interview mit MMP, 3. 8. 2018. Vgl. ebd., 20. 4. 2016. Vgl. Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst, Sammlung Anton Mesner, Album, Blatt 1–26 bzw. L62919–L62855.

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229

Abb. 6: „UN SALUTO DA NAPOLI“114 (Quelle: Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst, Sammlung Anton Mesner, Album, L62856–L62856-RS)

114 Übersetzung: „Ein Gruß aus Neapel“.

230

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Während in der Analyse sehr wohl Beispiele von Ehefrauen gefunden wurden, die – wie bereits erwähnt – die Bildauswahlkriterien ihrer Männer infrage stellten, ist das für die Generation der „neuen“ BewahrerInnen nicht zu beobachten. Im Korpus findet sich nur ein Beispiel, in dem ein Sohn die Bildauswahl des Vaters veränderte, indem er Gewaltbilder aus dem Album entfernte (Abb. 7). Antrieb dafür sei der Umstand gewesen, dass seine EnkelInnen diese, wenn sie das Album ihres Urgroßvaters durchblätterten, nicht sehen sollten.115 Die herausgenommenen Fotografien entsorgte er allerdings nicht, sondern bewahrte sie separat auf.116 Wohl unbewusst machte er sich damit letztlich aber doch zum Komplizen seines Vaters, der die Bilder ihm gegenüber in seiner Kindheit ebenso bereits mit einem Blickverbot belegt hatte.117

Abb. 7: Die Leerstelle der Gewalt: Die entnommenen Gräuelbilder hinterlassen sichtbare Lücken (Quelle: Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst, Sammlung Hermann Mair, Album, Blatt 30)

Während in der Regel Sammlungen auch dann nicht aufgeteilt wurden, wenn mehrere Geschwister in der „Kindergeneration“ vorhanden waren, weil sich üb115 Vgl. Interviews mit EM, 22. 9. 2016, 22. 2. 2018. 116 Vgl. Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst, Sammlung Hermann Mair, L58170–L58185. 117 Vgl. Interview mit EM, 22. 9. 2016.

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licherweise eine/r fand, die/der die Bilder verwahrte,118 gab es auch gegensätzliche Praktiken: In der Wahrnehmung, dass es sich bei fotografischen Bildern um wichtige Referenzpunkte der Familienerinnerung handele, wurden Bilder eines Albums manchmal auch zwischen den „Kindern“ aufgeteilt, damit jede/r für sich „originale“119, visuelle Evidenz für die Existenz der nun abwesenden „Elterngeneration“ besaß. Dadurch sind heute ehemals in einem Album bewahrte Bestände manchmal über mehrere miteinander verwandte Familien verteilt.120

4.3

Digitalisierung

Der Wunsch, die Bilder eines Albums mit der gesamten Familie teilen zu können, führte in zwei Beispielen dazu, diese einzuscannen, um diese in weiterer Folge, gespeichert als Files, online über Softwares, Clouds oder via E-Mail zu teilen.121 Diese Praxis erleichtert nicht nur die Zirkulation der Bilder innerhalb der Familie, sondern ermöglicht es auch, diese vergrößert anzusehen (was etwa dazu führte, dass Bilder, deren Motive bis dahin nicht dekodiert werden konnten, von Familien erkannt wurden).122 Ein Gesprächspartner schätzte dagegen die Qualität des elektronischen Speicherns, weil das „einfacher ist als die ganzen Alben“123 aufzubewahren. Das Scannen und digitale Verfügbarmachen bedeuten auch, die physischen Spuren in digitale zu transformieren und als Bytes und Bites auf Datenträgern wie Festplatten abzuspeichern. Diese werden damit zu neuen „Orten“ des visuellen Familiengedächtnisses, dessen medialer Rahmen die Benutzung und die Deutung der Bilder genauso determiniert.124 Der elektronische Datenträger ähnelt hinsichtlich seiner Struktur stärker der Fotobox als dem Album. Die Familien scannten nicht ganze Albenseiten, sondern Bild für Bild, versahen diese (nicht immer) mit einem (aufschlussreichen) Titel und legten sie als einzelne Files in einem Ordner ab. Die Transformation in das Digitale, das Immaterielle, hat mitunter zur Folge, dass materielle Informationen zurückbleiben. Das Interesse der Praxis gilt nämlich zweifelsohne dem Motiv, was oft darin resultiert, dass nur dieses eingescannt wird. Wissen, das materielle Träger dagegen über Motive bzw. semantische Bezüge zwischen ihnen bergen, gespeichert etwa in Form von Pa118 119 120 121 122 123 124

Vgl. Interviews mit SE, 25. 8. 2016, 8. 3. 2018; OH, 20. 4. 2016, 21. 2. 2018. E-Mail von JK, [2017]. Vgl. E-Mail von SD, 9. 8. 2018; Kurznachricht von SM, 4. 6. 2019. Vgl. Interviews mit AL, 27. 3. 2018; OH, 21. 2. 2018. Vgl. Interview mit CG, 21. 2. 2018. Interview mit OH, 21. 2. 2018. Vgl. Erll, Gedächtnis, 150–151.

232

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pierart, Bildbeitexten, dem Arrangement auf Albenseiten oder der Formatgröße, geht dabei verloren. Die Digitalisierungspraxis erschwert damit die Dekodierung der Bilder und kann Teile ihrer möglichen Bedeutungen verschütten.

4.4

Transgenerationale Abwehrbündnisse

Das, was Individuen im Betrachten der Alben als Erzählungen aufrufen, ist Astrid Erll zufolge keineswegs homogen, sondern sehr unterschiedlich.125 Die Aneignung von Vergangenheit folgt nämlich immer den Bedürfnissen und Anforderungen der Gegenwart, in der erinnert wird.126 Die einzige Änderung in der transgenerationalen Weitergabe, ist, was die einzelnen Generationen anhand der Bilder erinnern. Zweifelsohne gingen über die Jahrzehnte in der in Südtirol/Alto Adige nach 1945 gesellschaftlich etablierten Kultur des „Nicht-darüber-Sprechens“127 Bedeutungen verloren; die Generation der Väter starb unwidersprochen und behielt mündliche Geschichten zu zurückgelassenen Bildobjekten für sich. Die „Kinder-“ und „Enkelgenerationen“ schufen jedoch in der Aneignung des visuellen Materials eigene Deutungen, in denen sie deren proto-narrative Angebote, fragmentarische Anekdoten von Exotik und Zwang sowie populäre Geschichtsbilder miteinander vermengte. Während die Ex-Kolonialsoldaten zeit ihres Lebens durch die Alben Episoden ihres kolonialen Kriegseinsatzes verbanden, funktionalisierten deren Kinder diese nicht mehr als spezifisch koloniale Memorabilien, sondern als generellere Lebenserinnerungen, anhand derer sie die (Groß-)Väter und ihre Zeit im Gedächtnis behalten konnten. Bilder kommunizieren, auch wenn die biografischen Deutungen, die sie ursprünglich umgaben, verloren sind, weiter. Verantwortlich dafür sind die im Bildmotiv angelegten proto-narrativen Angebote. Koloniale Bilder behalten so auch ihre kolonialistische und rassistische Maserung; mehr noch, die Dekontextualisierung droht, deren Reaktivierung, Renormalisierung und Reautorisierung Vorschub zu leisten. BetrachterInnen ist das nicht immer bewusst, sodass Fotografien gerade in Familien zu fehlgeleiteten – weil relativierenden – Vorstellungen über die koloniale Vergangenheit führen können. In der Familie bildet nämlich, wie Harald Welzer und Karoline Tschuggnall für den Nationalsozialismus in familialen Gedächtnissen gezeigt haben, die Vorstellung über die moralische Integrität der Väter den Rahmen der Erinnerung.128 Das trifft auch für 125 Vgl. ebd., 147–148. 126 Vgl. Harald Welzer, Re-narrations: How pasts change in conversational remembering, in: Memory Studies 3 (2010) 1, 5–17, 6. 127 Martin Hanni, Der Abessinienkrieg in der Erinnerung Südtiroler Soldaten – Bericht zu einem Forschungsprojekt, in: Steinacher (Hg.), Duce, 241–255, 243. 128 Vgl. Tschuggnall/Welzer, memories, 141.

Markus Wurzer, Kolonialkrieg im visuellen Familiengedächtnis

233

Familiengedächtnisse in Südtirol/Alto Adige zu: Dort war diese ganz wesentlich von der biografischen Einpassung in das Opferkollektiv der deutschsprachigen – im faschistischen Italien marginalisierten – Minderheit geprägt. Diese Mitgliedschaft machte aus den Vätern pauschal Opfer des Faschismus und nahm sie zugleich vom Verdacht aus, Täter des Kolonialregimes gewesen zu sein. Schließlich könne ein Opfer nicht gleichzeitig Täter sein, so die allgemeine Annahme. Diese erlaubte es der „Kindergeneration“, historisches Wissen und Loyalitätsbedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen. Die „Kinder“ übernahmen so die väterliche Markierung des Kolonialkrieges als „italienischen“, der sie als „Südtiroler“ kaum tiefgreifend involviert habe. Durch diese Reproduktion, die das Erinnerte zwar verändert, nicht aber in seinen Grundsätzen hinterfragt, gehen die Familien oft ganz unbewusst eine transgenerationelle Komplizenschaft mit der „Erlebnisgeneration“ ein. Ähnliche transgenerationale Bündnisse beobachtete Iris Wachsmuth auch in den Familien von NS-(Mit-)TäterInnen.129 Die in den Familien in Südtirol/Alto Adige aufbewahrten Alben unterstützen jedenfalls die Deutungen: Ihre vom kolonialen Bildregime hervorgebrachten, proto-narrativen Angebote legen nahe, dass der Kolonialkrieg für die (Groß-) Väter eben „nur“ ein exotisches Abenteuer und eine „Zivilisierungsmission“ gewesen sei. So erscheinen die Väter als besonders anständige Kolonialherren, während die Kriegsgräuel pauschal den „Italienern“ zugeschrieben werden. Dementsprechend lässt sich in „Südtiroler“ Familien eine besondere Modifikation des „Brava-gente“-Mythos beobachten, nämlich in der Hinsicht, dass die in Italien populären Klischees des „bösen Deutschen“ und des „braven Italieners“ umgekehrt werden.130 In der Familienerinnerung dominiert die Viktimisierungserfahrung des – moralisch als integer angenommenen – (Groß-)Vaters, während der Kolonialkrieg zur exotischen Episode reduziert und die Frage nach Täterschaft ignoriert wird. Die visuellen Bestände unterstützten diese Deutung; Gräuelbilder, die Hinrichtungen und Schlachtfelder zeigen, können diese nicht destabilisieren. Sie werden für die Angehörigen zum Beweis für die vom faschistischen Regime verübten Verbrechen erklärt.

129 Vgl. Iris Wachsmuth, Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(inne)n und Mittäter(inne)n, in: Keil/Mettauer (Hg.), Generationen, 191–208, 205. 130 Filippo Focardi, Il cattivo tedesco e il bravo italiano. La rimozione delle colpe della seconda guerra mondiale, Rom/Bari 2013, zit. nach: Andrea Di Michele, Editorial, in: Geschichte und Region/Storia e regione 25 (2016) 1, 5–16, 8.

234

V.

zeitgeschichte 49, 2 (2022)

Fazit

Die Geschichtswissenschaften betrachten private Kriegsalben vor allem als autobiografische Quellen. Mit dem Tod der Veteranen-Generation der Kriege der 1930er- und 1940er-Jahre stellt sich allerdings die Frage, ob ihre Alben nicht diesen Quellenwert einbüßen – schließlich würden sich durch ihre Abwesenheit, Timm Starl zufolge, die Einzelbilder nicht mehr zu einem narrativen Zusammenhang verknüpfen lassen.131 Haben private Kriegsalben also als Quellen ausgedient? Zweifelsohne sind methodologische Bedenken geboten, aber kein Pessimismus angebracht: Dank der Impulse der Memory Studies hat sich in den letzten Jahren ein neues Forschungsfeld formiert, das – da die (mündlichen) Erinnerungen der abwesenden „Erlebnisgeneration“ nicht mehr zugänglich sind – den Familiengedächtnissen und der Frage, wie diese Erfahrungen von Krieg und Gewalt erinnern, verstärktes Interesse entgegenbringt. Familien wurden als soziale Kleinstgruppen und Modus des kommunikativen Gedächtnisses identifiziert, der in Punkto Geschichtsvermittlung ausgesprochen relevant für die Ausbildung historischen Bewusstseins sei.132 So wurde in den letzten Jahren – aus narratologischer Perspektive – die Selbstpositionierung der „Kinder-“ und „Enkelgenerationen“ zu Nationalsozialismus und Holocaust in (Mit-)TäterInnen- und Opferfamilien untersucht. Gerade private Kriegsalben können für dieses, aus der Erinnerungstheorie gespeiste Erkenntnisinteresse vielversprechende Quellen sein.133 Die Art und Weise, wie Erfahrungen von Krieg und Gewalt in Familien erinnert werden, spiegelt sich nämlich – so die Prämisse dieses Beitrags – in den familialen Albenpraktiken bzw. lagert sich in Medialität und Materialität ab. Dieses neue Erkenntnisinteresse an Alben bedarf allerdings auch eines neuen, interdisziplinär ausgerichteten Methodensets: Im vorliegenden Beitrag habe ich, um die Objektbiografien analytisch in den Blick zu bekommen, historische Quellenkritik und qualitative Interviewerhebung mit dem technik-anthropologischen Zugang David G. Morleys verknüpft. Diese Herangehensweise erlaubt es, Alben als Gebrauchsobjekte zu beschreiben und zu untersuchen, wie sich Familienmitglieder durch ihre Albenpraktiken zur Vergangenheit der „Erlebnisgeneration“ positionierten. Dieser Zugang bestätigt zwar die Annahme von Timm Starl, dass lebensgeschichtliche Zusammenhänge von Alben mit dem Ableben der Veteranen in sich zusammenfallen, betont gleichzeitig aber auch, dass aus Alben 131 Vgl. Starl, Knipser, 23. 132 Vgl. Schilling, Germany, 205; Jay Winter, Rezension zu: Amy Corning/Howard Schuman, Generations and Collective Memory, Chicago 2015, in: American Journal of Sociology 122 (2017) 4, 1336–1337, 1336–1337. 133 Vgl. Pagenstecher, Fotoalben, 463.

Markus Wurzer, Kolonialkrieg im visuellen Familiengedächtnis

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deswegen keine nutz- oder funktionslosen Objekte werden. Die folgende Generation bringt nämlich durch ihre Aneignung, selbst wenn sie Alben nur aufbewahrt, neue Deutungen hervor. Das „Meaning-making“ von Gewalterfahrung ist deshalb nicht nur ein auf den Veteranen beschränkter Prozess, sondern stellt eine transgenerationale Erinnerungsarbeit dar. Die „Kindergeneration“ bewahrte Alben nicht einfach nur auf, sie griff in diese ein: Sie entnahm Bilder, ergänzte Beschriftungen, digitalisierte sie oder überführte die an sich lose gebliebene Bildersammlung überhaupt erst in ein Album. Diese Praktiken fordern Allgemeinplätze der Albumforschung betreffend der Urheberschaft und Funktion heraus: Längst nicht alle im Privaten tradierten Kriegsalben wurden von Veteranen gestaltet. In vorliegender Untersuchung stammten gar 40 Prozent von anderen Familienangehörigen, meistens jedoch von deren Ehefrauen und Töchtern. Daher steht auch die gemeinhin angenommene, autobiografische Funktion von Kriegsalben infrage – das bedeutet, dass historiografische Analysen unbedingt großes Augenmerk auf deren Entstehungs- und Gebrauchskontexte legen sollten. „Nachträgliche“ Eingriffe in die Bildspeicher durch die Ehefrauen, „Kinder-“ und „Enkelgenerationen“ sollten daher auch nicht als Verletzungen der Authentizität begriffen werden. Sie sind vielmehr bedeutungstragende Bestandteile ihrer komplexen Objektbiografien, deren Analyse zu einem tieferen Verständnis von privaten Alben und transgenerationalen Erfahrungen im Allgemeinen beitragen kann.

Monica Rüthers

„… euer Blick war so, ‚wie er zu sein hatte‘“: (Post-)Sowjetische Bildpraktiken und Albenkultur am Beispiel von Kinderfotos

Der visual turn hat in den letzten Jahren auch zeitgeschichtliche Perspektiven erfasst. Ein besonderes Interesse gilt dabei visuellen Kulturen im Kontext der Diktaturen des 20. Jahrhunderts und der Frage, welchen Einfluss repressive Systeme auf private Bildpraktiken hatten. In Fotoalben kann sich dieser etwa in Form von Konstruktionen familiärer (Gegen-)Narrative, Auslassungen und Gegenbilder äußern. Für die Erforschung von Diktaturen bedeutet ein solcher Zugang, den Fokus nicht auf erzwungene Homogenität zu legen, sondern auf Vielfalt und Hybridität, auf komplexe Kommunikationsformen und Inhalte statt auf „Propaganda“, auf Handlungsspielräume, Integrationsangebote und Kooperation, auf Teilhabe der Akteurinnen und Akteure statt auf Zwang, auf Alltagskontinuitäten und ikonografische Traditionen statt auf Brüche.1 Entsprechend geraten im Kontext eines Visual Cultural History-Ansatzes neue Aspekte in den Blick. In diesem Beitrag geht es um sowjetische Fotoalben und private Bildpraktiken, um Wechselwirkungen von offiziellen und privaten Bildwelten, um affirmative oder subversive Aneignungen von Motiven und um mögliche Gegenerzählungen. Es sei jedoch vorweggenommen: Gegenbilder und der subversive Gebrauch der Kamera tauchen in sowjetischen Familienalben nicht auf. Private Alben waren für eine „Halböffentlichkeit“ kuratiert und überaus vorsichtig bebildert. Dabei galten sie spätestens seit Beginn des stalinistischen Terrors in den 1930er-Jahren als weniger „gefährlich“ als Tagebücher, die bei polizeilichen Kontrollen regelmäßig konfisziert und gegen ihre Besitzer als Beweisstücke antisowjetischer Gesinnung genutzt wurden.2 Nur ausgewählte Fotos fanden ihren Weg in die 1 Vgl. dazu auch Neil Gregor, Die Geschichte des Nationalsozialismus und der Cultural-Historical Turn, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 65 (2017) 2, 233–245, 235–238 und 240; Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945, in: Central European History 48 (2015) 3, 335–365, 340. – Ich danke den Herausgeberinnen, Vida Bakondy und Eva Tropper, für die hilfreichen Anregungen und die sorgfältige Begleitung der Arbeit. 2 Irina Paperno, Stories of the Soviet Experience. Memoirs, Diaries, Dreams, Ithaca 2009, 60.

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Alben. Auch später konnten Bilder „unpassend“ werden, etwa nach politischen Richtungswechseln. Private Alben in West- und Osteuropa der 1950er- bis 1970er-Jahre ähneln sich: Sie zeigen bevorzugt Kinder (in der Badewanne, mit Teddy, unter der Lametta-Tanne, am ersten Schultag) und daneben vor allem Reisen, Feste und besondere Momente im Lebenslauf.3 Spezifisch für sowjetische Alben ist ihr hybrider Charakter. Die Albumseiten versammelten Aufnahmen sehr unterschiedlicher Herkunft und Materialität: Bilder von Betriebsfotografen, Klassenfotos und Passfotos neben Atelieraufnahmen, bezahlten Fotos aus Ferienorten, Postkarten und sogar Briefmarken. Der Grund für diese Vielfalt waren kulturspezifische Bildpraktiken ebenso wie der bis weit in die 1960er-Jahre hineinreichende Mangel an Fotoapparaten und Fotodienstleistungen. Kinder dominierten nicht nur die privaten, sondern auch die offiziellen Bildwelten und waren in Fotobüchern und Bildzeitschriften präsent, sowohl wenn es um Themen staatlicher Fürsorge für Mütter und Kinder, um Krippen, Schulen und Kinderheime ging, als auch ganz allgemein als „Grundierung“ anderer Themen. Schließlich sollten die Erwachsenen den Kommunismus aufbauen und dabei auf vieles verzichten, das den Kindern in der Zukunft zugutekommen würde. Das Potenzial des Kindes als mächtiges politisches Symbol4 wurde in der sowjetischen visuellen Kultur voll ausgeschöpft.5 Kindheit war ein heterotopischer Raum.6 An abgegrenzten Orten herrschten ideale Verhältnisse: In Kinderparks, Pionierlagern und Pionierpalästen mit ihren Freizeitangeboten konnte die lichte Zukunft bereits in der Gegenwart besichtigt und genossen werden. Die „Glückliche Kindheit“ wurde seit den 1930er-Jahren zu einem sakrosankten sowjetischen Wert stilisiert. Das Vermögen des Staates, den Kindern eine glückliche Kindheit in einem „irdischen Paradies“ zu garantieren, sollte die Erwachsenen in Sicherheit wiegen.7 Eine vergleichende Analyse von Kindermo3 Zur französischen und westeuropäischen Albenkultur vgl. Irène Jonas, Portrait de famille au naturel. Les mutations de la photographie familiale, in: Études Photographiques 22 (2008), 112–173. 4 Doris Bühler-Niederberger, Einleitung. Der Blick auf das Kind – gilt der Gesellschaft, in: dies. (Hg.), Macht der Unschuld. Das Kind als Chiffre, Berlin 2005, 9–22; Karen Dubinsky, Children, Ideology, and Iconography. How Babies rule the World, in: The Journal of the History of Childhood and Youth 5 (2012) 1, 5–13; Grischa Müller, Die Macht des Bildes. Das Kind im politischen Plakat, in: Doris Bühler-Niederberger (Hg.), Macht der Unschuld. Das Kind als Chiffre, Berlin 2005, 149–184. 5 Monica Rüthers, Unter dem Roten Stern geboren. Sowjetische Kinder im Bild, Köln 2020. 6 Michel Foucault, Andere Räume, in: Manfred Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, 65–72; zu sowjetischen Heterotopien vgl. Michail Ryklin, Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Essays. Frankfurt a. M. 2003. 7 Catriona Kelly, A Joyful Soviet Childhood. Licensed Happiness for Little Ones, in: Marina Balina/Evgeny Dobrenko (Hg.), Petrified Utopia. Happiness Soviet Style, London/New York 2009, 3–18, 8–9.

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tiven in Fotografien privater und offizieller Bildproduktion kann die Wechselwirkungen und gegenseitigen Verstärkungen von Motiven herausarbeiten und zeigen, wie visuelle Wahrnehmung und Bildproduktion miteinander verschränkt, wie offizielle und private Bildwelten verzahnt waren. Neben Bildzeitschriften waren Fotobücher ein seit der Stalinzeit intensiv genutztes Medium, in dem die Errungenschaften der Sowjetunion, die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung und der soziale Wohlstand dargestellt wurden. Aufwändig gestaltete Prachtbände waren für die Selbstdarstellung nach außen, etwa an internationalen Ausstellungen, aber auch für die Selbstbestätigung auf Kaderebene gedacht.8 Der Stellenwert der Kinder zeigt sich auch daran, dass zahlreiche Fotobücher zum Thema der sowjetischen „Kinderschar“ (detvora) erschienen.9 Am Beispiel von Kinderfotos wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welche spezifisch sowjetischen Bildpraktiken sich rund um Kinderfotografie und Familienalben entwickelten. Im ersten Teil liegt der Schwerpunkt auf dem Einfluss der Studiofotografie auf die Amateurfotografie, der zweite Abschnitt beleuchtet die Wechselwirkung von offiziellen und privaten Bildwelten am Beispiel von Fotobüchern und Fotoalben. Abschließend geht es um die Frage, welche Bedeutungen und Funktionen die Kinderfotografie in den 1990er-Jahren hatte. Die Herausarbeitung des Spezifischen verlangt zunächst nach einer erweiterten Kontextualisierung fotografischer Praktiken, die kulturspezifische Prägungen maßgeblich mitbestimmen.

I.

Technische, materiale und institutionelle Bedingungen fotografischer Praktiken

In den 1920er-Jahren wurde darüber debattiert, welches Medium geeignet sei, den Aufbau des Sowjetstaates zu dokumentieren. Die Fotografie hatte die Aura der Beglaubigung, weil sie durch ein technisches Gerät erzeugt wurde. Neue drucktechnische Verfahren ermöglichten die Einbindung von Fotografien in Presse, Zeitschriften und Bücher. Seit 1923 erschien die populäre Zeitschrift „Ogonëk“, deren Leiter Michail E. Kol’cov (1898–1940) den Fotojournalismus aktiv förderte und ein Netz von Foto-Korrespondenten sowie die Kooperation mit internationalen Agenturen aufbaute. „Ogonëk“ betrieb auch die Gründung

8 Mikhail Karasik/Manfred Heiting, The Soviet Photobook 1920–1941, Göttingen 2015. 9 Mikhail Karasik, Udarnaia kniga sovetskoi detvory [Schockbuch der sowjetischen Kinder], Moskau 2010.

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der Fotozeitschrift „Sovetskoe Foto“10, die 1926 erstmals erschien und sich anfangs an ein proletarisches Publikum richtete.11 In der ersten Ausgabe schrieb der Kulturminister Anatolij V. Lunacˇarskij: „So wie jeder fortschrittliche Genosse eine Uhr besitzen sollte, sollte er auch imstande sein, mit einer Kamera umzugehen. […] Ebenso wichtig wie die Alphabetisierung ist die fotografische Kompetenz.“12 Arbeiterklubs mit ihren „Fotozirkeln“ stellten Anleitung, Kameras und Materialien zur Verfügung. Ein Meilenstein war die handliche „Fotokor“-Kamera, von der in den 1930er-Jahren rund eine Million Stück produziert wurden.13 In der Stalinzeit galt die Malerei wegen ihrer Fähigkeit zur Synthese als das angemessenere Medium, doch der „Beweischarakter“ der Fotografie blieb unübertroffen. Die „spontane“ Fotografie entsprach wiederum der Aufbruchsstimmung des Tauwetters in den 1950er-Jahren und wurde in Fotoklubs gefördert, auch um interessante Aufnahmen für die Presse zu erhalten.14 Mit dem aufkommenden Binnentourismus wurde das Fotografieren in den 1960er-Jahren zur Freizeitbeschäftigung. Materielle Bedingungen prägten allerdings die Bildpraktiken. Einfache Kameras waren für weniger als 10 Rubel15 erhältlich, aber es gab auch teurere Modelle wie die „FED“ oder „Zenit“. Auch Vergrößerungsgeräte waren kostspielig. Kameras, Filme, Papier und Alben waren bis in die 1970er-Jahre im Defizit. Wer nicht in einem Fotoklub oder im Betrieb dazu Gelegenheit hatte, musste die Filme zu Hause entwickeln und abziehen. Die Amateurfotografie blieb deshalb ein Privileg der besser gebildeten, städtischen Mittelschichten. Sie war ein Statussymbol und entwickelte sich erst in den 1970er-Jahren zu einer

10 Die Zeitschrift „Sovetskoe Foto“ informierte über die verschiedenen Entwicklungen fotografischer Theorie und Praxis. Sie wurde vom Moskauer Haus der Fotografie herausgegeben und war mit der Agentur „Sojusfoto“ verbunden. Zwischen 1930 und 1933 hieß sie „Proletarskoe Foto“. Von 1942 wurde sie kriegshalber eingestellt und erschien dann von 1956 bis 1991 wieder. 11 Erika Wolf, The Soviet Union. From Worker to Proletarian Photography, in: Jorge Ribalta (Hg.), The Worker Photography Movement (1926–1939). Essays and documents, Madrid 2011, 32–46, 34. 12 Anatolij Lunacˇarskij, Nasˇa kul’tura i fotografija [Unsere Kultur und Fotografie], in: Sovetskoe Foto [Sowjetisches Foto] 1 (1926), 2. Zit. n. Wolf, The Soviet Union, 36. 13 Valerij Timofeevicˇ Stigneev, Fototvorcˇestvo Rossii. Istorija, razvitie i sovremennoe sostojanie fotoljubitel’stva [Russische Fotografie. Geschichte, Entwicklung und Zustand der Amateurfotografie], Moskau 1990; Anri Vartanov, Etapy razvitija sovetskogo fotoreportazˇa (20–30e i 50–60e gody) [Etappen der Entwicklung der sowjetischen Fotoreportage (1920er-/1930erund 1950er-/1960er-Jahre)], in: Valerij Timofeevicˇ Stigneev/Aleksandr Lipkov (Hg.), Mir Fotografii [Welt der Fotografie], Moskau 1989, 8–17; Susan E. Reid, Photography in the Thaw, in: The Art Journal 53 (1994) 2, 33–39. 14 Stigneev, Fototvorcˇestvo Rossii, 23. 15 Die Preisangabe bezieht sich auf die Zeit nach der Geldreform von 1961. Ein Monatsgehalt eines Facharbeiters lag bei 70 Rubel.

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allgemeiner verfügbaren Möglichkeit kreativer Selbstverwirklichung.16 Daher lässt sich die (in Klubs geförderte) Amateurfotografie von der Knipserfotografie sowohl zeitlich als auch im Anspruch trennen. Die (überwiegend männlichen) Amateurfotografen fotografierten die Anlässe in der Familie und häufig auch im Freundeskreis.

II.

Sowjetische Privatalben

Fotoalben wurden zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren in der Sowjetunion zu einer verbreiteten kulturellen Praxis. Dokumentiert wurde nicht der Alltag, sondern die besonderen Momente im Leben:17 Hochzeiten, Reisen, das Kind, die Neujahrstanne, der erste Schultag. Die jüngere Generation bewahrte die Fotos in Schachteln oder Umschlägen auf. Ab den 1960er-Jahren kamen vermehrt Knipserfotos von Freizeitaktivitäten und Feiern im privaten Rahmen hinzu, aber weiterhin war ein hoher Anteil von „Aufnahmen zum Andenken“ (‚fotografii na pamjat‘) aus dem Fotoatelier für sowjetische Alben typisch. Die Familienalben unterlagen der inneren Zensur: Es musste so sein, wie es sich gehörte. Deshalb blieben unkonventionelle oder auch potenziell kompromittierende Aufnahmen in der Schublade. Die Einbettung in lebensgeschichtliche Zusammenhänge und Gebrauchsweisen prägte die „soziale Biografie“18 der Alben. Repressierte Personen wurden während der von Überwachung und Terror geprägten Stalinzeit entfernt, ihre Köpfe wurden aus Gruppenfotos geschnitten oder die Gesichter durch Kratzen oder Tinte unkenntlich gemacht.19 Diese Spuren verweisen auf Ängste, aber auch darauf, dass Fotos zu wertvoll waren, um sie ganz herauszunehmen. Die Selbstzensur blieb auch nach dem Ende des

16 Igor Narskij, Fotografie und Erinnerung. Eine sowjetische Kindheit. Wissenschaft als Roman, Köln 2013, 320, 323; zum Fotografieren in den 1970er-Jahren vgl. Ekaterina Degot, The Copy is the Crime. Unofficial Art and the Appropriation of Official Photography, in: Diane Neumaier (Hg.), Beyond Memory. Soviet Nonconformist Photography and Photo-Related Works of Art, New Brunswick/New Jersey/London 2004, 103–118. 17 Zu Westeuropa vgl. Jonas, Portrait de famille au naturel; zu den USA vgl. Richard Chalfen, Snapshot Versions of Life, Madison 2008. 18 Elizabeth Edwards, Material beings. Objecthood and Ethnographic Photographs, in: Visual Studies, 17 (2002) 1, 67–75, 68. 19 Olga Shevchenko/Oksana Sarkisova, Remembering Life in the Soviet Union, One Family Photo at a Time, in: The New York Times, 27. 12. 2017, URL: https://www.nytimes.com/201 7/12/27/opinion/sunday/-soviet-union-one-photos.html (abgerufen 3. 3. 2021); David King, The Commissar Vanishes. The Falsification of Photographs and Art in the Soviet Union, Edinburgh 1997, zeigt dieselbe Praxis in den offiziellen Bildwelten.

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Terrors.20 Die Kunsthistorikerin Ekaterina Degot hat darauf hingewiesen, dass es zu Sowjetzeiten grundsätzlich riskant war, auf der Straße und im öffentlichen Raum zu fotografieren, abgesehen von Erinnerungsfotos von Sehenswürdigkeiten mit Familienmitgliedern im Vordergrund. Deshalb wurde die Knipserfotografie auch ohne offiziell ausgesprochenes Verbot aus urbanen Räumen in Parks und Privatwohnungen verbannt. Kinderfotografie war unverfänglich, da das Heranwachsen der Kinder eines der zentralen Motive der Familienfotografie darstellt.21 Die Familie war in der Sowjetunion ein sozialer Raum des Rückzugs. Hinter verschlossenen Türen entstanden sowohl Fotos vom Kind vor der Neujahrstanne als auch gewagtere Projekte.22

III.

Quellenkorpus und methodische Überlegungen

Die hier niedergelegten Beobachtungen beziehen sich auf einen heterogenen Korpus aus dem Museum des Moskauer Pionierpalastes (Moskovskij gorodskij dvorec detskogo ( junosˇeskogo) tvorcˇestva), aus dem staatlichen russischen Museum und Ausstellungszentrum Rosfoto23 in St. Petersburg sowie aus Privatbesitz. Es handelt sich um insgesamt neun private Alben sowie ein in Schachteln aufbewahrtes Konvolut. Sie reichen von den 1930er- bis in die 1970er-Jahre und zeigen ein Spektrum unterschiedlicher Bild- und Albenpraktiken. Einige Fotoalben aus Archiven und Museen sind „verwaist“, bei anderen konnten Gespräche mit Besitzerinnen und Besitzern geführt werden.24 Mit der Abgabe an eine öffentliche Institution treten Fotos und Alben aus dem Bereich des privaten Erinnerns und Erzählens in den öffentlichen Raum und in die gemeinsame Ge20 Oksana Sarkisova/Olga Shevchenko, They came, shot everyone, and that’s the end of it. Local Memory, Amateur Photography, and the Legacy of State Violence in Novocherkassk, in: Slavonica, 17 (2011) 2, 85–102, 92. 21 Ebd., 115. 22 Degot, The Copy is the Crime, 113. Als eine Folge der Verdrängung in den privaten Raum nennt Degot die Vorliebe für erotische Motive. Subversive Projekte blieben künstlerischen Untergrund-Bewegungen vorbehalten. 23 Staatliches russisches Museum und Ausstellungszentrum Rosfoto, URL: http://rosphoto.org (abgerufen 12. 6. 2021). 24 Zum Ansatz, Albengespräche mit den Besitzern oder Familien zu führen und diese filmisch aufzuzeichnen vgl. Oksana Sarkisova/Olga Shevchenko, The Album as Performance. Notes on the Limits of the Visible, in: Julie A. Buckler/Julie A. Cassiday/Boris Wolfson (Hg.), Russian Performances. Word, Object, Action, Madison 2018, 42–53; Oksana Sarkisova/Olga Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography. Events Evidence, Erasure, in: Olga Shevchenko (Hg.), Double Exposure. Memory & Photography, New Brunswick 2014, 147–174; wichtige methodische Referenz ist Martha Langford, Speaking the Album. An Application of the Oral-Photographic Framework, in: Annette Kuhn/Kirsten E. McAllister (Hg.), Locating Memory. Photographic Acts, New York 2006, 223–246.

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schichte. Damit wandeln sich auch die Bedingungen, unter denen sie angeschaut und wahrgenommen werden. Das gilt besonders für den letzten Abschnitt, der sich auf eine neue Quellenbasis stützt, die in den Social Media geteilten Bilder. Die Neuen Medien sind zu einer viel genutzten Austauschplattform für Erinnerungen an die sozialistische Kindheit geworden.25 Die Alben wurden als narrative Zusammenhänge analysiert und interpretiert.26 Das Gestaltungsspektrum reichte von „ordentlichen Familien“, in denen jedes Foto fest eingeklebt und beschriftet wurde bis hin zu Alben mit Steckschlitzen, in denen die Fotos am Ende lose zwischen den Seiten lagen, und Schachteln. Aber auch feste Arrangements erfuhren nachträgliche Veränderungen, Bilder wurden entfernt oder hinzugefügt, Beschriftungen nachträglich ergänzt. Viele Alben kamen ohne oder mit wenig Text aus, häufig sind nur Orte, Daten, Anlässe vermerkt. Manche kommentieren die Bilder, in anderen Alben stehen nicht einmal Namen. Schließlich wurden Alben nicht immer fortlaufend und zeitnah, sondern oft erst nach mehreren Jahren zusammengestellt. Der Anspruch auf Sinnstiftung traf im Verlauf der Zeit und des Gebrauchs auf Kontingenz,27 wenn die Alben absichtlich oder unabsichtlich verändert wurden, wenn Fotos herausfielen, entnommen, umsortiert oder hinzugefügt wurden. Manche Alben landeten im Museum, weil die Familie in einem bestimmten Kontext bedeutend war, weil die Alben einen künstlerischen Anspruch hatten oder aus anderen Gründen als relevant oder repräsentativ betrachtet wurden. Die BesitzerInnen oder deren Nachkommen beanspruchten durch die Musealisierung einen Platz in der Geschichte. Alben sind für die alltags- und kulturhistorische Forschung ebenso von Bedeutung, wie für die Memory Studies und die Literaturwissenschaft. Sie sprechen das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart an, aber auch die Beziehungen zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen. Ein wichtiger Aspekt ist der duale Charakter der Alben: Die Bilder zeigen das Individuelle, aber die Einzelnen verweisen immer auch auf die Vielen, die unter ähnlichen Umständen lebten.28 Deshalb können einzelne Alben als Reservoir kollektiver Gedächtnisse dienen. 25 Martina Winkler, „Wir hatten noch eine echte Kindheit“. Soziale Medien und Erinnerungen an die sozialistische Tschechoslowakei, in: Monica Rüthers (Hg.), Gute Erinnerungen an schlechte Zeiten? Wie nach 1945 und nach 1989 rückblickend über glückliche Momente in Diktaturen gesprochen wurde, Berlin/Boston 2021, 129–154; Marketa Spiritova, „Es war nicht alles schlecht“. Erinnerungen an den Sozialismus in der Tschechoslowakei zwischen postsozialistischer Perspektivlosigkeit und nostalgischer Kindheitserinnerung, in: Monica Rüthers (Hg.), Gute Erinnerungen an schlechte Zeiten? Wie nach 1945 und nach 1989 rückblickend über glückliche Momente in Diktaturen gesprochen wurde, Berlin/Boston 2021, 155– 172. 26 Zur Vorgehensweise vgl. auch Langford, Speaking the Album, 226–227. 27 Paperno, Stories of the Soviet Experience. 28 Sarkisova/Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography, 150–151.

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Auch der Vorgang des Betrachtens, Kommentierens und Deutens ist mehrschichtig.29 Die Bilder sind „authentisch“ und realitätsbezogen, aber sie sind auch Symbole und erlauben Projektionen, die letztlich die wechselnden Identitätsbedürfnisse der BetrachterInnen in der Gegenwart bedienen.30 Im Folgenden werden einzelne Aspekte der sozialistischen und postsozialistischen Foto- und Albenpraktiken einer vertieften Betrachtung unterzogen.

IV.

Studiofotografie und privater Bildgebrauch

Fotografische Traditionen und Fotoateliers aus vorsowjetischer Zeit bestanden nach der Oktoberrevolution von 1917 fort. Sowjetische Studiofotografen führten oft eine lange Familientradition fort, mit der Technik, den Requisiten und auch in ihren ästhetischen Ausformulierungen. Ihre Spezialität waren „Bilder zum Andenken“ (fotografii na pamjat’), die im Familien- und Freundeskreis ausgetauscht wurden.31 Bis zum Ende der Sowjetunion und darüber hinaus blieben Studioaufnahmen ein Teil der Bildpraktiken, der Besuch beim Fotografen ein alljährliches Ritual. Im Beispiel aus Kislovodsk aus dem Jahr 1962 sitzt die Sechsjährige in ihren besten Kleidern, frisch frisiert und gut ausgeleuchtet im karierten Kleid mit rosa Haarschleife und passenden Sandalen auf einer aristokratisch verschnörkelten güldenen, gepolsterten Sitzbank.32 Sie schaut ernst an der Kamera vorbei in die Ferne. Das Gruppenportrait auf derselben Albumseite zeigt die Großmutter, eingerahmt von Enkel und Enkelin (Abb. 1). Es sind Studio-Portraits in der bürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts. Auffallend ist die malerische Handkoloration. Offenbar hat sich die Oma einen älteren Fotografen ausgesucht, der ihrem Geschmack entsprach. Denn die beiden Aufnahmen auf der ersten Seite fallen innerhalb des Albums aus dem Rahmen. Danach folgen die Schüle-

29 Zum „Nachleben“ der Alben vgl. die Beiträge von Martha Langford, Suspended Conversations. The Afterlife of Memory in a Photographic Album, Montreal 2001; Martha Langford, Speaking the Album; Sarkisova/Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography. 30 Sarkisova/Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography, 150–154, 170. 31 Ausführlich dazu Igor V. Narskij, Problemy i vozmozˇnosti istoricˇeskoj interpretacii semejnoj fotografii (na primere detskoj fotografii 1966 g. iz g. Gor’kogo) [Grenzen und Möglichkeiten der historischen Interpretation von Familienfotografie (am Beispiel von Kinderfotos der 1960er-Jahre der Stadt Nischi Nowgorod)], in: Igor V. Narskij/Ol’ga S. Nagornaja/Ol’ga Ju Nikonova (Hg.), Ocˇe-vidnaja Istorija. Problemy vizual’noj istorii Rossii XX stoletija [Anschauliche Geschichte. Probleme der visuellen Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert], ˇ eljabinsk 2008 [Tscheljabinsk 2008], 55–74. C 32 Zum Atelierbesuch mit Großvater und sowjetischen Defizit-Sandalen vgl. Narskij, Problemy i vozmozˇnosti. 67.

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rinnen-Portraits von Elena, die ebenfalls von Studiofotografen aufgenommen wurden: schwarzweiß, scharf, ohne Schnörkel, Blick in die Kamera.

Abb. 1: Atelieraufnahmen mit Bruder und Großmutter (Quelle: Album Elena Alekseevna, Privatbesitz, Kislovodsk 1962)

Elena Alekseevna, geboren 1955, besitzt zwei Kindheitsalben. Ihr Vater war Oberst-Ingenieur und Offizier des Generalstabs, die Mutter Ingenieurin. Die Familie lebte in einer Wohnung im neuen Moskauer Rayon Kuncevo. Die Großmutter, 1904 geboren, war Ärztin-Laborantin, der Großvater Oberst des medizinischen Dienstes. In den 1960er-Jahren arbeiteten beide in Sanatorien im Kurort Kislovodsk im nördlichen Kaukasus. Elena lebte als Kind bei ihnen, ab der zweiten Klasse besuchte sie eine Schule in Moskau. Der Vater fotografierte leidenschaftlich und besaß „schon immer“ eine Kamera. In den 1960er-Jahren war dies eine „FED“. Die Großmutter fotografierte, wie Elena selbst, mit einer Kamera der Marke „Smena“. Entwickelt wurde gemeinsam mit dem Vater in der Abstellkammer. Das Auswählen von Fotos, ihr Anordnen und Beschriften in den Alben war ein Ritual, an dem die ganze Familie teilnahm. Jedes Familienmitglied bekam ein eigenes Album. Die Alben wurden streng chronologisch und thematisch geordnet, was Elena als untypisch bezeichnet und mit dem pedantischen Charakter ihres Vaters erklärt. Eines der Elena gewidmeten Alben gestalteten die Eltern als „Kinderalbum“ von der Geburt bis zum Eintritt in die Komsomolorganisation. Es trägt auf dem Rücken einen Produktionsstempel von 1972. Das

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zweite bekam sie 1965 zum zehnten Geburtstag und gestaltete es selbst mit Fotos aus den Jahren 1959 bis 1967. Die Mutter beschriftete einen Teil der Fotos. Wie Studiofotografen mit Kinderportraits Grußkarten gestalteten zeigt das Beispiel von Vitalij Kozub (Abb. 2). Es ist Frühjahr 1972, Vitalij besucht die erste Klasse der Schule Nr. 1 in Vilejka. Familie Kozub zog 1971 mit Tochter Nelja (geb. 1963) und Sohn Vitalij (geb. 1965) aus Vladivostok in die belarussische Stadt. Der Vater war Offizier der Kriegsmarine, die Mutter leitete die Abteilung für Wohn- und Kommunalwirtschaft der Fabrik „Zenit“ in Vilejka, die optische Geräte und auch Fotoapparate herstellte. Der Vater fotografierte selbst, darüber hinaus bekam man Bilder von Bekannten und Freunden, von den Schulen und anderen Einrichtungen. Es gab Fotoalben. Die Albumseiten hatten Schlitze für die Ecken der Fotos, die aber die Bilder nicht fest genug hielten, so dass sie immer wieder herausrutschten. Außerdem nahm man die Fotos oft selbst heraus, um sie besser betrachten zu können. Zwar befinden sich die meisten Fotos jetzt noch in den Alben, liegen dort aber lose zwischen den Seiten.

Abb. 2: Individualisierte Grußkarte zum Tag des Sieges, im Doppelpack mit einer Grußkarte zum Geburtstag (Quelle: Fotoalbum der Familie Kozub, Privatbesitz Vitalij Kozub, Vilejka 1972)

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Vitalij trägt die blaue Schuluniform. Die Schülerportraits wurden normalerweise zum Abschluss des Schuljahres gemacht. Diese Aufnahme wurde für eine Grußkarte zum zeitnahen 9. Mai verwendet, dem Tag des Sieges. Visualisiert ist der Anlass durch den Spasskij-Turm des Kremls mit Feuerwerk und Emblem der Roten Armee. Auf der linken Seite ist das Hissen der Fahne auf dem Reichstag in Berlin angedeutet. Die Geburtstagskarte hingegen rahmt das Kind in beliebte Figuren aus Kinderzeitschriften, ein wichtiger Teil der sowjetischen Kinderkultur, auf deren hohe Qualität die Sowjetbürger stolz waren.33 Hier sind es Figuren aus der Zeitschrift „Vesëlye kartinki“ (Fröhliche Bildchen).34 In dieser Karte verbinden sich die Studiofotografie und der Brauch, zu Festtagen Kartengrüße zu senden.35 Beliebt sind bis heute Neujahrspostkarten, die das Heranwachsen des Kindes dokumentieren. Die individualisierten Grußkarten standen in der Tradition der carte de visite-Fotografie.36 Wie diese steigerten sie den Öffentlichkeitsgrad des Kinderportraits über den Raum der häuslichen Kommunikation hinaus. Die Grußkarten wurden an einen erweiterten Familienund Freundeskreis verschickt und konnten auch bei Bekannten landen, die sonst nicht in den Kreis der häuslichen Kommunikation einbezogen waren. Die Karte zeigt, wie sich die Kinderportraits mit dominanten politischen Narrativen und der offiziellen visuellen Kultur in einem Akt der affirmativen Teilhabe verbanden. Die Ästhetik sowjetischer Atelieraufnahmen blieb über das Tauwetter hinaus in einem engen, kanonisierten Rahmen. Der russische Publizist und Zeitzeuge Andrej Archangel’skij (geb. 1974) beschrieb die Kinderfotos der 1970er- und 1980er-Jahre, in denen es üblich gewesen sei, mit Kindern zwischen einem und sieben Jahren dem Fotoatelier einen jährlichen Besuch abzustatten: „Ihr wart so angezogen, ‚wie es sich gehörte‘, euer Blick war so, ‚wie er zu sein hatte‘ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass 33 Vgl. hierzu Catriona Kelly, Children’s World. Growing up in Russia 1890–1991, Connecticut 2007, 88–92, 114, 136–141. Im Zuge der Bildungskampagne wurden in den 1920er-Jahren gezielt Kinderbücher und Kinderzeitschriften geschaffen, an deren Produktion bekannte Künstlerinnen und Grafiker beteiligt waren. 34 Christine Gölz, Fröhliche Bildchen für kleine Leute. Die Bildzeitschrift „Vesëlye kartinki“ oder was bleibt übrig von der visuellen Kinderwelt des Sozialismus, in: Alexandra Köhring/ Monica Rüthers (Hg.), Ästhetiken des Sozialismus/Socialist Aesthetics. Populäre Bildmedien im späten Sozialismus/Visual Cultures of Late Socialism, Köln/Weimer/Wien 2018, 75–94. 35 Der eigentliche sowjetische Postkarten-Boom setzte Mitte der 1950er-Jahre ein, als die mehr und qualitativ höherwertige Karten produziert wurden. Ol’ga Sˇaburova, Sovetskij mir v otkrytke [Sowjetische Welt in der Postkarte], Moskau 2017, 12–13. 36 Zur Geschichte der carte de visite-Fotografie vgl. John Plunkett, Celebrity and Community. The Poetics of the Carte-De-Visite, in: Journal of Victorian Culture 8 (2003) 1, 55–79; Stephen Burstow, The Carte de Visite and Domestic Digital Photography, in: Photographies 9 (2016) 3, 287–305.

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Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren […]. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf ‚Nicht bewegen jetzt!‘, sind ein grelles Kindheitstrauma. All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen.“37

Das Ergebnis sei dann an Tanten, Onkel und Großeltern verschickt worden. Archangel’skij fasst die Prägung der Bildpraktiken durch Konventionen in Worte, die auch Igor Narskij analysiert hat.38 Die Kontinuität bis in die späte Sowjetzeit hinein kann im Zusammenhang mit der Re-Traditionalisierung der offiziellen Kultur im Rahmen der „Hyperstabilität“39 der 1970er-Jahre gesehen werden, die eine scheinbar unbewegte Oberfläche hochgradig ritualisierten sowjetischen Lebens hervorbrachte, unter welcher es aber brodelte. Die Lebensstile vervielfältigten sich, Kunstschaffende und Gitarrenbarden entwarfen neue Visionen, die pompösen sozrealistischen Bildwelten wurden zu Inkubatoren ironischer Satire. Für die konservative Wende der offiziellen Kultur standen die Studioaufnahmen, die in Form von Klassen- und Gruppenfotos auch das institutionelle Leben abbildeten. Kindheit war nach wie vor ein behüteter Raum und ein beliebtes Motiv. In den an die Tradition der Atelierfotografie angelehnten Aufnahmen wichtiger Momente im Leben war von Ironie und Subversion nichts zu spüren.

V.

Wechselwirkungen zwischen privaten und offiziellen Bildwelten

Ein Blick in sowjetische Fotobücher zeigt, dass sich jenseits der Fotoateliers die fotografischen Perspektiven auf Kinder in den 1960er-Jahren veränderten. Im Zuge des Tauwetters wurde die Fotografie spontaner. Die Fotografen fingen die Welt aus der Perspektive der Kinder ein – Teil der Verheißung privaten Glücks in 37 Andrej Archangel’skij, Vasˇi foto iz 90-ch. Sˇto v nich vidno cegodnja? [Eure Fotos aus den 90ern. Was ist heute in ihnen zu sehen?], 21. 9. 2015, URL: https://www.colta.ru/articles/socie ty/8604-pomnim-lyubim-skorbim (abgerufen 30. 11. 2020). Die deutsche Übersetzung des Artikels durch Barbara Sauser auf Dekoder, In Stillem Gedenken und in Dankbarkeit?, 22. 10. 2015, URL: https://www.dekoder.org/de/article/stillem-gedenken-und (abgerufen 30. 11. 2020). 38 Narskij, Fotografie und Erinnerung. 39 Boris Belge/Manfred Deuerlein, Einführung. Ein goldenes Zeitalter der Stagnation? Neue Perspektiven auf die Brezˇnev-Ära, in: Boris Belge/Martin Deuerlein (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brezˇnev-Ära, Tübingen 2014, 1–35, 13.

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der Chrusˇcˇev-Zeit. Deutlich tritt als neuer Topos in den offiziellen Fotobüchern die emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kindern hervor. 1962 erschien im staatlichen politischen Verlag in Moskau das Buch „Deti strany sovetov“, Kinder des Sowjetlandes.40 Es ähnelte einem Album und richtete sich in seiner farbenfrohen Gestaltung eher an Kinder, in den Texten jedoch an die Erwachsenen. Die Doppelseiten sind mit Fotos bestückt und im Stil von Kinderbüchern mit Farbtupfern und Strichzeichnungen unterlegt. Kurze Texte erläutern die Fotos. Die Dramaturgie dieses kollektiven Fotoalbums folgt dem Verlauf einer typisch sowjetischen Kindheit vom Geburtshaus bis zum Schulabschluss in Bildern aus allen Regionen und handelt dabei verschiedene Errungenschaften ab. Die abgebildete Seite zeigt im oberen Teil den Abend, der nach einem Tag bei der Arbeit und in der Krippe ganz der Familie gewidmet ist (Abb. 3). Ein Foto von Mutter und Kind rechts oben dominiert die Seite und betont die emotionale Bindung. Es könnte auch in einem Familienalbum stehen. Die Skizze darunter zeigt den Sonntagsspaziergang, das sorgfältig inszenierte Foto daneben die Gestaltung des Abends im Familienkreis. Die Seite verbindet die Elternliebe mit einem Motiv des Konsums. Die unterste Aufnahme zeigt eine Familie in einer Spielwarenabteilung. Die Bildlegende: „Unterschiedliche Kinderartikel für 500 000 Rubel verkauft das Moskauer Warenhaus ‚Detskij mir‘ im Durchschnitt pro Tag. Insgesamt gibt es landesweit rund 600 Spezialgeschäfte für Kinder. Waren für Kinder jedes Alters können auch in den 350 großen Warenhäusern des Landes gekauft werden.“ Im Zuge der Erziehungsreformen der Chrusˇcˇev-Zeit sollten Kinder in den Wohnungen einen eigenen Bereich mit kindgerechten Möbeln bekommen.41 Die Eltern sollten die Kinder nicht nur versorgen und überwachen, sondern sich mit ihnen beschäftigen. Spielsachen waren Erkennungszeichen für materiellen Wohlstand und Liebesbeweis: Plüschtiere wie der Teddybär, der zuvor Eliten vorbehalten war, wurden Symbol der sorglosen und liebevollen Kindheit. Die Konsumoffensive hinterließ Spuren in den Familienalben. Ein Beispiel sind Kinderbettchen als typisches Erzeugnis der unter Chrusˇcˇëv geförderten Leichtindustrie (Abb. 4). Auf den Seiten des Albums von Elena Alekseevna wird das Kind als emotionales Zentrum der Familie gezeigt. Diese um 1956 entstandenen Aufnahmen stehen im Kontrast zum Studioportrait mit Elenas Großmutter sechs Jahre später (Abb. 1). Solche Schnappschüsse lösten die Atelierfotografie also nicht ab, sondern zeugen von einem Nebeneinander der Praktiken, von einem Wandel der Konventionen im Zuge von Generationenwechseln 40 V. Morozova/ L. Uralova, Deti strany Sovetov [Kinder sozialistischer Länder], hg. im staatlichen politischen Verlag Gospolitizdat, Moskau 1962. Redaktion: T. Fefelova; Künstler: N. Lutochin. Künstlerische Redaktion: A. Lur’e. Aufl. 20.000 Ex. 41 Catriona Kelly, Children’s World, 143.

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Abb. 3: Exemplarische Seite aus dem Bildband „Deti strany sovetov“, Moskau 1962

und von Neuverhandlungen des Sicht- und Zeigbaren. Für die „Bilder zum Andenken“ gingen die meisten nach wie vor zum Fotografen. Das Beispiel des Buches über die „Kinder des Sowjetlandes“ leitet zur Frage über, woher Amateurfotografinnen und Knipser ihre Vorstellungen nahmen, wie ein Bild auszusehen hatte. Deutlich sichtbar sind Einflüsse aus der traditionellen Studiofotografie, die zu Hause imitiert wurde, aus der Malerei, aber auch aus Medien wie Filmen, Wochenschauen, illustrierten Zeitschriften und Fotobü-

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Abb. 4: Verschiedene Familienaufnahmen mit Kind (Quelle: Familienalbum der Elena Alekseevna (geb. 1955), Privatbesitz)

chern. Zeitschriften wie „Ogonëk“ (die Illustrierte mit der größten Verbreitung) und „Sovetskoe Foto“ lagen in Bibliotheken und Lese-Ecken sowjetischer Betriebe und Institutionen auf und konnten auch abonniert werden. Fotobücher wurden ab den 1960er-Jahren in größeren Auflagen verfügbar.42 Frühe sowjetische Fotobücher waren von der Avantgarde und Montagen geprägte Künstlerbücher. Ab Ende der 1920er-Jahre dienten sie der Dokumentation der sowjetischen Errungenschaften der stalinistischen Modernisierung und wurden konservativer. Es gab opulent gestaltete Eröffnungs- oder Jubiläumsbände mit Titeln wie „15 Jahre Kasachische ASSR“,43 „Mütter- und Kinderschutz im Land der Sowjets“,44 „Soviet Women“45 oder „Die sowjetische Kinderschar“.46 Herausge-

42 1966 erfolgte der „Beschluss über die Erhöhung der Auflagen hochwertiger Farb-Postkarten und Bildbände“. Vgl. Sˇaburova, Sovetskij mir v otkrytke, 13. 43 15 let Kazachskoj ASSR [15 Jahre kasachische ASSR], hg. im staatlichen Kunstverlag OGIZIZOGIZ, Moskau 1936. 44 Ochrana materinstva i mladencˇestva v strane Sovetov [Mutterschutz und Kindheit im Land der Sowjets]. Den Delegierten des XV Internationalen Physiologen Kongresses, hg. im staatlichen Kunstverlag OGIZ-IZOGIZ zusammen mit dem Institut für Hygienekultur, Moskau-Leningrad; Ochrana materinstva i mladencˇestva v Sojuze SSR 1918–1938 [Mutter-

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geben von verschiedenen Ministerien erschienen sie in den staatlichen Verlagen. Für die oft aufwändige Gestaltung waren Grafikerinnen und Grafiker sowie bekannte Fotografen und Fotografinnen verantwortlich. Teils waren die Bände wie „Soviet Women“ von 1939 in englischer Sprache oder wie „Ochrana materinstva i mladencˇestva“ von 1935 mit mehrsprachigen Texten für internationale Kongresse oder Ausstellungen bestimmt. In der Sowjetunion wurden die Prachtbände an hohe Funktionäre und wichtige Bibliotheken verteilt. Früh entwickelte sich eine Dramaturgie des Aufbaus der kommunistischen Sowjetunion mit einem wiedererkennbaren visuellen Themen-Kanon. Die Fotobücher der 1920er- bis 1940er-Jahre führten die Fürsorge des Staates und die modernen Institutionen der Gesundheitsfürsorge und Erziehung vor. Auch die Titel ohne direkten Bezug zu Kindern enthielten, gewissermaßen als emotionale Verstärker, zahlreiche Kinderfotos. Die häufig malerisch retuschierten Aufnahmen der 1930er- bis 1950er-Jahre zirkulierten zwischen verschiedenen Bildmedien und schulten die Sehgewohnheiten. Diese Sozialisierung des Blickes schlug sich auch im Bereich des Privaten nieder. Die Amateurfotografen orientierten sich an der Atelierfotografie, am Piktorialismus und an Motiven, die auch die Genremalerei bevorzugte. Bildbände blieben bis zum Ende der Sowjetunion wichtige Instrumente der Propaganda. Dramaturgie und Motive veränderten sich kaum, aber der fotografische Stil wandelte sich Ende der 1950er-Jahre: weg von statischen, stark retuschierten und teilweise montierten Fotografien hin zu lebendigen, spontanen und nicht bearbeiteten Momentaufnahmen im Stil der Reportagefotografie. Großaufnahmen zeigten fröhliche Kleinkinder oder Erwachsene, deren individuelles Glück für das Glück aller Sowjetmenschen stand. In den 1960er-Jahren erweiterte sich das Feld des Fotografierbaren durch die Hinwendung zum Alltäglichen, das Interesse für den Menschen und seine Befindlichkeit, seine Schwierigkeiten und den Arbeitsalltag. Zu Chrusˇcˇevs Projekt der Erneuerung des Sozialismus nach Stalin gehörte die Forderung nach einem „sovremennyj stil’“ (zeitgemäßen Stil), einer modernen Ästhetik in allen Lebensbereichen.47 Die Regeln des sozialistischen Realismus48, der seit 1934 die offizielle Kulturproduktion prägte, wurden aktualisiert: Wichtig waren Opti-

45 46 47 48

schutz und Kindheit in der Sowjetunion 1918–1938], hg. vom Museum für den Schutz von Müttern und Kindern, Moskau 1938. Soviet Women, hg. State Art Publishers, Moskau-Leningrad 1939; Tarasik/Heiting, Soviet Photobook, 484–487. Sovetskaja detvora [Sowjetische Kinder], hg. im staatlichen Kunstverlag OGIZ-IZOGIZ, Moskau 1936. Susan E. Reid, Khrushchev Modern. Agency and Modernization in the Soviet Home, in: Cahiers du monde russe 47 (2006) 1–2, 227–268. Kunst sollte leicht verständlich, linientreu, volksnah und optimistisch sein.

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mismus des Ausdrucks und Leitwerte wie Arbeit und die „sozialistische Moral“ im Sinne eines erhabenen Kanons humanistischer Wertvorstellungen. In Film und Fotografie verkörperten Kinder diese Werte auf ideale Weise: Chrusˇcˇevs humanistischer Sozialismus war beseelt vom Pathos des Neubeginns und der Wahrhaftigkeit, moralisch aufgeladen und überzeugend.49 Internationale Einflüsse wurden mit sozialistischen Werten verknüpft. Über Ausstellungen, illustrierte Zeitschriften und Fotozeitschriften beeinflussten solche Vorbilder wiederum die Amateurfotografie. Zu den bekannteren sowjetischen Tauwetterfotografen gehörte Vladimir Lagrange (geb. 1939), der ab 1959 für die Agentur TASS tätig war. Seine erste Ausstellung 1962 kreiste um das Thema „Unsere Jugend“ und die ikonische Aufnahme „Friedenstauben“, die junge Schulabgängerinnen und Abgänger nach durchfeierter Nacht bei Tagesanbruch mit auffliegenden Tauben auf dem Roten Platz zeigte. Der Fotograf prägte zahlreiche Kindermotive, unter anderem, wie in der privaten Aufnahme von Vater Sˇirocˇin aufgegriffen, am Getränkeautomaten (Abb. 5).50 Er nahm häufig die Kinderperspektive ein, um Lebensnähe und Spontaneität zu vermitteln. Das Motiv des Kindes, das sich an einem der neu eingeführten Automaten streckt, verband „das neugierige Kind“ mit Konsum und moderner Technik.51 Neue Ladengeschäfte, Neonbeleuchtungen und Verkaufsautomaten versprachen das Ende der Defizitwirtschaft und des Schlange-Stehens. Sie standen für den Aufbruch in ein neues, von Raumfahrt und Konsum geprägtes Zeitalter. Die Aufnahme von Vadim Sˇirocˇin am Mineralwasser-Automaten entstand 1966 im Urlaub auf der Krim. Die Fotos der Familie werden von Vadim Sˇirocˇin (geb. 1958) aufbewahrt. Sein Vater war ein hoch angesehener Chirurg und Traumatologe in Vilejka in der Belarussischen SSR, die Mutter Leiterin der Gynäkologischen Abteilung des städtischen Krankenhauses. Der Vater fotografierte selbst. Die Fotos, die den qualitativen Anspruch eines ambitionierten Amateurfotografen verraten, verwahrt Vadim Sˇirocˇin nicht in Alben, sondern in einer Schachtel.

49 Julija Gradskova, Nigde tak ne oberegajut detstvo, kak v nasˇej strane. Dosˇkol’nye ucˇrezˇdenija v sovetskom dokumental’nom kino, 1946–1960-e gody, [Nirgendwo ist die Kindheit so geschützt wie in unserem Land. Vorschulische Einrichtungen im sowjetischen dokumentarischen Kino, 1946–1960er Jahre] in: Elena R. Jarskaja-Smirnova/Pavel V. Romanov (Hg.), Vizual’naja antropologija. Rezˇimy vidimosti pri socializme [Visuelle Anthropologie. Sichtbarkeitsmodi im Sozialismus], Moskau 2009, 359–370. 50 Die Aufnahme mit dem Titel „Curiosity, 1962“ findet sich im online-Artikel von Natalia Grigorieva-Litvinskaya, ‚The Thaw‘ in black and white Photographer Vladimir Lagrange chronicled the Soviet 1960s and 1970s, in: Meduza, 1. 2. 2022, URL: https://meduza.io/en/fea ture/2022/02/02/the-thaw-in-black-and-white (abgerufen 22. 02. 2022). 51 Miry fotografa Vladimira Lagranzˇa [Die Welten des Fotografen Vladimir Lagranzˇ)], 4. 5. 2919, URL: http://sovietfoto.ru/lagrange (abgerufen 30. 11. 2020).

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Abb. 5: Urlaubsfoto aus Jevpatorija, Halbinsel Krim um 1966 (Quelle: Konvolut der Familie Sˇirocˇin, Privatbesitz Vadim Sˇirocˇin)

In der Knipserfotografie nahmen in Westeuropa52 wie in der Sowjetunion ab den 1960er-Jahren Bilder von Freizeitaktivitäten zu. Mit dem aufkommenden Binnentourismus wurden Urlaubsmotive wie Strandfotos geläufig. Gleichzeitig wurde eine stärkere Konsumorientierung in den Motiven sichtbar. Die Familie Sˇirocˇin war für sowjetische Verhältnisse wohlhabend, „wir hatten immer ein Auto“. Jedes Jahr fuhr man in den Urlaub, oft ans Meer. Aufnahmen von Kindern, die im Auto spielen, sind ein häufiges Motiv der späteren Sowjetjahre. Privatautos waren in der auf das Kollektiv ausgerichteten Sowjetunion nicht vorgesehen und ideologisch umstritten. Vor dem Krieg gab es fast ausschließlich Dienstwagen. Danach gab es vermehrt Privatautos, in den

52 Jonas, Portrait de famille au naturel.

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Abb. 6: Vadim Sˇirocˇin (geb. 1958) am Steuer des Moskvicˇ 430 der Familie um 1961 (Quelle: Konvolut der Familie Sˇirocˇin, Privatbesitz Vadim Sˇirocˇin)

1950er- und 1960er-Jahren wandelte sich auch die Zuschreibung.53 Autos wurden Zeichen des erreichten Wohlstandes. Die Analyse von Kinderaufnahmen in Fotobüchern zeigt, dass sich zu Beginn der 1960er-Jahre ein Wandel des Blicks vollzog. Mit der Betonung von Individualität, Innerlichkeit, Lebensfreude, Wohlstand und Freizeit hielt die Kamera vermehrt auch „kindliche Momente“ fest. Neben den bislang dominierenden Szenen mit Gruppen von Kindern standen nun häufig einzelne – fröhliche oder nachdenkliche – Kinder im Fokus der Kamera (Abb. 7). Die Aufnahmen begannen den Knipserfotos aus familiären Zusammenhängen zu gleichen. Offensichtlich fanden Aufnahmen aus dem Familienleben der Fotografen Eingang in sowjetische Bildbände. Romualdas Rakauskas’ Aufnahme von Mutter und Kind auf dem Bett könnte sich ebenso gut in einem privaten Album finden wie in dem Jahrbuch des litauischen Fotografenverbandes von 1971.54 Sie wurde aber auch in dem Jubiläumsband „Die Sowjetunion“55 von 1972 auf einer Doppelseite mit Kindermotiven veröffentlicht (Abb. 7). Die Vermutung liegt nahe, dass der Fo53 Lewis H. Siegelbaum, Cars for Comrades. The Life of the Soviet Automobile, Ithaca 2008; Corinna Kuhr-Korolev/Dirk Schlinkert, Towards Mobility. Varieties of Automobilism in East and West, Wolfsburg 2009. 54 Skirmantas Valiulis, Lietuvos Fotografija [Fotografie in Litauen], Vilnius 1971, 125. 55 Sovetskij Sojuz [Sowjetunion], Moskau 1972, erschien mit Texten in Russisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch.

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tograf hier sein Motiv in der Familie fand. Die Grenze zwischen den offiziellen und privaten Bildwelten wurde porös, die offiziellen Bildwelten wurden „privater“.

Abb. 7: Doppelseite im Jubiläumsband „Sovetskij Sojuz“ [Die Sowjetunion], Moskau 1972. Unten, 3. von links: Romualdas Rakauskas (geb. 1941) „Der Morgen 1968“

In den privaten Alben blieben Themen und Motive erhalten und neue kamen hinzu: Konsum, emotionale Beziehungen, informelle Situationen. Die Wechselwirkung durch das Aneignen und Reproduzieren von visuellen Mustern war nicht spezifisch sowjetisch, sondern ist Teil der Geschichte der Amateurfotografie.56 Muster und Konventionen gab und gibt es auch in den Bildsprachen außerhalb des Wirkungsbereichs des sozialistischen Realismus. Vielleicht ist das Sowjetische an den offiziellen und privaten Alben die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der Kanon, der neben dem Neuen (den Knipserfotos) immer auch das Alte (die jährlichen Studioaufnahmen) beibehielt und daher stilistisch heterogen war. Das folgende Beispiel spricht dafür, dass die Praktiken der Kinderfotografie wichtige soziale Funktionen hatten, die über das Ende der Sowjetunion hinauswirkten.

56 Alf Lüdtke, Industriebilder – Bilder der Industriearbeit? Industrie- und Arbeitsphotographie von der Jahrhundertwende bis in die 1930er-Jahre, in: Historische Anthropologie 1 (1993) 3, 394–430.

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VI.

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Kinder- und Jugendfotos der 1990er-Jahre

Die 1970er-Jahre wurden bereits Mitte der 1990er-Jahre zum nostalgischen Erinnerungsort. Im postsowjetischen Russland versagte der Staat, Korruption und Kriminalität grassierten. Preisfreigaben und Hyperinflation vernichteten die Ersparnisse der Menschen. Der Präsident, Boris Jelzin, befand sich im Dauerkonflikt mit dem Parlament, und die schlecht vorbereiteten Privatisierungsverfahren führten dazu, dass sich skrupellose Geschäftsleute in einem unheiligen Pakt mit der Regierung den Löwenanteil der staatlichen Betriebe unter den Nagel rissen. Angesichts der massenhaften Verarmung und der den Alltag bestimmenden Unsicherheit sehnten sich immer mehr Menschen in den bescheidenen Wohlstand, die Stabilität und den starken Staat der 1970er-Jahre zurück. Auch der Verlust des Status einer international respektierten und gefürchteten Großmacht schmerzte sie. Für die damals mitten im Leben stehenden Eltern und Großeltern war es ein Jahrzehnt der permanenten Krise und des Zerfalls, nicht nur der Sowjetunion als Staatengebilde, sondern auch der Werte, der Moral, der sozialen Netze und Sicherheiten.57 Die 1990er-Jahre sind ein in den aktuellen russischen Geschichtsdiskursen umkämpftes Jahrzehnt: Die offizielle Geschichtspolitik des Systems Putin stilisiert diese Dekade zum kollektiven Trauma, zur Dauerkrise, in der Chaos und blutige Bandenkriege den Alltag beherrschten. „Die vermeintlichen Charakteristika dieser Epoche wurden in Formeln wie die ‚wilden Neunziger‘ oder das ‚Jahrzehnt der Banditen‘ gegossen. […] Ein wichtiges Motiv im Putinschen Geschichtsdiskurs ist die Vorstellung, die 1990er Jahre seien eine Zeit des totalen Chaos und der Demütigung gewesen, aus der Putin persönlich die Bevölkerung Russlands herausgeführt habe.“58 Der so genannte „liberale Diskurs“ der Kritiker des autoritären Putinismus hingegen wertet die 1990er als Jahrzehnt der Freiheit und des Aufbruchs. Im September 2015 begann im russischen Facebook ein spontaner Flashmob unter Journalisten und Medienschaffenden, eigene Kinder- und Jugendfotos aus den 1990er-Jahren zu posten.59 Das russische Kulturportal „colta.ru“ rief seine Leserinnen und Leser im Rahmen eines virtuellen Museumsprojektes zu den 1990er-Jahren auf, Kinder- und Jugendfotos von sich hochzuladen. Das Ergebnis war eine wahre Bilderflut. In dem bereits erwähnten Artikel über die Fotos stellte Andrej Archangel’skij (geb. 1974) dann auch ein Gegennarrativ über die 1990er57 Olga Shevchenko, Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow, Bloomington 2009. 58 Andrej Kolesnikov, Erinnerung als Waffe. Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes, in: OSTEUROPA, 70 (2020) 6, 3–28, 25. ˇ ugrinov, Stichijnyj flesˇmob s fotografijami iz 90-ch godov zachvatil fejsbuk [Spon59 Anton C taner Flashmob mit Fotos aus den 1990ern erobert Facebook], URL: https://snob.ru/selected /entry/98061/?v=1444909663 (abgerufen 10. 10. 2020).

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Jahre vor. Im Vergleich zu den Kinderfotos der 1960er- bis 1980er-Jahre, die alle gleich aussähen, „egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren“,60 betonte er für die Fotos der 1990er den Bruch mit den Traditionen: „Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf ‚Stillgesessen!‘.“61 Nun dominierte nicht der starre Blick in die Kamera, sondern das Staunen über das neue Selbst. Vor seinen Augen entfaltete sich eine Epoche des Aufbruchs und der Selbstbestimmung. „Der Gesichtsausdruck der 1990er ist nicht Lächeln, sondern eine gewisse Verwunderung: Schaut, wozu ich fähig bin, das da bin ich. Faktisch bedeutete es eine Selbst-Entdeckung, Offenheit, Hoffnung. Und auch Freiheit.“ Ein Blick auf die eingesandten Fotos zeigt jedoch, dass diese Interpretation nur auf den Fotos der Jugendlichen und jungen Erwachsenen beruht, nicht aber auf den Kinderfotos. Das ist für die hier diskutierten geschichtspolitischen Diskurse zentral: Kinderfotos wurden weiterhin von Erwachsenen aufgenommen, während Jugendliche nun selbst zur Kamera griffen. Neuerungen wie günstige Wegwerfkameras und Fotodienstleister machten das möglich. Die Gegenwart der Kameras stimulierte zuvor unerhörte Posen, eine post-sowjetische Selfie-Kultur entstand, auch durch die nun im städtischen Raum auftauchenden Fotoautomaten. Die Bilder von Kindern hingegen wurden von deren Eltern gemacht oder in Auftrag gegeben, wenn auch unter Mitwirkung der Kinder selbst. Auch in den Schulen kam weiterhin der Fotograf. Der einzige Unterschied: Nun waren die Fotos oft farbig. Auch wenn eine genaue Quellenkritik schwierig ist, da die Bilder nicht datiert sind und daher im Einzelfall unklar bleibt, ob die Aufnahmen vom Anfang oder vom Ende der 1990er Jahre stammen, lassen sich einige Beobachtungen festhalten: Kinder wurden entsprechend der sowjetischen Tradition in den vertrauten Posen als glückliche und behütete Kinder fotografiert, ernste Mädchen am ersten Schultag in Schuluniform mit weißer Schürze und riesiger Haarschleife, Geschwister vor der Neujahrstanne, auf dem Sofa oder im Auto spielend. Das Bild eines kleinen Jungen mit Schnuller in der viel zu großen Uniformjacke und -mütze des Vaters greift das sowjetische Motiv des „Kindes als Erwachsenen“, der generationellen „Wachablösung“ auf. Familien besuchten immer noch das Fotoatelier, um sich in feierlich silbrigen Grautönen ablichten zu lassen. Ein kleines Mädchen im Kopftuch scheint von der beliebten Tafel der „Alenka“-Schokolade entsprungen zu sein, die ihrerseits als beliebte sowjetische Marke zum Erinnerungsort wurde. Die Kinderportraits, Klassenfotos und Familienschnappschüsse sind eindrückliche Zeichen dafür, dass sich die Erwachsenen in stürmischen Zeiten an 60 Archangel’skij, Vasˇi foto iz 90-ch. 61 Ebd.

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Abb. 8: Kinderfotos der 1990er-Jahre aus dem Flashmob von „colta.ru“, von links nach rechts: Andrey, Olja, Tanja. Alle Beispiele finden sich im Beitrag ohne Autor auf fishki.net: Nazad v 90-e. flesˇmob na fisˇkach [Zurück in die 90er. Flashmob bei fishki], URL: https://fishki.net/1674805-na zad-v-90-e-fleshmob-na-fishkah.html/gallery-2462462/ (abgerufen 15. 8. 2021)

vertraute Konventionen, Rückzugsorte und Sehgewohnheiten klammerten. Für sie hatte die Regierung Brezˇnevs mit ihren formelhaften Praktiken ein hohes Maß wahrgenommener Normalität und Stabilität des Alltags mit gesicherten Handlungsräumen hergestellt, die nun idealisiert wurde. Die sowjetische Kinderkultur mit ihren Pionierlagern, Trickfilmen und Kinderzeitschriften war für viele systemkritische, nonkonforme oder auch nur apolitische Erwachsene als Kunstschaffende oder Pädagoginnen ein sicherer Hafen gewesen. Nun wurde die heile Kinderwelt zum Fluchtraum für die Erwachsenen. Die Kinderfotos aus den 1990er-Jahren atmeten denn auch nicht die Atmosphäre des Aufbruchs. Sie waren Ausdruck des Versuchs, die Kinder – und damit auch sich selbst – so gut es ging vor den Härten der Gegenwart abzuschirmen. Sie reihen sich ein in andere eskapistische Alltagspraktiken wie das Lösen von Kreuzworträtseln62 oder die Begeisterung für lateinamerikanische Soaps.63 Die „Aufnahmen zum Andenken“ hatten nun einen anderen zeitlichen Bezug als zuvor: Sie dienten weniger dem vorweggenommenen Erinnern als der Selbstvergewisserung und Stabilisierung in der Gegenwart durch die Rückkehr in sowjetische Bildkonventionen. 62 Ol’ga Sˇevcˇenko, Krossvord. Lekarstvo ot odinocˇestva iz devjati bukv [Kreuzworträtsel. Medizin aus neun Buchstaben gegen Langeweile], in: Neprikosnovennyj zapas 18 (2001) 4, 109– 113. 63 Viktoria Dubizkaya, Der Mythos verdrängt den Logos! Die lateinamerikanische Telenovela im russischen Fernsehen, in: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (Hg.), Rußland – Fragmente einer postsowjetischen Kultur, Bremen 1996, 134–141; Birgit Beumers, The Serialization of Culture, or the Culture of Serialization, in: Birgit Beumers/Stephen C. Hutchings/Natalia Rulyova (Hg.), The Post-Soviet Russian Media. Conflicting Signals, London 2009, 159–177.

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Die bunten Schnappschüsse der Jugendlichen dokumentieren hingegen das Leben im neuen Jetzt. Sie zeigen, wie sich der radikale gesellschaftliche Wandel in die Körper einschrieb, wenn etwa Teenager mit offenem Hemd und Sonnenbrille breitbeinig auf der Rückenlehne einer Bank lümmelten (Abb. 9). Der vertraute Rahmen sowjetischer Inszenierungen war ebenso weggebrochen wie die soziale Kontrolle des öffentlichen Raums durch Patrouillen kommunistischer Jugendorganisationen oder vigilante ältere Frauen. Denn im öffentlichen Raum war zu Sowjetzeiten nicht nur das Fotografieren riskant, sondern auch das Verhalten hochgradig reguliert. Abweichungen wurden gerügt und auch bestraft. Nonkonforme Posen auf den Fotos der 1990er-Jahre waren Ausdruck der neuen Freiheiten.

Abb. 9: Misha (Quelle: Wie Abb. 8 auf fishki.net)

Lächeln in der Öffentlichkeit, ganz allgemein das Zeigen von Emotionen, war (und ist im Allgemeinen bis heute) unüblich und ein Zeichen von mangelnder Selbstkontrolle bis hin zur Respektlosigkeit und Aufmüpfigkeit, etwa anlässlich von Kontrollen durch die Sicherheitsorgane.64 Das galt auch für Gruppenfotos wie Klassenfotos, für Schülerportraits und Studioaufnahmen. Hier wurde nicht gelächelt. Aber auf den Fotos der 1990er gibt es alles: Blaue Haare, Grimassen, 64 Caroline Humphrey, To Smile and Not to Smile. Mythic Gesture at the Russia-China Border, in: Social Analysis 62 (2018) 1, 31–54; Diane Koenker, The Smile behind the Sales Counter. Soviet Shop Assistants on the Road to Full Communism, in: Journal of Social History (2021), 1–25.

Monica Rüthers, (Post-)Sowjetische Bildpraktiken und Albenkultur

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exzentrische Posen, runde Sonnenbrillen und Zigaretten im Mundwinkel, ernste und lachende Gesichter auf Parkbänken und auf Mauern im Stadtraum sitzend, zwischen Aufnahmen von Reisen in südliche Landschaften oder von Gesprächen auf Partys. Die neuen Technologien brachten zugleich auch wieder Konventionen mit sich. So findet sich unter den Einsendungen auch ein ganz braves Selbstportrait eines (ernsten) jungen Mädchens aus dem Fotoautomaten, in Farbe.65 Die Analyse der Flashmob-Fotos macht jenseits geschichtspolitischer Deutungskämpfe die generationenspezifische Erfahrung der 1990er-Jahre sichtbar: Eltern und Großeltern suchten in der Fortführung vertrauter Bildpraktiken Sicherheit, während die Jugendlichen neue Freiheiten und technische Möglichkeiten erprobten. Die Konvolute in den sozialen Medien können als neue Form von Alben gedeutet werden: Durch ihre Digitalisierung und das Hochladen lösen sich die einzelnen Bilder aus den Kontexten von Familienarchiven und treten in andere Bildzusammenhänge über, werden Teil ebenfalls zeitgebundener Narrative von Internet-Communities. Wirkung entfalten sie durch ihre Deutungen, das kollektive Betrachten und die neu entstehenden Erzählungen. Heute beugen sich die Menschen nicht mehr nur bei Familienanlässen über die Familienalben, sondern vernetzen sich, um gemeinsam auf ihre Jugend zurückzublicken. Bei der kollektiven Betrachtung der Fotos geht es nicht nur um einen selbstbestimmten Platz in der gemeinsamen Geschichte, sondern auch um die Frage, was aus den Träumen und der Freiheit der Jugend geworden ist.

VII.

Fazit

Die Wechselwirkungen zwischen Studiofotografie, Fotobüchern und Amateurund Knipserfotografie sind offensichtlich: Posen, Requisiten und das „Auge“ der Studiofotografie prägten auch die sowjetische Familienfotografie. Der wechselseitige Einfluss von offiziellen Medien wie Fotobüchern und privaten Fotoalben lässt sich am Wandel von der Pose zur Spontaneität im Tauwetter verfolgen, als Kindermotive mit Erneuerung verbunden waren und „Privataufnahmen“ in Fotobücher gelangten. In den 1970er-Jahren erstarrten die Kinder in Studioaufnahmen weiterhin in Posen, während jenseits davon im Künstlerischen wie im Privaten die Vielfalt blühte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erschien die

ˇ ugrinov, Stichijnyj flesˇmob s fotografijami iz 90-ch godov zachvatil fejsbuk [Spon65 Anton C taner Flashmob mit Fotos aus den 90ern erobert Facebook], URL: https://snob.ru/selected/en try/98061/?v=1444909663 (abgerufen 15. 8. 2021).

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Kindheit als Fluchtort im schwierigen Alltag. Kinderfotos blieben in einer sowjetischen Zeitkapsel. In den 1990er-Jahren waren plötzlich neue Technologien verfügbar. Farbfotografie wurde Standard, Fotoautomaten und Wegwerfkameras förderten neue Bildpraktiken, Fotogeschäfte kümmerten sich um den Rest. Auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflussten die Praktiken, etwa der Wegfall der sozialen Kontrolle im öffentlichen Raum. Fotografische Praktiken wurden Teil der Jugend- und Freizeitkultur. Mit den inszenatorischen Konventionen veränderte sich auch das Spektrum des Sicht- und Zeigbaren. Schließlich ergeben sich Erkenntnisse zur Einbettung der Fotos und Alben in zeitliche Bezugsgeflechte. Auffallend ist die spezifische Temporalstruktur des sowjetischen Kanons an Bildmotiven und -konventionen, der neben dem Neuen immer auch das Alte beibehielt und daher stilistisch heterogen, aber eben auch für verschiedene Generationen anschlussfähig war. Das zeigten die Beispiele von Studioaufnahmen und Schnappschüssen aus den 1950er- und frühen 1960erJahren, die in Komposition und Atmosphäre wie auch in der Technik Jahrzehnte auseinander zu liegen scheinen. Eine Zeitkomponente hatte auch der Sozialistische Realismus: Der variable, im Kern aber klassizistische Kanon hatte den Anspruch, ästhetisch ewig gültig zu sein und vermittelte dadurch Orientierung, Stabilität und Sicherheit. Politische Umbrüche brachten Zeitenwenden auch in den Bildpraktiken mit sich. In den 1990er-Jahren drehten die „Fotos zum Andenken“ in ihrer Funktion das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart um: Waren sie zu Sowjetzeiten eine Praxis vorweggenommenen Erinnerns, konnte der Besuch im Fotoatelier in Umbruchzeiten als Zeitreise in die Sowjetunion Erleichterung verschaffen. Ähnlich war es in den 1960er-Jahren, als sowjetische Großeltern mit ihren Enkeln einen Ausflug in Fotoateliers der vorrevolutionären Zeit unternahmen. Jugendliche eigneten sich hingegen neue Technologien und Bildpraktiken an, machten spontane Schnappschüsse, die den Augenblick festhielten und das neue Selbst in die Gegenwart einschrieben. Ihren „Platz in der Geschichte“ finden Fotos und Alben sowohl im Museum oder Archiv als auch in den Sozialen Medien. Sie stehen hier auch zur Verfügung, um die Geschichte zu deuten.

zeitgeschichte extra

Christian Angerer

„Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“. Diskursanalytische Anmerkungen zur Karriere eines Fotos im 20. und 21. Jahrhundert

I.

Quellenkritik

Anfang 1940 erschien der Prunkband „Oberdonau, die Heimat des Führers“.1 Rudolf Lenk (1886–1966), seit 1938 Landesrat für Erziehung, Kultus und Volksbildung, ab 1940 – nach Errichtung der Hoheitsverwaltung des Reichsgaues Oberdonau – Leiter der Abteilung für Erziehung, Volksbildung und Kultur- und Gemeinschaftsangelegenheiten,2 huldigt darin mit einer ideologiegetränkten landeskundlichen Beschreibung dem „Führer“ Adolf Hitler. Für den etwa die Hälfte des Bandes beanspruchenden Bildteil zeichnet der oberösterreichische Maler und Fotograf Albrecht Dunzendorfer (1907–1980) verantwortlich.3 Unter den von Dunzendorfer teils selbst angefertigten, teils ausgewählten Fotografien anderer befindet sich mit der Bildunterschrift „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“ laut Urheberverzeichnis, allerdings ohne Datierung, eine Aufnahme des Linzer Fotografen Robert Stenzel. Sie zeigt aus erhöhter Perspektive die zerklüftete Granitwand eines Steinbruchs mit darunter liegenden Blöcken und Gleisanlagen im Moment einer Sprengung.4 Gestützt auf diese Veröffentlichung im Jahr 1940 findet Stenzels Foto vom „Steinbruch bei Mauthausen“ Resonanz in jüngeren literaturwissenschaftlichen Publikationen über den Linzer Autor und Fotografen Heimrad Bäcker, in denen es als Foto des Steinbruchs im Konzentrationslager Mauthausen rezipiert wird.

1 Rudolf Lenk/Albrecht Dunzendorfer, Oberdonau, die Heimat des Führers, München 1940. 2 Vgl. Helmut Fiereder, Amt und Behörde des Reichsstatthalters in Oberdonau, in: Reichsgau Oberdonau. Aspekte 2, hg. v. Oberösterreichischen Landesarchiv [Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 4], Linz 2005, 279–346, 305–306; Dr. Rudolf Lenk (1886–1966), Land Oberösterreich, URL: https://e-gov.ooe.gv.at/bgdfiles/p3806/Lenk_Rudolf_Dr.pdf (abgerufen 28. 4. 2021). 3 Vgl. Albrecht Dunzendorfer, Mit Pinsel und Kamera. Bilder, Betrachtungen und Erlebnisse eines Malers, Freistadt 1977. 4 Foto-Sammlung Robert Stenzel, St 5295, Archiv der Stadt Linz (AStL).

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Abb.: „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“ (Quelle: Archiv der Stadt Linz)

Im Jahr 2001 griff der Literaturwissenschaftler Klaus Amann die undatierte Fotografie aus dem Band „Oberdonau, die Heimat des Führers“ auf, um anhand der ästhetisch komponierten menschenleeren Aufnahme darzulegen, wie 1940 der Öffentlichkeit – und damit auch dem damals vom Nationalsozialismus betörten 15-jährigen Heimrad Bäcker – ein verharmlosendes Bild des KZ-Terrors geboten werden sollte.5 Amann spricht dabei von einer „Aufnahme des Steinbruchs von Mauthausen“.6 Indem die Bildunterschrift aus „Oberdonau“ durch den bestimmten Artikel „des“ ergänzt wird, erscheint der abgebildete Steinbruch

5 Vgl. Klaus Amann, Heimrad Bäcker. Nach Mauthausen, in: Die Rampe. Porträt Heimrad Bäcker, hg. v. Land Oberösterreich, Linz 2001, 11–26. 6 Ebd., 15.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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nun schlechthin als „der“ – hier noch namenlose – Steinbruch des Konzentrationslagers Mauthausen. 2014 publizierte der Komparatist Patrick Greaney einen Beitrag über eine in den Nachkriegsjahrzehnten entstandene Aufnahme Heimrad Bäckers vom mittlerweile verwachsenen Steinbruch Wiener Graben, der zum ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen gehörte. Greaney zieht zum ästhetischen Vergleich die Fotografie von Robert Stenzel aus „Oberdonau“ heran und geht, Klaus Amanns Annahme folgend, davon aus, dass sie genau jene Granitwand im – nun namentlich genannten – KZ-Steinbruch Wiener Graben im Jahr 1939 zeige, die Bäcker Jahrzehnte später in der KZ-Gedenkstätte fotografiert hat.7 Damit ist in der Rezeption des undatierten Fotos die Identifikation des Steinbruchs „bei Mauthausen“ mit dem KZ-Steinbruch Wiener Graben bis ins angebliche topografische Detail vollzogen. Aber wann hat Robert Stenzel die Aufnahme tatsächlich gemacht, welcher Steinbruch ist abgebildet und wo wurde die Fotografie das erste Mal publiziert? Recherchen im umfangreichen Foto-Nachlass Stenzels im Archiv der Stadt Linz ergeben, dass die Fotografie zu seiner 1933 angefertigten Serie „Mauthausen – Steinbruch Schotterwerk“ gehört.8 Sie umfasst gut zwei Dutzend Fotos, die Arbeitsgänge in einem Mauthausener Steinbruch dokumentieren, zum Beispiel das Setzen von Sprengladungen, das Zerkleinern sowie Verarbeiten der Blöcke und den Transport von Material in den Schotterbrecher. Robert Stenzels Foto ist Teil einer Bildreportage über einen Mauthausener Steinbruchbetrieb zur Zeit der Ersten Republik, etwa fünf Jahre vor der Errichtung des Konzentrationslagers Mauthausen. Bei Durchsicht der illustrierten Beilagen der konservativen oberösterreichischen Tages- und Wochenzeitungen findet sich auch der erste Publikationsort des Fotos: Es wurde im Novemberheft 1933 von „Heimatland. Wort und Bild aus Heimat und Ferne“, einer vom „Katholischen Preßverein der Diözese Linz“ herausgegebenen Monatsschrift, in Franz Pfeffers Beitrag „Oberösterreichischer Granit. Ein Bildbericht aus Mauthausen“ ohne Nennung des Fotografen abgedruckt.9 Der ausführliche und reich bebilderte Bericht schildert die Arbeitsschritte der Steingewinnung im Heinrichsbruch, einem großen Steinbruch der Granitwerke Poschacher nahe dem Bahnhof am östlichen Ende des Marktes.10 Unter dem Foto ist zu lesen: „Wirkungsvolles Bild einer Sprengung. Aufgenommen von der Höhe des Steinbruchs“.11 Erwähnt wird im Bericht 7 Vgl. Patrick Greaney, The Wiener Graben, Covertext, URL: http://www.covertext.org/texts/t he-wiener-graben/ (abgerufen 28. 4. 2021). 8 Foto-Sammlung Robert Stenzel, St 5278–St 5304, AStL. 9 Franz Pfeffer, Oberösterreichischer Granit. Ein Bildbericht aus Mauthausen, in: Heimatland. Wort und Bild aus Heimat und Ferne [Novemberheft 1933], 658–666, 659. 10 Vgl. ebd., 658–659. 11 Ebd., 659.

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neben anderen Mauthausener Steinbrüchen auch der von der Stadt Wien betriebene Steinbruch Wiener Graben im westlichen Ortsteil Marbach.12 Dort stand jedoch 1933 die Arbeit bereits seit etwa einem Jahr still.13 Erst nachdem Österreich 1938 Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reiches geworden und der Wiener Graben von der SS-Firma Deutsche Erd- und Steinwerke übernommen worden war, ging der Steinbruch wieder in Betrieb, im Mai zunächst mit Zivilarbeitern,14 dann als Zwangsarbeitsstätte für die Häftlinge des am 8. August 1938 gegründeten Konzentrationslagers Mauthausen.15 Auf Robert Stenzels Fotografie ist also nicht der Steinbruch Wiener Graben im Konzentrationslager Mauthausen 1939 zu sehen, sondern der Heinrichsbruch der Granitwerke Poschacher in Mauthausen 1933. Welche Rolle das Foto spielte, als es im Entstehungsjahr erstmals publiziert wurde, und warum es schließlich als Foto des KZ-Steinbruchs aufgefasst werden konnte, soll eine Untersuchung der konkreten Umgebungen aus Text und Bild klären, in denen es jeweils auftritt. Dieser Ansatz einer historischen Diskursanalyse erlaubt es, das Foto als funktionale „Aussage“ zu begreifen.16 Mit dem historischen Wandel von „diskursiven Formationen“ im Sinn von „Aussagegruppen“,17 in die das Foto eingebunden wird, verändert sich auch seine Aussage.

II.

Diskurs 1933

Als 1933 Stenzels Fotoserie zur Steinbrucharbeit bei den Granitwerken Anton Poschacher in Mauthausen entstand, hatte in Österreich die ökonomische Notlage im Schatten der Weltwirtschaftskrise einen Höhepunkt erreicht. Für die Steinindustrie an der Donau setzte sich damit nur ein Niedergang fort, der nach dem Ersten Weltkrieg durch verlorene Absatzmärkte, ausbleibende Aufträge, Facharbeitermangel und die konkurrierenden neuen Baustoffe Beton, Asphalt und Kunststein begonnen hatte.18 Die Firma Poschacher entließ viele Arbeiter, oft gezielt Gewerkschaftsmitglieder, damit die in hohem Grad organisierte Mauthausener Arbeiterschaft geschwächt wurde.19 Mit der Ausschaltung des 12 Vgl. ebd., 658. 13 Vgl. Steinbrüche Mauthausen, Stadt Wien, URL: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Stein br%C3%BCche_Mauthausen (abgerufen 28. 4. 2021). 14 Vgl. Hans Marsˇálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, Wien 2006, 16. 15 Vgl. ebd., 29–30. 16 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, 126–127. 17 Ebd., 167–169. 18 Vgl. Josef Lindner, Granitwerke Anton Poschacher (1839–2010). Ein Unternehmen prägt eine Region, St. Pantaleon 2015, 40–43. 19 Vgl. ebd., 43.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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Parlaments durch die christlichsoziale Regierung unter Engelbert Dollfuß im März 1933 verschärften sich die Maßnahmen gegen das linke Lager: Verbot des bewaffneten sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes, Verbot der Kommunistischen Partei, Versammlungs- und Streikverbot.20 Um die bei Regionalwahlen aufstrebenden Nationalsozialisten zu bremsen, wurde auch die NSDAP verboten. Im Mai 1933 wurde die Vaterländische Front gegründet; sie sollte dann im Jahr 1934 nach dem niedergeschlagenen Februaraufstand der Schutzbündler, nach dem Verbot aller sozialdemokratischen Partei- sowie Gewerkschaftsorganisationen und mit der Anfang Mai in Kraft tretenden Verfassung des autoritären christlichen „Ständestaates“, der sich auf die katholische Kirche stützte, die austrofaschistische Einheitsbewegung bilden.21 Von politischer Repression gegen die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft ist in „Heimatland“ im November 1933 nicht die Rede. Hingegen beschreibt der in Mauthausen aufgewachsene Franz Pfeffer (1901–1966), der auch verantwortlicher Redakteur dieser christlichsozialen „repräsentative[n] Monatsschrift“ war,22 die erdgeschichtliche Formung des Granitgesteins, die Historie der Mauthausener Steinindustrie und die Verfahren der Steingewinnung und Steinverarbeitung. Hierbei gruppieren sich die Leitwörter des Textes um die Begriffe Heimat, Natur und Arbeit. Konstitutiv für den Bericht ist der enge Regionalbezug zu Oberösterreich, zum Mühlviertel, zu Mauthausen, wo das für die Ewigkeit haltbare „Urgestein“ Granit lagert und gewonnen wird.23 Mithilfe des Motivs Granit wird eine archaische, alles Geschichtliche überspannende Zeitdimension zwischen einst und immerdar geschaffen. Die elementare Wucht drückt sich sprachlich in den vielfach beschworenen „ungeheuren“ Steinwänden und „mächtigen“ Blöcken aus.24 Zwischen der im Granitsteinbruch zutage tretenden urtümlichen Natur und dem dort tätigen Menschen waltet laut Beschreibung eine enge Wechselwirkung. Während der Granit menschliche Züge annimmt, sein „Antlitz“ zeigt,25 sich nach der Sprengung als Block „sanft und schmerzlos von seinen Brüdern“26 trennt und später „irgendwo als mächtiges granitenes Mal von seiner Heimat träumen“ wird,27 besteht die Aufgabe des 20 Vgl. Hans Hautmann/Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik [Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4], Wien 1976, 161. 21 Vgl. Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938 [Politik und Zeitgeschichte 8], Wien/Berlin 2013, 147–152. 22 Georg Grüll, Dr. Franz Pfeffer, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 112 (1967) II. Berichte, 13–18, 14. 23 Pfeffer, Oberösterreichischer Granit, 658 und öfter. 24 Ebd., 660 und öfter. 25 Ebd., 658. 26 Ebd., 660. 27 Ebd., 662.

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Menschen in der zupackenden, harten und manchmal auch gefährlichen Arbeit mit dem Gestein: In der „ungeheuren Bresche, die Menschenhand hier in das Mühlviertler Urgestein geschlagen hat“,28 „rattern die Hämmer und Bohrer, Stahl auf Stein, in hellem, singendem Klingen“.29 Mensch und Stein verbinden sich durch die Arbeit in Kraft und Schönheit. Die beiden letzten kurzen Absätze des Berichts beklagen in melancholischer Stimmlage die Bedrohung dieser Einheit angesichts der häufigen Arbeitslosigkeit im Granitsteinbruch, verursacht durch „moderne billige“ Baustoffe, und erhoffen eine Rückbesinnung auf den „uralten heimischen Bodenschatz“, der nun meist „ungehoben im Schoß der Erde“ ruht.30 Mit ähnlicher Metaphorik notiert der Fotograf Robert Stenzel zum Besuch des Heinrichsbruchs 1933 in seinen Manuskripten: „Wieviel Wissen, Geschicklichkeit und Arbeit ist doch notwendig, um unseren guten Baustoff – den Granit – dem Schosse [sic] der Mutter Erde zu entreissen [sic].“31 Im Juni 1937 legt dann der von einem Anonymus gezeichnete Artikel „Granit aus Mauthausen“ (wie ein Stilvergleich vermuten lässt, wahrscheinlich auch von Franz Pfeffer verfasst) in „Welt und Heimat. Illustrierte Beilage zur Linzer ‚Tages-Post‘“ mit ganz ähnlichen Sprachbildern nach.32 Die meisten Fotografien des „Bildbericht[s] aus Mauthausen“ in „Heimatland“ 1933, die zum Teil von Stenzel, zum Teil von anderen Fotografen stammen, zeigen die beschriebenen Steinbrucharbeiten sehr sachlich. Sie sind der künstlerisch anspruchslosen Berufsfotografie des Bildjournalismus, der seit den 1920er-Jahren aufkam, zuzuordnen.33 Der Linzer Robert Stenzel (1898–1963) war ab 1932 selbständiger Pressefotograf.34 Seine umfangreiche Fotosammlung bietet eine folkloristische Dokumentation der Landschaften und Stadtansichten, des Brauchtums und Handwerks in Oberösterreich.35 Als sich der autoritäre „Ständestaat“ 1933 zu konstituieren begann, erhielt das Genre der Heimatfotografie eine politische Funktion.36 Foto-Ausstellungen und Fotobücher sollten bildkräftig untermauern, dass Österreich eine kulturelle Identität besitzt und au-

28 29 30 31 32 33 34 35 36

Ebd., 659. Ebd., 662. Ebd., 666. Granit! (maschinschriftlich), Pressefotograf Robert Stenzel (schriftlicher Nachlass), AStL. Vgl. Granit aus Mauthausen, in: Welt und Heimat. Illustrierte Beilage zur Linzer „Tages-Post“ 5 (1937) 25, 2–4. Vgl. Brigitte Reutner, Linzer Fotografie der Zwischenkriegszeit, in: KLICK! Linzer Fotografie der Zwischenkriegszeit. Von Berufsfotografen, Amateuren und Knipsern, hg. v. NORDICO Stadtmuseum Linz, Salzburg 2016, 88–107, 92–95. Vgl. Stenzel Robert, AStL, URL: https://stadtgeschichte.linz.at/bestand/archiv_uebersicht_de tails.asp?b_id=36;65;522 (abgerufen 28. 4. 2021). Foto-Sammlung Robert Stenzel, AStL. Vgl. Elizabeth Cronin, Heimatfotografie in Österreich. Eine politisierte Sicht von Bauern und Skifahrern, Wien 2015, 43.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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ßerdem für den Tourismus attraktiv ist.37 Soviel man weiß, beteiligte sich Robert Stenzel zumindest an zwei Ausstellungen, 1936 in Wels und Baden, mit Fotografien zum heimischen Handwerk.38 Im Zuge dieser Entwicklung des Genres bildete sich auch eine österreichische Heimatfotografie heraus, die sich zum Ziel setzte, Heimat mit künstlerischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen.39 Einige von Stenzels Steinbruch-Fotos messen sich am ästhetischen Anspruch, indem sie die in Franz Pfeffers Text pathetisch beschriebene elementare Beziehung zwischen Urgestein und Mensch im Kraftakt der Arbeit kongenial bebildern. Das trifft zum Beispiel auf ein Foto mit der Bildunterschrift „Druckluftbohrer und Hammer“ zu:40 Vor der Felskulisse des Steinbruchs schmiegt sich ein Arbeiter einem großen, diagonal liegenden Granitblock an, um ihn mit dem Pressluftbohrer zu spalten, während ein zweiter Arbeiter ihm gegenüber den schweren Hammer hoch durch die Luft schwingt, um die kleinen Steinquader rings um ihn zu zerkleinern. Komposition, Linienführung und Lichtgestaltung vermitteln eine dynamische Interaktion von Mensch und Natur. Dasselbe gilt für ein Foto, auf dem ein Arbeiter auf einem hohen Schotterberg schwungvoll eine Lore entleert.41 Und in dieser stilistischen Linie ist auch die Fotografie von der Sprengung im Steinbruch zu sehen. Obwohl – im Gegensatz zu den meisten anderen Fotos in Stenzels Mauthausen-Zyklus – Menschen im Bild fehlen, ist ihre Arbeit auch hier präsent. Gleise, bearbeitete Blöcke und vor allem die Sprengwolke zeugen von der Energie, mit der sich die Menschen am Granit abmühen. Gleichsam die Tonspur zur Fotografie liefert in Stenzels Manuskripten seine Beschreibung der Sprengung: „Da, gell zerreisst [sic] der erste Schuss die Stille, ein zweiter, fünf, zehn, viele zugleich, wie Artilleriekampf. Weisser [sic] Rauch flattert auf, Steine sausen pfeifend durch die Luft, prellen auf, fallen zurück. Mit jedem Schuss wird die weisse [sic] Wolke unter uns dichter und dichter, entzieht uns schliesslich [sic] den Blick in die Tiefe. Rasch, wie sie begonnen, verstummt wieder die Kanonade, weithin übers Land hallt noch das Donnern.“42

Eine dramatische Szenerie, und noch die sichtbaren Spuren dieser brachialen Arbeit formen ein ästhetisches Bild voller Spannungen. Licht und Schatten zeichnen scharfe Konturen in die zerklüftete Granitwand und zerlegen sie, verstärkt durch den Schwarz-Weiß-Kontrast, in vielfältige geometrische Körper; die 37 Vgl. ebd., 51, 89. 38 Vgl. Bio-Bibliografie Robert Stenzel, Albertina, URL: https://sammlungenonline.albertina.a t/biobibliographie/#65d7f217-f5c2–4ccd-95b2-f67a2193302b (abgerufen 28. 4. 2021). 39 Vgl. Cronin, Heimatfotografie, 28–31. 40 Pfeffer, Oberösterreichischer Granit, 661. 41 Ebd., 663. 42 Granit. Besuch in einem Granitsteinbruch in Oberösterreich (maschinschriftlich), Nachlass Pressefotograf Robert Stenzel (schriftlicher Nachlass), AStL.

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Draufsicht, verortet durch im Vordergrund erkennbare Baum- und Steinfragmente, verschafft dem Bild Höhe und Weite; und die aufsteigende Rauchwolke ruft den Eindruck einer raumbeherrschenden Bewegung hervor, die sich in den strahlenförmigen Gleisen, über den Bildausschnitt hinausweisend, fortsetzt. Als gemeinsamer Nenner von Robert Stenzels künstlerisch ambitionierten Steinbruch-Fotos der Arbeit am heimatlichen Urgestein erscheint die gekonnt ins Bild gesetzte kraftvolle Bewegung: Sie löst die harten Gegensätze zwischen Natur und Mensch auf und lässt sie in der Arbeit harmonieren. Damit beschwören diese Fotografien jene urtümliche Einheit von Mensch und Natur, von Kraft und Schönheit, die vor den Irrwegen der Moderne gerettet werden muss. Der Granitsteinbruch eignete sich gleichwohl als materielles wie – in Text und Bild – metaphorisches Reservoir für die konservative Heimatideologie der Zwischenkriegszeit, jedoch nur mit dem Vorbehalt der Möglichkeitsform: wenn es denn gelänge, Entfremdung und Arbeitslosigkeit zu überwinden. „Die kommenden Jahre werden aber hoffentlich auch hier Abhilfe schaffen […]“, merkt Franz Pfeffer 1933 an.43

III.

Diskurs 1940

„Rudolf L e n k und Albrecht D u n z e n d o r f e r haben bei F. B r u c k m a n n (München) einen prachtvollen Band ‚O b e r d o n a u , d i e H e i m a t d e s F ü h r e r s ‘ herausgebracht, der auf 68 Seiten Text, acht Farbtafeln, 120 Bildtafeln und zwei Kartenskizzen einen großartigen Blick auf dieses schöne, auch an Kunstschätzen reiche Land gewährt.“44 So wurde am 17. Jänner 1940 in der Presse berichtet. In seinem Nachwort erläutert Rudolf Lenk, dass die Anregung für das Buch auf den im Herbst 1939 verstorbenen Landeshauptmannstellvertreter und Gauamtsleiter für Kommunalpolitik Rudolf Lengauer zurückgeht. Da Lengauer die Artikel für den geplanten Sammelband nicht mehr redigieren konnte, übernahm Lenk die Aufgabe, auf Grundlage dieser Beiträge eine zusammenfassende Darstellung zu schreiben. Den umfangreichen Bildteil gestaltete „in monatelanger gründlicher Arbeit“ Albrecht Dunzendorfer.45 Den „prachtvollen Band“ gilt es im Kontext der Kulturpolitik in Oberdonau, wie Oberösterreich wenige Monate nach dem „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich amtlich genannt wurde, zu sehen. Grundlage dafür war Adolf Hitlers enge lebensgeschichtliche Verbindung zu Oberösterreich, 43 Pfeffer, Oberösterreichischer Granit, 666. 44 Kärntner Volkszeitung und Heimatblatt, 17. 1. 1940, 7 [Hervorhebungen im Original]. 45 Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, 65.

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insbesondere zu Linz, das er als Stadt seiner Jugend sehr schätzte. Dass Linz als „Heimatstadt des Führers“ die besondere Aufmerksamkeit Hitlers genoss46 und Oberdonau sich als „Heimatgau des Führers“ präsentieren konnte, schürte in Stadt und Land die Hoffnung auf einen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung.47 Allerdings entwickelten sich die Planungen für die „Patenstadt des Führers“ über die lokalen Behörden hinweg, und die hochfahrenden architektonischen Vorhaben beschränkten sich schließlich kriegsbedingt größtenteils auf Modelle.48 Wegen der Konzentration auf Linz erfuhr das Kulturleben abseits der Landeshauptstadt kaum Beachtung.49 Dennoch pflegten die Kulturverantwortlichen unentwegt und bis zum Ende das ideologische Bild einer „Heimat“, deren herausragende kulturelle und völkische Identität sich durch Adolf Hitlers Herkunft aus Oberösterreich bestätigt habe. Ein von Anton Fellner, seit 1941 „Kulturbeauftragter des Gauleiters“,50 herausgegebenes Buch feiert 1944 die kulturelle Produktion des Landes in einem Längsschnitt seit dem Mittelalter unter dem Titel „Unser Oberdonau. Ewiger Kraftquell der Heimat“.51 Wie die nationalsozialistische Heimatideologie Oberdonaus konstruiert war, lässt sich anhand von Lenks und Dunzendorfers 1940 erschienenem Band beobachten. In seinem Rundblick auf „Land“, „Geschichte“, „Menschen“ und „Kunst, Bildung, Dichtung“ beschreibt Lenk die Landschaftsformen, die Landesgeschichte, die „Nordrasse“,52 ihr Brauchtum und die Kunstschätze, um dann das „Dreigestirn“ „Bruckner, Stelzhamer, Stifter“53 als Zeugen für „die ungeheure Ganzheit von Natur und Volk“ aufzurufen,54 ehe er abschließend im Kapitel „Land und Führer“ das Schicksal des Volkes erfüllt sieht. Indem von der „innige[n] Durchdringung von Natur und Mensch“55 und von „vollendeter Harmonie“

46 Vgl. Walter Schuster, Aspekte nationalsozialistischer Kommunalpolitik, in: Fritz Mayrhofer/ Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 1, Linz 2001, 197–325, 316–317. 47 Vgl. Birgit Kirchmayr, „Kulturhauptstadt des Führers“? Anmerkungen zu Kunst, Kultur und Nationalsozialismus in Oberösterreich und Linz, in: Birgit Kirchmayr (Hg.), „Kulturhauptstadt des Führers“. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, Weitra 2008, 33–58, 38. 48 Vgl. Fritz Mayrhofer, Die „Patenstadt des Führers“. Träume und Realität, in: Fritz Mayrhofer/ Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 1, Linz 2001, 327–386, 374–376. 49 Vgl. Regina Thumser, „Der Krieg hat die Künste nicht zum Schweigen gebracht.“ – Kulturpolitik im Gau Oberdonau, in: Reichsgau Oberdonau. Aspekte 1, hg. v. Oberösterreichischen Landesarchiv [Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 2], Linz 2004, 127–173, 129–130. 50 Ebd., 142–143. 51 Anton Fellner (Hg.), Unser Oberdonau. Ewiger Kraftquell der Heimat. Ein deutscher Gau in Kunst und Dichtung, Berlin 1944. 52 Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, 39. 53 Ebd., 44. 54 Ebd., 51. 55 Ebd., 45.

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die Rede ist, in der sich „Volksstamm und Landschaft“ vereinigen,56 wird an Begrifflichkeiten des konservativen Heimatdiskurses angeknüpft. Doch „Kraft und Schönheit“,57 in der Mensch und Natur eins werden, entspringen nicht mehr bloß naturverbundener Arbeit, sondern einer weitaus größeren Bewegung, von welcher Arbeit nur ein Teil ist: dem schicksalhaften und ewigen Kampf des Volkes auf seinem Boden. Traditionelle Schlüsselwörter wie „Heimat“, „Natur“, „Land“ und „Landschaft“ werden eingeschmolzen in eine alles umfassende, aus dem „nordische[n] Blutserbe“58 hervorgehende rassenbiologische Weltanschauung. Die neuen Leitbegriffe, die Heimat konstituieren, sind Volk, Kampf und Schicksal. „Kampf um Volk, Reich und Freiheit war der Auftrag des Schicksals, ein granitener Wille hat ihn durch die Jahrhunderte auf starken, wenn auch oft blutenden Schultern, bis zur Stunde der Erfüllung in unseren Tagen getragen“, so leitet Lenk den Abschnitt über die Geschichte des Landes ein.59 Das „Walten des deutschen Schicksals“60 bedeutet mehr als Tradition, Mythos oder Denkfigur, es ist Verkörperung von „deutsche[m] Wesen“ in „deutscher Landschaft“.61 Dass die konservative Heimatideologie durch ihre Verklärung der Beziehung zwischen Mensch und Landschaft und durch die Gegnerschaft zur linken Arbeiterbewegung anschlussfähig war für ihre Transformation im Nationalsozialismus, zeigt sich auch in der Biografie der Akteure. Robert Stenzel war 1942 „Leiter der Fotostelle im Gaupropagandaamt Oberdonau“.62 Über Franz Pfeffer schreibt Georg Grüll in seinem Nachruf: „Die gewaltige Umwälzung im Jahre 1938 hinderte Franz Pfeffer nicht, nach seinem Grundsatze ‚Der Heimat treu‘, seine Kräfte soweit es nur möglich war, weiterhin zur Verfügung zu stellen.“63 1941/42 war er für das Amt des Kulturbeauftragten des Reichsstatthalters als heimatkundlicher Redakteur der Zeitschrift „Oberdonau“ und der „Kulturnachrichten aus Oberdonau“ tätig.64 Nach der NS-Zeit leitete er einige Jahre lang das Oberösterreichische Landesmuseum und stand zwei Jahrzehnte lang dem Institut für Landeskunde vor.65 Franz Pfeffer verkörpert die Kontinuität der 56 57 58 59 60 61 62

Ebd., 49. Ebd., 9. Ebd., 30. Ebd., 20. Ebd., 65. Ebd., 10. Hermann Rafetseder, Zur Geschichte von Gelände und Umfeld der Johannes Kepler Universität Linz, unter besonderer Berücksichtigung der NS-Zeit im Raum Auhof-Dornach, Linz 2016, 69, Fußnote 339. URL: https://www.jku.at/fileadmin/marketing/Presse_Savoy/New s/2018/Maerz/JKU_Gelaendegeschichte.pdf (abgerufen 28. 4. 2021). 63 Grüll, Dr. Franz Pfeffer, 14. 64 Vgl. ebd., 15. 65 Vgl. ebd., 15–16.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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oberösterreichischen Heimatkunde durch ideologische Brüche hindurch, von der Ersten Republik über Austrofaschismus und Nationalsozialismus bis in die Zweite Republik. Trotz solcher Kontinuität hebt sich die nationalsozialistische Überzeugung vom schicksalhaften Sein des Volkes in der Heimat grundlegend von konservativen Heimatvorstellungen ab. Während dort die Einheit von Mensch und Natur auch enttäuschter subjektiver Wunsch bleiben kann, wird sie nun als biologisch gegebene objektive Existenz begriffen; während sie dort als traditionelles Ideal gepriesen wird, fließt sie nun im Blut. Der Nationalsozialismus nimmt die organischen Vorstellungen des konservativen Heimatdiskurses auf und radikalisiert sie zum biologistischen Naturgesetz. Eduard Kriechbaum, ab 1938 Gauheimatpfleger,66 schreibt 1940 über die „Heimatpflege“, sie vom bloß ästhetischen Anliegen des Natur- und Denkmalschutzes abgrenzend und ihren Auftrag im „Kampf“ der „Rassen“ und Kulturen betonend: „Die Heimatpflege hat über den Sinn des Schönen und des Harmonischen hinausgehend einen tiefgreifend b i o l o g i s c h e n We r t . Die nationalsozialistische Weltanschauung belehrt uns darüber, daß [sic] die nordische Rassenartung des Deutschen im Kampf mit den Kräften der Natur zur Auslese gelangte. […] Der deutsch-nordische Mensch, für den die Natur eine Einheit bildet, und der amerikanisch-ökonomische Mensch, für den die Natur nur als Ausbeutungsgegenstand einen Wert hat, stoßen dabei immer wieder heftig zusammen, und Heimatpflege ist somit alles eher als eine ‚lyrische‘ Angelegenheit von Schwärmern. Es handelt sich bei der Heimatpflege vielmehr um einen Kampf, der die tiefen Wurzeln der Heimatliebe und Volkstumspflege immer vor Augen hat.“67

Im Topos der biologischen Verkörperung werden Mensch und Natur – „Blut und Boden“68 – völlig eins, Sein und Bewusstsein sind nicht mehr zu trennen, Vergangenheit und Zukunft gehorchen unausweichlich dem „deutschen Schicksal“. Damit schließt sich in der rassenbiologischen Heimatideologie jeder Riss, in den sich Selbstdistanz, Zweifel, Ironie oder Melancholie einnisten könnten. Dem Anspruch nach wird nun aus Schein Sein, aus Differenz Identität, aus Rhetorik Wesen, aus Konjunktiv Indikativ und aus metaphorischer Ausschmückung – man denke an Franz Pfeffers sprachliche Bilder in „Heimatland“ 1933 – metonymische Eindringlichkeit: In Rudolf Lenks Formulierungen treten die Begriffe Schicksal, Kampf, Volk, Führer, Heimat, Natur, Land als Synonyme auf, so dass 66 Vgl. Georg Gaigg/Alexander Jalkotzy, Volkskultur und Festkultur in Oberdonau, in: Reichsgau Oberdonau. Aspekte 1, hg. v. Oberösterreichischen Landesarchiv [Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 2], Linz 2004, 253–324, 258. 67 Eduard Kriechbaum, Heimatpflege. Bericht des Gauheimatpflegers, in: Jahrbuch des Vereines für Landeskunde und Heimatpflege im Gau Oberdonau 89 (1940), 335–341, 337 [Hervorhebung im Original]. 68 Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, 51.

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sie in den Satzkonstruktionen fast beliebig Platz tauschen können. Besonders bezeichnend für das nationalsozialistische Weltbild ist eine eigentümliche Dialektik von Statik und Dynamik. Was einerseits seit jeher in Blut, Volk und Boden ruht, strebt andererseits im Kampf seiner Erfüllung entgegen. Nomen, die das immer Gültige festhalten, verbinden sich mit Verben, die energische Bewegung vermitteln: Die „Urkraft des Seins“, so Lenk, „stößt“ durch „gleiches Blut der Tausende“ seit Tausenden von Jahren bis in alle Zeit.69 Albrecht Dunzendorfers Bildteil greift, eigene ästhetische Akzente setzend, mit Fotografien, Gemälden und Zeichnungen jene Dialektik der Heimat auf, die völkisch in sich ruht und sich zugleich kraftvoll bewegt. Porträts von Alt und Jung illustrieren den „nordisch-dinarische[n] Leistungstyp“70 oder das bäuerliche „Antlitz des Adels der Arbeit“;71 oft erscheint der „nordisch-dinarische“ Mensch als Kämpfer (noch verstärkt in der 3. Auflage des Bandes 1941): im Ringen des Bauern mit den Kräften der Natur, im Kriegsspiel der Kinder („Dorfbuben stürmen die ‚Maginotlinie‘“),72 im „Leistungskampf der Betriebe“,73 im oberösterreichischen Bauernkrieg 1626, im politischen Kampf des Nationalsozialismus um die Macht und schließlich im Aufmarsch der deutschen Wehrmacht; Gebirge, Gewässer und Wälder bebildern die heimatliche Naturlandschaft, Felder und Weiden die Kulturlandschaft, dazwischen immer wieder Szenen bäuerlicher Arbeit und bäuerlichen Brauchtums, Menschen in Trachten und heimische Volkskultur, Bauernhöfe und Stadtansichten mit der geschichtsträchtigen Architektur des Landes sowie Kirchen und Stifte mit ihren großen Kunstschätzen. Die Galerie der Heimat-Motive präsentiert Dunzendorfer in einer spannungsreichen Komposition, wie er sie ähnlich bereits 1938 im Bildteil eines Bandes über das obere Mühlviertel vorgelegt hat.74 Im Wandel der Jahreszeiten erschließen die Abbildungen die Geografie des Landes auf einer Reise von Süd nach Nord und von Ost nach West, sie gehen von der Vertikale der Gebirge in die Horizontale des Hügellandes, sie variieren die Perspektiven zwischen Panoramabild und Detailaufnahme und erzeugen durch die abgebildeten Motive einen Wechsel zwischen Tempo und Stillstand. Auch Robert Stenzels Fotografie vom „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“ befindet sich inmitten einer wirkungsvoll rhythmisierten Bildstrecke,

69 Ebd., 9. 70 Rudolf Lenk/Albrecht Dunzendorfer, Oberdonau, die Heimat des Führers, München 1941, Bildteil, 94. 71 Ebd., 117. 72 Ebd., 39. 73 Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, Bildteil, 118. 74 Otfried Kastner, Das obere Mühlviertel, sein Wesen und seine Kunst. Bildschmuck von A. Dunzendorfer [Mühlviertel 3], Wien 1938.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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die der Donau folgt.75 Sie beginnt mit einem statischen Luftbild der Schlögener Schlinge und mit dem trägen Gewässer der Donauauen bei Aschach, bevor sie mit der Schiffmühle bei Kirchberg ob der Donau Fahrt aufnimmt; das nächste Foto vom „Windrad auf dem Granithochland“76 beschleunigt diese Bewegung, überträgt sie vom Wasser ins Element der Luft, aber gleichzeitig ans Land entlang der Donau, und leitet sie, die Motive Granit und Luft fortsetzend, weiter zu Stenzels Aufnahme vom Steinbruch mit der Sprengwolke;77 dann kehrt die Bilderfolge zurück zum Wasser, verringert das Tempo wieder mit einem Foto des breiten Donauflusses bei Neuhaus, kombiniert Erstarrung und Dynamik in einem Schnappschuss vom Eisstockschießen, lässt im nächsten Bild Eisschollen langsam auf der Donau vorbeitreiben, um mit einem Foto vom nächtlichen „Lichterzauber“78 an der Linzer Donaubrücke, der das Element des Feuers symbolisiert, zu enden. Durch beschleunigte und verlangsamte Bewegung werden die vier das Land formenden Elemente präsentiert, wobei Stenzels dynamisches Foto vom Granitsteinbruch eine Station in diesem Zyklus darstellt. So wie die Ästhetik der Bewegung diese Bildstrecke bestimmt, spielt sie im gesamten Bildteil des Buches eine wichtige Rolle, als Bewegung in der Natur, bei der Arbeit, im Spiel, in der Politik, im Kampf, im Krieg. Albrecht Dunzendorfer veröffentlichte Anfang 1937 in „Welt und Heimat. Illustrierte Beilage zur Linzer ‚Tages-Post‘“ den Aufsatz „Das Problem der Bewegung in Lichtbildnerei und Kunst“. Darin erklärt er am Beispiel der Wintersportfotografie, worin das Geheimnis des gelungenen „Sportbildes“ liegt: „Im Erfassen des richtigen Bewegungsaugenblickes.“79 Falls dieser Moment des Übergangs getroffen wird, dann – so Dunzendorfer, Auguste Rodin zitierend – erkennt man im Werk „noch einen Teil dessen, was war, man entdeckt aber auch schon zum Teil das, was im Entstehen begriffen ist. Dadurch erhalten wir die Illusion, die Bewegung zu einem geschlossenen Ganzen sich runden zu sehen.“80 Dunzendorfer ergänzt, dass in der Fotografie eine leichte Unschärfe, die durch längere Belichtungszeit entsteht, diesen Effekt noch verstärken kann.81 Viele Fotografien im Band „Oberdonau“ erscheinen als Musterbeispiele für diese Bewegungsästhetik, etwa wenn ein Mensch und zwei Pferde gegen den „Schneesturm im Dorf“ ankämpfen,82 wenn die „Ennsflößer“83 durch die Stromschnellen steuern oder wenn ein Eisstock75 76 77 78 79 80 81 82 83

Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, Bildteil, 52–59. Ebd., 54. Ebd., 55. Ebd., 59. Albrecht Dunzendorfer, Das Problem der Bewegung in Lichtbildnerei und Kunst, in: Welt und Heimat. Illustrierte Beilage zur Linzer „Tages-Post“ 5 (1937) 1, 6–7, 6. Ebd. Vgl. ebd., 6–7. Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, Bildteil, 9. Ebd., 16.

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schütze beim „Volkssport“84 schwungvoll ausholt. Für Albrecht Dunzendorfer war offenbar die Ästhetik der Bewegung das bestimmende Prinzip bei der Auswahl und Zusammenstellung des Bildmaterials in „Oberdonau“, um dem rassenbiologischen Heimatdiskurs eine visuelle Form zu geben. Diese Ästhetik erlaubt es, „Kraft und Schönheit“85 der Heimat, des Volkes und seines Kampfes ins Bild zu setzen. So gesehen enthält Robert Stenzels Steinbruch-Foto aus dem Jahr 1933 geradezu in nuce jenes Wechselspiel von Ruhe und Bewegung, von „Urkraft“ des Landes und schicksalhaftem Kampf, von festgefügtem Granit und explosiver Energie, das dem nationalsozialistischen Heimat- und Weltbild entspricht. In der schnöden Realität der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik allerdings wurden Steinbrüche manchmal zu hässlichen Narben in kostbarer Landschaft. Darum drehte sich ein ab 1939 ausgetragener Streit zwischen der Wasserstraßendirektion Wien und den Naturschutzbeauftragten für Ostmark und Oberdonau über eine Reihe von Steinbrüchen am Donauufer zwischen Passau und Wien, die für den Ausbau der Wasserstraße angelegt werden mussten, aber die Naturlandschaft des Donautals verunstalteten.86 Die „Steinbruchsdebatte“ endete 1942/43 damit, dass der Natur- und Landschaftsschutz, nicht zuletzt kriegsbedingt, hintangestellt wurde.87 Der völkisch aufgeladenen Symbolkraft des Steinbruchs in ästhetischen Repräsentationen konnten solche Konflikte keinen Abbruch tun. Einen aufschlussreichen Kontext zur diskursiven Funktion von Robert Stenzels Steinbruch-Foto im Band „Oberdonau“ liefern einige 1938 in der heimischen Presse erschienene Kurzgeschichten, die um das Motiv des Steinbruchs kreisen. Bernhard Schulz blendet mit seiner Erzählung „Das Denkmal“ zurück in die Zeit der großen Arbeitslosigkeit. Irgendwo im Deutschland des Jahres 1932 ergreifen brotlose Steinbrucharbeiter selbst die Initiative, säubern den von Ginster überwucherten Steinbruch, richten die verrosteten Schienen und beginnen mit dem „Sprengen, Abdecken und Kippen“, weil sie aus „hellgrauen Quadern“ ein „Ehrenmal“ für die Gefallenen des Weltkrieges in der Gemeinde errichten wollen.88 Als es nach einem Jahr fertig ist, „da hatte sich die Wetterfahne auf des Reiches Dach noch einmal knarrend gedreht, daß [sic] der Rost nur so stob“, und die Männer, die ihre zunächst unbesoldete „Pflicht“ getan haben, werden nun nicht nur mit der Wiederaufnahme des Steinbruchbetriebes, sondern auch mit 84 Ebd., 57. 85 Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, 9. 86 Vgl. Ortrun Veichtlbauer, Wasserbaukultur im Nationalsozialismus, in: Bertrand Perz/Gabriele Hackl/Alexandra Wachter (Hg.), Wasserstraßen. Die Verwaltung von Donau und March 1918–1955, Wien 2020, 287–306, 297–302. 87 Ebd., 301. 88 Bernhard Schulz, Das Denkmal, Tages-Post, 21. 7. 1938, 3.

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dem Gefühl einer verschworenen Gemeinschaft der Kämpfer für ihr Volk belohnt, über die Zeiten hinweg: „[…] als kämpften sie verbissen weiter in einer Front, als sei gestern nicht heute und heute nicht gestern: sie waren miteinander eine Kraft und ein Wille, Tote und Lebende.“89 Auf ganz ähnliche Weise wird der Steinbruch zum Symbol der schichtenübergreifenden „Volksgemeinschaft“ in Rudolf Witzanys Erzählung „Der Student im Steinbruch“. Ein junger Mann, ohne Beschäftigung nach seinem Studium, schaut mit dem nagenden Gefühl, bloß ein „unnützer Fresser“ zu sein, den Arbeitern in einem Granitsteinbruch des Böhmerwaldes zu, bis er sich schließlich selbst im Steinbruch anstellen lässt.90 Nachdem er einem alten Arbeiter durch beherztes Eingreifen das Leben gerettet hat, bedankt sich dieser mit einem einfachen Wort aus dem „Schützengraben“: „Vergelts Gott, Kamerad“; dadurch wird der Student, der den anderen zunächst ein „Fremder“ war, nun allen zum geachteten „Kameraden“: „Und er lernte das Wort des alten Arbeiters verstehen. Und er übersetzte es für das ganze Volk. Denn was sind wir denn andres, wir deutschen Menschen, als Kameraden, die das Schicksal auf Gedeih und Verderb zusammengeschmiedet hat?“91 Eine eigene Note fügt dem Steinbruch-Motiv Bruno Brehm mit seiner Erzählung „Im Steinbruch“ hinzu. Er erzählt von einem Familienausflug in einen verlassenen Steinbruch, der als Abenteuerspielplatz dient. Dort begegnet die Familie einem sonderbaren vierzehnjährigen Jungen, der durch ernstes Einzelgängertum und äußerstes Geschick im strategischen Ballspiel auffällt. Der Junge ist von einfacher Herkunft, strahlt aber große Autorität aus, sein kleiner Bruder folgt ihm auf den Pfiff. „Ebenso still und würdig wie er aufgetaucht, zieht sich unser Gast wieder zurück. Er pflanzt sich auf einer der wallartigen Erhebungen auf, verschränkt die Arme, steht breitbeinig da und blickt vor sich hin ins Leere. Uns sieht er nicht mehr.“92 Kaum verhohlen zeichnet Brehm hier vor der Kulisse des Steinbruchs eine Führer-Figur. Sie kommt aus dem Volk, ragt aber durch ihre einsame Entschlossenheit über das Volk hinaus und blickt visionär in die Ferne. Der Steinbruch, so lässt sich resümieren, wird in diesen Erzählungen aus Zeitungen des Jahres 1938 zum erdverbundenen Mythos von „Volksgemeinschaft“, Kampf und Führer stilisiert. Dass sich Robert Stenzels Steinbruch-Foto für solche Konnotationen eignete und sich auch deshalb besonders für den repräsentativen „Oberdonau“-Band anbot, darf gefolgert werden. Der nationalsozialistische Heimatdiskurs in „Oberdonau“ beschwört in Text und Bild mit großer Emphase die homogene Identität der deutschen „Volksgemeinschaft“. „Das Buch will“, so Lenk im Nachwort, „[…] die Herzen der Heimat 89 Ebd. 90 Rudolf Witzany, Der Student im Steinbruch, Kleine Volks-Zeitung (Sonntagsbeilage), 25. 9. 1938, 16–17, 16. 91 Ebd., 17. 92 Bruno Brehm, Im Steinbruch, Tages-Post, 24. 12. 1938, 15–16, 16.

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und des ganzen großen Vaterlandes weit öffnen für das Walten des deutschen Schicksals, das Land, Volk und Führer in seinen Händen trägt.“93 Was jenseits dieser gezogenen Grenzen liegt, existiert zwar indirekt als innerer oder äußerer Feind im schicksalhaften Kampf des Volkes, aber ihm gebührt weder in den „Herzen der Heimat“ noch in der euphorischen Selbstvergewisserung der „Volksgemeinschaft“ ein Platz. Ab Sommer 1938 bestand das von Gauleiter August Eigruber bereits Ende März angekündigte österreichische Konzentrationslager für die „Volksverräter“94 beim Steinbruch Wiener Graben in Mauthausen. Der öffentlich wahrnehmbare Diskurs zum Konzentrationslager Mauthausen blieb jedoch auf seltene kurze Meldungen über Kriminalfälle im Chronikteil der Zeitungen beschränkt, z. B. als im November 1939 über die Festnahme eines „aus dem Lager Mauthausen entsprungenen Sträfling[s]“ berichtet wurde.95 Auch wenn viele gerüchteweise über Vorgänge im „Lager Mauthausen“ erfahren haben – beabsichtigt war eine solche Assoziation zu Stenzels undatiertem Steinbruch-Foto für eine heimatideologische Lektüre des Bandes „Oberdonau“ 1940/41 gewiss nicht.

IV.

Diskurs 2001

Die vom Land Oberösterreich herausgegebene Literaturzeitschrift „Die Rampe“ widmete 2001 ein Heft dem Porträt des Autors Heimrad Bäcker (1925–2003). Bäcker, geboren in Wien, aufgewachsen in Ried im Innkreis und Linz, war seit 1938 Mitglied der Hitler-Jugend, wurde mit 16 Jahren Volontär der Linzer „Tages-Post“, trat 1943 in die „Presse- und Fotostelle der Gebietsführung der HitlerJugend“ ein, wurde Mitglied der NSDAP und brachte es in der HJ bis zum Gefolgschaftsführer.96 Bäcker schwärmte für den Nationalsozialismus und für Hitler. Manche Texte des 17- bis 19-Jährigen sind – wie Bäcker später selbst diagnostizierte – von „gefährlicher, imbeziler Verehrungswut“.97 Nachdem der Weltkrieg beendet und das NS-Regime zusammengebrochen war, brachten die US-Amerikaner Bäcker und viele andere Nationalsozialisten im Zuge der ReEducation in das befreite Konzentrationslager Mauthausen, um sie mit ihren Verbrechen zu konfrontieren: „Ich begriff es nicht in seinem vollen Umfang. Erst durch ununterbrochene Reflexion und durch das Bemerken der noch lange 93 Lenk/Dunzendorfer, Oberdonau, 65. 94 Bollwerk Salzkammergut. Oberösterreich bewacht künftig alle Volksverräter des Landes, Völkischer Beobachter. Wiener Ausgabe, 29. 3. 1938, 6. 95 Guter Fang in Altenfelden, Tages-Post, 28. 11. 1939, 3. 96 Heimrad Bäcker, Über mich, in: Die Rampe. Porträt Heimrad Bäcker, hg. v. Land Oberösterreich, Linz 2001, 89. 97 Heimrad Bäcker, nachschrift, Linz/Wien 1986, 137.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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nachwirkenden Anfälligkeit für den idealischen Schmarrn der NS-Ideologie entfernte ich mich allmählich von diesem Gedankengut.“98 Heimrad Bäcker begann Dokumente und Forschungsliteratur zu den nationalsozialistischen Verbrechen intensiv zu studieren. Über Jahrzehnte hinweg hielt er die Überreste der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen fotografisch fest.99 Bäcker verstand seine fotografische und literarische Arbeit als lebenslangen „Prozeß [sic] der Aufhebung von Sätzen“, die er als jugendlicher Anhänger des Nationalsozialismus geschrieben hatte.100 Die Summe seines literarischen „Prozesses“ legte er mit den beiden Bänden „nachschrift“ (1986) und „nachschrift 2“ (1997) vor. Darin verflechten sich die Stränge der Dokumentation und der experimentellen Literatur, mit der sich Bäcker als Herausgeber der Linzer Zeitschrift „neue texte“ und der „edition neue texte“ beschäftigte. Indem die „nachschrift“ Fragmente aus Texten und Quellen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bzw. aus historischen Darstellungen zitiert und montiert, legt sie den in Formulierungen, Abkürzungen und Zahlen verklausulierten Schrecken des Massenmordes frei. Klaus Amann rekonstruiert in seinem Beitrag „Heimrad Bäcker. Nach Mauthausen“ Bäckers biografischen sowie literarischen Weg bis zur „nachschrift“. Mauthausen sei, so Amann, Heimrad Bäckers „Ausgangs- und Zielpunkt“, „seine sprachliche und seine reale Topographie“ seien „zum Mittelpunkt seines Lebens und seiner Arbeit geworden“.101 Doppeldeutig spielt der Untertitel des Beitrags darauf an, dass Bäcker zunächst als nationalsozialistischer Funktionär gezwungen wurde, das befreite Lager zu sehen, und dass er sich dann in den Jahren nach 1945 in seltener Radikalität seiner nationalsozialistischen Vergangenheit stellte. Die zentrale Thematisierung von Mauthausen verweist auf die sowohl bei Bäcker als auch bei Amann im Subtext lesbare Frage, wie es zu erklären sein mag, dass sich der junge Mann als Anhänger des Nationalsozialismus zum Komplizen des Verbrechens machte. Zur Beantwortung dieser Frage beleuchtet Amann die Darstellung des Landes Oberösterreich bzw. Oberdonau in Publikationen um 1940, welche Bäcker als Jugendlicher gelesen haben könnte. Exemplarisch zitiert Amann einen Ausschnitt aus Franz Tumlers Text „Die Landschaft Oberdonau – der Heimatgau des Führers“, der 1940 in Tumlers Buch „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches“ erschien.102 In Stifterschem 98 Judith Veichtlbauer/Stephan Steiner, Heimrad Bäcker. „Die Wahrheit des Mordens“. Ein Interview, in: Die Rampe. Porträt Heimrad Bäcker, hg. v. Land Oberösterreich, Linz 2001, 85–88, 85. 99 Heimrad Bäcker, EPITAPH, Linz 1989. 100 Ebd., 53. 101 Amann, Heimrad Bäcker, 11. 102 Ebd., 12. Franz Tumlers Text war in einer Vorstufe bereits 1935/36 in der deutschen nationalkonservativen Literaturzeitschrift „Das Innere Reich“ publiziert worden.

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Tonfall zeichnet die Passage ein Bild von vielfältiger landschaftlicher Schönheit und bäuerlicher Gemeinschaft im Kreislauf der Natur. Amann konfrontiert Tumlers völkische Idylle mit dem gleichzeitigen Sterben von oberösterreichischen Soldaten im Krieg, mit dem Gestank aus den Krematorien von Mauthausen und Hartheim sowie den zahlreichen zur Zwangsarbeit nach Oberdonau Verschleppten im „Tumlerschen Bauernland“, damit sichtbar werde, wie solche Texte die letztlich „tödlich[e]“ „Verbindung von Blut und Boden“ „bewußt [sic] in Kauf genommen“ und „mit literarischen Ansichten des Landes kaschiert und unkenntlich zu machen versucht“ haben.103 Die Wortwahl verdeutlicht, dass Amann Tumlers Text als Propaganda im Sinne bewusster Vertuschung der Verbrechen auffasst. Wenn er in der Folge als weiteres Beispiel für mögliche Lektüre des jungen Heimrad Bäcker den Band „Oberdonau, die Heimat des Führers“ von Lenk und Dunzendorfer behandelt, so geschieht dies in derselben Stoßrichtung. Denn der Heranwachsende, dessen sozial deklassierte Familie durch den Nationalsozialismus einen Aufstieg erlebte und der in der HitlerJugend – trotz seiner leichten, auf eine Kinderlähmung zurückgehenden Behinderung – Anerkennung in einer Gemeinschaft fand, sei anfällig gewesen für die „Wirkung der pseudoreligiös verbrämten Heils- und Erlösungspropaganda der Nazis“;104 sie habe ihn verführt zu „pathetische[n] Andachtsübungen eines jugendlich Begeisterten und Gläubigen, eines Ministranten des Führers gleichsam“.105 Sobald dieser jugendliche „Tor“106 1940 den Band „Oberdonau“ aufschlagen mochte, sah er die Darstellung der „Landschaft als Metapher für eine politische Erlösungsgeschichte“, aufgeboten „zur bloßen Kulisse für die Kindheit des Auserwählten“,107 den Bäcker bewunderte. Damit ist der interpretative Rahmen umrissen, den Amann entwirft, ehe er auf die in „Oberdonau“ enthaltene Fotografie Stenzels vom „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“ zu sprechen kommt, um sie als „eine Aufnahme des Steinbruchs von Mauthausen“ misszuverstehen.108 Das Missverständnis bietet sich geradezu an, weil im etablierten Interpretationsschema die Optik auf gezielte Täuschung eines empfänglichen Erlösungsbedürftigen durch Propaganda eingestellt ist. So erscheint das Foto quasi zwangsläufig als Propaganda-Bild des KZSteinbruchs. Der Zweck des Fotos bestehe darin, die Verbrechen im Konzentrationslager Mauthausen zu verschleiern, analog zu den „Tarnwort[en]“, mit denen die Nationalsozialisten ihre Untaten „für die Gläubigen“ „unkenntlich

103 104 105 106 107 108

Ebd. Ebd., 14. Ebd., 13. Ebd., 14. Ebd., 13. Ebd., 15.

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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machten“.109 Amann beschreibt die „ästhetische Manipulationsabsicht und Manipulationskraft“ dieses künstlerisch gestalteten Bildes, das „dementieren“ sollte, „was an Terror und Angst von diesem Ort ausging“, „das es den Betrachtern, unter ihnen vielleicht auch Heimrad Bäcker, leicht machte zu glauben, was geglaubt werden sollte und das ganz leicht als Beweis dagegen genommen werden konnte, was andere als angebliches Wissen verbreiteten.“110 Amanns Interpretation löst das Foto aus dem Heimatdiskurs des „Oberdonau“-Bandes heraus und stellt es in eine andere „diskursive Formation“,111 nämlich jene von Heimrad Bäckers Verführung und Täuschung durch Propaganda. Dadurch ändern sich Funktion und Aussage des Fotos. Obwohl Robert Stenzels Fotografie aus dem Jahr 1933 stammt und der abgebildete Steinbruch den Heinrichsbruch der Firma Poschacher zeigt, ist es freilich denkbar, dass sie 1940 von der Leserschaft als KZ-Ansicht rezipiert wurde: Wer vom Konzentrationslager Mauthausen gehört hatte, konnte das undatierte Foto vielleicht auf den Steinbruch des Lagers beziehen und sich von schlimmen Gerüchten entlastet fühlen. Doch im diskursiven Kontext des Buches „Oberdonau“ fungiert der „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“ als ein Heimat-Bild, das zur Identifikation mit dem großen Begeisterungsstrom der „Volksgemeinschaft“ beitragen soll. Offenbar ist die verbreitete Nicht-Wahrnehmung der Verbrechen nicht so sehr einer Manipulation durch Propaganda anzulasten, sondern einer in nationalsozialistischen Diskursen festgelegten Wahrnehmungsverweigerung. Mit hochoffiziellen Publikationen wie „Oberdonau“ feiern die Begeisterten sprach- und wirkmächtig sich selbst in ihrer „Volksgemeinschaft“, während die – natürlich „zu Recht“ – Verfolgten in Randnotizen der Presse und schließlich in hermetische Vernichtungsbürokratien abgedrängt werden, bis sie dem Blick und Wort entschwinden. Wie diese Regelung sprachlich funktioniert, darüber kann eine Untersuchung der diskursiven Formation, also des verdichtet auftretenden konkreten Wort- und Bildmaterials, und der „Formationsregeln“,112 also z. B. der mit Autorität versehenen sprechenden Instanzen, einigen Aufschluss geben; das wurde im III. Kapitel am Band „Oberdonau“ zu zeigen versucht. Die Diskursanalyse besitzt im Übrigen durch solch genauen Blick auf das Sprachmaterial, als „eine erneute Schreibung“ des Geschriebenen,113 einige Ähnlichkeit mit Bäckers literarischen Verfahren in der „nachschrift“. Dort bringt er mittels Zitat und Montage mörderische Dokumente zum Sprechen, etwa wenn er die amtlichen Abkürzungen der Konzentrationslager, darunter „Mau.“ für Mauthausen, in

109 110 111 112 113

Ebd., 14. Ebd., 15. Foucault, Archäologie des Wissens, 58. Ebd. Ebd., 200.

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einer vierzehn Mal variierten Zeile seriell aneinanderreiht.114 Bäcker kommentiert: „Der Rotation des Textes entspricht die rotierende Situation, die auch Rotation der Häftlinge und der Statistik war.“115 Zum Teil unveröffentlichte Notizen und Briefe Heimrad Bäckers, auf die sich Amann stützt, gehen analytisch einen Schritt weiter als Amanns Darstellung, die den Jugendlichen als Opfer nationalsozialistischer Verführung zeigt.116 Wiederholt gelangt Bäcker bei seiner bohrenden Selbstbefragung an den Punkt des Selbstmisstrauens, ob er sich aus eigener Kraft jemals aus der Verblendung, die keine Verbrechen sah, hätte befreien können – und wollen. „Idealisch“ hingegeben an „Volk“, „Gemeinschaft“, „Opfer“ und „Tod“, schien es „nicht nur für ihn und seine begrenzte und beschränkte Idealität undenkbar“, dass es Verbrechen waren, die geschahen.117 „Und hätte ich von den Opfern erfahren, den Morden – wann hätte ich geglaubt, daß [sic] es sie gab? Hätte ich (oder habe ich) es verdrängt, womöglich gutgeheißen?“118 Der junge Heimrad Bäcker und seinesgleichen benötigten wohl kein Propagandafoto, um über ein Lager Mauthausen beruhigt zu werden. Ihnen schienen Volk und Heimat in schönster Ordnung zu sein, auch mit einem solchen Lager.

V.

Diskurs 2014

Der US-amerikanische Germanist und Komparatist Patrick Greaney übersetzte gemeinsam mit Vincent Kling die „nachschrift“ von Heimrad Bäcker ins Englische.119 Damit erschloss er Bäckers Texte für die vor allem in den USA um 2000 einsetzende literarische Strömung des konzeptuellen Schreibens, die Bäcker als einen ihrer Vorläufer betrachtet. Die seriellen Texte der „conceptual poetry“ laden nicht zum Lesen ein, sondern zur Reflexion der Idee, die der Textanordnung zugrunde liegt.120 Auf der Website „covertext.org“ werden Diskussionsbeiträge zum konzeptuellen Schreiben und zur Konzeptkunst präsentiert, darunter Patrick Greaneys 2014 entstandener Text „The Wiener Graben“ über ein Steinbruch-Foto von

114 Bäcker, nachschrift, 38. 115 Ebd., 134. 116 Zur Kritik an der (Selbst-)Deutung Bäckers als „Opfer“ siehe Dirk Rupnow, Die Unbeschreibbarkeit des Beschreibbaren: Anmerkungen zu Heimrad Bäckers nachschriften, in: Modern Austrian Literature 36 (2003) 1/2, 17–31, 23–25. 117 Heimrad Bäcker, Unveröff. Notiz, zit. n. Amann, Heimrad Bäcker, 19. 118 Heimrad Bäcker, Unveröff. Notizen, zit. n. Amann, Heimrad Bäcker, 14. 119 Heimrad Bäcker, transcript. Translated by Patrick Greaney and Vincent Kling, Dallas 2010. 120 Vgl. A Brief Guide to Conceptual Poetry, Covertext, URL: https://poets.org/text/brief-guide -conceptual-poetry (abgerufen 28. 4. 2021).

Christian Angerer, „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“

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Heimrad Bäcker.121 Bäckers Aufnahme ist eine der zahlreichen, die er zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren in Mauthausen und Gusen angefertigt hat. Sie zeigt, in Schwarz-Weiß gehalten, einen Tümpel im ehemaligen KZ-Steinbruch mit der Felswand im Hintergrund. Da er Amanns Darstellung folgt, zieht Greaney zum Vergleich Stenzels Foto aus „Oberdonau“ heran und nimmt an, es handle sich um „the same wall later photographed by Bäcker“, aufgenommen „during the Nazi operation of the camp“.122 Von der Beobachtung, dass keine Menschen auf dem Foto zu sehen sind, leitet Greaney – unzutreffend – für den ganzen „Oberdonau“-Band ab, dieser mache Menschen sowie Arbeit in der Landschaft unsichtbar, um die absolute Identität von deutschem Volk und deutschem Land, von „Blut und Boden“, zu demonstrieren. Im Mittelpunkt von Greaneys Betrachtung steht der Vergleich der beiden Fotografien. Obgleich sich, so Greaney, den abgebildeten Steinbruchszenen unterschiedliche Wirkungen zuschreiben ließen, dem Foto Bäckers eine melancholische und idyllische, dem Foto Stenzels eine monumentale und (angesichts der Bildästhetik überraschenderweise) statische, verrate nichts an Stenzels Foto „its fascist history“123 und nichts an Bäckers Bild eine kritische Haltung. Diese entstehe erst in der Auseinandersetzung mit Bäckers Fotografien, weil sie zu ihrem Verständnis historische Informationen über Nationalsozialismus und Holocaust einfordern. Der politische Gehalt liege also nicht im Bild, sondern in der Notwendigkeit seiner Interpretation. Laut Greaney machen Heimrad Bäckers Aufnahmen durch ihre dokumentarische Zurückhaltung bewusst, dass sich Kunst, desavouiert durch ihre Anbiederung an den Nationalsozialismus, nie sicher sein kann, außerhalb der Verbrechen zu stehen. Stenzels Steinbruch-Foto wird somit von Greaney in einen Diskurs über die politische Korrumpierbarkeit und Unzuverlässigkeit von Kunst eingebunden.

VI.

Zusammenfassung

Die Unzuverlässigkeit der Kunst: Dafür kann Robert Stenzels Fotografie vom „Steinbruch bei Mauthausen an der Donau“ tatsächlich als Beleg gelten, jedoch in einem anderen und weiteren Sinn, als Greaney in Bezug auf das vermeintliche NS-Propagandafoto vermutet. Das künstlerisch ambitionierte Foto aus dem Jahr 1933 weist eine wechselvolle Publikations- und Rezeptionsgeschichte auf. Mithilfe einer diskursanalytischen Untersuchung der jeweiligen Text- und Bildumgebungen lässt sich herausarbeiten, wie die Kontexte in Verbindung mit den 121 Greaney, The Wiener Graben. 122 Ebd. 123 Ebd.

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ästhetischen Qualitäten des Bildes seine unterschiedlichen „Aussagen“ formen: 1933 die Verschmelzung von Mensch und Natur durch Arbeit in konservativen Heimatvorstellungen, 1940 die dynamische Einheit von „Heimatboden“ und nationalsozialistischer „Volksgemeinschaft“, 2001 die ästhetisierende Verschleierung der Verbrechen im Konzentrationslager Mauthausen und 2014 den nachhaltigen Verrat der Kunst durch ihren Pakt mit dem Nationalsozialismus. Gesteuert wird diese Rezeption durch die kulturgeschichtliche Ikonografie des zentralen Bildmotivs: des Steinbruchs. Während der Steinbruch in der Zwischenkriegszeit und bis in den Nationalsozialismus hinein Heimat, Arbeit und Volk symbolisiert, schlägt nach der NS-Zeit seine Bedeutung um zum paradigmatischen Ort der Verbrechen in Konzentrationslagern. Dann löst die Phrase „Steinbruch bei Mauthausen“ in der Rezeption des Fotos – selbstverständlich – ganz andere Vorstellungen aus. Die Stärke einer diskursanalytischen „Archäologie“124 von Schichten aus Textund Bildmaterialien, in die Robert Stenzels Fotografie im Laufe der Zeit eingefügt wurde, liegt darin, Blicke der Vergangenheit auf einen „Steinbruch bei Mauthausen“ freizulegen, die uns heute durch monströse Verbrechen verstellt sind, und dadurch mehr über die diskursiven Voraussetzungen dieser Verbrechen zu erfahren – darüber, wie die Rede von der totalen Identität in Volk und Heimat das marginalisierte „Schicksal“ der anderen aus der Wahrnehmung verbannte.

124 Foucault, Archäologie des Wissens, 198–200.

Abstracts

Photo Albums as Historical Sources in Contemporary History Vida Bakondy / Eva Tropper Researching photo albums. Premises, suggestions, and methods in an interdisciplinary field of research Over recent decades in the German-speaking world, photo albums have grown in popularity as historical source material, both in the fields of cultural studies and contemporary history. To date, however, this international and interdisciplinary research field has lacked comprehensive mapping, something which this article attempts to redress by providing an overview of historical developments, current debates, and approaches. Pursuant to this, narration, materiality, use, and performativity are presented and discussed as central guiding concepts of album research. Doing so not only allows different perspectives and methodological approaches to subject matter to be taken, but also highlights the versatility and multitude of forms album usage can facilitate. The overall aim of the article is to demonstrate the historical value of photo albums in relation to practices of “meaning-making” spanning a wide range of historical and political contexts. Keywords: photo albums, material culture, visual practices, history of photography, photographic theory

Ulrich Prehn Presentations and Self-Representations of Bodies, Gender, and Intergenerational Relationships: Photo Albums of the German Youth Movement and Hitler Youth from the 1920s and 30s This analysis considers three photo albums created in the 1920s and 30s by members of German youth organizations, specifically the Deutscher Pfadfinderbund (German Scouting Union), Sozialistische Arbeiterjugend (Socialist

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Worker Youth), and Hitler-Jugend (Hitler Youth). Spanning Germany’s transition from Weimar democracy to Nazi dictatorship, these photograpic sources offer insights into various social milieus and lifeworlds as well as their associated political and ideological overtones. In considering the pictures contained in these albums, the analysis focuses on body imagery, practices of doing gender, the pictorial representation of intergenerational relationships and communal experiences, the staging of the self, and the ordering and shaping of memories through the medium of the photo album. Last but not least, the discussion considers the ways in which the photo album represents a narrative medium for presentation and self-representation, particularly for the young followers of a “movement.” Keywords: photo albums, youth movements, gender relations, intergenerational relations, personal visual narratives

Lukas Meissel SS photo albums as visual performance records and legitimizing reports The article investigates the function of photo albums in the Schutzstaffel (SS) and interprets them as visual reports. Three officially commissioned photograph series are in the center of interest: The so-called Auschwitz album or Lily Jacob album, the so-called Stroop report and an album documenting rabbit breeding facilities in concentration camps. The first two visual sources represent recent historiography about Nazi photo albums and common usages of visual reports in the SS. The analytical focus is on the last album and investigates how to decipher the context of violence from which the album emerged that seems invisible from a contemporary perspective. The main argument is that ideological and practical aspirations, as well as elements of Nazi ideology, can be deciphered via photo analysis. Seemingly ambiguous visual sources have the potential to offer rare insights into how the perpetrators wanted to visualize – and therefore also idealize – their deeds and legitimize them to their superiors. Keywords: Holocaust Studies, Visual History, Concentration Camps, Perpetrator Studies, SS

Markus Wurzer Colonial War in Visual Family Memory. Memory Production through Transgenerational Album Practices in Südtirol/Alto Adige So far, historians have considered private war albums primarily as autobiographical sources. This article, however, takes a different perspective: It starts

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from the premise that the meaning-making process of war experiences is not something that remained confined to the veteran generation, but is a transgenerational memory work. How children and grandchildren position themselves in relation to experiences of violence and war can be seen in the way how they use the albums of their (grand)fathers. By drawing on a methodologically combined approach, this article examines the social lives of colonial war albums from the 1935–1941 Italian-Ethiopian War kept by families in South Tyrol/Alto Adige and argues that interventions of (grand)children do not violate the authenticity of albums, but must be understood and analysed as meaning-bearing components of their complex object biographies. Keywords: Colonialism, Italy, transgenerational memory, visual practices, photo albums

Monica Rüthers “… your gaze was ‚as required‘”: (Post-)Soviet visual practices and album cultures presented by the example of children’s photography Using the example of children’s photos, the article investigates the question of which specifically Soviet image practices developed around children’s photography and family albums. In the first part, the focus is on the influence of studio photography on amateur photography. The second section addresses the interaction of official and private imagery using photo books and photo albums. As the “Thaw” instigated a turn from ceremoniousness to spontaneity, representative photobooks featured family-like snapshots of children. The final part deals with the question of what meanings and functions children’s photography had in the “wild 1990s”. While youths experimented with disposable cameras and new freedoms, pictures of children were still taken by adults adhering to tradition. It seems that the happy and sheltered Soviet-style childhood served as an imaginary safe haven for parents. When pictures are shared online, official narratives are challenged by counter-narratives of freedom. Keywords: Soviet photography, photo albums, children’s photography, photobooks

Christian Angerer “Quarry near Mauthausen at the Danube”: Discourse-Analytical Remarks on the Career of a Photograph in the 20th and 21st Century In 1940, a photograph by Robert Stenzel depicting a quarry near Mauthausen was published in a popular book on Upper Austria and Adolf Hitler. In the early

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21st century, two articles on the Austrian writer Heimrad Bäcker refer to this publication, misrepresenting the photograph as depicting the quarry attached to the Mauthausen concentration camp which was built in 1938. This article demonstrates that the photograph was in fact first published in 1933 and instead shows a different quarry in Mauthausen. Using Michel Foucault’s approach to discourse analysis, this article traces the different meanings Stenzel’s photograph carries in the contexts in which it was published: first as part of the Austrian conservative concept of “Heimat” in 1933, then within the National Socialist ideology linking “Heimat” and “Volk” in 1940, and finally in contemporary perspectives on history, where the perception of quarries is shaped by the crimes committed in concentration camps. Keywords: National Socialist ideology, interdisciplinary approach, photo-interpretation, literary criticism, concentration camps

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Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin: Suhrkamp Wissenschaft 2020, 618 Seiten. „Überall rote Fahnen! Überall der Klang der Internationale“ – enthusiastisch berichtete die 20-jährige Hilde Kramer über ihre Ankunft in Moskau im August 1920. Mit vielen anderen, vor allem jungen AkteurInnen nahm sie, die in der Münchner Räterepublik eine zentrale Position innegehabt hatte, am zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) teil.1 37 Länder aus Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Australien sandten Delegierte. Sie repräsentierten verschiedene Milieus, die den Zusammenbruch der alten Ordnungen im Ersten Weltkrieg als Chance für die Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung für alle Unterprivilegierten dieser Welt definierten. Die Machtverhältnisse innerhalb der ArbeiterInnenbewegung – prekär aufgrund der Haltung verschiedener sozialdemokratischer Parteien zum Weltkrieg – waren zu dem Zeitpunkt noch nicht konsolidiert. Entsprechend divers setzten sich die teilnehmenden Organisationen zusammen: Neben kommunistischen Parteien waren auch antikolonialistische, anarchistische, feministische Strömungen und sogar einige SozialdemokratInnen – oft unter abenteuerlichen Bedingungen – nach Moskau gereist. Die Faszination am russischen Experiment einte sie, was allerdings nicht hieß, dass alle die Machtübernahme der Bolschewiki kritiklos feierten. Diesem Moskau des Jahres 1920 als internationaler Treffpunkt der Revolution widmet Brigitte Studer das erste Kapitel ihrer Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale (S. 58–99), die als Resümee ebenso wie als Verdichtung und Erweiterung ihrer Forschungen zur Geschichte des Kommunismus beziehungsweise des Stalinismus zu lesen ist. Die Idee einer Organisation jenseits nationaler Grenzen basierte auf der ‚ursozialistischen‘ Idee, dass die Errichtung einer auf Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit basierenden Welt, fokussiert auf die Arbeiterklasse, nur im globalen Maßstab erfolgreich sein könnte. Die Erste Internationale wurde 1864 gegründet, die sozialistische Zweite Internationale 1889, die Komintern 1919, die anarchosyndikalistische Internationale Arbeiter-Assoziation 1922 und die trotzkistische Vierte Internationale 1938. Für das junge revolutionäre Russland (die Sowjetunion wurde 1922 gegründet) schien die erfolgreiche Ausweitung der vor allem in Zentraleuropa und China virulenten sozialrevolutionären und antikolonialistischen Bewegungen auch eine Überlebensfrage. Die Komintern als schlagkräftige internationale Organisation sollte diese Entwicklung garantieren.

1 Empfehlung: Hilde Kramer, Rebellin in München, Moskau und Berlin: Autobiographisches Fragment 1900–1924, Berlin 2011.

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Brigitte Studer interessieren nicht nur die Strukturen und Verhältnisse, sondern vor allem die Erfahrungen von „Welt“ in der Komintern (S. 537). Es geht ihr um den sozialen Raum von insgesamt rund 30.000 AkteurInnen, mit dem in Moskau angesiedelten Exekutivkomitee als Befehlszentrum. In der theoretisch fundierten Einleitung (S. 13–58) analysiert sie mit politik-, sozial-, geschlechterund kulturhistorischen Ansätzen das Verhältnis von Revolution und Organisation, von Revolution als Arbeit, von global und lokal ebenso wie das geschlechtsspezifische revolutionäre Selbst und die Kontexte von situiertem Handeln. Studer erwähnt rund 320 dieser BerufsrevolutionärInnen – zwei Dutzend, die mit ihren Reisen die Situationen in den Hoffnungszentren der Weltrevolution in den 1920er- und 1930er-Jahren lebendig nachvollziehbar machen, kommen genauer in den Fokus. Mit dem Inder Manabendra Nath Roy (1887–1954), seiner Frau, der Amerikanerin Evelyn Trent (1892–1970) und anderen Partnerinnen reisen wir, noch in der optimistischen Phase der Komintern, im September 1920 zum antiimperialistischen Kongress nach Baku und Taschkent (S. 100–134) und weiter nach China, nach Guangzhou, Wuhan (S. 289–335) und Shanghai (S. 336–386). Deutschland, konkret Berlin, widmet Studer, entsprechend der zentralen Bedeutung, die Deutschland im Projekt Weltrevolution Anfang der 1920er-Jahre einnahm, ein Kapitel als Brückenkopf und transnationale Drehscheibe (S. 135– 179) und als kulturelles Zentrum des internationalen Kommunismus (S. 180– 236). Dort begegnen wir Hilde Kramer (1900–1974) wieder, die eingangs zu Wort kam, aber auch, neben vielen anderen, Willi Münzenberg (1889–1940) und Babette Gross (1898–1990), Heinz (1902–1937) und Margarete Buber-Neumann (1901–1989) oder Ruth Werner, geborene Kuczynski (1907–2000). Die Komintern war nicht nur ein Projekt Moskaus, sondern wurde im Zuge der einsetzenden Stalinisierung zu einem Instrument der sowjetischen Außenpolitik, dessen welt-revolutionäre Zielsetzung dem Konzept vom ‚Sozialismus in einem Land‘ weichen musste. Auch die „Großfamilie“ Komintern (S. 538) selbst war von der in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre einsetzenden Parteiausschlusspraxis und in den 1930er-Jahren folgenden Exekutionen aufgrund inhaltlicher Differenzen massiv betroffen. Die 1932 geschaffene Kaderabteilung systematisierte die biographischen Daten aller Kominternians und politische Konformität wurde zu einem zentralen Kontroll- und Selektionsmittel – auch außerhalb der Sowjetunion. Die Flucht und Verfolgungsgeschichten der Komintern-AkteurInnen und ihrer Infrastrukturen und Organisationen, etwa die Internationale Arbeiterhilfe, thematisiert Studer anhand europäischer Städte. Nach Antiimperialismus und transkontinentalen Netzwerken (S. 237–297) rücken die Fluchtorte Paris, Basel, Zürich und Moskau (389–453) in den Blick, lebendig vorgeführt an dem Schweizer Paar Jenny (1892–2000) und Jules Humbert-Droz (1891–1971), der

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vom Status Gründungsvater zum Ausgeschlossenen wurde. Aber zumindest blieb er am Leben. Viele, die im letzten Großeinsatz der Komintern in Spanien 1936 bis 1939 (S. 454–525) als AbweichlerInnen verdächtigt oder denunziert wurden, teilten dieses Schicksal nicht. Mit der italienischen Photographin Tina Modotti (1896–1942) und etlichen anderen reisen wir ins Desaster Spanien. Die Fronten verliefen nicht nur zwischen Falange und Republik/Revolution, wo nicht nur internationale Solidarität gelebt, sondern auch der Krieg von Seiten der KommunistInnen gegen andere Fraktionen der Linken geführt wurde – gegen jene, die sich nicht dem Regime der Kommunisten (,Moskaus‘) beugen wollten und die eine Transformation aller Lebensbereiche anstrebten, sich also als revolutionär definierten – gerade so, wie die Komintern in ihrer Gründungsphase. International geriet die Bezeichnung TrotzkistIn zum stalinistischen Gradmesser für Leben und Tod. Die Verfolgungen und Exekutionen trafen aber auch solche AkteurInnen der Komintern, die sich der Stalinisierung affirmativ anschlossen oder versuchten, sich wegzuducken. Von den 320 im Buch namentlich Erwähnten waren das 58. Im Jahre 1943 löste Stalin die Komintern auf – ein revolutionärerer Generalstab zur Umsetzung der Weltrevolution hatte sich überlebt. Das Leben dieser BerufsrevolutionärInnen, denen Brigitte Studer mit ihrem Buch ein eindrucksvolles Denkmal schrieb, war voller Enthusiasmus und rauer Praxis – letztere war durch mangelnde Kenntnis der Landessprachen und kulturellen Settings (China!), Konflikte mit den nationalen kommunistischen Parteien, Verfolgung, Leben unter klandestinen Bedingungen, endloses Berichteschreiben gekennzeichnet; Liebesbeziehungen gab es zwar, Kinder allerdings finden kaum Erwähnung. Wichtig war es Brigitte Studer, Frauen ins Bild zu setzen und das Konstrukt des virilen Revolutionärs zu dechiffrieren. Nicht zufällig, denn sie kam über ihr Interesse an Frauengeschichte zur Geschichte des internationalen Kommunismus bzw. Stalinismus, wie sie im Vorwort offenlegt. Brigitte Studer modelliert die Kominternians als AkteurInnen für die Sozialismus als Hoffnungsraum attraktiv und motivierend war. Das gelingt in ihrer „biographischen Narration“, bestehend aus verschiedensten Momenten von „verflochtenen Biographien“ (S. 32) vorzüglich. Gabriella Hauch

Ernst Berger/Ruth Wodak, Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginalisierten Jugend, Wiesbaden: Springer VS 2018, 348 Seiten. Die Geschichte der Kindheit gehört seit den Arbeiten von Philippe von Ariés, Lloyd deMause oder Giorgio Agamben zum konsistenten Repertoire historischer

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Referenzen. Ihre Arbeiten waren eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass in der auf die Großen fixierten Geschichtswissenschaft nach und nach auch die Kleinen der Geschichte wahrgenommen werden. Diese kamen weiterhin aber kaum selbst zur Sprache. Die „Entdeckung“ der Geschichte der „Kriegskinder“ des Zweiten Weltkriegs in den 1990er-Jahren gab einen wichtigen Impuls und ließ die Betroffenen erleben, dass Sprechen über die eigene Kindheit neue Räume der historischen Wahrnehmung und über sich selbst eröffnet. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie animierend und erhellend Kindheitsgeschichte sein kann, ist der von Ernst Berger und Ruth Wodak herausgegebene Erlebnisbericht „Kinder der Rückkehr“. Es ist die Geschichte einer „marginalisierten Jugend“, deren Kindheit wesentlich geprägt durch die politische Geschichte ihrer Eltern, die nach 1945 aus dem erzwungenen Exil oder den Konzentrationslagern nach Österreich zurückgekehrt waren, um hier als Kommunisten in einem neuen, demokratischen Österreich am Wiederaufbau mitzuwirken. Zur Sprache kommen hier Kinder von Eltern, die die Zeit des Nationalsozialismus als Kommunisten/Revolutionäre Sozialisten im Exil, auf der Flucht im Widerstand, im Untergrund, in den Armeen der Alliierten, in den Gefängnissen der Gestapo eingesperrt oder deportiert und interniert in Konzentrationslagern überlebt hatten. Im Nachkriegsösterreich haben sie mit ihren Eltern in einem politischen Umfeld gelebt, von dem ihre Eltern entsprechend der gesamtgesellschaftlichen politischen Entwicklung als nicht dazugehörig wahrgenommen wurden. Ihre Kindheit war wesentlich durch die spezielle/außerordentliche Geschichte ihrer Eltern und damit und deren Überlebens-Geschichten entscheidend geprägt. Mit der „Wende“ 1989 und dem Untergang der Welt ihrer Eltern war es (leichter) möglich, sich auch mit ihrer eigenen Kindheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Seit 2001 trafen sich die Kinder dieser Rückkehrer, die einander seit der Jugend kannten, regelmäßig, um sich in einem Wiener Kaffeehaus zu einer „Kinderjause“ zutreffen und gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen auszutauschen. In diesen Gesprächen ging es zunächst vor allem darum, der Frage nachzugehen, wie die Eltern ihnen ihre Erlebnisse und Entscheidungen vermittelt und was sie über ihre Erfahrungen mit Terror und Widerstand weitergegeben hatten: Wie hatten sie den Kindern ihre Rückkehr erklärt? Welche politischen/ gesellschaftlichen Ziele hatten die Eltern bewegt, welche Visionen und Werte hatten sie, und auf welche Weise (und mit welchem Erfolg) haben sie diese weitervermittelt?“ (S. 8). Aus diesen ersten informellen Gesprächen ist ein begleitendes Projekt entstanden, in dem Erinnerungen sortiert und analysiert werden sollten. Das Ergebnis dieser Erinnerungsarbeit ist eine Sammlung von Beziehungsgeschichten, in denen die Reaktionen des sozialen und politischen Umfelds auf die singuläre,

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familienbezogene und politisch definierte Familie deutlich im Vordergrund stehen. Das Ziel des Projekts war es, ausgehend von den jeweiligen individuellen Familien/-Elterngeschichten auch überindividuelle Fragen – Belastungen durch die Geschichte der Eltern, Ressourcen der Resilienz bei der Bewältigung des daraus sich ergebenden prekären Alltags, die Gestaltung der individuellen Sozialisation am Rande der österreichischen Nachkriegsgesellschaft – zu klären (S. 107–130). Ziel war nicht, wie einleitend von Ruth Wodak und Ernst Berger, den InitiatorInnen des Projekts festgehalten wird, eine Reise in die eigenen Erinnerungen, sondern „das Aufspüren kollektiver Muster von erinnerten Lebensgeschichten und Entscheidungsprozessen“ (S. 8). Grundlage dafür waren Interviews mit 29 aus einer Gruppe von etwa 200 „Kinderjausnern“. Sie sind in einer umfangreichen Zusammenfassung der Gespräche („Die Kinderjause-Gruppe im Spiegel der Interviews“, S. 131–208) zusammengefasst. In den Interviews wie in den Interpretationen kann nachgelesen werden, wie diese Selbstinspektion vor sich gegangen ist, was in der Erinnerung prägend gewesen ist, was ins Helle des Bewusstseins gelangt ist und was immer noch eher am Rand der Erinnerung beiseitegestellt ist. So ergibt sich die Möglichkeit, unter dem Motto „Hört ihr die Kinder erinnern“ einen Teil der Erinnerungsgeschichte eines Segments der österreichischen Gesellschaft in Auszügen nachzuvollziehen. Das geschieht in einer Abfolge von lebensgeschichtlich fundierten, analytischen und theoretischen Zugängen (mit Beiträgen von Markus Rheindorf und Brigitte Halbmayr), in denen zunächst die Vorgeschichte der Kinderjausen, das dem Projekt zugrundliegende Forschungsinteresse, der theoretische Hintergrund und das methodische Vorgehen dargelegt werden. Daran folgen eine detaillierte Analyse der Interviews und mehrere vertiefende „Fallstudien“. Im Abschluss geht es um die „Dritte Generation“ und mit der Frage „Vom Rand in die Mitte?“ neuerlich um die grundlegende Thematik des Projekts, die im Untertitel der Veröffentlichung hervorgehoben wird. Die Struktur des Projektberichts ist erkennbar durch die Frage bestimmt, wie das Grunderlebnis der (politischen/gesellschaftlichen) Isolierung und das Leben in einem Substrat der österreichischen Gesellschaft sich auch auf die Lebensgeschichte der zweiten Generation ausgewirkt hat: Wie und warum es den Kindern der Rückkehrer gelang, anders als ihren Eltern, aus der gesellschaftlichen Isolierung den Weg vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu finden. Allerdings: Auch wenn ihre Eltern auf Grund ihrer politischen Position in der österreichischen Gesellschaft der Nachkriegszeit nur marginale Anerkennung und wenig öffentliche unterstützende Resonanz erhielten, die Kinderjausenkinder erinnern ihre Kindheit als kaum marginalisiert. Während ihre Eltern versuchten, ihnen ein anderes Leben durch eine andere politische Perspektive möglich zu machen, sehen sie in ihren erinnerten Lebensgeschichten vor allem, dass sie es besser/

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anders als ihre Eltern gemacht haben. Sie haben sich weg von der Randsituation, in die sie durch die politische Haltung ihrer Eltern gestellt waren, nach und nach in die Mitte der Gesellschaft bewegt. In diesem Sinne können ihre Annäherungen an ihre Kindheitsgeschichte auch als ein Versuch der Selbstvergewisserung gelesen werde, in dem es nicht nur darum geht, wie ich gewesen bin, sondern auch darum, wer ich gewesen sein möchte. Die Verfolgungs/-Widerstandsgeschichte ihrer Eltern ist in den Nach-Erzählungen ebenso präsent wie die Traumata der Eltern, die von den Kindern ertragen und verarbeitet werden mussten. Auch wenn sich im Laufe der Lebensjahrzehnte Veränderungen ergeben haben, die Ablehnung von allem, was rechts ist, bleibt als Teil des elterlichen Erbes nach wie vor lebensmächtig. Die Ablehnung von Dogmatismus und autoritären Strukturen ist zu einer bestimmenden „Erbschaft“ der eigenen Geschichte geworden (S. 178). Das Reden über die Vergangenheit ist eine wesentliche Voraussetzung, sich der eigenen Geschichte bewusst zu werden. Im sprachwissenschaftlichen Teil („Die Kinderjausner erzählen“, S. 178–208) wird deutlich: Entgegen der Annahme, dass Opfer leichter reden können, weil sie auf der richtigen Seite gestanden sind, zeigt sich auch hier neuerlich, dass auch diese Eltern nur zögernd gesprochen und erzählt und ihren Kindern den Blick in die eben noch schrecklich gewesene Vergangenheit nur partiell geöffnet haben. Die Erzählungen sind durch Wissen, aber auch durch Nichtwissen über die Geschichte der Eltern gezeichnet: „Anstatt die Geschichte als die eigene, als etwas Verbürgtes und Wahrhaftiges zu rahmen, wird sie mit einem Erzählschleier umhüllt, hinter dem eine dichte Nebelbank des Nichtwissens oder der Angabe, man habe es selbst nur bruchstückhaft erzählt bekommen, gestellt“. Hinter diesem Schleier werden NichtWissen, Nicht-so-genau-Wissen, Nur-teilweise-Wissen beziehungsweise Nurteilweise-Erinnern zu einem Leitmotiv der Erzählungen (S. 184). Festzuhalten ist aber: Auch wenn die Erinnerungen aus einem Kollektiv entstanden sind, ergeben sie doch kein konformes Bild. Ein Beispiel dafür sind die Interviewpassagen aus Gesprächen mit Marina Fischer-Kowalski und Ernst Fitz. Für Ernst Berger, der die Interviews geführt hat, ist es daher weder möglich noch sinnvoll, „aus den erzählten Erinnerungen der Kinderjausen-Gruppe ein einheitliches Bild oder mehrere charakteristische Muster von Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung zu modellieren“ (S. 282). Geschichte ist ein steter Prozess, der sich in der Weitergabe von Geschichten manifestiert. Die transgenerationelle Tradierung von kollektiver historischer Erfahrung und persönlichen Prägungen lässt sich daher nicht auf die Widerstandsgeneration und die Generation ihrer Kinder beschränken. Dementsprechend ist auch die Dritte Generation – also die Kinder der Kinder der Rückkehrer – von den tradierten Erfahrungen ihrer Eltern/Großeltern mitbetroffen.

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Die Geschichte der „Widerstandsgeneration“ ist auch mit der dritten Generation noch nicht zu Ende. Im Laufe der Auswertung der Interviews ergaben sich zum Teil überraschende, in einer faktenbasierten historischen Studie nicht unbedingt zu erwartende Schwerpunkte und Fragestellungen. Ein Beispiel dafür ist das Kapitel „Haltungen, Überzeugungen und transgenerationale Aufträge“, in dem Ernst Berger seine Gesprächspartner fragt, welche „Botschaften“ die Eltern ihnen auf den Weg mitgegeben haben (S. 69–73), wie ihr Kinderleben durch „Resilienz und Trauma“ bestimmt war (S. 74–83) und wie sie mit den von ihren Eltern an sie weitergegebenen „Belastungsfaktoren“ (S. 84–88) umgegangen sind. In der Regel haben die Interviewten ihre Erinnerungen entsprechend den gesellschaftlich-üblichen Verhaltensweisen eher zurückhaltend-distanziert in die Gegenwart geholt. Emotionen wurden in den Interviews selten offengelegt und blieben meist hinter einem „Erzählschleier“ verborgen. In einigen der Interviews aber wurde dieser „für kurze Zeit gelüftet“, und bisher zurückgehaltene Emotionen kamen zu ihrem Recht. Die Herausgeber deuten diese „Tränenthemen“ als Nach- und Auswirkungen des Emotionstabus der Widerstandsgeneration, das bei den Kindern zu einer „Verkapselung traumatischer Erinnerungen“ führte (S. 88–94). Insgesamt jedoch zeigte sich deutlich, dass bei den meisten der Interviewten eine erstaunliche Resilienz zu konstatieren war: „Trotz großer Rucksäcke voll von Leid, Angst, Kampf, Verlust, Visionen, Aufträgen, politischen Prinzipien und vielen anderen Werten und Gefühlen, die sie von ihren mitbekommen hatte und weitgetragen mussten, schlugen sie kreative Lebenswege ein, erkämpften sich interessante berufliche Perspektiven und ließen sich durch manche Ausgrenzungen und Diskriminierungen von ihren eigenen Zielen nicht abhalten“ (S. 10). In den lebensgeschichtlichen Erzählungen ist zwar in verschiedenen Varianten von erlebter Marginalisierung die Rede, das positive Selbstbewusstsein der Erzähler/Erzählerinnen scheint davon jedoch nicht wesentlich in Frage gestellt. Dass sie als Kinder von Remigranten, Flüchtlingen, Holocaust-Überlebenden und vom NS-Regime Verfolgten tatsächlich marginalisiert waren, war damals nur wenigen von ihnen bewusst (S. 63). Die meisten von ihnen haben im Lauf ihres Erwachsenenlebens einen Weg in die Mitte gefunden, ohne sich dem Mainstream völlig anzupassen. Rückblickend empfinden sich viele nicht als „marginalisiert“, aber doch als „anders“ wahrgenommen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe ihrer Eltern und die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Prägungen waren für sie offensichtlich die Möglichkeit, diese Randständigkeit nicht als lebensentscheidend zu erleben. An bestimmten Punkten ihrer „Karrieren“ allerdings sich mussten die „Kinder der Sieger“ zur Kenntnis nehmen, dass ihre politische Herkunft zum Vorwurf wurde und sich als Grund für Zurückweisung auswirkte (S. 65). Wie sehr die Erfahrung des In-die-Mitte-Kommen für die

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Initiatoren des Bandes bestimmend und prägend ist, zeigt der Kommentar im Abschluss des Kapitels „Die dritte Generation“: „Die Biografien zeigen auch, dass die Enkel der Widerstandsgeneration dem Weg vom Rand in die Mitte fortgesetzt haben, wenngleich ihnen das Gefühl des ‚Andersseins‘ keineswegs fremd ist (S. 300). Das Projekt „Kinderjausenkinder“ ist insofern außerordentlich, als es individuelle, persönliche Geschichten zur Grundlage kritischer Selbstanalysen und fundierter Analysen nahm. Die Subjektivität des individuellen Zugangs blieb dabei bestehen. Der beeindruckend überzeugende Wert des Projekts liegt zum einen darin, dass hier an vielen kleinen Erinnerungen Einsichten in einen sozialpolitisch-kulturellen Lebensraum der österreichischen Nachkriegsgesellschaft möglich sind, die bisher dem Zugang und der Analyse verschlossen geblieben waren. Zum anderen aber könnten die Erfahrungen des Kinderjausen-Projekts auch ein Anstoß dafür sein, ähnliche Erkundungen von anderen gesellschaftlichkulturellen Milieus in Österreich anzugehen, in denen vergleichbare Erfahrungen von gesellschaftlicher Marginalisierung Realität waren/sind. So eröffnete sich ein weiter Blick in ein Segment der österreichischen Wirklichkeit, das bisher kaum bearbeitet und beachtet wurde. Peter Malina

Andreas Schrabauer, „… und der Block war judenleer“. Die NS-Verfolgung von Juden in den Niederlanden und ihre Ermordung im Konzentrationslager Mauthausen, Wien/Hamburg: New Academic press, 2021, 178 Seiten. Die NS-Verfolgung in den Niederlanden kostete rund 107.000 Juden, und damit mehr als 80 Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung, das Leben. Dies ist bei Weitem der höchste Prozentsatz aller westlichen Länder. Adolf Eichmann, Leiter des Judenreferats des Reichssicherheitshauptamts, zeigte sich mit dem erzielten Ergebnis nach dem Krieg äußerst zufrieden. Die Deportationen seien reibungslos über die Bühne gegangen, die umfangreiche, für ein derartiges logistisches Unterfangen erforderliche Kooperation mit unterschiedlichsten niederländischen Behörden nach Wunsch verlaufen. Dabei spielt Eichmann auf den Zeitraum zwischen Juli 1942 und September 1944 an. In dieser Zeit brachen aus den Durchgangslagern Westerbork und Vught 93 Transporte „Richtung Osten“ auf. Nur 5000 der Deportierten sollten zurückkehren. Doch dies waren nicht die ersten Deportationen von Juden aus den Niederlanden. Es war bereits zuvor zu Deportationen gekommen. Zwischen Februar 1941 und November 1942 wurden viele hunderte jüdische Männer aus

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den Niederlanden nach Mauthausen gebracht und innerhalb kurzer Zeit ermordet. Nur ein Einziger überlebte.1 Die Frage nach dem Warum ist die Hauptfrage, die Schrabauer in seinem Buch stellt. Und es handelt sich hierbei um eine äußerst treffende Frage. Nicht nur, weil sie einen ganz besonderen Abschnitt in der Geschichte betrifft – die Deportationen nach Mauthausen fanden über weite Strecken in einer Phase der Shoah statt, wo man in Westeuropa mit groß angelegten Deportationen noch nicht begonnen hatte und es den Nazis vorrangig darum ging, das Reichsgebiet von Juden zu „säubern“ –, sondern auch deshalb, weil die Zeit der Deportationen nach Mauthausen zu verstehen hilft, weshalb die Judenverfolgung in den Niederlanden Eichmann zufolge so „erfolgreich“ war. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er sich dieser Frage in ihrer Gesamtheit angenommen und ihre Bestandteile sorgsam analysiert hat, und sie auf eine, so finde ich, sehr zufriedenstellende Art und Weise zu beantworten weiß. Am meisten Aufmerksamkeit widmet er der Besatzungsverwaltung in den Niederlanden und damit auch der Repressionspolitik. An der Spitze der Zivilverwaltung stand ein von Hitler ernannter Reichskommissar, der Jurist Dr. Arthur Seyß-Inquart. Das Reichskommissariat bestand aus einer Reihe von „Ministerien“, den sogenannten Generalkommissariaten, innerhalb derer einige radikale SS-Mitglieder, etwa Hanns Albin Rauter, „Generalkommissar für das Sicherheitswesen und Höherer SS- und Polizeiführer“, führende Rollen innehatten. Wenngleich sie sich zu Beginn der Besatzung aus nachvollziehbaren Gründen noch bedeckt hielten, stand das Ziel, die Niederlande „judenrein“ zu machen, hoch oben auf der politischen Agenda. In seiner Antrittsrede im Mai 1940 hatte Seyß-Inquart noch betont, dass die deutschen Truppen als Freund des niederländischen Volkes gekommen waren und sich der Krieg vornehmlich gegen England richtete. Die Besatzer waren auf Ruhe und Ordnung aus, doch diese wurden, wie Schrabauer einleuchtend erklärt, durch antisemitische Aufstände Anfang 1941 grundlegend gestört. Er legt überzeugend dar, dass diese Unruhen niederländischen Nationalsozialisten zuzuschreiben waren, die ihre Chance gekommen sahen, ihrem Judenhass freien Lauf zu lassen. Dagegen leisteten nicht nur Juden Widerstand, sondern auch Nicht-Juden, darunter auch Kommunisten. Genau das hatten die Besatzer eigentlich vermeiden wollen. Schrabauer weist darauf hin, dass die niederländischen Nationalsozialisten für ihr Verhalten von den Besatzern gerügt wurden.

1 Völlig zurecht weist Schrabauer anhand von Zugangslisten darauf hin, dass einige der Opfer nicht die niederländische Staatsbürgerschaft hatten, in der betreffenden Zeit aber in den Niederlanden wohnten. Die meisten waren Flüchtlinge aus Deutschland oder Österreich. Statt von „niederländischen Juden“ sollte deshalb besser von „in den Niederlanden wohnhaften Juden“ gesprochen werden.

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Für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung verantwortlich war in erster Linie der Reichskommissar, doch die konkrete Umsetzung fiel vielmehr Rauter zu, welcher sich diesbezüglich regelmäßig mit seinem Vorgesetzten Himmler austauschte. Die verschiedenen Schritte werden im Buch chronologisch abgehandelt. Der erste Schritt – die große Repressalienwelle im Februar 1941 und die darauffolgende Deportation von 425 Männern über Buchenwald nach Mauthausen – ist in diesem Zusammenhang der wichtigste. Innerhalb kürzester Zeit fanden all diese Männer den Tod, was auch das erklärte Ziel gewesen war. Die Todesanzeigen, mit durchwegs fingierten Todesursachen, fanden ihren Weg zu dem im selben Monat eingerichteten Judenrat und erreichten so auch die Angehörigen. Die Stoßrichtung der Repressionspolitik wurde deutlich. Bei dieser ersten Deportation und jenen, die folgen sollten, standen „Strafe“ und „Repressalien“ im Vordergrund. So überrascht es auch nicht, dass die deportierten Juden ausgerechnet nach Mauthausen gebracht wurden. Dieses Lager war im Jänner 1941 von RSHA-Leiter Heydrich als einziges Lager in die höchste Kategorie eingestuft worden. Schrabauer gibt eine klare Übersicht dessen, was mit einer Deportation nach Mauthausen (und somit dem Tod) bestraft wurde. Widerstand, an dem sich Juden nicht oder kaum beteiligten, fiel auf sie zurück. Im öffentlichen Leben wurden Juden im Laufe der Zeit immer weiter in die Enge getrieben. Ihnen wurde unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie sich an die vielen antijüdischen Maßnahmen zu halten hatten. Schrabauer nennt die Wichtigsten davon: das Tragen des Judensterns, das Verbot umzuziehen, kein Geschlechtsverkehr mit Nicht-Juden. Mit Razzien und Todesanzeigen war es dem Besatzer gelungen, den Juden die geforderte Disziplin abzuringen. Innerhalb der Gemeinschaft herrschte extreme Angst vor, man wartete auf weitere Maßnahmen. „Im Osten“ hätte man vielleicht noch eine Chance. Diese Option erschien immer noch besser als Mauthausen, das den sicheren Tod bedeutete. Außerdem wusste man natürlich nicht, wie lange der Krieg dauern würde. Schade ist, dass Schrabauer diese so allesbestimmende Angst nicht stärker herausgearbeitet hat. Selbstverständlich haben sich mit Schrabauers Thema auch niederländische Historiker bereits befasst. Für sie sind die großteils auf Niederländisch verfassten Quellen natürlich leicht zugänglich. Dies gilt für ausländische Forscher freilich meist nicht. Umso bewundernswerter ist es, wie viele niederländische Quellen Andreas Schrabauer für seine Publikation zu Rate gezogen hat. Diese kombiniert er mit einer Reihe von in den Niederlanden recht unbekannten Quellen – wie der Anmerkung von Gauleiter Eigruber zu den Deportationen nach Mauthausen, dem Interview mit dem ehemaligen Häftling Pierre Choumoff und der Verfahrensakte von Kapo Franz Steurer –, was die Schlussfolgerung zulässt, dass Schrabauers Werk auf einer zuverlässigen und vielfältigen Basis fußt.

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Die meisten Studien über die Shoah enthalten verständlicherweise viele große Zahlen, wodurch das persönliche Schicksal zahlloser Einzelpersonen oft untergeht. Schrabauer ist sich dieses Mankos bewusst und hat deshalb in sein klassisch chronologisch aufgebautes Buch auch eine Reihe an Kurzbiografien einzelner Opfer aufgenommen. Außerdem geht er berechtigterweise auf einen der Täter, Hanns Albin Rauter, besonders genau ein, der einer der Hauptverantwortlichen für diesen Massenmord war. Leider wagen sich ausländische Forscher viel zu selten an die Geschichte der Niederlande im Zweiten Weltkrieg heran. Vor einigen Jahren erschien „Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–1945“ von der deutschen Historikerin Katja Happe. Auch sie konnte in gewissem Maße auf niederländische Quellen zurückgreifen. Das Ergebnis war ein frischer Blick mit einigen neuen Schwerpunkten. Das ansprechende Buch von Andreas Schrabauer fügt sich in diese Reihe nahtlos ein. (Übersetzung aus dem Niederländischen) Hans de Vries

Autor/innen

Dr. Christian Angerer Germanist und Historiker, unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, Mitarbeit bei _erinnern.at_ und an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, [email protected] Dr.in Vida Bakondy Historikerin und Kuratorin, seit 2020 FWF Hertha-Firnberg Postdoc Fellow an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, [email protected] Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch Historikerin, Institut für Geschichte, Universität Wien, [email protected] Dr. Peter Malina Historiker, Wien, [email protected] Lukas Meissel, BA MA Historiker und Doktorand in Holocaust Studien an der Universität Haifa, derzeit Doctoral fellow an der Fondation pour la Mémoire de la Shoah (Paris), lmeis [email protected] Dr. Ulrich Prehn Historiker und Ausstellungskurator, seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, [email protected] Prof.in Dr.in Monica Rüthers Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, moni [email protected]

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Dr.in Eva Tropper Historikerin und Kuratorin, seit 2018 im Leitungsteam der Museumsakademie Joanneum, [email protected] Dr. Hans de Vries 1975–2012 am Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies (NIOD) in Amsterdam, [email protected] Dr. Markus Wurzer Historiker, seit 2019 Postdoctoral Researcher am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale, [email protected]

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I.

Allgemeines

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II.

Format und Gliederung

Kapitelüberschriften und – falls gewünscht – Unterkapiteltitel deutlich hervorheben mittels Nummerierung. Kapitel mit römischen Ziffern [I. Literatur], Unterkapitel mit arabischen Ziffern [1.1 Dissertationen] nummerieren, maximal bis in die dritte Ebene untergliedern [1.1.1 Philologische Dissertationen]. Keine Interpunktion am Ende der Gliederungstitel. Keine Silbentrennung, linksbündig, Flattersatz, keine Leerzeilen zwischen Absätzen, keine Einrückungen; direkte Zitate, die länger als vier Zeilen sind, in einem eigenen Absatz (ohne Einrückung, mit Gänsefüßchen am Beginn und Ende). Zahlen von null bis zwölf ausschreiben, ab 13 in Ziffern. Tausender mit Interpunktion: 1.000. Wenn runde Zahlen wie zwanzig, hundert oder dreitausend nicht in unmittelbarer Nähe zu anderen Zahlenangaben in einer Textpassage aufscheinen, können diese ausgeschrieben werden. Daten ausschreiben: „1930er“ oder „1960er-Jahre“ statt „30er“ oder „60er Jahre“. Datumsangaben: In den Fußnoten: 4. 3. 2011 [keine Leerzeichen nach den Punkten, auch nicht 04. 03. 2011 oder 4. März 2011]; im Text das Monat ausschreiben [4. März 2011]. Personennamen im Fließtext bei der Erstnennung immer mit Vor- und Nachnamen. Namen von Organisationen im Fließtext: Wenn eindeutig erkennbar ist, dass eine Organisation, Vereinigung o. Ä. vorliegt, können die Anführungszeichen weggelassen werden: „Die Gründung des Öesterreichischen Alpenvereins erfolgte 1862.“ „Als Mitglied im

Womens Alpine Club war ihr die Teilnahme gestattet.“ Namen von Zeitungen/Zeitschriften etc. siehe unter „Anführungszeichen“. Anführungszeichen im Fall von Zitaten, Hervorhebungen und bei Erwähnung von Zeitungen/Zeitschriften, Werken und Veranstaltungstiteln im Fließtext immer doppelt: „“ Einfache Anführungszeichen nur im Fall eines Zitats im Zitat: „Er sagte zu mir : ,….‘“ Klammern: Gebrauchen Sie bitte generell runde Klammern, außer in Zitaten für Auslassungen: […] und Anmerkungen: [Anm. d. A.]. Formulieren Sie bitte geschlechtsneutral bzw. geschlechtergerecht. Verwenden Sie im ersteren Fall bei Substantiven das Binnen-I („ZeitzeugInnen“), nicht jedoch in Komposita („Bürgerversammlung“ statt „BürgerInnenversammlung“). Darstellungen und Fotos als eigene Datei im jpg-Format (mind. 300 dpi) einsenden. Bilder werden schwarz-weiß abgedruckt; die Rechte an den abgedruckten Bildern sind vom Autor/von der Autorin einzuholen. Bildunterschriften bitte kenntlich machen: Abb.: Spanische Reiter auf der Ringstraße (Quelle: Bildarchiv, ÖNB). Abkürzungen: Bitte Leerzeichen einfügen: vor % oder E/zum Beispiel z. B./unter anderem u. a. Im Text sind möglichst wenige allgemeine Abkürzungen zu verwenden.

III.

Zitation

Generell keine Zitation im Fließtext, auch keine Kurzverweise. Fußnoten immer mit einem Punkt abschließen. Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf das Erstzitat von Publikationen. Bei weiteren Erwähnungen sind Kurzzitate zu verwenden. – Wird hintereinander aus demselben Werk zitiert, bitte den Verweis Ebd./ebd. bzw. mit anderer Seitenangabe Ebd., 12./ebd., 12. gebrauchen (kein Ders./Dies.), analog: Vgl. ebd.; vgl. ebd., 12. – Zwei Belege in einer Fußnote mit einem Strichpunkt; trennen: Gehmacher, Jugend, 311; Dreidemy, Kanzlerschaft, 29. – Bei Übernahme von direkten Zitaten aus der Fachliteratur Zit. n./zit. n. verwenden. – Indirekte Zitate werden durch Vgl./vgl. gekennzeichnet. Monografien: Vorname und Nachname, Titel, Ort und Jahr, Seitenangabe [ohne „S.“]. Beispiel Erstzitat: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 311. Beispiel Kurzzitat: Gehmacher, Jugend, 311. Bei mehreren AutorInnen/HerausgeberInnen: Dachs/Gerlich/Müller (Hg.), Politiker, 14. Reihentitel: Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-

Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 27), Innsbruck/Wien [bei mehreren Ortsangaben Schrägstrich ohne Leerzeichen] 1997, 45. Dissertation: Thomas Angerer, Frankreich und die Österreichfrage. Historische Grundlagen und Leitlinien 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 1996, 18–21 [keine ff. und f. für Seitenangaben, von–bis mit Gedankenstich ohne Leerzeichen]. Diplomarbeit: Lucile Dreidemy, Die Kanzlerschaft Engelbert Dollfuß’ 1932–1934, Dipl. Arb., Universit8 de Strasbourg 2007, 29. Ohne AutorIn, nur HerausgeberIn: Beiträge zur Geschichte und Vorgeschichte der Julirevolte, hg. im Selbstverlag des Bundeskommissariates für Heimatdienst, Wien 1934, 13. Unveröffentlichtes Manuskript: Günter Bischof, Lost Momentum. The Militarization of the Cold War and the Demise of Austrian Treaty Negotiations, 1950–1952 (unveröffentlichtes Manuskript), 54–55. Kopie im Besitz des Verfassers. Quellenbände: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. II, hg. v. United States Department of States, Washington 1958. [nach Erstzitation mit der gängigen Abkürzung: FRUS fortfahren]. Sammelwerke: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995. Beitrag in Sammelwerken: Michael Gehler, Die österreichische Außenpolitik unter der Alleinregierung Josef Klaus 1966–1970, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger/ Hubert Weinberger (Hg.), Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung Klaus (Veröffentlichung der Dr.-Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien 1), Salzburg 1995, 251–271, 255–257. [bei Beiträgen grundsätzlich immer die Gesamtseitenangabe zuerst, dann die spezifisch zitierten Seiten]. Beiträge in Zeitschriften: Florian Weiß, Die schwierige Balance. Österreich und die Anfänge der westeuropäischen Integration 1947–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, 71–94. [Zeitschrift Jahrgang/Bandangabe ohne Beistrichtrennung und die Angabe der Heftnummer oder der Folge hinter die Klammer ohne Komma]. Presseartikel: Titel des Artikels, Zeitung, Datum, Seite. Der Ständestaat in Diskussion, Wiener Zeitung, 5. 9. 1946, 2. Archivalien: Bericht der Österr. Delegation bei der Hohen Behörde der EGKS, Zl. 2/pol/57, Fritz Kolb an Leopold Figl, 19. 2. 1957. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA)/AA, II-pol, International 2 c, Zl. 217.301-pol/ 57 (GZl. 215.155-pol/57); Major General Coleman an Kirkpatrick, 27. 6. 1953. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/103845, CS 1016/205 [prinzipiell zuerst das Dokument mit möglichst genauer Bezeichnung, dann das Archiv, mit Unterarchiven, -verzeichnissen und Beständen; bei weiterer Nennung der Archive bzw. Unterarchive können die Abkürzungen verwendet werden].

Internetquellen: Autor so vorhanden, Titel des Beitrags, Institution, URL: (abgerufen Datum). Bitte mit rechter Maustaste den Hyperlink entfernen, so dass der Link nicht mehr blau unterstrichen ist. Yehuda Bauer, How vast was the crime, Yad Vashem, URL: http://www1.yadvashem.org/ yv/en/holocaust/about/index.asp (abgerufen 28. 2. 2011). Film: Vorname und Nachname des Regisseurs, Vollständiger Titel, Format [z. B. 8 mm, VHS, DVD], Spieldauer [Film ohne Extras in Minuten], Produktionsort/-land Jahr, Zeit [Minutenangabe der zitierten Passage]. Luis BuÇuel, Belle de jour, DVD, 96 min., Barcelona 2001, 26:00–26:10 min. Interview: InterviewpartnerIn, InterviewerIn, Datum des Interviews, Provenienz der Aufzeichnung. Interview mit Paul Broda, geführt von Maria Wirth, 26. 10. 2014, Aufnahme bei der Autorin. Die englischsprachigen Zitierregeln sind online verfügbar unter : https://www.verein-zeit geschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_verein_zeitgeschichte/zg_Zitierregeln_ engl_2018.pdf Es können nur jene eingesandten Aufsätze Berücksichtigung finden, die sich an die Zitierregeln halten!