Forschungsdaten für die Kinder- und Jugendhilfe: Qualitative und quantitative Sekundäranalysen [1. Aufl. 2019] 978-3-658-23142-2, 978-3-658-23143-9

Der Sammelband arbeitet das bislang unterschätzte, jedoch zunehmend an Bedeutung gewinnende Potenzial von Sekundäranalys

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German Pages VIII, 621 [608] Year 2019

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Forschungsdaten für die Kinder- und Jugendhilfe: Qualitative und quantitative Sekundäranalysen [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-23142-2, 978-3-658-23143-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Sekundäranalysen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfeforschung: Eine Einführung (Maik-Carsten Begemann, Klaus Birkelbach)....Pages 1-18
Front Matter ....Pages 19-19
Die empirische Wende (Thomas Rauschenbach)....Pages 21-47
Qualitative Sekundäranalyse (Irena Medjedović)....Pages 49-64
Sekundäranalyse quantitativer Daten (Klaus Birkelbach)....Pages 65-80
Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe mittels der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen (Maik-Carsten Begemann)....Pages 81-103
Front Matter ....Pages 105-105
Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) – Anlage, Inhalte und Auswertungsbeispiel zur Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen von Personen mit Migrationshintergrund (Eric van Santen)....Pages 107-126
Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam (Sabine Walper, Barbara Wilhelm, Carolin Thönnissen)....Pages 127-147
Das Nationale Bildungspanel (NEPS) als Datenangebot für Forschungsfragen der Kinder- und Jugendhilfe (Jutta von Maurice, Tobias Linberg, Hans-Günther Roßbach)....Pages 149-164
Die Haushaltspanelstudie sozio-ökonomisches Panel (SOEP) und ihre Potenziale für Sekundäranalysen (Lisa Pagel, Jürgen Schupp)....Pages 165-186
Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (Manuel Siegert, Nina Rother)....Pages 187-209
Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ (Anett Friedrich, Elisabeth M. Krekel)....Pages 211-232
Front Matter ....Pages 233-233
Kinder- und Jugendhilfestatistik (Jens Pothmann)....Pages 235-256
Die amtliche Schulstatistik als Datenquelle für die Kinder- und Jugendhilfe (Björn Hermstein, Nils Berkemeyer, Horst Weishaupt)....Pages 257-277
Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus (Kirsten Fuchs-Rechlin)....Pages 279-298
Front Matter ....Pages 299-299
Die prozessorientierte Aktenanalyse (Robert Lehmann, Wolfgang Klug)....Pages 301-319
Erfolg und dessen Einflussfaktoren in Therapeutischen Jugendwohngruppen – eine retrospektive Aktenanalyse (Martha Schneider, Silke Birgitta Gahleitner)....Pages 321-335
Jugendgerichtsakten als Datengrundlage für wissenschaftliche Fragestellungen der Kinder- und Jugendhilfe (Stephanie Ernst, Theresia Höynck, Fredericke Leuschner)....Pages 337-356
Analysen von publizierten Dokumenten (Felix Berth)....Pages 357-373
Front Matter ....Pages 375-375
Sekundäranalysen in der Schulsozialarbeit (Karsten Speck)....Pages 377-394
Wie können Wirkungen pädagogischer Interventionen gemessen werden? (Klaus Wolf)....Pages 395-423
Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Metaanalysen von quantitativen Studien zu den Hilfen zur Erziehung (Thomas Gabriel, Samuel Keller)....Pages 425-445
Sekundäranalysen von empirischen Studien zur Jugend(verbands)arbeit bis 1990 (Wibke Riekmann, Alf-Tomas Epstein)....Pages 447-456
Die Verwendung von Schuleingangsdaten für bildungs- und familienökonomische Analysen – das Beispiel der Analyse von Elterngeldeffekten auf sozioökonomische Unterschiede bei kindlichen Entwicklungsmaßen (Mathias Huebener, Daniel Kühnle, C. Katharina Spieß)....Pages 457-474
Schuleingangsuntersuchung: Chancen und Stolpersteine am Beispiel früher Bildungsungleichheit (Nicole Biedinger)....Pages 475-493
Forschung zu Segregation im Elementarbereich: Die Rekonstruktion von Kita-Kompositionen anhand von Daten der Schuleingangsuntersuchung (Anna Pomykaj, Nina Hogrebe)....Pages 495-512
Front Matter ....Pages 513-513
Die Zentralstatistik des Deutschen Caritasverbandes e. V. (Jennifer Panjas, Monika Zimmermann)....Pages 515-536
Einrichtungsstatistik der Diakonie Deutschland (Wolfgang Schmitt)....Pages 537-550
Front Matter ....Pages 551-551
Der Wegweiser Kommune – Ein Zugang zu Daten auf Gemeindeebene (Hannah Amsbeck, Raimund Pahs)....Pages 553-568
Der KECK-Atlas als kleinräumiges Monitoring-Instrument – auch für die Kinder- und Jugendhilfe (Hanna Münstermann, Nora Jehles)....Pages 569-591
Front Matter ....Pages 593-593
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Datenangebot über GESIS (Oliver Watteler)....Pages 595-603
Literarische Textproduktionen Jugendlicher (Nicolle Pfaff, Anja Tervooren)....Pages 605-621

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Maik-Carsten Begemann Klaus Birkelbach Hrsg.

Forschungsdaten für die Kinder- und Jugendhilfe Qualitative und quantitative Sekundäranalysen

Forschungsdaten für die Kinder- und Jugendhilfe

Maik-Carsten Begemann · Klaus Birkelbach (Hrsg.)

Forschungsdaten für die Kinder- und Jugendhilfe Qualitative und quantitative Sekundäranalysen

Hrsg. Maik-Carsten Begemann Hochschule Düsseldorf Düsseldorf, Deutschland

Klaus Birkelbach Universität Duisburg-Essen Essen, Deutschland

ISBN 978-3-658-23142-2 ISBN 978-3-658-23143-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Sekundäranalysen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfeforschung: Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Maik-Carsten Begemann und Klaus Birkelbach Teil I  Grundlagen Die empirische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Thomas Rauschenbach Qualitative Sekundäranalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Irena Medjedović Sekundäranalyse quantitativer Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Klaus Birkelbach Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe mittels der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen . . . . . . . . . 81 Maik-Carsten Begemann Teil II  Regelmäßig erhobene Querschnittsdaten und Panelstudien Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) – Anlage, Inhalte und Auswertungsbeispiel zur Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen von Personen mit Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Eric van Santen Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Sabine Walper, Barbara Wilhelm und Carolin Thönnissen V

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Inhaltsverzeichnis

Das Nationale Bildungspanel (NEPS) als Datenangebot für Forschungsfragen der Kinder- und Jugendhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Jutta von Maurice, Tobias Linberg und Hans-Günther Roßbach Die Haushaltspanelstudie sozio-ökonomisches Panel (SOEP) und ihre Potenziale für Sekundäranalysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Lisa Pagel und Jürgen Schupp Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Manuel Siegert und Nina Rother Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Anett Friedrich und Elisabeth M. Krekel Teil III  Daten der amtlichen Statistik Kinder- und Jugendhilfestatistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Jens Pothmann Die amtliche Schulstatistik als Datenquelle für die Kinder- und Jugendhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Björn Hermstein, Nils Berkemeyer und Horst Weishaupt Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus. . . . . . . . . . . . . 279 Kirsten Fuchs-Rechlin Teil IV  Akten und andere Dokumente Die prozessorientierte Aktenanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Robert Lehmann und Wolfgang Klug Erfolg und dessen Einflussfaktoren in Therapeutischen Jugendwohngruppen – eine retrospektive Aktenanalyse . . . . . . . . . . . . . . 321 Martha Schneider und Silke Birgitta Gahleitner Jugendgerichtsakten als Datengrundlage für wissenschaftliche Fragestellungen der Kinder- und Jugendhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Stephanie Ernst, Theresia Höynck und Fredericke Leuschner Analysen von publizierten Dokumenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Felix Berth

Inhaltsverzeichnis

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Teil V Systematische Auswertungen verschiedener Studien und unterschiedlicher Datenquellen zu spezifischen Themen Sekundäranalysen in der Schulsozialarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Karsten Speck Wie können Wirkungen pädagogischer Interventionen gemessen werden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Klaus Wolf Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Metaanalysen von quantitativen Studien zu den Hilfen zur Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . 425 Thomas Gabriel und Samuel Keller Sekundäranalysen von empirischen Studien zur Jugend(verbands)arbeit bis 1990. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Wibke Riekmann und Alf-Tomas Epstein Die Verwendung von Schuleingangsdaten für bildungsund familienökonomische Analysen – das Beispiel der Analyse von Elterngeldeffekten auf sozioökonomische Unterschiede bei kindlichen Entwicklungsmaßen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Mathias Huebener, Daniel Kühnle und C.Katharina Spieß Schuleingangsuntersuchung: Chancen und Stolpersteine am Beispiel früher Bildungsungleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Nicole Biedinger Forschung zu Segregation im Elementarbereich: Die Rekonstruktion von Kita-Kompositionen anhand von Daten der Schuleingangsuntersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Anna Pomykaj und Nina Hogrebe Teil VI  Trägerstatistiken Die Zentralstatistik des Deutschen Caritasverbandes e. V.. . . . . . . . . . . . . 515 Jennifer Panjas und Monika Zimmermann Einrichtungsstatistik der Diakonie Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Wolfgang Schmitt

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Inhaltsverzeichnis

Teil VII  Sozialraumbezogene Daten Der Wegweiser Kommune – Ein Zugang zu Daten auf Gemeindeebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Hannah Amsbeck und Raimund Pahs Der KECK-Atlas als kleinräumiges Monitoring-Instrument – auch für die Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Hanna Münstermann und Nora Jehles Teil VIII  Datenarchive Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Datenangebot über GESIS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Oliver Watteler Literarische Textproduktionen Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Nicolle Pfaff und Anja Tervooren

Sekundäranalysen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfeforschung: Eine Einführung Maik-Carsten Begemann und Klaus Birkelbach 1 Einleitung Heute dürfte es unstrittig sein, dass auch die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) einer wissenschaftlichen, und das bedeutet zugleich: einer empirischen Grundlage bedarf. Das gilt sowohl für die Grundlagenforschung, die einer empirisch abgesicherten Theoriebildung dient, als auch für das professionelle Handeln, das sich der Effektivität seiner Angebote und Maßnahmen immer wieder versichern muss, sowie für die Politik, die verlässliche Informationen für die Steuerung benötigt. In jedem Fall ist die KJH für die Forschung auf eine gut abgesicherte Datenbasis angewiesen. Welche Daten jeweils konkret benötigt werden, ist dann immer davon abhängig, welche Ziele verfolgt und welche Forschungsfragen im Zentrum des Interesses stehen. Die Frage, mit der sich jede/r Forschende auseinandersetzen muss, lautet daher, woher er/sie aussagekräftige Daten beziehen kann, die

Dr. Maik-Carsten Begemann ist aktuell Lehrbeauftragter am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Prof. Dr. Klaus Birkelbach lehrt Soziologie und empirische Sozialforschung am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen. M.-C. Begemann (*)  Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Birkelbach  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_1

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inhaltlich angemessene Indikatoren für die zu untersuchenden Konzepte darstellen und zugleich den spezifischen Qualitätskriterien, die an aussagekräftige Daten anzulegen sind, genügen. Grundsätzlich bestehen dabei zwei Möglichkeiten: Entweder es werden bereits vorliegende Daten für die Auswertungen sekundär genutzt oder es werden zunächst eigene Daten erhoben und anschließend ausgewertet. Der vorliegende Band möchte die Möglichkeiten, die Sekundäranalysen bereits vorliegender Daten in der Forschung zur und für die KJH bieten können, ausloten. Dazu verwenden wir einen weiten Begriff von Sekundäranalysen. Gemeint sind hier alle empirischen Untersuchungen konkreter Forschungsfragen, die sich auf Daten stützen, die nicht eigens für diesen spezifischen Zweck erhoben oder generiert worden sind, sondern bereits vorliegen. Dabei wird sich zeigen, dass die Grenzen zwischen Primär- und Sekundärdaten teilweise verschwimmen werden. Wie die Beiträge in diesem Band verdeutlichen, können diese Daten qualitativer oder quantitativer Natur sein, sie können aus den unterschiedlichsten Quellen stammen und explizit mit einer wissenschaftlichen oder auch mit einer administrativ-organisatorischen Zielsetzung erhoben werden oder als prozessproduzierte Daten in unterschiedlichen Kontexten anfallen. Entscheidend sollte lediglich ihre Nützlichkeit für die Untersuchung der jeweiligen Forschungsfrage sein – wozu neben inhaltlichen Kriterien natürlich auch die Qualität der Daten gehört. Solange die verwendeten Daten zur Beantwortung der jeweiligen Untersuchungsfrage geeignet sind, stellt es keinen Makel der Forschung dar, wenn diese nicht auf selbst erhobenen (Primär-)Daten, sondern auf Sekundärdaten basiert (Häder 2010, S. 131). Ganz im Gegenteil konstatiert die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen (2019) in der Präambel der Grundsätze zum Umgang mit Forschungsdaten: „Qualitätsgesicherte Forschungsdaten bilden einen Grundpfeiler wissenschaftlicher Erkenntnis und können unabhängig von ihrem ursprünglichen Erhebungszweck vielfach Grundlage weiterer Forschung sein.“ Aus diesem Grund, aber auch um Forschung transparenter und überprüfbar zu machen, ist derzeit eine rege Debatte in den sozial- und erziehungswissenschaftlichen Fachwissenschaften zur Archivierung von Forschungsdaten im Gange (DGfE 2017; Akademie für Soziologie 2019; DGS 2019). So stellt die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihren (2015) verabschiedeten Leitlinien zum Umgang mit Forschungsdaten (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2015) fest: „Die langfristige Sicherung und Bereitstellung der Forschungsdaten leistet einen Beitrag zur Nachvollziehbarkeit und Qualität der wissenschaftlichen Arbeit und eröffnet wichtige Anschlussmöglichkeiten für die weitere Forschung“ und fordert, dass Forschungsdaten aus DFG-geförderten Projekten so „zeitnah wie möglich verfügbar gemacht werden“ und „in der eigenen Einrichtung oder in einer fachlich

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einschlägigen, überregionalen Infrastruktur für mindestens 10 Jahre archiviert werden“. Die dadurch entstehenden Kosten können mit dem Antrag auf Förderung bei der DFG eingeworben werden. Die Durchführung eigener qualitativer oder quantitativer Befragungen gilt als klassisches Mittel der sozialwissenschaftlichen Erhebung von Daten über die soziale Wirklichkeit. Die in Befragungen erhoben Primärdaten können als Indikatoren für soziale Phänomene und theoretische Konstrukte verstanden werden. Die Erhebung muss, um gehaltvolle Forschungsergebnisse zu ermöglichen, wissenschaftlichen Standards genügen, die genauso wie die entsprechenden Erhebung- und Auswertungstechniken in Lehrbüchern und Handbüchern beschrieben werden (z. B. Flick 2014; Schnell 2012; Baur und Blasius 2014; Wolf und Best 2010). Die Datenerhebung durch Befragungen setzt dadurch ein hohes Maß an wissenschaftlicher Expertise, aber auch an praktischer Erfahrung voraus. Darüber hinaus sind je nach Befragungsform in unterschiedlichem Umfang finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen eine wichtige Voraussetzung einer erfolgreichen Durchführung einer Befragung. Sind diese Voraussetzungen gegeben, dann lassen sich Erhebungsinstrumente entwickeln und anwenden, die möglichst genau die theoretischen Überlegungen und Hypothesen operationalisieren. Häufig sind diese Voraussetzungen aber nicht gegeben, weil die notwendigen finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen nicht verfügbar sind. Es bietet sich dann auch aus weiteren Gründen (vgl. den Beitrag von Begemann in diesem Band) an, auf bereits vorliegende Daten zurückzugreifen. Dazu müssen die Daten sich natürlich auf die Grundgesamtheit beziehen, über die Aussagen gemacht werden sollen, inhaltlich passende Indikatoren für die zu untersuchenden theoretischen Konzepte enthalten und entsprechend hoher wissenschaftlicher Standards, wie sie oben angesprochen wurden, erhoben worden sein. Dies zu überprüfen setzt eine umfassende Dokumentation der Daten voraus. Das Problem, dem sich Wissenschaftler/innen, die eine Sekundäranalyse zu einer spezifischen Fragestellung durchführen möchten, stellen müssen, ist die Suche nach passenden Daten. Wo sich Forscher/innen sich bei dieser Suche innerhalb der in Deutschland institutionell bereitgestellten Forschungsdateninfrastruktur und auch darüber hinaus umsehen können, auch dafür möchte der vorliegende Band Anregungen bieten. Tatsächlich liegen zu vielen Themen und für viele Fragestellungen bereits nach hohen wissenschaftlichen Standards erhobene Daten vor und werden teilweise über Repositorien und Forschungsdatenzentren (FDZ) der datenerhebenden Institutionen den Nutzern zur Verfügung gestellt werden. Einen Überblick über die bestehenden, vom Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) zertifizierten FDZ und deren Datenbestände vermittelt die Webseite des RatSWD (https:// www.ratswd.de/forschungsdaten/fdz). Die FDZ bilden einen wichtigen Teil der

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Forschungsdateninfrastruktur für die empirische Sozialforschung, die sich seit der Gründung des damaligen Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (heute Datenarchiv für Sozialwissenschaften der GESIS) in Deutschland als Dienstleistung für die Wissenschaft entwickelt hat (Bug et al. 2018; Mochmann 2014). Die FDZ archivieren nicht nur die Daten, sondern stellen den Nutzer/innen möglichst alle notwendigen Informationen über die Daten von der ursprünglichen Forschungsfrage, dem Stichproben- und Studiendesign, den Erhebungsinstrumenten und der Feldarbeit zur Verfügung (Mochmann 2014, S. 236 f.). Der vorliegende Band möchte aber auch über diese institutionalisierten Datenquellen hinausgehen und auf weitere, für Forschungen im Bereich der KJH nutzbare Arten von Daten und deren Quellen aufmerksam machen, aber auch auf dabei auftretende Schwierigkeiten hinweisen. Sekundäranalysen von Befragungsdaten bieten also zunächst einen forschungsökonomischen Vorteil, weil bei der Nutzung von Sekundärdaten auf eine eigene zeit-, kosten- und personalintensive Datenerhebung verzichtet werden kann. Dadurch sind nicht nur inhaltliche Ergebnisse schneller verfügbar, sondern es werden insbesondere auch kleinere Forschergruppen oder Einzelforscher/innen in die Lage versetzt, Analysen mit Daten durchführen, für deren Erhebung ihnen die notwendigen Ressourcen fehlen. Eng damit verknüpft ist, dass viele Daten gar nicht durch die Forscher/innen selber erhoben werden können. Dazu gehören z. B. lange Zeitreihen und langfristig angelegte Panelstudien, weil deren Erhebung i. d. R. den zeitlichen Horizont einzelner Forschungsprojekte überschreitet und auch die institutionellen Voraussetzungen sowie die notwendigen Ressourcen für eine kontinuierliche Durchführung der Datenerhebung und eine langfristige Absicherung der Datenerhebung nicht gegeben sind. Hier ist es sogar notwendig, auf die verfügbaren Daten zurückzugreifen, wenn man komplexe Fragestellungen mit angemessenen Daten und einem anspruchsvollen Methodeninstrumentarium untersuchen möchte um zu belastbaren Ergebnissen zu kommen. Darüber hinaus bieten Sekundärdaten den Vorteil, dass sie für die Zielgruppen der Befragungen keine weiteren Belastungen mit sich bringen und so auch einer zunehmenden Befragungsmüdigkeit vorbeugen können (Häder 2010). Inhaltlich möchte der vorliegende Band ein breites Feld abdecken und sich nicht auf die empirische Forschung über die KJH und deren Angebote und Maßnahmen beschränken, sondern auch weitergehende Forschungsfragen berücksichtigen, die für die KJH von grundlegender Bedeutung sind. Diese grobe und sicherlich nicht überschneidungsfreie Unterscheidung korrespondiert weitgehend mit der Unterscheidung in Professionsforschung und disziplinäre Forschung, die Thomas Rauschenbach in seinem Beitrag in diesem Band vorstellt.

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Forschung über die KJH oder mit Rauschenbachs Begriff „Professionsforschung“ betrachtet die Entwicklung der KJH, vor allem aber die Entwicklungen spezifischer Angebote und Maßnahmen und untersucht deren Wirkungen. Darüber hinaus beschäftigt sich u. a. mit der organisatorischen Verfasstheit der KJH sowie mit Fragen des Personals und dessen Ausbildung. Forschung über die KJH orientiert sich zum einen an der Praxis und soll diese reflektieren und gegebenenfalls verbessern. Zum anderen soll sie der Politik die notwendige Informationsbasis für Entscheidungen zur Verfügung stellen. Mit Forschung für die KJH oder „disziplinärer Forschung“ (Rauschenbach) ist eine stärker grundlagenorientierte Forschungsrichtung gemeint, die im universitären Kontext häufig gar nicht direkt der KJH zugeordnet, sondern in den sogenannten Bezugswissenschaften, wie z. B. Soziologie, Sozialpsychologie, Sozialmedizin oder Psychologie verortet wird. Dennoch werden gerade dieser Bereich die theoretischen Grundlagen der KJH entwickelt. Ihr Untersuchungsgegenstand sind die Zielgruppen der KJH – also Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und deren Familien – und die Einflüsse, denen sie in spezifischen sozialen Konstellationen und Kontexten ausgesetzt sind sowie die kurz-, mittelund langfristigen Folgen für deren Wohlbefinden und weitere Entwicklung. Es geht dabei darum, potenzielle Ursachen für Fehlentwicklungen und die Bedingungen positiver Entwicklungen zu identifizieren. Die Entwicklung derartiger Theorien und deren empirische Überprüfung ist eine Vorbedingung für eine professionelle KJH. Auch wenn diese Forschung sich zunächst an den innerwissenschaftlichen Diskurs zu richten scheint, so ermöglichen empirisch gut abgesicherte Theorien im Zusammenhang mit empirischen Daten doch der Politik und der Praxis der KJH auch zukünftige Bedarfe angesichts sich transformierender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Aufwachsens und sich wandelnder Lebenspläne und Biografien junger Menschen treffsicherer zu prognostizieren und entsprechend wirksame Maßnahmen und Angebote zu konzipieren. Wir möchten im vorliegenden Band auf die zahlreichen Vorteile, die sich aus der Nutzung von Sekundärdaten ergeben, aufmerksam machen. Ein besonderes Analysepotenzial für Sekundäranalysen bietet sich z. B. hinsichtlich des in der KJH immer wieder geforderten Wirkungsnachweises (vgl. zahlreiche Apelle bspw. in diversen Kinder- und Jugendberichten sowie arbeitsfeldspezifisch Begemann et al. 2019) durch die Auswertung langfristiger Panelstudien, bei denen dieselben Personen in bestimmten Zeitabständen wiederbefragt werden. Deren Potenziale werden bislang in der Forschung zur und für die KJH aber nur wenig ausgeschöpft. So werden die Daten des Sozio-Ökonomischen Panel SOEP (Goebel et al. 2018) auch im 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017) vor allem zur Beschreibung von Veränderungen bestimmter Variablen im Aggregat

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einer bestimmten Bevölkerungsgruppe genutzt. Mit Paneldaten können Entwicklungen von Lebensverläufen in ihren jeweiligen Kontexten auf der Individualebene der jeweiligen Untersuchungseinheiten beschrieben und untersucht werden. Mit spezifischen Methoden der Panelanalyse (Andreß et al. 2013; Andreß 2017; Allison 2009; Brüderl 2010) lassen sich Hypothesen zu Ursachen und Wirkungen testen, weil anders als in Querschnittdaten die zeitliche Abfolge beider Variablen bestimmbar ist und zeitkonstante Unterschiede zwischen den Personen automatisch kontrolliert werden. Damit ist ein gravierendes Problem nicht-experimenteller Testdesigns, die kaum zu kontrollierende Heterogenität zwischen den Untersuchungseinheiten, zumindest deutlich reduziert. Sie können der Ursachen- und Wirkungsforschung zur KJH viele Möglichkeiten eröffnen, weil sie die Untersuchung der kausalen Wirkung früherer Gegebenheiten, Bedingungen und Entscheidungen sowie spezifischer Maßnahmen auf spätere Ergebnisse im Lebensverlauf in quasi-experimentellen Designs ermöglichen. Das besondere Potenzial von Panels wird inzwischen in der sozialwissenschaftlichen Forschung weithin genutzt und es ist den gemeinsamen Bemühungen von Wissenschaft und Politik zu verdanken, dass inzwischen neben dem SOEP eine ganze Reihe weiterer Panelstudien als Teil der deutschen Forschungsdateninfrastruktur institutionalisiert ist. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang wegen seiner Zielgruppe und seiner besonderen thematischen Relevanz für die KJH aber auch der bislang zwei Wellen umfassende Survey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) „Aufwachsen in Deutschland: Alltagwelten“ (AID:A), in dem verschiedene, früher separat durchgeführte Surveys des DJI (z. B. Familiensurvey, Jugendsurvey, Kinderpanel) zusammengeführt werden (Rauschenbach und Bien 2012). AID:A vereint in einer großen Stichprobe Vorteile einer wiederholten Querschnittserhebung mit denen einer Panelstudie.

2 Datenquellen in der KJH-Forschung Die Datenquellen, auf die sich Forschung im Bereich der KJH stützt, sind so vielfältig, wie die Forschungsfragen, die es zu beantworten gilt. Eine erste grobe und nicht ganz überschneidungsfreie Unterscheidung ergibt sich hinsichtlich der datengenerierenden bzw. -erhebenden Institutionen und dem primären Zweck der Erhebung. So gibt es Daten, die in der Wissenschaft für die Forschung durch Befragungen und Beobachtungen produziert werden, und Daten, die außerhalb der Wissenschaft bei anderen Akteuren im Rahmen derer regulären Tätigkeiten anfallen und registriert werden oder die von diesen gezielt zum Zwecke des Monitorings und der Optimierung des eigenen Handelns erhoben und genutzt

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werden, aber durch die Wissenschaft sekundär genutzt werden können. Dazu gehören z. B. die Daten der amtlichen Statistik, aber auch Daten, wie sie z. B. Akten darstellen, und Daten, die bei den verschiedenen Trägern der KJH im Rahmen von deren Aktivitäten anfallen. Quer zu dieser Differenzierung liegt eine Unterscheidung in qualitative und quantitative Daten, die aber auch wiederum längst nicht so eindeutig gezogen werden kann, wie dies die polare Begrifflichkeit suggeriert. So lassen sich die meisten Formen einer gezielten Datenerhebung nach dem Grade der Vorabstandardisierung und der Strukturiertheit der Erhebung differenzieren. Dies verweist gleichzeitig darauf, dass sich Datenquellen – neben dem Zweck der Datenerhebung – auch hinsichtlich der Art der Erhebung unterscheiden. Zugleich variieren sie nach zahlreichen anderen Merkmalen, wie bspw. der Form der Datenarchivierung, der Art der Bereitstellung sowie dem Zugang und vor allem auch nach den Nutzungsmöglichkeiten. Eine inhaltliche Differenzierungslinie ergibt sich aus dem Gegenstand und dem Ziel der Untersuchung. Forschung mit dem Ziel, die Entwicklung von Strukturen und Leistungen der KJH zu beschreiben, benötigt andere Daten als Forschung, deren Ziel die Beschreibung der Lebenslagen der Adressat/inn/en im sozialen Wandel ist. Im 11. Kinder- und Jugendbericht werden in einer Übersicht (BMFSFJ 2002, S. 97) Beispiele für Datenquellen im Bereich der amtlichen Statistik, repräsentativer Zeitreihenvergleiche auf Basis von Befragungsdaten und qualitative und quantitative Einzelstudien genannt. Wie oben bereits angesprochen bedürfen darüber hinaus Analysen von Kausalzusammenhängen besonderer Datenstrukturen, die dort nicht erwähnt werden. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass allein die wissenschaftliche Fragestellung bestimmt, welche Daten für eine Untersuchung geeignet sind. Amtliche Statistik Die amtliche Statistik produziert Daten, die auf Basis einer Rechts- oder Verwaltungsvorschrift anfallen oder gezielt für politisch-administrative Zwecke erhoben werden. Die Auswertung stellt also per Definition immer eine Sekundäranalyse dar. Dazu gehören zunächst einmal Registerdaten, z. B. die Bevölkerungsstatistik, der Schulstatistik oder die KJH-Statistik, die es in Form von aggregierten Statistiken erlauben, standardisiert erhobene Merkmale auf verschiedenen Ebenen und im Zeitverlauf vergleichen. Sie lassen sich leicht mit den entsprechenden Tabellenprogrammen, z. B. auf der Webseite des Statistischen Bundesamtes (www-genesis.destatis.de), erstellen. Mit der Erstellung derartiger Tabellen ist das Potenzial aber nicht ausgeschöpft. Über die Forschungsdatenzentren (FDZ) des Bundes, der Länder oder z. B. der Bundesagentur für Arbeit lassen sich

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unter Beachtung strenger Datenschutzrichtlinien auch stärker desaggregierte Daten analysieren. Darüber hinaus werden auf gesetzlicher Grundlage regelmäßige repräsentative Befragungen durchgeführt, die sich ebenfalls zum Monitoring der erhobenen Merkmale zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Zeitverlauf eignen, aber auch als Mikrodaten in Form von Scientific-Use-Files der Wissenschaft für ihre Analysen zur Verfügung stehen und Analysen auf der Individualebene ermöglichen (Wirth und Müller 2005; Hartmann und Lengerer 2014). Hier sind z. B. der Mikrozensus, eine 1-%-Stichprobe der Haushalte in Deutschland, die Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) und die EU-weit durchgeführte Erhebung EU-SILC, bei der eine Zufallsstichprobe von rund 14.000 deutschen Haushalten u. a. zu Einkommens- und Erwerbssituation, Wohnverhältnissen, Gesundheit und weiteren wichtigen Lebensbereichen befragt werden, zu erwähnen. Amtliche deutsche und europäische Mikrodaten sind über das FDZ des German Microdata Lab der GESIS verfügbar (https://www.gesis. org/gml/gml-home/). Regelmäßig durchgeführte Surveys Hiermit sind z. B. neben dem SOEP die allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) und der DJI-Survey AID:A als Datenquelle angesprochen, wobei zu vermuten ist, dass auch das große Analysepotenzial dieser Individualdaten für die KJH bislang nicht vollständig ausgenutzt wird. Es handelt sich beim SOEP, dem ALLBUS oder auch bei AID:A um Datensätze, die im Rahmen kontinuierlicher Datenerhebungsprogramme für die Wissenschaft erhoben werden (Mochmann 2014). Als Teil der Forschungsdateninfrastuktur für die Sozialwissenschaften (Bug et al. 2018) sollen sie der scientific community eine empirische Basis für die Untersuchung unterschiedlicher Forschungsfragen in spezifischen Themenfeldern bieten und können über die FDZ der datenerhebenden Institutionen bezogen werden. Bei solchen Daten werden die Grenzen zwischen Primär- und Sekundärdaten obsolet, weil die Erhebung langfristig abgesicherte, institutionalisierte Strukturen voraussetzt, welche die Möglichkeiten und Ressourcen einzelner Forscher/innen oder kleinerer Forschungsgruppen weit übersteigen. Der ALLBUS, eine seit 1980 bei GESIS (und deren Vorgängerinstituten) regelmäßig alle zwei Jahre durchgeführte repräsentative (Mehrthemen-)Querschnittserhebungen, ist ein Beispiel für eine Datenbasis, die es nicht nur ermöglicht, sozialen Wandel zu beschreiben und zu analysieren, weil Fragen in regelmäßigen Abständen repliziert werden, sondern auch eine wertvolle Datenbasis für die empirische Erforschung einer Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen bietet,

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wie die ALLBUS-Bibliographie (Blohm et al. 2018) belegt. Die Daten des ALLBUS stehen als Einzeldatensätze und über die Zeit kumuliert zusammen mit ausführlichen Dokumentationen bei GESIS in einem eigenen FDZ zum Download bereit (https://www.gesis.org/institut/forschungsdatenzentren/fdz-allbus/). Die Daten der beiden bislang verfügbaren Wellen von AID:A sind wie auch die der Vorläuferstudien und weiterer DJI-Erhebungen über das FDZ des DJI zu beziehen (https://surveys.dji.de). Zu den langfristig institutionalisierten Erhebungsprogrammen gehören auch international vergleichende Studien mit deutscher Beteiligung, wie z. B. der European Social Survey (ESS), der die Vorteile regelmäßiger Replikationen mit den Möglichkeiten international vergleichender Forschung über rund 30 Länder, darunter natürlich auch Deutschland, verbindet. Auch diese Daten sind für die eigenen Analysen einfach verfügbar (https://www.europeansocialsurvey. org/data/). Wegen ihrer besonderen Forschungspotenziale bilden darüber hinaus langfristig angelegte Panelstudien eine wichtige Datengrundlage für eine erklärende Sozialforschung. Der bekannteste Vertreter dieser Gruppe ist sicher das bereits mehrfach angesprochene SOEP, das seit 1984 im jährlichen Rhythmus in einer repräsentativen Stichprobe privater Haushalte als Panel alle Haushaltsmitglieder über 11 Jahren befragt und Informationen zu jüngeren Kindern durch die Eltern erhebt. Informationen zum Datenzugang und zu spezifischen Serviceangeboten rund um das SOEP finden sich auf https://www.diw.de/soep. Hinzugekommen sind in den letzten Jahren eine Reihe weiterer, inhaltlich stärker spezialisierter Panelstudien, deren Daten über die jeweiligen FDZ erhältlich sind. Von besonderer Bedeutung für die KJH-Forschung dürften das Nationale Bildungspanel (NEPS) oder auch das Familien- und Beziehungspanel (pairfam) sein. Da solche Datenerhebungsprogramme bei langfristig geförderten und regelmäßig evaluierten wissenschaftlichen Institutionen verankert sind, die auf für umfangreiche und komplexe Erhebungen über die notwendigen finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen sowie eine entsprechende Infrastruktur verfügen, ist die Kontinuität gesichert, sind die Daten gut dokumentiert und ihre Qualität ist hoch. Einzelstudien Darüber hinaus existiert eine Vielzahl spezifischer Einzelstudien zu unterschiedlichen Themen, die ebenfalls für Sekundäranalysen im Kontext der KJH herangezogen werden können, wobei zu unterscheiden ist zwischen quantitativen und qualitativen Einzelstudien. Quantitative repräsentative Surveys, wie bspw. die Shell-Jugendstudien, thematisieren u. a. die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, quantitative nicht repräsentative Studien, etwa in Form

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wissenschaftlicher Begleitungen, untersuchen u. a. spezifische Leistungen und Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, und qualitative Studien fokussieren z. B. auf jugendliche Biografien, Lebens- und Problemlagen, aber auch auf Jugendszenen, -kulturen und -milieus. In einigen Fällen beschäftigen sich die Studien auch explizit mit einzelnen Arbeitsfeldern der KJH (zur Studienlage zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit siehe z. B. Schmidt 2011; zur Schulsozialarbeit s. Speck und Olk 2010). Auch sie bieten sich für Sekundäranalysen im Kontext der KJH an. Weitere Datenquellen Damit sind die verfügbaren Datenquellen für Sekundäranalysen zur und für die KJH aber keinesfalls erschöpfend beschrieben. So lassen sich beispielsweise Statistiken von Trägern der KJH zur Beantwortung spezifischer Fragestellungen verwenden, weil sie verschiedene Informationen etwa zum Finanzvolumen, Personalbestand und teilweise auch zur Inanspruchnahme von institutionell erbrachten Angeboten wiedergeben. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch diese Datenquellen im Verwendungskontext von Sekundäranalysen spezifischen Einschränkungen unterliegen, womit insbesondere unterschiedliche kommunale und regionale Erhebungsebenen und Systematiken angesprochen sind, die sich oft nur schwer zu überregional verlässlichen Datenbeständen aggregieren lassen. Sozialraumbezogene Daten wiederum, wie sie auf Ebene der Kommunen erhoben werden, können zur Analyse von Kontexten der Lebenssituation der Adressaten der KJH genutzt werden. Gerade auch im Vergleich zu anderen Forschungskontexten, wie bspw. der Rechtstatsachenforschung (exempl. Backes et al. 2003) werden für wissenschaftliche Fragestellungen der KJH Akten bislang wenig genutzt, die bei staatlichen Akteuren geführt werden müssen, und ein reiches Potenzial für Analysen auch im Kontext der KJH bieten. Auch die Ergebnisse der obligatorischen Schuleingangsuntersuchungen bieten reiches Material für die Forschung, das immer noch selten genutzt wird. Im vorliegenden Band stellen wir die Grundlagen sowie verschiedene Datenquellen für Sekundäranalysen im Kontext der KJH vor und präsentieren exemplarische Untersuchungen, welche auch die jeweils spezifischen Grenzen von Sekundäranalysen aufzeigen, aber eben auch deren Potenzial gerade für Forschungsunternehmungen für die und zur KJH, um Anregungen für die Suche nach angemessenen Datenquellen für die eigene Forschungsfragen zu geben.

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3 Die Beiträge des vorliegenden Bandes Der Band gliedert sich in acht Sektionen, die jeweils die Beiträge zu einem spezifischen Schwerpunkt zusammenfassen – auch wenn die Grenzen mitunter fließend sind. Die in der ersten Sektion zusammengefassten vier Beiträge beschäftigen sich mit den inhaltlichen und methodologischen Grundlagen von Sekundäranalysen im Rahmen der Forschung zur und für die KJH. Thomas Rauschenbach begründet in seinem Beitrag die Notwendigkeit einer empirischen Grundlage der KJH, die sich auch aus ihrer gestiegenen gesellschaftlichen Bedeutung und einem zunehmenden Bedarf an datenbasierter Vergewisserung in der Politik und der Wissenschaft ergebe. Irena Medjedović beschreibt in ihrem Beitrag die Potenziale und Voraussetzungen einer sekundären Nutzung qualitativer Daten und erläutert verschiedene Analysestrategien im Rahmen der Sekundäranalyse qualitativer Daten. Ausführlich wird auch die gerade bei qualitativer Forschung besonders relevante Frage des Erhebungskontextes diskutiert und auf forschungsethische Fragen, etwa nach dem Datenschutz, eingegangen. Klaus Birkelbach diskutiert die Vor- und Nachteile von Sekundäranalysen mit quantitativen Daten, insbesondere Surveydaten, für die sozialwissenschaftliche Forschung, beschreibt deren Voraussetzungen und gibt Hinweise zur Recherche nach passenden Sekundärdaten. Maik-Carsten Begemann erläutert in seinem Beitrag die Potenziale der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen für die KJH und benennt dabei mögliche Anwendungsfelder. Die Beiträge der zweiten Sektion stellen sechs regelmäßig erhobene Querschnittsdatensätze bzw. Langfristpanels vor. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität handelt sich um eine kleine exemplarische Auswahl von inhaltlich für die KJH einschlägigen Datensätzen, deren Daten im Rahmen der Forschungsdateninfrastruktur in Deutschland der Wissenschaft für deskriptive Untersuchungen und vertiefende Analysen zu einer Vielzahl unterschiedlicher Forschungsfragen verfügbar sind. In allen Beiträgen werden die Möglichkeiten des Datenzugangs erläutert. Eric van Santen beschreibt in seinem Beitrag zunächst Anlage, Inhalte und Datenstruktur der bislang zwei Wellen umfassenden Studie Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A) des Deutschen Jugendinstituts und vermittelt anschließend anhand einer Analyse zur Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund einen Eindruck von den Analysepotenzialen der Daten. Sabine Walper, Barbara Wilhelm und Carolin Thönnissen beschreiben das Design, Frageprogramm und die Datenstruktur

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des interdisziplinären Beziehungs- und Familienpanel pairfam, in dessen Rahmen seit 2008 Mütter, Vater, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene jährlich befragt werden. Eine Synopse bereits durchgeführter Forschungsvorhaben und weiterer Auswertungsmöglichkeiten zeigen die Potenziale von pairfam für die Forschung auf. Jutta von Maurice, Tobias Linberg und Hans-Günther Roßbach stellen das Erhebungsprogramm und die methodische Anlage des Nationalen Bildungspanels NEPS vor, das die individuelle Entwicklung von Kompetenzen und Bildungsprozesse von der frühen Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter in den unterschiedlichen Kontexten erhebt. Anhand von Analysen zu sozialen und migrationsspezifischen Ungleichheiten und nichtschulischen Entwicklungskontexten werden beispielhaft die Analysemöglichkeiten des Nationalen Bildungspanels aufgezeigt. In ähnlicher Weise beschreiben Lisa Pagel und Jürgen Schupp in ihrem Beitrag die Möglichkeiten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) und veranschaulichen anhand ausgewählter Beispiele die vielfältigen Analysemöglichkeiten, die das SOEP den Forscherinnen und Forschern im Bereich der Forschung zur KJH eröffnen kann. Eng mit dem SOEP verknüpft ist die IABBAMF-SOEP-Befragung Geflüchteter, die in bislang drei Panelwellen 2016, 2017 und 2018 repräsentative Informationen zu Geflüchteten in Deutschland erhebt. Der Datensatz enthält umfangreiche Informationen zur Lebenssituation geflüchteter Kinder, Jugendlicher, junger Erwachsener und deren Familien in einer großen Stichprobe. Manuel Siegert und Nina Rother erläutern die Ziele der Erhebung, deren Design und das Frageprogramm und veranschaulichen dabei die Möglichkeiten, die der Datensatz zu Fragestellungen im Bereich der Forschung zur Integration geflüchteter junger Menschen bietet. Der nächste Beitrag von Anett Friedrich und Elisabeth M. Krekel beschäftigt sich mit Daten zu einem völlig anderen Thema, der beruflichen Bildung, das aber gleichwohl für die KJH von hoher Relevanz ist, da z. B. der Übergang von der Schule in den Beruf gerade für benachteiligte Jugendliche eine prekäre Lebensphase darstellt, die nicht selten in die verschiedenen Schleifen des Übergangssystems führt. Teil des gesetzlichen Auftrags des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) ist die Berufsbildungsforschung. In diesem Rahmen erhebt das BIBB in Einzelstudien und in regelmäßig durchgeführten Befragungen Daten bei verschiedenen Zielgruppen zu Themenkomplexen im Bereich der Berufsbildungsforschung. Der Beitrag erläutert das Ziel und das Design der im BIBB-FDZ der Wissenschaft zur Verfügung stehenden Datensätze. Die dritte Sektion des Bandes befasst sich in drei Beiträgen mit den Potenzialen der Daten der amtlichen Statistik. Dazu gehört natürlich an erster Stelle die Kinder- und Jugendhilfestatistik, die in den letzten Jahren in enger Abstimmung zwischen Wissenschaft und Politik ausgebaut wurde. Jens Pothmann ­arbeitet

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in seinem Beitrag anschaulich die Strukturen der KJH-Statistik heraus und beschreibt deren Potenziale für Sekundäranalysen, aber auch ihre Grenzen, und gibt Hinweise zu ihrer Weiterentwicklung. Eine reiche Datenquelle für die unterschiedlichen für die KJH relevanten Fragestellungen bieten aber auch Daten, die in an die KJH angrenzenden administrativen Feldern generiert werden. Dazu gehören die Daten der Schulstatistik auf den verschiedenen administrativen Ebenen, die in dem vorliegenden Band ausführlich von Björn Hermstein, Nils Berkemeyer und Horst Weishaupt vorgestellt werden. Wie auch bei der KJH-Statistik werden bei der amtlichen Schulstatistik Daten auf verschiedenen administrativen Ebenen generiert und als Monitoringsinstrument und Planungsgrundlage für die Politik gesammelt. Die amtliche Schulstatistik kann darüber hinaus nicht nur eine wichtige Datenquelle für die Bildungsforschung sein, sondern auch fruchtbar für die Forschung zur und für die KJH genutzt werden. Die Autoren zeigen anhand von fünf Anwendungsfeldern die Analysemöglichkeiten der amtlichen Schulstatistik für die KJH-Forschung auf, weisen aber auch explizit auf deren Limitationen hin. Anders als diese beiden Bereiche der amtlichen Statistik werden im Rahmen des Mikrozensus repräsentative Individualdaten bei einem Prozent der Haushalte in Deutschland zur Bevölkerung und deren Lebenssituation erhoben. Kirsten Fuchs-Rechlin beschreibt das Stichprobendesign, das Frageprogramm und die Datenstruktur der jährlichen Erhebungen des Mikrozensus und veranschaulicht im Rahmen einer Analyse zur Teilzeitarbeit in sozialen Berufen die Nutzung der Daten für die Forschung. Auch in diesem Beitrag werden die mit der Nutzung der Daten verbundenen Vor- und Nachteile diskutiert. Die vierte Sektion des Bandes setzt sich mit der Sekundäranalyse von Akten und Dokumenten auseinander. Dabei gibt es Anknüpfungspunkte an die vorherige Sektion, weil Akten in Behörden und bei Trägern der KJH nach bestimmten Regeln und Vorschriften geführt werden. Das betrifft auch die KJH mit ihren umfassenden Dokumentationspflichten, z. B. im Bereich der Hilfeprozesse. Das Datenmaterial aber ist ein anderes und erfordert andere Herangehensweisen und Zugänge. Während die amtliche KJH-Statistik Strukturen und Prozesse in aggregierter Form beschreibt und der Forschung zugänglich macht, dokumentieren die von Behörden und Trägern geführten Fallakten individuelle Fälle und deren Entwicklung. Durch den Wechsel der Analyseebene auf die Individualebene wird es z. B. möglich, die Folgen und die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen und Interventionen zu untersuchen, aber auch das Handeln der aktenführenden Institutionen kann zum Analysegegenstand werden, wenngleich zu betonen ist, dass bei Aktenanalysen auch spezifische Schwierigkeiten, etwa des Datenzugangs, des Datenschutzes und der Standardisierung, zu überwinden sind.

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Robert Lehmann und Wolfgang Klug erläutern in ihrem Beitrag die Methode der prozessorientierten Aktenanalyse. Anhand eines Beispiels wird das konkrete Vorgehen beschrieben und auf mögliche Schwierigkeiten hingewiesen, vor allem aber gezeigt, welche Erkenntnisgewinne die prozessorientierte Aktenanalyse ermöglichen kann. In zwei weiteren Beiträgen wird anschließend anhand konkreter Aktenanalysen zu spezifischen Fragestellungen exemplarisch gezeigt, welche Erträge diese bieten können. In einer retrospektiven Aktenanalyse zum Thema Erfolg und dessen Einflussfaktoren in therapeutischen Jugendwohngruppen untersuchen Martha Schneider und Silke Birgitta Gahleitner inwieweit der Aufenthalt in therapeutischen Wohngruppen zu einer Reduzierung der ursprünglichen interventionsbedürftigen Probleme geführt hat. Stephanie Ernst, Theresia Höynck und Fredericke Leuschner zeigen in ihrem Beitrag anhand von zwei Beispielen, welche Potenziale die Analyse von Jugendgerichtsakten für die KJH-Forschung eröffnen kann. Gemeinsam ist den vorgestellten Aktenanalysen, dass sie auf Texten basieren, die zunächst mit inhaltanalytischen Mitteln für eine weitergehende Analyse erschlossen werden müssen. Der Beitrag von Felix Berth beschreibt exemplarisch wie anhand einer Analyse unterschiedlicher veröffentlichter Dokumente, wie z. B. Zeitschriften und Zeitungen oder Parlamentsprotokolle, mit den Mitteln der Inhalts- und Diskursanalyse wichtige Aspekte der Entwicklung von Kinderheimen in Westdeutschland rekonstruiert werden können. Die fünfte Sektion umfasst Einzelstudien, die systematische Auswertungen verschiedener Studien und Datenquellen zu ganz spezifischen Themen und unterschiedlichen Arbeitsfeldern durchführen. Dabei wird anhand von Beispielen gezeigt, wie fruchtbar Sekundäranalysen für sehr unterschiedliche Fragestellungen genutzt werden können. Im ersten Beitrag dieser Sektion erläutert Karsten Speck die komplizierte und unübersichtliche Datenlage zum Arbeitsfeld der Schulsozialarbeit, die durch unterschiedliche Begrifflichkeiten, vor allem aber durch die zwischen und auch innerhalb der Bundesländer variierenden unterschiedlichen konzeptionellen Ausrichtungen, Schwerpunkte und Angebote sowie durch Unterschiede der Trägerschaften, Finanzierung und Institutionalisierung befördert wird. Forschung zur Schulsozialarbeit müsse sich auf Sekundäranalysen verschiedener, in dem Beitrag beschriebener Datenquellen stützen, die aber zugleich spezifische Schwierigkeiten und Grenzen mit sich brächten. Klaus Wolf fragt mittels einer Metaanalyse qualitativer Studien zu Hilfen zur Erziehung wie Wirkungen pädagogischer Interventionen gemessen werden können. Anhand von 12 Studien zu ambulanten und stationären Hilfen zur Erziehung untersucht der Autor, welche Indikatoren für Erfolg oder Misserfolg in diesen

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Studien identifiziert werden können. Thomas Gabriel und Samuel Keller setzen sich in ihrem Beitrag auf Basis einer vergleichenden Sekundäranalyse von 11 quantitativen Studien zur Wirkung erzieherischer Hilfen kritisch mit dem Wirkungsbegriff auseinander und argumentieren, dass derartige Studien einerseits relevante Legitimationsfragen im Interesse des Kindes aufgreifen, andererseits aber auch in Abhängigkeit von theoretischen Annahmen und vom verwendeten Design, Operationalisierungen und Methoden zu zulässigen, aber auch unzulässigen Legitimationskrisen der untersuchten Maßnahmen führen können. Mit einem völlig anderen Thema beschäftigen sich Wiebke Riekmann und Alf-Thomas Epstein. Sie reanalysieren vorliegende empirische Studien zur Jugendverbandsarbeit aus dem Zeitraum von 1916 bis 1990 mit dem Ziel, die Entwicklung und die systematischen Schwerpunkte der empirischen Forschung zu diesem Themengebiet in diesem Zeitraum herauszuarbeiten. Der Beitrag zeigt, wie fruchtbar eine systematische Sekundäranalyse vorliegender Studien zur Beschreibung der historischen Entwicklung eines konkreten Feldes der KJH sein kann. Die Ergebnisse der obligatorischen, meist durch die zuständigen Gesundheitsämter durchgeführten Schuleingangsuntersuchungen sind ein gutes Beispiel für im Rahmen staatlichen Handelns generierte Daten mit großem Potenzial für die KJH-Forschung, wie drei Beiträge zu sehr unterschiedlichen Fragestellungen anhand exemplarischer Analysen verdeutlichen: Mathias Huebener, Daniel Kühnle und C. Katharina Spieß untersuchen mögliche Effekte des Elterngeldes auf die kindliche Entwicklung und skizzieren unterschiedliche Analysemöglichkeiten mit den Daten. Nicole Biedinger behandelt Fragen ethnischer und sozialer Ungleichheit und Anna Pomykaj untersucht gemeinsam mit Nina Hogrebe die Zusammensetzung von Kindertagesstätten. Die Beiträge verdeutlichen exemplarisch, welche unterschiedlichen Fragestellungen mithilfe der Daten der Schuleingangsuntersuchungen untersucht werden können und beleuchten die besonderen Herausforderungen, die damit verbunden sind. Die sechste Sektion des Bandes umfasst zwei Beiträge zu Trägerstatistiken. Dabei handelt es sich um Daten, die bei den Trägern der KJH anfallen und dokumentiert werden. Ähnlich wie bei der amtlichen Statistik werden sie vor allem aus administrativen Gründen gesammelt und dienen dem Monitoring der Institution und deren Planung. Berichtet werden verschiedene für die Organisation relevante Merkmale, wie etwa die Zahl der Einrichtungen und der darin Beschäftigten oder die Zahl der Klient/inn/en. Die meist in tabellarisch aggregierter Form verfügbaren Daten können auch für die Forschung interessante Einblicke in Entwicklungen konkreter Bereiche vermitteln. Als Beispiele enthält dieser

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Band Beiträge zur Zentralstatistik der Caritas von Jennifer Panjas und Monika Zimmermann sowie zur Einrichtungsstatistik der Diakonie von Wolfgang Schmitt. In den beiden Beiträgen wird die Systematik der Erhebung und der Daten und deren Verfügbarkeit beschrieben. Alleine schon aufgrund des gesetzlichen Auftrages der KJH, aber auch aufgrund eines zunehmenden Interesses an Sozialraumorientierung als Leitprinzip muss Forschung zur und für die KJH auch die Sozialräume als unmittelbare Handlungskontexte der Adressaten und der Institutionen der KJH berücksichtigen. In der siebten Sektion werden daher zwei Zugänge zu sozialraumbezogenen Daten beschrieben, die auf Daten der amtlichen Statistik basieren, und die gleichzeitig bereits aufbereitete Indikatoren für bestimmte Anwendungen der Forschungspraxis zur Verfügung stellen. Hannah Amsbeck und Wolfgang Pahs beschreiben in ihrem Beitrag die Systematik des Wegweiser Kommune, eines Angebotes der Bertelsmann Stiftung, das eine Vielzahl an auch für die KJH relevanten Indikatoren für Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern bietet. Hannah Münstermann und Nora Jehles erläutern in ihrem Beitrag die Möglichkeiten, die der KECK-Atlas, einer webbasierten Informationsplattform, die regional kleinräumig viele Indikatoren zu den Lebenslagen der Adressaten der KJH liefert, bietet. In der achten Sektion werden zwei einschlägige Datenarchive für quantitative bzw. qualitative Daten vorgestellt. Das GESIS Datenarchiv für Sozialforschung als einer der wichtigsten Pfeiler der deutschen Forschungsdateninfrastruktur kann schon auf eine fast 60-jährige Geschichte zurückblicken. Seit seiner Gründung als Zentralarchiv für empirische Sozialforschung 1960 werden dort quantitative Datensätze archiviert, dokumentiert und der Wissenschaft für Sekundäranalysen verfügbar gemacht. Oliver Watteler stellt in seinem Beitrag exemplarisch verschiedene bei GESIS verfügbare Datensätze vor, die u. a. als empirische Grundlage für den 15. Kinder- und Jugendbericht genutzt wurden, und beschreibt die Services, die GESIS interessierten Forscher/inn/en bietet. In den letzten Jahren mehren sich die Bemühungen, auch qualitative Daten für Sekundäranalysen in ähnlichen Archiven verfügbar zu machen (Medjedović und Witzel 2010). Nicolle Pfaff und Anja Tervooren zeigen mit einer eigenen Analyse am Beispiel eines im Datenarchiv „Kindheit und Jugend im urbanen Wandel“ archivierten Datensatzes die Potenziale und Herausforderungen einer Sekundäranalyse qualitativer Daten im Rahmen der historischen Kindheits- und Jugendforschung auf. Insgesamt haben die Beiträge des vorliegenden Bandes zum Ziel, das enorme Potenzial von Sekundäranalysen für Forschungsanliegen für und zur KJH aufzuzeigen. Viele der verwendeten Datenquellen und beschriebenen Sekundäranalysen sind typisch und einschlägig für die KJH, aber sie haben letztlich nur

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exemplarischen Charakter und hätten natürlich durch eine Vielzahl weiterer Datenquellen, Methoden und Anwendungsbeispiele ergänzt werden können. Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal explizit bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge bedanken.

Literatur Akademie für Soziologie. 2019. Wissenschaftliche Daten sind kein Privateigentum einzelner Forschender, sondern ein kollektives Gut. Die Bereitstellung von Forschungsdaten zur Nachnutzung und Replikation muss auch in der Soziologie die Norm sein. Positionspapier der Akademie für Soziologie. https://akademie-soziologie.de/wp-content/ uploads/2019/01/AS_Positionspapier_1_2019_Nachnutzung-Forschungsdaten.pdf. Zugegriffen: 01. März 2019. Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen. 2010. Grundsätze zum Umgang mit Forschungsdaten. https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/Allianz_Grundsaetze_Forschungsdaten.pdf. Zugegriffen: 01. März 2019. Allison, P. D. 2009. Fixed Effects Regression Models. Vol. 160, Quantitative Applications in the Social Sciences. Thousand Oaks (Cal): Sage. Andreß, H.-J., K. Golsch, und A. Schmidt. 2013. Applied Panel Data Analysis for Economic and Social Surveys. Berlin & Heidelberg: Springer. Andreß, H. J. 2017. The need for and use of panel data. IZA World of Labor: 352. Backes, O. und C. Gusy unter Mitarbeit von M.-C. Begemann, S. Doka und A. Finke. 2003. Wer kontrolliert die Telefonüberwachung? Eine empirische Untersuchung zum Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung. Bern: Peter Lang Verlag. Baur, N., und J. Blasius, Hrsg. 2014. Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer. Begemann, M.-C., C. Bleck und R. Liebig, Hrsg. 2019: Wirkungsforschung zur Kinderund Jugendhilfe. Grundlegende Perspektiven und arbeitsfeldspezifische Entwicklungen. Weinheim: Beltz Juventa. Blohm, M., B. Bohrer, K. Ishchanova, A. Kialunda, und S. Kwasnick. 2018. ALLBUS-Bibliographie: (32. Fassung, Stand: März 2018). GESIS Papers, 2018/10, https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-56996-2. Zugegriffen: 01. März 2019. [BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hrsg. 2002. 11. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder und Jugendhilfe in Deutschland, Drucksache 14/8181. Berlin: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode. [BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hrsg. 2017. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder und Jugendhilfe in Deutschland – 15. Kinder- und Jugendbericht – und Stellungnahme der Bundesregierung, Drucksache 18/1105. Berlin: Deutscher Bundestag 18. Wahlperiode. Brüderl, J. 2010. Kausalanalyse mit Paneldaten. In Handbuch der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse, Hrsg. C. Wolf und H. Best, 963–994. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Teil I Grundlagen

Die empirische Wende Zur Relevanz von Sekundäranalysen in der Kinderund Jugendhilfe Thomas Rauschenbach 1 Empirische Wende – eine partikulare oder eine generelle Entwicklung? Schon ein erster, oberflächlicher Blick auf Diskurse, Debatten und Publikationen erweckt den Eindruck, dass der Empirie in der Kinder- und Jugendhilfe heute eine weitaus größere Bedeutung zukommt als vor der Jahrhundertwende. Und das in mehrfacher Hinsicht: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Feld der Kinder- und Jugendhilfe beobachten und erforschen, greifen häufiger auf messbare Größen und empirische Befunde zurück; die Fachpraxis der Kinderund Jugendhilfe – zumal auf Leitungs- und Planungsebene – ist stärker an einer datenbasierten Deskription ihres Arbeitsfeldes interessiert; und die zuständige Politik kann sich die Wahrnehmung ihrer Steuerungsverantwortung und einer fachlich-politischen Bewertung der Maßnahmen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ohne Daten, ohne zuverlässige Statistiken und ohne empirisch belastbare Befunde gar nicht mehr leisten. Dies alles soll hier mit dem Bild der „empirischen Wende“ in der Kinder- und Jugendhilfe zum Ausdruck gebracht werden. Im Rückblick lassen sich an diesen noch sehr oberflächlichen Eindruck mehrere Fragen anknüpfen, etwa, ob sich dieser bei einer gründlicheren ­Analyse Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts, Professor für Sozialpädagogik an der TU Dortmund, Leiter des Forschungsverbunds DJI/TU Dortmund und der Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik. T. Rauschenbach ()  Institutsleitung, Deutsches Jugendinstitut (DJI), München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_2

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bestätigt und wie sich ein solcher Trend möglicherweise erklären lässt: Wie kommt es, dass Forschung im Allgemeinen und Empirie sowie Sekundäranalysen im Besonderen für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutsamer geworden sind? Stehen dahinter nur Binnenentwicklungen eines Feldes oder ist eine allgemeinere Tendenz erkennbar, die auch andere gesellschaftliche Bereiche samt deren Erforschung tangiert? Das Beispiel der Schule drängt sich in diesem Zusammenhang auf: Auch dort ist zu beobachten, dass datenbasierte Forschungszugänge bedeutsamer geworden sind und daher die „empirische Bildungsforschung“ massiv ausgebaut wurde, was sowohl die Wissenschaft als auch die pädagogische Praxis tangiert­ (Reinders et al. 2015). So sind Large-Scale-Assessments, wie etwa IGLU oder PISA, hierzulande zu etablierten Erhebungen einer international vergleichenden Schulleistungsdiagnostik geworden. In den Schulalltag ist das Messen und Vergleichen ebenfalls stärker eingedrungen als früher, beispielsweise in Form verbindlicher Jahrgangsstufentests in vielen Bundesländern (Thiel et al. 2014). Auch die Etablierung einer nationalen Bildungsberichterstattung, die vom Bundesbildungsministerium und der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegeben wurde und auf das gesamte Bildungswesen ausgerichtet ist, kann als ein weiterer Beleg einer stärkeren Vermessung der Bildungslandschaft herangezogen werden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Haben wir es also mit einem generellen Trend der Empirisierung zu tun, der in weiten Teilen der Erziehungswissenschaft als Disziplin und Profession zu beobachten ist? Dafür spricht einiges, weil auch in anderen Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft, die einen Anwendungsbezug haben und mit einer Fachpraxis korrespondieren, eine Intensivierung von Forschung und Empirie jenseits geisteswissenschaftlicher, hermeneutischer Traditionen zu beobachten ist, so etwa in der Frühpädagogik (Rauschenbach und Berth 2017), in der Religionspädagogik (Ilg et al. 2018), in der Sportpädagogik (Brettschneider und Kleine 2001) oder in der Erwachsenenbildung (Martin et al. 2015). Schließlich ist auch die Herausbildung eines neuen wissenschaftlichen Segmentes an der Schnittstelle zwischen Erziehungswissenschaft und Psychologie mit der „empirischen Bildungsforschung“ – zuzüglich der Gründung der „Gesellschaft für empirische Bildungsforschung – GEBF“ – ein Indiz für diese Entwicklung. Aber damit nicht genug: Immerhin könnte es sein, dass selbst dieser Beobachtungshorizont noch zu kurz greift, da – zumindest nach dem Abflachen des lange Zeit wirkmächtigen Positivismusstreits – in anderen Disziplinen und anderen gesellschaftlichen Bereichen die Bedeutung der Empirie ebenfalls gewachsen ist – etwa in der Medizin, wo Evidenzbasierung in den letzten 20 Jahren immer häufiger gefordert und in das praktische ärztliche Handeln integriert

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wurde (Raspe 2007), aber auch in der Volkswirtschaft, in der die nobelpreiswürdigen „behavioral economics“ mit empirischen Experimenten arbeiten (Thaler und Benartzi 2004), statt – wie früher – mathematisch-theoretische Modelle über einen vermeintlichen „homo oeconomicus“ zu entwickeln. Dies alles erweckt den Anschein, dass die anwendungsbezogene Forschung in jenen Wissenschaftsdisziplinen gestärkt wurde, die über zwei Voraussetzungen verfügen: über Anschlussstellen an empirische Forschungstraditionen einerseits und über ein anwendungsorientiertes Referenzsystem außerhalb der Wissenschaft andererseits. Heutzutage, so könnte man vielleicht bilanzierend formulieren, muss man – zumal in der Wissenschaft – Erkenntnisse und Empfehlungen zuallererst aus Daten ableiten, nicht aus Grundüberzeugungen.

2 Forschung und Sekundäranalysen in der Kinderund Jugendhilfe Diese größeren und allgemeineren Zusammenhänge möglicher Veränderungen im gesamten Wissenschaftssystem sollen jedoch hier nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr gilt es nachfolgend, den Fokus enger, bescheidener zu fassen. Zum einen beschränke ich mich hier auf das Segment der „Kinder- und Jugendhilfe“, ein zentrales anwendungsbezogenes Referenzsystem der Sozialen Arbeit, wie das schon früh Klaus Mollenhauer hellsichtig formuliert hatte (Rauschenbach und Galuske 1998). Zum anderen geht es dabei „nur“ um datenbasierte Sekundäranalysen als einen spezifischen Typus quantitativ-empirischer Forschung, der zumindest für die Kinder- und Jugendhilfe relativ neu ist.1 Daher soll zunächst versucht werden, diesen Typus der Forschung in ein heuristisches Modell einzuordnen, das sicherlich noch weiterentwickelt werden muss. Hierbei lassen sich mehrere Ebenen von Wissenschaft und Forschung typisierend unterscheiden, wie dies in Abb. 1 versucht wird.

1Das

bedeutet nicht, dass es keine andere Art von quantitativ-empirischer Forschung in der Kinder- und Jugendhilfe gibt. So sind auch hier in den letzten Jahren vermehrt quantitative Studien zu finden, etwa zur Kindertagesbetreuung die BIKS- oder die NUBBEK-Studie (Mudiappa und Artelt 2014; Tietze et al. 2013), zu den Hilfen zur Erziehung die Übersichtsstudie von Macsenaere und Esser (2015) oder für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe das seit Mitte der 1990er-Jahre existierende DJI-Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“ mit vielen einzelnen Themenstudien (exemplarisch Gadow et al. 2013). Eine systematische Aufbereitung dieser Entwicklung steht aber noch aus.

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Abb. 1   Heuristisches Modell sozialpädagogischer Forschung. (Eigene Darstellung)

1. Wenn man sich diese idealtypische Charakterisierung unterschiedlicher Forschungszugänge vor Augen führt – die in vielen Punkten auch nicht völlig überschneidungsfrei ist –, muss man zunächst einmal festhalten, dass die Probleme eigentlich schon eine Ebene davor beginnen. Denn: In einem generellen Sinn neigt die Öffentlichkeit – und teilweise auch die Wissenschaft selbst – dazu, sämtliche Aktivitäten und Äußerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern pauschal als Forschung zu bezeichnen. Demnach wird der Wissenschaftstypus „Forschung“ nicht für eine spezifische Spielart des wissenschaftlichen Arbeitens reserviert, bei der eine gezielte, systematisierte und auf einen methodisch kontrollierten Erkenntnisgewinn ausgerichtete Vorgehensweise im Mittelpunkt steht. Infolgedessen werden heutzutage nahezu

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alle Meinungsäußerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den Medien mit dem Satz eingeleitet „Eine Studie hat gezeigt, dass …“. Wissenschaft und Äußerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden in diesem Sinn häufig mit Forschung in eins gesetzt. 2. Auf einer ersten Ebene einer Typisierung originär wissenschaftlicher Forschung bietet sich eine Unterscheidung zwischen disziplinärer Forschung und Professionsforschung an. Diese Unterscheidung, die bisweilen auch – etwas unscharf – mit Grundlagenforschung und Anwendungs- bzw. Praxisforschung getroffen wird, erzeugt ihre Differenz vor allem da durch, dass im ersten Fall die Forschung zuallererst auf disziplinäre und interdisziplinäre, jedenfalls vorrangig autopoietische, selbstreferenzielle Wissenschaftsdiskurse ausgerichtet ist (z. B. um in referierten Zeitschriften zu publizieren oder auf Wissenschaftskongressen vorzutragen), bei der Erkenntnisfortschritte mithin an Kriterien innerwissenschaftlicher Relevanz gemessen werden (Reputation, eingeworbene Drittmittel, Zitationen, h-Index etc.). Im Unterschied dazu liegt der Fokus der Professionsforschung stärker auf fachpraktischen Fragestellungen, auf außerwissenschaftlicher Relevanz, auf Erkenntnisinteressen und Gegenstandsbereichen, deren Fragestellungen tendenziell außerhalb der Wissenschaft generiert werden (z. B. „What works?“) und daher in weitaus höherem Maße auch von außeruniversitären Nutzerinnen und Nutzern, von Politik, Fachpraxis und einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit angefragt und unter anderen Verwertungsgesichtspunkten rezipiert werden. Infolgedessen wird häufig unterstellt, dass in diesen Fällen die Ansprüche an eine anwendungsorientierte Forschung geringer gehalten werden könnten – mit der Folge, dass in diesem Bereich bisweilen eine Flut kleiner, regionaler „Praxis-Studien“ zu beobachten ist, die gängigen Forschungsstandards nicht immer entsprechen. 3. Innerhalb dessen, was man als Professionsforschung charakterisieren kann, bietet sich eine Unterscheidung von zwei Paradigmen an: eines, das einer hermeneutisch-interpretativen Forschungstradition zugerechnet werden kann (z. B. stellvertretende Deutungen oder anwendungsbezogene Diskursanalysen) und im Wesentlichen textbasiert erfolgt, und ein anderes, das daneben alle Formen empirischer Forschung umfasst, die methodisch kontrolliert mit einem Design „ins Feld“ gehen und mit unterschiedlichen Forschungszugängen versuchen, Lebenswelten, Lebenslagen oder „Praxis“ in den Blick zu nehmen. 4. Innerhalb dieser Gruppe der empirischen Forschung bietet sich eine weitere, relativ generalistische, aber weit verbreitete Unterscheidung an: die Differenz von quantitativ-standardisierter und qualitativ-rekonstruktiver Forschung. Beide Traditionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie bemüht sind, die jeweils

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verfügbaren und anerkannten Methoden weiterzuentwickeln (Friebertshäuser et al. 2013; Baur und Blasius 2019). Bei dieser Unterscheidung gab es lange Zeit sich wechselseitig ignorierende und untereinander paradigmatisch abgrenzende Forschungs „lager“, wobei in jüngerer Zeit mit der Rede von „mixed-methods“ eine Verbindungslinie angedeutet werden soll – was aber erst einmal wenig daran ändert, dass der Großteil der empirischen Forschung immer noch selten verschränkt ist, jedenfalls auf einem jeweils methodisch anspruchsvollen Niveau. 5. Aber auch diese Kontroverse soll hier nicht weiter verfolgt werden, denn erst auf einer weiteren Ebene wird innerhalb der Gruppe der quantitativ-standardisierten Forschung erkennbar, dass es wiederum zwei graduell differente Zugänge zu unterscheiden gilt: einerseits selbst erhobene Daten mittels standardisierter Befragungen und Erhebungen (z. B. Surveys), also Primärerhebungen, andererseits die sekundäre Nutzung und Zweitverwertung nicht selbst erhobener, vielfach amtlicher oder auch quasi-amtlicher Daten. Erst auf dieser Ebene lassen sich mithin datenbasierte Sekundäranalysen als ein eigener Typus der Erkenntnisproduktion verorten, der allerdings zu unterscheiden ist von text bezogenen Sekundäranalysen, in denen Informationen, Argumente, Positionen Dritter verwendet und aufgearbeitet werden. Erst mithilfe dieser Unterscheidung kommen beispielsweise die Vorteile und Grenzen amtlicher Statistiken zum Tragen, stellt sich die Frage, welche Informationen diese enthalten und welche nicht. Vor allem um diese Sorte von datenbasierter Erkenntnisgewinnung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe soll es in diesem Beitrag gehen. Sekundäranalysen, bisweilen auch als „desk research“ bezeichnet, zeichnen sich im Wortsinn dadurch aus, dass es sich um eine Zweitverwertung handelt, dass also Erkenntnisse und Befunde aus bereits vorhandenem Datenmaterial gewonnen werden. Während etwa die Survey-Forschung oder die Large-Scale-Assessments groß angelegte, bevölkerungsrepräsentative Primärerhebungen durchführen und deshalb einen großen Teil ihrer personellen und finanziellen Ressourcen für die Vorbereitung und Durchführung der Befragungen aufwenden müssen, lebt die Sekundäranalyse davon, dass sie sich schwerpunktmäßig auf die Auswertung vorhandener Daten konzentrieren kann, allerdings um den Preis, dass sie nur das auswerten kann, was an anderer Stelle erhoben wurde. Voraussetzung von Sekundäranalysen ist selbstredend, dass die Qualität der Primärdaten so hoch ist, dass diese für solche Zwecke überhaupt sinnvoll verwendet werden können. Das gilt zuallererst für Vollerhebungen, das gilt aber auch für stichprobenbasierte, repräsentative Erhebungen, allen voran den Mikrozensus (vgl. den Beitrag von Fuchs-Rechlin in diesem Band). Dabei handelt es sich um

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eine einprozentige Haushaltsstichprobe, die vom Statistischen Bundesamt mit großem Aufwand jährlich durchgeführt wird (Statistisches Bundesamt 2017). Sekundäranalytisch breit verwendet wird aber auch etwa das sozio-ökonomische Panel (SOEP), das auf einer deutlich kleineren Stichprobenbasis ebenfalls jährlich eine Panel-, also eine Wiederholungsbefragung bei überwiegend gleichen Studienteilnehmenden durchführt (Gerstorf und Schupp 2015, Pagel und Schupp in diesem Band). Beide Erhebungen werden in Deutschland in vielfacher Weise für datenbasierte Sekundäranalysen genutzt. Bei stichprobenbasierten Erhebungen stellt sich jedoch am Ende immer wieder die Frage, wie exakt unter allen denkbaren Einflussgrößen die Abbildgenauigkeit der jeweiligen Datensätze tatsächlich sein kann. Das gilt vor allem in regionaler Hinsicht, etwa bei Bundesländer- oder Kommunalvergleichen, aber auch bei feingliedrigen Unterscheidungen, etwa von einzelnen Altersjahrgängen, werden aufgrund einer zu geringen Stichprobengröße unter Umständen Grenzen sichtbar. Infolgedessen sind, soweit sie überhaupt möglich sind, Voll- bzw. Totalerhebungen der Königsweg für Sekundäranalysen, also Erhebungen, bei denen vom Grundsatz her alle zu einer Gesamtheit gehörenden Einheiten einbezogen werden. Dies gelingt bei großen Fallzahlen in der Regel nur bei amtlichen oder halbamtlichen Daten, etwa zur Zahl der Geburten, Sterbefälle, Ein- und Auswanderung, zur Anzahl der Schülerinnen und Schüler nach Schularten, der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten oder der arbeitslos gemeldeten Personen, um nur einige Beispiele zu nennen. Interessanterweise gilt dies aber auch für Nutzungs- und Fallzahlen in der Kinder- und Jugendhilfe, um die es hier geht: So lassen sich etwa Kindergartenkinder, tätige Personen in der Kinder- und Jugendhilfe, Kinder in Pflegefamilien oder an das Jugendamt gemeldete Gefährdungseinschätzungen im Rahmen des Kinderschutzes mittels einer vollständigen Erfassung sämtlicher Fälle abbilden. Warum aber verfügt ausgerechnet die Kinder- und Jugendhilfe über einen so umfangreichen, amtlichen Datensatz, und warum ist eine so starke Verwendung dieser Daten für Sekundäranalysen auf unterschiedlichen Ebenen zu beobachten? Um hierauf plausible Antworten zu finden, müssen einige Fragestellungen etwas genauer verfolgt werden: • Welche disziplin- und professionsbezogenen Argumente bieten sich in der Kinder- und Jugendhilfe für die wachsende Bedeutung und Verwendung empirischer und darin insbesondere sekundäranalytischer Datensätze an? Hier gilt es, die Überlegung zu prüfen, dass insbesondere der gesellschaftliche Bedeutungszuwachs sozialer Dienstleistungen für Kinder, Jugendliche

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und Familien zu einer verstärkten Relevanz amtlicher Daten und empirischer Befunde in der Kinder- und Jugendhilfe geführt hat. • Welche Akteure treiben die Empirisierung der Kinder- und Jugendhilfe voran? Dieser Abschnitt geht der Frage nach, in welchen Zusammenhängen verstärkt auf belastbare Daten und messbare Größen geachtet wird. Dafür bieten sich zumindest drei Einflussgrößen an: Zum einen stellt das Recht in seiner gesetzlichen Form in der Kinder- und Jugendhilfe als steuernde Instanz zunehmend auf empirische Daten ab; zum anderen zeigt sich in der Fachpraxis der Kinderund Jugendhilfe eine verstärkte Nutzung empirischer Befunde; und schließlich ist es auch die Forschung selbst, die die Verwendung von Sekundäranalysen befördert hat.

3 Der gesellschaftliche Bedeutungswandel der Kinder- und Jugendhilfe Spätestens in diesem Jahrhundert hatten große Teile der Kinder- und Jugendhilfe in der Bundesrepublik ein beispielloses Wachstum zu verzeichnen. Erstmals am Ende des „sozialpädagogischen Jahrhunderts“ (Rauschenbach 1999a) zeichnete sich ein Bedeutungswandel und ein nachhaltiges Wachstum eines Teilarbeitsmarktes ab, der lange Zeit als wenig beachteter Nischenarbeitsmarkt und bestenfalls als „semi-professionell“ galt (Bohle und Grunow 1981), ein Arbeitsmarkt, der lange Zeit um seine Akzeptanz ringen musste, bei dem sich die Prozesse der Verberuflichung, Verfachlichung, Akademisierung und Professionalisierung erst nach und nach einstellten (Rauschenbach 1990). Entgegen empirischer Anhaltspunkte, die zu Beginn dieses Jahrhunderts die Kinder- und Jugendhilfe eher zu einem Krisenkandidaten werden ließen (Rauschenbach und Schilling 2001), entwickelte sie etwas überraschend, aber durchaus in Entsprechung zu modernisierungstheoretischen Annahmen (Rauschenbach 1999a) in einigen Teilbereichen aufgrund politisch eingeleiteter Entscheidungen eine Dynamik, die die Kinder- und Jugendhilfe im letzten Jahrzehnt zu einer relevanten Branche auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt werden ließ. Nicht ohne Grund stellte der 14. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2013) fest, dass in diesem Arbeitsfeld so viele Menschen beschäftigt waren wie in der (damals bereits personell erheblich geschrumpften) bundesdeutschen Automobilindustrie; auch im Vergleich zum Schulwesen haben sich die personellen Größenverhältnisse im Laufe der Jahrzehnte nachhaltig verschoben. Betrachtet man die Veränderungen in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe zwischen Mitte des ersten und des zweiten Jahrzehnts, so zeigen sich auf

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­ ehreren Ebenen gewaltige Zuwächse (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfem statistik 2019): • Bei der Anzahl der in Anspruch genommenen Leistungen und Dienste ist ein Anstieg von knapp über 4 Mio. in den Jahren 2007/2008 auf mehr als 5,6 Mio. Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und Familien als Nutzende in den Jahren 2015 bis 2017 zu verzeichnen; • beim Personal zeigt sich – inklusive Kindertagespflege – eine Expansion in einem 10-Jahres-Zeitraum von knapp 652.000 (2006/2007) auf fast eine Million Personen (2016/2017) und damit um erstaunliche 345.000 zusätzliche Arbeitsplätze; • und die Ausgaben der öffentlichen Haushalte verdoppelten sich in diesen 10 Jahren von rund 19 auf etwa 42 Mrd. EUR. Allein diese Kennwerte drücken einen erheblichen Bedeutungszuwachs aus. Um das ansatzweise am Beispiel des Personals zu illustrieren: Die Expansion zeigt sich zuallererst in der Kindertagesbetreuung, dem zahlenmäßig eindeutigen Zugpferd der Kinder- und Jugendhilfe, einem Arbeitsfeld, das auch in den kommenden Jahren weiter wachsen wird (Rauschenbach 2018); ähnliches gilt für die Hilfen zur Erziehung, die aufgrund eines intensivierten Kinderschutzes und eines phasenweisen deutlichen Anstiegs der Zahl unbegleiteter ausländischer Minderjähriger einen erheblichen Zuwachs an Plätzen, Personal und Kosten zu verzeichnen haben; des Weiteren lässt sich ein Personalwachstum inzwischen auch für die kommunalen Jugendämter und den dortigen ASD, den Allgemeinen Sozialen Dienst, beobachten (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2019). Mit dem Personalanstieg ist zugleich ein Bedeutungszuwachs anderer Art verbunden. So sind Kindertageseinrichtungen längst zu alltäglichen Institutionen des Aufwachsens in der frühen Kindheit geworden, verkörpern also ein Setting, das von immer mehr Kindern besucht wird, die überdies pro Tag und Woche dort deutlich mehr Zeit verbringen als früher und die zugleich ihre „Kita-Karriere“ in einem immer jüngeren Lebensalter beginnen (Rauschenbach 2014; Böwing-Schmalenbrock und Meiner-Teubner 2017). Aber auch die Hilfen zur Erziehung, deren Angebote sich an Familien mit Kindern in belastenden Lebenssituationen wenden, werden inzwischen im Lichte einer kinderschutzsensiblen Kinder- und Jugendhilfe häufiger in Anspruch genommen als noch vor wenigen Jahren (Fendrich et al. 2018). Unstrittig stehen hinter beiden Wachstumstrends unterschiedliche Entwicklungen: im ersten Fall eine Normalisierung von früher institutioneller Kita-Betreuung, im zweiten Fall eine Zunahme sozialstaatlicher Dienste und Leistungen aufgrund

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p­rekärer familiärer Lebensbedingungen und/oder einer erhöhten Bereitschaft von Familien, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber auch einer verstärkten öffentlichen Erwartung an einen wirksamen Kinderschutz. In der Summe fällt die Bilanz für die Kinder- und Jugendhilfe als Ganzes mit Blick auf ihre Aufgabenbereiche ähnlich aus: Die Kinder- und Jugendhilfe ist als Arbeitsfeld größer und zugleich gesellschaftlich relevanter geworden. Allein dieses Wachstum bringt es mit sich, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe vermehrt kritischen Fragen vonseiten der Politik und der Öffentlichkeit nach der Notwendigkeit dieser Hilfen und ihrer Wirksamkeit stellen muss. Somit entsteht ein dreifacher Bedarf an empirischer Vergewisserung: • In der gesamtgesellschaftlichen Debatte wird inzwischen häufiger gefragt, welche Rolle die Kinder- und Jugendhilfe hierzulande spielt, wie sie vorgeht, welche Ziele sie verfolgt und ob sie diese erreicht. Ein Beispiel dafür sind die intensiven öffentlichen Debatten über den Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Hier formulierte die Bundespolitik im Jahr 2008 ein konkretes Ziel – spätestens 2013 sollten für 35 % der unter Dreijährigen Plätze in der Kindertagesbetreuung zur Verfügung stehen –, dessen allmähliche Umsetzung die Massenmedien über die Jahre hin genau und anhand amtlicher Daten verfolgten (exemplarisch Neuerer 2012; Clauß und Friedmann 2017). • In fachpolitischen Debatten wird verstärkt diskutiert, auf welche Weise die Kinder- und Jugendhilfe gesteuert wird und ob diese Steuerung der Zielerreichung dient. Beispielsweise wurde der kostenintensive Ausbau der Hilfen zur Erziehung immer wieder zu einem Aufregerthema für die Kommunen, mit dem Ziel, diese ungebremste Entwicklung zu stoppen (etwa Bayerischer Landkreistag 1998). In jüngerer Zeit wurde ein Vorschlag aus SPD-regierten Bundesländern zur „Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen“ debattiert, womit im Kern eine Aufweichung des Rechtsanspruchs auf Hilfen zur Erziehung intendiert war (Münder 2011). Auch wenn dieser und ähnliche Vorstöße erfolglos blieben, ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung, dass der Ausgangspunkt dieser Debatte steigende Kosten waren – und dass erst differenzierte empirische Analysen zu den Gründen der Leistungs- und Kostenanstiege wieder zur Beruhigung beitrugen. • In den Binnendebatten der Kinder- und Jugendhilfe wird inzwischen ebenfalls genauer registriert, wie sich das Arbeitsfeld entwickelt. Das gilt etwa für die Kinder- und Jugendhilfe als Ganzes in den Kinder- und Jugendhilfereporten (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2019), das gilt für die Kindertagesbetreuung durch regelmäßige Berichte wie das „Kita-Monitoring“

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der Bertelsmann Stiftung oder das „Fachkräftebarometer Frühe Bildung“ der Weiterbildungsintitative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2017). Und das zeigt sich für die Hilfen zur Erziehung im HzE-Monitor der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (Fendrich et al. 2018) sowie in den Bemühungen um eine empirisch verbesserte Wirkungsforschung (Macsenaere und Esser 2015). Insgesamt scheint sich zu bestätigen, was Ende der 1990er-Jahre als Vorahnung formuliert wurde: In mobilen, globalisierten Gesellschaften mit ihren unvermeidbaren Nebenwirkungen steigt der Bedarf an öffentlicher Unterstützung und Verantwortung privater Lebensverhältnisse durch die Kinder- und Jugendhilfe. Damit verändert sich, wie damals festgestellt wurde, auch das Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe als Teil der Sozialen Arbeit: „Messung, Wirkung, Effektivität und Effizienz, Erfolg und Mißerfolg treten neben Verständnis, Zuwendung, Hilfe, Vertrauen, Dankbarkeit und Zufriedenheit in das Gesichtsfeld sozialpädagogischer Beobachtung und Selbstbeobachtung“ (Rauschenbach 1999b, S. 230 f.). Aber – und das ist die Pointe dieser Entwicklung –, all dies hätte sich nicht in Ansätzen belegen lassen ohne einschlägige amtliche Daten und ohne den intensiven Gebrauch datenbasierter Sekundäranalysen. Mehr noch: Diese Analysen bildeten die eigentliche Basis für einen gewaltigen Erkenntnisfortschritt und damit eingeleitete politische Maßnahmen. Zugespitzt formuliert: Ohne die sekundäranalytische Beobachtung dieser Entwicklungen – im letzten Jahrzehnt ergänzt um das Instrument der Bedarfserhebungen (BMFSFJ 2015) – wären viele Aktivitäten der Politik wohl anders verlaufen.

4 Die empirische Wende der Kinder- und Jugendhilfe Damit realisiert sich die „empirische Wende“ innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe, möglicherweise mehr als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem über die Verbreitung der Sekundäranalysen amtlicher Daten. In dem hier anstehenden Kontext sollen Indizien dafür zusammengetragen werden, dass diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten in der Kinder- und Jugendhilfe zugenommen hat (bilanzierend etwa KomDat 2018). Hierfür sind, so die These, drei Einflussebenen bedeutsam. Zum einen haben gesetzliche Normierungen und Veränderungen, also die Ausgestaltung des Rechts, die Erhebung von (amtlichen) Daten unterschiedlichster Art vorangebracht; zum

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anderen muss auch die Fachpraxis im Rahmen der Ausgestaltung einer modernen Kinder- und Jugendhilfe mehr Sachverhalte faktenbasiert dokumentieren und planen, nicht nur, um betriebswirtschaftlich agieren zu können, sondern auch, um auf nicht absehbare Bedarfe angemessen reagieren zu können, wie das in § 80, Abs. 3 des SGB VIII formuliert ist. Diese Entwicklungen im Recht und in der Fachpraxis werden schließlich durch Entwicklungen in der Forschung als einer dritten Einflussebene ergänzt. Diese Stränge sollen nachfolgend separat dargestellt werden.

4.1 Zur Empirisierung durch das Recht Die zentralen Rechtsfragen der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe wurden zuletzt grundlegend und umfassend mit der Verabschiedung des Achten Sozialgesetzbuches neu geordnet und modernisiert. An diesem 1990/1991 in Kraft getretenen Bundesgesetz lässt sich im Vergleich mit dessen Vorläufern – dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz der Weimarer Republik und dem Jugendwohlfahrtsgesetz der Nachkriegszeit – erkennen, dass der Gesetzgeber im Laufe der Jahrzehnte einen stärkeren Bedarf an empirischer Fundierung seines Handelns in den Leistungsbereichen des Gesetzes erkannte (Schilling 2002; Wiesner 2011). Daher fügte er – was durchaus ungewöhnlich für ein Fachgesetz ist – u. a. in den §§ 98 ff. SGB VIII einen Abschnitt zu Durchführung, Erhebungsmerkmalen und Periodizität der Kinder- und Jugendhilfestatistik in amtlicher Regie ein (Rauschenbach und Schilling 1997). Dies ist vielleicht der entscheidende Ausgangspunkt für die Konjunktur der Sekundäranalysen in der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. den Beitrag von Pothmann in diesem Band). Diese Grundlegung war aber nicht alles. Eine stetige Weiterentwicklung und Verbesserung der Erhebungsbereiche und -merkmale beförderte den Nutzen der Statistik ebenso nachhaltig wie das Interesse an den Daten selbst. In welcher Weise diese Weiterentwicklung zu einem Bedeutungszuwachs von Sekundäranalysen amtlicher Daten innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe beigetragen hat, lässt sich am Beispiel der Kindertagesbetreuung veranschaulichen. So ermittelte die amtliche Statistik bis kurz nach der Jahrhundertwende nur alle vier Jahre Eckwerte zum Thema Kita, darunter vor allem die Zahl der Einrichtungen, der Plätze und des Personals (mit einigen Binnendifferenzierungen). Mit anderen Worten: Zwischen 1974 und 2002 wurde in relativ großen Zeitabständen erhoben, wie viele Personen damals in wie vielen Kindertageseinrichtungen arbeiten und wie viele Plätze dort zur Verfügung stehen. Dies ermöglichte zwar erste Analysen (Rauschenbach et al. 1988, 1995), doch gab dies

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auch immer wieder Anlass zur Kritik, da die Entwicklung des Kita-Angebots weder zeitnah noch sachgerecht abgebildet werden konnte (Tietze und Roßbach 1991; Beher 1997; Schilling 2002). Dieser eingeschränkte Blick auf das verfügbare Platzangebot hinterließ gravierende Wissenslücken. Über die betreuten Kinder – als die eigentlichen Adressaten der sozialstaatlichen Leistung „Kita“ – ließ sich anhand dieser Statistik gar nichts sagen, weder zur genauen Zahl derjenigen, die in einer Kita betreut wurden, noch zu ihrem Geschlecht oder Alter, ganz zu schweigen von weiteren soziodemografischen Merkmalen. Insgesamt war die amtliche Kita-Statistik, die in dieser Form letztmals im Jahr 2002 erhoben wurde, primär ein Tätigkeitsnachweis behördlichen Handelns und nur mit Blick auf die Anzahl der Einrichtungen und Plätze sowie die Personalstruktur einigermaßen aussagekräftig. Dies änderte sich mit der 2006 beginnenden neuen Erhebungsperiode deutlich. Das weiterentwickelte Erhebungskonzept, das mehrere Jahre lang diskutiert worden war und schließlich von Bundestag und Bundesrat in den Jahren 2004 und 2005 beschlossen wurde, korrigierte die zentralen Mängel. Von nun an wurde in einer jährlichen Vollerhebung ein breites Spektrum an Merkmalen berücksichtigt: Für jedes Kita-Kind wurden Alter und Geschlecht erfragt, außerdem dessen gebuchte Betreuungszeit, ein in der Herkunftsfamilie erkennbarer Migrationshintergrund – operationalisiert durch die Merkmale „ausländische Herkunft mindestens eines Elternteils“ und „in der Familie vorrangig gesprochene Sprache“ – sowie ein eventuell diagnostizierter Förderbedarf. Parallel dazu wurden die Angaben zu Kita-Beschäftigten, etwa zu deren Wochenarbeitszeiten oder zu Ausbildungsabschlüssen, detaillierter erfasst (Kolvenbach und Taubmann 2006). Neu integriert wurden auch Angaben zur Rechtsform der Kita-Träger (die derzeit erneut weiterentwickelt werden sollen). Und gänzlich neu aufgenommen wurde schließlich die Kindertagespflege als eigener Leistungsbereich. Insgesamt wurde es damit möglich, institutionelle Dynamiken und Entwicklungen in puncto Angebot, Personal und Nutzung besser abzubilden. Nur so war es datenbasiert möglich, das ambitionierte U3-Ausbauprojekt bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs im Jahr 2013 vergleichsweise differenziert zu beobachten und zu begleiten. Fortan wurde die Erhebung der Zusammensetzung der Gruppen nach Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund ebenso möglich wie die Berechnung eines gruppenbezogenen Personalschlüssels oder die Analyse der einzelnen Kita-Gruppen (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2017). In der Summe wurde die Kindertagesbetreuungsstatistik damit zu einer der modernsten und differenziertesten amtlichen Erhebungen, was vermutlich auch der Art ihrer Entstehung zuzuschreiben ist: Sie entstand in kontinuierlicher Kooperation zwischen Statistikbehörden, Politik, Fachpraxis und Wissenschaft;

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durch die Integration der Veränderungen in ein Fachgesetz war im Zusammenspiel zwischen amtlicher Statistik, einschlägiger Wissenschaft und der politischen Administration eine vergleichsweise niedrigschwellige Steuerung möglich. So konnte dieser Teil des Gesetzes seit 1990 immer wieder fachnah und wissenschaftlich kontrolliert weiterentwickelt werden (Schilling und Kolvenbach 2011). Gleichwohl: Die verstärkt auf empirisch-amtliche Erhebungen ausgerichteten Vorschriften des Gesetzgebers beziehen nicht alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe in gleicher Weise ein. Zwar wurden vor allem auch die Statistiken der erzieherischen Hilfen im Lauf der Jahre weiterentwickelt, zwar wurde inzwischen auch eine deutlich verbesserte Statistik zur Kinder- und Jugendarbeit vorgelegt, dennoch blieben andere Arbeitsfelder und Leistungsbereiche wie etwa die Jugendsozialarbeit (inklusive der Schulsozialarbeit) oder die Familienbildung, ja selbst in weiten Teilen die kommunalen Jugendämter statistisch nahezu unbeobachtet (Rauschenbach 2011). Bis vor wenigen Jahren war darüber hinaus festzustellen, dass die amtliche Statistik keine verlässliche empirische Dauerbeobachtung zu Kindeswohlgefährdungen ermöglichte – jenseits des ohnehin nicht zu lösenden Problems des Dunkelfeldes –, obwohl das Thema in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde (Pothmann und Wohlgemuth 2011). So waren Jugendämter seit Einführung des SGB-VIII-Paragraphen 8a im Jahr 2005 zwar verpflichtet, Gefährdungseinschätzungen vorzunehmen, sofern Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen vorlagen. Wie sie dabei agierten, blieb allerdings für die Fachwelt im Dunkeln. Erst seit 2012 werden die „8a-Verfahren“ gezielt erhoben. Dabei müssen Jugendämter jährlich u. a. die Zahl ihrer Verfahren, deren Ergebnisse (akute, latente oder keine Kindeswohlgefährdung) sowie die amtlich veranlassten Reaktionen melden (z. B. Inobhutnahme, Einschaltung des Familiengerichts, Installation von Hilfen zur Erziehung). Auf diese Weise wird ein weiteres Leistungssegment der Kinder- und Jugendhilfe, das bislang im Schatten lag, von der amtlichen Statistik nunmehr in das Blickfeld möglicher Sekundäranalysen überführt (Kaufhold und Pothmann 2017; Mühlmann 2019). Bei den Frühen Hilfen, einem zusätzlichen Angebot im Lichte eines präventiven Kinderschutzes in den besonders vulnerablen ersten Lebensjahren der Kinder, sind inzwischen ebenfalls Bemühungen um eine verbesserte Abbildung durch die amtliche Statistik im Gange (NZFH 2017). Insgesamt erweist sich das Recht damit als wesentlicher Motor der Empirisierung und der beginnenden Konjunktur von Sekundäranalysen auf Basis amtlicher Daten zur Kinder- und Jugendhilfe (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2019). Die beiden zentralen Gegenstandsbereiche, die im Kinder- und Jugendhilferecht in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt wurden – der

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Ausbau der Kindertagesbetreuung sowie der Kinderschutz – werden deutlich genauer vermessen (dies gilt in jüngster Zeit auch noch für die unbegleiteten ausländischen Minderjährigen). In anderen Themenfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, die nicht in gleicher Weise im Blickpunkt standen, blieb eine solche Empirisierung bislang noch aus oder hinkt erkennbar hinterher. Eine Frage stellt sich angesichts dieser Unterschiede jedoch: Unterblieb die Empirisierung in einigen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe bislang, weil der Gesetzgeber sich für diese Themenfelder weniger interessierte – oder war das Interesse des Gesetzgebers (und der Öffentlichkeit insgesamt) gering, weil für diese Felder keine belastbaren amtlichen Daten vorlagen? Egal, in welche Richtung man diese Frage auflöst: Deutlich wird, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit für ein Themenfeld der Kinder- und Jugendhilfe und der Verfügbarkeit darauf bezogener, belastbarer Daten gab und gibt. Oder zugespitzt formuliert: Mit dem Vorhandensein empirischer Daten werden gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Debatten befeuert.

4.2 Zur Empirisierung der Fachpraxis Die Frage, in welchem Ausmaß empirische Fragestellungen und datenbasierte Vergewisserungen inzwischen in der Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe angekommen sind, lässt sich in Ermangelung dazu vorliegender Forschung nur exemplarisch illustrieren. Zumindest auf der Ebene der Verbände und Trägergruppen finden sich Hinweise, dass diese ihre Arbeit zunehmend empirisch ausrichten, also mit entsprechendem Datenmaterial zu beschreiben versuchen (wobei dies vielfach auch durch Primärerhebungen bzw. mit eigenem Datenmaterial geschieht, also nicht unbedingt nur mithilfe von Sekundäranalysen erfolgt). So legten beispielsweise die Evangelischen Landeskirchen von Baden und Württemberg eine fast 400-seitige Bilanz ihrer Aktivitäten in der Kinder- und Jugendarbeit vor, die im Wesentlichen datengestützt argumentiert (Ilg et al. 2014). Neben einem Gesamtblick auf die eigenen Angebote versuchen die kirchlichen Träger damit, die Bedeutung der Kinder- und Jugendgruppen in evangelischer Trägerschaft ebenso auszuweisen wie etwa die Relevanz von Chören, Kindergottesdiensten oder protestantischer Jugendsozialarbeit; ähnliches versuchen Ilg et al. (2018) für die Konfirmandenarbeit. Mit vergleichbaren Zielperspektiven versuchen evangelische Träger von Bildungsangeboten und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe den Aufbau einer eigenständigen Bildungsberichterstattung voranzutreiben (Elsenbast et al. 2008).

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Dabei wurde wiederholt der Bereich der Kindertageseinrichtungen in evangelischer Trägerschaft sekundäranalytisch aufbereitet (Comenius-Institut 2018). Und schließlich weisen auch die Statistischen Informationen des Bundesverbandes des Diakonischen Werks der EKD entsprechende Daten zu Eckwerten der Kinderund Jugendhilfe auf ihrer Homepage aus (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ zahlen_und_fakten_2016.pdf, vgl. den Beitrag von Schmitt in diesem Band). Alle diese Aktivitäten deuten zumindest eine Richtung an: dass die Angebote in evangelischer Trägerschaft künftig selbst besser durch empirische Erhebungen und Analysen amtlicher Daten ausgewiesen und damit auch sekundäranalytisch ausgewertet werden können. Entsprechende Entwicklungen lassen sich auch bei katholischen Einrichtungen und Angeboten beobachten. So streben beispielsweise die katholischen Träger in Bayern für ihre Kinder- und Jugendarbeit eine „Leistungsstatistik“ an, die bis auf die Ebene von Pfarreien hinunter Aussagen erlaubt und in Kooperation mit dem Statistischen Landesamt in Bayern entstand (Heck-Nick 2017). Sehr viel allgemeiner, aber auch in Teilen für die Kinder- und Jugendhilfe in katholischer Trägerschaft aussagekräftig sind die internen Geschäftsstatistiken des Deutschen Caritasverbandes e. V. (DCV), die eine lange Tradition haben (Bühler 1971; ­Speckert 1997). Diese werden inzwischen in einer webbasierten Online-Plattform aufbereitet (vgl. den Beitrag von Panjas und Zimmermann in diesem Band). Beide Beispiele veranschaulichen, dass die großen konfessionellen Trägergruppen das Ziel verfolgen, ihre Aktivitäten u. a. in der Kinder- und Jugendhilfe in Teilen datenbasiert zu dokumentieren, also in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung empirisch zu grundieren und nach außen sichtbar zu machen. Von außen nur bedingt einsehbar ist jedoch, in welchem Maße und in welcher Tiefenschärfe die Verantwortlichen in öffentlicher und freier Trägerschaft innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe über Datendokumentationssysteme verfügen, die mehr Sekundäranalysen ermöglichen als bislang durchgeführt werden. Dass derartige Anstrengungen von kommunalen Trägern unternommen werden, zeigt sich bspw. in den interkommunalen Vergleichsringen der Jugendämter bzw. der Großstadtjugendämter, die zu verschiedenen Themenfeldern seit längerem existieren. In ähnlicher Weise ist der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) mit seinen frühen und wichtigen Formaten der regionalisierten Berichterstattung in den Themenfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere in den Hilfen zur Erziehung, ein prototypisches Beispiel für umfangreiche Datenerhebungen, Datenaufbereitungen und weiterführende Sekundäranalysen (KVJS 2013). In der Summe zeigt sich, dass auf allen Ebenen der Fachpraxis Anstrengungen verstärkt oder zumindest fortgeschrieben wurden, das Eigenwissen anhand

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empirischer Daten und Sekundäranalysen zu erhöhen und in Teilen auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies unterstreicht, dass auch die Fachpraxis unter Steuerungsgesichtspunkten ein Interesse an brauchbarem Datenmaterial hat. Im Grunde genommen ist auch diese Intention bereits mit der Einführung des SGB VIII wegweisend in Gang gesetzt worden. Denn schon Anfang der 1990er-Jahre schrieb der Gesetzgeber im Kinder- und Jugendhilfegesetz im Anschluss an § 79 und der dort formulierten Gesamtverantwortung des kommunalen öffentlichen Trägers in § 80 SGB VIII die Jugendhilfeplanung als datenbasiertes kommunales Steuerungsinstrument fest. Demzufolge – und das ist in gewisser Weise eine Analogie zu den im vorigen Abschnitt beschriebenen Anstrengungen zum Aufbau einer Kinder- und Jugendhilfestatistik auf Länderund Bundesebene – haben die öffentlichen Träger den Bestand an Einrichtungen und Diensten ebenso festzustellen wie den nicht erfüllten Bedarf und daraus dann – hier beginnt die Planung im eigentlichen Sinne – Strategien der Bedarfsdeckung zu entwickeln. Spätestens an diesem Punkt entsteht eine Kohärenz in empirischer Hinsicht zwischen rechtlichen Vorgaben und Bemühungen der Fachpraxis an einem kommunalen Datenmanagement. Schon diese wenigen Beispiele deuten an, dass es auch in der Fachpraxis selbst viele Anlässe und Entwicklungen gibt, die neben eigenen Erhebungen auch zu einer stärkeren Verwendung aussagekräftiger, amtlicher Daten für kommunale Sekundäranalysen beigetragen haben. Nicht zuletzt deshalb sind in den letzten Jahren verstärkt kleinräumige Analysen amtlicher Daten vorgelegt worden.

4.3 Zur Empirisierung der Forschung Empirische Forschung, zumal quantitativ-standardisierte, ist in der Kinder- und Jugendhilfe keine Selbstverständlichkeit und hat auch keine eigene Tradition. Gleichwohl, so die hier zu illustrierende These, hat sie an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung lässt sich am besten anhand eines historischen Vergleichs illustrieren, der in die 1970er-Jahre zurückreicht. Damals war die Jugendhilfe im Rahmen einer sich etablierenden wissenschaftlichen Sozialpädagogik bestenfalls in ihrer „Pubertät“ (Rauschenbach 2011). Diese junge Wissenschaft wollte aufmüpfig, kritisch und innovativ sein; sie kritisierte – als Kind ihrer Zeit – die gesellschaftlichen Verhältnisse, war durch und durch politisch geprägt und empfand sich als eine Art berufsmäßige Opposition mit einer Affinität zu sozialen Bewegungen. Kern sozialpädagogischer Argumentationen waren gesellschaftskritische Grundüberzeugungen. „Emanzipation“, „Hilfe statt Kontrolle“, „­advokatorische Ethik“,

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„Parteilichkeit“ oder „offensive Jugendhilfe“ waren damals einige Schlagworte in leidenschaftlichen, normativ geprägten Debatten. Trotz einer aus heutiger Sicht etwas befremdlich wirkenden Radikalität war dies eine Phase von hoher Produktivität und Innovationskraft. Professionalisierungsbestrebungen und eine neue Fachlichkeit waren offensiv formulierte Ziele einer jungen Generation hochschulausgebildeter Akademikerinnen und Akademiker, die es zuvor mangels entsprechender Studiengänge nicht gegeben hatte. In diesem dynamischen, re formfreundlichen Umfeld entstanden zahlreiche neue Aufgabenbereiche und Dienste – etwa die Drogenhilfe, die sozialpädagogische Familienhilfe, die Frauenhäuser, die mobile Jugendarbeit, die Schulsozialarbeit oder die ambulanten Erziehungshilfen (Rauschenbach 2011). Forschung, zumal empirische, war in diesen ebenso kritischen wie innovativen Debatten jedoch wenig gefragt (Rauschenbach und Thole 1998). Empirie gab es innerhalb der Sozialpädagogik/Sozialarbeit und in großen Teilen einer hermeneutisch grundierten Erziehungswissenschaft so gut wie nicht, soweit sie nicht aus der Psychologie importiert wurde, wie etwa die Arbeiten der Gruppe um Ingenkamp (1985). Selbst eine mäßig ambitionierte deskriptive Statistik wurde mit dem Etikett der „Fliegenbeinzählerei“ abgetan. Dennoch deutete sich bereits gegen Ende der 1980er-Jahre an, dass die Forschung zur Kinder- und Jugendhilfe zunehmend empirische Befunde einbezog, wobei deutlich wurde, wie begrenzt die damals verfügbaren Daten waren, was wiederum zu Reformwünschen in Richtung der amtlichen Statistik führte (Rauschenbach 1986). Nachfolgend soll deshalb überprüft werden, ob sich in zwei zentralen Publikationsformaten von damals eine Zunahme von Forschung, Empirie und Sekundäranalysen zumindest plausibilisieren lässt. Dafür werden zum einen die Jugendberichte aus den Jahren 1980, 1990, 2002 und 2014, zum anderen die insgesamt acht Auflagen des Fachlexikons der Sozialen Arbeit betrachtet. 1. Die vier hier ausgewählten Jugendberichte (BMJFG 1980; BMJFFG1990; BMFSFJ 2002, 2013), die im Laufe der 1990er-Jahre zu Kinder- und Jugendberichten wurden, waren jeweils sogenannte Gesamtberichte. Jeder dritte Bericht, so § 84 SGB VIII, soll als solcher einerseits die Lebenslagen junger Menschen, andererseits die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe bilanzieren. Die Berichte wurden von jeweils neu zusammengesetzten Sachverständigenkommissionen erarbeitet, in denen überwiegend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitwirkten, ergänzt durch Repräsentantinnen und Repräsentanten der Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe. Insofern sind Kinder- und Jugendberichte keine Produkte, die allein Wissenschaft oder Forschung abbilden, sondern eher ein Hybrid aus Wissenschafts- und Praxisreflexion. Dennoch ist davon auszugehen, dass sie

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in großen Teilen Denkstrukturen und Überzeugungen, aber auch Wissenschaftsund Forschungsbefunde ihrer Zeit summativ zum Ausdruck bringen. Schon ein erster Vergleich kann – auf eher grobe Weise – deutlich machen, dass die hier zugrunde gelegten Kinder- und Jugendberichte im Zeitverlauf zunehmend empirische Daten – meist aus amtlichen Statistiken – nutzten (Abb. 2). Der Fünfte Jugendbericht aus dem Jahr 1980 war alles in allem purer Text; die Autorinnen und Autoren verzichteten in ihren Darstellungen fast vollständig auf Tabellen und Diagramme. Zwar war der Bericht damit nicht frei von Empirie, denn der Text selbst referierte durchaus einzelne statistische Befunde. Doch Abbildungen, die stets den Versuch einer systematischen Datenaufbereitung ­darstellen, gab es nicht. Zehn Jahre später änderte sich das Erscheinungsbild des Berichts merklich, vermutlich dem Umstand geschuldet, dass in dieser Zeit auch das Deutsche Jugendinstitut begann, sich stärker empirisch auszurichten. Mehr als 50 grafische Darstellungen durchzogen den Bericht von 1990, allerdings fast ausschließlich allgemeine Sozialdaten, also etwa Entwicklungen zu Eheschließungen und -scheidungen, zur Geburtenhäufigkeit oder zum Ausländeranteil in der Bevölkerung. Spezifische Abbildungen zur Entwicklung der Jugendhilfe fehlten noch weitestgehend.

Abb. 2   Anzahl von Tabellen und Diagrammen in den allgemeinen Kinder- und Jugendgesamtberichten des Bundes (1980 bis 2013, absolut). (Eigene Darstellung)

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Dies änderte sich erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert: Der Elfte Kinder- und Jugendbericht sowie insbesondere der 14. Kinder- und Jugendbericht verwendeten in erneut deutlich gestiegenem Maß grafische Darstellungen, wobei diese erstmals zu einem erheblichen Teil die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe im Blick hatten. So finden sich im 14. Kinder- und Jugendbericht, der zum ersten Mal eine systematische, datengestützte Berichterstattung versuchte, zahlreiche Abbildungen, die differenziert z. B. auf Inanspruchnahmequoten von Kitas, auf einzelne Hilfen zur Erziehung oder auf Ausgaben für Kinder- und Jugendarbeit pro 6- bis 21-Jährigem eingingen. Vor allem diese Ausdifferenzierung legt einen Bezug zur veränderten Rechtsentwicklung nahe: Erst die Einführung des SGB VIII Anfang der 1990er-Jahre mit seinen verbindlichen Elementen zur amtlichen Datenerhebung sowie die Verfeinerungen dieses Grundgerüsts in den beiden Jahrzehnten danach machten derartige Darstellungen möglich. Zuvor hatte die jeweilige Berichtskommission noch regelmäßig auf die schlechte Datenlage hingewiesen, im Jahr 2002 sogar in einem eigenen Kapitel zu den als nicht ausreichend eingeschätzten amtlichen Datenquellen (BMFSFJ 2002, S. 97 ff.). Greift man zur weiteren Analyse heraus, wie die verschiedenen Berichte zentrale Themenfelder der Kinder- und Jugendhilfe beschrieben haben, lässt sich ebenfalls ein verstärkt empirischer, sekundäranalytischer Blick nachweisen. Exemplarisch sei dies für das Thema der Hilfen zur Erziehung skizziert (wobei die Befunde für Kindertageseinrichtungen oder die Jugendarbeit ähnlich wären). Der Fünfte Jugendbericht (1980) glich in seiner Heimdarstellung noch einer Erörterung der Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts. Ausgangspunkt war die Heimkritik der späten 1960er-Jahre, die – so der Bericht – zu einer „Optimierung“ des Heimsystems geführt habe, worunter die Verkleinerung der Heime sowie ein Aufstocken des Fachpersonals gezählt werden (wobei dies nicht mit Daten belegt wird, sondern wohl das Erfahrungswissen der Kommissionsmitglieder wiedergibt). Zehn Jahre später, im Achten Jugendbericht (1990), fanden sich erste empirische Belege zu diesen quantitativen Entwicklungen; nach der Jahrhundertwende wurde die Beschreibung der Hilfen zur Erziehung im Elften Kinder- und Jugendbericht (2002) nochmals differenzierter und empirisch gesättigter. Im 14. Kinder- und Jugendbericht (2013) schließlich nahm die Darstellung der Hilfen zur Erziehung knapp 20 Druckseiten ein, auf denen im Detail vielfältige Indikatoren referiert wurden, die von differenzierten Zeitreihen zu Fallzahlen und Inanspruchnahmequoten bis hin zur Entwicklung der verschiedenen Hilfearten reichten. 2. Der Trend einer Empirisierung der Sozialen Arbeit bzw. der Kinder- und Jugendhilfe lässt sich auch anhand eines weiteren Publikationsformats belegen –

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dem Fachlexikon der Sozialen Arbeit, das vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge seit 1980 herausgegeben wird und inzwischen in der achten Auflage vorliegt (Deutscher Verein 1980 ff.). Dieses Lexikon wird zum Teil in der Wissenschaft und in der Lehre, vor allem aber in der Praxis der Kinderund Jugendhilfe verwendet und in Teilen auch von Personen aus der Fachpraxis mitverfasst. Es bildet sich darin mithin weniger die „Speerspitze von Wissenschaft und Forschung“ ab, als vielmehr das, was man als kanonisiertes Wissen für den Praxisgebrauch betrachten kann. Dank ihrer lexikalischen Struktur lassen sich diese Bände in ihren Themensetzungen vergleichen, und einige Fragen kann man zumindest näherungsweise beantworten (Abb. 3): Kamen in diesem Lexikon Themen mit empirischen Schwerpunkten im Laufe der Zeit dazu? Wurden Empirie-Kapitel zusammengefasst oder gestrichen? Oder wurden sie einfach ­beibehalten? In dieser Übersicht wird deutlich, dass es in diesem Lexikon von Anfang an eine kontinuierliche Repräsentanz von Begriffen der empirischen Sozialforschung gab und bis heute gibt: Schlagwörter wie „Daten“, „Evaluation“ oder auch „Sozialindikatoren“ sind in allen Ausgaben seit 1980 vertreten. Insofern wäre die These, dass empirische Themen erst nach der Jahrhundertwende in der Kinderund Jugendhilfe überhaupt wahrgenommen wurden, so pauschal nicht haltbar. Zu beachten ist allerdings, dass dieses Lexikon ein Produkt eines breit aufgestellten Praxisverbandes ist, der weit über die Kinder- und Jugendhilfe hinausweist und ein durchaus distanzierteres Verhältnis zur Wissenschaft hatte. Außerdem fällt auf, dass in der Anfangszeit des Lexikons eine Reihe von empirienahen Begriffen eher dem Lehrrepertoire der empirischen Sozialforschung zugerechnet werden konnten und weniger Ausdruck einer sich eigenständig etablierenden empirischen Forschung innerhalb der Sozialen Arbeit waren. Empirisch orientierte Schlagworte, wie Volkszählung, Sozialindikatoren oder Preisindex, weisen jedenfalls kaum auf eine genuin empirische Ausrichtung der Fachpraxis hin – wenngleich man feststellen kann, dass das Konzept der Jugendhilfestatistik in diesem Lexikon von Anfang an enthalten war. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass sich neben thematischen Kontinuitäten auch bemerkenswerte Veränderungen zeigen. So wurden mehrere empirisch-methodische Begriffe, die zunächst separat dargestellt waren, allmählich gebündelt und gekürzt. „Grundgesamtheit“, „Korrelation“ und „Messung“ beispielsweise wurden in den ersten fünf Auflagen des Lexikons noch getrennt behandelt; von der sechsten Auflage an wurden die entsprechenden Inhalte dann konzentriert in dem Stichwort „Statistik“ abgehandelt.

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Abb. 3   Empirische und forschungsbezogene Themen in acht Auflagen des Fachlexikons Soziale Arbeit (1980–2017). (Eigene Darstellung)

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Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das Lexikon in diesen Themenfeldern im Laufe der Zeit sich stärker von einem Lehrwissen zu einem Professionswissen hin entwickelte, um auch den Entwicklungen im Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit Rechnung zu tragen: Im Jahr 1980, als die erste Auflage auf den Markt kam, schien es noch notwendig zu sein, den Leserinnen und Lesern basale Grundbegriffe der empirischen Sozialforschung aufzuschlüsseln. Im Lauf der Jahre wirkten diese Stichworte möglicherweise etwas aus der Zeit gefallen, zumindest für eine am praktischen Nutzen von durchgeführter Forschung interessierte ­Fachpraxis. Daneben fällt auf, dass zeitgebundene Begriffe wie „Automatische Datenverarbeitung“ in den 1990er-Jahren gestrichen wurden, wahrscheinlich weil sie als vom technischen Fortschritt überholt galten. Und schließlich finden sich einige neue Lexikoneinträge, die eher differenzierte Aspekte der empirischen Forschung behandeln – darunter die Kapitel „Mikrozensus“ (ab 1986), „Sozialberichterstattung“ (ab 1993), „Sozio-oekonomisches Panel“ (ab 2002) oder „Internationale Vergleichsstudien“ (ab 2017), womit die Large-Scale-Assessments der empirischen Bildungsforschung gemeint sind. Möglicherweise spiegelt sich darin die Überzeugung der Herausgeber, dass ihre LeserInnen derart differenziertes Wissen gutheißen würden – oder zumindest, dass man ihnen diese Inhalte zumuten sollte, ähnlich wie man ihnen 20 Jahre zuvor die Begriffe „Grundgesamtheit“ und „Korrelation“ nahezubringen versuchte. Insgesamt, so kann man bilanzieren, finden sich in den hier exemplarisch betrachteten Publikationen aus vier Jahrzehnten zahlreiche Hinweise auf eine zunehmende Empirisierung von Produkten, die auch oder sogar überwiegend in der Kinder- und Jugendhilfe rezipiert wurden. Diese mag auch früher nie ganz empiriefrei gewesen sein, doch in jedem Fall ist das Ausmaß der datengestützten Beobachtung und der Sekundäranalysen seitdem erheblich gewachsen. Insofern ist der „empirische Blick“ in der Kinder- und Jugendhilfe heute verbreiteter denn je. Dennoch, die hier zusammengetragenen Indizien können gewiss nur erste Hinweise auf eine Empirisierung der Kinder- und Jugendhilfe unter besonderer Berücksichtigung der datengestützten Sekundäranalyse in den vergangenen ­Jahrzehnten sein. Unter dem Strich steht eine historisch-systematische Rekons­ truktion der Entwicklungspfade von empirischer Forschung und Sekundäranalysen in der Wissenschaft der Kinder- und Jugendhilfe noch aus, inklusive ihrer Rezeption. Dazu wären dann erneut sowohl text- als auch datenbasierte Sekundäranalysen erforderlich.

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Qualitative Sekundäranalyse Irena Medjedović

1 Einleitung Der Begriff „Sekundäranalyse“ beschreibt eine Strategie, bei der zur Beantwortung einer Forschungsfrage auf bereits vorliegende Daten zurückgegriffen wird. Bei der Sekundäranalyse handelt es sich also um keine Methode im engeren Sinne, das heißt, es kann keine spezifische Verfahrensweise beschrieben werden. Stattdessen betrifft sie eine Komponente in der Konstruktion von Untersuchungsplänen, nämlich die Auswahl des empirischen Materials. Alternativ oder komplementär zur Erhebung von Daten wird im Zusammenhang einer anderen Untersuchung bereits erhobenes Datenmaterial genutzt. Klingemann und Mochmann hielten bereits 1975 fest, dass „es […] vor allem dieser Sachverhalt [ist], der Rückgriff des Forschers auf bereits vorliegende Daten, die Abtrennung des Prozesses der Datenerhebung von den Prozessen der Datenverarbeitung und der Dateninterpretation, der mit dem Begriff der Sekundäranalyse gemeint ist“ (Klingemann und Mochmann 1975, S. 178).

Und vor allem aufgrund dieses Sachverhalts impliziert die Sekundäranalyse einige methodologische Besonderheiten, die im Forschungsprozess zu berücksichtigen sind. Mit dem Fokus auf der qualitativen Sekundäranalyse sollen diese Prof. Dr. Irena Medjedović, Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. I. Medjedović (*)  Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_3

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Prämissen näher erläutert werden (Abschn. 3 bis 6). Bevor dies geschieht, werden zunächst die spezifischen Ziele, Varianten und Forschungsdesigns dieser Forschungsstrategie (Abschn. 2) bestimmt.

2 Ziele, Varianten und Forschungsdesigns der Sekundäranalyse Vom Standpunkt der jeweiligen Forscher und Forscherinnen unterscheidet sich die allgemeine Zielsetzung der Sekundäranalyse nicht von der der Primäranalyse. Für beide gilt: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den gewählten Untersuchungsgegenstand sind hervorzubringen! Die Sekundäranalyse fungiert daher nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein alternativer oder ergänzender Forschungsansatz auf dem Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Soll die Sekundäranalyse jedoch näher charakterisiert werden, lassen sich durchaus verschiedene Zielsetzungen und damit einhergehende Varianten beschreiben: Zum einen wird sie verwendet, um neue oder ergänzende Fragen an bereits vorhandenes Material zu stellen, zum anderen, um Befunde früherer Forschung zu validieren. In Abhängigkeit von dem Grad der Nähe zwischen den Fragestellungen von Primär- und Sekundärstudie benennt Heaton (2012) drei Varianten der Sekundäranalyse: • In der supra- oder transzendierenden Analyse (supra analysis) werden die Daten unter einer neuen Forschungsperspektive ausgewertet. Sie geht über die im Rahmen der Primärstudie entwickelten Begrifflichkeiten hinaus und verwendet die Daten dieser Studie für neue theoretische, empirische oder methodologische Fragestellungen (exemplarisch Medjedović und Witzel 2005). • Im Unterschied hierzu geht es bei der ergänzenden Analyse (supplementary analysis) um eine Ausweitung des ursprünglichen Ansatzes. Der ergänzende Charakter besteht in der Untersuchung einzelner Fragen, die in der Originalstudie gestellt, aber nicht oder nicht erschöpfend bearbeitet wurden. Spezifische Themen, Aspekte oder Teile der Daten (zum Beispiel Subset des Samples), die erst im Nachhinein Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden sind (daher auch retrospektive Interpretation, Thorne 1994), werden einer vertiefenden Analyse unterzogen (exemplarisch Notz 2005).

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• Die erneute Analyse der Daten unter der gleichen Fragestellung wird als Reanalyse (re-analysis) bezeichnet und intendiert, die Resultate der ursprünglichen Analyse zu überprüfen bzw. zu verifizieren (exemplarisch König 1997). Methodologisch lassen sich allerdings berechtigte Einwände gegen das Validierungspotenzial von Reanalysen vorbringen (Hammersley 1997). Auch sind die bisherigen empirischen Beispiele weniger tatsächliche Überprüfungen im Sinne eines schrittweisen Nachvollzugs des originären Forschungs- und Theoriebildungsprozesses. Vielmehr werden alternative oder neue theoretische Sichtweisen an den Daten entwickelt bzw. es wird aufgedeckt, welche Themen in der Primäranalyse nicht erforscht wurden. In diesem Sinne geben Reanalysen wertvolle Hinweise auf die Konstruktionsprozesse, die bei jeder Interpretation von Daten am Werk sind (ausführlicher: Medjedović 2014, S. 190–213). Ein besonderes Potenzial der Sekundäranalyse ergibt sich aus der Möglichkeit, Daten mehrerer Studien zusammenzuführen. Diese Analysen multipler Datensätze werden eingesetzt, um über die Datensätze hinweg gemeinsame (zusätzliche Evidenz, auch: cross-validation, Thorne 1994) und/oder divergierende Themen (Ergänzungsfunktion) zu untersuchen. Die Vergrößerung oder Ergänzung spezifischer Untersuchungsgruppen kann dazu beitragen, verallgemeinerbare Theorien zu generieren (erweitertes Sampling nach Thorne 1994). Der Vergleich von Datensätzen aus zwei Zeitperioden erlaubt zudem die Untersuchung des Wandels gesellschaftlicher Phänomene. Der Zugriff auf multiple Datensätze ermöglicht also Vergleichsanalysen in vielerlei Hinsicht, wobei Daten relativ flexibel miteinander kombiniert werden können. So muss sich die Sekundäranalyse auch nicht auf eine Datenform beschränken. In ihrem Review identifiziert Heaton (2012) für diese Formen des Zugriffs auf multiple Datensätze zwei Forschungsdesigns: • In der erweiterten Analyse (amplified analysis) werden zwei oder mehrere bereits vorhandene Datensätze genutzt (exemplarisch Medjedović und Witzel 2010, Kap. 2). • Die kombinierte Analyse (assorted analysis) nutzt verschiedene Datenquellen, indem sie die Sekundäranalyse mit der Erhebung neuer Daten verbindet und/oder einen Mix verschiedener Datentypen verwendet, indem beispielsweise Texte aus unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten (wie Interviews, Gruppeninterviews, offene Fragen innerhalb von Fragebögen) oder die Analyse von Forschungsdaten mit der Untersuchung naturalistischer Daten (wie Autobiografien, Bilder usw.) ergänzt wird (exemplarisch Demuth 2011).

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3 Beurteilung des Analysepotenzials der Daten Eine Grundprämisse der Sekundäranalyse ist, dass den im Rahmen eines spezifischen Forschungsprojekts erhobenen Daten genügend Potenzial innewohnt, um weitere Forschungsfragen zu bedienen. Aufgrund der Offenheit (Hoffmann-Riem 1980) ihrer Erhebungsmethoden zeichnen sich qualitative Daten durch einen inhaltlichen Reichtum aus, der in einer ersten Analyse häufig unausgeschöpft bleibt und die Anwendung neuer Perspektiven fördert. Trotz dieser Offenheit sind Daten immer auch Produkt der spezifischen Forschungsperspektive (Meinefeld 1995, 2005). Das heißt, grundsätzlich finden auf allen Stationen des Forschungsprozesses Entscheidungen seitens der Forscher bzw. Forscherinnen statt, die Einfluss auf die Daten und somit auch auf das sekundäre Analysepotenzial haben. Diese Konstruktionsprozesse sind entsprechend in der Sekundäranalyse zu reflektieren – für potenzielle Sekundärforscherinnen und -forscher in einem ersten Schritt ganz praktisch auf der Suche nach passenden Daten für ihre Forschungsfrage. Auf dieser Suche bewegen sich interessierte Forscherinnen und Forscher in der Regel auf der Ebene von Studien. Sie treffen somit zunächst auf entsprechende Studieninformationen, sei es etwa in Form von Publikationen zum Primärforschungsprojekt oder, wenn der Zugriff über Archive bzw. Datenzentren verläuft, auf sog. strukturierte Metadaten zu den Datensätzen. Kurze Zusammenfassungen der Studie und Angaben zu den wesentlichen Eckdaten vermitteln einen Überblick über die Studie. Sie ermöglichen die Identifikation bzw. das Auffinden potenzieller Studien und erlauben eine erste Entscheidung über die Nützlichkeit für das jeweilige sekundäre Forschungsvorhaben. Zu den ersten Schritten der Sekundäranalyse gehören allerdings eine intensive Auseinandersetzung mit weiteren Kontextdaten (zu Kontext siehe unten), Publikationen und die exemplarische Sichtung und Analyse der Daten selbst. Im Sinne einer praktischen Anleitung wurden in der quantitativen Forschungstradition Fragen formuliert, die im Rahmen einer Sekundäranalyse an die Daten gestellt werden sollten (Dale et al. 1988; Stewart und Kamins 2012). In Anlehnung und Ergänzung dessen können folgende Fragen auch für qualitative Sekundäranalysen übernommen werden (vergleiche auch „Assessment Tool“ in Hinds et al. 2012, S. 187–188 sowie Heaton 2004, S. 93; sowie ausführlich: Medjedović 2014, S. 166–187): • Was ist die Zielsetzung der Studie und ihr konzeptioneller Rahmen? • Welche Inhalte werden tatsächlich behandelt?

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• Wie wurden die Daten erhoben (Untersuchungsdesign, Methoden, Sampling)? • Wie wurden die Daten aufgezeichnet und transkribiert? • Von welcher Qualität sind die Daten? Welches Analyseverfahren wurde eingesetzt? • Wann wurden die Daten erhoben (Aktualität)? Die Nutzbarkeit von Daten im konkreten Fall hängt wesentlich mit ihrem Informationsgehalt zusammen. Hierbei geht es um die Beurteilung der Qualität der Daten, also zum einen um die methodische Qualität der Datenerhebung bzw. Qualität des Erhebungsinstruments und zum anderen um die inhaltliche Qualität der durch dieses Instrument erhaltenen Daten (Bergman und Coxon 2005, Abs. 17). Für Sekundäranalysen muss also beurteilt werden, ob bei vorliegenden Daten die dem Gegenstand angemessenen Methoden ausgewählt und diese valide umgesetzt wurden, und ob die auf den Gegenstand bezogenen Sicht- oder Handlungsweisen der Untersuchten in einer angemessenen Tiefe in den Daten repräsentiert sind. Die Qualität der Daten vorausgesetzt, bleibt zu prüfen, ob eine Passung der Daten für die konkrete Sekundäranalyse gegeben ist. Hierfür ist entscheidend, dass das Thema der Sekundäranalyse in der Originalstudie abgedeckt ist und deren Methoden die Analyse nicht einschränken. Vor Beginn der eigentlichen Analyse ist es sinnvoll, exemplarisch die Daten selbst zu sichten. Hinds et al. (2012) haben die Erfahrung gemacht, dass – bezogen auf Interviewdaten – eine Pilotstudie mit drei zufällig ausgewählten Interviews (Audio und Transkript) eine gute Hilfe ist, um Natur und Qualität der Daten zu beurteilen (auch Beckmann et al. 2013, S. 142).

4 Fallauswahl in Sekundäranalysen Für einen üblichen qualitativen Forschungsprozess unterscheidet etwa Akremi (2014) drei Ebenen, auf denen jeweils Sampling- bzw. Auswahlentscheidungen zu treffen sind: erstens die Ebene der Datenerhebung, zweitens die der Datenauswertung sowie drittens die der Datenpräsentation. Die Auswahlentscheidungen der zweiten und dritten Ebene gelten selbstverständlich auch für Sekundäranalysen (Akremi 2014, S. 274–281). Geht es beispielsweise darum, ein theoretisches Sampling im Sinne der Grounded Theory durchzuführen, verweisen Strauss und Corbin in ihrem klassischen Werk selbst darauf, dass bei Sekundäranalysen die gleichen Verfahren angewendet werden, wie sie auch sonst üblich sind, und Forscher und Forscherinnen auch bei vermeintlich begrenzten Daten ein intensives theoretisches

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­ ampling innerhalb des tatsächlich zugänglichen Datenpools durchführen könS nen und sollten (Strauss und Corbin 1996, S. 160 ff.; exemplarisch Beckmann et al. 2013, S. 145 f.). Für die Fallauswahl bzw. das Sampling im Rahmen von Sekundäranalysen können allerdings einige Besonderheiten herausgestellt werden, die vor allem die sonst übliche erste Ebene des Sampling betreffen bzw. kompensieren und die Frage betreffen: Wie erstelle ich nun einen zu meiner Forschungsfrage passenden Datenkorpus aus den vorliegenden Daten? So wird typischerweise in Sekundäranalysen ein Verfahren angewendet, dass Heaton (2004) mit „Sorting“ beschreibt. Dabei wird der Datensatz passend im Sinne eines Sortierens gestaltet, indem gezielt zur Fragestellung geeignete Teile des Datensatzes für die Analyse selektiert und neu zusammengestellt werden, etwa durch die Auswahl eines Sub-Samples, das Fokussieren auf eine bestimmte Gruppe von Beforschten oder die Beschränkung der Analyse auf bestimmte Themen und Inhalte (Heaton 2004, S. 59). Ähnlich wie es Klingemann und Mochmann (1975) für die Sekundäranalyse von (quantitativen) Umfragedaten beschreiben, wird hier nicht mehr der einzelne Datensatz, sondern das einzelne Datum (z. B. das einzelne Interview) als die Einheit der Information angesehen. Diese „quasi-empirische Phase der Sekundäranalyse“ ist das Äquivalent zur Phase des klassischen Sampling in der Erhebung, indem die Auswahlentscheidungen innerhalb der gegebenen Daten stattfinden und die ausgewählten Fälle zunächst zu einem neuen, „künstlichen Datenkollektiv“ zusammengefasst werden (Klingemann und Mochmann 1975, S. 187). Ein großer und breiter Datensatz gibt entsprechend mehr Möglichkeiten für eine gezielte Auswahl. Durch die Fortschritte in der Computertechnik und die in der qualitativen Forschung üblichen Analyse unterstützenden Programme und Textdatenbanken werden diese Auswahlprozesse vereinfacht. Diese sogenannten QDA-Programme (oder auch: „CAQDAS“, Kuckartz und Rädiker 2010) werden eingesetzt, um größere Datenmengen im Rahmen der qualitativen Analyse zu verwalten. Eine wesentliche Funktion dieser Programme besteht in den Codierungs- und Retrievaltechniken. Forscher und Forscherinnen entwickeln im Verlauf des Forschungsprozesses mehr oder weniger theorielastige Kategorien, mit deren Hilfe sie das Datenmaterial sortieren. Textpassagen beispielsweise, in denen bestimmte Phänomene Gegenstand sind, werden diesen analytischen Kategorien zugeordnet (Codieren) und sind darüber für den späteren Zugriff (Text-Retrieval) erschlossen. Wurde in der Primärstudie ein QDA-Programm angewandt, können anhand der Kodierungen aus dem vorliegenden Satz, an beispielsweise Interviews, diejenigen Interviews für die Sekundäranalyse herausgefiltert werden, in denen bestimmte Themenkomplexe – eben in Form der analytischen Kategorien codiert – vorkommen (exemplarisch Medjedović und Witzel 2005).

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Bei der Beschränkung der Analyse des Datensatzes auf eine bestimmte Gruppe von Befragten können definierte Fallmerkmale die Auswahl des Sub-Samples unterstützen. Solche Fallmerkmale werden in QDA-Programmen oder auch gesonderten Tabellen häufig in Form von einigen soziodemografischen Daten (wie Geschlecht, Alter, Schulabschluss) zu den einzelnen Dokumenten angelegt (Medjedović und Witzel 2005, Abs. 35; Beckmann et al. 2013, S. 142 ff.). Liegen zu den Interviewten ebenfalls standardisiert erhobene Daten in Statistikprogrammen vor, können – ähnlich wie bei Mixed-Methods-Erhebungen- über die Variablen der quantitativen Befragung Fälle gezielt zusammengestellt werden (exemplarisch Laub und Sampson 1998, 2003). Bei der Nutzung derartiger technischer Tools ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Definition sowohl von statistischen Variablen als auch von analytischen Kategorien in der qualitativen Analyse ein höchst interpretativer Prozess ist. Daher unterstellt deren Nutzung, dass der Sekundärforscher bzw. die Sekundärforscherin ihre Bedeutung und die Methoden der Kodierung versteht (Dale et al. 1988). Heutige Datenbankentechnologien und -tools ermöglichen zudem weitere Suchoptionen, die weniger von den Kategorien der Primärstudie abhängig sind und zugleich Recherchen über die Grenzen einer Studie hinweg erlauben. So beschreiben einige Sekundäranalysen, wie über eine relativ freie Schlagwortsuche in vorliegenden Interviewtranskripten aus mehreren Studien, jeweils eine neue studienübergreifende Datengrundlage, die passend zum neuen, speziellen Forschungsthema geschaffen werden konnte (exemplarisch Dargentas und Le Roux 2005, Bsp. 2; Beckmann et al. 2013, S. 142). Auf diese Weise können Studien und Interviews erfolgreich genutzt werden, auch wenn diese nicht explizit auf die neue Thematik fokussierten. Der Erfolg einer derartigen Suchanfrage hängt allerdings daran, ob präzise Begriffe aus der Forschungsfrage abgeleitet und formuliert werden können, die in den Äußerungen der Interviewten genau in der Weise vorkommen.

5 Das Problem der Kontextsensitivität Die Sekundäranalyse unterstellt, dass Daten auch außerhalb ihres unmittelbaren Erhebungskontextes ausgewertet und interpretiert werden können. Diese Annahme ist jedoch nicht unumstritten und bietet die Grundlage für eine methodologische Diskussion, die zum Teil stark polarisiert geführt wurde. Die prominenteste Kritik an der Machbarkeit der Sekundäranalyse stammt von Mauthner et al. (1998). Gestützt auf eigene sekundäranalytische Versuche stellten sie die (über historische und methodologische Untersuchungen

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h­inausgehende) erneute Nutzung qualitativer Daten prinzipiell infrage. Da es unmöglich sei, den ursprünglichen Status, den die Primärforscher und Primärforscherinnen hatten, wiederherzustellen, sei die Sekundäranalyse unvereinbar mit einer interpretativen und reflexiven Epistemologie (Mauthner et al. 1998, S. 742–743). Andere Autoren und Autorinnen sind dagegen der Auffassung, dass der Nachvollzug kontextueller Effekte weniger ein epistemologisches als ein praktisches Problem sei, das sich auch in Primäranalysen stelle. Qualitative Forscher und Forscherinnen hätten häufig mit unvollständigen (Hintergrund-) Informationen umzugehen und abzuwägen, inwieweit ein Aspekt tatsächlich belegt werden könne oder doch verworfen werden müsse (Fielding 2004, S. 99). Eine zweite Form der Replik auf Mauthner et al. (1998) kritisiert deren Verharren in einem Verständnis von Kontext, der statisch und fix in der Vergangenheit angesiedelt werde. Moore (2006) z. B. verweist darauf, dass Forscherinnen und Forscher in der Auseinandersetzung mit den Daten diese immer auch in einen eigenen Kontext setzen. Daher sei es nicht das Ziel, das originäre Forschungsprojekt und den ursprünglichen Status, den die Primärforscherinnen und -forscher hatten, vollständig nachzubilden. Vielmehr sei die Sekundäranalyse als neuer Prozess der Rekontextualisierung und Rekonstruktion von Daten zu verstehen. Auf Moores Argumentation beruhende Plädoyers, den Dualismus zwischen Primär- und Sekundäranalyse nun endgültig aufzuheben (Bishop 2012), werden aber immer noch zurückgewiesen mit dem Verweis darauf, dass die begriffliche Trennung benenne, dass es sich bei der Sekundäranalyse nun mal um eine besondere Situation handele (Hammersley 2012). Diese Diskussion reflektiert darauf, dass die Kontextsensitivität (oder auch Berücksichtigung der „Indexikalität“, Garfinkel 1973) einen Grundpfeiler qualitativer Forschung darstellt. Die Einsicht in die Kontextabhängigkeit einer sprachlichen Äußerung oder einer Handlung eint alle qualitativen Forschungsansätze und berührt einen wichtigen Punkt im Selbstverständnis dieser Forschungstradition (historisch als Durchsetzungs-„Kampf“ gegenüber dem sogenannten „normativen Paradigma“ geführt, Wilson 1973). Hinzu kommt, dass qualitative Forschung häufig damit verbunden wird, sich persönlich ins Feld zu begeben, um mit Kontextwissen aus „erster Hand“ die anschließende Analyse und Interpretation der Daten leisten zu können. In Sekundäranalysen fehlt dem Forscher bzw. der Forscherin dieser unmittelbare Bezug zum Kontext. Alternativ können aber Wege der Kontextualisierung aufgezeigt werden. Für die Sekundäranalyse ist hierbei relevant, welche Art von Kontext überhaupt gemeint ist – denn Kontext wird je nach Forschungsansatz unterschiedlich definiert (Goodwin und Duranti 1992, S. 2) und ist somit auch je nach Auswertungsinteresse unterschiedlich relevant.

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Für Daten, die auf geführten Interviews bzw. auf Gesprächen und Interaktionen (z. B. im Kontext ethnografischer Studien) basieren, können Kontextinformationen wie folgt erschlossen werden: Auf der Ebene der einzelnen Interaktion sollte zuallererst der Zugang zu den „Daten selbst“ gegeben sein. In qualitativen Auswertungsverfahren von Interviews wird der Fallanalyse, sprich der intensiven Auswertungsarbeit an der einzelnen Untersuchungseinheit, ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Das heißt, auch in Studien, die allgemeine Aussagen auf der Grundlage von vielen Interviews entwickeln, dient die sorgfältige Auswertung und Interpretation des einzelnen Interviews etwa durch eine „Satz-für-Satz-Analyse“ des Interviewtranskriptes (Witzel 2000, Abs. 19 f.) in der Regel als Ausgangspunkt. Diese Interpretation setzt den Fokus auf den Kontext, den die Beteiligten durch die wechselseitige Bezugnahme aufeinander in der Interaktion selbst erzeugen (kommunikativer Kontext der Konversation). Das heißt, entscheidend ist, wie die Beteiligten das Gespräch führen. Die detaillierte Arbeit am einzelnen Fall erfordert den Zugriff auf Aufnahmen und/oder das Gespräch möglichst präzise erfassende Transkripte; die Einbettung einer einzelnen Sequenz in den Gesamtverlauf der Interaktion oder einer einzelnen Äußerung in den Kontext einer längeren Erzählung erfordert die Vollständigkeit von Aufnahme oder Transkript. Darüber hinaus werden Metainformationen über das Gespräch als soziale Situation (situationaler Kontext) relevant. Eine Interaktion und ihre Akteure sind stets verortet in Raum und Zeit, das heißt, dass das unmittelbare Setting bedeutsam sein kann: Soziale Interaktionen können etwa zu unterschiedlichen Tageszeitpunkten unterschiedlich verlaufen. Ebenso können räumliche Bedingungen das Gespräch beeinflussen oder selbst empirisches Material für die Forschungsfrage liefern (zum Beispiel Wohnsituation der Befragten). Ferner mögen die Beteiligten ein gemeinsames Hintergrundwissen haben, das die Interaktion rahmt und von Bedeutung ist, aber nicht explizit im Gespräch artikuliert wird. Beispiele hierfür wären: Merkmale der Beteiligten wie Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Klasse; Informationen über relevante Dritte oder die Anwesenheit Dritter sowie weitere Informationen über die Beziehung zueinander, die etwa durch die Art der Kontaktaufnahme und die Bedingungen, unter denen das Gespräch zustande gekommen ist, beeinflusst wurde (Van den Berg 2005). Derartige Informationen können über Feld- oder Interviewnotizen (sogenannte „Postskripte“, Witzel und Reiter 2012, S. 95–98) für die Sekundäranalyse zugänglich sein. Soziales Handeln – und damit auch die Erhebungssituation – findet immer in einem institutionellen, kulturellen, sozio-politischen und historischen Kontext statt. Dieser extra-situationale Kontext (oder auch „Makro“-Kontext) verweist auf ein Hintergrundwissen, das über das lokale Gespräch und sein ­unmittelbares

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Setting hinausgeht. Doch auch dieser Kontext ist kein objektiver Satz von Umständen, der getrennt von den sozialen Akteuren vorliegt, sondern es geht um diejenigen Bestandteile des äußeren Kontextes, die sich empirisch manifestieren bzw. von den Beteiligten in der Interaktion tatsächlich aufgegriffen werden. Wenn eine Studie sich etwa für bestimmte soziale Fragen und politische Debatten interessiert, ist es für die Sekundäranalyse von hohem Wert, diese Verknüpfung auch nachvollziehen zu können (zum Beispiel über „graue Literatur“, Bishop 2006). Nicht selten werden qualitative Daten in Kontexten erhoben, die durch eine lokale Kultur (Holstein und Gubrium 2004) charakterisiert sind. Dies kann beispielsweise eine Praxis oder (Fach-)Sprache sein, die innerhalb einer Institution, einer sozialen oder beruflichen Schicht oder eines geografischen Gebiets geteilt wird. Für Sekundäranalysen kann es daher entscheidend sein, den Zugang zu Dokumentationen zu haben, die die Daten in dieser elementaren Weise erst verständlich machen (zum Beispiel Glossar eines Fachvokabulars). Bishop (2006) ergänzt „Projekt“ als besonderen Teil der Situation, weil Forschungsprojekte spezifische Kontextmerkmale als eigenes Subset des Gesamtsettings einschließen. Heruntergebrochen auf die einzelne Situation bedeutet dies, dass Forscherinnen bzw. Forscher einen (projekt-)spezifischen Erhebungskontext produzieren, vor dessen Hintergrund sich Feldinteraktionen vollziehen. Dies umfasst die methodischen Entscheidungen (wie die Wahl der Erhebungsmethode, des Forschungsdesigns), die theoretischen Vorannahmen, den institutionellen Hintergrund etc. Aufgrund der Kürze und Präzision, die Fachzeitschriften und Verlage erfordern, bieten die in Publikationen üblichen Kapitel zu Methodik und Durchführung einer Untersuchung keine ausreichende Erläuterung der methodischen Details. In Ergänzung sollte auf weitere (meist unveröffentlichte) Projektdokumente zurückgegriffen werden, die die wesentlichen Informationen über das Forschungsprojekt enthalten, wie zum Beispiel Anträge, Berichte, Leitfäden, Arbeitspapiere, Forschungstagebücher, Memos (zu den Bestandteilen einer Dokumentation: Steinke 1999, S. 208–14).

6 Sekundäranalyse und Forschungsethik Sekundäranalysen unterliegen den gleichen datenschutzrechtlichen und ethischen Prinzipien, wie sie allgemein für die Forschung gelten (Friedrichs 2014; RatSWD 2017; von Unger 2014). Ein verantwortungsbewusster Umgang mit den Daten ist auch deshalb geboten, weil der Aufbau einer Vertrauensbeziehung in der qualitativen Forschung eine grundlegende Rolle spielt, um einen Zugang zur Innenperspektive der Forschungssubjekte zu erlangen.

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Werden Angaben zu Personen in Forschungskontexten erhoben, verarbeitet oder genutzt, sieht die rechtliche Seite im Wesentlichen zwei Prinzipien vor: die informierte Einwilligung und die Anonymisierung (Bundesdatenschutzgesetz BDSG, § 4a und § 40) – beides Prinzipien, die auch forschungsethisch in den entsprechenden Kodizes der Fachgesellschaften und Berufsverbände aufgegriffen werden (z. B. DGS und BDS 2017). Für die Forschung bedeutet dies, dass die Teilnahme an einer Untersuchung generell freiwillig und auf Grundlage einer Information über den Zweck, Ziele und die Nutzung der Erhebung erfolgen sollte. Auch für die Sekundäranalyse steht das Prinzip der informierten Einwilligung im Vordergrund, nämlich den „beforschten“ Subjekten selbst (im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung) die Entscheidung und die Kontrolle über die Daten, in denen sie repräsentiert sind, zu überlassen. Das heißt, dass die Sekundäranalyse – ebenso wie die Erhebung und Primärauswertung – zuallererst auf der Grundlage der Kenntnis, ausführlichen Information und Freiwilligkeit vonseiten der Forschungssubjekte stattfinden sollte. Vorschläge, wie diese Einwilligungen um die Einwilligung zur Sekundäranalyse ergänzt werden können, existieren bereits (Liebig et al. 2014). Die vom RatSWD eingesetzte Arbeitsgruppe (Liebig et al. 2014) hat beispielsweise Musterformulare für Einwilligungserklärungen entwickelt, die Forscher und Forscherinnen für die Erhebungssituation v. a. im Kontext interviewbasierter Studien nutzen können. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe, eine mögliche Einwilligung in die Archivierung und Sekundäranalyse erst nach Ende der Untersuchungssituation zu besprechen, berücksichtigt v. a. den Umstand, dass die Beteiligten zu diesem Zeitpunkt besser die von sich preisgegebenen Informationen einschätzen können (Liebig et al. 2014, S. 12 f.). Zu den zu treffenden Vereinbarungen gehören Vertraulichkeitszusicherungen seitens der Forscher und Forscherinnen, die auch die Anonymisierung beinhalten können. Die Praxis in der Oral History zeigt, dass die Anonymisierung keine zwingend notwendige Verfahrensweise ist. Aufgrund der Schwierigkeit, Interviews mit Zeitzeugen zu anonymisieren (Leh 2013) sowie des Selbstverständnisses dieser Wissenschaftsdisziplin, „to give empowerment to hidden voices“ (Thompson 2003, S. 357), stimmen Interviewte ausdrücklich in die wissenschaftliche Nutzung der unveränderten Originalinterviews ein. Ähnlich kommt es auch bei Experteninterviews oder in der partizipativen Forschung vor, dass die namentliche Nennung autorisiert wird (Liebig et al. 2014, S. 14 f.; von Unger 2014, S. 25).

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Um einen größtmöglichen Schutz der Forschungssubjekte zu gewährleisten, liegt es allerdings üblicherweise nahe, in Ergänzung zur informierten Einwilligung, eine Anonymisierung der erhobenen Daten im Primärforschungsprojekt, insbesondere jedoch vor der Weitergabe der Daten, durchzuführen. Für die qualitative Forschung und deren Daten ergibt sich hieraus ein Dilemma: Die Reichhaltigkeit qualitativer Daten an persönlichen Details zu den Lebensgeschichten und dem persönlichen Umfeld der Untersuchungspersonen oder die in vielen Fällen erleichterte Re-Identifizierung aufgrund eng begrenzter Populationen und kleiner Stichproben machen Maßnahmen wie die Anonymisierung notwendig; zugleich erschweren sie sie, weil ein Anonymisierungsgrad gefunden werden muss, der durch die Löschung oder Veränderung von Informationen die Nutzbarkeit der Daten für die wissenschaftliche Analyse nicht zerstört (Thomson et al. 2005; von Unger et al. 2016, Abs. 14). Konkret vorgeschlagene Konzepte für die Anonymisierung sehen entsprechend vor, die personenbezogenen Daten zu entfernen und gleichzeitig durch geeignete Pseudonyme die relevanten fallbezogenen Kontextinformationen zu erhalten (z. B. Ersatz von „Klara“ durch „Vorname der Ehefrau“); semi-automatische Anonymisierungstools können darüber hinaus helfen, den Aufwand zu reduzieren (Liebig et al. 2014, S. 14; Medjedović und Witzel 2010, S. 149–154). Entgegen den Befürchtungen, die immer wieder von qualitativen Forschern und Forscherinnen forschungsethisch geäußert werden, sobald es um ein institutionalisiertes Data Sharing geht (ein informelles wird längst praktiziert und von denselben kritischen Stimmen durchaus gutgeheißen), praktizieren Datenarchive bzw. Datenzentren keineswegs eine „unkontrollierbare Öffnung […] für unbekannte Dritte“ (Hirschauer 2014, S. 309 f.). Weitere restriktive Maßnahmen werden unternommen, so z. B. die absolute Anonymisierung bei besonders sensiblen Daten (durch Löschen von kritischen Passagen), das ausschließliche (offline-)Arbeiten vor Ort mit den Daten, die vertragliche Verpflichtung der Sekundärforscherinnen und -forscher auf unterschiedliche forschungsethische Standards im Umgang mit den Daten (z. B. Nicht-Veröffentlichung kompletter Interviews) (Liebig et al. 2014, S. 15), die aber ohnehin im Rahmen guter forschungsethischer Praxis generell für Forschungshandeln gelten. Forscherinnen und Forscher haben immer – unabhängig davon, ob im Primärprojekt oder bei der Sekundäranalyse – eine Verantwortung gegenüber denjenigen, die sie zum „Objekt“ der Forschung erklären. Durch den persönlichen Kontakt fühlen sie sich möglicherweise in einer herausgehobenen Stellung gegenüber ihren „Schützlingen“, sodass die (zentrale) Archivierung bzw. Sekundäranalysen durch Dritte als Einfallstor für Missbrauch der zugesagten Vertraulichkeit empfunden werden können (Hirschauer 2014; Medjedović 2007; Richardson und

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Godfrey 2003). Deshalb ist der beschriebene ethische und datenschutzrechtliche methodologische Qualitätsstandard der Sekundäranalyse von herausragender Bedeutung. Schließlich tangiert der forschungsethische Aspekt die Wahrung der Interessen derer, die die Daten erhoben haben (Medjedović 2007). Tatsächlich ist für Deutschland die Frage des geistigen Eigentums an Forschungsdaten nicht geklärt (Liebig et al. 2014, S. 18; RatSWD 2015, S. 8). Vor dem Hintergrund der bislang geführten Kontroversen und der Sensibilität dieser forschungsethischen Fragen für die Primärforscherinnen und -forscher sollten Sekundäranalysen unter der Bedingung stattfinden, dass nicht nur die beforschten, sondern auch die forschenden Subjekte einwilligen und ihr „Urheberrecht“ an den Daten in angemessener Weise berücksichtigt wird (z. B. durch Verweis auf die Datenquelle bei Publikationen, Regelungen der Autoren- bzw. Autorinnenschaft).

Literatur Akremi, L. 2014. Stichprobenziehung in der qualitativen Sozialforschung. In Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Hrsg. N. Baur und J. Blasius, 265–282. Wiesbaden: Springer VS. Beckmann, S., P. Ehnis, T. Kühn, und M. Mohr. 2013. Qualitative Sekundäranalyse – Ein Praxisbericht. In Forschungsinfrastrukturen für die qualitative Sozialforschung, Hrsg. D. Huschka, H. Knoblauch, C. Oellers, und H. Solga, 137–151. Berlin: Scivero. Bergman, M. M. und A. P. M. Coxon. 2005. The quality in qualitative methods. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 6: Art. 34. doi: http:// dx.doi.org/10.17169/fqs-6.2.457. Bishop, L. 2006. A proposal for archiving context for secondary analysis. Methodological Innovations Online 1: 10–20. www.esds.ac.uk/news/publications/MIOBishop-pp10–20. pdf Zugegriffen: 13. Juli 2015. Bishop, L. 2012. A reflexive account of reusing qualitative data: Beyond Primary/Secondary Dualism. In SAGE Secondary data analysis, Vol. III, Hrsg. J. Goodwin, 141–162. Los Angeles: Sage. Dale, A., S. Arber, und M. Procter. 1988. Doing secondary analysis. London: Unwin Hyman. Dargentas, M., und D. Le Roux 2005. Potentials and Limits of Secondary Analysis in a Specific Applied Context: The Case of EDF-Verbatim. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 6: Art. 40. doi: http://dx.doi. org/10.17169/fqs-6.1.505. Demuth, C. 2011. Der „Mainzer Längsschnitt“ – Systematische Methodenintegration zum tieferen Verständnis kultureller Entwicklungspfade. Zeitschrift für Qualitative Forschung 12: 91–109. DGS/BDS. 2017. Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbands Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS). www.soziologie.de/fileadmin/user_upload/DGS_Redaktion_BE_FM/DGSallgemein/EthikKodex_2017-06-10.pdf. Zugegriffen: 1. September 2017.

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Sekundäranalyse quantitativer Daten Klaus Birkelbach

1 Einführung Wenn hier von Sekundäranalysen gesprochen wird, dann ist damit die wissenschaftliche Untersuchung spezifischer Fragestellungen anhand von nicht eigens zu diesem Zweck erhobenen, also bereits vorliegenden Daten gemeint (Cheng und Phillips 2014, S. 371–372; Heaton 2012; Smith 2017, S. 122; Weischer 2007, S. 335; Medjedović 2014, S. 19–26, sowie der Beitrag von Medjedović in diesem Band; Glaser 1962, 1963). Diese weite Definition schließt unterschiedliche Datenarten, Datenquellen, Forschungsziele und -ansätze ein. Sie vermeidet die unfruchtbare Diskussion, wann aus Primärdaten Sekundärdaten werden (z. B. bei Hyman 1972), etwa, wenn die „Primärforscher“, also diejenigen, die das Datenmaterial zur Analyse einer spezifischen Fragestellung erhoben haben, später andere Fragestellungen mit „ihren“ Daten beantworten oder die ursprüngliche Fragestellung anhand der Daten mittels neuer Methoden reanalysieren. Während der Artikel von Medjedović in diesem Band die Sekundäranalyse qualitativer Daten behandelt, konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf die Sekundäranalyse quantitativer Daten mit einem besonderen Schwerpunkt auf Mikrodaten. Nach einer kurzen Einordnung des Forschungsfeldes Kinder- und Jugendhilfe (KJH) in den breiteren Bezugsrahmen der empirischen Sozialforschung wird ein allgemeiner Überblick über die Entwicklung und den Prof. Dr. Klaus Birkelbach lehrt Soziologie und Methoden der empirische Sozialforschung am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen. K. Birkelbach (*)  Universitat Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_4

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Stellenwert der Analyse von Sekundärdaten in der empirischen Sozialforschung gegeben. Im weiteren Verlauf werden die Vor- und Nachteile der Nutzung von Sekundärdaten in Forschung und Lehre sowie deren Voraussetzungen diskutiert.

2 Empirische Sozialforschung zur Kinder- und Jugendhilfe Empirische Forschung zur und über die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) bezeichnet einen spezifischen Gegenstandsbereich der empirischen Sozialforschung, der nicht auf Wirkungs- und Evaluationsforschung oder auf deskriptive Bedarfsanalysen mit dem Blick auf die Planung zukünftiger Maßnahmen und Programme eingegrenzt ist, sondern auch theoriegeleitete Grundlagenforschung zu sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen, die für das Forschungsfeld von Relevanz sind, einschließt. Ziel solcher Grundlagenforschung muss sein, der Sozialen Arbeit als Profession und deren Gegenstandsbereichen, wie z. B. der KJH, ein empirisch abgesichertes wissenschaftliches Fundament zu geben und dieses durch empirische Forschung kontinuierlich weiter zu entwickeln. Erst so konstituiert sich die Soziale Arbeit als Wissenschaft (z. B. Brekke 2012; Guo 2015) und die KJH als ein spezifischer zu beforschender Gegenstandsbereich dieser Wissenschaft mit eigenen Fragestellungen, Zielen und Orientierungen (z. B. Gahleitner 2009). Ein konstituierendes Element der Sozialen Arbeit als Profession ist darüber hinaus, dass sie sich der Wirksamkeit ihrer Maßnahmen durch konkrete Wirkungsforschungen und Evaluationen versichern muss, um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden (z. B. Baumgartner und Sommerfeld 2012; McNeece und Thyer 2004; siehe auch: Albus et al. 2017). Gemeinsam ist allen genannten Forschungsfeldern, dass sie – wie die gesamte empirische Sozialforschung – einer validen, reliablen und inhaltlich passgenauen Datengrundlage bedürfen, um die jeweilige Fragestellung angemessen zu bearbeiten.

3 Sekundäranalyse in der empirischen Sozialforschung Ein Blick in die Geschichte der empirischen Sozialforschung und ihrer Vorläufer zeigt, dass diese zunächst auf Daten zurückgreift, die anderswo, etwa von staatlichen und kirchlichen Verwaltungen für administrative und fiskalische Zwecke erhoben wurden, sie ggfs. mit zusätzlichen Informationen aus anderen Quellen anreichert und dann mit Blick auf spezifische Fragestellungen auswertet. Solche

Sekundäranalyse quantitativer Daten

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empirischen Untersuchungen findet man lange schon, bevor sich die Soziologie als Wissenschaft konstituiert, wie Zeisel (1975) in seinem Anhang zur ursprünglich 1933 publizierten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal (Jahoda et al. 1975) beschreibt (siehe auch Maus 1973). Beispielsweise basiert Engels (1974) erstmals 1845 publizierte Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England vor allem auf den Daten verschiedener Enqueten für das englische Parlament. Durkheims 1897 veröffentlichte Studie Le Suicide (Durkheim 1973) untersucht die sozialen Ursachen des Selbstmords anhand systematischer Analysen vorliegender Daten aus verschiedenen Ländern und historischen Phasen. Geigers 1932 publizierte Studie Die Soziale Schichtung des Deutschen Volkes basiert auf amtlichen Daten (Geiger 1967). Diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie die von anderen Institutionen und Personen gesammelten Daten systematisch neu ordnen und sie mit dem Fokus auf die eigenen Fragestellungen mit den verfügbaren Methoden ihrer Zeit auswerten. Während in Europa empirische Sozialforschung also zunächst vor allem bereits vorhandenes Datenmaterial mit Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen sekundär auswertet, entwickelte sich dort, wo im Fokus der Sozialforschung stärker einzelne soziale Probleme standen und weniger Daten verfügbar waren, relativ früh das Bedürfnis der Forscher/innen eigene Daten zu erheben. Das war vor allem in den USA seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall, wo sich in der Folge dann auch eine eigene Methodenlehre der Datenerhebung entwickelte (Scheuch 1973, 164 f.). Aber auch in Europa beginnen in den 1920-er und 1930er Jahren Sozialwissenschaftler dort, wo konkrete soziale Probleme im Zentrum stehen, eigene Daten für ihre spezifischen Fragestellungen zu erheben und auszuwerten (z. B. Lazarsfeld 1931; Jahoda et al. 1975). Eine empirische Sozialforschung, die konkrete Fragestellungen mit eigenen Datenerhebungen untersucht, konnte aus verschiedenen Gründen zunächst in den USA, nach dem zweiten Weltkrieg auch in Europa zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dazu gehört neben der rapiden technologischen Entwicklung, die mit einer ständigen Verfeinerung der Erhebungs- und Auswertungsmethoden einhergeht, auch deren Etablierung in der akademischen Lehre, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Gründung kommerzieller Meinungsforschungsinstitute war. Die Zunahme eines von staatlicher Seite formulierten – und vor allem finanzierten – Bedarfs an empirisch abgesichertem Wissen über die Gesellschaft und ihre Teilbereiche, sowie der zunehmende Bedarf der akademischen Sozialforschung an Daten zum Zwecke einer empirischen Überprüfung ihrer theoretischen Überlegungen, führte dazu, dass immer mehr Daten, meist mittels Befragungen von Stichproben eines Bevölkerungsquerschnitts, erhoben wurden. Früh schon wurde das Potenzial solcher Daten für die vergleichende

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­ ozialforschung, sowohl in der zeitlichen Dimension als auch im internationalen S Vergleich, aber auch die dabei zu lösenden Probleme, z. B. bei der Harmonisierung der verfügbaren Indikatoren, erkannt (Scheuch 1973; Mochmann 2014). Diese Datensätze enthalten häufig Informationen, die über die ursprüngliche Fragestellung der Primärforscher hinausgehen und sich dadurch für weitergehende Analysen nutzen lassen. Um den Datenzugang für die Wissenschaft zu organisieren, wurden wiederum zunächst in den USA und später auch in Europa Datenarchive gegründet, die Datensätze sammeln und interessierten Forschern in aufbereiteter und dokumentierter Form für deren Analysen zur Verfügung stellen. In Deutschland wurde bereits 1960 das Kölner Zentralarchiv für empirische Sozialforschung, heute Datenarchiv für Sozialwissenschaften der GESIS (DAS), gegründet (www. gesis.org/institut/abteilungen/datenarchiv-fuer-sozialwissenschaften/).1 Wie der online verfügbare Datenkatalog (https://dbk.gesis.org/dbksearch/index.asp?db=d) ausweist, stehen der Wissenschaft dort mittlerweile mehr als 5500 sorgfältig aufbereitete und dokumentierte Datensätze zur Verfügung, mit denen sich die unterschiedlichsten Fragestellungen analysieren lassen – auch Fragen aus dem und zum Feld der Kinder- und Jugendhilfe(forschung), wie der Beitrag von Watteler in diesem Band zeigt. Was mit der Gründung des Kölner Datenarchivs begann, hat sich inzwischen aufgrund des zunehmenden Bedarfs an Forschungsdaten für die Wissenschaft und Politik, aber auch der zunehmenden Bedeutung, die der Datenqualität zugemessen wird, zu einer institutionalisierten Forschungsdateninfrastuktur (Bug et al. 2018) weiterentwickelt. Gegenwärtig listet der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) auf seiner Webseite (www.ratswd.de/forschungsdaten/ fdz) mehr als 30 nach einheitlichen Kriterien akkreditierte Forschungsdatenzentren (FDZ) unterschiedlicher datenerhebender oder -generierender Akteure auf, die der Wissenschaft den Zugang zu „ihren“ Daten ermöglichen. Erhebliche Anstrengungen werden unternommen, neben Datensätzen, die mit wissenschaftlicher Zielsetzung erhoben wurden, auch Mikrodaten der amtlichen Statistik über FDZ für wissenschaftliche Analysen nutzbar zu machen (Hartmann und Lengerer 2014; Wirth und Müller 2005). So stellen z. B. die FDZ des Bundes und der Länder für die wissenschaftliche Nutzung u. a. faktisch anonymisierte scientific use files des Mikrozensus bereit (ausführlich dazu der Beitrag von Fuchs-Rechlin in diesem Band), aber auch spezielle Daten zur Kinder- und Jugendhilfestatistik (siehe hierzu die Beiträge von Pothmann und von Rauschenbach in diesem Band) sind dort verfügbar. Einen Überblick vermittelt die Internetpräsenz des FDZ (https://www.forschungsdatenzentrum.de/de).

1Alle

im Folgenden genannten Webseiten wurden im Januar 2019 abgerufen.

Sekundäranalyse quantitativer Daten

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Teil der oben beschriebenen Bemühungen zur Entwicklung und Etablierung einer Dateninfrastruktur für die Sozialwissenschaften ist auch die Einrichtung und Institutionalisierung kontinuierlicher Datenerhebungsprogramme (Mochmann 2014). Programme, wie z. B. der European Value Survey (https://europeanvaluesstudy.eu), der World Value Survey (http://www.worldvaluessurvey.org/ wvs.jsp) oder der European Social Survey (http://www.europeansocialsurvey. org/) erlauben als Querschnittsstudien international vergleichende Forschungsansätze, zugleich sind sie wegen ihrer regelmäßigen Erhebungsintervalle (bei den genannten: zwei Jahre) wichtige Instrumente der Dauerbeobachtung und der Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungen in den beteiligten Ländern, zu denen natürlich auch Deutschland gehört. Speziell in Deutschland werden mit der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) seit 1980 im Zweijahresrhythmus Daten zur Sozialstruktur und zu Einstellungen, Werten und Verhalten der Bevölkerung erhoben und aufbereitet. Bestimmte Fragekomplexe werden dabei regelmäßig repliziert und erlauben so die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen. Durch die Integration des International Social Survey Programme in den ALLBUS sind auch international vergleichende Analysen möglich. Die aufbereiteten ALLBUS-Datensätze stehen bei GESIS (https:// www.gesis.org/allbus/allbus/) zusammen mit ausführlichen Dokumentationen zum Download bereit. Dieses Angebot wird breit genutzt. In der aktuellen ALLBUS-Bibliographie (Stand März 2018) werden 2933 Veröffentlichungen, die auf ALLBUS-Daten basieren, darunter 834 Aufsätze in Fachzeitschriften und 341 Monographien, aufgelistet (Blohm et al. 2018, S. 5). Während es sich bei den gerade beschriebenen Datenerhebungsprogrammen um wiederholte Befragungen repräsentativer Bevölkerungsquerschnitte handelt, werden in Panelstudien dieselben Untersuchungseinheiten in bestimmten Zeitabständen mehrfach befragt. Paneldaten bieten gegenüber Querschnittdaten wesentliche Vorteile (Brüderl 2010, S. 964). Sie machen es möglich, die Dynamik sozialer und psychischer Prozesse in Form von Entwicklungen auf Individualebene zu verfolgen und dabei die zeitliche Abfolge von Entscheidungen und Ereignissen im Lebenslauf zu berücksichtigen, was eine zentrale Forderung an eine Kausalanalyse ist. Durch geeignete Verfahren der Panelanalyse (Brüderl 2010; ausführlich: Andreß et al. 2013) kann zudem in den Analysemodellen das Problem unbeobachteter Heterogenität abgemildert werden, weil unbeobachtete (d. h. nicht erhobene) personenspezifische Merkmale z. T. kontrolliert sind. Diese Vorteile sollten die Panelanalyse natürlich auch für die Evaluations- und Wirkungsforschung sowie die Grundlagenforschung in der Sozialen Arbeit und insbesondere auch der Forschung zur KJH besonders attraktiv machen.

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Mittlerweile gehören große Paneldatensätze zu verschiedenen Themen zur sozialwissenschaftlichen Forschungsdateninfrastruktur in Deutschland. Hier sollen nur drei davon exemplarisch erwähnt werden: Das Sozio-Ökonomische Panel (SOEP) erhebt seit 1984 subjektive und objektive Indikatoren der Lebensbedingungen von rund 30.000 Befragten in rund 15.000 Haushalten (Goebel et al. 2018). Es dient als eine wichtige Grundlage der Sozialberichterstattung und erlaubt kausale Mechanismen im Lebenslauf zu untersuchen. Die reiche Datenbasis, die das SOEP auch für Forschungsfragen im Bereich der KJH bietet, belegt der Beitrag von Pagel und Schupp (in diesem Band). Das Nationale Bildungspanel (NEPS) wurde als inter- und multidisziplinäres Vorhaben unter breiter Beteiligung unterschiedlicher Fachwissenschaftler/innen ins Leben gerufen, um eine verlässliche Datengrundlage für die Erforschung von Bildungsverläufen und deren Konsequenzen im Lebenslauf zu schaffen (Blossfeld et al. 2011). Von Maurice et al. (in diesem Band) zeigen, wie das NEPS für Fragen der KJH genutzt werden kann. Das Familien- und Beziehungspanel pairfam (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics) ermöglicht Analysen u. a. zu Fragen der Partnerschaftsentwicklung und -gestaltung, der Familiengründung und -erweiterung, Trennungsprozesse, des Erziehungsverhaltens, der kindlichen Entwicklung in familialen und sozialen Kontexten (Huinink et al. 2011, vgl. auch den Beitrag von Walper et al. in diesem Band). Seit 2014 bietet das GESIS Panel interessierten Wissenschaftlern die Möglichkeit, eigene Instrumente in ein Mixed-Mode Access Panel mit rund 4900 Teilnehmern in Deutschland zwischen 18 und 70 Jahren aufnehmen zu lassen und dadurch gezielt Daten mittels einer qualitativ kontrollierten Zufallsstichprobe für Fragestellungen im Quer- oder Längsschnitt zu erheben und zu untersuchen (https://www.gesis.org/gesis-panel/gesis-panel-home/). Deutlich wird bei derartig langfristig angelegten Datenerhebungsprogrammen, seien es Querschnitts- oder Paneldaten, dass hier die Grenzen zwischen Primärund Sekundärdatenanalyse verschwimmen oder sogar obsolet werden. Solche Programme werden als Teil der Forschungsdateninfrastruktur zur Nutzung für die Wissenschaft installiert und verstetigt, weil in den Fachwissenschaften ein Bedarf an entsprechenden Daten besteht. Dabei bringen unterschiedliche Fachwissenschaftler/innen und Forschungsinstitutionen ihre jeweilige Expertise und ihre spezifischen Fragestellungen aus unterschiedlichen, oft multidisziplinären Perspektiven ein. Der Wissenschaft werden dadurch thematisch breit aufgestellte Datensätze von hoher Qualität mit großen Stichproben zur Verfügung gestellt, mit denen sich eine Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven untersuchen lassen. Sinnvoll wäre es sicherlich, wenn sich auch die Soziale Arbeit als Fachwissenschaft stärker in solchen Prozessen engagieren und ihre spezifisch eigenen Bedarfe anmelden würde.

Sekundäranalyse quantitativer Daten

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4 Verwendung von Sekundärdaten Es muss nicht mehr eigens betont werden, dass es keinen Makel darstellt, nicht selber erhobenen Daten für die eigenen Analysen zu verwenden (Häder 2010, S. 131). Vielmehr gibt es gute Gründe, warum Sozialwissenschaftler zunehmend Daten für ihre Analysen nutzen, die sich nicht selber erhoben haben. Hierzu werden im Folgenden forschungsökonomische und wissenschaftstheoretische Argumente skizziert und die wichtigsten Voraussetzungen der Verwendung von Sekundärdaten angesprochen. Abschließend wird begründet, warum Sekundärdaten auch in der akademischen Lehre der Soziale Arbeit ihren Platz haben ­sollten.

4.1 Forschungsökonomie und belastbarere Ergebnisse Die Durchführung einer eigenen standardisierten Befragung mit einer hohen Stichproben- und Datenqualität erfordert einen großen zeitlichen, finanziellen und personellen Aufwand, auch wenn die Kosten natürlich u. a. mit dem Umfang des Fragebogens, der Grundgesamtheit, der angestrebten Stichprobe und dem Befragungsmodus variieren. Sie setzt – selbst wenn die eigentliche Erhebung an ein kommerzielles Forschungsinstitut ausgelagert wird – hoch qualifiziertes und in der Survey-Methodologie erfahrenes Personal voraus (zu den notwendigen Ressourcen ausführlicher: Schnell 2012, S. 24 f.). Es bietet sich daher an, für die Bearbeitung der eigenen Forschungsfrage zunächst auf die verfügbaren Datenbestände zurückzugreifen. Die Nutzung von Sekundärdaten bietet darüber hinaus den Vorteil, dass sie für Mitglieder von besonders vulnerablen Zielgruppen keine zusätzlichen Belastungen durch eine Befragung mit sich bringt und allgemein einer Befragungsmüdigkeit durch zu viele Befragungen vorbeugt (Häder 2010, S. 130–131; Smith 2008, S. 332). Die genannten Vorteile der Nutzung von Sekundärdaten gelten auch für die Soziale Arbeit, wie z. B. Sales et al. (2006) herausarbeiten. Als Vorteile der Nutzung großer, als Forschungsinfrastruktur bereitgestellter, i. d. R. staatlich finanzierter Surveys werden u. a. die kontrollierte und wohldokumentierte Datenqualität und eine Stichprobengröße, die es auch erlaubt, Forschungen zu kleineren, speziellen Subpopulationen mit einer hinreichenden Fallzahl durchzuführen, genannt. Spezielle Erhebungsdesigns und Datenstrukturen, wie z. B. Panel, Replikationen, international vergleichbare Datensätze, Ereignisdaten, ermöglichen Forschern der Sozialen Arbeit die eigenen komplexen Fragestellungen, etwa zur

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Genese bestimmter sozialer Probleme, mit einem anspruchsvollen Methodeninstrumentarium zu untersuchen (Sales et al. 2006, S. 543). Auf die Stichprobenqualität als fundamentale Voraussetzung aussagefähiger wissenschaftlicher Studien verweist einmal mehr die Forderung von Guo (2015, S. 378): „Social work researchers should make efforts to conduct more secondary analyses to address limitations embedded in nonprobability samples.“ Er stellt in einem Review der Beiträge der Jahrgänge 2012 und 2013 in fünf englischsprachigen Fachzeitschriften2 (Guo 2015, S. 377 ff.) fest, dass über 80 Prozent der 213 empirischen Beiträge quantitative Methoden nutzen. Dabei werde auch ein breites Methodenspektrum eingesetzt, aber bei der Mehrzahl der publizierten Beiträge sei die Stichprobenqualität kritisch zu sehen, weil es sich nicht um eine Zufallsauswahl aus einer klar definierten Grundgesamtheit handle. Eine Zufallsstichprobe ist aber eine notwendige Bedingung für den i. d. R. anstrebten Schluss von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit (Schnell et al. 1999, S. 284 ff.), also für das, was umgangssprachlich als „Repräsentativität“ bezeichnet wird. Entsprechend wenig aussagekräftig und generalisierbar sind die oft widersprüchlichen Ergebnisse dieser Studien (Guo und Hussey 2004). Wegen ihrer unklaren Datenbasis sind die Ergebnisse kaum mit anderen Studien replizierbar und taugen nicht als Anknüpfungspunkt für weitere Untersuchungen. Sie tragen daher nur wenig zu einer Vergrößerung eines belastbaren Wissenskorpus der Sozialen Arbeit als Wissenschaft bei. Daher sollten auch Forscherinnen und Forscher der Sozialen Arbeit überprüfen, inwieweit ihre Fragestellungen mittels einer Sekundäranalyse qualitativ hochwertiger Daten untersucht werden können, wenn die notwendigen Ressourcen für eine allen Kriterien genügende Datenerhebung nicht vorhanden sind. Die Ergebnisse wären in mehrfacher Hinsicht auf ihre Belastbarkeit überprüfbar und können dadurch zur Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit beitragen. Erstens können sie mit den Ergebnissen aus anderen (Zufalls-)Stichproben aus einer vergleichbaren Grundgesamtheit mit Blick auf ihre Replizierbarkeit mithilfe des gleichen methodischen Instrumentariums verglichen werden. Zweitens können die Ergebnisse in derselben Stichprobe, also im selben Datensatz, aber mit anderen statistischen Modellen, überprüft werden. Drittens können beide Vorgehensweisen kombiniert werden. Kommen solche Untersuchungen zu ähnlichen Ergebnissen, dann bestätigt dies die (immer noch: vorläufige) Gültigkeit

2Folgende

Zeitschriften wurden berücksichtigt: Social Work, Social Work Research, Research on Social Work Practice, Social Service Review, Journal of the Society for Social Work and Research.

Sekundäranalyse quantitativer Daten

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der Theorie. In weiteren, daran anknüpfenden Untersuchungen können dann z. B. die untersuchten Einflussfaktoren variiert werden oder es kann versucht werden, das Modell auf andere Grundgesamtheiten zu übertragen. Scheitern hingegen die Bemühungen um Replikation kann dies zum Anlass genommen werden, zunächst das verwendete Forschungsinstrumentarium und dann ggfs. auch die theoretischen Überlegungen in Frage zu stellen.

4.2 Voraussetzungen und Vorgehensweise bei einer Sekundäranalyse mit Surveydaten Voraussetzung einer sozialwissenschaftlichen Sekundärdatenanalyse ist eine klare Fragestellung in Bezug auf eindeutig definierte soziale Phänomene und Zusammenhänge, die auch die Grundgesamtheit, auf die sich die angestrebten Aussagen beziehen, enthalten sollte. Insofern unterscheidet sich der Ausgangspunkt nicht von einer Primärforschung. Die Schwierigkeit bei der Sekundärdatenanalyse besteht darin, Datensätze zu finden, mit denen sich die eigene Fragestellung beantworten lässt, während Primärforscher/innen mit Blick auf ihre Fragestellung die Fragebogenerstellung, die Stichprobenziehung aus der Grundgesamtheit sowie den Erhebungs- und Datenaufbereitungsprozess im Idealfall selber kontrollieren können und damit die Qualität der Daten selber in der Hand haben. Auch Sekundärforscher/innen müssen diese Aspekte bei der Suche nach Daten, die zur Untersuchung seiner Fragestellung geeignet sind, berücksichtigen. Sie werden nach Daten recherchieren, die das Forschungsthema inhaltlich abdecken, aber darüber hinaus drei Kriterien genügen müssen: Sie müssen sich (1.) auf die Grundgesamtheit beziehen, über die Aussagen gemacht werden sollen, (2.) inhaltlich passende Indikatoren für die Operationalisierung aller zu untersuchenden theoretischen Konzepte enthalten und sich (3.) von der Fragebogenkonstruktion über die Stichprobenziehung und die Durchführung der Befragung bis zur Datenaufbereitung an wissenschaftliche Standards, so wie sie in sozialwissenschaftlichen Lehrbüchern (z. B. Diekmann 2008; Porst 2014; Schnell 2012; Schnell et al. 1999) formuliert werden, halten. Zur Beurteilung, ob ein Datensatz alle drei Bedingungen erfüllt und somit für die Untersuchung der Forschungsfrage geeignet ist, ist das Vorliegen einer umfassenden Dokumentation erforderlich. Diese sollte nicht nur den Fragebogen beinhalten, sondern auch die Grundgesamtheit definieren, die Stichprobenziehung und den Erhebungsmodus beschreiben, eine Analyse der Ausfälle umfassen sowie auf Besonderheiten der Feldarbeit eingehen.

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Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, die einzeln oder kombiniert genutzt werden können, geeignete Forschungsdaten für eine spezifische Fragestellung zu finden. Schon im Zusammenhang mit der Forschungsfrage wird man sich einen Überblick über das Forschungsfeld, d. h. theoretische Ansätze, in dem Bereich forschende Wissenschaftler und ihre Projekte, deren empirischen Ergebnisse und die dabei verwendeten Instrumente und Indikatoren, verschafft haben. Die Publikationen der Forscher und die Webseiten der Projekte und Forschungseinrichtungen (und ggfs. deren FDZ) können erste Hinweise auf brauchbare Datensätze liefern. Für deutsche Datensätze bietet sich eine Recherche in den oben angesprochenen FDZ (für einen Überblick über die FDZ siehe https://www. ratswd.de/forschungsdaten/fdz) sowie bei GESIS (https://www.gesis.org/angebot/ recherchieren/) an, wie sie Watteler in diesem Band beschreibt. Über die Webseite von GESIS (sowie alternativ über die Webseite des RatSWD: https://www. ratswd.de/forschungsdaten/suche) lässt sich auch eine Suche über die Metadaten des Datenangebots der meisten akkreditierten FDZ starten. Ergänzend ist auf die ebenfalls bei GESIS, allerdings zurzeit (Januar 2019) erst in einer BETA-Version verfügbaren Datensuchmaschine gesisDataSearch (http://datasearch.gesis.org/ start) hinzuweisen, die es erlaubt, eine Recherche über deutsche und eine Vielzahl internationaler Datenrepositorien durchzuführen, und für den Datenzugang auf das jeweilige Archiv verlinkt. Eine europäische Alternative ist der Datenkatalog der CESSDA (Consortium of European Social Science Data Archives), der eine Suche über alle in diesem Dachverband zusammengeschlossenen Archive bietet (https://datacatalogue.cessda.eu/). Lohnenswert kann auch eine Recherche in der durch die EU vorangetriebenen und finanzierten europäischen Forschungsdatenbank B2FIND (http://b2find.eudat.eu) sein, mit der sich Forschungsdaten der verschiedensten Disziplinen, natürlich auch der Sozialwissenschaften, finden lassen. Hat man Datensätze gefunden, die thematisch zur Forschungsfrage passend erscheinen, dann muss überprüft werden, ob sie den drei oben genannten Kriterien entsprechen. Dabei dürfte das erste Kriterium, die Frage, ob sich die Daten auf die Grundgesamtheit und den Zeitpunkt beziehen, über die Aussagen gemacht werden sollen, am einfachsten zu überprüfen sein, weil die Grundgesamtheit i. d. R. schon in der Datenbeschreibung, die Datenkataloge und -suchmaschinen liefern, ausgewiesen ist. Wichtig ist auch der Stichprobenumfang: Lassen sich mit der Stichprobe die geplanten Analysen überhaupt durchführen? Bezieht sich der Datensatz auf eine umfassendere Population, die aber die angestrebte Bevölkerungsgruppe einschließt, lässt sich die Stichprobe möglicherweise darauf reduzieren, falls die verbleibende Teilstichprobe noch einen angemessenen Umfang für die beabsichtigten Analysen aufweist. Das zweite Kriterium, das Vorhandensein von Indikatoren für die zu untersuchenden Konzepte, kann h­ äufig

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bereits anhand des Fragebogens überprüft werden. Können im Datensatz enthaltene Variablen, also die Antworten auf darin enthaltene Fragen, als sinnvolle Indikatoren zur Messung der zu untersuchenden Konzepte interpretiert werden? Lassen sich gegebenenfalls aus den Variablen die benötigten Indizes und Skalen konstruieren? Wie die/der Primärforscher/in seinen Indikator durch eine operationale Definition seines Konzepts begründet („operationalisiert“), so gilt auch bei der Sekundärdatenanalyse, dass die Beziehung zwischen Indikator und Konzept nachvollziehbar begründet sein muss. In einem engen Zusammenhang mit den ersten beiden Kriterien steht das dritte: Ist die Befragung auf Basis der notwendigen wissenschaftlichen Standards durchgeführt worden? Wie ist die Datenqualität zu beurteilen? Die Antworten auf die Fragen, die sich daraus ergeben, müssen dem Feldbericht und der Dokumentation der Daten entnommen werden. Anhand der Beschreibung der Grundgesamt und der Stichprobenziehung lässt sich beurteilen, ob es sich um eine echte Zufallsauswahl handelt. Der Feldbericht sollte nicht nur die Ausschöpfungsquote berichten oder versuchen, anhand einiger, weniger demographischer Parameter eine Art „Repräsentativitätsbeweis“ anzutreten, sondern genauer über die Art der Stichprobenausfälle informieren, damit abgeschätzt werden kann, inwieweit Verzerrungen durch systematische Ausfälle zu erwarten sind. Insbesondere Ausfälle, die mit dem Thema der Befragung zusammenhängen, sind kritisch zu sehen. Der Feldbericht sollte auch umfassende Informationen über den Modus der Befragung und den Feldverlauf enthalten, um denkbare Einflüsse auf die Datenqualität beurteilen zu können. Darüber hinaus sind der Fragebogen und die Fragenformulierungen auf mögliche handwerkliche Fehler zu überprüfen. Insgesamt sollten die verfügbaren Informationen so umfassend wie möglich sein, um die Datenqualität ähnlich gut wie die Primärforscher beurteilen zu können.

4.3 Sekundärdaten in der akademischen Lehre In der Sozialen Arbeit ist seit den 1990er Jahren eine klare Entwicklung hin zu einer stärkeren Forschungsorientierung erkennbar. Das betrifft auch die akademische Ausbildung. Wie Jakob (2012, S. 1193) konstatiert, ist eine Integration von quantitativen (und qualitativen) Forschungsmethoden in die entsprechende Curricula der Sozialen Arbeit an den Fachhochschulen und Universitäten allerdings erst unzureichend umgesetzt. Dabei sei diese „… sowohl für die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Disziplin als auch für ihre Stärkung als Profession unabdingbar.“ (Jakob 2012, S. 1201) Im Vergleich zu Fächern mit einer langen Forschungstradition, wie der Psychologie oder der Soziologie (zum Umfang der

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Methodenausbildung in diesen beiden Fächer siehe: Eifler et al. 2011; AbeleBrehm et al. 2014), ist in den meisten Bachelor- und Masterstudiengängen der Sozialen Arbeit der Anteil, den die Forschungsmethoden und die Statistik einnehmen, eher gering. Während die Methoden- und Statistiklehrbücher, die sich explizit an Studierende der Soziologie oder der Psychologie wenden, ganze Regale zu füllen vermögen, ist das Angebot entsprechender Lehrbücher für Studierende der Sozialen Arbeit (z. B. Blanz 2015; Schaffer 2009) eher überschaubar. Zunehmend wird zur Entwicklung von Forschungskompetenzen in der S ­ ozialen Arbeit neben klassischen Lehrformaten (Vorlesungen, Seminare), die vor allem einführenden Charakter haben, auch auf Lehrforschungsprojekte, in denen die Studierenden unter Anleitung eigenständig kleine Projekte entwickeln und durch­ führen, gesetzt. In diesen Lehrveranstaltungen sollen die Studierenden den gesamten Forschungsprozess von der Entwicklung einer Forschungsfrage über die Wahl der angemessenen Methoden, der Entwicklung von Erhebungsinstrumenten, der Durchführung der Erhebung bis hin zu den Analysen und der Erstellung eines Forschungsberichtes praktisch erproben. Dabei sollen sie, neben dem Erwerb eigener forschungspraktischer Kompetenzen, lernen, die Prozesse der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse nachzuvollziehen und hinsichtlich ihrer Reichweite zu beurteilen (Jakob 2012). Solche Lehrforschungsprojekte sind meist auf 4 Semesterwochenstunden, die auf ein oder zwei Semester verteilt sind, angelegt. Erfahrungsgemäß muss dabei weit mehr als die Hälfte der Zeit darauf verwendet werden, eine eigene Befragung zu konzipieren und durchzuführen. Für Analysen, die über eine bloße Datendeskription in Form von Häufigkeitstabellen hinausgehen und zu inhaltlichen Ergebnissen im Sinne einer Überprüfung von Zusammenhangshypothesen führen, bleibt dann – je nach Vorkenntnissen im Bereich der Analysemethoden – nur noch wenig oder gar keine Zeit. Darüber hinaus sind die Stichproben derartiger Lehrforschungsprojekte häufig völlig unzureichend für aussagefähige Analysen, weil es sich dabei i. d. R. um keine echte Zufallsauswahl aus einer klar definierten Grundgesamtheit handelt. Häufig werden in der Praxis Stichproben genutzt, die über den eigenen Facebookaccount akquiriert werden, oder es werden mehr oder weniger willkürlich Teilnehmer aus dem persönlichen Umfeld angesprochen. Hypothesen können so nicht getestet werden, in irgendeiner Weise generalisierbare Aussagen sind nicht möglich. Auch sind die Erhebungen sehr oft mit zahlreichen weiteren methodischen Mängeln behaftet, die sich aus fehlenden zeitlichen, finanziellen und organisatorischen Ressourcen ergeben (Schnell 2012, S. 202–204). Die meistens kaum sinnvoll interpretierbaren Ergebnisse (die ja das eigentliche Ziel wissenschaftlicher Arbeit sind!) können so bei den Studierenden zu Frustrationen führen und infolgedessen gewiss nicht deren Forschungsinteresse fördern.

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Es bietet sich daher an, in Lehrforschungsprojekten auch auf Sekundärdaten, die im Rahmen der Forschungsdateninfrastruktur bereitgestellt werden, zurückzugreifen. Wie oben dargestellt, ist deren Datenqualität normalerweise hoch, so dass auch komplexere Fragestellungen angemessen untersucht werden können und die Analyse nicht nur bei einer reinen Datendeskription stehen bleiben muss. Die Ergebnisse können mit bereits vorliegenden Publikationen verglichen werden. Wie oben dargestellt, können die Daten inklusive der notwendigen umfangreichen Dokumentation im Vergleich zu einer eigenen Erhebung relativ schnell und einfach recherchiert und über die Webseiten der verschiedenen Forschungsdatenzentren bezogen werden. Bei der Recherche nach Daten zu ihrer spezifischen Fragestellung erlernen die Studierenden auch den kompetenten Umgang mit den vorhandenen Forschungsdateninfrastrukturen. Man mag einwenden, dass durch die Arbeit mit Sekundärdaten Fragen der Entwicklung von Instrumenten, der Stichprobenkonstruktion und der Datenerhebung, die allesamt ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses sind, systematisch ausgeblendet werden. Allerdings können die dazu notwendigen konzeptionellen Kompetenzen auch bei der kritischen Auswahl der zur Beantwortung der Forschungsfrage geeigneten Daten entwickelt werden. Die Dokumentation der Stichprobe, des Erhebungsprozesses und des Fragebogens kann als Grundlage genutzt werden, methodologische Themen wie Stichprobenziehung, Fragebogenkonstruktion und Frageformulierungen sowie Skalenkonstruktion zu thematisieren. Dabei liegt es an den Lehrenden, das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit, theoretischen Konzepten und Indikatoren mit Bezug auf die jeweiligen Forschungsfragen anhand der Daten zu erläutern und zu diskutieren (Sobal 1981, S. 151–154).

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Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe mittels der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen Das besondere Potenzial einer bislang wenig beachteten Forschungsstrategie Maik-Carsten Begemann 1 Einleitung In diesem Textbeitrag wird das Potenzial der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen zur und für die Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt. Dazu wird zunächst die Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen vor dem Hintergrund bisheriger Konzeptionen von Triangulationen beschrieben. Anschließend werden deren Möglichkeiten von Primärerhebungen und Sekundär­ analysen genuin in der Kinder- und Jugendhilfe diskutiert. Dazu wird das Potenzial anhand eines spezifischen, bereits realisierten Typus einer Triangulation exemplarisch verdeutlicht, bevor zusätzliche Anwendungsfelder aufgezeigt werden und der Blick für weitere Typen von Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen sensibilisiert wird. Zudem wird begründet, warum Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen in der Kinder- und Jugendhilfe zukünftig eine gewichtigere Rolle spielen werden. Abschließend werden diverse Empfehlungen zur zukünftigen Umsetzung gegeben.

Dr. Maik-Carsten Begemann, aktuell Lehrbeauftragter an der Hochschule Düsseldorf. M.-C. Begemann (*)  Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_5

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2 Triangulation in der Empirischen Sozialforschung Unter Triangulation wird hier – angelehnt an geometrische Methoden innerhalb der Landvermessung zur exakten Lokalisierung von Objekten auf der Erdoberfläche, indem diese aus verschiedenen Referenzpunkten fixiert werden, – eine Herangehensweise benannt, wonach sich einem Forschungsgegenstand von (mindestens) zwei Punkten aus genähert wird. Meist wird dabei Triangulation mit einer Triangulation von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden gleichgesetzt.

2.1 Methoden-, Theorie-, Forscher- sowie Datentriangulation Diese ist jedoch nur eine von mehreren möglichen Varianten von Triangulation. So unterscheidet Denzin (1970) zwischen Methoden-, Theorie-, Forscher- sowie Datentriangulation (vgl. auch Flick 2011): Während bei der Methodentriangulation verschiedene Methoden zur Untersuchung eines Forschungsgegenstandes eingesetzt werden, werden bei der Theorietriangulation verschiedene Theorien auf dasselbe zu untersuchende Phänomen angewandt. Bei der Forschertriangulation wiederum werden mehrere Beobachter bzw. Interviewer eingesetzt, wohingegen bei der Datentriangulation (in Abgrenzung zur Methodentriangulation, aber erneut zur Erfassung ein und desselben Forschungsgegenstandes) unterschiedliche Daten einbezogen werden. Triangulationen bieten eine Reihe von Vorteilen, wobei an dieser Stelle zwischen eher allgemeinen Vorteilen von Triangulationen sowie eher spezifischen Vorteilen einzelner Varianten von Triangulationen zu unterscheiden ist: • Die eher allgemeinen Vorteile bewegen sich dabei bereits seit der ursprünglichen Konzeption von Denzin zwischen der Steigerung der Reliabilität von Vorgehensweisen und der Fundierung der Theoriebildung sowie – beeinflusst durch die Diskussion über nicht-reaktive Messverfahren Ende der 1960er Jahre (vgl. Webb et al. 1966, S. 35) – der Validierung von Ergebnissen (vgl. Flick 2011, S. 16 f.). Im Zuge lauter werdender Kritik insbesondere am letztgenannten Aspekt ist ein weiterer Vorteil hinzugetreten, wonach Triangulationen helfen, ein vollständigeres Bild eines Forschungsgegenstandes zu erhalten, da sie Forschungsergebnissen mehr Tiefe und Weite verleihen (Flick 1992; Fielding und Fielding 1986).

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• Die eher spezifischen Vorteile werden zwar im Wesentlichen durch die all­ gemeinen Vorteile gerahmt, beschreiben aber differenzierter als diese die Vorteile der einzelnen Varianten von Triangulationen. So sind die Vorteile bspw. der Methodentriangulation in der Möglichkeit zu sehen, Messergebnisse – so auch exempl. Diekmann (2008) mit Verweis auf die in diesem Kontext immer wieder erwähnte, sogenannte Marienthal-Studie (Jahoda et al. 1975) – zu validieren, wohingegen die Vorteile der Theorietriangulation etwa mit Denzin (1970, S. 306 f.) darin liegen, a) generalisiert-theoretische Untersuchungen zu erreichen, b) den Fortschritt in Theorie und Forschung voranzutreiben und c) zu verhindern, dass Forscher an ihren Vorannahmen festhaltend alternative Erklärungen ignorieren, aber auch darin, einen Forschungsgegenstand, der nicht durch eine Theorie alleine erklärt werden kann, umfassender begreifen zu können. In Anbetracht der vergleichsweise ausdifferenzierten, aber an dieser Stelle nur knapp skizzierten Konzeption von Triangulation in der empirischen Sozial­ forschung mitsamt ihrer zahlreichen allgemeinen, aber gerade auch spezifischen Vorteilen ist es mehr als erstaunlich, dass eine weitere Triangulationsvariante bislang noch nicht – zumindest nicht, gemessen an ihrem Potenzial, adäquat – Einzug in die Forschung(-sdiskussion) gehalten hat: nämlich die von Primär­ erhebungen und Sekundäranalysen.1

2.2 Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen In bewusster Gegenüberstellung zur Sekundäranalyse wird an dieser Stelle eine vergleichsweise unspektakuläre Definition für Primärerhebungen genutzt. Dabei werden die zur wissenschaftlichen Untersuchung spezifischer Fragestellungen benötigten Daten eigens erhoben. Gerade auch hinsichtlich der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen müssen dabei mindestens vier Aspekte

1Ganz

im Gegenteil, scheinen sich die bisherigen im Mittelpunkt stehenden Methoden-, Theorie-, Forscher- und Datentriangulationen ausschließlich auf Primärerhebungen zu beziehen. Von daher könnten diese – ebenso wie Triangulationen, die ausschließlich im Zuge von Sekundäranalysen stattfinden, – in diesem Kontext als „intraspezifische Triangulationen“ bezeichnet werden, wohingegen Triangulationen zwischen Primärerhebungen und Sekundäranalysen als „interspezifische Triangulationen“ gelten würden.

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berücksichtigt werden: Erstens kommen zur Erhebung der Daten typische Erhebungsmethoden der empirischen Sozialforschung zum Einsatz. Dies sind ­ neben der Befragung die Beobachtung sowie die Inhaltsanalyse (Schnell et al. 2005; Bortz und Döring 2009). Zweitens besitzen diese Erhebungsmethoden je eigene Vor- und Nachteile und eignen sich von daher für bestimmte Forschungsgegenstände: Während die Beobachtung zur systematischen Verfolgung sozialer Interaktion (Häder 2010) und die Inhaltsanalyse zur (quantifizierenden) Analyse aller Arten von Texten eingesetzt werden (Mayring 2003), dient die Befragung vor allem zur Gewinnung von Informationen über Einstellungen, Meinungen und Wissen (Atteslander 2008). Drittens existieren von jeder dieser E ­ rhebungsformen weitere, untergeordnete Arten – so bei der Inhaltsanalyse bspw. die Frequenz­ analyse, die Kontingenzanalyse und die Bewertungsanalyse (Diekmann 2004). Viertens weisen auch die (untergeordneten) Erhebungsarten je eigene Vor- und Nachteile auf: so zeigt sich bspw. die heimliche Beobachtung – im Gegensatz etwa zur teilnehmenden, aber auch zur offenen Beobachtung – durch NichtReaktivität aus, was in vielen Forschungskontexten vorteilhaft ist. Demgegenüber werden in Sekundäranalysen – und zwar ebenfalls zur wissenschaftlichen Untersuchung spezifischer Fragestellungen – die benötigten Daten nicht eigens erhoben, sondern bereits vorliegende Daten ausgewertet. Dabei existieren auch hier verschiedene Formen von Sekundäranalysen; so ist z. B. zu unterscheiden zwischen Sekundäranalysen, die auf der Grundlage anderer sozial­ wissenschaftlicher Projekte arbeiten, und solchen, die demografisch-statistisches Material auswerten (Friedrichs 1990, S. 353) sowie zwischen quantitativer (Mochmann 2014) und qualitativer Sekundäranalyse (Medjedović 2014). Wichtig ist in diesem Kontext, dass mit verschiedenen Formen von Sekundäranalysen verschiedene Nutzenaspekte einhergehen. So dienen bspw. die von Heaton (2008) benannten Formen der „supra analysis“ (welche die Auswertung vorhandener Daten unter einer neuen Forschungsperspektive beschreibt), der „supplementary analysis“ (die vertiefende Analyse vorhandener, aber nicht oder nicht erschöpfend ausgewerteter Daten) sowie der „re-analysis“ (die erneute Analyse der Daten unter der gleichen Fragestellung) jeweils zur Entdeckung neuer theoretischer, empirischer oder methodologischer Fragestellungen, zur Ausweitung der ursprünglichen Untersuchung sowie zur Validierung der Resultate der ursprünglichen Analyse (vgl. Medjedović in diesem Band). Gleichzeitig wird hier, aber auch in vielen anderen Beschreibungen von Sekundäranalysen – so etwa in jener, wonach Sekundäranalysen die Kontrolle von Primärerhebungen

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ermöglichen (Häder 2010) – deutlich, dass der Nutzen von Sekundäranalysen oft an ihrem Mehrwert für und gegenüber Primärerhebungen bemessen wird. Diese Reduzierung des Nutzens von Sekundäranalysen alleine auf ihren Mehrwert nicht teilend, muss dennoch konstatiert werden, dass Sekundäranalysen selbstverständlich auch spezifische Probleme mit sich bringen. Von den diversen, immer wieder angeführten Nachteilen liegt dabei gerade mit Fokussierung auf die vorangestellte Definition von Sekundäranalysen die wesentliche Schwierigkeit von Sekundäranalysen sicherlich in der Tatsache, dass dazu die „richtigen“ Daten bereits vorliegen müssen. Damit ist jedoch nicht nur die reine Existenz der benötigten Daten angesprochen, sondern gerade auch deren Qualität: so müssen die Daten das eigene Forschungsziel abdecken (Häder 2010) bzw. für die Fragestellung adäquat sein (Schnell et al. 2005, S. 248 ff.). Dem stehen aber mindestens genauso viele Vorteile gegenüber, welche in einschlägigen Positionspapieren zur Archivierung von Forschungsdaten (z. B. RatSWD 2018), aber auch in diversen Fach- und Methodenbüchern immer ­wieder und zahlreich angeführt werden. Zur besseren Übersicht macht es Sinn, diese – eine Einteilung von Hyman (1972) erweiternd – zu folgenden, sicherlich nicht ganz trennscharfen Gruppen (mit je typischen Beispielen) zusammenzufassen: • forschungsökonomische und -praktische Vorteile: Möglichkeit wissenschaft­ lichen Arbeitens ohne eigene Datenerhebung; geringerer zeitlicher, finanzieller und personeller Aufwand; stärkeres Fokussieren eigener Gedanken auf die ­theoretischen Ziele (Hyman 1972), • forschungsmethodisch-methodologische Vorteile: Sekundäranalysen kons­ tituieren als nicht-reaktive Verfahren der empirischen Sozialforschung ihren Forschungsgegenstand nicht mit; zudem macht der offene Zugang zu Daten den Forschungsprozess intersubjektiv nachvollziehbar (Akademie für Sozio­ logie 2019), • ethische und soziale Vorteile: geringere Zumutungen an das Forschungsfeld insbesondere bei sensiblen Forschungsthemen und/oder vulnerablen Popu­ lationen – gerade vor dem Hintergrund einer allseits zu beobachtenden Teilnahmeverweigerung an Befragungen sowie • Wissenschaftstheoretische Vorteile: Überprüfbarkeit und Replizierbarkeit von Ergebnissen, Generierung neuer Erkenntnisse und Theorien insbesondere über die Vergangenheit oder den sozialer Wandel (Hyman 1972), aber auch Korrektur bisheriger Forschung und Stimulation wissenschaftliches Weiterdenkens (Akademie für Soziologie 2019).

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Dieses enorme Potenzial von Sekundäranalysen wahrnehmend, ist (gerade auch vor dem Hintergrund einer weiteren Grundvorstellung von Triangulationen, wonach der Einsatz unterschiedlicher empirischer Methoden im Idealfall zur gegenseitigen Neutralisation ihrer jeweils eigenen Schwächen führt) zu fragen, ob nicht Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen gerade auch für Untersuchungen in der und zur Kinder- und Jugendhilfe viel­ versprechend sind. Denn Primärerhebungen besitzen zwar zahlreiche Vorteile, indem bspw. grundsätzlich alle – wenngleich auch nur innerhalb gegebener Rahmenbedingungen und in Abhängigkeit verfügbarer Ressourcen – mit der Datenerhebung zusammenhängende Aspekte selbst gesteuert werden können. Gleichzeitig weisen sie jedoch auch zahlreiche Schwächen auf. Dabei fallen neben eher allgemeinen Nachteilen – so bspw. der vergleichsweise große zeit­ liche, finanzielle usw. Aufwand, welcher für eine eigene Datenerhebung vonnöten ist, oder die voraussetzungsvolle Bedingung eines hoch qualifizierten Personals selbst im Falle einer Auslagerung der Erhebung an ein externes Institut, – gerade eher spezifische Nachteile ins Gewicht, wie sie genuin bei Erhebungen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe auftreten. Damit sind weniger, aber eben auch, Vorbehalte aus dem Feld selbst angesprochen, sich etwa einem empirisch fundierten „Wirkungsnachweis“ zu entziehen und so diesbezügliche Erhebungen zu erschweren. Damit sind aber insbesondere diverse, für das Arbeitsfeld konstitutive und immer wieder beschriebene Merkmale angesprochen (aktuell und umfassend etwa bei Böllert 2018), welche bereits einzeln, aber gerade auch in ihrer Gesamtheit die Durchführung von Erhebungen wenn nicht verhindern, so aber doch deutlich beeinträchtigen: so z. B. das Setting, die Ziele der Unterstützung, die Arbeitsbeziehungen zwischen den jungen Menschen und dem Personal der Kinder- und Jugendhilfe sowie deren Handlungsprinzipien und Methoden, um auch nur die wesentlichen Faktoren zu nennen (Begemann 2016).

3 Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen – Das besondere Potenzial in der Kinder- und Jugendhilfe Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden das Potenzial eines bestimmten ­spezifischen Typus der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundärana­ lysen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe anhand eines empirischen Projektes verdeutlicht.

Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe …

87

3.1 Projekt zur Prognose des Jugendamtsbezirksspezifischen Fachkräftebedarfs für Kindertagesbetreuung in Einrichtungen in Hessen Ziel des an dieser Stelle als Beispiel herangezogenen Projektes war es, auf Basis eines theoretischen Prognosemodells und mittels empirisch fundierter Daten die Fachkräfteentwicklung innerhalb aller hessischer Jugendamtsbezirke a­usgehend vom März 2010 sowohl für einen konstanten als auch für einen steigenden Betreuungsbedarf für unter dreijährige Kinder zu vier sogenannten Kindertageseinrichtungsjahren bis zum Jahr 2020 zu berechnen. Dabei sah das Prognosemodell vor, dass die Fachkräfteentwicklung aus der Gegenüberstellung bzw. Bilanzierung von „Fachkräftebedarf“ einerseits und „Fachkräftedeckung“ andererseits bestimmt wird. Der Fachkräftebedarf wurde aus dem Personalbedarf aufgrund des U3-Ausbaus, dem Ersatzbedarf für vor­ zeitiges sowie altersbedingtes Ausscheiden und dem aufgrund der Entwicklung in angrenzenden Arbeitsfeldern entstehenden Personalbedarf abgeleitet. Die Fachkräftedeckung wurde durch die Ausbildungskapazitäten der Erzieher/-innenausbildung und Bachelor-Abschlüsse in der Kindheitspädagogik bestimmt. Um mittels dieses Prognosemodells die Fachkräfteentwicklung empirisch berechnen zu können, mussten für jeden dieser Faktoren verschiedene (und zwar zu den vier Kindertageseinrichtungsjahren und für jeden hessischen Jugendamtsbezirk) Daten vorliegen (also bspw. für das altersbedingte Ausscheiden Daten dazu, wie viele Fachkräfte das Arbeitsfeld rentenbedingt verlassen werden). Die für das Berechnungsmodell notwendigen Daten wurden durch verschiedene Sekundäranalysen und Primärerhebungen generiert. Bei den Sekundäranalysen handelte es sich um Sekundäranalysen von Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik, von fachschulbezogenen Daten des Hes­ sischen Statistischen Landesamtes sowie von Daten der 12. Koordinierten ­Bevölkerungsvorausberechnung: • Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik: Ein Großteil der Daten des Berechnungsmodells bildeten sekundäranalytische Auswertungen der Einzeldaten der Kinder- und Jugendhilfestatistik. Dabei handelte es sich bspw. um Daten zu den in den Einrichtungen tätigen Personen sowie zur Betreuungs­ situation von Kindern bis zum Schuleintritt. • Fachschulbezogene Daten des Hessischen Statistischen Landesamtes: Konkret sind in das Berechnungsmodell eingegangen: Angaben über die

88

M.-C. Begemann

Anzahl der Anfänger/-innen der Schuljahre 2007/2008, 2008/2009, 2009/2010 sowie 2010/2011, aber auch Angaben über die Anzahl der Absolventen/-innen der Schuljahre mit Abschluss jeweils zum Juli 2008, 2009 sowie 2010. • Daten der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Hessischen Statistischen Landesamtes: Konkret wurden die Daten der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Hessischen Statistischen Landesamtes zur Abschätzung der Kinderzahlen zu den KiTa-Jahren 2013/2014, 2015/2016, 2017/2018 sowie 2020/2021 verwendet. Bei den Primärerhebungen handelte es sich um eine Jugendamtsbefragung, eine Fachschulbefragung sowie Telefoninterviews mit Leitungen von Bachelor- und Master-Studiengängen der frühkindlichen Pädagogik: • Die Jugendamtsbefragung: Im Rahmen der Jugendamtsbefragung wurden alle 33 hessischen Jugendämter bspw. um die Ausbaupläne hinsichtlich des Rechtsanspruchs in 2013/2014, die konkreten Planungen neuer Gruppen für das KiTa-Jahr 2011/2012 und die Ausweitung der Ganztagsplätze für Kindergartenkinder befragt. • Die Fachschulbefragung: Zudem wurden alle 33 für das Projekt ein­ schlägigen Fachschulen für Sozialpädagogik z. B. zu den Anfängern/-innen in 2011/2012, den Absolventen/-innen bis Juli 2011, der möglichen Ausweitung von Ausbildungskapazitäten in 2012/2013, der Einmündungsquote in das Arbeitsfeld, der jugendamtsbezirksspezifischen regionalen Verteilungsquote der Absolventen/-innen sowie der jugendamtsbezirksspezifischen regionalen Rekrutierungsquote der Anfänger/-innen befragt. • Telefoninterviews mit Leitungen von Bachelor- und Master-Studien­ gängen der frühkindlichen Pädagogik: Schließlich sind vier ausführliche telefonische Interviews mit Schulleitungen von Bachelor- und MasterStudiengänge der frühkindlichen Pädagogik zu Fragen z. B. danach, wie viele Absolventen/-innen für gewöhnlich nach Studienabschluss in hessischen Kindertageseinrichtungen arbeiten, und ob es Ausweitungen von Studien­ plätzen geben wird, durchgeführt worden. Bei der Umsetzung des Projektes waren verschiedene Hürden zu überwinden. Noch relativ unabhängig von der durchzuführenden Triangulation von Primär­ erhebungen und Sekundäranalysen musste zunächst neben der grundsätzlichen Entscheidung, ob ein derartiges Prognosemodell in diesem Bereich

Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe …

89

überhaupt sinnvoll ist,2 geklärt werden, wie das Berechnungsmodell aufgebaut sein muss. Zwar lagen schon zum damaligen Zeitpunkt bereits ähnliche Prognosemodelle vor, allerdings bezogen diese sich auf Bundes- und allenfalls Landesebene, sodass nunmehr mit jugendamtsbezirksspezifischem Zuschnitt entschieden ­werden musste, welche Faktoren darin mit welcher Funktion eingehen, und welche ­Faktoren mit welcher Begründung unberücksichtigt bleiben sollten. Ebenso frühzeitig musste geklärt werden, ob die zu Berechnung benötigten Daten durch Primärerhebungen oder Sekundäranalysen gewonnen werden sollten. Dabei wurden zunächst die Daten, die bereits in ausreichender Quantität und gerade auch Qualität für das Berechnungsmodell vorlagen und auch prinzipiell mit vertretbaren Aufwand zugänglich waren, im Zuge der Sekundäranalysen ermittelt, wohingegen Daten, die demgegenüber (so) nicht verfügbar waren, zusätzlich durch Primärerhebungen generiert wurden. So wurden bspw. die notwendigen Informationen zum damaligen Istzustand – u. a. die aktuellen Betreuungsquoten oder die bisherigen Ausbildungskapazitäten – durch die Sekundäranalysen der Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik oder der fachschulbezogenen Daten des Hessischen Statistischen Landesamtes ermittelt. Dagegen mussten Informationen zu weiteren Entwicklungen – wie bspw. die Ausbaupläne der Jugendämter oder die Ausweitungen der Ausbildungskapazitäten – durch die Jugendamtsbefragung oder durch die Fachschulbefragung bzw. die Telefoninterviews mit den Studiengangsleitungen ermittelt werden. Informationen schließlich, die zur Prognose der Berechnungen bis zum Kindertageseinrichtungsjahr 2020 benötigt wurden, sind durch die Sekundäranalyse der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ermittelt worden. Bei der Umsetzung der Triangulation musste auf organisatorischer Ebene der Zugang zu den verschiedenen Datenquellen geschaffen sowie gesichert werden (bspw. zur Sekundäranalyse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsdatenzentrum des Statistischen Landesamtes NRW, teilweise mit

2Wenn

auch nicht als Indikator für die Sinnhaftigkeit des vorliegenden Prognosemodells, so ist dennoch zu konstatieren, dass (auch noch) nach Abschluss des Projektes, wenngleich mit etwas anderer Zielsetzung, so aber dennoch mit einem jeweils ähnlichen Prognosemodell arbeitend, weitere derartige Studien durchgeführt wurden – so bspw. zu den Themen „Der U3-Ausbau und seine personellen Folgen“ (Schilling 2012), „Fachkräftebedarf in der Kinder- und Jugendhilfe bis zum Jahr 2025“ (Schilling 2011), „Perspektiven der einschlägigen Hochschulstudiengänge für die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg“ (Schilling und Kopp 2012) sowie „Fachkräftebedarf und Fachkräftedeckung in der Kindertagesbetreuung 2014 bis 2025“ (Schilling 2014).

90

M.-C. Begemann

Rückgriff auf die Möglichkeit der Datenfernverarbeitung). Zudem musste die Zusammenarbeit mit diversen Akteuren koordiniert werden – und zwar sowohl bei den Sekundäranalysen (z. B. mit dem Hessischen Kultusministerium zum Zwecke der Bereitstellung der fachschulbezogenen Daten des Hessischen Statistischen Landesamtes) als auch bei den Primärerhebungen (bspw. mit dem Hessischen Landkreistag und dem Hessischem Städtetag zur Unterstützung der Jugendamtsbefragung). Auf operativer Ebene war der aus der Triangulation von quantitativen und qualitativen Methoden bekannte Effekt der Verdoppelung des Zumutungscharakters von Forschung (Flick 2011, S. 98) spürbar. Gleichzeitig setzte auch hier – auch diese Anforderung ist aus der Triangulation von quantitativen und qualitativen Methoden bekannt (Kelle 2001) – die Anwendung verschiedener Methoden entsprechende Kompetenzen voraus. Dies galt umso mehr, als dass nicht nur je drei Primärerhebungen und Sekundäranalysen umgesetzt worden sind, sondern dass mit bspw. postalischer sowie telefonischer Befragungen verschiedene Erhebungsarten genutzt worden sind: Diese Herangehensweise bedurfte von vornherein entsprechender Maßnahmen zur Vermeidung spezifischer Schwierigkeiten (bspw. geringe Rücklaufquote). Um schließlich mit den aus verschiedenen Quellen stammenden Daten ­innerhalb des Berechnungsmodells rechnen zu können, mussten diese harmonisiert und zusammengeführt werden – und zwar in mehrfacher Hinsicht: so mussten die Daten für bestimmte Rechenschritte jugendamtsbezirks-, jahr­ gangs- bzw. kindergartenjahrspezifisch und in Vollzeitäquivalenten vorliegen. Da diese Voraussetzung nicht immer bei allen Datenquellen sowohl innerhalb der ­Sekundäranalysen als auch innerhalb der Primärerhebungen gegeben war, mussten zusätzlich entsprechende (Neu-)Berechnungen vorgenommen werden.3 Nach Abschluss der Triangulationen konnte für jeden der insgesamt 33 hessischen Jugendamtsbezirke ausgehend vom März 2010 sowohl für einen konstanten als für einen steigenden institutionellen Betreuungsbedarf für unter dreijährige Kinder zu vier sogenannten Kindertageseinrichtungsjahren bis zum Jahr 2020 der Fachkräftebedarf einerseits und die Fachkräftedeckung durch die Ausbildungs­ kapazitäten anderseits sowie eine entsprechende Bilanzierung bestimmt werden. So konnte bspw. für den hier dargestellten ausgewählten Landkreis (Tab. 1) bis zum Kindertageseinrichtungsjahr 2020/2021 bei der kontanten Variante ein

3Zu

den angewandten Verfahren, aber auch zur genaueren Beschreibung der Durchführung von Primärerhebungen und Sekundäranalysen sowie zum Aufbau des Berechnungsmodells s. Begemann und Schilling (2011a, b).

Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe …

91

Tab. 1   Fachkräfteentwicklung bis 2020/2021 für einen beispielhaften Landkreis Beispielhafter Landkreis

Veränderung von 2009/2010 bis … 2013/2014

2015/2016

2017/2018

2020/2021

Variante konstant oder

91

91

93

95

Variante steigend Ersatzbedarf

91

122

155

204

Vorzeitiges Verlassen

52

82

112

157

Altersbedingtes Verlassen

34

84

142

265

−41

−60

−62

−61

Ganztag KiGa

/

/

/

/

Integration ab 3 Jahren Bedarfe insgesamt

/

/

/

/

Variante konstant oder

145

212

306

486

Variante steigend Personaldeckung

145

243

368

595

206

373

624

−67

−138

Personalbedarf U3-Ausbau

Bedarf angrenzende Arbeitsfelder KiGa Hort/GTS

9

Ausbildungskapazitäten 71 Bilanz (+: Fehlbedarf, -: Überschuss)

15

Variante konstant oder

74

6

Variante steigend

74

37

Angaben in Personen; eigene Darstellung

21

−5

30

−29

­ berschuss an 138 Fachkräften und bei der steigenden Varianten ein Überschuss Ü von immerhin noch 29 Fachkräften ermittelt werden – und zwar berechnet aus 486 benötigten Fachkräften bei der konstanten Variante bzw. 595 benötigten Fachkräften bei der steigenden Variante jeweils in Gegenüberstellung zu 624 Fachkräften, die dem Arbeitsfeld dann zur Verfügung stehen werden. Dieser für einen Landkreis nicht ungewöhnlicher Befund eines Überschusses an Fachkräften ist vor allem auch deshalb interessant, da für das Kindertageseinrichtungsjahr 2013/2014 (also zur Einführung des Rechtsanspruches auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr) noch ein Fehlbedarf von 74 Fachkräften und selbst für das Kindertageseinrichtungsjahr 2015/2016 noch ein

92

M.-C. Begemann

Fehlbedarf von 6 Fachkräften bei konstant bleibenden U3-Betreuungsbedarf bzw. von 37 Fachkräften bei steigendem U3-Betreuungsbedarf berechnet wurde. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig: Erstens ergibt sich durch die Berechnungen ein Nutzen in mehrfacher Hinsicht. Im Wesentlichen ist dies ein Nutzen in a) steuerungspolitischer Hinsicht (indem die hessischen Kommunen ihre entsprechende Kinder- und Jugendhilfeplanung an dieser Prognose ausrichten können), in b) forschungspraktischer Hinsicht (indem sich zeigt, dass derartige empirisch fundierte Prognosen nunmehr auch jugendamtsbezirksspezifisch möglich sind) sowie in c) wissenschaftlicher Hinsicht, indem nicht nur ein weiterer Nachweis dafür geliefert wird, dass der Betreuungsbedarf kleinräumig differiert (Begemann 2012 sowie Begemann und Kaufhold 2012), sondern ­gleichzeitig auch ein – zumindest für dieses Arbeitsfeld – erstes empirisch gesichertes Indiz dafür, dass sogar das Betreuungsangebot kleinräumig variiert. Zweitens sind derartige Berechnungen und vor allem so generierte Befunde weder durch Primärerhebungen noch durch Sekundäranalysen einzeln möglich, sondern erst durch (gemeinsame) Triangulation – und zwar durch einen bestimmten Typus von Triangulation. Dieser Typ sieht als Ziel weniger die Steigerung der Reliabilität, die Fundierung der Theoriebildung oder die Validierung der Ergebnisse vor, sondern vielmehr die umfängliche und zugleich detaillierte Erschließung eines abgegrenzten Forschungsgegenstandes. Um dieses Ziel zu erreichen, kommt den Sekundäranalysen dabei bewusst eine im wahrsten Sinne des Wortes vorrangige Rolle zu, indem zuerst geschaut wird, ob bestimmte für das Berechnungsmodell benötigte Informationen bereits durch adäquate vorliegende Daten im Zuge von Sekundäranalysen abgebildet werden können. Demgegenüber besitzen die Primärerhebungen eher einen ergänzenden, aber nichtsdestotrotz für das Gesamtprojekt gleichwertigen Charakter, indem sie zur Ermittlung von bislang nicht vorliegenden, aber dringend benötigten Daten eingesetzt werden.

3.2 Typische Anwendungsfelder, mögliche Ausweitungen und zukünftiger Bedarf Dabei scheint dieser Typus der Triangulation von Primärerhebungen und Sekundäranalyen eine ideale Herangehensweise für empirisch fundierte Prognosen zur Fachkräfteentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe zu sein: So wurden bspw. zur Untersuchung des Personalbedarfs in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege in Rheinland-Pfalz verschiedene Sekundäranalysen von Beschäftigungsdaten der Bundesagentur für Arbeit, von Rentenversicherungsdaten pädagogischer Fachkräfte sowie von Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und

Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe …

93

Berufsforschung flankiert von Primärerhebungen in Form von Trägerbefragungen und Schulleitungen durchgeführt (Sell und Kersting 2010). Zudem wurden zur Bestimmung der Perspektiven der einschlägigen Hochschulstudiengänge für die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg Sekundäranalysen von Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie der Renten- und Beschäftigungsstatistik, ergänzt um Primärerhebungen zu einschlägigen Bachelor- und Masterstudiengängen, durchgeführt (Schilling und Kopp 2012). Insgesamt ist der geschilderte Typus der Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen insbesondere für solche wissenschaftlichen Unternehmungen ertragreich, in denen a) zur umfänglichen und zugleich detaillierten Erschließung eines klar abgegrenzten Gegenstades b) ein bestimmtes quantitatives, aber auch qualitatives Ausmaß an Daten benötigt wird, wobei c) der wesentliche Teil dieser Daten bereits vorliegt und auch für Sekundäranalysen verfügbar ist, wohingegen d) der fehlende Teil durch Primärerhebungen zu erheben ist, und e) bereits vorliegende sowie noch zu erhebende Daten unter Einhaltung methodischer Standards miteinander verknüpft werden können. Beispiele für derartige – und auch schon in unterschiedlichem Ausmaß realisierte – Unternehmungen sind: • Evaluationen zur Passung von Angebotsstrukturen und Bedarfen. So wurde im Fünften KiföG-Zwischenbericht zur Bestimmung des Ausbaustandes für ein bedarfsgerechtes Angebot eine Triangulation von Sekundäranalysen der Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie der beiden vom Deutschen Jugendinstitut durchgeführten Erhebungen „DJI-Länderstudie“ und „AID:A II- Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ einerseits und von (ergänzenden) Primärerhebungen in Form einer Jugendamtsbefragung, einer Kindertageseinrichtungsbefragung sowie einer Befragung von Tagespflegepersonen andererseits durchgeführt (BMFSFJ 2015). • Sozialberichterstattungen etwa im Sinne von Zapf (exempl. 1998, S. 14). So werden in diversen Kinder- und Jugendberichten – zuletzt im inzwischen 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017) – u. a. zur Beschreibung von Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie von Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedliche methodische Zugänge gewählt, wobei überwiegend auch Sekundäranalysen etwa amtlicher Daten sowie Primärerhebungen in Form von Befragungen durchgeführt werden (BMFSFJ 2002, S. 97). • Wirkungsforschungen zu den Ergebnissen bzw. Resultaten der Kinder- und Jugendhilfe, innerhalb derer in Anlehnung an den klassischen Donabedianschen Dreischritt zur Qualitätssicherung (Donabedian 1980)

94

M.-C. Begemann

diverse Struktur-, Prozess- und Ergebnisdaten benötigt werden, wobei in zahlreichen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe entsprechende Forschungsbemühungen durch Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen nach wie vor erst noch zu unternehmen sind (Begemann et al. 2019). • Jugendhilfeplanungen vor Ort, innerhalb derer zahlreiche kommunale Standarddaten (Jordan und Schone 2010, S. 137) wie z. B. Bevölkerungs-, Sozialstruktur-, Infrastruktur-, Leistungs-, Interventions-, Kosten- sowie ­Individualdaten (Schnurr 2016) benötigt werden, wobei ein Teil dieser Daten bereits in der Jugendhilfe selbst, aber auch in anderen kommunalen Ressorts sowie anderen Institutionen produziert wird und für Sekundäranalysen verfügbar ist, aber zur Vervollständigung einer realistischen Planung noch bspw. um eigene Befragungen, aber auch Beobachtungen zu ergänzen ist. Neben diesem Typus sind selbstverständlich zahlreiche weitere Typen der Tri­ angulation von Primärerhebungen und Sekundäranalysen möglich.4 Zu einer entsprechenden Systematik können folgende, auf verschiedenen Ebenen angesiedelte exemplarische Fragen (welche selbstverständlich auch als Leitfragen für ­zukünftig umzusetzende Triangulationen verstanden werden können) verhelfen: • auf Untersuchungsebene: welches Ziel wird mit der Triangulation von Primärerhebung(en) und Sekundäranalyse(n) insgesamt als Ganzes ver­ folgt? Geht es mit Denzin (1970) um die Steigerung der Reliabilität von ­Vorgehensweisen, um die Fundierung der Theoriebildung oder die Validierung der Ergebnisse? Oder geht es – wie in dem vorgestellten Projekt – um die umfängliche und zugleich detaillierte Erschließung eines abgegrenzten Forschungsgegenstandes? Oder steht schlichtweg eine höhere Glaubwürdigkeit im Zentrum?

4Spätestens

an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es selbstverständlich auch zahlreiche – gewissermaßen als Pendant zur Triangulation von Primärerhebungen und Primärerhebungen – Triangulationen von Sekundäranalysen und Sekundäranalysen gibt. Alleine schon mit Blick auf die auch in diesem Sammelband thematisierte Sekundäranalyse von Daten der Schuleingangsuntersuchungen (vgl. die entsprechenden Beiträge in diesem Band) zeigt sich eine gewisse Vielfalt: So wurden Daten von Schuleingangsuntersuchungen bspw. mit Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik (Felfe und Lalive 2018), mit Daten des Mikrozensus (Felfe und Sauer 2014), mit Informationen zum SGB-II-Bezug (Strohmeier et al. 2014) und sogar mit Gemeindemerkmalen sowie gleichzeitig mit Sozialversicherungsdaten (Cornelissen et al. 2018) verbunden.

Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe …

95

• auf Designebene: welche Funktion kommt dabei innerhalb der Triangulation den Primärerhebungen und welche den Sekundäranalysen zu und in welcher Beziehung stehen Primärerhebungen und Sekundäranalysen zueinander? Dienen etwa die Sekundäranalysen dazu, die Perspektive des Forschers zu übernehmen, und die Primärerhebungen dazu, die Perspektive der untersuchten Subjekte abzudecken? Dienen die Primärerhebungen der Illustration, der Interpretation, der Generalisierung, der Überprüfung, der Absicherung, der Ergänzung – wie im Falle des beschriebenen Projektes – oder der Kontextualisierung der Sekundäranalysen und ihrer Befunde? Dient die Sekundäranalyse der Identifikation von Variablen, die in der Primärerhebung verwendet werden, oder der Fallauswahl der Primärerhebung (wie etwa in einer Studie zum internetbasierten Engagement 2.0, vgl. Begemann et al. 2011) oder der Entdeckung von Methodenartefakten in der Primärerhebung – oder etwa erneut genau andersherum? • Auf Ebene der Datenquellen, der Methoden sowie der Daten: wie viele und welche Datenquellen und Methoden kommen bei den Primärerhebungen auf der einen Seite und wie viele und welche Datenquellen und Methoden kommen bei den Sekundäranalysen auf der anderen Seite zum Einsatz und wie viele und welche Daten werden dabei jeweils erhoben bzw. analysiert? In welcher Beziehung stehen dabei Datenquellen, Methoden und Daten der Primärerhebungen einerseits und der Sekundäranalysen anderseits? Und welche Bedeutung besitzen Datenquellen, Methoden und Daten der Primärerhebungen und der Sekundäranalysen für die gesamte Untersuchung? Gewissermaßen quer dazu sind auf jeder dieser Ebenen weitere Fragen relevant, welche insbesondere auf die Art und Weise der Verschränkung von Primärerhebungen und Sekundäranalysen abzielen. Wie werden diese mit Blick auf die Intensität der Triangulation miteinander verschränkt? Werden – hinsichtlich der zeitlichen Abfolge – schwerpunktmäßig erst (Phasen von) Primärerhebungen gefolgt von (Phasen von) Sekundäranalysen durchgeführt oder verhält es sich andersherum? Und inwiefern sind die Forschenden eingebunden und inwiefern wird Bezug auf die verwendeten Theorien genommen? Wenngleich dies für jeden der in dieser Systematik angedeuteten Typen in unterschiedlichem Maß gilt, so ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen im Kontext der Kinderund Jugendhilfe zukünftig eine noch gewichtigere Rolle spielen. Verantwortlich dafür sind mehrere, sich gegenseitig verstärkende Entwicklungen, von denen an dieser Stelle nur die wesentlichen beschrieben werden:

96

M.-C. Begemann

Grundsätzlich ist in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit, aber speziell in der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund verschiedener gesellschaftlicher Modernisierungsschübe von einem weiter steigenden Bedarf an Daten auszugehen. So werden für diverse Zwecke (bspw. zur steuerungspolitischen Gestaltung, zur kontinuierlichen Vermessung auch ihrer einzelnen Arbeitsfelder, zur Selbstvergewisserung, zur Rechtfertigung) innerhalb verschiedener Forschungskontexte (wie etwa Grundlagen- oder Anwendungsforschung, aber auch Politikberatung) für diverse Akteure in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen (z. B. im Arbeitsfeld selbst, in Politik, in Forschung) vermehrt Daten benötigt. Damit ist aber nicht ein vermehrter Bedarf an Daten in quantitativer, sondern gerade auch in qualitativer Hinsicht angesprochen. So müssen Daten zukünftig gehäuft bestimmte Kriterien erfüllen, je nach Zweck müssen sie bspw. netzwerkartig, panelartig, kleinräumig, repräsentativ, aber auch prognostisch, planungs- sowie anwendungstauglich (Begemann 2012) sein. Gleichzeitig wird immer spürbarer, dass dieser Bedarf zukünftig nicht mehr (nur) durch Primärerhebungen erfüllt werden kann. Dies bedeutet nicht, dass Primärerhebungen zur und für die Kinder- und Jugendhilfe verzichtbar werden – das Gegenteil dürfte der Fall sein. Aber: zu der grundsätzlichen Schwierigkeit, gerade in der in datenerhebungsspezifischer Hinsicht größtenteils „unzugänglichen“ Kinder- und Jugendhilfe Primärerhebungen durchzuführen, gesellt sich das in diesem Kontext gewichtigere Problem, dass (nichtsdestotrotz) durchgeführte Primärerhebungen aufgrund ihres überwiegend realisierten Forschungsdesigns – so wird oftmals mit einem einzelnen personenbezogenen Querschnittsdatensatz unter Einsatz eines vergleichsweise einfachen Instrumentes gearbeitet5 – hauptsächlich Daten generieren, die die gerade geschilderten hohen Ansprüche an Daten eben nicht erfüllen (können). Demgegenüber werden Sekundäranalysen auch in der Kinder- und Jugendhilfe immer bedeutender. Genauer betrachtet sind es sogar Entwicklungen seitens der Sekundäranalysen, die die wesentlichen Triebkräfte des zunehmenden Potenzials von Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen darstellen.

5Dass

dieses an dieser Stelle nicht genauer definierte, aber dennoch bewusst provokant als „unterkomplex“ bezeichnete Forschungsdesign eine gewisse „Vorherrschaft“ in der Kinder- und Jugendhilfe genießt, verdeutlichen immer wieder durchgeführte systematische Sichtungen vorliegender Studien mit Bezug zu einzelnen Arbeitsfeldern der Kinder-und Jugendhilfe, so etwa zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Schmidt 2011), zur verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit (Gadow und Pluto 2014) und zur Schulsozialarbeit (Speck und Olk 2010).

Die Erforschung der Kinder- und Jugendhilfe …

97

Konkret handelt es sich dabei um folgende, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte, kumulativ wirkenden Entwicklungen: • Entwicklungen auf der Ebene der Dateninfrastruktur: Schon gegenwärtig ist in Deutschland eine vergleichsweise gut ausgebaute Dateninfrastruktur anzutreffen (Weischer 2007; Habich et al. 2010). Dabei wird ihr Ausbaustand, aber auch ihr Zugang sowie ihre Nutzung zukünftig (u. A. vorangetrieben durch die Verbesserung von Kommunikations- und Informationstechnologien sowie von Archivierungs- und Bereitstellungssystemen) weiterhin verbessert. • Entwicklungen auf der Ebene der Datenquellen: Bereits jetzt steht ein breiter Kanon diverser Datenquellen für die Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung. Damit sind – um eine gängige Einteilung der Kommission zur Verbesserung der informationellen Infrastruktur zwischen Wissenschaft und Statistik (2001) heranzuziehen – Datenquellen angesprochen wie amtliche Statistik, unterteilt in Vollerhebungen und repräsentativen Erhebungen mit komplexen Stichprobenauswahlverfahren, nicht-amtliche Statistiken wie Träger- und Geschäftsstatistiken, repräsentative Zeitreihenvergleiche/regelmäßig erhobene repräsentative Umfragen sowie repräsentative Einzelstudien, wie sie insgesamt schon seit einigen Jahre im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe relevant sind (BMFSFJ 2005; Rauschenbach et al. 2004). Damit sind aber gerade auch zahlreiche weitere Datenquellen gemeint, wie sie gerade in jüngster Zeit für Belange der Kinder- und Jugendhilfe entdeckt werden (vgl. diverse Beiträge in diesem Band). Zukünftig wird es – auch aufgrund immer spezifisch werdender Bedarfe an Daten – zu einer vermehrten und insbesondere ausgeweiteten Nutzung dieser Datenquellen kommen. Parallel dazu sind weitere Ausdifferenzierungen bestehender Datenquellen (bspw. der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik; vgl. Pothmann in diesem Band), weitere Einspeisungen von Datensätzen in bestehende Datenquellen (so z. B. die Zunahme gerade auch von inter- und sogar supranationalen Studien, die schon jetzt einen enormes Potenzial für die Kinder- und Jugendhilfe darstellen), aber auch die Entstehung völlig neuer Datenquellen insbesondere durch (informations-)technologische Innovationen zu erwarten. • Entwicklungen auf der Ebene der Daten: Zukünftig werden immer mehr Daten für Sekundäranalysen zur Verfügung stehen – und zwar weniger bedingt durch die nachträgliche Archivierung bereits durchgeführter Studien bzw. Zurverfügungstellung bereits archivierter Daten, sondern vielmehr durch die zukünftige Produktion neuer Daten. Wenngleich auch hier nicht absehbar ist, in wie fern diese letztlich für Sekundäranalysen zur Verfügung stehen, werden zu diversen (Primär-)Zwecken im Zuge verschiedener Entwicklungen

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bspw. im Recht, in der Fachpraxis sowie in der Forschung (vgl. Rauschenbach in diesem Band) inn- und gerade auch außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin kontinuierlich Daten generiert, welche sich zunehmend auch für die Untersuchung vergleichsweise hochkomplexer Fragestellungen – gerade unter der Prämisse der fortdauernden Verbesserung statistischer (Auswertungs-)Verfahren – eignen.

4 Fazit und Ausblick Insgesamt zeigt sich, dass Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundär­ analysen gerade im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe ein großes Potenzial inhärent ist – vergleichbar in etwa dem Potenzial, welches oft der Triangulation von quantitativer und qualitativer Sozialforschung zugeschrieben wird. Ohnehin lohnt sich der Blick auf die Triangulation von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden. Ein derartiger Vergleich scheint zunächst etwas abwegig, da die Triangulation qualitativer und quantitativer Methoden erstens trotz aller bekannter Grabenkämpfe schon längst ein fest etabliertes Design in den Sozialwissenschaften darstellt, sowie zweitens und eng damit zusammenhängend seit jeher von intensiven Diskussionen begleitet wird – was beides nicht (zumindest noch nicht) auf die Triangulation von Primärerhebungen und ­Sekundäranalysen zutrifft. Jedoch werden dabei auch zahlreiche Aspekte thematisiert, die nicht nur speziell in dem vorgestellten Projekt relevant waren – so etwa die grundlegende Einsicht, dass mit Triangulation ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich ist, welcher mit nur einem Zugang nicht möglich wäre (Flick 2011, S. 12), oder die Erkenntnis, dass Triangulationen zu einer ganzheitlichen, holistischen Sicht (Flick 1998, S. 230) verhelfen, um letztlich ein vollständigeres Bildes (Kluge 2001, S. 44) des Gegenstandsbereiches zu erhalten –, sondern die auch für zukünftige Umsetzungen und Weiterentwicklungen von Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen bedeutsam sind. Damit wiederum sind weniger, aber eben auch Diskussionen etwa zu Formen, Varianten bzw. Klassi­ fikationen (Creswell 1994), zu Gewichtungen (Flick 2007), zu Funktionen (Hammersley 1996), zu Absichten und Chancen (Lamnek 1988) gemeint. Damit sind aber insbesondere Diskussionen bspw. zur zeitlichen Abfolge des Methoden­ einsatzes (Miles und Huberman 1994) sowie zum Zeitpunkt der Verschränkung (Creswell 2003), aber auch zu Anforderungen an Forschende (bereits Denzin 1970) sowie zur bislang immer noch zu wenig beantworteten Frage, welche Teilbereiche des Untersuchungsgegenstandes innerhalb von Triangulationen

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e­ igentlich durch quantitative, und welche durch qualitative Methoden angegangen werden sollen (erste Ansätze dazu etwa bei Wilson 1982 oder Kelle 2007) ­angesprochen. Hinzu – und darauf weist bereits letztgenannter Aspekt hin – kommt, dass der Blick auf die verschiedenen Entwicklungen und Diskussionen bei der Triangulation quantitativer und qualitativer Sozialforschung (zumal ja auch zu triangulierende Primärerhebungen und Sekundäranalysen exakt aus zu triangulierenden qualitativen sowie quantitativen Methoden bestehen können) auch hilft, dort anzutreffende „Sackgassen“ frühzeitig wahrzunehmen und von vornherein zu meiden. Denn trotz des schon seit Jahrzehnten andauernden Einzugs der Triangulation von quantitativer und qualitativer Sozialforschung auch in den Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, weist sie immer noch zahlreiche, selbst von den prominenteren ihrer Vertreter/-innen preisgegebene Achillesversen auf – so etwa das nur begrenzte Ausschöpfen des gesamten Spektrums sozialwissenschaftlicher Methoden (Bryman 2006), die nicht ausreichende Entwicklung der methodologischen Grundlage (Flick 2011, S. 95 f.) sowie die immer noch zu geringe Klärung, welche Methoden warum miteinander kombiniert werden (Greene 2008, S. 17). Sollen Triangulationen von Primärerhebungen und Sekundäranalysen ihr Potenzial zukünftig vermehrt entfalten können, müssen derartige Probleme frühzeitig angegangen werden.

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Teil II Regelmäßig erhobene Querschnittsdaten und Panelstudien

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) – Anlage, Inhalte und Auswertungsbeispiel zur Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen von Personen mit Migrationshintergrund Eric van Santen 1 Einleitung Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen die Daten und Analysemöglichkeiten des Surveys Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A) des Deutschen Jugendinstituts e. V. (DJI) in Bezug auf Fragestellungen, die für die Forschung zur Kinder- und Jugendhilfe relevant sind. Da die Daten nach einer gewissen Zeit über das Forschungsdatenzentrum des DJI (https://surveys.dji.de) sowie GESIS (siehe auch den Beitrag von Watteler in diesem Band) der Scientific Community zur Verfügung gestellt werden, können sie auch von externen Forschern für Analysen zu Fragestellungen mit Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe, aber natürlich auch darüber hinaus, genutzt werden. Mit den Daten sind 1) Reanalysen bereits durchgeführter Analysen, 2) vertiefende, weiterführende Analysen zu bestehenden Analysen sowie 3) neue Analysen möglich. Bezüge zur Kinder- und Jugendhilfe sind auf zwei Ebenen vorhanden. Zum einen erlauben die Daten eine Beschreibung der (potenziellen) Adressaten der Dr. Eric van Santen, Dipl. Soz., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Jugendinstituts e. V. E. van Santen (*)  Deutsches Jugendinstitut (DJI), München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_6

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Kinder- und Jugendhilfe und zum anderen liefern sie Informationen zur Inanspruchnahme von Angeboten und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Diese beiden Ebenen können natürlich auch kombiniert werden. Dieser Beitrag beschreibt im ersten Teil die Anlage des AID:A-Surveys. Der zweite Teil gibt die Inhalte mit einem unmittelbaren Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe detaillierter wieder. Im dritten Teil des Beitrages wird anhand der Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen für Eltern mit Kindern unter 18 Jahren der Zusammenhang mit Elementen der Lebenswelt der Adressaten exemplarisch untersucht. Im Mittelpunkt steht hierbei der Migrationshintergrund und die Frage, ob dieser die Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen beeinflusst.

2 Anlage und Inhalte der Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) AID:A soll die Grundlage für die Erforschung der Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen im Rahmen alltäglicher Entwicklungs- und Handlungskontexte, insbesondere der Familie, liefern. Bis dato liegen die Daten von zwei Erhebungswellen vor, die Erhebung einer dritten Welle befindet sich in der Planung. In der ersten Welle (AID:A I) wurden 25.337 Personen bis zum Alter von 55 Jahren befragt (Quellenberg 2012). In der zweiten Welle (AID:A II) wurden 22.424 Personen bis zum Alter von 32 Jahren befragt. Davon haben 9.894 Personen (auch an AID:A I teilgenommen). Für diese Gruppe sind Panelanalysen zu Entwicklungsprozessen im Lebensverlauf möglich. Die übrigen Personen haben das erste Mal an AID:A teilgenommen. In AID:A II sind fast alle Altersstufen mit 600 Personen besetzt und somit hat AID:A gerade im Bereich des Kindes- und Jugendalters eine der größten, auch für Sekundäranalysen zugänglichen Stichproben in der Bundesrepublik. AID:A I und II sind Personenstichproben. Sie wurden zweistufig gezogen. Zuerst wurde größenproportional eine Stichprobe von Gemeinden gezogen. Über die Einwohnermeldeämter wurde anschließend jeweils eine annähernd gleiche Zahl nach einem Zufallsverfahren gezogen. Die Daten wurden bei den meisten Teilnehmenden telefonisch (CATI) erhoben. Um mögliche Verzerrungen aufgrund fehlender Telefonnummern zu verringern, wurden für einen kleinen Teil der Teilnehmenden persönliche (CAPI) und Online-Interviews durchgeführt. Da Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ganz unterschiedlichen Alters zur Stichprobe gehören und diese nicht alle über sich und den Haushalt, in dem sie leben, auskunftsfähig sind, wurde unterschieden zwischen Ziel- (ZP) und Auskunftsperson (AP). Bei Zielpersonen unter 9 Jahren wurden alle Informationen zu

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dieser Person über die Auskunftspersonen, in der Regel die Mutter, erhoben. Die Auskunftsperson liefert dabei nicht nur Auskunft über die Zielperson, sondern auch zum Haushalt, in der die Zielperson lebt. Bei den Zielpersonen im Alter von 9 bis unter 18 Jahren wurden Informationen zur Zielperson, sofern die Zustimmung der Auskunftsperson vorlag, unmittelbar bei der Zielperson erhoben, während Auskünfte über den Haushalt erneut bei der Auskunftsperson erhoben wurden. Bei Zielpersonen im Alter von 18 Jahren und älter wurden alle Informationen direkt über die Zielperson erhoben. Aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Lebenssituationen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden für die Informationen zur Zielperson nach dem Alter differenzierte Fragenbogenmodule in altersgemäßer Länge eingesetzt. In Ansätzen wurden in AID:A II auch Elemente eines Multi-Actor-Designs umgesetzt: Väter bzw. im Haushalt lebende Partner der Mutter der Zielpersonen wurden ebenfalls mit einem kurzen Erhebungsinstrument um Auskunft gebeten. Die Gesamtzahl der Interviews übersteigt damit die Anzahl der Zielpersonen (zu weiteren Details zu Anlage der AID:A-Studie: Bien et al. 2015; Quellenberg 2012; Aust et al. 2015). Mit den beiden AID:A-Wellen liegen Daten vor, die im Querschnitt ausgewertet werden können, die Zeitreihenvergleiche erlauben und zudem Panelanalysen ermöglichen.

3 Inhalte des AID:A-Surveys AID:A ist als Mehrthemenstudie angelegt. Die hier exemplarisch kurz angerissenen Themenfelder finden sich zwar nicht ausschließlich, aber schwerpunktmäßig in dem Fragebogen für die Altersgruppe der 12- bis unter 18-Jährigen wieder: 1. Subjektive Orientierungen, Bewältigung von Problemsituationen, kritische Lebensereignisse, Autonomieerleben und Wohlbefinden: Dieser Block enthält Fragen zu Autonomie, Benachteiligungserfahrungen, Familienbeziehungen und Haushaltstätigkeiten, Gesundheit, kritischen Lebensereignissen, Mobbing, Körperverletzungen, Wichtigkeiten von Lebensbereichen, Geschlechtsrollenorientierungen, Lebenszufriedenheit, Religion, Verhaltensauffälligkeiten und -stärken über den Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ, Klasen et al. 2003), Selbstwirksamkeit und Wertorientierungen. 2. Soziale Beziehungen im Hinblick auf Ablösungsprozesse vom Elternhaus und Aufbau von Freundschafts- und Partnerbeziehungen sowie soziale Vernetzung: Hierzu gehören Fragen zur besten Freundin bzw. zum besten Freund, Bewertungen von Jugendszenen, Qualität und Zusammensetzung des Freundeskreises, das Suchen von Rat und Unterstützung, Wichtigkeiten von

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Personen des sozialen Umfeldes und Partnerschaft, Nutzung sozialer (Online-) Netzwerke. 3. Situation von Schülern (auch Schulkarrieren), Auszubildenden, Studierenden und Erwerbstätigen sowie die Gestaltung der Übergänge von der Schule in den Beruf, mit Fragen zum Weg in den Beruf und dem Schulleben. 4. Das Hineinwachsen Jugendlicher und junger Erwachsener in öffentliche Räume: Gefragt wird z. B. nach Freizeitaktivitäten, (ehrenamtlichen) Aktivitäten in Vereinen/Organisationen und politischer Partizipation, Informationen über Politik sowie nach politischem Interesse und informellen Gruppen. Eine detailliertere Beschreibung der Inhalte, insbesondere auch für die anderen Altersgruppen der Zielpersonen sowie der dazugehörigen Erhebungsinstrumente, enthält die Dokumentation im Datenbestandskatalog (DBK) der GESIS (http:// dx.doi.org/10.4232/1.11358). Inhalte mit konkretem Bezug zu Angeboten und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe: Im Mittelpunkt stehen hier Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII). In der Regel geht es um deren Inanspruchnahme, im Bereich der Kindertagesbetreuung werden zusätzlich die Gründe einer Nicht-Inanspruchnahme thematisiert. Die Kindertagesbetreuung ist der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, zu dem in AID:A mit Abstand am grundlegendsten Informationen erhoben werden. Die Fragen zur Kindertagesbetreuung lassen sich in folgende Bereiche untergliedern: 1) Konkrete Angaben zur Betreuungssituation, 2) Zufriedenheit und Erfahrungen mit der Kinderbetreuung, 3) Historie der Inanspruchnahme von Angeboten der Kindertagesbetreuung, 4) Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme einer Kindertageseinrichtung sowie 5) Konstellation einer Betreuung in Kindertagespflege. Tab. 1 enthält eine Übersicht der Fragen zu diesen Bereichen. In AID:A wird über die Kindertagesbetreuung hinaus auch die Inanspruchnahme anderer sozialstaatlich finanzierter Leistungen betrachtet. Dazu gehören Angebote der Jugendhilfe (Familienbildung, Beratung in Familien- oder Erziehungsfragen in einer Beratungsstelle, andere Beratungsstellen, Frühförderung für Kinder mit besonderem Förderbedarf, Sozialpädagogische Familienhilfe, Beratung bei Sorgerechts- und Umgangsfragen, Beratung oder Hilfe durch das Jugendamt, Schulsozialarbeit, Ferienfreizeiten, Jugendzentren, -treffs, -clubs), aber darüber hinaus geht es auch um sozialstaatliche Leistungen, die nicht oder nicht genuin der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet werden können (Sportstätte, Bibliothek, Museum, Gemeindezentrum, Berufsberatung, Kinder- und Jugendpsychotherapie, Schulpsychologische Beratung). Bei der Nutzung von Angeboten der offenen Jugendarbeit werden auch die Gründe und Häufigkeit

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Tab. 1   Übersicht zu den Fragen zur Kindertagesbetreuung in AID:A 1. Angaben zur Betreuungssituation

Betreuungspersonen und Betreuungsdauer pro Woche; Angaben zur derzeit besuchten Kindertageseinrichtung: Träger; Eintrittszeitpunkt; Höhe der monatlich anfallenden Kosten; Öffnungszeit; Schließzeit, Schließung über Mittag; Fragen nach der Passung der Öffnungszeiten sowie nach dem Wunsch nach Anpassung der Öffnungszeiten nach Tageszeiten bzw. bezüglich der Öffnungszeiten an Samstagen und in den Ferien; übliche Bring- und Abholzeit; ob die Bring- und Abholzeit jeden Tag gleich sind; ob ein Mittagessen angeboten wird und ob dieses Angebot in Anspruch genommen wird; Frage nach weiteren Angeboten der Kita: Sprachförderung, Naturwissenschaften, Computer, Fremdsprachen und ob das Kind an diesen Angeboten teilnimmt; Nutzung ausgewählter Zusatzangebote für die Eltern in der Kita sowie Häufigkeit von Elterngesprächen im letzten Jahr

2. Z  ufriedenheit und Erfahrungen mit der Kinderbetreuung

Zufriedenheit mit der Einrichtung hinsichtlich ausgewählter Aspekte (z. B. Gruppengröße und Öffnungszeiten) sowie insgesamt; Wohlbefinden des Kindes in der Einrichtung; Schwierigkeiten einen Kita-Platz zu bekommen; Bedeutung ausgewählter Aspekte bei der Wahl der Betreuungseinrichtung; Wunschalter für die Einschulung des Kindes; Einstellung zu Kindertageseinrichtungen

3. H  istorie der Inanspruch- Frühere Unterbringung des Kindes in einer Kindertageseinnahme richtung oder bei einer Tagespflegeperson, Alter des Kindes zum damaligen Zeitpunkt Hypothetische Entscheidung für eine Kindertagesstätte bei 4. G  ründe für die Nicht-Inanspruchnahme Vorliegen ausgewählter Voraussetzungen einer Kindertageseinrichtung 5. K  onstellation einer Betreuung in der Kindertagespflege

Quelle: Eigene Darstellung

Betreuung im Haushalt der Tagespflegeperson, im eigenen Haushalt oder an einem anderen Ort; monatlich anfallende Kosten einschließlich Mittagessen; Art des Zustandekommens des Kindertagespflegeverhältnisses (Vermittlungsinstanz); Zuschuss vom Jugendamt; Nationalität der Tagespflegeperson; Aufgabenübernahme der Tagespflegeperson im Haushalt neben der Kinderbetreuung; gleichzeitige Betreuung eigener Kinder der Tagespflegeperson; Anzahl der betreuten eigenen Kinder und der Kinder insgesamt; Alter des jüngsten und des ältesten betreuten Kindes; Alter der Tagespflegeperson; feste oder flexible Betreuungszeiten; Notfalllösung bei Ausfall der Tagespflegeperson sowie Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Tagesbetreuungsangeboten

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der Nutzung erhoben. Zudem werden Ämter bzw. Funktionen, Aktivitäten und deren Häufigkeit in verschiedenen, auch der Kinder- und Jugendhilfe nahen Vereinen abgefragt. Als letzter inhaltlicher Bereich mit einem Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe ist die Fremdunterbringungserfahrung der 18- bis 32-Jährigen zu nennen. Diese Personen wurden gefragt, ob es vor ihrem 18. Geburtstag Zeiten gab, in denen sie für mindestens drei Monate weder mit ihrem leiblichen Vater noch mit ihrer leiblichen Mutter zusammengelebt haben (z. B. in einer Pflegefamilie oder im Ausland). Personen, die entweder für mindestens drei Monate in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohngruppe aufgewachsen sind, wurden vier weitere Fragen (wann zuerst, wie lange, Wechsel, Zufriedenheit) zu dieser Erfahrung gestellt. Insbesondere sozialstaatliche Leistungen, die dem Bereich der Hilfeleistungen der Kinder- und Jugendhilfe zuzuordnen sind, weisen geringe Prävalenzen auf, die vertiefenden Analysen, die sich nur auf eine spezifische Leistung beziehen, im Wege stehen. Anders ist dies bei infrastrukturellen Leistungen der Kinderund Jugendhilfe, wie die Kinderbetreuung und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche.

4 Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen durch Personen mit Migrationshintergrund In Deutschland ist das Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert. Das erste Sozialgesetzbuch (SGB I) enthält die Grundsätze und Zielsetzungen des Systems der sozialen Sicherung in Deutschland, die in den Sozialgesetzbüchern I bis XII geregelt sind. Der erste Satz des ersten Paragrafen des SGB I lautet: „Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten.“ Die Kernbegriffe „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit“ sowie „sozialer Sicherheit“ formen das Bindeglied zur abstrakten Formulierung des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz. Hiermit sind Verteilungsfragen verschiedenster Art angesprochen. Auch wenn das Gesetz keine Definition eines Zustandes der Gerechtigkeit enthält, kann davon ausgegangen werden, dass hier eine Reduzierung der Ungleichverteilung materieller, kultureller und sozialer Ressourcen durch sozialstaatliche Leistungen (SSL) im Vordergrund steht. Inwiefern dies gelingt, inwiefern die Nutzung von SSL sich nach sozialen und regionalen Bedingungen unterscheidet und eine wie auch

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immer geartete Selektivität der Nutzung vorhanden ist, steht im Vordergrund dieses Abschnitts. Der Sozialstaat unterstützt Familien oder einzelne Personen in unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensphasen durch monetäre Leistungen, wie Transferzahlungen, oder in Form von Infrastrukturangeboten und Diensten. Neben dieser Unterscheidung in Transferzahlungen einerseits und Infrastrukturangebote und Dienste andererseits lassen sich sozialstaatliche Leistungen weiter nach der Zielsetzung differenzieren: Die eine Art von SSL zielt auf Sicherung von Lebenslagen, Förderung vorhandener Ressourcen sowie Prävention und soll breiten Teilen der Bevölkerung zugutekommen, während andere Arten vor allem als Unterstützung in schwierigen Lebenslagen und zur Kompensation sozialer Ungleichheit konzipiert sind (vgl. Tab. 2). Bei Letzteren müssen also bestimmte Bedingungen erfüllt sein bzw. muss eine Problemlage vorhanden sein, um diese Leistungen und Angebote in Anspruch nehmen zu können. Die verschiedenen SSL richten sich an unterschiedliche Dimensionen der konkreten Lebenslage einer Person oder eines Haushalts. Um festzustellen, inwiefern eine eventuelle selektive Nutzung der Zielsetzung der SSL zuwiderläuft, müssen wir uns die jeweilige programmatische Zieldimension der von uns betrachteten SSL vergegenwärtigen: Mal geht es darum, auf eine veränderte ökonomische Situation zu reagieren, mal darum, die Bildung zu erweitern und mal darum, soziale Unterstützungsformen zur Verfügung zu stellen: Das Elterngeld zum Beispiel soll ein befristetes Ausscheiden aus dem Beruf ermöglichen, ohne allzu große Einschränkungen bezüglich des Lebensstandards hinnehmen zu müssen (Feld A). Angebote der Jugendarbeit (z. B. Jugendzentren, Jugendverbände)

Tab. 2   Typisierung sozialstaatlicher Angebote und Leistungen Arten Ziele

Monetäre Leistungen

Infrastruktur und Dienste

Sicherung von Lebenslagen; Förderung von Ressourcen; Prävention

A Transferzahlungen wie z. B. Elterngelt, Kindergeld, Sozialversicherungen

B Kindertagesbetreuung, Bildungs- und Freizeitangebote etc.

Hilfe im schwierigen Lebenslagen; Kompensation

C Transferzahlungen wie z. B. Sozialhilfe, ALG I und II

D Beratungsstellen, Jugendhilfeeinrichtungen, Arbeitsagenturen etc.

Quelle: Eigene Darstellung

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(Feld B) sollen junge Menschen in ihrer Entwicklung fördern, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen. Die Jugendarbeit zielt damit auf eine Erhöhung der Bildung und die Mehrung sozialer Kompetenzen ab. Im Falle eines Verlusts des Arbeitsplatzes werden die damit einhergehenden Einkommenseinbußen teilweise durch den Bezug des Arbeitslosengeldes I kompensiert (Feld C). Das Angebot einer Erziehungsberatungsstelle zielt darauf ab, Unsicherheiten oder Problemen der Eltern im Umgang mit den eigenen Kindern durch Bereitstellung spezifischen Wissens zu begegnen (Feld D). Die Untersuchung der Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen konzentriert sich nicht nur in Deutschland, sondern auch international auf monetäre Leistungen des Sozialstaates. Die Inanspruchnahme von Diensten und Infrastrukturleistungen wurde dagegen bislang kaum untersucht. Im Mittelpunkt der Beispielauswertung stehen die Infrastrukturleistungen und Dienste, die Hilfe in schwierigen Lebenslagen bieten (Feld D). Die Frage ist, was die Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen und Angebote (SSL) beeinflusst? Verschiedene Autoren haben versucht, diese Einflussfaktoren zu systematisieren (z. B. van Oorschot 1991, 1998; Aday und Andersen 1974; Andersen 1995; van Santen und Seckinger 2008; WHO 2013). Die verschiedenen Modelle beziehen sich meistens auf monetäre Leistungen (van Oorschot 1991, 1998) oder Gesundheitsleistungen (Aday und Andersen 1974). Van Santen und Seckinger (2008) haben angefangen, die Modelle für soziale Dienstleistungen anzupassen. Gemeinsam ist allen Modellen, dass sie unterscheiden zwischen 1. Merkmalen der Anspruchsberechtigten und 2. der Ausgestaltung der SSL. Zu den Merkmalen der Anspruchsberechtigten zählen z. B. Faktoren, wie das Wissen über die Existenz von Leistungen, (Fehl-)Interpretationen von Berechtigungskriterien, Stigmatisierungsängste, Unabhängigkeitsvorstellungen, Scheu vor Aufwand sowie Unfähigkeit, den eigenen Anspruch zu formulieren. Zu den Faktoren der Dimension Ausgestaltung der SSL gehören z. B. die Verfügbarkeit der Leistung, Art und Weise, wie Anspruchsberechtigten begegnet wird, die Kombination von Hilfe und Kontrolle, Anzahl sowie Komplexität und Eindeutigkeit der Berechtigungskriterien und gesellschaftliche Stigmatisierung der Zielgruppe durch die Inanspruchnahme der SSL. Je nach SSL sind diese Faktoren sowohl auf der individuellen als auch auf der Ebene der SSL unterschiedlich ausgeprägt. Bezüglich der Inanspruchnahme von SSL durch Personen mit Migrationshintergrund aufgrund von Merkmalen der Anspruchsberechtigten hat die For­ schung bereits auf verschiedene Besonderheiten hingewiesen. So ist ­ offensichtlich,

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ …

115

dass Personen mit Migrationshintergrund generell hohe Anpassungsleistungen zu erbringen haben. Dies kann mit verschiedenartigen Belastungen ein­ hergehen. Zudem ist bekannt, dass sie vergleichsweise geringere ökonomische und Bildungsressourcen haben (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Boos-Nünning und Karakasoglu (2005) weisen in ihrer Untersuchung auf die Bedeutung des Problemkontextes bei Frauen hin. Bei individuellen Problemen wird eher auf fremde Hilfe zurückgegriffen als bei Problemen, die die Familie betreffen. Immer wieder wird auf die besonderen Ressourcen im Familiensystem der Personen mit Migrationshintergrund verwiesen (z. B. Teupe 2012, S. 82). Auch bezüglich der Ausgestaltung der SSL gibt es im Kontext der Inanspruchnahme von SSL relevante Befunde. Personen mit Migrationshintergrund sind z. B. je nach Aufenthaltsdauer nicht unbedingt vertraut mit den deutschen Institutionen. Sie kommen oft aus Ländern mit einem anderen Sozialstaatsverständnis und haben dort u. U. Erfahrungen mit Institutionen gemacht, die aber nicht unbedingt auf die deutschen Verhältnisse übertragbar sind. Dies zu realisieren, setzt eine hohe Reflexivität voraus. Boos-Nünning und Karakasoglu (2005) stellten bei den untersuchten Frauen einen starken Wunsch nach kultursensibler Beratung fest. Zugleich gibt es aber eine kulturunsensible Wahrnehmung bei Fachkräften (Pavkovic 2001) und es wird eine mangelnde interkulturelle Öffnung von Organisationen beklagt (Schröer 2005). Zudem stellt sich die Frage, ob die für die Soziale Arbeit typischen Ermessensspielräume („Jeder Fall ist anders“) sich in einem anderen institutionellen Handeln gegenüber Personen mit Migrationshintergrund niederschlagen. Hinweise in Bezug auf unterschiedliche Entscheidungen bezüglich Personen mit Migrationshintergrund zeigen sich beispielsweise in Entscheidungen im Bereich des Kinderschutzes. Die Entscheidung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht, bzw. ob eine erzieherische Hilfe installiert wird oder nicht, variiert mit dem Migrationshintergrund (Teupe 2012, S. 83, 89). Generell bleiben Ermessensspielräume in den Modellen zu den Faktoren, die die Inanspruchnahme beeinflussen, unterbelichtet. In der Sozialen Arbeit sind die Berechtigungskriterien oft nicht klar, weshalb Ermessensspielräume genutzt werden. Ermessensspielräume können aber auch Einfallstore für Diskriminierungsprozesse sein. Die zu beantwortende Frage ist, ob tatsächlich die Personen Hilfe bekommen, die Hilfe benötigen. Allein aus einem dem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechenden Anteil bei der Gruppe derer, die ein bestimmtes Angebot in Anspruch nehmen, kann man noch nicht schließen, dass damit keine auf einzelne Bevölkerungsgruppen bezogenen Zugangsbarrieren bestehen. Wenn in einer Erziehungsberatungsstelle 30 % der Familien, die dort Beratung suchen, einen

116

E. van Santen

Migrationshintergrund haben und dies dem Anteil in der Bevölkerung entspricht, ist das kein Beleg, dass diejenigen Hilfen bekommen, die sie auch benötigen. Eine angemessene Repräsentanz lässt sich nur in Relation mit dem tatsächlich vorhandenen Hilfe- und Unterstützungsbedarf bestimmen (vgl. Prein und van Santen 2015 zur Frage, ob die Inanspruchnahme solcher Leistungen sozial selektiv erfolgt). Die Relation zum Bedarf ist entscheidend. Personen mit Migrationshintergrund könnten einen wesentlich höheren Hilfebedarf haben als Personen ohne Migrationshintergrund und müssten deshalb einen viel größeren Anteil an den Klienten der Beratungsstellen haben. Die hier zu beantwortende Forschungsfrage lautet daher: Unterscheidet sich die Inanspruchnahme von sozialstaatlichen Leistungen (SSL) unter Kontrolle des Bedarfs zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund? Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde zur Bildung der abhängigen Variable auf folgende Frage der AID:A II-Erhebung zurückgegriffen: „Jetzt geht es um Angebote für Eltern, Kinder und Jugendliche. Haben Sie oder Ihr Partner/Ihre Partnerin für  eines oder mehrere der genannten Angebote in Anspruch genommen?“ Von den elf möglichen Antwortvorgaben wurden die folgenden fünf mit einem unmittelbaren Bezug zu Erziehungsproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten zur Bildung der abhängigen Variable berücksichtigt: Familien- oder Erziehungsfragen in einer Beratungsstelle; schulpsychologische Beratung; Kinder- und Jugendpsychotherapie; Sozialpädagogische Familienhilfe bei Ihnen zu Hause sowie Beratung oder Hilfe durch das Jugendamt. Haben die Eltern mindestens einmal eine dieser fünf SSL in Anspruch genommen, hat die abhängige Variable den Wert 1, sonst 0. Für die Analyse wurden alle 3- bis 17-jährigen Zielpersonen, die noch im Haushalt der Eltern leben, herangezogen. Die unter 3-jährigen Kinder wurden nicht in die Analyse einbezogen, da für diese Gruppe nicht für alle Belastungsvariablen (Kontrollvariablen) Informationen vorliegen.1 Die vorrangig interessierende unabhängige Variable ist der Migrationshintergrund der Befragten. Eine dichotome Betrachtung im Sinne von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund wird der Heterogenität der Personen mit

1Kritisch

ist bereits an dieser Stelle anzumerken, dass die Frage die Lebenszeitprävalenz der Inanspruchnahme von Hilfeleistungen für Kinder erfasst. Die erfolgte Inanspruchnahme muss nicht zwingend in einer zeitlichen Nähe zu dem Moment der Messung der Belastungsindikatoren stehen. Darüber bilden die fünf SSL ein großes Spektrum an Beratungs- und Hilfeformen ab, die aus unterschiedlichen Anlässen und in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden können.

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ …

117

Migrationshintergrund nicht gerecht. Diese Heterogenität bildet sich in verschiedenen Dimensionen ab. So kann man nach Migrationsgenerationen, Herkunftsländern, Herkunftskulturen oder gar Kombinationen dieser Dimensionen unterscheiden. Ein Problem ist das Schwinden der Fallzahlen in den einzelnen Zellen, je stärker man die Heterogenität berücksichtigt. Hier wird dem auf das Generationenkonzept zurückgegriffen, weil nach dem Assimilationsmodell Parks (1950) zu vermuten ist, dass mit der Verweildauer in der Aufnahmegesellschaft die Vertrautheit mit dem Alltagsleben und den Institutionen und ihren Wirkweisen in der Aufnahmegesellschaft zunimmt.2 Die Operationalisierung der Migrationsgenerationen basiert auf dichotomisierten Angaben zu den Geburtsländern der Zielperson, beider Eltern und aller vier Großeltern. Die 1. Generation umfasst alle Zielpersonen, die selbst nach Deutschland zugewandert sind. Wenn eine Zielperson in Deutschland geboren ist, mindestens ein Elternteil aber nicht, gehört diese zur 2. Generation. Ist mindestens ein Großelternteil im Ausland geboren, die Zielperson und ihre Eltern aber nicht, wird dies als 3. Generation bezeichnet. Alle anderen Zielpersonen gehören zur autochthonen Bevölkerung. Die hier verwendete Operationalisierung des Migrationshintergrundes nach Generationen berücksichtigt darüber hinaus, ob die Partnerschaften der Eltern bzw. der Großeltern Partnerschaften zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund (gewesen) sind. Dies führt zu einer Unterscheidung bei der 2. und 3. Generation, ob der Migrationshintergrund der Zielperson einseitig oder zweiseitig geprägt ist. Die Idee dahinter ist, dass analog zum Generationenkonzept die Vertrautheit mit dem Alltagsleben und den Institutionen und ihren Wirkweisen in der Aufnahmegesellschaft höher ist, wenn solche Informationen über eine Person ohne Migrationshintergrund in der Familie vorhanden sind. Eine genauere Beschreibung der Zuordnung der Zielpersonen (ZP) sowie Angaben zur Verteilung der Ausprägungen der Variablen „Migrationshintergrund nach Generationen“ liefert die folgende Übersicht: 1. Generation: ZP und mindestens ein Eltern- oder Großelternteil im Ausland geboren (1 %)3

2Dieses Modell stieß damals auf Kritik und ist bis heute nicht unumstritten (vgl. z. B. Esser 2001, S. 28). 3Die beiden Zusatzbedingungen wurden aufgenommen, um z. B. Diplomatenkinder oder Kinder von „Expats“, die während des temporären Auslandsaufenthaltes der deutschen Eltern im Ausland geboren wurden, nicht dieser Kategorie zuordnen zu müssen.

118

E. van Santen

2. Generation: ZP in Deutschland geboren, mindestens ein Elternteil nicht • zweiseitig: beide Eltern der ZP haben Migrationserfahrung oder Migrationshintergrund (10 %) • einseitig: nur ein Elternteil der ZP hat Migrationserfahrung (9 %) 3. Generation: ZP und Eltern in Deutschland geboren, mind. ein Großelternteil nicht • zweiseitig: beide Eltern der ZP haben Migrationshintergrund (1 %) • einseitig: nur ein Elternteil der ZP hat Migrationshintergrund (11 %) Ohne Migrationshintergrund: Eltern und Großeltern in Deutschland geboren (68 %)

4.1 Ergebnisse Die Abb. 1 zeigt in einer ersten Annäherung an die Fragestellung, dass hinsichtlich der Inanspruchnahme kaum Unterschiede zwischen den Autochthonen, der ein- und zweiseitigen 3. Generation sowie der einseitigen 2. Generation bestehen. Deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch im Vergleich zu den beiden anderen Ausprägungen: Die Inanspruchnahme einer der fünf SSL ist bei der 1. Generation am geringsten, aber auch die einseitige 2. Generation ist durch eine deutlich geringere Inanspruchnahme gekennzeichnet. Oben wurde argumentiert, dass eine Einschätzung der Inanspruchnahme im Sinne einer gerechten Verteilung nur geleistet werden kann, wenn diese vor dem Hintergrund konkreter Belastungssituationen geliefert wird. Ein generelles Maß für die Problembelastung von Kindern und Jugendlichen wurde in AID:A mit der deutschen Version des Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ) erhoben, der kritische Werte in mehreren Bereichen der emotionalen und Verhaltensentwicklung aufzeigt (Klasen et al. 2003). Wie zu erwarten, zeigen sich auch unabhängig von den Migrationsgenerationen deutliche Zusammenhänge zwischen dem SDQ und der Inanspruchnahme institutionalisierter Hilfen (vgl. Abb. 2): Eltern von Kindern mit einem grenzwertigen oder auffälligen SDQWert geben durchgängig eine stärkere Inanspruchnahme an als Eltern von Kindern mit unauffälligen Werten.4 Zu beachten ist allerdings, dass rund die Hälfte

4Wie oben erwähnt, erlauben die vorliegenden Daten nicht, den Beginn und die Dauer der Inanspruchnahme von Hilfen und die Messzeitpunkte des SDQ zeitlich zu ordnen. Um zumindest Anhaltspunkte für kausale Zusammenhänge liefern zu können, wurden alle Analysen mit dem SDQ aus AID:A I und AID:A II gerechnet und lieferten vergleichbare Ergebnisse.

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ …

119

Ohne MGH

22 %

3. Generation einseitig

23 %

3. Generation zweiseitig

21 %

2. Generation einseitig

24 %

2. Generation zweiseitig

17 %

1. Generation

14 %

Abb. 1   Inanspruchnahme mindestens einer der fünf SSL nach Migrationshintergrund (Angaben in %)

Ohne MGH

22 %

3. Generation einseitig

22 %

3. Generation zweiseitig 2. Generation einseitig 2. Generation zweiseitig 1. Generation

51 % 51 % 67 %

21 % 53 %

23 % 18 %

31 %

22 % 16 %

SDQ grenzwertig/auffällig

SDQ unauffällig

Abb. 2   Inanspruchnahme mindestens einer der fünf SSL nach Migrationshintergrund und SDQ (Angaben in %)

der problembelasteten Kinder bislang nicht durch eines dieser Angebote erreicht wird, zumal eine (vergangene) Inanspruchnahme von SSL nicht zwingend aufgrund der durch die SDQ-indizierten Verhaltensauffälligkeiten in Anspruch genommen worden sein muss, sondern andere Gründe gehabt haben könnte. Schließlich ist der SDQ nicht der alleinige Maßstab für Hilfebedarf, was sich nicht zuletzt auch dadurch zeigt, dass SSL auch dann in Anspruch genommen­

120

E. van Santen

worden sind, wenn der SDQ-Wert sich im unauffälligen Bereich bewegt.5 Zu bedenken ist weiterhin, dass auch bei einem grenzwertigen oder auffälligen SDQ-Wert eine Inanspruchnahme einer der fünf betrachteten SSL nicht zwingend erfolgen muss. Diese Auffälligkeiten können sich u. U. selbst erledigen, durch andere als die hier betrachteten SSL bearbeitet werden oder es werden informelle, nicht institutionalisierte Ressourcen im sozialen Netzwerk der Familien ­mobilisiert, die Abhilfe schaffen können. Und nicht zuletzt wollen die Zielpersonen oder ihre Eltern möglicherweise gar keine fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Betrachtet man die Unterschiede der Inanspruchnahme der SSL bei Vorliegen einer vom SDQ-indizierten Belastung zwischen den Ausprägungen des Migrationshintergrunds nach dem Generationenkonzept, zeigt sich hier ein sehr ähnliches Bild wie bei der Abb. 2: Die Unterschiede zwischen den ersten vier Ausprägungen sind gering und unsystematisch,6 wohingegen die Zielpersonen der zweiseitigen 2. Generation und der ersten Generation deutlich seltener (ca. 20 Prozentpunkte) Unterstützung in Form von SSL in Anspruch nehmen. Wie bereits erwähnt, ist der SDQ nicht der einzige Bedarfsindikator für die Inanspruchnahme der fünf SSL. Deshalb sollten weitere Faktoren, die in den Daten von AID:A verfügbar sind, zusätzlich kontrolliert werden. Ein Blick auf die Erhebungsmerkmale der Kinder- und Jugendhilfestatistik (siehe den Beitrag Pothmann in diesem Band) zeigt, dass sowohl der Bezug von monetären sozialstaatlichen Transferleistungen als auch der Status „alleinerziehend“ die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen deutlich erhöht (z. B. Fendrich et al. 2016, S. 19 f.). Jungen und Mädchen reagieren unterschiedlich auf Belastungen, was auch etwa die unterschiedliche Verteilung des Geschlechts über die verschiedenen erzieherischen Hilfeformen in der Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigt. Auch das Alter spielt eine Rolle. Zum einen verweist das Alter in dieser Analyse auf den Risikozeitraum, weil nach der Lebenszeitprävalenz gefragt wurde. Mit zunehmendem Alter nimmt die Zeit zu, in der eine SSL in Anspruch genommen werden konnte. Zum anderen treten sowohl Verhaltensauffälligkeiten als auch Überforderungen von Eltern etwas vermehrt in der Adoleszenzphase auf und lassen daher eine Zunahme der Inanspruchnahme im höheren Alter der Kinder erwarten.

5Allerdings kann dies zu einem Zeitpunkt vor der Erhebung anders gewesen sein (vgl. vorhergehende Fußnote). 6Der vergleichsweise hohe Wert des Balkens der 3. Generation zweiseitig wird aufgrund der ihm zugrunde liegenden wenigen Fälle nicht inhaltlich interpretiert.

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ …

121

Die Bildung der Eltern ist ein Indikator für die sozialen und kulturellen Ressourcen, die einer Familie zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, mit Belastungssituationen zurechtzukommen. Über einen Interaktionseffekt zwischen Verhaltensauffälligkeiten (über dichotomisierte SDQ-Werte) und den oben beschriebenen Migrationsgenerationen kann geprüft werden, wie das Zusammenwirken beider Variablen zusätzlich zu den dazugehörigen Haupteffekten wirkt. Die Tab. 3 enthält beispielhaft die Ergebnisse zweier Modelle einer logistischen Regression mit den beschriebenen Prädiktoren. In dem ersten Modell in den Spalten 2 und 3 ist zu sehen, wie bereits nach den Ergebnissen der Abb. 3 zu erwarten war, dass ein grenzwertiger oder auffälliger SDQ-Wert die Chance einer Inanspruchnahme im Vergleich zu einem unauffälligen SDQ-Wert vervierfacht. Zusätzlich wurde in das Modell aufgenommen, ob der SDQ-Wert auf einer Selbsteinschätzung der Zielperson oder auf einer Fremdeinschätzung durch die Auskunftsperson (in der Regel die Mutter) beruht. Bis zum Ende des 12. Lebensjahrs wird der SDQ-Wert durch eine Fremdeinschätzung bestimmt, danach durch eine Selbsteinschätzung. Der Effekt dieser Variable stellt damit eine Mischung aus dem Alter der Zielpersonen und der Perspektive (Fremd- oder Selbsteinschätzung) auf Verhaltensauffälligkeiten dar. Es zeigt sich eine höhere Inanspruchnahme von SSL, wenn der SDQ-Wert auf einer Selbsteinschätzung basiert. Weiterhin zeigt sich, dass ein SGB II Bezug die Chance einer Inanspruchnahme um mehr als 50 % erhöht. Bei der Familienkonstellation, die durch vier Ausprägungen (Eltern verheiratet und zusammenlebend, nicht-eheliche Lebensgemeinschaft (NEL), Alleinerziehende (Single) sowie getrennt lebende Paare (LAT)) ermittelt wurde, zeigt sich, dass Elternteile ohne Partner/in im Haushalt, sei es als Single oder mit Partner/in in einem anderen Haushalt, eine vierfach höhere Chance der Inanspruchnahme von SSL haben. Auch das Geschlecht der Zielperson hat einen signifikanten Einfluss. Jungen zeigen stärker externalisierendes Problemverhalten (z. B. aggressives Verhalten gegenüber Anderen) während Mädchen mehr internalisierendes Problemverhalten zeigen (Autoaggression, Rückzug). Dies führt vermutlich dazu, dass für Jungen eher externe Hilfe in Anspruch genommen wird als für Mädchen. Auch der Effekt des Alters bestätigt die Erwartungen. Mit zunehmendem Alter wird eine Zunahme des Problemverhaltens (z. B. in der Pubertät) wahrscheinlicher. Da die Inanspruchnahme als Lebenszeitprävalenz erhoben wurde, steigt mit zunehmendem Alter auch die „Risikozeit“, d. h. der Zeitraum einer möglichen Inanspruchnahme. Das Bildungsniveau der Eltern hat unter Kontrolle der anderen Variablen keinen Einfluss auf die Inanspruchnahme der fünf hier betrachteten SSL. Deutlich anders ist dies z. B. bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (WHO 2013). Was das Konzept der Migrationsgenerationen betrifft, ist ein sehr ähnliches Muster, wie bei der bivariaten

122

E. van Santen

Tab. 3   Inanspruchnahme mindestens einer der fünf SSL (ja = 1; nein = 0); Logistische Regression Modell I SDQ grenzwertig/auffällig (Unauffällig)

Modell II

Exp (β)

p

Exp (β)

p

3,97

0,000

3,97

0,000

SDQ-Erhebung über ZP (über Eltern)

1,36

0,005

1,36

0,005

SGB II Bezug (kein SGB II Bezug)

1,56

0,005

1,56

0,005

4,03

0,000

4,03

0,000

Familienkonstellation (Eltern verheiratet) Single NEL

1,53

0,000

1,53

0,000

LAT

4,14

0,000

4,14

0,000

Männlich (Weiblich)

1,53

0,000

1,53

0,000

Alter in Jahren

1,06

0,000

1,06

0,000

Bildung der Eltern (Max. Hauptschulabschluss) Mittlerer Abschluss

0,89

0,340

0,89

0,340

Fachhochschulreife/Abitur

0,98

0,846

0,97

0,836

Fachhochschule/Universität

0,94

0,614

0,94

0,602

0,62

0,096

0,79

0,018

1,02

0,750

0,58

0,043

1,03

0,884

0,09

0,000

Migrationshintergrund nach Generationen (ohne MGH) 1. Generation 2. Generation zweiseitig

0,81

0,050

2. Generation einseitig

1,03

0,755

3. Generation zweiseitig

1,00

0,987

3. Generation einseitig

1,02

0,845

1. Generation # grenzwertig/auffällig

0,46

0,368

2. Generation zweiseitig # grenzwertig/auffällig

0,59

0,059

2. Generation einseitig # grenzwertig/auffällig

1,02

0,943

3. Generation zweiseitig # grenzwertig/auffällig

3,10

0,212

3. Generation einseitig # grenzwertig/auffällig

0,95

0,845

Konstante

0,09

0,000

Nagelkerkes Pseudo R2

14,5 %

14,5 %

Referenzkategorie in Klammern Quelle: AID:A – DJI-Survey 2015; n = 8.756; 3- bis 17-Jährige; eigene Berechnungen

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ …

Ohne MGH

30 %

3. Generation einseitig

30 %

3. Generation zweiseitig

30 %

2. Generation einseitig

31 %

2. Generation zweiseitig 1. Generation

26 % 21 %

SDQ grenzwertig/auffällig

123

63 % 62 % 84 % 64 % 45 %

32 %

SDQ unauffällig

Abb. 3   Geschätzte Inanspruchnahme mindestens einer der fünf SSL nach Migrationshintergrund und SDQ (Angaben in %)

Betrachtung (Abb. 1 und 2), zu beobachten. Während Eltern von Zielpersonen der 1. Generation sowie der 2. Generation mit zweiseitigem Migrationshintergrund seltener SSL in Anspruch nehmen, unterscheiden sich alle anderen Gruppen mit Migrationshintergrund nicht erkennbar von der autochthonen Bevölkerung. Dasselbe Muster zeigt sich bei den Interaktionseffekten zwischen dem Migrationsgenerationenkonzept und den dichotomisierten SDQ-Werten. Allerdings überschreitet keiner der Effekte die üblichen Signifikanzgrenzwerte, auch wenn sie nicht weit davon entfernt sind. In dem Modell II (Spalte 4 und 5 der Tab. 2) wurden die beiden Gruppen mit Migrationshintergrund, die sowohl in der bivariaten Betrachtung als auch im Modell I der logistischen Regression ähnliche Effekte aufwiesen, zusammengefasst. Hier bestätigt sich das Bild, dass die Gruppe, die der deutschen Aufnahmegesellschaft (noch) „am fremdesten“ ist, am wenigsten SSL in Anspruch nimmt: Sowohl der Haupteffekt als auch der Interaktionseffekt zwischen Problembelastung und Migrationsstatus sind signifikant. Das heißt, die Inanspruchnahme bei der Gruppe der Migranten und Migrantinnen der 1. und zweiseitigen 2. Generation ist im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund niedriger und fällt noch weiter, wenn sie Probleme haben. Um die Ergebnisse des Modells I der logistischen Regression anschaulich zu machen, sind in der Abb. 3 Schätzwerte für den Anteil der Inanspruchnahme mindestens einer der fünf SSL getrennt nach Migrationsgenerationen und Verhaltensauffälligkeiten (grenzwertiger bzw. auffälliger SDQ) dargestellt. Alle anderen Variablen des Modells

124

E. van Santen

wurden auf folgende Werte festgelegt: Eltern maximal Hauptschulabschluss, Zielperson männlich, Alter 15 Jahre, Eltern verheiratet und zusammenlebend, kein SGB II Bezug. Ebenso wie in der Abb. 3 zeigen sich relativ geringe Unterschiede bei unauffälligen SDQ-Werten. Anders ist dies wiederum bei den grenzwertigen oder auffälligen SDQ-Werten: Bei der 1. Generation sind es im Vergleich zu den anderen Generationen mindestens 30 Prozentpunkte weniger, während es bei der 2. Generation mit zweiseitigem Migrationshintergrund immerhin mindestens 17 Prozentpunkte weniger sind.

4.2 Resümee der Analysen Bezogen auf die anfangs diskutierten Erklärungsansätze zur Inanspruchnahme von SSL, stellt sich die Frage, ob die geringere Inanspruchnahme bei Kindern der 1. Generation sowie der 2. Generation mit zweiseitigem Migrationshintergrund ein Effekt institutioneller Diskriminierung oder individueller Merkmale der Anspruchsberechtigten ist. So interessant und wichtig diese Frage ist, kann sie mit den vorliegenden Daten und den darin enthaltenen Informationen nicht abschließend beantwortet werden, da weder Informationen über das institutionelle Handeln noch über das Wissen und die Einstellungen der Anspruchsberechtigten zu den einzelnen SSL vorliegen. Beide Effekte (Institutionen- und Individualeffekte) schließen einander nicht aus, sondern können gleichzeitig auftreten. Die Ergebnisse zu dem zugrunde gelegten Migrationsgenerationenkonzept legen nahe, dass das Wissen über die Existenz und die Funktionsweise von SSL deren Inanspruchnahme steigert. Insofern ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, Zugewanderte aktiv und intensiv über die verschiedenen Möglichkeiten und Regelungen der gesellschaftlichen Hilfe und Unterstützung in Problemsituationen aufzuklären, damit auch sie diese Leistungen bei Bedarf in Anspruch nehmen können. Neben den inhaltlichen Ergebnissen wird an den vorgelegten Analysen deutlich, wie die AID:A-Daten auch für Forschung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe genutzt werden können.

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Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ …

125

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126

E. van Santen

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Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam Sabine Walper, Barbara Wilhelm und Carolin Thönnissen

1 Einleitung Während sich Fragen zur Struktur der Kinder- und Jugendhilfe vergleichsweise gut mit offiziellen Daten abbilden lassen (vgl. KOMDAT1), mangelt es

1Kommentierte

Daten der Kinder- und Jugendhilfe der Dortmunder Arbeitsstelle Kinderund Jugendhilfestatistik; siehe (http://www.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/Komdat/2018_ Heft1_KomDat.pdf). Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut, Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Mit-Initiatorin des deutschen Beziehungs- und Familienpanels pairfam. Dr. Barbara Wilhelm, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Beziehungs- und Familienpanel pairfam. Dr. Carolin Thönnissen, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Beziehungs- und Familienpanel pairfam. S. Walper (*)  Deutsches Jugendinstitut (DJI), München, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Wilhelm · C. Thönnissen  Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Thönnissen E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_7

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insbesondere an Verlaufsdaten, die Informationen zur Inanspruchnahme von Angeboten mit Daten zur individuellen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen verbinden. Gleichzeitig beziehen sich zentrale Fragestellungen der ­Kinderund Jugendhilfe vielfach auf solche Verlaufsdaten: Wie gestaltet sich die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen im Entwicklungsverlauf und welche ­ Faktoren sind hierfür ausschlaggebend? Wie reagieren Eltern auf Probleme in der Erziehung ihrer Kinder? Welche Vorgeschichte weisen Eltern und Kinder auf, bevor sie Beratungsleistungen oder Angebote der Familienbildung in Anspruch nehmen? Wie verändern sich daraufhin die Entwicklungsperspektiven und Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen? Auch wenn sich solche Fragestellungen ansatzweise mit Hilfe von Retrospektivbefragungen bearbeiten lassen mögen, sind die Antworten selten befriedigend, denn retrospektive Daten unterliegen vielfältigen Verzerrungen und Fehlermöglichkeiten (Voges et al. 2003; Schupp et al. 1996). Umso wertvoller sind die Möglichkeiten der Längsschnittforschung, wie sie das Beziehungs- und Familienpanel pairfam („Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics“) eröffnet. Pairfam ist nicht eigens als Studie zur Kinder- und Jugendhilfe initiiert worden, sondern ist wesentlicher Bestandteil der Dateninfrastruktur der Familienforschung. Wie in diesem Kapitel beschrieben wird, bietet pairfam jedoch auch interessante Forschungsoptionen für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. So liegen seit der ersten Erhebung in 2008/2009 jährliche Befragungsdaten von Müttern, Vätern, Kindern und Jugendlichen aus nunmehr zehn Jahren vor, die breite Analysemöglichkeiten eröffnen. Durch die Einbeziehung einer neuen Geburtskohorte von Jugendlichen in 2018/2019 erweitern sich diese Optionen nochmals deutlich und so können nun auch Fragen zum sozialen Wandel methodisch angemessen aufgegriffen werden. Im Folgenden gehen wir zunächst kurz auf die Entstehung und Zielsetzungen von pairfam ein, erläutern das Design und geben einen groben Überblick über das Befragungsprogramm. Anschließend werden einzelne Forschungsfragen der Kinder- und Jugendhilfe illustriert, die sich anhand der pairfam-Daten bearbeiten lassen. Abschließend informieren wir über den Zugang zu den Daten und den verfügbaren User-Support.

2 Zielsetzungen von pairfam Zentrale Fragestellungen der Familienforschung, die sich auf die Verbreitung und Dynamik privater Lebensformen, auf die Gestaltung und Entwicklung enger Beziehungen und deren Bedeutung für individuelles Wohlergehen beziehen,

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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lassen sich nur im Rahmen aufwendiger, längsschnittlicher Wiederholungsbefragungen mit umfangreichen, repräsentativen Stichproben beantworten. Bevor das Beziehungs- und Familienpanel pairfam im Jahr 2008/2009 auf den Weg gebracht wurde, fehlten in Deutschland solche Daten bzw. waren nur teilweise und eingeschränkt – etwa im Rahmen des sozio-oekonomischen Panels (SOEP; vgl. den Beitrag von Pagel/Schupp in diesem Band) – verfügbar. Entsprechend begrenzt waren die Optionen der hiesigen Familienforschung. Gleichzeitig war mehr als deutlich, dass sich private Lebensformen und die Ausgestaltung familialer Beziehungen hier wie auch in anderen Ländern merklich geändert hatten (Peuckert 2008; Nave-Herz 2012). Insbesondere die Institutionalisierung von Partnerschaften und die Wege in die Elternschaft hatten einen Wandel erfahren. Um eine tragfähige Dateninfrastruktur zur Untersuchung von individuellen, partnerschaftsbezogenen und familialen Entwicklungsverläufen im Kontext privater Lebensformen in Deutschland verfügbar zu machen, wurde pairfam als bundesweit repräsentative, multidisziplinäre Längsschnittbefragung konzipiert (Huinink und Feldhaus 2008). Die thematischen Schwerpunkte des Panels beziehen sich auf Fragen 1) zur Partnerwahl, zur Gestaltung und Stabilität von Partnerschaftsbeziehungen, 2) des Kinderwunsches sowie der Planung und Realisierung von Fertilität, 3) zu Elternschaft, Erziehung und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie 4) zu intergenerationalen Beziehungen über bis zu drei Generationen hinweg. Damit pairfam für die Familienforschung in den hierauf bezogenen Disziplinen möglichst breite Anknüpfungsmöglichkeiten bietet, wurde ein handlungstheoretisch-systemisch fundiertes Rahmenkonzept zugrunde gelegt, das sich an Konzepten der Lebenslaufforschung orientiert (Huinink und Feldhaus 2009). Damit lässt sich individuelles Handeln im Kontext sozialer Beziehungen vor dem Hintergrund biografischer, systemischer und sozial-struktureller Einflussfaktoren betrachten (für eine detaillierte Beschreibung des Rahmenkonzepts von pairfam siehe Huinink et al. 2011). Ein wesentliches Anliegen war es, den systemischen Aspekt des individuellen und familialen Handelns angemessen abbilden zu können und hierbei den unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Akteure Rechnung zu tragen. Pairfam ist daher als Multi-Actor-Befragung konzipiert, die es erlaubt, das Verhalten und die Orientierungen unterschiedlicher familialer Akteure in Bezug zueinander zu setzen. Familien werden nicht lediglich über die Haushaltszugehörigkeit bestimmt, sondern es werden auch multi-lokale Beziehungssysteme im Generationenverbund, in Paarbeziehungen nicht zusammenlebender Partner und in Trennungsfamilien berücksichtigt. Seit 2008/2009 stellt pairfam im Jahresturnus neue Daten zur Verfügung, die interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für Forschungszwecke

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zugänglich sind. Zunächst wurde pairfam in einer Vorbereitungs- und Startphase über ein Schwerpunktprogramm und seit 2010 im Langfristprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

3 Das Forschungsdesign Um sowohl Aussagen zu individuellen, partnerschaftlichen sowie familialen Entwicklungsverläufen zu ermöglichen als auch Fragen zum sozialen Wandel beantworten zu können, ist pairfam als Kohorten-Sequenz-Studie angelegt (ausführlich siehe hierzu Brüderl et al. 2018). Den Ausgangspunkt der Stichprobenziehung bildeten sogenannte Ankerpersonen unterschiedlicher Geburtsjahrgänge, die bundesweit repräsentativ über Einwohnermeldeämter gezogen wurden. Die Erhebungen werden von Kantar Public (ehemals TNS Infratest Sozialforschung) jährlich jeweils im Zeitraum von Oktober bis Frühjahr des Folgejahres durchgeführt. In der ersten Erhebung (2008/2009) wurden drei Geburtskohorten einbezogen (vgl. Abb. 1): 1) Jugendliche der Geburtsjahrgänge 1991–1993 (bei der Erstbefragung im Alter 15 bis 17 Jahre), 2) junge Erwachsene der Geburtsjahrgänge

Abb. 1   Kohorten-Sequenz-Design des pairfam-Panels unter Berücksichtigung der Aufstockung der Stichprobe

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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1981–1983 (bei der Erstbefragung im Alter 25 bis 27 Jahre) und 3) mittlere Erwachsene der Geburtsjahrgänge 1971–1973 (bei der Erstbefragung im Alter 35 bis 37 Jahre). Vorgegeben war ein Stichprobenumfang von 4000 Befragten jeder Alterskohorte. In Welle 11 (2018/2019) erfolgte nicht nur eine Aufstockung durch neue Ankerpersonen der beiden jüngeren Kohorten, sondern es wurde auch eine neue Kohorte einbezogen, die in den Jahren 2001–2003 geboren und zum Zeitpunkt ihrer Erstbefragung 15 bis 17 Jahre alt waren (angestrebtes N: 3000). Damit sind erstmals Kohortenvergleiche im Sinne von Zeitwandelanalysen möglich. Von besonderem Interesse für Fragestellungen der Kinder- und Jugendhilfe dürften hierbei die Zeitvergleiche für die jüngste Kohorte sein. Abb. 2 illustriert das Multi-Actor-Design von pairfam. Seit der ersten Erhebung werden die Partner derjenigen Befragten einbezogen, die angeben eine Partnerin bzw. einen Partner zu haben und mit der Befragung einverstanden sind. Seit der zweiten Welle werden auch Kinder der Ankerpersonen einbezogen. Zu allen leiblichen und im Haushalt lebenden Kindern der Ankerpersonen liegen Basisdaten aus der Ankerbefragung vor. Zusätzlich werden für Kinder, die im Verlauf des pairfam-Panels geboren wurden, vertiefte Informationen durch die Ankerperson erfasst. Kinder im Altersbereich von 8 bis 15 Jahren werden selbst befragt. Zu ­diesen Kindern liegen auch Daten aus der Erziehungsbefragung der Ankerpersonen sowie ggf. deren Partnerinnen bzw. Partner vor, die Angaben zum

Abb. 2   Multi-Actor-Design des pairfam-Panels

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S. Walper et al.

eigenen Erziehungsverhalten, zur Eltern-Kind-Beziehung und zur Verhaltensentwicklung der Kinder umfassen. Während zunächst in Welle 2 nur die Angaben zum jüngsten im Haushalt lebenden Kind zwischen 8 und 15 Jahren erfasst wurden, hat sich inzwischen die Erziehungs- und Kinderbefragung ausgeweitet. Sie bezieht sich seit Welle 3 auf alle Kinder im Haushalt, die 8 Jahre alt geworden sind oder auf Kinder im entsprechenden Altersspektrum (8 bis 15 Jahre), die zwi­ schen den Wellen in den Haushalt der Ankerperson gekommen sind (z. B. durch das Zusammenziehen mit einer Partnerin bzw. einem Partner mit Kind[ern] bzw. durch die Gründung einer Stieffamilie). Entsprechend können ab Welle 3 meh­rere Kinder eines Haushalts befragt werden. Damit sind auch Vergleiche von Geschwisterkindern möglich. Zudem wurde die Erziehungsbefragung ab Welle 7 auf jüngere Kinder (ab 6 Jahre) und ab Welle 6 auf leibliche Kinder, welche außerhalb des Haushalts der Ankerperson leben, ausgeweitet. Mit der ­letztgenannten Erweiterung wurde angestrebt, auch die Beziehung getrenntlebender Eltern zu ihren Kindern näher beleuchten zu können. Erreichen die Kinder das Alter von 16 Jahren, endet die Kinderbefragung und sie können seit Welle 4 als sogenannte „Step-Ups“ in die Haupt- bzw. Ankerbefragung wechseln. Ergänzend zu den Themen der Ankerbefragung sind für Step-Ups auch altersspezifische Themen (z. B. Fragen zum Risikoverhalten) im Erhebungsprogramm enthalten. Parallel hierzu beantworten die Ankerpersonen und ihre Partnerinnen bzw. Partner seit Welle 9 den Erziehungsfragebogen zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen (PAYA, „Parenting Adolescents and Young Adults“). Tab. 1 gibt hierzu einen Überblick. Von Welle 2 bis Welle 8 wurden auch die Eltern (leibliche sowie Stief-, Pflegeoder Adoptiveltern) der Ankerpersonen befragt. Angesichts komplexer Familienstrukturen konnte diese Befragung bis zu vier Personen umfassen und war nicht an die Haushaltszugehörigkeit der Eltern gebunden. Da sich jedoch die Gewinnung der Adressen als schwierig erwies und der Rücklauf entsprechend gering war, wurde die Elternbefragung nach Welle 8 eingestellt. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Module der Multi-Actor-Befragung und gibt an, wie Informationen zu Kindern unterschiedlicher Altersgruppen im Selbstbericht und aus Perspektive der Ankerpersonen sowie deren Partnerin bzw. Partner erfasst werden (siehe auch Brüderl et al. 2018). Die im Durchschnitt etwa einstündige Befragung der Ankerpersonen erfolgt durch geschulte Interviewerinnen und Interviewer über ein computergestütztes, persönlich-mündliches Interview (CAPI, „Computer-Assisted-Personal-­ Interview“), das in aller Regel im Haushalt der Ankerperson durchgeführt wird. Sensible Fragen aus dem Befragungsprogramm werden von den Teilnehmern selbstständig am Laptop der Interviewerinnen und Interviewer beantwortet (CASI,

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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Tab. 1   Kind- und elternschaftsbezogene Module der Multi-Actor-Befragung Befragungsperson

Hauptinstrument

Zu Kindern unter 6 Jahren

Zu Kindern 6–15 Jahrenb

Zu Kindern 16–22 Jahren

Anker

Ankerbefragung

Alterspezifische Module in Ankerbefragunga

Erziehungsfragebogen

PAYAc

Partner/in

Partnerbefragung

Erziehungsfragebogen zu Kindern unter 6 Jahrenf

Erziehungsfragebogen

PAYAd

Kind(er) 8–15 Jahrena

Kinderbefragung

Kind(er) ab 16 Jahrene

Ankerbefragung

Eltern v. Anker

Elternbefragung

aab

Welle 2, für Kinder im Haushalt der Ankerperson Welle 2; bis Welle 6 nur Kinder 8–15 Jahre, ab Welle 7 auch Kinder 6–7 Jahre; bis Welle 5 nur Kinder im Haushalt der Ankerperson, ab Welle 6 auch leibliche und Adoptivkinder außerhalb des Haushalts, zu denen Kontakt besteht cab Welle 9, für Kinder im Haushalt und leibliche oder Adoptivkinder außerhalb des Haushalts, zu denen Kontakt besteht dab Welle 9, für Kinder im Haushalt und leibliche oder Adoptivkinder des Paares außerhalb des Haushalts, zu denen Kontakt besteht eab Welle 4, nur Kinder, die zuvor an der Kinderbefragung teilgenommen haben fab Welle 11 bab

„Computer-Assisted-Self-Interview“). Auch die etwa 20-minütige Befragung der Kinder wird als CAPI-Interview (für Kinder ab 12 Jahren mit CASI-Teilen) durchgeführt. Die Partnerinnen und Partner der Zielpersonen werden in Form eines schriftlichen Fragebogens befragt (PAPI, „Paper-and-Pencil-Interview“), der in reduziertem Umfang identische Themenbereiche und Fragen wie die Ankerbefragung enthält. Auch die Befragung der Eltern erfolgte schriftlich-­ ­ postalisch (PAPI). Mit Befragung dieser weiteren Personen bieten die pairfam-­ Daten eine ideale Grundlage für dyadische und multiperspektivische Analysen.

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4 Die Stichprobe Realisiert wurde im ersten Befragungsjahr 2008/2009 eine Stichprobe von insgesamt 12.402 Ankerpersonen und 3743 Partnerinnen und Partner. Erwartungsgemäß gab es insbesondere zwischen Welle 1 und 2 größere Stichprobenausfälle; die Panelstabilität betrug 73 %, mit merklichen Unterschieden zwischen den Kohorten (jüngste 82 %, mittlere 65 %, älteste Kohorte 71 %). Mittlerweile erreicht pairfam jedoch eine Panelstabilität von 91 % (Brüderl et al. 2018). Durch die Integration einer ostdeutschen Zusatzstichprobe der beiden älteren Kohorten (DemoDiff, „Demographic Differences in Life Course Dynamics in Eastern and Western Germany“), die ab Welle 2 ebenfalls zunächst mit dem weitgehend identischen Erhebungsprogramm befragt und seit Welle 5 vollständig in pairfam integriert wurde, konnten die absoluten Verluste gemindert werden. In der aktuell v­ erfügbaren Welle 10 sind 4750 Ankerpersonen im Längsschnitt dabei. Außerdem gibt es in Welle 10 Daten von 1799 Partnerinnen und Partnern, 1282 Kinder haben an der Kinderbefragung teilgenommen und 1671 Erziehungsfragebögen wurden von Ankerpersonen sowie 1050 von der Partnerin bzw. dem Partner der Ankerperson ausgefüllt. Insgesamt 410 Jugendliche, die in früheren Erhebungswellen an der Kinderbefragung teilgenommen hatten, sind inzwischen als Step-Ups in die Ankerbefragung gewechselt (davon 122 Jugendliche erstmals in Welle 10). In Welle 10 haben 607 Ankerpersonen sowie 290 Partnerinnen bzw. Partner den PAYA-Fragebogen ausgefüllt. Tab. 2 gibt einen Überblick über die ­Ausgangsstichprobe und die in Welle 10 realisierte Stichprobe. Nicht gesondert ausgewiesen ist hierbei die beträchtliche Zahl der Kinder, die zwischenzeitlich an der ­ Kinderbefragung teilgenommen haben, ohne anschließend in die ­Ankerbefragung gewechselt zu haben. Selektivitätsanalysen, welche Welle 1 bis 6 der pairfam Studie mit der ursprünglichen Stichprobe (ohne DemoDiff) betrachten (siehe Müller und Castiglioni 2015a), legen nahe, dass die inhaltliche Fokussierung auf Familie und Beziehungen kein systematischer Grund war, im Laufe der Zeit nicht mehr an der Studie teilzunehmen. Singles sind nicht überproportional als Drop-outs vertreten. Allerdings scheiden Ankerpersonen, die nicht mit ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner im gemeinsamen Haushalt leben (LAT-Paare, „living apart together“), häufiger aus der Panel-Befragung aus. Vermutlich spielen hierbei mangelnde zeitliche Ressourcen eine Rolle, da diese Paare mehr Zeit in die Gestaltung der gemeinsamen Paarbeziehung investieren. Eine höhere Panel-Stabilität findet sich bei Ankerpersonen mit höherer Bildung, bei Teilzeitarbeit, für Personen in Ausbildung, Elternzeit, bei Besitz von Wohneigentum und wenn ein für den Anker gleichgeschlechtliche Inter-

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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Tab. 2   Stichprobe des pairfam-Panels (n und in %) Männer

Frauen

Gesamt

Befragte Partner/ innen

Befragte Kinder

Welle 1 (2008/2009) Anker Kohorte 1

2199 (51 %) 2135 (49 %) 4334 (100 %) 338 (50 %)



Anker Kohorte 2

2007 (50 %) 2009 (50 %) 4016 (100 %) 1428 (71 %) –

Anker Kohorte 3 1830 (45 %) 2222 (55 %) 4052 (100 %) 1977 (78 %) – Welle 10 (2017/2018) Anker Kohorte 1

709 (49 %)

728 (51 %)

1.437 (100 %) 334 (65 %)

3 (50 %)

Anker Kohorte 2

714 (46 %)

843 (54 %)

1.557 (100 %) 675 (80 %)

423 (65 %)

Anker Kohorte 3

753 (43 %)

1.003 (57 %) 1.756 (100 %) 790 (86 %)

856 (68 %)

Step-Ups • Neuzugang W9 • Zugang vor W9

71 (58 %) 139 (48 %)

51 (42 %) 149 (52 %)

122 (100 %) 288 (100 %)

6 (60 %) 41 (58 %)

viewerin bzw. Interviewer die Befragung durchgeführt hat. Migration, ländlicher Wohnraum und die Weigerung intime Fragen zu Sexualität oder Einkommen zu beantworten, führen zu einer signifikant geringeren Panel-Bereitschaft. Die Anzahl der Items im Interview, die von der jeweiligen Lebenssituation abhängen sowie die Zustimmung zur Befragung von Partnern bzw. Partnerinnen, Kindern und Eltern haben keinen Effekt auf die Wiederbefragungsbereitschaft. Ein weiterer, spezifisch untersuchter Risikofaktor für geringe Panel-Stabilität ist die Trennung von der Partnerin bzw. dem Partner (Müller und Castiglioni 2015b). Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die angeben zwischenzeitlich eine Trennung erlebt zu haben, scheiden häufiger in der Folgezeit aus dem Panel aus. Die subjektive Instabilität von Paarbeziehungen als möglicher Indikator für eine bevorstehende Trennung hat jedoch keinen Einfluss auf die Bereitschaft im Folgejahr an pairfam teilzunehmen.

5 Die Kinder- und Erziehungsbefragung Wie schon ersichtlich wurde, sind ab der zweiten Welle des Beziehungs- und Familienpanels vielfältige Informationen zu den Themen Erziehung, Elternschaft und kindliche Entwicklung Bestandteil der Erhebung. Diese basieren zum einen auf der Befragung von Kindern ab 8 Jahren („Kinderbefragung“) und zum

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S. Walper et al.

anderen auf Fragebögen für die Ankerperson und deren Partnerin bzw. Partner („Erziehungsbefragung“).

5.1 Die Kinderbefragung Waren es in Welle 2 zunächst 800 Kinder, die an der Kinderbefragung teilnahmen, so sind die Zahlen bis Welle 5 im Zuge der Familienentwicklung annähernd kontinuierlich gestiegen. Seither nehmen jährlich rund 1.400 Kinder an der Befragung teil. Hierbei ist berücksichtigen, dass die Kinder im Zeitverlauf altersbedingt in diese Befragung hinein-, aber auch hinauswachsen. Erfragt werden Informationen zu zahlreichen Themengebieten: Schule, ElternKind-Beziehungen, Erziehungsverhalten der Eltern, Beziehungen zu Gleichaltrigen, zu Geschwistern und zu den Großeltern sowie Aspekte psychischer Gesundheit bzw. Verhaltensauffälligkeiten. Für ältere Kinder (ab 12 Jahren) werden außerdem die Persönlichkeit, der Selbstwert und erste Erfahrungen in romantischen Beziehungen thematisiert. Der Bereich Schule umfasst nicht nur Fragen zum Schultyp und zur Klassenstufe der Kinder, sondern gibt auch Auskunft über Noten, Klassenklima, elterliches Schulengagement sowie Bildungsaspirationen. Peerbeziehungen werden hinsichtlich sozialer Integration und Ablehnung durch Gleichaltrige, aber auch mit Fragen zum besten Freund bzw. der besten Freundin des Kindes erhoben. Hinsichtlich der Eltern-Kind-Beziehung und Erziehung werden die Kinder jährlich zu jedem im Haushalt lebenden Elternteil (Anker und ggf. Partnerin bzw. Partner) befragt, wobei unterschiedliche Aspekte der Beziehungsqualität (z. B. Verbundenheit, emotionale Sicherheit, Konflikte) und des Erziehungsverhaltens (z. B. Wärme, negative Kommunikation, Monitoring, Inkonsistenz) erfasst werden. Kinder aus Trennungsfamilien werden zusätzlich alle zwei Jahre zum getrennt lebenden Elternteil befragt, wobei sowohl die Kontakthäufigkeit als auch – parallel zu den Informationen für im Haushalt lebende Eltern – die Beziehungsqualität und das wahrgenommene Erziehungsverhalten erfragt werden. Des Weiteren gibt es Informationen zu wahrgenommenen Konflikten zwischen den Eltern im Haushalt der Kinder. Ergänzend zu den Informationen der Eltern gibt die Perspektive des Kindes einen differenzierten Einblick in deren familiale und außerfamiliale Lebenswelt.

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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5.2 Die Erziehungsbefragung Die Erziehungsbefragung wird im Jahresturnus durchgeführt und richtet sich an Ankerpersonen sowie deren Partner und erfasst spezifische Informationen zu Kindern im Altersbereich von 6 bis 15 Jahren. Die Auswahl der Zielkinder der Erziehungsbefragung war zunächst auf diejenigen Kinder beschränkt, die auch an der Kinderbefragung teilnehmen durften. Mittlerweile wurde diese Restriktion aufgehoben und die Erziehungsbefragung sukzessive ausgeweitet. Inzwischen erfolgt die Auswahl nach den folgenden Kriterien: a) Kind ist zwischen 6 und 15 Jahre alt und lebt im Haushalt der Ankerperson oder b) Kind ist zwischen 6 und 15 Jahre alt, leibliches oder adoptiertes Kind der Ankerperson, lebt nicht im Haushalt, aber es besteht Kontakt. Die Ankerperson und ggf. ihr im Haushalt lebender Partner werden gebeten, zu diesen Kindern den schriftlichen Erziehungsfragebogen (PAPI) auszufüllen, um darin aus ihrer Perspektive Auskunft zum Erziehungsverhalten, der Eltern-KindBeziehung, dem Verhalten des Kindes, dem Freizeitverhalten des Kindes sowie zu schulischen Themen zu geben. Damit liegen zumeist dyadische Informationen von beiden (leiblichen und/oder sozialen) Eltern der Kinder vor. Im Rahmen der Ankerbefragung und zum Teil auch in der Partnerbefragung sind zusätzliche Fragemodule zum Thema Kinder, Elternschaft und Erziehung integriert. Insbesondere in der Ankerbefragung sind spezifische altersgradierte Erhebungsinstrumente implementiert, um Informationen zu weiteren Kindern zu erhalten. Zu den zentralen Inhalten zählen hierbei etwa Fragen zur Schwangerschaft und Geburt (Neugeborene), zum Schlafverhalten und Temperament (Babys und Kleinkinder), zum Erziehungsverhalten und Verhalten der Kinder (Kleinkinder und [Vor-]Schulkinder), zu Betreuungsarrangements und der Gesundheit der Kinder (alle Altersgruppen). Allgemeine Fragen zu Ansprüchen und Zielen in der Erziehung, dem Erleben der Elternrolle und Problemen in der Abstimmung der Erziehung mit dem Partner bzw. dem anderen Elternteil (Coparenting), werden sowohl in der Anker- als auch in der Partnerbefragung erhoben.

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S. Walper et al.

6 Das Auswertungspotenzial der Daten Die Daten erlauben zahlreiche Analysemöglichkeiten für vielfältige Fragestellungen, die auch Themen der Kinder- und Jugendhilfe betreffen. Im Folgenden sollen zwei Bereiche aufgegriffen werden, um das Auswertungspotenzial der Daten zu illustrieren: 1) Eltern-Kind-Beziehungen und Erziehungsverhalten sowie deren Bedeutung für das Wohlergehen der Kinder und 2) die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten für Familien.

6.1 Eltern-Kind-Beziehung, Erziehung und das Wohlergehen der Kinder Informationen zur Verbreitung elterlicher Erziehungspraktiken, deren Einfluss auf das Wohlergehen der Kinder sowie zu relevanten Einflussfaktoren, die es Eltern erschweren, eine entwicklungsförderliche Erziehung zu realisieren, sind für weite Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe von entscheidender Bedeutung. Das gilt für die Erziehungsberatung, für Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung, die mit Eltern zusammenarbeiten und für Fachkräfte im ASD, die belastete Familien begleiten und betreuen. Pairfam bietet für diesen Bereich anwendungsorientierter Grundlagenforschung vielfältige Forschungsmöglichkeiten. Beispielhaft sind hier einige Themenstellungen herausgegriffen: Sozial-strukturelle Einflussfaktoren Nachteile mangelnder sozio-ökonomischer Ressourcen der Familie für Kinder und Jugendliche sind vielfach aufgezeigt worden, nicht nur für die Bildungschancen von Kindern (Baumert et al. 2006; Krüger et al. 2010), sondern auch für deren Gesundheit und Wohlbefinden (Lampert et al. 2016; Mielck 2001). Die pairfam-Daten lassen dieses Thema auf vielfältige Weise aufgreifen. In Bezug auf Rahmenbedingungen heutiger Elternschaft wurde untersucht, inwieweit sozio-ökonomische Faktoren das Erleben der Elternrolle beeinflussen (Wilhelm 2015). Zu geringe finanzielle Ressourcen – bemessen anhand der subjektiven Einschätzung der Befragten – gingen mit einem signifikant geringeren Kompetenz- und Autonomieerleben von Eltern einher, während die Bildung und Erwerbstätigkeit der Eltern keinen darüber hinausgehenden Effekt zeigten. Mit Blick auf die Zeit der Finanzkrise, in die die ersten Wellen des pairfam-Panels fielen, und in Anlehnung an das Familien-Stress-Modell (Conger et al. 2010)

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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konnte gezeigt werden, dass Jugendliche, die merkliche Einschnitte im Haushaltsbudget der Familie erlebten, auch vermehrte Belastungen der Eltern-KindBeziehung, insbesondere zum Vater, berichten (Walper und Fiedrich 2017). Nachteilige Effekte ökonomischer Deprivation auf die Zufriedenheit der Jugendlichen mit der Familie ließen sich auch zwei Jahre später weitgehend durch die geringere emotionale Nähe zu beiden Eltern und vermehrte Konflikte mit der Mutter erklären. Hinsichtlich des Selbstwertgefühls waren die negativen Effekte ökonomischer Deprivation in stärkerem Maße direkt, also kaum durch die Beziehung zu den Eltern vermittelt. Auch die Bedeutung der sozialen Herkunft für die schulische Leistungsentwicklung der Kinder im Verlauf von zwei Jahren wurde mit Daten des pairfam-Panels untersucht (Walper et al. 2015b). Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem vermittelnden Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung, des schulbezogenen Interesses der Eltern und deren Bildungsorientierung in der Erziehung. Hierbei zeigte sich, dass eine hohe Bildungsorientierung der Eltern nur dann einen positiven Einfluss auf die Leistungsentwicklung der Kinder hat, wenn auch die Verbundenheit der Kinder mit den Eltern hoch ist. Bei einer geringen emotionalen Verbundenheit waren demgegenüber die sozial-strukturellen Ressourcen der Familie ausschlaggebend. Dies spricht dafür, dass sich bildungsbezogene Anliegen der Eltern leichter im Kontext einer guten Eltern-Kind-Beziehung umsetzen lassen und dann auch sozial-strukturelle Barrieren überwinden können. Elternschaft und das Wohlbefinden von Eltern Pairfam bietet ein breites Analysepotenzial für Fragen zum Wohlbefinden von Eltern, da hierzu vielfältige Informationen von der frühen Phase der Familiengründung bis zu späteren Phasen der Familienentwicklung vorliegen. Am Übergang zur Elternschaft konnten so etwa Auswirkungen von geburtsbezogenen Risiken (Frühgeburt, geringes Geburtsgewicht, medizinisch notwendiger Kaiserschnitt, Geburtskomplikationen mit Gefährdung von Mutter und/oder Kind) auf das Wohlbefinden von Eltern untersucht werden (Gniewosz et al. 2017). Vor allem bei Eltern mit geringen Bildungsressourcen war das Wohlbefinden bei geburtsbezogenen Risiken noch drei Jahre nach der Geburt eingeschränkt. Aber auch Eltern mit hohem Bildungsniveau zeigten – zeitlich begrenzte – Belastungsreaktionen. Das Wohlbefinden von Eltern mit mittlerem Bildungsniveau war demgegenüber nicht durch geburtsbezogene Risiken beeinträchtigt, was für günstige Coping-Ressourcen dieser Gruppe spricht. Das Erleben der Mutter- und Vaterrolle wurde eingehender für Eltern älterer Kinder (im Alter von 8 bis 15 Jahren) untersucht (Wilhelm 2015). Hohe Kompetenzgefühle, weniger das Autonomieerleben, konnten positives Erziehungs-

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verhalten zwei Jahre später vorhersagen. Besondere Erkenntnisse ergaben sich zudem durch die Nutzung des dyadischen Analysepotenzials auf Paarebene: Querund längsschnittlich konnte gezeigt werden, dass Mütter und Väter sich sowohl im Erleben in der Elternrolle als auch in ihrem Erziehungsverhalten wechselseitig beeinflussen: Während beim Erleben in der Elternrolle die Väter Einfluss auf die Mütter nehmen, sind beim Erziehungsverhalten die Mütter Schrittmacher für die Väter. Erziehung und Eltern-Kind-Beziehungen im Familiensystem Die reichhaltigen Informationen, die pairfam zum Erziehungsverhalten der Eltern bietet, lassen an die internationale Erziehungsstilforschung anknüpfen (Walper et al. 2016), aber auch darüber hinaus problematische Konstellationen e­ lterlichen Erziehungsverhaltens abbilden (Christ 2017). Zentrale Indikatoren sind neben fehlender Wärme und mangelndem Monitoring (Informiertheit über Belange der Kinder) vor allem negative Kommunikation sowie psychologische Kontrolle (Barber 2002). Erste Bemühungen zur Identifikation von emotionaler Gewalt auf der Basis von Angaben der Eltern und Kinder wurden unternommen (Christ 2018). Viele – zumeist internationale – Befunde lassen darauf schließen, dass die Qualität der elterlichen Partnerschaft, insbesondere Konflikte zwischen den Eltern, deren Coparenting und Erziehungsverhalten negativ beeinflussen und auf diesem Weg Verhaltensprobleme und emotionale Belastungen der Kinder begünstigen (Davies et al. 2016; Langmeyer 2014). Analysen aus dem pairfam-Panel legen nahe, dass hierbei nicht nur das Ausmaß negativer Interaktionen zwischen den Eltern zu berücksichtigen ist, sondern auch das Fehlen von positiven Interaktionen (Zemp et al. 2018b). Zudem sind auch umgekehrte Einflüsse zwischen Elternkonflikten, Coparenting und Verhalten der Kinder in Rechnung zu stellen. Eine nähere Betrachtung von Veränderungen innerhalb von Familien im Verlauf von fünf Wellen des pairfam-Panels erbrachte, dass ein Anstieg von Coparenting-Problemen kein erhöhtes Problemverhalten der Kinder nach sich zog, wohl aber umgekehrt ein erhöhtes Problemverhalten der Kinder zu einem Rückzug der Väter und mehr Coparenting-Konflikten beitrug (Zemp et al. 2018a). Diese Befunde erweitern den bisherigen Erkenntnisstand, der vor allem auf Vergleichen zwischen Familien mit unterschiedlichem Konfliktniveau beruhte. Zur Bedeutung der Familienstruktur Der Einfluss einer Trennung der Eltern und einer nachfolgenden Stieffamilien-Gründung auf die Gestaltung von Eltern-Kind-Beziehungen auch über die Haushaltsgrenzen hinweg, sind vor allem international ein ­intensiv beforschtes Thema (Amato 2010; Amato et al. 2016; Hetherington 2006). Aktuelle Befunde hierzu aus Deutschland sind jedoch begrenzt. Insbesondere ­Stieffamilien wurden in der hiesigen Forschung vernachlässigt, sodass auch den Beratungsdiensten

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aktuelles Orientierungswissen fehlt. Bislang wurden die pairfam-Daten genutzt, um die Verbreitung unterschiedlicher Betreuungsarrangements mit Fokus auf geteilte Betreuung (Wechselmodell) in Trennungsfamilien zu ermitteln, Effekte einer elterlichen Trennung im Zeitverlauf zu untersuchen und die Beziehungen in Stieffamilien näher zu beleuchten. Die Analysen zu Betreuungsarrangements – festgemacht an den Übernachtungen der Kinder bei beiden Eltern – erbrachten, dass nur ein geringer Anteil (ca. 5 %) von Trennungsfamilien das Wechselmodell praktizieren (Walper 2016). Weit überwiegend verfügten diese Familien über bessere sozio-ökonomische Ressourcen. Eine positivere psychische Gesundheit der Kinder im Wechselmodell ließ sich nicht nachweisen. Um die Effekte einer elterlichen Trennung auf das Wohlbefinden von Kindern prospektiv (im Vergleich der Situation vor und nach der Trennung) zu untersuchen, wurden in verschiedenen Arbeiten die Daten der Jugendkohorte aus pairfam herangezogen (Feldhaus und Timm 2015; Walper et al. 2015a). Negative Effekte im Sinne einer erhöhten Depressivität zeigten sich hierbei vor allem bei Jugendlichen, deren Beziehung zu den Eltern schon vor der Trennung beeinträchtigt war (Feldhaus und Timm 2015). Schwache Nachteile fanden sich auch bei Jugendlichen aus Familien mit längerfristig alleinerziehenden Müttern, während sich Jugendliche aus Stiefvaterfamilien in ihrer Zufriedenheit mit Familie und Schule, der allgemeinen Lebenszufriedenheit sowie ihrem Selbstwertgefühl nicht von jenen unterschieden, die bei beiden leiblichen Eltern aufwachsen (­Walper et al. 2015a). Die Kontakthäufigkeit zum getrenntlebenden Vater erwies sich hierbei – wie in vielen anderen Studien – als unbedeutend. Allgemein zeigt sich ein weitgehend positives Bild der Beziehungen in Stieffamilien (Walper 2012). Insgesamt erweist sich die breit angelegte Längsschnittbefragung mit vergleichsweise enger Taktung der Erhebungen (im Jahresabstand) als großer Vorteil, um methodischen Herausforderungen zu begegnen: 1. Die Gestaltung von Eltern-Kind-Interaktionen wie auch die Kompetenz- und Verhaltensentwicklung von Kindern unterliegt vielfältigen gemeinsamen Einflussfaktoren (Drittvariablen). Da diese in pairfam angesichts des umfangreichen Erhebungsprogramms weitgehend kontrolliert werden können, ist die Aussagekraft der Befunde erhöht. 2. Die Wirkungsrichtung zwischen Erziehung und kindlicher Entwicklung ist nicht einseitig, da auch Dispositionen und Verhaltensweisen der Kinder das elterliche Erziehungsverhalten beeinflussen (Lösel et al. 2007; Petterson und Burke-Albers 2001). Längsschnittdaten erlauben die Modellierung solcher wechselseitigen Einflüsse.

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S. Walper et al.

6.2 Die Inanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungsangeboten Von besonderem Interesse dürften für die Kinder- und Jugendhilfe jene Daten sein, die sich auf die Inanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungs­ angeboten beziehen. Entsprechende Daten wurden in Welle 8 und Welle 10 erfragt: zum einen mit Blick auf individuelle Unterstützungsangebote, die für alle Ankerpersonen erfasst wurden, zum anderen mit Blick auf familienbezogene Unterstützungsangebote, zu denen nur Ankerpersonen mit minderjährigen KinAngebote der Familienbildung (z.B. Elternkurs)

1.9 3.9

Beratung bei Sorgerechts-/Umgangsfragen

1.9 3.7

Beratung in Familien- oder Erziehungsfragen in einer Beratungsstelle

3.8 6.7

Beratung druch Erzieher/innen oder Leher/innen in Kindergarten, Hort oder Schule

9.7 11.4 3.1 4.7

Schulpsychologische Beratung

15.4 17.8

Beratung durch den Kinderarzt Frühförderung für Kinder mit besonderem Förderbedarf

2.9 5.3 5 6.6

Kinder- und Jugendpsychotherapie

1.4 2.2

Sozialpädagogische Familienhilfe bei Ihnen zuhause

4.3 6.4

Beratung oder Hilfe durch das Jugendamt

2.2 3.5

Sonsge Angebote oder Hilfe

68.9 62.4

Nichts davon 0 Zwei-Jahres-Prävalenz

10

20

30

40

50

60

70

80

Lebenszeitprävalenz

Abb. 3   Prävalenzen der Inanspruchnahme familienbezogener Unterstützungsangebote (in Prozent; Mehrfachnennungen möglich)

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

143

dern befragt wurden. Abb. 3 zeigt, welche familienbezogenen Angebote erfasst wurden und von wie vielen Familien sie jemals (Lebenszeitprävalenz) bzw. in den letzten zwei Jahren (Zwei-Jahres-Prävalenz) in Anspruch genommen wurden. Datenbasis sind Auskünfte von 2585 Eltern aus Welle 8. Wie aus Abb. 3 ersichtlich, haben Eltern bemessen an der Lebenszeitprävalenz am häufigsten eine Beratung durch den Kinderarzt genutzt, gefolgt von der Beratung durch Erzieher/innen oder Lehrkräfte. Nur knapp 7 % der Eltern haben sich in Familien- oder Erziehungsfragen an eine Beratungsstelle gewandt. Ebenso viele Eltern haben für eines oder mehrere ihrer Kinder eine Kinder- und Jugendpsychotherapie in Anspruch genommen. Auch die Beratung durch das Jugendamt liegt in diesem Bereich. Angebote der Familienbildung haben nur knapp 4 % der Eltern genutzt. Am seltensten haben die Familien Unterstützung durch eine sozialpädagogische Familienhilfe im Haushalt erhalten (2,2 %). Dass nur 3,7 % aller Eltern angeben, Beratung bei Sorgerechts- und Umgangsfragen in Anspruch genommen zu haben, unterschätzt die Bedeutung dieser Beratung für Trennungsfamilien, da hier alle Familien berücksichtigt werden. Betrachtet man ausschließlich die Trennungsfamilien innerhalb der Stichprobe, so liegt die Inanspruchnahme dieser Beratungsform bei 10,3 % (Zwei-JahresPrävalenz: 5,1 %). Gleichzeitig wenden sich Trennungseltern auch häufiger als Eltern aus Kernfamilien in Familien- und Erziehungsfragen an eine Beratungsstelle (11,6 % vs. 4,5 %) und finden unter Umständen auch hier Unterstützung im Zuge einer elterlichen Trennung oder Scheidung. Ergänzend zu oder anstelle eines Beratungsbedarfs in sorgerechts- oder umgangsrechtlichen Fragen sind Beratungsstellen für Erziehungs- und Familienfragen auch stets Anlaufstelle für allgemeinere trennungs- und scheidungsbezogene Fragen der Eltern. Richtet man den Blick wieder auf die Gesamtheit aller Familien, so haben 62,4 % weder die genannten noch sonstigen Angebote oder Hilfen genutzt. Interessanterweise liegen die Angaben zur Inanspruchnahme dieser Angebote während der letzten zwei Jahre nicht wesentlich unter den Werten für die Lebenszeitprävalenz. So berichten 15,4 % der Eltern, in den vergangenen zwei Jahren Beratung durch den Kinderarzt erhalten zu haben. 5 % der Familien haben Kinder- und Jugendpsychotherapie in Anspruch genommen und 4,3 % wurden durch das Jugendamt beraten. Diese Daten lassen sich mit Informationen zu sozial-strukturellen Merkmalen der Familien, Merkmalen der Familienstruktur, dem Erziehungsverhalten der Eltern und Auffälligkeiten der Kinder verbinden, um näheren Aufschluss über Bedarfe und dem Zugang zu Angeboten zu erhalten. Zudem lassen sie sich auch mit Informationen zu psychosozialen Belastungen der Eltern und deren Inanspruchnahme individueller Beratungs- und Therapieangebote verknüpfen.

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7 Zugang zu den Daten des Beziehungs- und Familienpanels Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam bietet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, die Daten als Scientific-Use-File zu beziehen und für wissenschaftliche Analysen zu nutzen. Die im Rahmen des Projekts aufbereiteten, bereinigten und dokumentierten Daten stehen damit einer breiten Fachöffentlichkeit zur Verfügung. Aktuell erhältlich ist der Scientific-Use-File der ersten zehn Erhebungswellen (ZA5678 Datenfile Version 10.0.0 (2019), https:// doi.org/10.4232/pairfam.5678.10.0.0). Sämtliche Datensätze stehen in den Formaten von Stata und SPSS, jeweils als deutsch- und englischsprachige Version bereit. Darüber hinaus erhalten Datennutzerinnen und Datennutzer ein umfangreiches Informationspaket bestehend aus Codebüchern, Original-Fragebögen, Übersichten zu den Instrumenten, dem Rahmenpapier, dem Data Manual und Skalenmanual, den jährlichen Methodenberichten sowie zahlreichen weiteren Materialien. Für die Nutzung der Forschungsdaten ist beim pairfam-Nutzerservice ein entsprechender Antrag zu stellen. Nach erfolgter Prüfung des Antrags und Registrierung als Datennutzer kann das Datenpaket – verfügbar als Download oder auf CD-ROM – gegen eine geringe Gebühr über die Webseite des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften (GESIS, www.gesis.org) bezogen werden. Weitere Informationen zum Projekt und der Datenbasis, dem Datenzugang sowie eine Übersicht aller bekannten Veröffentlichungen mit Bezug auf das Beziehungs- und Familienpanel sind auf der projekteigenen Webseite (www.pairfam. de) zu finden. Darüber hinaus steht allen Interessenten sowie Nutzern der pairfam-Daten der Nutzerservice als Ansprechpartner für Fragen zur Verfügung.

8 Fazit Mit pairfam-Daten ist es möglich, die Entwicklung von Kindern ab der Geburt bis ins frühe Erwachsenenalter zu verfolgen. Von den Ankerpersonen erhalten wir die zentralen Angaben zur Entwicklung, Gesundheit, Betreuung, Eltern-Kind-­ Beziehung und Erziehung für Kinder von 0 bis 21 Jahren. Einige Bereiche werden dabei ebenso aus der Sicht des Kindes (Kinderbefragung) wie auch aus der Sicht des Partners (Erziehungsfragebogen zu Kindern unter 6 Jahren, Erziehungsfragebogen, PAYA) näher beleuchtet. Die außergewöhnlich breite Datenstruktur – längsschnittlich, multi-perspektivisch und dyadisch – bietet eine hervorragende Datenquelle für die Kinder- und

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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Jugendhilfe. Dieses besondere Potenzial wurde bislang weder von der Kinderund Jugendhilfe selbst, noch von der Kindheitsforschung, der Entwicklungspsychologie oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie vollumfänglich entdeckt und nutzbar gemacht. Dabei ließen hiesige Analyseoptionen gerade im Kinder- und Jugendhilfebereich neue Akzente setzen. Insbesondere Verlaufsdaten individueller Kindheits- und Familienbiografien würden es erlauben, künftig auch die Rolle unterschiedlicher Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe im Lebensverlauf in den Blick zu nehmen. Zudem könnten auch die diversen Unterstützungsangebote für Eltern in unterschiedlichen Phasen der Familienentwicklung hinsichtlich ihrer Inanspruchnahme und ihres Einflusses auf den weiteren Entwicklungsverlauf der Familien untersucht werden. Dies erhält umso mehr Gewicht, als sich mit pairfam sowohl normative als auch nicht-normative Übergänge im Lebensverlauf verfolgen lassen.

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S. Walper et al.

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Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam

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Das Nationale Bildungspanel (NEPS) als Datenangebot für Forschungsfragen der Kinder- und Jugendhilfe Jutta von Maurice, Tobias Linberg und Hans-Günther Roßbach Das Nationale Bildungspanel untersucht zentrale Bildungsentscheidungen und -prozesse sowie die individuelle Entwicklung von Kompetenzen von früher Kindheit bis in das hohe Erwachsenenalter. Dieser Blick auf Prozesse und Entwicklungen gelingt im Nationalen Bildungspanel durch die Wahl eines Paneldesigns, mit dem die gleichen Personen über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet werden. Sicherlich können mit den Daten des Nationalen Bildungspanels

Dr. Jutta von Maurice ist wissenschaftlich-koordinierende Geschäftsführerin des LeibnizInstituts für Bildungsverläufe e. V. (LIfBi) in Bamberg. Dr. Tobias Linberg war von 2009 bis 2018 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Nationale Bildungspanel am LIfBi tätig und arbeitet nun am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung. Prof. Dr. Hans-Günther Roßbach war von 2002 bis 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Elementar- und Familienpädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, von August 2012 bis Ende 2013 Projektleiter des Nationalen Bildungspanels und von 2014 bis 2017 Direktor des LIfBi. J. von Maurice (*)  LIfBi – Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e. V., Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Linberg  ISB – Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, München, Deutschland E-Mail: [email protected] H.-G. Roßbach  Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_8

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nicht alle Fragen der Kinder- und Jugendhilfe beantwortet werden. Die umfangreiche Erfassung von formalen, non-formalen und informellen Lerngelegenheiten sowie von Kompetenzen über den gesamten Lebenslauf hinweg eröffnet jedoch für die Kinder- und Jugendhilfe eine Vielzahl von interessanten Analysemöglichkeiten. In diesem Beitrag werden die Anlage des Nationalen Bildungspanels beschrieben und die für die Kinder- und Jugendhilfe besonders interessanten Themenbereiche und Untersuchungsgruppen herausgearbeitet. Exemplarisch werden Analysen zu sozialen und migrationsspezifischen Ungleichheiten sowie nicht-schulischen Lern- und Entwicklungskontexten von Kindern und Jugendlichen, die auf Daten des Nationalen Bildungspanels basieren, vorgestellt. Die Daten des Nationalen Bildungspanels stehen der Wissenschaftsgemeinschaft für weitergehende Forschungsfragen zur Verfügung. Der Beitrag skizziert daher abschließend ausgewählte Aspekte des Datenzugangs.

1 Das Nationale Bildungspanel – Themenbereiche und Design Im Nationalen Bildungspanel stehen sechs Dimensionen über den gesamten Lebenslauf hinweg im Zentrum: (1) Die Dimension „Kompetenzentwicklung im Lebenslauf“ fokussiert auf die individuelle Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzbereiche und Fähigkeiten. Dies umfasst domänenübergreifende kognitive Fähigkeiten, domänenspezifische kognitive Kompetenzen (Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften), Metakompetenzen (Metakognition, Informations- und Kommunikationskompetenz) sowie ausgewählte curriculums- oder berufsbezogene Kompetenzen (Artelt et al. 2013; Weinert et al. 2011). (2) Die Dimension „Motivationale Variablen und Persönlichkeitsaspekte im Lebenslauf“ lenkt den Blick auf Persönlichkeitsmerkmale (Temperament, Big Five) sowie Motivationsaspekte (Leistungsmotivation, allgemeine und fachspezifische Interessen, Selbstkonzeptvariablen) (Wohlkinger et al. 2011). (3) Die Dimension „Bildungsprozesse in lebenslaufspezifischen Lernumwelten“ betrachtet neben den formalen auch informelle und non-formale Lernumwelten (mit einem besonderen Fokus auf die Familie) sowie die parallele Wirkung und den Übergang zwischen den verschiedenen Lernumwelten (Bäumer et al. 2011). (4) Die Dimension „Soziale Ungleichheit und Bildungsentscheidungen im Lebenslauf“ beleuchtet das individuelle bildungsrelevante Entscheidungsverhalten und trägt so zum Verständnis sozialer Ungleichheit bei (Stocké et al. 2011). (5) Unter der Dimension „Bildungserwerb von Personen mit Migrationshintergrund im Lebenslauf“ stehen migrationsrelevante Merkmale (Muttersprache, Netzwerke von Menschen

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mit Migrationshintergrund) im Fokus (Kristen et al. 2011). (6) Die Dimension „Bildungsrenditen im Lebenslauf“ fokussiert schließlich nicht-ökonomische (Gesundheit, Zufriedenheit, gesellschaftliche Teilhabe) sowie ökonomische (Einkommen, Wohlstand, Karriere) Folgen von Bildung (Gross et al. 2011). Merkmale der sechs genannten Dimensionen weisen allesamt – wenngleich in unterschiedlichem Maße – Anknüpfungspunkte zur Kinder- und Jugendhilfe auf. So betrachtet – folgt man der grundlegenden Ausführung des Paragraph 1 des Sozialgesetzbuches SGB VIII (2017) – auch die Kinder- und Jugendhilfe im Kern die individuelle Entwicklung in ihren verschiedenen Facetten und die Lebensbedingungen, die eine positive Entwicklung fördern oder auch behindern können. Die Möglichkeit, eigene Kompetenzen sowie eine individuelle, gesunde Persönlichkeits- und Motivationsstruktur entwickeln zu können, und das Recht auf eine diesem Ziel zuträgliche Lernumwelt (in der Familie und darüber hinaus) verweisen unmittelbar auf die vorgenannten Dimensionen (1), (2) und (3). Auch die Dimensionen (4) und (5) verfügen über wertvolle Ansatzpunkte, da eine niedrige Sozialschicht und ein Migrationshintergrund nach wie vor oftmals mit Nachteilen für Kinder, Jugendliche und junge Menschen verbunden sind. Auch Dimension (6) berührt mit Aspekten, wie gesellschaftlicher Teilhabe, Lebenszufriedenheit und Gesundheit, zentrale Ziele der Kinder- und Jugendhilfe. Zur Untersuchung der oben genannten sechs Dimensionen folgt das Nationale Bildungspanel einem Multi-Kohorten-Sequenz-Design (vgl. Abb. 1). Dies bedeutet, dass nahezu zeitgleich Stichproben aus unterschiedlichen Altersgruppen und Lebensphasen für eine Teilnahme am Nationalen Bildungspanel gewonnen wurden und seither regelmäßig befragt sowie getestet werden. Alle Stichproben des Nationalen Bildungspanels sind dabei für die Situation in Deutschland repräsentativ gezogen – sie enthalten Menschen mit unterschiedlichster Kompetenz-, Persönlichkeits- und Motivationslage, Kinder, Jugendliche und Erwachsene in stark unterstützenden, entwicklungsförderlichen Umwelten sowie Kinder, Jugendliche und Erwachsene in schwierigeren Lebensumständen. Mit einem solchen Design können schnell für Deutschland repräsentative Daten zu unterschiedlichen Lebensphasen, Bildungsübergängen und Lerngelegenheiten bereitgestellt und zugleich eine Einheitlichkeit über den gesamten Lebenslauf hergestellt werden. In den Jahren 2009 bis 2012 wurden in sechs Startkohorten Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterschiedlichen Alters – von früher Kindheit bis in das Erwachsenenalter – für die Teilnahme am Nationalen Bildungspanel gewonnen. Dabei muss danach unterschieden werden, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, z. B. über Einwohnermeldeämter, als Individualstichproben oder über den Besuch von Einrichtungen, wie Kindergärten, Schulen oder Hochschulen, als Institutionenstichproben gewonnen wurden. Alle Stichproben wurden dabei

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J. von Maurice et al.

Abb. 1   Multi-Kohorten-Sequenz-Design des Nationalen Bildungspanels. (Adaptiert aus Blossfeld et al. 2011, S. 14)

repräsentativ für Deutschland gezogen und liefern damit eine belastbare Datenbasis für die Analyse von Bildungsprozessen und Kompetenzentwicklungen in Deutschland: • Startkohorte 1 „Bildung von Anfang an: Neugeborene“ (Individualstichprobe) In diese Startkohorte wurden im Jahr 2012 insgesamt 3431 Kinder im Alter von sechs bis acht Monaten aufgenommen (Schlesiger et al. 2011). Neben den Kindern werden auch deren Mütter und ggf. Betreuungspersonen (wie Tagesmütter und pädagogische Fachkräfte in den besuchten Kindertageseinrichtungen) berücksichtigt. • Startkohorte 2 „Frühe Bildung: Kindergartenkinder“ (Institutionenstichprobe) Im Jahr 2010 startete eine Kohorte von 3007 Kindern, die zum Ziehungszeitpunkt zwei Jahre vor der fristgerechten Einschulung standen (Berendes et al. 2011). Neben den regelmäßigen Kompetenzerhebungen mit den Kindern

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­ nden regelmäßige Befragungen der Eltern und der pädagogischen Fachkräfte fi statt. Im Jahr 2012 wurde die Stichprobe um 6342 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 1 ergänzt. Dabei handelt es sich insbesondere auch um Klassenkameradinnen und -kameraden der zu diesem Schuljahr eingeschulten Mädchen und Jungen der Kindergartenstichprobe. Im Schulkontext werden neben den Eltern nun auch Lehrkräfte und Schulleitungen befragt. Startkohorte 3 „Schule: Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 5“ (Institutionenstichprobe) Die im Jahr 2010 gezogene Startkohorte von 6112 Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 5 umfasst alle Schulformen (Frahm et al. 2011). Neben einer Befragung und Testung der in die Studie aufgenommenen Schülerinnen und Schüler umfasst das Erhebungsprogramm des Nationalen Bildungspanels auch hier regelmäßige Befragungen der Eltern, der Lehrkräfte und der Schulleitungen. Im Jahr 2012 wurde die Stichprobe um 2205 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 7 aufgestockt. Startkohorte 4 „Schule: Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 9“ (Institutionenstichprobe) Ebenfalls 2010 wurde eine Stichprobe von Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 9 rekrutiert und seither auf ihrem schulischen Weg und darüber hinaus begleitet (Wagner et al. 2011; Ludwig-Mayerhofer et al. 2011). Solange sich die Jugendlichen im Schulkontext befinden, stellt das Nationale Bildungspanel auch hier Daten der Eltern und der pädagogischen Fachkräfte bereit. Nach Verlassen der Schule werden die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen individuell begleitet. Startkohorte 5 „Hochschule: Studienanfängerinnen und Studienanfänger“ (Institutionenstichprobe) Die im Jahr 2010 rekrutierte Stichprobe von Studienanfängerinnen und -anfängern an deutschen Universitäten und Fachhochschulen umfasst 17.910 Teilnehmende (Aschinger et al. 2011). Diese werden seither auf ihren jeweiligen Bildungs- und Berufswegen begleitet. Startkohorte 6 „Lebenslanges Lernen: Erwachsene“ (Individualstichprobe) Die Stichprobe von 13.375 Erwachsenen im Alter von 23 bis 64 Jahren gibt ein Bild der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die weitgehend die formale Bildung abgeschlossen hat (Allmendinger et al. 2011). Die Stichprobe wurde 2009 rekrutiert und umfasst dabei eine bereits 2007 im Rahmen der Studie „Arbeiten und Lernen im Wandel“ befragte Teilpopulation. Eine Stichprobenaufstockung um weitere 5208 Erwachsene erfolgte im Jahr 2011.

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Unabhängig von ihren individuellen Bildungs- und Lebenswegen werden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer seit Aufnahme in das Nationale Bildungspanel in regelmäßigen Abständen befragt und getestet. Dabei kommen unterschiedliche (an die jeweilige Zielgruppe und Fragestellung angepasste) Erhebungsmethoden zum Einsatz, die von schriftlichen Befragungen über Interviews (persönlich vor Ort, per Telefon oder Internet) bis zu teils computerbasierten Gruppen- oder Einzeltestungen reichen. Die Daten des Nationalen Bildungspanels sind für die Kinder- und Jugendhilfe insbesondere verwertbar, da zumindest bis zum Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems auch die Eltern und die pädagogischen Fachkräfte (frühkindliche Betreuung, Erzieherinnen und Erzieher sowie Kindergartenleitungen, Lehrkräfte und Schulleitungen) detailliert zu den Hintergründen und Lerngelegenheiten der Kinder befragt werden.

2 Forschungsbeispiele mit den Daten des Nationalen Bildungspanels Da sich die Kinder- und Jugendhilfe nach Paragraph 1 und 7 des Sozialgesetzbuches SGB VIII (2017) mit Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen unter 27 Jahren befasst, sind die Daten der Startkohorten 1 bis 4 für Fragestellungen der Kinder- und Jugendhilfe von besonderem Ertrag. Die Daten des Nationalen Bildungspanels erlauben generalisierbare Aussagen über Kompetenzentwicklungen und Bildungsprozesse auch für jene, die nicht gradlinigen „Standardbiografien“ folgen. Im Kontext von Sekundäranalysen in der Kinder- und Jugendhilfe können beispielsweise Fragestellungen und Erkenntnisse mit Bezug auf soziale und migrationsspezifische Ungleichheiten sowie zu nicht-schulischen Lern- und Entwicklungskontexten (wie z. B. Kindertagesbetreuung und außerschulische Angebote) von Interesse sein. In diesem thematischen Rahmen wurde bereits eine Reihe von Sekundäranalysen mit Daten des Nationalen Bildungspanels durchgeführt und publiziert. Dieser Abschnitt stellt die Erkenntnisse einiger dieser Arbeiten für Zielpersonen vom Säuglings- bis in das Jugendalter vor.

2.1 Soziale und migrationsspezifische Ungleichheiten im Säuglings- und Kindesalter Während Jugendliche sich in ganz unterschiedlichen und oft auch selbstgewählten Kontexten bewegen, stellt im Säuglings- und Kleinkindalter die Familie die erste und wichtigste Umwelt für Entwicklungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse dar.

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Nach den ersten Lebensjahren kommt mit der Krippe oder dem Kindergarten eine neue, institutionelle Lernumwelt hinzu. Die im vorschulischen Alter ansetzenden Startkohorten des Nationalen Bildungspanels erheben daher eine Vielzahl an Merkmalen zur Qualität häuslicher und institutioneller vorschulischer Lernumwelten, mit denen auch die Entstehensbedingungen sozialer und migrationsspezifischer Ungleichheiten untersucht werden können. Entsprechend der im Nationalen Bildungspanel angelegten Konzeption von Lernumwelten wird zwischen Struktur-, Orientierungs- und Prozessmerkmalen unterschieden. Auf dieser Basis kann das Verhältnis von distaleren Merkmalen (wie z. B. Indikatoren des sozialen Hintergrunds) zu direkten Lernmöglichkeiten des Kindes (wie z. B. Interaktionen mit seiner unmittelbaren Umwelt) analysiert werden. In diesem Zusammenhang wurden in verschiedenen Publikationen, die im Folgenden vorgestellt werden, frühe Ungleichheiten im Entwicklungsstand und deren Korrelate mit Bedingungen in den relevanten Lernumwelten (Familie und Institutionen) aufgegriffen. Verschiedene Beiträge nutzten die Daten der Startkohorte 1 des Nationalen Bildungspanels, um die Qualität mütterlichen Interaktionsverhaltens im Umgang mit ihrem Säugling genauer zu beleuchten. Um diese zu erfassen, wurden Videoaufnahmen von semi-standardisierten Interaktionssituationen der Mütter mit ihren 7, 17 und 24 Monate alten Kindern angefertigt und analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die mütterliche Interaktionsqualität in Abhängigkeit von Merkmalen des sozioökonomischen Hintergrunds unterscheidet. Kinder erfahren zu Hause also bereits im Säuglingsalter nach sozioökonomischer Herkunft unterschiedliche Anregungen. Insbesondere Einkommensarmut und der mütterliche Bildungshintergrund sind relevante Prädiktoren und damit „Risikofaktoren“ für eine geringere Interaktionsqualität (Linberg et al. 2017). Weiterhin wurde untersucht, inwiefern Eigenschaften des Kindes – wie z. B. ein schwieriges Temperament – mit solchen Risikofaktoren zusammenwirken (Freund et al. 2017). Während ein schwieriges Temperament des Kindes in Familien ohne Risikofaktoren nicht mit einer Abnahme der Interaktionsqualität verbunden ist, kann eine solche zusätzliche Belastung in ohnehin risikobelasteten Familien nicht ausgeglichen werden. Interessanterweise lassen sich die in der Interaktionsqualität gefundenen frühen sozialen Disparitäten in diesem Alter noch nicht im sensomotorischen oder kognitiven Entwicklungsstand der Kinder nachweisen (Weinert et al. 2017). Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass die frühen sozioökonomischen Differenzen in der Interaktionsqualität eine Ausgangslage für später nachweisbare Disparitäten im Entwicklungsstand darstellen könnten. Neben familiären Kontexten sind Quantität und Qualität institutioneller vorschulischer Erfahrungen für den Entwicklungsstand von Kindern relevant. Während der Zusammenhang zwischen Indikatoren des sozioökonomischen

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Abb. 2   Schematische Darstellung der Einflussgrößen auf die Anmeldung und Inanspruchnahme einer Krippe. (Nach Burghardt 2017, S. 84)

Hintergrunds und der Inanspruchnahme eines Krippenplatzes gut belegt ist, zeigt Burghardt (2017; vgl. auch Abb. 2), dass neben praktischen Erwägungen insbesondere Orientierungsmerkmale, die in verschiedenen elterlichen Einstellungen gegenüber bzw. Erwartungen an frühe institutionelle Bildung, Erziehung und Betreuung gefunden werden können, deutlich mehr Bedeutung für die Entscheidung der Inanspruchnahme haben als die familiären Strukturmerkmale des sozialen Hintergrunds: „Drei Merkmale stehen vor allem mit der Anmeldung und späteren Inanspruchnahme in Verbindung: die Erwartung der Eltern, ob ein Krippenbesuch förderlich für die kindliche Entwicklung ist, die empfundene Wichtigkeit, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und die Informiertheit der Eltern über Betreuungsangebote“ (Burghardt 2017, S. 83). Dass die Kindergartenqualität für den kindlichen Entwicklungsstand relevant ist, konnte auch in aktuellen Querschnittsanalysen mit der Startkohorte 2 des Nationalen Bildungspanels gezeigt werden. So berichten etwa Camehl und Peter (2017), dass sich vier bis fünf Jahre alte Kinder häufiger prosozial verhalten, wenn sie eine Kindertageseinrichtung mit höherer Bildungs- und Betreuungsqualität besuchen. „Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der Kita-­ Qualität, denn das prosoziale Verhalten kann im späteren Lebensverlauf die schulischen Leistungen und auch die Arbeitsproduktivität und Teamfähigkeit verbessern. Zudem können sozioökonomische Unterschiede im prosozialen

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­ erhalten, die etwa auf die Bildung der Mutter zurückgehen, durch eine höhere V Kita-Qualität zumindest teilweise kompensiert werden. Eine weitere Verbesserung der Qualität von Kindertageseinrichtungen, z. B. durch einheitliche Mindeststandards, ist daher sinnvoll“ (ebd., S. 1197). Wenngleich eine hohe Kindergartenqualität mit kompensatorischen Potenzialen, wie z. B. in Bezug auf prosoziales Verhalten, in Verbindung gebracht werden kann, zeigen genauere Analysen sozioökonomischer und migrationsspezifischer Ungleichheiten, dass diese auch etwa ein Jahr vor der Einschulung im Sprachstand fünfjähriger Kindergartenkinder mitunter sehr groß ausfallen (Linberg 2017; Linberg und Wenz 2017). Die größten Differenzen im Sprachstand finden sich – auch unter Kontrolle verschiedener Kovariaten – zwischen den nach elterlichem Bildungs- und Migrationshintergrund unterschiedenen Gruppen. Dabei zeigen sich bei Betrachtung der Disparitäten über das sprachliche Leistungsspektrum der Kinder, dass vor allem im unteren Leistungsbereich große Lücken klaffen, während die Differenzen im höheren Kompetenzbereich wesentlich geringer ausfallen (vgl. dazu auch Abb. 3). Bei Betrachtung der Kompetenzverteilungen lassen sich soziale Ungleichheiten in Deutschland also weniger durch

Abb. 3   Verteilung sprachlicher Fähigkeiten von Kindergartenkindern in Abhängigkeit des elterlichen Bildungshintergrunds

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eine frühe Bildungselite, sondern vielmehr durch eine früh abgehängte Gruppe von Kindern aus Familien mit niedriger Bildungsherkunft und mit Migrationshintergrund charakterisieren (Linberg und Wenz 2017). Bei genauerer Betrachtung migrationsspezifischer Ungleichheiten (Relikowski et al. 2015) zeigen Kinder mit türkischem Migrationshintergrund zwar einen deutlich größeren Rückstand als Kinder, deren Eltern aus einem Land der früheren UDSSR zugewandert sind: „Durch Berücksichtigung sozialstruktureller und prozessualer Familienmerkmale reduzierten sich diese Differenzen. Variationen innerhalb der Gruppe von Zuwanderern ließen sich über den Sprachgebrauch in der Familie, die Muttersprache des Kindes und das Alter beim Eintritt in die KiTa erklären. Der Migrantenanteil einer KiTa trug nur unwesentlich zur Aufklärung der Kompetenzunterschiede bei“ (ebd., S. 135). In einem Beitrag von Neugebauer und Klein (2016) wurde weiterhin die Annahme geprüft, ob eine stärkere Präsenz von pädagogischen Fachkräften mit Migrationshintergrund in Kindertagesstätten zum Ausgleich von migrationsspezifischen Ungleichheiten beitragen kann. Hierbei wurde ersichtlich, „dass die Kinder bei Fachkräften mit Migrationshintergrund, entgegen der Annahme, keine höheren Kompetenzen erreichen; ebenso wenig zeigen sich positive Effekte bei der Zusammenarbeit mit zugewanderten Eltern. Mehr Fachkräfte mit Migrationshintergrund werden die ethnischen Bildungsnachteile kaum reduzieren“ (ebd., S. 259). Letztlich klären auch im Kindergartenalter familiäre Merkmale deutlich mehr Varianz im Entwicklungsstand von Kindern auf als Merkmale der institutionellen Bildung, Erziehung und Betreuung. Darüber hinaus konnte mit den Daten der Startkohorte 2 des Nationalen Bildungspanels gezeigt werden, dass neben direkten sprachlichen Anregungen in der häuslichen Lernumwelt (wie zum Beispiel der Häufigkeit, mit der Eltern ihren Kindern vorlesen) auch Eigenschaften der Kinder, insbesondere ihre Offenheit und Neugier, für die Erklärung früher sozialer Disparitäten von Bedeutung sind (Linberg 2017). Gerade solche Eigenschaften scheinen dabei auch protektive Faktoren darzustellen, die negative Effekte einer wenig anregenden häuslichen Lernumwelt und Nachteile, die im Zusammenhang mit der Bildungsherkunft stehen, abfedern können.

2.2 Lerngelegenheiten außerhalb der Schule Im Schulalter treten in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe insbesondere nicht-schulische Lerngelegenheiten in den Vordergrund. Solche Lerngelegenheiten lassen sich etwa in der Nutzung von Ganztagsangeboten oder Hortangeboten sowie in der Inanspruchnahme von Nachhilfe verorten. Auch hier erlauben die

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Daten des Nationalen Bildungspanels durch die theoretisch verortete, differenzierte Erfassung verschiedener Qualitätsdimensionen detaillierte Analysen. So waren etwa an den Ausbau von Ganztagsschulen große Hoffnungen gerichtet, dass diese besonders gute Bedingungen für die Förderung der Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern bieten können. Linberg et al. (2018) untersuchten diesbezüglich, unter welchen Bedingungen Zusammenhänge mit der Kompetenzentwicklung von der fünften bis zur siebten Klasse in den Bereichen Lesen und Mathematik sichtbar werden. Dabei konnten mit den Daten des Nationalen Bildungspanels sowohl verschiedene Formen von Ganztagsschulen unterschieden und individuelle Einschätzungen zur Attraktivität außerunterrichtlicher Angebote berücksichtigt als auch die Selektivität der Nutzung über eine Reihe von Kovariaten kontrolliert werden. Die Ergebnisse machen deutlich, dass außerunterrichtliche Angebote dann einen positiven Effekt auf die Kompetenzentwicklung haben, wenn diese von den Schülerinnen und Schülern auch als attraktiv wahrgenommen werden. Weder die schulische Organisationsform, noch die Nutzung von Förder- und Lernangeboten zeigen eigenständige Effekte auf die Entwicklung von der fünften bis zur siebten Klasse. In Einklang mit dem bisherigen Forschungsstand, der stark durch die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) geprägt ist (Fischer et al. 2011), wurde damit deutlich, dass es bei den extracurricularen Angeboten vor allem auf deren Qualität bzw. Attraktivität ankommt. Auch Effekte von Nachhilfeunterricht, als einem weiteren, viel diskutierten außerschulischen Lernkontext, wurden mithilfe der Daten des Nationalen Bildungspanels untersucht. Das Rahmenmodell für die Qualität außerschulischer Lerngelegenheiten ermöglicht dabei, in Bezug auf genutzte Nachhilfeangebote, die Unterscheidung zwischen den Qualitätsdimensionen der kognitiven Aktivierung, einem unterstützenden Lernklima sowie Aspekten der Strukturierung. Unter Verwendung der Daten der Startkohorte 4 fanden Guill et al. (2017) zum einen jedoch teilweise erwartungswidrige, schwach negative Zusammenhänge der Qualitätsdimensionen der Nachhilfe mit der Leistung der untersuchten Zehntklässlerinnen und -klässler. Die Autoren berichten aber zum anderen auch mitunter von stark positiven Zusammenhängen der Qualität der geleisteten Nachhilfe und der Qualifikation der Nachhilfekräfte: Je höher qualifiziert die Lehrkraft ist, umso kognitiv aktivierender wurde der Nachhilfeunterricht erteilt. „Zusammenfassend liegt eine Stärke des NEPS darin, dass die instruktionale Qualität im Nachhilfeunterricht vergleichsweise umfassend und differenziert, aber dennoch ökonomisch und theoretisch anschlussfähig an die Forschung zum Schulunterricht erfasst wurde. Uns ist keine andere Studie zu Nachhilfeunterricht im Bereich des Large-Scale-Assessments bekannt, die dies leistet“ (ebd., S. 92).

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Mit Bezug auf migrationsspezifische Ungleichheiten ist bekannt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund eine geringere Ausbildungsrate nach Verlassen der Sekundarstufe aufweisen, häufiger die Schule vorzeitig abbrechen und (damit) dem Arbeitsmarkt häufiger nur ohne Schulabschluss zur Verfügung stehen. In diesem Kontext nutzte Tjaden (2017) Daten der Startkohorte 4 des Nationalen Bildungspanels, um (die unter Kontrolle des sozioökonomischen Hintergrunds verbleibenden) Unterschiede zwischen Migranten und nicht-Migranten beim Übergang von der Schule in eine Ausbildung zu untersuchen. Migrantinnen und Migranten finden zwar seltener einen Ausbildungsplatz, was laut Tjaden (2017) in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken könnte, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ein geringeres Interesse an (Aus-)Bildung haben oder es ihnen an entsprechenden Ambitionen mangele, aber vielmehr scheint es sich bei diesen Jugendlichen um eine selektive Gruppe zu handeln. So zeigen die Ergebnisse eindeutig, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund im Allgemeinen oft motivierter und optimistischer in Bezug auf Bildungskarrieren sind und sich öfter gegen eine Ausbildung entscheiden, um das Ziel eines Studiums weiterzuverfolgen (vgl. ebd., S. 119).

3 Zugangsmöglichkeiten zu den Daten des Nationalen Bildungspanels Alle in den sechs Startkohorten des Nationalen Bildungspanels erhobenen Daten stehen der Wissenschaftsgemeinschaft für Forschungszwecke zur Verfügung. Um eine Nutzung zu ermöglichen, werden alle Datenbestände nach der Erhebung zunächst im Forschungsdatenzentrum des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe verarbeitet (Skopek et al. 2016). Dies beinhaltet Anonymisierungs- und Bereinigungsroutinen, aber auch umfangreiche Kodierungs- und Dokumentationsarbeiten. Beispielsweise liegen Standardkodierungen des sozioökonomischen Hintergrunds oder der ausgeübten Berufe sowie Hintergrundinformationen zu verschiedenen Befragungsskalen und Kompetenztestverfahren vor. Die so vorbereiteten Datensätze werden schließlich mit einer eindeutigen Kennung (Digital Object Identifier – doi – der Registrierungsagentur für Sozialund Wirtschaftsdaten da|ra) versehen, um die Datensätze auch langfristig eindeutig referenzierbar zu machen. Die aufbereiteten Daten stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für die Bearbeitung ihrer Forschungsfragen kostenfrei zur Verfügung; Voraussetzung ist die Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Einrichtung und der Abschluss eines Datennutzungsvertrags. Der Zugang ist – abhängig von dem

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Anonymisierungsgrad – über den Download von der Webseite des Forschungsdatenzentrums des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe, über eine Datenfernverarbeitung via RemoteNEPS und an Gastarbeitsplätzen am Standort Bamberg möglich (zu den Modalitäten des Datenzugangs vgl. auch die Informationen auf der Webseite des Forschungsdatenzentrums unter www.neps-data.de). Die Arbeit mit den Daten wird durch regelmäßige Nutzerschulungen sowie einen Nutzersupport über Telefon und Mail unterstützt. Eine jährliche Nutzerkonferenz und seit Januar 2018 auch ein Nutzerforum ermöglichen den direkten Austausch über die Datenbestände zwischen den Studien- und Datenverantwortlichen einerseits und den Datennutzerinnen und -nutzern andererseits. Bis Beginn des Jahres 2018 wurden die Daten des Nationalen Bildungspanels von mehr als 1600 Forschenden aus 1100 gemeldeten Projekten verwendet. Die dort bearbeiteten Forschungsfragen decken verschiedenste Themenbereiche aus unterschiedlichen Fachdisziplinen ab. Bezogen auf Fragen der Kinder- und Jugendhilfe liegen – wie in Kap. 2 dargestellt – bereits relevante Forschungsergebnisse vor. Viele genuin auf die Kinder- und Jugendhilfe bezogene Fragestellungen wurden jedoch noch kaum auf Basis der Daten des Nationalen Bildungspanels adressiert. Von daher eröffnen diese Daten in diesem Themenfeld ein weites sekundäranalytisches Potenzial.

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Die Haushaltspanelstudie sozioökonomisches Panel (SOEP) und ihre Potenziale für Sekundäranalysen Lisa Pagel und Jürgen Schupp 1 Das sozio-ökonomische Panel (SOEP) – eine Panelstudie seit 1984 Das sozio-ökonomische Panel (SOEP) ist eine Wiederholungsbefragung, die seit 1984 durchgeführt wird und die größte multidisziplinäre Studie dieser Art in Deutschland ist. Es werden jährlich fast 30,000 Personen in 15,000 Haushalten befragt (Göbel et al. 2019). Die 1984 in der alten Bundesrepublik begonnene Erhebung wurde noch im Juni 1990 in der ehemaligen DDR mit einer zusätzlichen Stichprobe ergänzt. Seitdem sind die Daten des SOEP repräsentativ und verallgemeinerbar für sämtliche im vereinten Deutschland lebenden Personen in Privathaushalten. Das SOEP wird seit 2003 unter dem Dach der Leibniz-Gemeinschaft als Teil der institutionalisierten Forschungsdateninfrastruktur vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Ländern gemeinsam gefördert und ist am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Lisa Pagel ist Doktorandin an der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS) an der Humboldt Universität zu Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im SOEP am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Jürgen Schupp ist Professor für Soziologie an der FU Berlin und Vize-Direktor des SOEP am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. L. Pagel (*) · J. Schupp  Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Schupp E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_9

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(DIW) Berlin angesiedelt. Über die Jahre gab es immer wieder Aufwuchsstichproben um einerseits der Panelmortalität entgegenzuwirken, andererseits wurde aber auch ein Oversampling für bestimmte Personengruppen durchgeführt, um differenzierte Analysen spezifischer Subgruppen zu ermöglichen. Von besonderer Relevanz für die Forschung im Bereich Kinder und Jugendliche (und somit auch die Kinder- und Jugendhilfe) sind dabei die Stichproben der Studie „Familien in Deutschland“ (FiD), welche vom Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und vom Bundesministeriums der Finanzen (BMF) in Auftrag gegeben wurde. Die rückwirkende Integration der Stichproben ab 2010 und ihre Überführung ins SOEP haben die Datenbasis vor allem im Bereich der Alleinerziehenden, der Mehrkindfamilien sowie der Familien im niedrigen Einkommensbereich nachhaltig verbessert und bereichert. Auch die Migrationsstichproben haben erwartungsgemäß viele Kinder in das SOEP gebracht (vgl. insbesondere die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten; Siegert und Rother in diesem Band). Die Anlage des SOEP war von Beginn an multidisziplinär und beinhaltet ökonomische sowie sozialwissenschaftliche Themengebiete und steht in der Tradition der wissenschaftlichen Sozialberichterstattung, deren Ziel die Dauerbeobachtung von sozialem Wandel und Wohlfahrtsproduktion ist. Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden vermehrt auch psychologische und verhaltenswissenschaftliche Konzepte mit in den Fragebogen aufgenommen (vgl. Wagner et al. 2007; Schupp et al. 2008). Alle erwachsenen Haushaltsmitglieder (ab 17 Jahren) werden jährlich von rund 500 geschulten Interviewerinnen und Interviewern zu objektiven und subjektiven Indikatoren ihrer Lebensbedingungen und ihres Wohlbefindens sowie ihrer Sorgen befragt. Zudem werden im Haushaltsfragebogen Proxyinformationen über die im Haushalt lebenden Kinder eingeholt (siehe Abschn. 2 und 3). Das SOEP ist somit auch eine verallgemeinerungsfähige Datenbasis um Fragestellungen zu Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland leben, zu beantworten. Auch verschiedene Geschwisterkonstellationen und Effekte der Geburtenreihenfolge lassen sich anhand der Daten untersuchen. Allerdings werden im Rahmen des SOEP keine Kinder in die Untersuchung einbezogen, die in Heimen oder ähnlichen Einrichtungen leben. Es werden bei der ersten Befragung Erwachsener im Lebenslauffragebogen jedoch retrospektiv Daten zur Biografie und über das Elternhaus erfragt. Seit dem Jahr 2000 wird dabei auch ermittelt, mit welchen Personen die Befragungsperson die ersten 15 Lebensjahre verbracht hat. Damit bietet sich mit dem SOEP die Möglichkeit, erwachsene Personen zu identifizieren, die mindestens einen Teil ihrer Kindheit in einem Heim verbracht haben. Mithilfe dieser Daten konnte beispielsweise der Zusammenhang zwischen einem Heimaufenthalt in der Kindheit und späterer Lebenszufriedenheit im Erwachsenenalter untersucht werden (Richter und Lemola 2014).

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2 Informationen zu allen Kindern im Haushalt Im Rahmen des Haushaltsfragebogens werden jedes Jahr auch Informationen über die minderjährigen Kinder erfasst, die in den befragten Haushalten leben (Proxyinformationen). Jedem Kind wird zudem über die im Adressprotokoll des Haushalts erhobenen Indikatoren sowohl die Personennummer der (leiblichen) Mutter wie auch des (sozialen) Vaters zugespielt, sodass auf diese Weise leicht eine dyadische Datenstruktur aufgebaut werden kann. Es wird seit Beginn des SOEP für alle 0–16-jährigen Kinder jährlich erfragt, ob das Kind eine Kinderbetreuungseinrichtung besucht, bzw. bei älteren Kindern, welche Schulform es besucht. Zudem werden zusätzlich seit 1997 in 3 bis 5-Jahresintervallen Informationen über Träger und Kosten der Einrichtung erhoben sowie ob das Kind die Möglichkeiten hat, dort Mittag zu essen. Ob der Haushalt regelmäßige Unterstützung bei der Kinderbetreuung von anderen Personen hat, wird seit 1997 alle ein bis zwei Jahre erfragt. Seit 2006 wird außerdem im 2-Jahres-Rhythmus erfragt, welchen Freizeitaktivitäten das Kind nachgeht. All diese Informationen werden in einem getrennten Datensatz nutzerfreundlich aufbereitet zur Verfügung gestellt (Datensatz: KIND). Es liegen teilweise schon vor der Geburt der Kinder selbst und über den Verlauf ihrer ganzen Kindheit Informationen über ihre Mütter und (sozialen) Väter im selben Haushalt vor. Dazu zählen z. B. die sozioökonomische Situation der Eltern, ihr Bildungshintergrund oder ihre Persönlichkeit, die Familiengröße und -zusammensetzung sowie Informationen zu kritischen Lebensereignissen. Dadurch ist es möglich, die Bedingungen nachzubilden, in denen die Kinder aufwachsen. Der Längsschnitt ermöglicht dabei Aussagen z. B. über die Auswirkungen von verschiedenen Arbeitszeitmodellen oder Lebensereignissen wie Scheidung, das Eingehen einer neuen Partnerschaft oder Arbeitslosigkeit auf die Entwicklung des Kindes zu treffen.

2.1 Beispielhafte Untersuchungen unter Nutzung der Proxyinformationen Die Analysepotenziale dieser Datenbasis für die Bildungsforschung wurden in zwei Übersichtsartikeln aufgezeigt (Lohmann et al. 2009b; Spieß et al. 2013). Die SOEP-Daten wurden mehrfach für Analysen im Bereich der Nutzung und der Besuchsdauer von frühkindlichen Bildungseinrichtungen (z. B. Schober und Spieß 2013; Schober und Stahl 2014; Spieß et al. 2002) und ihrer Auswirkung auf späteren Schulerfolg genutzt (z. B. Büchel et al. 1997; Kratzmann und Schneider 2008; Seyda 2009; Spieß et al. 2003; Spieß und Büchner 2009). Es wurde dabei der Frage nachgegangen, ob sich die Nutzung von Privatschulen (Lohmann et al.

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L. Pagel und J. Schupp

2009a) oder Ganztagsangeboten (Marcus et al. 2016) nach sozioökonomischer oder bildungsbezogener Herkunft unterscheidet. Für die Bildungsbeteiligung der Kinder an einem Gymnasium wurde beispielsweise der Zusammenhang mit der sozialen Stellung der Familien (vgl. für Ostdeutschland Becker 1998, 1999), dem Einkommen der Eltern in unterschiedlichen Lebensphasen (Schneider 2004) und den sozialen Aktivitäten der Eltern (Büchel und Duncan 1998) analysiert. Auch die Erfolgsaussichten auf einem Gymnasium von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten wurden untersucht (Schneider 2008), ­ ebenso, ob eine Ablehnung der Grundschulempfehlung einen Zusammenhang mit dem Schulerfolg aufweist (Lohmann und Groh-Samberg 2010). Inwiefern die Möglichkeit des nachträglichen Wechsels auf eine Schule, die die Hochschulreife ermöglicht, verstärkend oder reduzierend auf soziale und ethnische Herkunftseffekte wirkt, konnte ebenfalls anhand von SOEP-Daten geklärt werden (Kurz und Böhner-Taute 2016). Weil im SOEP seit 1984 mittlerweile 35 Wellen erhoben wurden, lassen sich auch Trendänderungen über die Zeit untersuchen (z. B. im Zusammenhang zwischen elterlichem Einkommen und dem Übergang zu tertiärer Bildung; Riphahn und Schieferdecker 2012). Vor allem können auch Fragen zu intergenerationaler Mobilität in Bezug auf den erreichten Bildungsabschluss analysiert werden, und die Nachhaltigkeit von Bildungsaufstiegen über zwei Generationen wurde aufgrund unterschiedlicher methodischer Abgrenzungen kontrovers diskutiert (Becker 2007; Fuchs und Sixt 2007a, b). Zudem wurden eine Reihe an Arbeiten zu familien-, bildungs- und arbeitsmarktsoziologischen Themen vorgelegt. So wurde untersucht, inwiefern der Bildungserfolg von Kindern auch mit der Kinderanzahl in der Familie, dem Geburtenrang eines Kindes und der Anwesenheit von Stiefeltern (Stoye 2016) bzw. der Geschlechterzusammensetzung der Geschwister (Bauer und Gang 2001) zusammenhängt. Auch der Frage, welche Auswirkung elterliche Arbeitslosigkeit auf den Bildungserfolg (Lohmann und Groh-Samberg 2017) und den Arbeitsmarkteintritt (Kleverbeck und Kind 2015) hat, wurde in den letzten Jahren nachgegangen. Die Auswirkung der Trennung der Eltern auf den Schulerfolg (Grätz 2015) und auf die Gesundheit der Kinder (Brockmann 2013) wurde ebenfalls untersucht. Der Zusammenhang zwischen alleinerziehenden Müttern (Mahler und Winkelmann 2006) bzw. verschiedenen Familienformen (Francesconi et al. 2010) und dem Schulerfolg der Kinder wurde ebenfalls analysiert. Aufgrund des Oversamplings von Personen mit Migrationshintergrund eignet sich das SOEP auch für Analysen der Bildungsbeteiligung von in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (z. B. Diefenbach 2008; Büchel und Wagner 1996). Es wurde z. B. untersucht, welche Rolle das ökonomische und das Bildungskapital (Nauck et al. 1998) bzw. das soziale

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und das kulturelle Kapital (Fuchs und Sixt 2008) von Familien mit Migrationshintergrund für den Bildungserfolg ihrer Kinder spielt. Eine weitere Studie zeigt, inwiefern der Zusammenhang zwischen der Anzahl der Geschwister und dem Gymnasialbesuch sich zwischen der ersten und der zweiten Migrationsgeneration unterscheidet (Meurs et al. 2017). Auch der Übergang in Ausbildung und der Erwerb von Ausbildungsabschlüssen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund lässt sich anhand der Daten analysieren (z. B. Hunkler 2010).

3 Altersspezifische Instrumente mit Themenschwerpunkten Im Jahr 2001 erreichten die ersten knapp 100 Jugendlichen das Befragungsalter, die nach dem Start der Langzeitstudie geboren wurden und über deren gesamte Kindheit und Jugend zumindest Proxyinformationen vorlagen. Daraufhin wurde das SOEP-Befragungskonzept dahin gehend ausgeweitet, dass jährlich neben dem Haushalts- und Personenfragebogen für Erwachsene auch altersspezifische Erhebungsinstrumente für einzelne Kinder und Jugendliche durchgeführt werden. In diesem Rahmen wurden auch vermehrt psychologische Indikatoren ins SOEP eingeführt (vgl. Schupp und Wagner 2010). Neben dem 2000/2001 erstmals durchgeführten Jugendfragebogen (siehe Kap. 4) wurden seit 2003 sukzessive Fragebögen für bestimmte Jahrgänge der in SOEP-Haushalten lebenden Kinder eingeführt. Diese werden seit ihrem Einführungsjahr jedes Jahr von Müttern (in Ausnahmefällen von Vätern) mit Kindern im entsprechenden Alter ausgefüllt. So wurde 2003 zunächst ein Fragebogen für die Mütter von neugeborenen Kindern (0–1 Jahre) entwickelt. Die folgenden Instrumente wurden dabei so entwickelt, dass diese Startkohorte (Geburtsjahr 2002/2003) in ihrem Entwicklungsverlauf weiterverfolgt und längsschnittlich analysiert werden kann. So folgte 2005 ein Fragebogen für die Mütter von 2–3-jährigen Kindern und 2008 ein Fragebogen über 5–6-Jährige. Im Jahr 2010 ging der Fragebogen über 7–8-jährige Kinder ins Feld, der sowohl von den Müttern als auch von den Vätern ausgefüllt wird. 2012 folgte mit dem Fragebogen über 9–10-jährige Kinder der letzte Fragebogen, der von den Müttern beantwortet wird. Schließlich folgten noch zwei Jugendinstrumente, in denen die Kinder mit 12 bzw. mit 14 Jahren das erste Mal auch selbst Fragen zu ihrer Lebenssituation beantworten. Diese wurden 2014 bzw. 2016 eingeführt, sodass die erste Kohorte im Jahr 2018 erstmals die komplette Batterie der altersspezifischen Instrumente durchlaufen hat (vgl. Tab. 1 für bisherige Fallzahlen) und anschließend als erwachsene Befragungsperson jährlich thematisch wechselnde Themen der Langzeitstudie SOEP beantworten wird.

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Tab. 1    Anzahl der realisierten altersspezifischen (Proxy-)Interviews in den entsprechenden Altersgruppen Mutter Mutter Mutter Eltern Mutter Schüle- Frühe Kogrinnen/ Jugend nitiver Mütter und und und und Test Kind A Kind B Kind C (Väter) Kind E Schüler

Jugend

0–1

16–17

2–3

5–6

7–8

9–10

11–12

13–14

16–17

2000

232

2001

618

2002

352

2003

318

365

2004

247

373

2005

246

257

2006

234

222

2007

205

237

2008

185

246

368 835 237

307

295

346

222

261

2009

196

186

210

211

243

2010

1503

1061

687

646 (409)

403

190

404

2011

353

914

696

703 (490)

510

155

531

2012

378

745

612

715 (500)

699

189

537

2013

349

701

858

647 (439)

686

228

567

2014

444

454

825

629 (399)

656

606

302

577

2015

302

386

657

779 (566)

616

608

253

560

2016

349

395

686

716 (535)

539

563

531

236

535

Total

5309

5804

5468

4835 (3328)

4109

1777

531

3116

7176

Datenbasis: SOEP V33.2

Die Haushaltspanelstudie sozio-ökonomisches Panel …

171

Die Fragebögen der unterschiedlichen Altersgruppen haben verschiedene Schwerpunkte und decken eine Breite von Themengebiete ab, welche im Folgenden dargestellt werden (für eine Übersicht siehe Tab. 2 und 3).

Tab. 2   Themengebiete in den von den Müttern (bzw. Eltern) beantworteten altersspezifischen Fragebögen Mutter und Kind B (2–3 Jahre)

Befragungsthema

Mutter und Kind A (0–1 Jahr)

Schwangerschaft & Geburt

x

Stillen

x

x

Gesundheit

x

Mutter und Kind C (5–6 Jahre)

x

x

Körpergröße & -gewicht

x

x

Vineland Adaptive Behavior Scale

x

Eltern D (7–8 Jahre)

x

x

Strength and Difficulties Questionnaire Betreuung des x Kindes

x

Sprachgebrauch im Haushalt

x

Temperament x

x

Persönlichkeit (Big Five)

x

x

Mutter und Kind E (9–10 Jahre)

x

x

x x

x

x

Schule & Hausaufgaben

(x)

x

Bildungsaspirationen

x

x

Erziehungsziele

x (Fortsetzung)

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L. Pagel und J. Schupp

Tab. 2   (Fortsetzung) Befragungsthema

Mutter und Kind A (0–1 Jahr)

Mutter und Kind B (2–3 Jahre)

Mutter und Kind C (5–6 Jahre)

Erziehungsstile Mutterrolle/ Elternrolle

Eltern D (7–8 Jahre)

Mutter und Kind E (9–10 Jahre)

x x

x x

Freizeit und Aktivitäten (mit Kind)

x

x

Freunde

x

Taschengeld

x

Anmerkungen. In den Themengebieten können teilweise unterschiedliche Fragen zusammen­ gefasst sein, wobei nicht notwendigerweise alle Fragen in allen Jahrgängen erfasst werden. Die Liste ist nicht umfassend, sondern informiert über die Hauptbefragungsthemen

Tab. 3   Themengebiete in den von Kinder bzw. Jugendlichen selbst beantworteten ­altersspezifischen Fragebögen Befragungsthema

Schülerinnen/Schüler Frühe Jugend (13–14 Jugend (16–17 (11–12 Jahre) Jahre) Jahre)

Migrationsbiografie & Staatsangehörigkeit

x

Deutschkenntnisse

x

Gesundheitszustand des Kindes

x

x

Körpergröße & -gewicht

x

x

x

Lebenszufriedenheit

x

x

x

Strength and Difficul- x ties Questionnaire

x

Sprachgebrauch

x

x

Persönlichkeit (Big Five)

x

x

x

Risikobereitschaft

x

x

x

x

x

Locus of Control

(Fortsetzung)

Die Haushaltspanelstudie sozio-ökonomisches Panel …

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Tab. 3   (Fortsetzung) Befragungsthema

Schülerinnen/Schüler Frühe Jugend (13–14 Jugend (16–17 (11–12 Jahre) Jahre) Jahre)

Vertrauen

x

Zeitpräferenz

x

Schulbesuch & ­Hausaufgaben

x

Interesse der Eltern an Schulleistungen

x

Bildungsaspirationen x Kulturelles Kapital

x

Verhältnis zwischen Familienmitgliedern

x

x

x x

x

x

x

x

Erziehungsverhalten der Eltern

x

Welche Menschen sind einem wichtig

x

x

Freizeitbeschäftigungen

x

x

x

Freunde

x

x

x

Taschengeld, Sparen x

x

x

Geld sparen

x

x

Politikinteresse

x

x

Wohnsituation

x

Jobs und Geld

x

Ausbildung und Berufspläne

x

Zukunft

x

Kindheit und ­Elternhaus

x

Einstellungen und Meinungen

x

Anmerkungen. In den Themengebieten können teilweise unterschiedliche Fragen zusammen­ gefasst sein, wobei nicht notwendigerweise alle Fragen in allen Jahrgängen erfasst werden. Die Liste ist nicht umfassend, sondern deckt die Hauptbefragungsthemen ab

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L. Pagel und J. Schupp

3.1 Themengebiete des „Mutter und Kind“ Fragebogen (0 Jahre – 1 Jahr; Mutter und Kind A) Mütter von neugeborenen Kindern beantworten vor allem Fragen zum Schwangerschaftsverlauf, zur Geburt, zum Stillen und zur Gesundheit des neugeborenen Kindes. Außerdem wird erfragt, inwiefern die Mutter empfindet, dass sich ihre Lebensumstände nach der Geburt des Kindes verändert haben, wie die Betreuung des Kindes geregelt ist und wie das Temperament des Babys (als Vorläufer der Persönlichkeit) von Müttern wahrgenommenen wird.

3.2 Themengebiete des Fragebogens „Ihr Kind im Alter von 2 oder 3 Jahren“ (Mutter und Kind B) Auch Mütter von 2–3-jährigen Kindern beantworten einige Fragen zur Gesundheit ihres Kindes und wie lange sie gestillt haben. Außerdem wird die Betreuungssituation des Kindes erfragt, wiederum das Temperament sowie eine Kurzskala zur Erfassung der Persönlichkeit (Verträglichkeit, Extraversion, Offenheit und Gewissenhaftigkeit der Big Five; McCrae und Costa 1987). Zudem wird der Sprachgebrauch in der Familie sowie Aktivitäten erfasst, die mit den Kindern durchgeführt werden (z. B. zum Spielplatz gehen, Geschichten vorlesen oder erzählen, Besuch bei anderen Familien mit Kindern). Mütter schätzen außerdem das adaptive Verhalten ihrer Kinder in den Dimensionen Kommunikation, Alltagsfertigkeiten, soziale Beziehungen und motorische Fertigkeiten ein. Die Erfassung erfolgt anhand einer übersetzten Version der Vineland Adpative Behavior Scale, welche für das SOEP auf 20 Items gekürzt wurde. Diese Skala erfragt damit alltagsnah den Entwicklungsstand des Kleinkindes (Schmiade et al. 2014; Richter et al. 2017, S. 78).

3.3 Themengebiete des Fragebogens „Ihr Kind im Alter von 5 oder 6 Jahren“ (Mutter und Kind C) Die daran anschließend altersspezifische Befragung erfolgt, sobald die Kinder im Befragungsjahr sechs Jahre alt werden. Von den Themengebieten ähnelt sie den Befragungen in den Jahren davor: Gesundheit, Betreuungssituation, eine umfassendere Itembatterie zur Persönlichkeit (ab diesem Alter wird auch Neurotizisums erhoben) und Aktivitäten, die mit dem Kind durchgeführt werden. Hinzu

Die Haushaltspanelstudie sozio-ökonomisches Panel …

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kommt der Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ), der eine auf 17 Items gekürzte Version der deutschen Fassung des SDQ darstellt und ein sehr häufig genutztes Instrument zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen darstellt (Richter et al. 2017, S. 65; Woerner et al. 2002).

3.4 Themengebiete des Fragebogens „Ihr Kind im Alter von 7 oder 8 Jahren“ (Eltern D) Der Fragebogen, der für 7–8-jährige Kinder entwickelt wurde, wird als einziges der altersspezifischen Instrumente von beiden Elternteilen – soweit sie gemeinsam im selben Haushalt leben – beantwortet. In dieser Altersspanne werden erstmals Fragen zum Schulbesuch (Zeitpunkt der Einschulung) sowie zu idealistischen und realistischen Bildungsaspirationen der Eltern relevant. Der Fokus dieses Instruments liegt jedoch auf den Erziehungszielen, Erziehungsstilen und der Elternrolle der beiden Elternteile. Bei den Erziehungszielen kann dabei zwischen den Skalen Konformität und Autonomie differenziert werden (Richter et al. 2017, 39). Erziehungsstile werden anhand von 18 Items erfragt, welche in sechs Skalen unterteilt werden können: Emotionale Wärme, Inkonsistente Erziehung, Monitoring, Negative Kommunikation, Psychologische Kontrolle, Strenge Kontrolle. Die Items wurden aus der pairfam-Studie (Walper et al. in diesem Band) übernommen (Richter et al. 2017, S. 43), ebenso wie die 10 Items zur Erfassung der Elternrolle. Die Elternrolle kann dabei in drei Skalen unterteilt werden (Autonomie, Feindselige Attributionen, Opferbereitschaft).

3.5 Themengebiete des Fragebogens „Ihr Kind im Alter von 9 oder 10 Jahren“ (Mutter und Kind E) Neben den in fast allen Altersgruppen erfassten Items zu Gesundheit und der Betreuungssituation, werden bei 9–10-jährigen Kindern umfangreichere Informationen zur schulischen Situation erfragt. Auch hier werden die idealistischen und realistischen Bildungsaspirationen der Mütter für ihr Kind erfasst, zusätzlich aber auch die letzten Zeugnisnoten der drei Hauptfächer, sowie die Hausaufgabenbetreuung und die Schulmotivation des Kindes. Da Freunde und Freizeitbeschäftigungen in dieser Altersgruppe an Stellenwert gewinnen, werden auch zu diesen Themengebieten Fragen gestellt. Ob und wie viel Taschengeld das Kind erhält wird erstmals in dieser Altersgruppe erfragt.

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L. Pagel und J. Schupp

3.6 Themengebiete des Fragebogens „Schülerinnen und Schüler“ (11–12 Jahre) In dem Jahr, in dem die Kinder zwölf Jahre alt werden, beantworten sie erstmals selbst Fragen zu ihrer Situation. Hier liegt ein Fokus erneut auf der schulischen Situation: Es werden der Schulbeginn und das Schulende differenziert nach Wochentagen erfragt, die besuchte Schulform, die Anzahl der Schülerinnen und Schüler in der Klasse und wie viele davon nicht aus Deutschland kommen, ob man sich von der Lehrkraft diskriminiert fühlt und die letzten Zeugnisnoten in Mathe, Deutsch und Englisch. Zudem wird ermittelt, wie viel Zeit der Schüler oder die Schülerin zur Bearbeitung der Hausaufgaben aufwendet, wo er oder sie die Hausaufgaben macht und wer ihm oder ihr bei den Hausaufgaben und beim Lernen hilft. Die Kinder werden nach ihrer idealistischen und realistischen Schulabschlussaspiration gefragt. Da in diesem Alter Freunde als Bezugspersonen eine große Rolle spielen, werden für diese und für verschiedene Familienmitglieder erfragt, welche Rolle sie bei der Unterstützung spielen und wie oft es Streit gibt. Auch nach der Anzahl enger Freundschaften wird gefragt und wie oft sich die Eltern bei der Wahl der Freunde einmischen. Die Bildungsaspirationen der drei besten Freunde oder Freundinnen und von maximal drei älteren Geschwistern (falls vorhanden) werden erfragt. Das kulturelle Kapital und die Lernumgebung der Schülerinnen und Schüler werden anhand verschiedener Fragen erfasst (z. B. Vorhandensein von Literatur, Instrumenten, Kunst zu Hause; ein Schreibtisch und ein Zimmer für sich allein). Des Weiteren wird erneut die Art und Häufigkeit von Freizeitbeschäftigungen erfragt. Der Schüler oder die Schülerin beantwortet, ob und wie viel Taschengeld er oder sie erhält und gibt erstmals selbst Auskunft über die eigene Persönlichkeit, die Risikobereitschaft und die Lebenszufriedenheit. Der Sprachgebrauch in der Familie (nur Deutsch oder auch andere Sprachen) und mit wem üblicherweise die Mahlzeiten eingenommen werden, wird außerdem erfragt.

3.7 Themengebiete des Fragebogens „Frühe Jugend“ (14 Jahre) Der Fragebogen für die frühe Jugend ähnelt in großen Teilen dem Fragebogen für Schülerinnen und Schüler um für entwicklungspsychologisch relevanten Fragestellungen eine sachgemäße Datenstruktur vorzuhalten. Es werden etwas weniger Fragen zu den Hausaufgaben und der Lernumgebung gestellt, dafür aber erfragt, ob sich der oder die Jugendliche in der Schule engagiert (z. B. als Klassensprecher oder Klassensprecherin oder in einer AG) und auf diese Weise

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soziales Kapital erworben wird. Die momentane Wichtigkeit verschiedener Familienmitglieder und Freunde wird erhoben und neben den eigenen Bildungsaspirationen wiederum auch die der drei besten Freunde. In Bezug auf die Eltern wird gefragt, wie lange der oder die Jugendliche vor Schultagen bzw. vor schulfreien Tagen alleine unterwegs sein und aufbleiben darf und welche Dinge der oder die 14-Jährige schon ohne Eltern gemacht hat (z. B. Urlaub, zum Arzt gehen, im Laden etwas umgetauscht, Alkohol trinken, Zigaretten rauchen). Es wird wieder nach dem Taschengeld gefragt und auch, ob der oder die Jugendliche die Möglichkeit hat, Geld zu sparen. Als weiteres neues Themengebiet wird in dieser Altersgruppe das Interesse für Politik und die Neigung zu einer bestimmten Partei erfragt.

3.8 Beispielhafte Untersuchungen der altersspezifischen Instrumente Diese seit 2003 schrittweise im SOEP integrierten altersspezifischen Instrumente, die nach der Erstimplementierung dann jährlich in allen Familien mit Kindern und Jugendlichen im entsprechenden Lebensalters gestellt werden, bieten Analysepotenziale zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen familiärer Situation und kindlicher Entwicklung (für Kinder in den ersten drei Lebensjahren z. B.: Dittrich 2012). So wurde analysiert, ob es schon kurz nach der Geburt geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung der Kinder gibt und inwiefern diese geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen sich auf die Entwicklung der Kinder auswirken (Sandner und Schock 2014). Die Zusammenhänge zwischen dem mütterlichen Wohlbefinden (Berger et al. 2010; Berger und Spieß 2011), der mütterlichen Gesundheit (Mühlenweg et al. 2016) und von interaktiven Tätigkeiten der Eltern (Anand und Roope 2016) mit ihren 2–3-jährigen Kindern und dem adaptiven Verhalten ihrer Kinder im Alter von zwei bis drei Jahren bzw. der mentalen Gesundheit ihrer 5–6-jährigen Kinder wurden ebenfalls untersucht. Zudem wurde die Inanspruchnahmen von informellen Förderangeboten für Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren (wie z. B. Kinderturnen) und ihrem adaptiven Verhalten analysiert (Mühler und Spieß 2009). Es wurde der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft, dem Bildungshintergrund und der Persönlichkeit der Mutter auf die Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere die Entwicklung der Gewissenhaftigkeitsfacette Konzentration) ihrer Kinder untersucht (Kaiser und Diewald 2014; Kaiser 2017) und dabei die Relevanz sogenannter non-cognitive skills auch in Deutschland belegt.

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L. Pagel und J. Schupp

Auch für gesundheits- und lebenswissenschaftliche Fragestellungen sind Analysen des SOEP möglich: Anhand der Informationen des Neugeborenenfragebogens wurde beispielsweise der Zusammenhang verschiedener Faktoren zu der Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen für Kinder (U-Untersuchungen) analysiert (Becker und Kurz 2011). Des Weiteren wurde gezeigt, inwiefern sich Kinder aus Familien mit Armutsrisiko auf verschiedenen Gesundheitsvariablen von Familien ohne Armutsrisiko unterscheiden (Tamm 2008) und welche Auswirkungen Luftverschmutzung innerhalb und außerhalb der Wohnung auf die Gesundheit von 3-Jährigen hat (Coneus und Spieß 2012).

4 Der Jugendfragebogen für 16–17-Jährige und kognitives Potenzial Im SOEP gelten Personen, die im entsprechenden Befragungsjahr 17 Jahre alt werden, als erwachsene Befragungspersonen. Sie erhalten somit, wie andere erwachsene Erstteilnehmende auch, einen Lebenslauf- und einen Personenfragebogen. Da für die jugendlichen Teilnehmenden ein Teil der Erwachsenenbiografie (wie z. B. die Erwerbsbiografie oder die Beziehungsbiografie) noch nicht zutrifft und dafür andere Aspekte, wie die Beziehung zu den Eltern, Freizeitaktivitäten, die schulische Situation oder eine berufliche Ausbildung eine größere Rolle spielen, wurde im Jahr 2000 ein Jugendfragebogen entwickelt, welcher in dieser Altersgruppe den Lebenslauffragebogen ersetzt und seitdem eingesetzt wird. Inhaltlich deckt sich dieser Fragebogen in vielen Aspekten mit dem Lebenslauffragebogen der Erwachsenen, sodass die Angaben genutzt werden können, um die Informationen zur Migrationsbiografie (Datensatz: BIOIMMIG) oder zu den Eltern (falls sie nicht im Haushalt leben; Datensatz: BIOPAREN) zu ergänzen. Auch Gesundheitszustand, Persönlichkeit, Risikobereitschaft, Locus of control, Vertrauen, Zeitpräferenz, politische Präferenzen, Deutschkenntnisse sowie Angaben zur Wohnsituation, zur Arbeitssituation, zur Ausbildung, zu Berufsplänen und zu Bildungsaspirationen werden erfragt. Für den Zeitraum von 2000 bis 2005 wurde der Jugendfragebogen ergänzend zum Personenfragebogen erhoben. Seit 2006 wird bei den 17-Jährigen ausschließlich der Jugendfragebogen erfasst, welcher seitdem in einer um wenige Indikatoren erweiterten Fassung vorliegt, und es wird stattdessen ein Test zur Erfassung der kognitiven Potenziale eingesetzt. Basierend auf dem I-S-T 2000R (Amthauer et al. 2001) wurden für das SOEP die Komponenten Analogien, Zahlenreihen und Matrizen mit je 20 Unteraufgaben ausgewählt (vgl. Solga et al. 2005). Mithilfe dieser Aufgaben sollen die fluiden kognitiven Fähigkeiten erfasst werden. Darunter wird eine stark

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biologisch determinierte, von Bildung wenig beeinflusste Dimension der kognitiven Fähigkeiten verstanden, die primär auf schlussfolgerndem Denken, Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses basiert (Cattell 1971; Horn 1982). Obwohl der Test in seinem Format von den üblichen Fragebögen in Umfragen abweicht, ist die Teilnahmebereitschaft bei den Jugendlichen hoch (Schupp und Hermann 2009).

4.1 Beispielhafte Untersuchungen mit dem Jugendfragebogen Mithilfe der Daten zu den kognitiven Potenzialen von den Jugendlichen konnte z. B. untersucht werden, inwiefern Underachievement auftritt, also der Schulerfolg der Jugendlichen hinter ihrem kognitiven Potenzial zurückbleibt, und welche Rolle der Bildungshintergrund der Familie und das gegliederte Schulsystem dabei spielen (Uhlig et al. 2009; Uhlig 2012). Auch die Inanspruchnahme von bezahlter Nachhilfe kann auf Grundlage der SOEP-Daten für einen längeren Zeitraum analysiert werden (z. B. Hille et al. 2016). Ebenso wurde der bildungssoziologisch relevanten Frage nachgegangen, welche familiären und individuellen Faktoren im Zusammenhang mit einem schulischen Auslandsaufenthalt in der Sekundarstufe stehen (Gerhards und Hans 2013). Eine wichtige Phase für Jugendliche ist der Übergang von der Schule in die Ausbildung bzw. ins Studium und die Ablösung vom Elternhaus. Es wurde untersucht, welche Rolle der sozio-ökonomische und der Migrationshintergrund und die schulische Vorbildung bei dem Zugang zu berufsqualifizierender Ausbildung spielen (Hillmert und Weßling 2014) und inwiefern sich die Gewissenhaftigkeit und das kognitive Potenzial in Abhängigkeit von dem erreichten Schulabschluss auf die Zeit, eine Ausbildung zu beginnen, auswirkt (Protsch und Dieckhoff 2011). Auch der elterliche Einfluss auf die Realisierung des Berufswunsches ihrer Kinder wurde untersucht (Pruisken 2018) und mithilfe von Geschwister Fixed-Effects-Modellen der Einfluss von wahrgenommenem elterlichen Erziehungsstil und Ungleichbehandlung von Geschwistern differenziert (Pruisken et al. 2016). In Bezug auf die Studienabsicht wurde analysiert, welchen Zusammenhang es zur Persönlichkeit und zum Bildungshintergrund der Eltern gibt (Peter und Storck 2015), und inwiefern der Locus of control und die Bildungsaspirationen der Jugendlichen eine Rolle für den erfolgreichen Abschluss spielen (Kay et al. 2016). Zudem wurde untersucht, welche Faktoren dazu beitragen, dass Jugendliche aus nicht-intakten Familien das Elternhaus typischerweise früher verlassen als Jugendliche aus intakten Familien (van den Berg et al. 2018).

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L. Pagel und J. Schupp

Über verschiedene Kohorten von 17-Jährigen konnte gezeigt werde, wie sich der Stellenwert bildungsorientierter Aktivitäten (zu denen beispielsweise außerschulischer Musik- oder Sportunterricht zählt) in der Freizeit der Jugendlicher in den letzten Jahren entwickelt hat (Hille et al. 2013) und inwiefern sich die Angebotsnutzung je nach familiärem Hintergrund unterscheidet (Lehmann-Wermser und Krupp-Schleußner 2017). Des Weiteren wurde der Zusammenhang zwischen aktivem Musizieren und Schulnoten und Persönlichkeitseigenschaften (Hille und Schupp 2015) sowie der Sekundarschulform (Yang 2015) untersucht und auch die Zusammenhänge zu Schulerfolg bei aktiven Sportlern (Pfeifer und Cornelißen 2010) bzw. die Zusammenhänge zu Schulerfolg und Gesundheit differenziert nach aktivem Musizieren und aktivem Sporttreiben analysiert (Cabane et al. 2016).

5 Zusammenfassung und Ausblick Das längsschnittliche Design des SOEP sowie die Tatsache, dass private Haushalte sowie sämtliche darin lebenden Personen jährlich befragt werden, haben dazu geführt, dass nach nunmehr 35 Jahren eine analytisch gehaltvolle Mikrodatenbasis für verallgemeinerungsfähige Sekundäranalysen zur Lebenssituation von Kindern- und Jugendlichen entwickelt wurde. Dies gilt sowohl für den aggregierten Trendverlauf zur objektiven Lebenssituation von in Deutschland lebenden Kindern (wie dies bspw. in den fünf vorliegenden Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung dokumentiert wird) als auch zunehmend für Fragen der Relevanz und Inanspruchnahme frühkindlicher Betreuungs- und Bildungsangebote für den späteren Bildungs- und Erwerbsverlauf. Aufgrund dieses Designs können auf diese Weise für eine wachsende Zahl an Geburtskohorten von Kindern Hypothesen über deren Entwicklungsverlauf mikroanalytisch und multidisziplinär geprüft und der Wissens- und Erkenntnisstand in Soziologie, Ökonomie sowie empirischer Bildungsforschung erweitert werden. Die seit 2000 im SOEP erfolgte konzeptionelle Erweiterung des Erhebungsprogramms um altersspezifische Kurzfragebögen bietet vor allem für die seit 2002 geborenen Jahrgänge erstmals eine längsschnittliche Datenbasis von neun Beobachtungen auf dem Weg zum Erwachsenen, die erst am Beginn der künftigen Analysen steht. So sind für das SOEP neue wissenschaftliche Nutzungen im Bereich der Entwicklungspsychologie sowie der Soziologie der frühen Kindheit zu erwarten. Aufgrund der Tatsache, dass im SOEP auch eine wachsende Zahl an längsschnittlichen Informationen zu Geschwistern vorliegen, bietet der Datensatz zudem Analysemöglichkeiten für genetisch sensitive Fragestellungen mithilfe

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sogenannter Geschwister Fixed-Effect-Modellierungen, bei denen für Einflüsse der geteilten Umwelt, die bei Geschwistern innerhalb einer Familie identisch sind, kontrolliert wird (bspw. Schnitzlein 2014). Perspektivisch nimmt zudem die Zahl an Dyaden von zwei, drei oder gar vier Generationen zu, die im SOEP beobachtet wurden. Und nicht zuletzt erfolgte im SOEP in den letzten Jahren aufgrund der Einbeziehung mehrerer Migrationssamples eine substanzielle Ausweitung an vorliegenden Daten zu Kindern mit Migrationshintergrund sowie deren Integrationschancen im Bildungs- und Erwerbssystem in Deutschland. All dies zusammen macht das SOEP sowohl für wissenschaftliche Fragestellungen im Bereich Kindheit und Jugend zu einem unverzichtbaren Baustein der Forschungsdateninfrastruktur als auch zu einer Datenbasis, die aus zahlreichen Berichten der Politik nicht mehr wegzudenken ist. Aktuelle Veröffentlichungen und Entwicklungen der SOEP sind zu finden auf der Homepage http:// www.diw.de/soep. Der Datenzugang für wissenschaftliche Zwecke ist innerhalb weniger Wochen gebührenfrei möglich. Voraussetzungen, Informationen und Ansprechpartner sind den Seiten des Forschungsdatenzentrums des SOEP zu entnehmen (http://www.diw.de/de/diw_02.c.221180.de/fdz_soep.html). Die Daten der derzeit aktuellen verfügbaren Erhebungswelle (34) sind zu finden unter: https://doi.org/10.5684/soep.v34.

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Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten Manuel Siegert und Nina Rother

1 Einleitung Eine für die Kinder- und Jugendhilfe besondere Zielgruppe sind geflüchtete Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Denn bei dieser Gruppe kumulieren sich verschiedene Risikofaktoren, was sie besonders verwundbar macht. Zu nennen sind hier mögliche prekäre Lebensumstände, beispielsweise wenn es den Familien nicht gelingt, in der Aufnahmegesellschaft Fuß zu fassen, oder junge geflohene Erwachsene aufgrund fehlender Arbeitsmarkterfahrungen und fehlender aufnahmelandspezifischer Qualifikationen den Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht meistern. Bei noch schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen besteht das Risiko, dass sie Schwierigkeiten bei der Fortsetzung oder dem Abschluss ihrer Bildungskarrieren haben, wenn diese bspw. fluchtbedingt

Dr. Manuel Siegert, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld II „Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ des Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ). Dr. Nina Rother, Leiterin des Forschungsfeldes II „Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ des Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ). M. Siegert () · N. Rother  Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Rother E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_10

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länger unterbrochen werden mussten oder aufgrund der Umstände im Herkunftsland keine oder nur kurze Bildungsverläufe vorliegen. Hinzu kommen mögliche psychische Probleme, wenn geflohene Kinder und Jugendliche im Herkunftsland und/oder auf der Flucht mit Erlebnissen konfrontiert wurden, die zu Traumata und anderen psychischen Krankheiten, wie Depressionen, führen können. Aber auch die Lebensumstände im Aufnahmeland können im Hinblick auf die psychische Gesundheit eine Rolle spielen, wenn bspw. die Familie im Zuge der Flucht getrennt wurde und eine Familienzusammenführung nicht möglich ist. Datensätze, die repräsentative Sekundäranalysen zur Lebenssituation geflüchteter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener ermöglichen, sind jedoch kaum vorhanden. Insbesondere die Analyse der Entwicklung der Lebensumstände und der sie beeinflussenden Faktoren, was auch den Einfluss bzw. die Wirksamkeit pädagogischer und/oder sozialpolitischer Maßnahmen beinhaltet, ist aufgrund wenig vorhandener Paneldaten kaum möglich. Dies ist auf den relativ geringen Anteil geflüchteter Kinder und Jugendlicher an allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland zurückzuführen. Dadurch enthalten für die Gesamtbevölkerung Deutschlands repräsentative Surveys kaum relevante Fallzahlen dieser speziellen Zielgruppe. Hinzu kommt, dass bei vielen allgemeinen Surveys nicht erfasst wird, warum im Ausland geborene Personen nach Deutschland gekommen sind, bzw. ob sie hier einen Asylantrag gestellt haben. Entsprechend schwierig ist es, geflüchtete Personen in den Daten eindeutig zu identifizieren. Auch die Ziehung einer repräsentativen Stichprobe geflüchteter Kinder und Jugendlicher ist nicht ohne Weiteres möglich, da hierfür auf das Ausländerzentralregister (AZR) zurückgegriffen werden muss, dessen Zugang zu Forschungszwecken aufgrund der Sensibilität der Daten jedoch sehr restriktiv gehandhabt wird (Babka von Gostomski und Pupeter 2008). Eine bedeutende Ausnahme, und damit die zentrale Datenquelle für Sekundäranalysen zur Lebenssituation geflohener Kinder und Jugendlicher, bildet die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. In diesem Beitrag wird ein Überblick über die Studie gegeben und das Analysepotenzial für die Kinder- und Jugendhilfe umrissen. Hierfür wird zunächst auf das Studiendesign und die Feldergebnisse eingegangen, bevor im zweiten Abschnitt Eckdaten zu den in der Studie erfassten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen präsentiert werden. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit.

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

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2 Studiendesign und Feldergebnisse aus der ersten Befragungswelle Im Folgenden wird zunächst auf Hintergrund und Zielsetzung der Studie eingegangen, bevor erörtert wird, wer die Grundgesamtheit der Studie bildet und wie die Stichprobe gezogen wurde. Im dritten Abschnitt wird auf die Durchführung der Interviews eingegangen, bevor im vierten das Fragenprogramm skizziert wird. Abschließend wird der Datenzugang thematisiert.

2.1 Hintergrund und Zielsetzung der IAB-BAMF-SOEPBefragung von Geflüchteten Im Jahr 2015 war die Zuwanderung nach Deutschland außergewöhnlich hoch (Statistisches Bundesamt 2016), wobei ein großer Teil dieser Zuwanderung durch den Zuzug Schutzsuchender getragen wurde. So kamen laut des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) im Jahr 2015 rund 890.000 Geflüchtete nach Deutschland (BMI 2016), der bis dahin höchste registrierte Zuzug Schutzsuchender. Dabei stellten der Umfang und die schnelle Zunahme der Zuzüge Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft vor die Herausforderung, kurzfristig die Registrierung, Erstunterbringung und Versorgung der Geflüchteten zu gewährleisten. Mittel- bis langfristig gilt es, den Geflüchteten eine angemessene Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Relevant sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Integration in das ­ ­Bildungssystem, den Arbeits- und den Wohnungsmarkt. Im Hinblick auf die mittel- bis langfristigen Aufgaben kam erschwerend hinzu, dass kaum verlässliche Daten zu den Geflüchteten vorlagen: welche Qualifikationen sie mitbringen, wie sich ihre familiäre Situation gestaltet bzw. inwieweit noch im Ausland lebende nahe Angehörige, insbesondere Ehepartner und Kinder, nachgeholt werden sollen oder ob die Geflüchteten überhaupt längerfristig in Deutschland bleiben wollen. Zwar hatte sich eine ähnliche Situation bereits Anfang der 1990er Jahre gezeigt, als 1992 mit insgesamt 438.191 Asylanträgen der bis dahin umfangreichste Zuzug Schutzsuchender in der Bundesrepublik registriert wurde. Da sich insbesondere die Herkunftsregionen und Fluchtrouten zwischen den beiden Zuzugsphasen Anfang der 1990er und um das Jahr 2015 herum unterscheiden, waren Erfahrungen und Erkenntnisse, die Anfang der 1990er gewonnen wurden, nur bedingt auf die aktuelle Situation übertragbar. Vor diesem Hintergrund gingen das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), die Infrastruktureinrichtung Sozio-ökonomisches Panel

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(SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) und das Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) Ende 2015 eine Forschungskooperation ein, um eine repräsentative Wiederholungsbefragung geflüchteter Personen durchzuführen. Ziel der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten war und ist es, solide Informationen über die Lebenssituation der Menschen zu gewinnen, die im Zeitraum von Anfang 2013 bis Ende 2016 in Deutschland Schutz gesucht haben. Dies schließt auch Erkenntnisse zu den Auswirkungen der rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen auf die Lebenssituation der Zielgruppe sowie die Wirksamkeit von unterschiedlichen Förderprogrammen mit ein. Dadurch stellt die Studie den Akteuren in Politik und Verwaltung belastbare Informationen zur Planung und Durchführung von Maßnahmen zur Förderung der Integration der Geflüchteten zur Verfügung und ermöglicht eine Versachlichung der öffentlichen Diskurse. Weiterhin wird der nationalen und internationalen Wissenschaftsgemeinschaft eine einzigartige Datenbasis zur Verfügung gestellt, indem die Daten über die Forschungsdatenzentren des IAB und des DIW als Scientific Use Files veröffentlicht werden.

2.2 Grundgesamtheit und Stichprobenziehung1 Die Grundgesamtheit der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten, aus der die Stichprobe gezogen wurde, setzt sich zusammen aus Personen (Erwachsene und Minderjährige), die zwischen dem 1. Januar 2013 und dem 31. Januar bzw. dem 31. Dezember 2016 nach Deutschland eingereist sind und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen formellen Antrag auf Asyl gestellt haben oder im Rahmen spezieller Programme des Bundes oder der Länder aufgenommen wurden.2 Da keine darüber hinausgehende Einschränkung der Grundgesamtheit vorgenommen wurde, werden alle in Deutschland im Zusammenhang mit Fluchtmigration stehenden relevanten Gruppen Geflüchteter berücksichtigt: 1) Personen, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen war (Asylbewerberinnen und -bewerber), 2) Personen, die einen Schutzstatus zuerkannt bekommen hatten – insbesondere Asylberechtigte nach § 16a des

1Die folgenden Informationen stammen, sofern nicht anders vermerkt, aus Kroh et al. (2017, 2018). 2Insbesondere Resettlement- und Kontingentflüchtlinge (§ 23 Abs. 1, 2 und 4 AufenthG).

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

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Grundgesetzes und Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention sowie subsidiär Geschützte –, sowie 3) Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, deren Ausreise bzw. Abschiebung jedoch aus verschiedenen Gründen ausgesetzt war und die überwiegend eine Duldung erhalten hatten. Für die Ziehung der Stichprobe wurde auf das AZR zurückgegriffen. Im AZR sind alle in Deutschland aufhältigen Personen registriert, die nicht deutsche Staatsbürger3 oder Bürger eines der Staaten der Europäischen Union sind und sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten (Babka von Gostomski und Pupeter 2008). Asylbewerberinnen und -bewerber wurden bis einschließlich März 2016 im AZR erfasst, sobald sie einen formellen Antrag auf Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellt hatten. Seit April 2016 werden sie bereits im Zuge der Registrierung und der Ausstellung des sogenannten Ankunftsnachweises, und somit schon vor der Stellung des formellen Asylantrags, im AZR erfasst. Aufgrund des hohen Zuzugs Schutzsuchender im Jahr 2015 kam es insbesondere ab Mitte dieses Jahres zu Verzögerungen bei der Antragstellung. D.h. nicht alle Asylsuchenden hatten die Möglichkeit, direkt nach ihrer Einreise ihren Asylantrag zu stellen, sondern ein Teil konnte dies erst zeitlich verzögert tun. Dies führte dazu, dass zum Zeitpunkt der geplanten Stichprobenziehung nicht alle Personen, die prinzipiell zur Grundgesamtheit gehörten, da sie im definierten Zeitraum nach Deutschland eingereist waren, um hier einen Asylantrag zu stellen, bereits im AZR erfasst wurden. Um der verzögerten Antragstellung und der damit zusammenhängenden verzögerten Registrierung im AZR Rechnung zu tragen, wurde die Stichprobenziehung der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten auf zunächst vier zeitlich versetzte Tranchen aufgeteilt: die erste Tranche wurde zum AZR-Stand 31. Januar 2016, die zweite und dritte Tranche zum Stand 30. April 2016 und die vierte Tranche zum Stand 30. Juni 2016 gezogen (Tab. 1). Da auch mit Ablauf des Juni 2016 noch vereinzelt Personen, die prinzipiell zur Grundgesamtheit gehörten, nicht im AZR registriert waren, wurde zum Stichtag 31. Januar 2017 eine fünfte Tranche gezogen. Darüber hinaus wurde im Rahmen der fünften Tranche auch die Grundgesamtheit der Studie erweitert, indem nun auch Personen berücksichtigt wurden, die im Zeitraum 1. Februar 2016 bis einschließlich 31. Dezember 2016 nach Deutschland eingereist sind und einen formellen Antrag auf Asyl beim BAMF gestellt haben.

3Entsprechend

sind auch Personen, die neben der deutschen mindestens eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, nicht im AZR erfasst.

192

M. Siegert und N. Rother

Tab. 1   Ziehungstranchen der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten Sample/ Tranche

Ziehungspopulation (Ankerpersonen)

Erwachsene (realisiertes N)

Tranche 1 (M3)

Erwachsene Personen mit 1759 Asylantragsstellung bis 31. Januar 2016

Tranche 2 (M3)

Erwachsene Personen mit Asylantragsstellung zwischen 01. Februar und 30. April 2016

Minderjährige Total (reali(realisiertes N) siertes N) 1389

3148

483

382

865

Tranche 3 (M4)

Erwachsene Personen mit 865 Asylantragsstellung bis 30. April 2016

681

1546

Tranche 4 (M4)

1420 Minderjährige Personen mit Asylantragsstellung bis 30. Juni 2016

2986

4406

4527

5438

9965

Total (netto)

Anmerkungen: Minderjährige in M3 sowie Tranche 1 von M4 sind über das Haushaltskonzept in die Stichprobe eingegangen. Lediglich in Tranche 4 (M4) waren Minderjährige selbst Ankerpersonen. In Welle 1 (2016) stehen zu Minderjährigen lediglich Proxy-Angaben durch den Haushaltsvorstand zur Verfügung. Erst ab Welle 2 (2017) werden Jugendliche mit altersspezifischen Instrumenten persönlich befragt Quelle: Kroh et al. (2018, S. 18)

Dabei dienten die fünf Tranchen nicht nur dazu, der verzögerten Registrierung im AZR Rechnung zu tragen, sondern sie gehören zum Teil auch zu unterschiedlichen Unterstichproben: die Tranchen 1 und 2 bilden die Unterstichprobe M3, bei der erwachsene Geflüchtete im Mittelpunkt stehen, die Tranchen 3 und 4 die Teilstichprobe M4, die geflüchtete Familien in den Fokus nimmt. Tranche 5 bildet schließlich die Teilstichprobe M5, bei der erneut erwachsene Geflüchtete berücksichtigt wurden. Durch die Verwendung von Gewichten sind die unterschiedlichen Teilstichproben gemeinsam auswertbar. Eine Besonderheit der Teilstichprobe M4 ist, dass im Rahmen der Tranche 4 Minderjährige als Ankerpersonen gezogen wurden, wobei unbegleitete Minderjährige aus insbesondere datenschutzrechtlichen Erwägungen nicht befragt wurden. Entsprechend sind in M4 Familien enthalten, die aus mindestens einer erwachsenen erziehungs- bzw. personensorgeberechtigten Person und mindestens einem Kind oder Jugendlichen bestehen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass in der ersten Welle (2016) Minderjährige generell nicht selbst befragt wurden und

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

193

lediglich durch den Haushaltsvorstand zur Verfügung gestellte Proxy-Angaben zu den Minderjährigen zur Verfügung stehen. Erst ab der zweiten Welle (2017) wurden Jugendliche mit altersspezifischen Instrumenten persönlich befragt. Entsprechend beträgt in den Tranchen 1 bis 3 der Anteil Minderjähriger 43 bis 44 %, in Tranche 4 dagegen 68 % (Tab. 1).4 Bei der Stichprobenziehung wurde ein geschichtetes, mehrstufiges Clusterdesign verwendet. Zunächst wurden anhand der die Geflüchteten betreuenden Ausländerbehörden räumliche Cluster gebildet, wobei Behörden zusammengefasst wurden, die weniger als 300 Flüchtlinge betreuten. Bei den Zusammenfassungen wurde darauf geachtet, dass die Behörden innerhalb eines Bundeslandes und in räumlicher Nähe zueinander sowie idealerweise innerhalb einer Kommune oder eines Landkreises lagen. Dadurch entstanden insgesamt 369 Cluster, die ein bis maximal sieben Behörden umfassten. Aus dieser Gesamtheit wurden dann zufällig (mit Zurücklegen) die Primary Sampling Units (PSU) gezogen. Um sicherzustellen, dass bei der Ziehung der PSU alle Regionen in Deutschland berücksichtigt werden, wurde geschichtet. Dafür wurden 16 Schichten entlang der Bundesländer und Landkreistypen (ländlich vs. städtisch) gebildet. Innerhalb der Schichten war die Anzahl der gezogenen PSU proportional zur Größe der sie beinhaltenden Schicht. Dadurch wurde sichergestellt, dass aus Schichten (Regionen), in denen viele Personen der Grundgesamtheit lebten, mehr Cluster gezogen wurden als aus Schichten (Regionen), in denen nur wenige Personen der Grundgesamtheit lebten. Darüber hinaus wurden die Cluster in Abhängigkeit von ihrer Größe gezogen, d. h. größere Cluster hatten eine höhere Chance gezogen zu werden als kleine. Bei der Ziehung der Individuen (Secondary Sampling Units – SSU) kamen schließlich unterschiedliche Ziehungswahrscheinlichkeiten zum Einsatz. Zum einen, um sicherzustellen, dass auch in der Grundgesamtheit schwächer vertretene Gruppen ausreichend in den Daten enthalten und dadurch gezielt analysierbar sind. Zum anderen sollte der Panelcharakter der Studie gestärkt werden; daher bekamen all jene Gruppen eine etwas höhere Ziehungswahrscheinlichkeit, deren Bleibeperspektive in Deutschland hoch war. Insgesamt variierten die Ziehungswahrscheinlichkeiten nach Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus (für mehr Details siehe Kroh et al. 2017, S. 11–12).

4Zum

Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts lagen noch keine diesbezüglichen Informationen zur Tranche 5 vor.

194

M. Siegert und N. Rother

2.3 Die Durchführung der Befragungen Mit den Befragungen war das Befragungsinstitut Kantar Public (ehemals TNS Sozialforschung) betraut. Befragt wurden die aus dem AZR gezogenen erwachsenen Ankerpersonen sowie erwachsene Personen, die mit der Ankerperson jeweils in einem gemeinsamen Haushalt leben. Zu den Haushaltsmitgliedern zählen beispielsweise Partner/-innen, Eltern, erwachsene Kinder, andere erwachsene Verwandte, aber auch Freunde, wenn diese zusammen mit der Ankerperson in einem gemeinsamen Haushalt wohnen und wirtschaften. Informationen zu minderjährigen Familienmitgliedern wurden in der ersten Befragungswelle im Jahr 2016 über die erwachsene Ankerperson erfasst. Während Informationen zu Kindern generell über die erwachsenen Befragten erfasst werden, erhielten Jugendliche ab der zweiten Welle (2017) eigene altersspezifische Instrumente und wurden entsprechend selbst befragt. Die Befragungen wurden als CAPI (Computer Assisted Personal Interviews) in den Privathaushalten der Geflüchteten, aber auch in Gemeinschaftsunterkünften (inklusive Erstaufnahmeeinrichtungen) durchgeführt. Wie im Rahmen des SOEP üblich (siehe hierzu auch den Beitrag von Pagel und Schupp in diesem Band), kamen dabei drei Erhebungsinstrumente zum Einsatz: 1. Personenfragebogen, der sich jeweils an jedes Haushaltsmitglied richtet und anhand dessen personenbezogene Informationen, wie bspw. die persönliche Soziodemografie oder persönliche Einstellungen und Werte, erfasst wurden, 2. Haushaltsfragebogen, der sich an den Haushaltsvorstand richtet und anhand dessen haushaltsbezogene Informationen, wie Art und Größe der Wohneinheit oder die Zusammensetzung des Haushalts, erfasst wurden, 3. Interviewerfragebogen, der sich an die Interviewer/-innen richtet und anhand dessen die Interviewsituation, wie Zeitpunkt und Länge des Interviews oder ob und ggf. welche Störungen aufgetreten sind, erfasst wurde. Um zu gewährleisten, dass auch Personen mit geringen Deutschkenntnissen an der Befragung teilnehmen können, standen der Personen- und der Haushaltsfragebogen, neben Deutsch, in sechs weiteren Sprachversionen zur Verfügung: Englisch, Arabisch, Farsi/Dari, Paschtu, Urdu und Kurmandschi. Dass mehr als die Hälfte der Interviews komplett anhand eines übersetzten Fragebogens geführt und nur bei rund 14 % ausschließlich der deutsche Fragebogen zum Einsatz kam, weist auf die Relevanz der Übersetzungen hin (Tab. 2). Dabei wurde besonders häufig bei in Arabisch geführten Interviews vollständig auf die übersetzten Ver-

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

195

Tab. 2   Nutzung der übersetzten Fragebögen. (Anteile in Prozent) Deutsch/ Englisch

Deutsch/ Arabisch

Deutsch/ Farsi

Deutsch/ Paschtu

Deutsch/ Urdu

Deutsch/ Total Kurmandschi

Bei jeder Frage

22,9

68,1

59,1

60,0

56,3

41,0

58,6

Bei etwa 2/3 der Fragen

7,4

12,4

13,8

17,8

12,7

12,7

11,9

Bei etwa 50 % der Fragen

5,8

7,7

9,1

11,1

14,1

7,5

7,7

Bei weniger als 50 % der Fragen

10,4

6,4

6,7

6,7

7,0

16,4

7,4

Gar nicht

53,6

5,5

11,3

4,4

9,9

22,4

14,4

Total

100

100

100

100

100

100

100

Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, eigene Berechnung und Darstellung

sionen zurückgegriffen, bei in Kurmandschi oder Englisch geführten Interviews dagegen vergleichsweise selten. Um Personen mit geringer Lesekompetenz nicht von der Befragung auszuschließen, wurden der Personen- und der Haushaltsfragebogen in den sechs genannten nichtdeutschen Sprachen darüber hinaus auch als eingesprochene Audioversion bereitgestellt. Insgesamt kamen die Audiodateien bei gut einem Viertel (26,8 %) der Interviews zum Einsatz, wobei die Nutzungshäufigkeit zwischen den verschiedenen Sprachversionen zum Teil recht deutlich variieren: während bei mehr als zwei Drittel (68,9 %) der in Paschtu und etwas mehr bzw. knapp der Hälfte der in Kurmandschi (54,5 %) oder Urdu (49,3 %) geführten Interviews die Audiodateien zum Einsatz kamen, wurden sie bei in Englisch geführten Interviews kaum (7,9 %) genutzt (Tab. 3). Schließlich wurden bei Verständigungsschwierigkeiten unterstützend noch andere Personen – z. B. Familienangehörige, in einigen Fällen aber auch professionelle Dolmetscher – als Sprachmittler hinzugezogen (Tab. 4). Hinsichtlich der Undurchführbarkeit von Interviews aufgrund sprachlicher Probleme zeigt schließlich ein Blick auf die Ausschöpfung, dass dies auf rund

196

M. Siegert und N. Rother

Tab. 3   Nutzung der Audiodateien. (Anteile in Prozent) Häufigkeit Deutsch/ Englisch

Deutsch/ Arabisch

Deutsch/ Farsi

Deutsch/ Paschtu

Deutsch/ Urdu

Deutsch/ Total Kurmandschi

Bei jeder Frage

1,3

6,7

11,6

17,8

14,1

26,1

7,3

Bei etwa 2/3 der Fragen

2,0

6,5

9,3

11,1

12,7

10,5

6,4

Bei etwa 50 % der Fragen

1,4

4,1

4,6

17,8

8,5

5,2

4,0

Bei weniger als 50 % der Fragen

3,3

9,6

11,6

22,2

14,1

12,7

9,1

Gar nicht

92,1

73,1

62,9

31,1

50,7

45,5

73,2

Total

100

100

100

100

100

100

100

Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, eigene Berechnung und Darstellung

Tab. 4  Einsatz von Sprachmittlern. (Anteile in Prozent)

Professionelle Dolmetsche

1,7

Andere Person

34,2

Niemand

64,1

Total

100

Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, eigene Berechnung und Darstellung

neun Prozent der Ausfälle zutrifft (Tab. 5). Sprachliche Schwierigkeiten waren somit kein zentraler Hinderungsgrund, an der Studie teilzunehmen. Allgemein zeigt sich, dass bei der ersten Befragungswelle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten eine vergleichsweise hohe Ausschöpfungsquote von nahezu 50 % erreicht werden konnte. Dabei kamen fast 60 % der Ausfälle dadurch zustande, dass Ankerpersonen entweder nicht auffindbar (40,2 %) oder nicht erreichbar (17,6 %) waren, was ungefähr den Erfahrungen

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

197

Tab. 5   Ausschöpfung der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. (Anteile in Prozent) Realisierte Ankerpersonen-Interviews

48,7

Ausfall

51,3 davon Haushalt nicht auffindbar

40,2

Haushalt nicht erreichbar

17,6

Krankheit oder Pflegefall

1,7

Sprachliche Probleme

8,9

Zeitmangel

18,4

Derzeit nicht bereit

4,8

Verweigerung der Teilnahme

8,4 100

Insgesamt

100

Anmerkung: Die Berechnung der Rate der Teilnahmebereitschaft orientiert sich an der Systematisierung der American Organisation of Opinion Research (AAPOR 2016). Qualitätsneutrale Ausfälle und Haushalte, die aufgrund der hohen Teilnahmebereitschaft nicht mehr ins Feld gegeben wurden, werden in der Tabelle nicht ausgewiesen. Hinzukommend werden Ankerpersonen, die zum Befragungszeitpunkt nicht mehr in Deutschland leben, nicht beachtet, da sie nicht mehr zur Grundgesamtheit gehören Quelle: Kroh et al. 2018, S. 22

aus Einwohnermeldeamtsstichproben entspricht und auf eine hohe Adressqualität hindeutet (Kroh et al. 2018, S. 22). So genannte harte Verweigerungen waren mit rund acht Prozent vergleichsweise selten.

2.4 Das Fragenprogramm Bei der Entwicklung des Fragenprogramms wurden drei Schwerpunkte gesetzt: 1. Schließen vorhandener Erkenntnislücken zur Lebenssituation Geflüchteter in Deutschland durch ein möglichst breites Fragenprogramm, wobei ein besonderer Fokus auf die Themenbereiche Flucht und Ankommen in Deutschland, mitgebrachte Qualifikationen sowie (Aus-)Bildung und Erwerbstätigkeit in Deutschland und die Lebenssituation geflüchteter Familien gelegt wurde.

198

M. Siegert und N. Rother

2. Die Analyse der Veränderung der Lebenssituation Geflüchteter in Deutschland über die Zeit. Entsprechend wiederholen sich zentrale Teile des Fragenprogramms in jeder Welle. 3. Vergleichbarkeit mit anderen Bevölkerungsgruppen, um die Ergebnisse sinnvoll einordnen zu können. Hierzu wurde auf die Vergleichbarkeit mit dem Kern-SOEP (vgl. den Beitrag von Pagel und Schupp in diesem Band) und der IAB-SOEP-Migrationsbefragung geachtet, indem die Fragenprogramme aufeinander abgestimmt wurden. Bei vom SOEP-Standard abweichenden Fragen wurde darauf geachtet, möglichst die Vergleichbarkeit mit anderen Datensätzen, z. B. dem World Value Survey, herzustellen. Im Rahmen der drei Befragungswellen werden bei den erwachsenen Befragten Informationen, welche gerade auch für die Kinder- und Jugendhilfe eine ausgesprochene Relevanz besitzen, zu folgenden Bereichen erhoben: • Herkunft und der Weg nach Deutschland, • Stand des Asylverfahrens, • Unterkunft in Deutschland, • materielle Ausstattung und gesellschaftliche Teilhabe, • Bekanntheit, Bedarf und Nutzung von Unterstützungs- und Beratungsangeboten, • Sprachkenntnisse und Sprachkursbesuch, • Schul-, Hochschul- und Berufsbildung im Ausland und in Deutschland, • Anerkennung von Abschlüssen, • Erwerbstätigkeit und Einkünfte im Ausland sowie in Deutschland, • Gesundheitszustand (physisch und psychisch), • Persönlichkeit, • Einstellungen und Werte, • soziale Netzwerke, • familiäre Situation, • kognitive Grundfertigkeiten, • Einverständniserklärung zur Registerverknüpfung. Zu diesen Fragen, die sich speziell an Erwachsene richten, kommen Fragen für bzw. mit Bezug auf Kinder und Jugendliche hinzu. Ab der zweiten Welle werden – entsprechend des SOEP-Standards (siehe hierzu auch den Beitrag von Pagel und Schupp in diesem Band) – altersspezifische Kinderinstrumente eingesetzt. Zum einen werden Kinder und Jugendliche spezieller Geburtenjahrgänge (hier: 2005, 2003 und 2000) mit Einverständnis der Eltern selbst

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

199

befragt. Bei jüngeren im Haushalt lebenden Kindern (hier die Geburtsjahrgänge 2016/2017, 2014, 2011, 2009 und 2007) werden die Informationen anhand entsprechender Fragebögen über die Mütter oder ggf. die Väter erfasst. Tab. 6 gibt eine Übersicht darüber, welche kinder- und jugendspezifischen Fragen in den jeweiligen Altersklassen erhoben wurden.5 Als Ergänzung zu dem durch das Projektteam entwickelten und zusammengestellten Fragenprogramm wurde interessierten externen Wissenschaftler/-innendie Möglichkeit geboten, Einfluss auf die dritte ­ Befragungswelle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung im Jahr 2018 zu nehmen, indem sie eigene Fragestellungen sowie auch neue Items einzelner Fragebatterien einbringen konnten. Die Vorschläge wurden vom Projektteam begutachtet und geeignete Fragestellungen und Items in das Fragenprogramm integriert. Schließlich stehen nicht nur direkt im Rahmen des Surveys erhobene Informationen zur Verfügung. Sofern die Befragten ihre Einwilligung hierzu gegeben haben, werden die Befragungsdaten am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit Daten aus den Integrierten Erwerbsbiografien (IEB) zusammengespielt. Die IEB entstammen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) und enthalten tagesgenaue Informationen zur Arbeitsmarktsituation der Betroffenen inkl. Informationen über die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen der BA.6 Der verknüpfte Datensatz enthält somit sowohl detaillierte Informationen über die befragten Personen als auch genaue Angaben zum Verlauf ihrer Arbeitsmarktintegration in Deutschland. Da rund 80 % der Befragten einer Verknüpfung ihrer Befragungsdaten mit den IEB zugestimmt haben, können mit dem verknüpften Datensatz auch verallgemeinerbare Ergebnisse gewonnen werden (Kroh et al. 2018, S. 24).

2.5 Datenzugang Die Daten der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten werden am Forschungsdatenzentrum (FDZ) des SOEP nutzerfreundlich aufbereitet, in das

5Alle eingesetzten Fragebögen werden im Rahmen der SOEP-Dokumentation publiziert und können unter http://www.diw.de/de/diw_02.c.222729.de/instrumente_feldarbeit.html heruntergeladen werden. 6Nähere Informationen zu den IEB sind auf den Internetseiten des Forschungsdatenzentrum (FDZ) der BA zu finden: http://fdz.iab.de/de/FDZ_Individual_Data/Integrated_Employment_Biographies.aspx.

200

M. Siegert und N. Rother

Tab. 6   Übersicht über die kinderspezifischen Fragebogeninhalte der zweiten Befragungswelle nach Geburtsjahrgang Fragebogeninhalte

Geburtsjahrgang 2000 2003 2005 2007 2009 2011 2014 2016/2017 (x)

x

x

x

x

(x)

x

x

Fragen zur Schwangerschaft/ Entbindung, Änderung Lebensumstände durch Geburt Sprachkenntnisse, Sprachnutzung, Deutschförderung

x

x

x

x

x

Besuch von Kindertageseinrichtungen, Kinderbetreuung Bildungsbeteiligung von Kindern im Ausland und in Deutschland, Schulnoten, Unterstützung bei Schulbildung

x

x

x

x

x

x

Identifikation mit Schule (School Belonging Scale)

x

x

x

Berufliche Bildung, Erwerbstätigkeit

x

x

Gesundheitszustand (physisch x und psychisch)

x

x

x

x

x

x

x

x Einschätzung eigener Eigenschaften und Verhalten, Persönlichkeit

x

x

x

x

x

x

x

x

Erziehungsziele, Elternrolle

x

Familienbeziehungen

x

x

x

Ausstattung mit Büchern/ Medien

x

x

x

Freizeitbeschäftigungen

x

x

x

Soziale Netzwerke, Freunde

x

x

x

Politisches Interesse, Religiosi- x tät, Geschlechterrollen, Einstellungen

x



x

Anmerkung: In den Jahrgängen 2007 und jünger wurden die Informationen über die Mutter/den Vater erhoben Quelle: eigene Darstellung

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

201

Datenangebot des SOEP integriert und interessierten Forscherinnen und Forschern über das FDZ als Scientific Use File (SUF) zur Verfügung gestellt (siehe hierzu auch den Beitrag von Pagel und Schupp in diesem Band). Darüber hinaus stehen die Daten als SUF auch über das FDZ der BA im IAB zur Verfügung; der mit den IEB verknüpfte Datensatz wird für interessierte Wissenschaftler/-innen aus Datenschutzgründen nur am FDZ der BA im IAB im Rahmen eines Gastaufenthalts mit anschließender Datenfernverarbeitung angeboten.

3 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten Im Folgenden wird zunächst auf Größe und Zusammensetzung der Stichprobe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der ersten Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten eingegangen, bevor anhand der familiären sowie der (Aus-)Bildungssituation und der Arbeitsmarktbeteiligung deren Lebenssituation kurz skizziert wird.

3.1 Größe und Zusammensetzung der Stichprobe Insgesamt stehen in der ersten Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten aus dem Jahr 2016 Informationen zu 6717 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von Null bis 26 Jahren zur Verfügung (Tab. 7)7. Trotz dieser vergleichsweise hohen Fallzahl sind Differenzierungen nach unterschiedlichen Subgruppen nur begrenzt möglich. So stehen nur für die Staatsangehörigkeiten Syrien, Irak und Afghanistan ausreichend große Fallzahlen zur Verfügung, um zusätzlich auch nach Altersgruppen und Geschlecht differenzierte Analysen durchzuführen.

3.2 Familiäre Situation 92 % der minderjährigen Geflüchteten leben mit mindestens einem Elternteil zusammen, acht Prozent mit mindestens einer anderen primären Bezugsperson

7Die

in Tab. 7 ausgewiesene geringere Gesamtfallzahl von nur 6700 anstatt 6717 Fällen resultiert aus fehlenden Informationen zum Alter und/oder dem Geschlecht.

202

M. Siegert und N. Rother

Tab. 7   Anzahl der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach Altersgruppen, Geschlecht und Staatsangehörigkeit Weiblich Syrien

Männlich

0–5

6–11

12–17

18–26

0–5

6–11

12–17

18–26

Total

432

486

328

185

506

529

424

394

3.284

Irak

114

136

102

61

138

157

117

123

948

Afghanistan

141

130

103

68

148

152

106

125

973

Eritrea

26

Westl. Balkan 70

7

4

43

31

13

15

83

222

71

63

18

58

61

59

26

426

Ehem. SU

63

63

17

14

63

54

31

7

312

MENA

23

26

24

10

31

30

20

12

176

Restl. Afrika

30

9

1

19

37

13

4

61

174

Sonst.

15

28

16

6

31

36

23

30

185

Total

914

956

658

424

1043

1045

799

861

6700

Anmerkungen: ehem. SU steht für Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und umfasst hier: Armenien, Georgien, Russische Föderation, Ukraine, Moldawien, Tschetschenien, Aserbaidschan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan; MENA steht für Middle East and North Africa (Naher Osten und Nordafrika) und umfasst hier: Algerien, Iran, Libanon, Marokko, Palästina, Ägypten, Jemen, Jordanien, Libyen, Saudi Arabien und Tunesien; restl. Afrika steht für Afrika ohne Eritrea und Nordafrika Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016 v33, eigene Berechnung und Darstellung

(Tab. 8). Bei diesen anderen Bezugspersonen handelt es sich überwiegend um Geschwister (62,2 %), Onkel und/oder Tanten (20,1 %), Großeltern (6,8 %) oder Cousins und/oder Cousinen (5,5 %). Dabei nimmt der Anteil derjenigen, die bei mindestens einer anderen primären Bezugsperson als dem Vater und/oder Tab. 8   Stellung der Minderjährigen zum Haushaltsvorstand nach Altersgruppen Altersgruppe 0 bis 5 Jahre

6 bis 11 Jahre

12 bis 17 Jahre

Total

Kind des Haushaltsvorstands

97,6

94,3

83,9

92,0

Sonstige Stellung

2,4

5,7

16,1

8,0

Total

100

100

100

100

n = 5413 Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, Daten gewichtet, eigene Berechnung und Darstellung

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

203

der Mutter leben, mit zunehmendem Alter zu: während rund 98 % der bis Fünfjährigen bei mindestens einem Elternteil leben, beträgt der Anteil bei den 12- bis 17-Jährigen rund 84 %. Bei rund 89 % der Kinder und Jugendlichen lebt der Partner/die Partnerin des Elternteils, bei dem sie leben, mit im gemeinsamen Haushalt, bei rund sechs Prozent ist diese Person jedoch (noch) im Ausland (Tab. 9). Dabei sollte es sich bei der deutlich überwiegenden Mehrheit dieser Partner/Partnerinnen um den jeweils anderen Elternteil der Kinder und Jugendlichen handeln. Jedoch liegen hierzu keine differenzierten Informationen vor. Darüber hinaus werden hier auch Partner/Partnerinnen berücksichtigt, mit denen das jeweilige Elternteil nicht verheiratet ist. Insgesamt ist aber davon auszugehen, dass von bis zu 14 % der geflüchteten Minderjährigen beide Elternteile (acht Prozent) oder ein Elternteil (sechs Prozent) nicht mit in Deutschland, sondern (noch) im Ausland leben bzw. lebt (siehe hierzu auch Brücker 2017). Bei den geflüchteten jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 26 Jahren zeigt sich, dass knapp ein Fünftel (18,5 %) bereits verheiratet ist (Tab. 10) und rund 16 % bereits mindestens ein Kind haben. Dabei haben von denen, die bereits

Tab. 9  Aufenthalt des Partners/der Partnerin des Vaters/der Mutter der Kinder und Jugendlichen

Anteil in % Mit im Haushalt

89,4

Nicht im Haushalt, aber in Deutschland

4,2

Im Ausland

6,4

Total

100

n = 4791 Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, Daten gewichtet, eigene Berechnung und Darstellung Tab. 10  Familienstand der jungen Erwachsenen

Anteil in % Ledig

80,1

Verheiratet

18,5

Geschieden od. verwitwet

1,4

Total

100

n = 1277 Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, Daten gewichtet, eigene Berechnung und Darstellung

204

M. Siegert und N. Rother

Abb. 1   Anteile der im Ausland lebenden Angehörigen der Kernfamilie bei jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 26 Jahren n = 397/1285. (Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, Daten gewichtet, eigene Berechnung und Darstellung)

mindestens ein Kind haben, etwas mehr als die Hälfte (55,0 %) ein Kind und ein weiteres Drittel (32,9 %) zwei Kinder. Drei und mehr Kinder sind entsprechend (noch) vergleichsweise selten (12,1 %). Bei fast einem Viertel (23,4 %) der verheirateten jungen Erwachsenen lebt der bzw. die Ehepartner/-in (noch) im Ausland, bei ebenfalls knapp einem Viertel (23,9 %) der jungen Erwachsenen mit Kind lebt mindestens ein Kind (noch) im Ausland. Werden diese Informationen zusammengefasst, so zeigt sich, dass von rund 29 % der geflüchteten jungen Erwachsenen, die verheiratet sind und/oder Kinder haben, der bzw. die Ehepartner/-in und/oder mindestens ein Kind (noch) im Ausland lebt/leben (Abb. 1). Bei rund sieben Prozent leben Ehepartner/-in und Kind(er) im Ausland, bei zehn Prozent nur mindestens ein Kind und bei 13 % nur der bzw. die Ehepartner/-in. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass weniger als ein Fünftel der jungen Erwachsenen verheiratet ist und/oder Kinder hat (s. o.). Entsprechend ist der Anteil junger Erwachsener, deren Ehepartner/-in und/oder Kind(er) im Ausland leben, deutlich geringer – nämlich rund sechs Prozent (Abb. 1) –, werden alle befragten jungen Erwachsenen berücksichtigt.

3.3 Schulische Allgemeinbildung Mehr als 90 % der geflüchteten Kinder im Grundschulalter besuchten im Herbst 2016 bereits eine Schule oder Kindertageseinrichtung, wobei nur knapp die Hälfte dieser Kinder eine Sprachförderung erhielt (Gambaro et al. 2017). Bei den

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

205

unter Sechsjährigen variierte die Nutzung einer Kindertageseinrichtung deutlich mit dem Alter, wobei die Nutzungsquote in der Gruppe der Drei- bis unter Sechsjährigen bereits relativ hoch war: So besuchten in dieser Altersgruppe bereits rund 80 % eine Kita, womit sie nur leicht unter dem Anteil bei allen in Deutschland lebenden Kindern liegen, der bei 95 % liegt (Gambaro et al. 2017, S. 384). Dabei nimmt bei den Drei- bis unter Sechsjährigen die Wahrscheinlichkeit, eine entsprechende Einrichtung zu besuchen, mit der Aufenthaltsdauer und einer Unterbringung in einer Einzelunterkunft zu (Gambaro et al. 2017, S. 385). Bei den unter Dreijährigen ist die Nutzungshäufigkeit von Einrichtungen schließlich erwartungsgemäß, und auch analog zur Gesamtpopulation aller in Deutschland lebenden Kinder, mit 15 % vergleichsweise niedrig. Mit Blick auf die jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 26 Jahren zeigt sich, dass weniger als zehn Prozent der Geflüchteten aus dieser Altersgruppe in ihrem Leben noch keine Schule besucht haben, wobei der Anteil bei den Frauen mit zwölf Prozent höher ist als bei den Männern mit sieben Prozent. Von denjenigen geflüchteten jungen Erwachsenen, die im Ausland eine Schule besucht haben, hat sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen rund ein Drittel die Schule nach durchschnittlich knapp acht Jahren ohne Abschluss verlassen (siehe Tab. 11). Besonders hoch ist dieser Anteil bei Personen aus Afghanistan (46 %), Eritrea (55 %) und den restlichen afrikanischen Ländern (55 %). Demgegenüber haben 36 % der jungen Männer und 41 % der jungen Frauen, die im Herkunftsland eine Schule besucht haben, eine weiterführende Schule abgeschlossen. Mit rund 53 % trifft dies besonders häufig auf Personen aus Syrien zu. Im Herbst 2016 war bei den geflüchteten jungen Erwachsenen die Bildungsbeteiligung in Deutschland noch gering. Sechs Prozent besuchten zum Zeitpunkt der Befragung eine Schule, weitere vier Prozent hatten eine Schule bereits wieder verlassen, wobei davon 72 % einen Abschluss erreicht hatten. 25 % aller Befragten strebten aber ganz sicher und weitere 36 % vielleicht einen (weiteren) Schulabschluss in Deutschland an.

Tab. 11   Schulabschlüsse im Ausland Männer

Frauen

Total

∅ Jahre Schulbesuch

Pflichtschule ohne Abschluss

33,1

34,9

33,4

7,6

Pflichtschule mit Abschluss

28,5

22,7

27,5

10

Weiterführende Schule

36,1

40,7

36,9

12

Abschluss einer anderen Schule

2,3

1,7

2,2

9,6

n = 1166 Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, Daten gewichtet, eigene Berechnung und Darstellung

206

M. Siegert und N. Rother

3.4 Berufliche Bildung 20 % der geflüchteten jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 26 Jahren hatten im Herkunftsland eine berufliche oder akademische Ausbildung zumindest begonnen, wobei auch in diesem Fall Befragte aus Afghanistan (9 %), Eritrea (10 %) und dem restlichen Afrika (9 %) unterdurchschnittlich, Personen aus Syrien (26 %) und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion (52 %) dagegen überdurchschnittlich abschnitten. Von denjenigen, die im Herkunftsland eine berufliche oder akademische Ausbildung zumindest begonnen hatten, gaben die meisten an, eine Hochschule besucht zu haben (Männer: 61 %; Frauen: 87 %), wobei jedoch insgesamt nur ein gutes Viertel (25,7 %) der Befragten auch einen entsprechenden Abschluss erreicht hat (siehe Tab. 12). Die Aspirationen, noch einen Ausbildungs- oder Hochschulabschluss in Deutschland anzustreben sind hoch: 56 % möchten dies ganz sicher, weitere 26 % vielleicht angehen.

Tab. 12   Berufliche Bildung im Ausland. (Anteile in Prozent) Männer Angelernt Betriebliche Ausbildung Berufsbildende Schule Hochschule Sonstiges Promotion (Ausland)

Frauen

Total

ohne Zeugnis

4,7

3,0

3,6

mit Zeugnis

2,5

1,9

2,8

ohne Zeugnis

2,9

0

2,0

mit Zeugnis

13,1

0

3,6

ohne Zeugnis

2,6

1,4

3,2

mit Zeugnis

7,0

1,4

7,1

ohne Zeugnis

41,5

33,8

47,8

mit Zeugnis

19,9

52,9

25,7

ohne Zeugnis

1,2

4,7

1,6

mit Zeugnis

1,1

0,9

0,8

ohne Zeugnis

1,7

0

0,8

mit Zeugnis

1,8

0

1,2

n = 253 Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016, v33, Daten gewichtet, eigene Berechnung und Darstellung

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

207

3.5 Erwerbstätigkeit der jungen Erwachsenen Nur ein kleiner Teil der jungen Erwachsenen war zum Zeitpunkt der Befragung in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 bereits erwerbstätig: vollzeiterwerbstätig waren nur rund drei Prozent und weitere rund zwei Prozent teilzeiterwerbstätig. Rund zwei Prozent hatten eine Ausbildung bzw. Lehre begonnen. Demgegenüber waren rund 87 % nicht erwerbstätig. Weitere rund drei Prozent befanden sich in einem betrieblichen Praktikum und rund zwei Prozent waren geringfügig beschäftigt. Diese Ergebnisse sind auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass nur rund 20 % der geflüchteten jungen Erwachsenen im Herkunftsland eine berufliche Ausbildung begonnen haben (s. o.). Dies allein lässt befürchten, dass der Arbeitsmarkteinstieg in Deutschland von Schwierigkeiten begleitet sein könnte – mit den daraus erwachsenden Folgen für die Lebensumstände der Betroffenen und ihrer Familien.

4 Zusammenfassung und Fazit Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten ist die zentrale Datenquelle für Sekundäranalysen zur Lebenssituation geflohener Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener. Im Datensatz zur ersten Welle aus dem Jahr 2016 stehen umfangreiche Informationen zu rund 6700 Geflüchteten im Alter bis 26 Jahren zur Verfügung. Zu beachten ist aber auch, dass spezifische Untersuchungen zu unterschiedlichen Subgruppen nur eingeschränkt möglich sind. Nur für die Staatsangehörigkeiten Syrien, Irak und Afghanistan stehen ausreichend große Fallzahlen für tief differenzierte Analysen zur Verfügung. Eine weitere wichtige Einschränkung ist, dass unbegleitete Minderjährige in der Studie nicht berücksichtigt werden. Ein erster Einblick in die Lebenssituation der geflüchteten jungen Menschen zeigt, dass die deutlich überwiegende Mehrheit der in der Studie berücksichtigten, begleitet eingereisten Minderjährigen zusammen mit den Eltern lebt. Der Anteil derjenigen, die von mindestens einem Elternteil getrennt leben, ist zwar vergleichsweise klein, sollte aber nicht vernachlässigt werden. Hier werden die Daten der folgenden Wellen zeigen, welche Folgen die Trennung von den Eltern für das Leben der Betroffenen hat. Von den jungen Erwachsenen sind zwar (noch) nicht viele verheiratet und/oder haben Kinder, diejenigen aber, auf die das zutrifft, leben jedoch vergleichsweise

208

M. Siegert und N. Rother

häufig von Partner/-in und/oder Kindern getrennt. Auch hier werden die Daten der folgenden Wellen zeigen, welche Folgen diese Trennung für das Leben der Betroffenen hat. Zwar zeichnet sich bei der Sprachförderung geflüchteter Schulkinder noch Nachholbedarf ab, dennoch scheint die Bildungsbeteiligung der Kinder weitgehend gesichert. Schwieriger gestaltet sich die Situation bei den jungen Erwachsenen. So zeichnet sich zum einen bei der schulischen Allgemeinbildung eine Polarisierung ab, zum anderen können nur wenige geflüchtete junge Erwachsene berufliche Qualifikationen vorweisen. Entsprechend schwierig dürfte sich der Arbeitsmarkteinstieg in Deutschland gestalten. So war die deutlich überwiegende Mehrheit der jungen Erwachsenen in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 nicht erwerbstätig. Dabei handelt es sich bei diesen ersten Ergebnissen um Momentaufnahmen aus der zweiten Hälfte des Jahres 2016. Die Daten der Wellen zwei und drei, die voraussichtlich jeweils ab Herbst der Jahre 2018 und 2019 zur Verfügung stehen, werden tiefere Einblicke ermöglichen und es insbesondere möglich machen, Entwicklungen und deren Einflüsse zu analysieren. Hinzu kommt, dass ab der zweiten Welle auch die kinder- und jugendspezifischen Instrumente zum Einsatz kommen, was das Analysepotenzial entsprechend noch mal deutlich erweitert.

Literatur American Association for Public Opinion Research (AAPOR). 2016. Standard Definitions: Final Dispositions of Case Codes and Outcome Rates for Surveys. Technical Report. Babka von Gostomski, C., und M. Pupeter. 2008. Zufallsbefragung von Ausländern auf Basis des Ausländerzentralregisters. In Methoden, Daten, Analysen, 2(2), 152. Brücker, H. 2017. Familiennachzug: 150.000 bis 180.000 Ehepartner und Kinder von Geflüchteten mit Schutzstatus leben im Ausland. IAB-Forum, 19.10.2017, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Bundesministerium des Innern (BMI). 2016. 890.000 Asylsuchende im Jahr 2015, Pressemitteilung vom 30.9.2016, Download: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015.html (Abruf: 05.06.2018). Gambaro, L., E. Liebau, F. Peter, und F. Weinhardt. 2017. Viele Kinder von Geflüchteten besuchen eine Kita oder Grundschule: Nachholbedarf bei den unter Dreijährigen und der Sprachförderung von Schulkindern. DIW Wochenbericht Nr. 19.2017, Berlin: DIW. Kroh, M., S. Kühne, J. Jacobsen, M. Siegert, und R. Siegers. 2017. Sampling, nonresponse, and integrated weighting of the 2016 IAB-BAMF-SOEP Survey of Refugees (M3/M4) – revised version. SOEP Survey Paper 477: Series C. Berlin: DIW/SOEP.

Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten

209

Kroh, M., A. Böhm, H. Brücker, J. Jacobsen, S. Kühne, E. Liebau, J. A. Scheible, J. Schupp, M. Siegert, und P. Trübswetter. 2018. Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Studiendesign und Feldergebnisse der Welle 1 (2016). In IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016: Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzialen. Forschungsbericht 30 – korrigierte Version, Hrsg. H. Brücker, N. Rother, und J. Schupp, 17–24. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Statistisches Bundesamt. 2016. Höchststände bei Zuwanderung und Wanderungsüberschuss in Deutschland, Pressemeldung vom 14. Juli 2016 – 246/16, Wiesbaden.

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBBFDZ Anett Friedrich und Elisabeth M. Krekel 1 Einleitung Für die empirische Sozialforschung ist die Nutzung von Sekundärdaten in den letzten Dekaden immer entscheidender geworden. Schon 2010 konstatiert Fleck, dass seit 1990 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie bei empirischen Arbeiten häufiger bereits vorhandene Datensätze ausgewertet werden, als dass Daten für den Forschungszweck des Artikels eigens erhoben werden (Fleck 2010, S. 185). Die Bedeutung der Nachnutzung von erhobenen Daten, seien es Umfrage- oder prozessproduzierte Daten, lässt sich auch an der immer besseren Infrastruktur in diesem Bereich ablesen. So sind etwa beim Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) derzeit 34 Forschungsdatenzentren akkreditiert (RatSWD 2019), die insgesamt über 3200 Datensätze im Angebot haben, aus welchen bisher über 1800 bekannte Veröffentlichungen mit Sekundäranalysen hervorgegangen sind (RatSWD 2017). Die von den Forschungsdatenzentren Anett Friedrich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsdatenzentrums im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). Prof. Dr. Elisabeth M. Krekel ist Leiterin der Abteilung Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsmonitoring im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) sowie Honorarprofessorin an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Hochschule Bremen. A. Friedrich (*) · E. M. Krekel  Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] E. M. Krekel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_11

211

212

A. Friedrich und E. M. Krekel

bereitgestellten Forschungsdaten umfassen ein breites Themenspektrum von Gesundheitsdaten über Daten zur Arbeitsmarktforschung bis hin zu Bildungsdaten. Das Forschungsdatenzentrum im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBBFDZ) als Teil dieser Infrastruktur bietet Daten zur Berufsbildungsforschung an. Das BIBB als Ressortforschungseinrichtung des Bundes hat den gesetzlichen Auftrag „durch wissenschaftliche Forschung zur Berufsbildungsforschung beizutragen“ (§ 90, Abs. 2 BBiG.). Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe werden zahlreiche Datensätze erhoben, zum Teil wiederum vom BIBB-FDZ aufbereitet und der externen Wissenschaft zur Verfügung gestellt.1 Der vorliegende Beitrag stellt das Angebot des BIBB-FDZ für die Berufsbildungsforschung vor. Im nächsten Kapitel werden die Forschungsdaten des BIBB-FDZ beschrieben und anschließend wird erklärt, wie der Zugang zu den Daten organisiert ist. Im dritten Kapitel werden drei exemplarische Datensätze vorgestellt und bisherige Arbeiten mit diesen skizziert. Im vierten und letzten Abschnitt werden Potenziale der Forschungsdaten des BIBB-FDZ sowie weiterführende Fragestellungen diskutiert.

2 Die Forschungsdaten des BIBB-FDZ 2.1 Strukturierung der Forschungsdaten Das Datenangebot des BIBB-FDZ beinhaltet über 70 Datensätze. Methodisch können die Forschungsdaten nach ihren Erhebungseinheiten (Personen oder Betriebe) sowie nach dem Erhebungsdesign (Quer- und Längsschnitt) unterschieden werden. Thematisch umfassen sie idealtypische Stationen (beruflicher) Bildungsverläufe: Schule, „1. Schwelle“ (Übergang von der Schule in die Berufsausbildung), Berufsausbildung, „2. Schwelle“ (Übergang von der Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt), Berufstätigkeit und Weiterbildung (siehe Abb. 1).

Internetseiten

www.bibb-fdz.de https://metadaten.bibb.de/

1Ein

kurzer Überblick, wie aus den Datenbeständen des BIBB die vom BIBB-FDZ bereitgestellten Forschungsdaten werden, wird in Alda et al. (2016) gegeben.

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ

213

Abb. 1   Thematisch-methodische Strukturierung der BIBB-FDZ-Forschungsdaten. (Grafik: @ BIBB-FDZ)

Jeder Forschungsdatensatz des BIBB-FDZ kann mindestens einer dieser Stationen zwischen Schule und Weiterbildung zugeordnet werden. In Tab. 1 sind alle Forschungsdatensätze aufgeführt, die sich genau einer Station zuordnen lassen. Ein Beispiel für einen solchen Datensatz ist die „BIBB-Jugendlichenbefragung 2010 – Verbesserung des Übergangs von der Schule in die Berufsausbildung“, welcher der 1. Schwelle zugordnet werden kann. Befragt wurden im Erhebungsjahr 2005 Berufsschüler/innen und Jugendliche in Maßnahmen des Übergangsbereiches; sie sollten die Übergangssituation von der Schule in die Berufsausbildung einschätzen und verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung des Übergangs an der 1. Schwelle bewerten. Darüber hinaus ist eine Besonderheit dieser Befragung, dass parallel ein Expertenmonitor2 durchgeführt wurde, in welchem die Einschätzung von Expertinnen und Experten der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu denselben Verbesserungsvorschlägen abgefragt wurde. Somit ist es möglich, die Beurteilungen beider Gruppen miteinander zu vergleichen (vgl. Autorengruppe BIBB/Bertelsmann Stiftung 2011). Darüber hinaus gibt es Forschungsdatensätze, die bis zu fünf der idealtypischen Stationen der (beruflichen) Bildungsverläufe abbilden (vgl. Tab. 2).

2Der

Expertenmonitor ist ein Online-System, welches in unregelmäßigen Abständen ca. 1200 Fachleute der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu aktuellen Themen der Berufsbildung befragt (siehe auch https://expertenmonitor.bibb.de/ sowie Tab. 2).

Betriebe

2004

BIBB-Befragung zur Ausbildungsbereitschaft von Betrieben

Wirksamkeit von Instrumenten zur Stabilisierung der betrieblichen Ausbildungsbeteiligung

Umfang und Gründe für die Auszubildende Vertragslösung; beruflicher Verbleib nach einer Vertragslösung

2002

BIBB-Vertragslöserstudie

Berufsausbildung

Berufsausbildung

1. Schwelle

Bundesländer

Aggregierte Daten zu Schulabgängern, Ausbildungsplatzangebot, außerbetrieblichen Ausbildungsstellen, dem Übergangsbereich und zur schulischen Ausbildung

Integration in Berufsaus2005–2012 bildung (Übergangsbereich)

1. Schwelle

Berufsschüler/innen und Jugendliche

Einschätzungen und Verbesserungsmöglichkeiten des Übergangs von der Schule in die Berufsausbildung

2010

BIBB-Jugendlichenbefragung 2010 – Verbesserung des Übergangs von der Schule in die Berufsausbildung

Schule Schüler/innen der Abgangsklasse allgemeinbildender Schulen

Berufsbezeichnungen und deren Einfluss auf die Berufswahl der Befragten

BIBB-Schülerbefragung zu 2005 Berufsbezeichnungen

Station im Lebenslauf

Erhebungseinheit

Name des Datensatzes/ der Erhebungsjahr Inhalt der Befragung Datensatzfamiliea

Tab. 1   Forschungsdaten des BIBB-FDZ mit einem Themenschwerpunkt nach Stationen im Lebenslauf

(Fortsetzung)

214 A. Friedrich und E. M. Krekel

Berufsausbildung

Berufsausbildung

Ausbildungsbetriebe Planung, Durchführung und Gestaltung betrieblicher Ausbildung; Rahmenbedingungen, innerhalb derer Ausbildungsaufgaben stattfinden; Qualitätsmaßstäbe, die an die Ausbildung angelegt werden Auszubildende Qualitätskriterien beruflicher Ausbildung, deren Relevanz für die Befragten; Problem- und Konfliktfelder bei der Ausbildung

2008

2008

BIBB-Studie Ausbildung aus Sicht der Auszubildenden

Berufsausbildung

Station im Lebenslauf

Betriebe, Handwerks-/ Einschätzungen zur Industrie- und HandelsAussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung kammern (AEVO) und zur Qualität betrieblicher Ausbildung

Erhebungseinheit

BIBB-Erhebung zur Gestaltung und Durchführung der betrieblichen Ausbildung

2007 BIBB-Betriebs- und Kammerbefragung zur Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung (AEVO)

Name des Datensatzes/ der Erhebungsjahr Inhalt der Befragung Datensatzfamiliea

Tab. 1   (Fortsetzung)

(Fortsetzung)

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ 215

2012

Ziele und Nutzen einer Auf- Personen stiegsfortbildung

Personen Individuelle Kosten und Nutzen beruflicher Weiterbildung; Beteiligung an beruflicher Weiterbildung

Weiterbildung

Weiterbildung

aEine Datensatzfamilie umfasst alle Forschungsdatensätze, welche Teil einer Längsschnitterhebung sind oder mit demselben Erhebungsinstrument durchgeführt wurden

BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung BIBB-Zusatzbefragung Aufstiegsfortbildung

BIBB-Befragung zu Kosten 2003; 2012/13 und Nutzen beruflicher Weiterbildung aus Sicht der Individuen

Berufstätigkeit

Anbieter allgemeiner und Weiterbildung beruflicher Weiterbildung

Seit 2007, jährlich fortlaufend

Wbmonitor

Strukturdaten der Einrichtungen und wirtschaftlicher Lage; jährlich wechselnde Themen

Personen Berufliche Mobilität; „generic tasks“ ein Jahr nach dem Hauptinterview der BIBB/BAUA-Erwerbstätigenbefragung; Zeitanteile und Schwierigkeitsgrad einzelner beruflicher Tätigkeiten

2012

BIBB Task-Zusatzbefragung zur Haupterhebung der BIBB/ BAuA-Erwerbstätigenbefragung

2. Schwelle

Personen

Berufseinstiegsprozesse; berufliche Integration; prekäre Berufsverläufe

2012

Station im Lebenslauf

Erhebungseinheit

BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012 – Ausbildungsabsolventen der Jahre 2006 bis 2008

Name des Datensatzes/ der Erhebungsjahr Inhalt der Befragung Datensatzfamiliea

Tab. 1   (Fortsetzung)

216 A. Friedrich und E. M. Krekel

1. Schwelle, Berufsausbildung, 2. Schwelle, Berufstätigkeit, Weiterbildung 1. Schwelle, Berufsausbildung, 2. Schwelle, Berufstätigkeit, Weiterbildung 1. Schwelle, Berufsausbildung, 2. Schwelle, Berufstätigkeit, Weiterbildung

Betriebliche Qualifizierung und Betriebe Kompetenzentwicklung

Betriebe Kosten und Nutzen von Ausbildungsaktivitäten; Rekrutierungsverhalten, Personalentwicklung und Übernahmeverhalten von Betrieben Betriebe Aktuelle Fragestellungen der betrieblichen Berufsausbildung und aktuelle Geschäftslage von Betrieben

Arbeit und Beruf im Wandel; Kernerwerbstätige Berufsausbildung, 2. Schwelle, Erwerb und Verwertung berufBerufstätigkeit, licher Qualifikation Weiterbildung

Seit 2011 jährlich fortlaufend

2000, 2007, 2012/2013

BIBB-Betriebspanel zu Qualifizierung und Kompetenzentwicklung

Kosten und Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung

Referenz-Betriebs-System Seit 1997 unregel(RBS) mäßig fortlaufend

BIBB/BAuA-Erwerbstäti- 2006, genbefragungen 2012

(Fortsetzung)

Schule, 1. Schwelle, Berufsausbildung, 2. Schwelle, Berufstätigkeit

Bildungs- und Berufsbiografien Jugendliche zwischen 18 und 24

2006, 2011

Station im Lebenslauf

BIBB-Übergangsstudien

Erhebungseinheit

Inhalt der Befragung

Name des Datensatzes/der Erhebungsjahr Datensatzfamilie

Tab. 2   Forschungsdaten des BIBB-FDZ mit mehreren Themenschwerpunkten

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ 217

Betriebe Einarbeitung und Weiterbildung neuer Mitarbeiter; Zufriedenheit und Kooperation mit dem (Aus-) Bildungssystem Belegschaftsfluktuation und betriebliche Weiterbildung

2012–2014

2011

Patterns of recruitment and induction in selected European countries (INDUCT II)

BIBB-Erhebung – Staff Fluctuation and Employer-Provided Continuing Training (FluCT)

Betriebe

Fachleute aus verschiedenen Bereichen der beruflichen Bildung

Berufstätigkeit, Weiterbildung

Berufstätigkeit, Weiterbildung

1. Schwelle, Berufsausbildung

(Fortsetzung)

Aktuelle Themen der Berufsbildung; z. B. Image der Berufsausbildung

2005 bis 2019

BIBB-Expertenmonitor

Schule, 1. Schwelle

2004, 2005, 2006 2008, 2010, 2012

BIBB-Schulabgängerbefragungen

Berufliche Orientierungen und Schulabgänger/ innen tatsächliches Berufswahlverhalten (Verbleib)

Berufsausbildung, Arbeit und Beruf im Wandel; Erwerbstätige, Erwerb und Verwertung beruf- Auszubildende und 2. Schwelle, Berufstätigkeit, Praktikanten zwi- Weiterbildung licher Qualifikation schen 15 und 24

2012

Station im Lebenslauf

BIBB/BAuA-Jugenderwerbstätigenbefragung

Erhebungseinheit

Inhalt der Befragung

Name des Datensatzes/der Erhebungsjahr Datensatzfamilie

Tab. 2   (Fortsetzung)

218 A. Friedrich und E. M. Krekel

2. Schwelle, Weiterbildung

Betriebe Formen der Qualifikationsbedarfsdeckung im Fachkräftebereich

2011

BIBB-Erhebung – Betriebliche Qualifikationsbedarfsdeckung im Fachkräftebereich wachsender Beschäftigungsfelder – PEREK

Berufstätigkeit, Weiterbildung

Zahlungsbereitschaft und emp- Personen fundener Nutzen für Weiterbildungsmaßnahmen

Station im Lebenslauf

2010 BIBB-Erhebung – Determinants of Individual Continuing Training (DICT)

Erhebungseinheit

Inhalt der Befragung

Name des Datensatzes/der Erhebungsjahr Datensatzfamilie

Tab. 2   (Fortsetzung)

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ 219

220

A. Friedrich und E. M. Krekel

So decken etwa die BIBB-Erhebungen zu Kosten und Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung inhaltlich nicht nur die betriebliche Berufsausbildung und deren Ausgestaltung im Betrieb ab, sondern erlauben auch Analysen zum Rekrutierungsverhalten der Betriebe (1. Schwelle) zur Übernahme von Auszubildenden (2. Schwelle), zur Situation der Beschäftigten (Berufstätigkeit) und auch zur Weiterbildung. Es zeigt sich, dass die Forschungsdaten des BIBB im BIBB-FDZ ein breites Themenfeld abdecken, mit dem eine Vielzahl an Forschungsfragen – auch zur Kinder- und Jugendhilfe – bearbeitet werden kann. Durch die unterschiedlichen Erhebungseinheiten wiederum ist es möglich, Fragestellungen, wie den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, sowohl aus der Perspektive von Personen (z. B. welche individuellen Merkmale bestimmen die Chancen auf einen erfolgreichen Übergang) als auch aus der Sicht der Betriebe (z. B. welche Auszubildenden stellen Betriebe ein) zu untersuchen. Durch die unterschiedlichen Erhebungsdesigns eröffnet sich ein breites Spektrum an methodischen Möglichkeiten. So lassen Längsschnittdesigns, wie etwa die Trendstudien die BIBB-Erhebungen zu Kosten und Nutzen der beruflichen Ausbildung Zeitvergleiche von bspw. Ausbildungskosten zwischen 2000, 2007 und 2012 zu. Panelstudien, wie das BIBB-Qualifizierungspanel, bieten die Möglichkeit, die unbeobachtete Heterogenität der Betriebe zu kontrollieren und somit kausale Effekte zu schätzen. Das Potenzial der Nachnutzung der Forschungsdaten des BIBB-FDZ, welches durch die thematische und methodische Breite der Daten entsteht, wird u. a. durch die über 770 Projekte deutlich, welche bisher die Möglichkeit zur Sekundärauswertung genutzt haben. Bearbeitet wurden in diesen Projekten nicht nur Fragestellungen der Berufsbildungsforschung, sondern auch der Gender-, Gesundheits- und Arbeitsmarktforschung.

2.2 Datenzugang Der Zugang zu den Forschungsdatensätzen des BIBB-FDZ ist standardisiert und transparent. Zugangsberechtigt zu den Forschungsdaten des BIBB-FDZ sind alle Personen, die nicht-kommerzielle Forschung betreiben. Das BIBB-FDZ bietet vier verschiedene Formen des Datenzugangs an: Scientific-Use-Files (SUFs), Campus-Files (CFs), kontrollierte Datenfernverarbeitung (DFV) und Arbeitsplätze für Gastwissenschaftler (GWA). Die über die einzelnen Zugänge verfügbaren Daten unterscheiden sich vor allem nach dem Grad ihrer Anonymisierung, aber auch danach, wie die Daten bereitgestellt werden.

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ

221

Die Anträge für alle Arten des Datenzugangs können auf den Internetseiten des BIBB-FDZ3 heruntergeladen und müssen anschließend per Fax oder postalisch an das BIBB-FDZ geschickt werden. Scientific-Use-Files (SUF) sind Datensätze, bei denen alle Variablen mit Re-Identifikationspotenzial vergröbert oder entfernt wurden4. Die SUFs werden den Datennutzenden entweder über die GESIS oder über das Downloadportal des BIBB-FDZ zur Verfügung gestellt und können am Arbeitsplatz der Nutzer/innen ausgewertet werden. SUFs gibt es für nahezu alle Personendaten des BIBB-FDZ und sind die am häufigsten genutzte Form des Datenzugangs. Werden von den Forschenden zu vergröberten Variablen Originalwerte oder gelöschte Variablen benötigt, gibt es die Möglichkeit, einen entsprechenden Zusatzantrag5 zu stellen oder die Daten über kontrollierte Datenfernverarbeitung bzw. einen Gastwissenschaftleraufenthalt auszuwerten. Für Studierende (zur Anfertigung von Seminar- oder Abschlussarbeiten) und für den Einsatz in der universitären Lehre (für inhaltliche Auswertung oder Methodenseminare) gibt es eine spezielle Form des Datenzugangs, die sogenannten Campus-Files (CF). Dabei handelt es sich ebenfalls um Datensätze, die faktisch anonym sind. Allerdings wurden gegenüber den SUFs weitere Anonymisierungsschritte vorgenommen. Um welche Schritte es sich genau handelt, unterscheidet sich von Datensatz zu Datensatz. Meist wird jedoch ein Teildatensatz erstellt, indem eine Zufallsstichprobe aus dem ursprünglichen SUF gezogen wird. Eine solche Stichprobe führt inhaltlich zu vergleichbaren Ergebnissen wie der SUF (für ein Beispiel siehe Alda und Friedrich 2014, S. 7 ff.). Ergänzend werden einzelne Variablen gegenüber dem SUF vergröbert bzw. aggregiert. Reichen die CFs für die geplanten Analysen nicht aus, so gibt es, wie beim SUF, die Möglichkeit, die vergröberten/entfernten Variablen, über einen Zusatzantrag auszuwerten. Im Fall, dass die Fallzahlen eines CFs nicht ausreichen, weil bspw. eine spezielle Subgruppe untersucht wird, haben auch Studierende die Möglichkeit, nach Absprache mit dem BIBB-FDZ, einen SUF zu beantragen. Die kontrollierte Datenfernverarbeitung (DFV) ist vor allem für die Auswertung von Betriebsdaten konzipiert. Diese werden aufgrund ihres höheren Re-Identifikationsrisikos vom BIBB-FDZ generell nicht als SUF angeboten. Der Ablauf der Datennutzung stellt sich bei der DFV folgendermaßen dar: Zunächst

3Die Adresse

der Internetseite lautet https://www.bibb.de/de/1400.php. beinhaltet immer alle Volltextangaben aus offenen oder halb offenen Fragen. 5Nähere Informationen zu diesem Zusatzantrag siehe https://www.bibb.de/de/17569.php. 4Dies

222

A. Friedrich und E. M. Krekel

erstellt das BIBB-FDZ „Spieldaten“, also Daten, die in Aufbau und Merkmalsausprägungen dem Originalmaterial gleichen, aber keine sinnvollen Ergebnisse liefern. Anhand dieser „Spieldaten“ programmieren die Datennutzer/innen lauffähige Syntaxen (z. B. für SPSS oder Stata) und schicken diese an das BIBBFDZ, wo diese auf die Forschungsdaten angewandt werden. Anschließend wird der Output auf Vertraulichkeit bzw. Gefahr von Re-Identifizierung geprüft und an die Nutzenden zurückgeschickt. Ein Gastwissenschaftleraufenthalt im BIBB-FDZ kann ebenfalls für die Auswertung von Betriebsdaten, aber auch für Personendaten, genutzt werden. Gerade wenn die Erstellung eines Analysedatensatzes kompliziert ist, kann es von Vorteil sein, einen Blick auf die originalen Forschungsdaten werfen zu können. Das BIBB-FDZ verfügt über zwei Gastarbeitsplätze mit Stand-Alone-PCs ohne Netzwerkanbindung oder Internetzugang, die mit MS Office sowie den Statistikprogrammen Stata bzw. SPSS ausgestattet sind. Die möglichen Datenzugänge zu den Betriebsdaten, also DFV und GWA, stehen auch Studierenden gleichermaßen ohne Einschränkungen zur Verfügung.

3 Ausgewählte Studien und Ergebnisse Die Potenziale und Nachnutzungsmöglichkeiten der Forschungsdaten des BIBBFDZ für die Berufsbildungsforschung werden anhand von drei Studien, welche mehrere Stationen eines idealtypischen Lebenslaufs abbilden und viele Analyseoptionen eröffnen, veranschaulicht: 1. der BIBB-Übergangsstudie, einer Befragung von Jugendlichen, mit der die Übergänge in Ausbildung und Erwerbstätigkeit analysiert werden können, 2. des BIBB-Qualifizierungspanel, einer Betriebsbefragung zu unterschiedlichen Themen der Aus- und Weiterbildung, 3. der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung, einer Befragung von Erwerbstätigen zu Qualifizierung und Arbeit.

3.1 Die BIBB-Übergangsstudie 2006 und 2011 Die BIBB-Übergangsstudien sind retrospektive Längsschnittdatenerhebungen zu den Bildungs- und Berufsbiografien von zum jeweiligen Befragungszeitpunkt 18 bis 24 Jahre alten Jugendlichen in Deutschland. Befragt wurden 7230 (2006) bzw. 5579 (2011) junge Erwachsene zu den Themen Schulbesuch, berufliche

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Ausbildung, Studium, Berufsvorbereitung, Einstiegsqualifizierungen, Erwerbstätigkeit, langfristige Fortbildungen/Umschulungen, Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, Wehr-/Zivildienst und sonstige Aktivitäten. Ziel der Erhebungen war es, möglichst alle, auch parallele, Phasen zu erfassen, die die Jugendlichen seit der Grundschule durchlaufen haben. Die BIBB-Übergangsstudien liefern damit ein umfassendes Bild des Übergangs von der Schule über verschiedene Ausbildungsformen bis hin zur Erwerbstätigkeit (Friedrich und Rohrbach-Schmidt 2014; Rohrbach-Schmidt 2010). Für jede der abgefragten Phasen wurde das genaue Beginn- und Enddatum erhoben. Zur einfacheren Verarbeitung wurden die entsprechenden Daten für 2006 und 2011 je in einem Ereignisdatensatz im sogenannten „langen Format“ organisiert. Das heißt, die Längsschnittinformationen sind zeilenweise abgelegt. Der Datensatz enthält für jede Person mindestens eine, in der Regel jedoch mehrere Datenzeilen, für jede der erfassten Phasen eine. Dieses spezielle Datenformat erlaubt Analysen zur Dauer von Übergängen,6 welche mit klassischen Datenformaten für gängige Statistikprogramme nicht möglich sind. Zusätzlich gibt es pro Erhebungsjahr noch einen Querschnittdatensatz, welcher alle unveränderlichen Personenmerkmale, wie etwa Geschlecht oder Beruf der Eltern, enthält. Anlass für die erste Übergangsstudie im Jahr 2006 waren die zunehmenden Versorgungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt. Geburtenstarke Jahrgänge verließen die allgemeinbildenden Schulen und viele junge Menschen blieben bei ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz erfolglos. Gleichzeitig stieg der Anteil von Jugendlichen in berufsvorbereitenden Maßnahmen und berufsfachschulischen Ausbildungsgängen deutlich an. Selbst ausbildungsreife junge Menschen mussten in wachsender Zahl auf teilqualifizierende Bildungsgänge des Übergangsbereiches ausweichen (Eberhard und Ulrich 2010), der sich in der Folge zu einem eigenen Teilbereich der beruflichen Bildung entwickelte. Die Studie 2011 knüpfte an die erste Erhebung an. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich der Wandel des Ausbildungsmarktes von einem Anbieter- zu einem Nachfragemarkt auf die Bildungs- und Berufswege der aktuellen Generation junger Menschen auswirkt. Beide Studien wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Zentrale Ergebnisse sind u. a. über die Berufsbildungsberichterstattung in den bildungspolitischen Beratungsprozess eingeflossen (vgl. u. a. Beicht 2010; Beicht und Eberhard 2013; Beicht und Ulrich 2008; Beicht und Walden 2013).

6Für

einen Überblick zum Thema Survival- und Ereignisdatenanalyse siehe Blossfeld (2010).

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Betrachtet man die Ergebnisse der BIBB-Übergangsstudie 2011 im Vergleich zu denen aus dem Jahr 2006, so zeigen diese, dass durch die allmähliche Entspannung des Ausbildungsmarktes nicht nur wieder mehr nichtstudienberechtigte Schulabgänger/innen einen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, sondern ihnen dies darüber hinaus schneller gelingt (Eberhard et al. 2013). Jedoch konstatieren Eberhard et al. (2013) auch, dass der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in Ausbildung nach wie vor nicht reibungslos verläuft. Welche Faktoren den Übergang in Ausbildung beeinflussen, war Gegenstand mehrerer Analysen. Untersucht wurde u. a. die Frage, welche Bedeutung soziodemografische Merkmale auf die Übergangschancen und die Übergangsdauer in Ausbildung haben. Bezogen auf den Migrationshintergrund zeigen sich deutliche Benachteiligungen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund beim Übergang in Ausbildung (Aybek 2014). Beicht und Walden (2014) zeigen, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund, die eine betriebliche Ausbildung anstreben, deutlich langsamer in diese einmünden als vergleichbar junge Menschen ohne Migrationshintergrund. Dabei hat der Migrationshintergrund nicht nur Einfluss auf die Einmündungsdauer, sondern auch auf die Einmündungschancen insgesamt: „The results indicate that when seeking a training place, young migrants face reservations on the part of companies providing training, even if they have the same prior learning as young people not from a migrant background.“ (Beicht und Walden 2017, S. 441). Ebenso ist der Übergang in Ausbildung für junge Menschen mit Hauptschulabschluss deutlich schwieriger und häufig nur über den Übergangsbereich möglich. Welche Faktoren den Übergang positiv oder negativ (z. B. die regionale Ausbildungsmarktlage) beeinflussen, haben Enggruber und Ulrich (2014) analysiert. Bezogen auf das Geschlecht wurde u. a. die Frage untersucht, inwieweit die unterschiedlichen Verteilungen von Männern und Frauen in den verschiedenen Bereichen des Berufsbildungssystems (Imdorf et al. 2016) auf geschlechtsspezifische Interessen zurückgeführt werden können. Obwohl sich die beruflichen Präferenzen zwischen jungen Männern und Frauen stark unterscheiden, stellen Beicht und Walden (2015) fest, dass junge Frauen dann benachteiligt werden, wenn sie sich für eine betriebliche Ausbildung in einem eher von Männern dominierten Beruf interessieren. Dies gilt auch und besonders für weibliche Migranten, sie haben „bessere Zugangschancen zu betrieblicher Ausbildung, wenn sie personenbezogene Dienstleistungsberufe favorisieren. Generell haben sie in stark frauendominierten Berufen besonders gute Aussichten, was dagegen für weibliche Nicht-Migranten nicht gilt“ (Beicht und Walden 2015, S. 342).

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ

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3.2 Das BIBB-Qualifizierungspanel Das BIBB-Betriebspanel zu Qualifizierung und Kompetenzentwicklung (kurz BIBB-Qualifizierungspanel) ist eine repräsentative Befragung von Betrieben in Deutschland mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die Kernthemen des Panels sind betriebliche Aus- und Weiterbildung, Personalrekrutierung und -struktur, ergänzt durch wechselnde Themenschwerpunkte der aktuellen Forschung sowie der bildungspolitischen Diskussionen. Ziel der Erhebung ist es, detaillierte Informationen über die Strukturen, Entwicklungen und Zusammenhänge betrieblicher Qualifizierungsmaßnahmen und betrieblich-qualifikatorischer Arbeitskräftenachfrage zu erhalten. Durch das Paneldesign der Erhebung ist es möglich, nicht nur Zusammenhänge zu untersuchen, sondern diese auch hinsichtlich ihrer Kausalität7 zu prüfen. Das BIBB-Qualifizierungspanel startete im Jahr 2011 mit 2000 Betrieben. Die erste Erhebung stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem sich verschärfenden Fachkräftemangel und zunehmenden Besetzungsproblemen einiger Branchen, welche die Betriebe vor neue Herausforderungen stellten. Die ersten drei Wellen des BIBB-Qualifizierungspanels wurden mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt (Gerhards et al. 2015). Ab 2014 wurde das BIBB-Qualifizierungspanel in das Regelprogramm des BIBB überführt und ab 2015 auf 3500 Betriebe aufgestockt (Gerhards und Friedrich 2016). Neben Analysen zur betrieblichen Ausbildungsbeteiligung (Troltsch 2017) sowie zu betrieblicher Weiterbildung und anderen Strategien zur Deckung des betrieblichen Personalbedarfs (u. a. Mohr 2016) liegen Ergebnisse zu unterschiedlichen Themen vor. Aktuelle Themen sind beispielsweise die Folgen der Digitalisierung (siehe unten) und die Integration Geflüchteter (vgl. Gerhards 2018). Von den sich verschärfenden Besetzungsproblemen von Ausbildungsstellen sind vor allem kleinere Betriebe, insbesondere Kleinstbetriebe, betroffen, die diese häufig u. a. auf eine unzureichende Eignung der Bewerber und Bewerberinnen zurückführen (Pahnke et al. 2014). Inwieweit Betriebe bei zunehmenden Schwierigkeiten zu Kompromissen bereit sind, wurde von Ebbinghaus und Gerhards (2014) analysiert. Sie zeigen, dass Betriebe mit Vakanzen bei Ausbildungsstellen deutlich häufiger Abstriche bei den Eingangsqualifikationen

7Für

eine Einführung zu Kausalanalysen mit Paneldaten siehe Brüderl (2010).

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ihrer neu eingestellten Auszubildenden in Kauf nahmen als Betriebe ohne Vakanzen. Bei zunehmenden Rekrutierungsschwierigkeiten stellt sich für Betriebe die Frage, wie sie ihren Fachkräftebedarf erfolgreich decken können, z. B. durch Investition in die eigene Ausbildung, durch die Rekrutierung von Geringqualifizierten oder Fachkräften vom externen Arbeitsmarkt, seien es Techniker/innen, Meister/innen, oder Akademiker/innen. Analysen zeigen, dass für den Erhalt der betrieblichen Qualifikationsstruktur die eigene Ausbildung und die Rekrutierung extern ausgebildeter Fachkräfte häufig als alternative Strategien genutzt werden (Bellmann et al. 2014). Im Kontext der öffentlichen Diskussion über die zunehmende Problematik der Lösung von Ausbildungsverträgen für zahlreiche Betriebe gingen Rohrbach-Schmidt und Uhly (2016) der Frage nach, welche Faktoren Vertragslösungen beeinflussen und welche Maßnahmen zu ihrer Vermeidung beitragen könnten. Die Autorinnen zeigen, dass neben den Merkmalen der Auszubildenden die betrieblichen Ausbildungsbedingungen einen unabhängigen Einfluss ausüben und insbesondere „ein investitionsorientiertes Ausbildungsmodell, eine direkte Rekrutierungsstrategie, eine kollektive Interessenvertretung sowie eine Beschäftigtenstruktur, die durch höhere Anteile hochqualifizierter Tätigkeiten gekennzeichnet ist“ (Rohrbach-Schmidt und Uhly 2016, S. 372), einen positiven Einfluss auf die Stabilität von Ausbildungsverhältnissen ausüben. Die Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Qualifikationsstruktur der Beschäftigten werden aktuell in Wissenschaft und Politik intensiv diskutiert (Troltsch 2016). Zu dieser Frage und der damit verbundenen Polarisierungsthese, nach der es in Zukunft einen höheren Bedarf an Akademiker/innen und Geringqualifizierten, jedoch einen geringeren Bedarf an Fachkräften auf der mittleren Qualifikationsebene geben wird (Frey und Osborne 2013), wurden bzw. werden zur Zeit Daten im Rahmen des BIBB-Qualifizierungspanels erhoben und ausgewertet. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Einführung neuer digitaler Technologien unterschiedliche Effekte auf die Beschäftigtenstruktur in Deutschland hat und nur teilweise mit Polarisierungseffekten einhergeht. So führt etwa die Einführung digitaler Techniken auch dazu, dass Betriebe weniger ungelernte Beschäftige haben, es also zum „Upgrading“ ihrer Qualifikationsstruktur kommt (Helmrich et al. 2016, S. 51 f.). Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass die Tätigkeitsstruktur von Betrieben mit ihrer Bereitschaft in die Weiterbildung von Beschäftigten mit einfachen Tätigkeiten zu investieren, zusammenhängt (Mohr et al. 2015).

Forschungsdaten für die Berufsbildungsforschung: Das BIBB-FDZ

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3.3 Die BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2006 und 2012 Die BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragungen8 sind repräsentative Erhebungen unter den Kernerwerbstätigen9 in Deutschland und werden vom BIBB gemeinsam mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) seit 2006 alle sechs Jahre durchgeführt. Im Mittelpunkt der Erhebungen stehen differenzierte Informationen über Erwerbstätige und die Eigenschaften ihrer Arbeitsplätze in Deutschland, dies beinhaltet bspw. Fragen zu Tätigkeitsschwerpunkten, Weiterbildungsbedarf, Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen. Darüber hinaus wird der Zusammenhang zwischen Bildung und Beschäftigung thematisiert, indem der Schul-, Aus- und Weiterbildungs- sowie Berufsverlauf der Erwerbstätigen detailliert abgefragt wird (Rohrbach-Schmidt 2009; Rohrbach-Schmidt und Hall 2013). Die hohe Fallzahl von ca. 20.000 Befragten pro Erhebungswelle und das breite thematische Spektrum, welches durch die Erhebung abgedeckt wird, eröffnen eine Vielzahl an Analysemöglichkeiten. So kann etwa der Bildungsweg der Befragten von bis zu fünf Ausbildungen inklusive Schul- und Ausbildungsnoten sowie die erste Erwerbstätigkeit nachvollzogen und mit Merkmalen der aktuellen Erwerbstätigkeit in Beziehung gesetzt werden. Im Kontext der unterschiedlichen Bildungswege in Deutschland sind Fragen der Verwertung unterschiedlicher Bildungsabschlüsse sowie die Rolle der Höherqualifizierung von besonderer Bedeutung. Unter Verwendung der Datensätze von 2006 und 2012 untersuchte Hall (2016b) die Verwertungschancen von beruflichen und akademischen Tertiärabschlüssen sechs Jahre nach Erreichen des Abschlusses. Dabei zeigen „sich im Vergleich zu Personen mit dualer Berufsausbildung unverändert hohe Lohnprämien für Personen mit Aufstiegsfortbildungen und sinkende Lohnprämien für Personen mit Bachelor- bzw. traditionellem FH-Abschluss“ (Hall 2016b, S. 107). Eine Doppelqualifikation, d. h. ein beruflicher und akademischer Abschluss, scheint sich für Personen mit Abitur eher nicht auszuzahlen (Hammen 2011), 8Die

beiden Erhebungen 2006 und 2012 stehen in einer Reihe mit vier weiteren Erhebungen, die zwischen 1979 und 1999 in Kooperation mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) als BIBB/IAB-Erhebungen durchgeführt wurden. Ab dem ersten Quartal 2018, werden auch die Forschungsdaten der Erhbung 2018 über das BIBB-FDZ  zur Verfügung stehen. 9Kernerwerbstätige sind Personen, die mindestens 15 Jahre alt sind und einer bezahlten Arbeit von mindestens 10 h pro Woche nachgehen.

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zumal die Entscheidung von Abiturienten, eine Berufsausbildung vor dem Studium abzuschließen, auch eine Risikominimierung bzw. Absicherung eines Scheiterns sein kann (Bellmann et al. 2008). Bezogen auf die Höherqualifizierung zeigt sich, dass diese in den letzten Jahren zugenommen hat, allerdings immer noch durch Schulabschlüsse und soziale Herkunft geprägt ist (Tieben und Rohrbach-Schmidt 2014), und dass berufliche Höherqualifizierung von Frauen im Vergleich zu Männern weniger genutzt wird, vor allem, wenn sie Kinder haben und in einem geschlechtstypischen Beruf ausgebildet sind (Hall 2016a). Neben Analysen zu weiteren Forschungsfeldern, z. B. zur Ausbildungsadäquanz (Rohrbach-Schmidt und Tiemann 2016; Hall 2011), zur Geschlechtersegregation (Busch 2013; Lechmann und Schnabel 2012), zur sozialen Schließung (Haupt 2012, 2016) oder dem Vergleich dualer mit schulisch Ausgebildeten (Hall und Krekel 2014), sind der Wandel in der Arbeitswelt und die Auswirkungen von Digitalisierung bzw. Industrie 4.0 auf die Beschäftigten aktuelle Analyseschwerpunkte, die mit den Forschungsdaten der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung bearbeitet werden können. Bereits heute verändern sich die Tätigkeitsanforderungen an die Beschäftigten in einigen Branchen (u. a. Logistik) und stellen diese vor neuere Herausforderungen (Pfeiffer 2016; Pfeiffer und Suphan 2015). Auch aus der Sicht der Erwerbstätigen in Deutschland lässt sich die bereits erwähnte Polarisierungsthese nicht uneingeschränkt bestätigen. Zwar können für bestimmte Berufshauptfelder und Erhebungsjahre Polarisierungstendenzen nachgewiesen werden, allerdings ist keine eindeutige Entwicklung zu beobachten und Erwerbstätige mit einer beruflichen Ausbildung können nicht pauschal als Verlierer der Einführung neuer Technologie betrachtet werden (Helmrich et al. 2016, S. 23 ff.).

4 Fazit/Ausblick Das BIBB-FDZ mit seinem breiten Spektrum an Forschungsdaten zu allen Stationen eines idealtypischen Lebenslaufs eröffnet eine Vielzahl an Analysemöglichkeiten auch für externe Forscher. Die in diesem Artikel genannten Beispiele zeigen, wie die umfassenden Forschungsdaten zur Berufsbildungsforschung dazu geeignet sind, ein breites Spektrum an Fragestellungen zu bearbeiten. Besonders die Themen Digitalisierung und technologischer Wandel, welche auch zentrale Forschungsschwerpunkte des BIBB sind, bieten erhebliches Potenzial zur Generierung sowie Bearbeitung neuer Fragestellungen. Die empirische Forschung zu diesen Themenkomplexen lässt sich auf der Grundlage des Qualifizierungspanels sowie der Erwerbstätigenbefragung vorantreiben. Anhand der entstehenden Ana-

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lysen lassen sich zudem zuverlässige Erkenntnisse für die Gestaltung der Berufsbildung in Politik und Praxis gewinnen. Zusätzlich bieten die Campus-Files des BIBB-FDZ und die Möglichkeiten der Datenfernverarbeitung auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs die Chance, sich in Lehrveranstaltungen und Seminar-/Bachelor- oder Masterarbeiten auf der Datenebene mit Digitalisierung, technologischem Wandel und weiteren Themen der Berufsbildungsforschung zu beschäftigen.

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Teil III Daten der amtlichen Statistik

Kinder- und Jugendhilfestatistik Jens Pothmann

Die Auswertung amtlicher Statistiken gehört seit den Zeiten Emile Durkheims mit zu den Wurzeln der Sekundäranalyse als Mittel des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns (z. B. Medjedović 2014, S. 27 ff. sowie in diesem Band die Beiträge von Medjedović und Birkelbach). Eine Forschungstradition gibt es in dieser Hinsicht auch für den Untersuchungsgegenstand Kinder- und Jugendhilfe. So werden amtliche statistische Erhebungen zur Kinder- und Jugendhilfe seit langem für empirische Untersuchen verwendet und gehören mittlerweile zu den zentralen Datenbeständen sekundäranalytischer Arbeiten in der Kinder- und Jugendhilfeforschung (z. B. Schilling 2003; Schilling und Pothmann 2013). Die Kinder- und Jugendhilfestatistik, genauer die im SGB VIII rechtlich kodifizierte amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik), ist ein empirisches Beobachtungsinstrument für vor allem die institutionelle Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe. Im folgenden Beitrag wird in den Blick genommen, inwiefern die KJH-Statistik mit ihren unterschiedlichen Teilerhebungen zu Aufgaben, Leistungen und Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe dazu in der Lage ist, empirische Beiträge im Kontext einer Kinder- und Jugendhilfeforschung zu leisten. Es wird darum gehen über die Darstellung der KJH-Statistik Möglichkeiten

Pothmann, Jens (Jg. 1971), Dr. phil., Dipl. Pädagoge; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund; Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe und ihre Arbeitsfelder, Jugendamt und Soziale Dienste, Berichtswesen und Sozialberichterstattung, Kennzahlen und Indikatoren. J. Pothmann (*)  Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_12

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aufzuzeigen, diese als Datenquelle für sekundäranalytische Zugänge in der Kinderund Jugendhilfeforschung zu nutzen. Im Folgenden werden also die KJH-Statistik und ihre Erhebungsinstrumente eingehender betrachtet – weniger die empirischen Befunde. Letzteres würde über den hier vorgegebenen Rahmen hinausgehen.1 Nachfolgend werden in einem ersten Schritt zunächst ausgewählte wichtige Konstruktionsprinzipien der KJH-Statistik sowie zentrale Regularien für einerseits die Erhebungsinhalte sowie andererseits die Organisation und Durchführung der Erhebungen sowie der gesamten KJH-Statistik in den Blick genommen (1). Der zweite Teil des Beitrags untergliedert sich wiederum in die vier Teile der KJH-Statistik und stellt jeweils die Inhalte der einzelnen Teilerhebungen vor (2). Damit wird ein detaillierterer Überblick über das Erkenntnispotenzial der KJH-Statistik gegeben. Ausgehend von dieser Darstellung des Status quo wird drittens ein Ausblick auf mögliche Optionen für eine Weiterentwicklung der Datenerhebungen zur KJH-Statistik gegeben, die auch die Verwendungsmöglichkeiten der KJH-Statistik für die Kinder- und Jugendhilfeforschung erweitern könnten (3). Der Beitrag endet schließlich mit einem Resümee (4).2

1Die Ergebnisse der KJH-Statistik werden nach den Beobachtungen von Rauschenbach (2011) umfassender und differenzierter ausgewertet als zumindest am Anfang dieses bzw. am Ende des letzten Jahrhunderts. Gleichzeitig werden das Erkenntnispotenzial sowie die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der amtlichen Statistik heute in einem weitaus größeren Maße genutzt (Schilling und Pothmann 2013, S. 144 ff.). Vor allem auch zu diesem Zweck fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie das jeweils zuständige Jugendministerium in Nordrhein-Westfalen die „Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat)“ als Bindeglied zwischen Fachwelt und amtlicher Statistik. Kernaufgaben der AKJStat sind die Analyse und fachliche Kommentierung der Ergebnisse der KJH-Statistik sowie in Kooperation mit Praxis, Politik und Wissenschaft die Erarbeitung von Empfehlungen zur Qualifizierung und Weiterentwicklung der KJH-Statistik (www.akjstat.tu-dortmund.de; Zugriff 15.07.2019). Im Kontext der AKJStat werden Ergebnisse aus den fachwissenschaftlichen Analysen regelmäßig veröffentlicht oder fließen mit in beispielsweise die Nationalen Bildungsberichte (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018) oder auch die Kinder- und Jugendberichte (u. a. Deutscher Bundestag 2013) ein. Darüber hinaus wurden im Kontext der AKJStat von Thomas Rauschenbach und Matthias Schilling mehrere Kinder- und Jugendhilfereporte herausgegeben (z. B. Rauschenbach und Schilling 2011) und alle 2 Jahre wird ein Monitor Hilfen zur Erziehung veröffentlicht (z. B. Fendrich et al. 2018). Drei Mal jährlich erscheint die Zeitschrift KomDat Jugendhilfe mit Ergebnissen aus den Analysen der AKJStat und ist kostenlos verfügbar. 2Die nachfolgenden Ausführungen zur Vorstellung der KJH-Statistik basieren in weiten Teilen auf einem Beitrag des Autors in dem von Karin Böllert herausgegebenen Kompendium Kinder- und Jugendhilfe zur Kinder- und Jugendhilfestatistik (Pothmann 2018). Für

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1 Strukturen und Konstruktionsprinzipien Die KJH-Statistik besteht aus vier Teilen mit insgesamt 11 Erhebungen, die – je nach Erhebung – in unterschiedlichen Abständen bei öffentlichen und freien Trägern von den Statistischen Ämtern durchgeführt werden. Im Folgenden werden zum einen zentrale Prinzipien bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Erhebungen benannt (Abschn. 1.1). Zum anderen werden wichtige Aspekte der Organisation und Durchführung der Erhebungen sowie der Veröffentlichung und Nutzbarmachung der Ergebnisse skizziert (Abschn. 1.2).

1.1 Erhebungsdimensionen und ihre Gründe Für eine Nutzung der Daten der KJH-Statistik im Rahmen sekundäranalytischer Forschung sind Kenntnisse darüber, was die verschiedenen Erhebungen dieser amtlichen Statistik beinhalten, unverzichtbar. Dabei ist allerdings für den schnellen und möglicherweise auch nicht regelmäßigen Nutzer oder auch Nutzerin nicht immer verständlich und nachvollziehbar, zu welchen Ausschnitten der Kinderund Jugendhilfe sich hier Daten finden. Auf scheinbar ganz einfache und naheliegende Fragestellungen gibt das Datenmaterial keine Antworten, während an anderer Stelle wiederum Erkenntnisse in der Statistik schlummern, die man dort möglicherweise gar nicht vermuten würde. Warum also finden sich in den Daten z. B. ausführliche Informationen zur öffentlich organisierten Kindertagesbetreuung, zu den Hilfen zur Erziehung oder auch zu den finanziellen Aufwendungen der Öffentlichen Hand, während für die Jugendsozialarbeit, die Frühen Hilfen oder auch das Jugendamt und die Jugendhilfeplanung keine bzw. nur sporadisch Daten verfügbar sind? Womit hängt es zusammen, dass zwar die Ausgaben der Jugendämter in der Statistik dokumentiert werden, nicht aber die Eigenmittel der freien Träger? Wie lässt sich erklären, dass es zwar Informationen über die Zahl der Kinder in Pflegefamilien und Heimen gibt, aber keine zu den Unterbringungen in Mutter-Kind-Einrichtungen?

den hier vorliegenden Beitrag wurden Aktualisierungen vorgenommen und es wird differenzierter auf die Nutzungsmöglichkeiten der KJH-Statistik für die Kinder- und Jugendhilfeforschung eingegangen.

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Dieser Katalog von Fragestellungen ließe sich noch um zahlreiche Beispiele ergänzen. Zwar können nicht alle Fragen mit den Strukturen und Konstruktionsprinzipien der KJH-Statistik beantwortet werden, da mitunter die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Erhebungsinstrumente auch von jugendhilfepolitischen Schwerpunktsetzungen und Prioritäten abhängig sein können (Schilling und Pothmann 2013, S. 150), gleichwohl hilft in vielen Fällen der Blick auf einige Grundprinzipien der KJH-Statistik, um die aktuelle Datenlage besser nachvollziehen zu können. Befasst man sich mit den Grundlagen der Konzeption der KJH-Statistik, so stößt man unmittelbar auf eine ‚Symbiose‘ von Statistik und Recht. Bei aller Unterschiedlichkeit von Statistik und Recht ist ihr Zusammenwirken für die amtliche Statistik im Allgemeinen und für die KJH-Statistik im Besonderen von zentraler Bedeutung und alles in allem hat sich das Zusammenspiel für eine empirische Dauerbeobachtung der Kinder- und Jugendhilfe bewährt. Mindestens zwei Ebenen können unterschieden werden:3 • So ist erstens nach § 98 SGB VIII die zentrale Funktion der KJH-Statistik die Beobachtung von Auswirkungen des SGB VIII bzw. des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) (Schilling und Pothmann 2016). Die KJH-Statistik ist also anders als etwa Surveys im Bereich der Kinder- und Jugendhilfeforschung mit einem rechtlich kodifizierten Zweck verbunden: „Zur Beurteilung der Auswirkungen der Bestimmungen dieses Buches und zu seiner Fortentwicklung sind laufende Erhebungen […] durchzuführen“ (§ 98 SGB VIII). „Zur Beurteilung der Auswirkungen der Bestimmungen“ bedeutet letztendlich auch, dass anhand der empirisch gewonnenen Daten Aussagen dazu gemacht werden können, wie sich einzelne Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe entwickeln – im Allgemeinen, aber im Besonderen auch im Verhältnis zu den jeweiligen rechtlichen Grundlagen im SGB VIII (Schilling und Pothmann 2013). Wenn darüber hinaus im § 98 SGB VIII im Zusammenhang mit der KJH-Statistik von einem Beitrag zur Fortentwicklung der rechtlichen Grundlagen gesprochen wird, so ist damit die Beobachtung der Auswirkungen und der Umsetzung

3Eine

notwendige Voraussetzung für die enge Verzahnung von Statistik und Recht für die Kinder- und Jugendhilfe ist nicht zuletzt auch das Bundesstatistikgesetz vom 22. Januar 1987 (BGBl. I S. 462, 565). Hierüber wird eine höhere Rechtssicherheit für die amtlichen Statistiken geschaffen sowie hervorgehoben, dass sich der allgemeine Informationsauftrag der amtlichen Statistik auf alle gesellschaftlichen Gruppen bezieht, also auch auf Forschung und Wissenschaft, und nicht etwa nur für die Gesetzgebung und die öffentliche Verwaltung gilt.

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des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gemeint, um daraus Schlussfolgerungen, Desiderate u. Ä. für die Weiterentwicklung der rechtlichen Grundlagen ableiten zu können (Schilling und Pothmann 2016). Allerdings ist jenseits dieser rechtlichen Zweckbestimmung die KJH-Statistik nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte mehr als eine Datenerhebung zur Umsetzung und Aktualität der rechtlichen Grundlagen für die Kinder- und Jugendhilfe, sondern ein wichtiges Modul für das in der Wissenschaft verankerte Projekt einer empirischen Dauerbeobachtung der Kinder- und Jugendhilfe. • Zweitens formuliert das Bundesstatistikgesetz (BStatG) die Anforderung, dass Erhebungsinhalte und-modalitäten durch rechtliche Grundlagen legitimiert werden. Nach den Vorgaben des § 5 Abs. 1 BStatG werden Bundesstatistiken grundsätzlich qua Gesetz demokratisch legitimiert und reglementiert. Vor diesem Hintergrund sind im SGB VIII in den §§ 98 bis 103 die entsprechenden Regularien für Erhebungsinhalte und die Durchführung der verschiedenen Teile der KJH-Statistik fixiert. Hieraus ergibt sich zwingend, dass umfangreichere Veränderungen an einer Teilerhebung sowie die Neukonzeption einer Erfassung zustimmende Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat benötigen. Ein Beispiel hierfür aus der jüngeren Entwicklungsgeschichte der KJH-Statistik sind die rechtlichen Grundlagen für eine neu konzipierte Statistik zu den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit, die im Juli 2013 vom Gesetzgeber im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetzes (KJVVG) verabschiedet worden sind (vgl. auch Abschn. 2.2). Sie sind eine notwendige Voraussetzung dafür, dass seit 2015 wieder für die Kinder- und Jugendarbeit regelmäßig Datenerhebungen im Rahmen der KJH-Statistik durchgeführt werden können (ausführlicher: von der Gathen-Huy et al. 2013). Das SGB VIII legt vor diesem Hintergrund die entscheidenden Grundlagen für den Aufbau und die Strukturen der KJH-Statistik. Dies sind im Einzelnen der Zweck und Umfang der Erhebungen (§ 98 SGB VIII), die Erhebungsmerkmale (§ 99 SGB VIII), die so genannten „Hilfsmerkmale“ (§ 100 SGB VIII)4, die Periodizität und die Berichtszeiträume für die Erhebungen (§ 101 SGB VIII),

4Hilfsmerkmale

der KJH-Statistik sind nach § 100 SGB VIII in der Regel Name und Anschrift des Auskunftgebenden, die Kennnummer der auskunftgebenden oder hilfeleistenden Stelle sowie Kontaktdaten einer Person, die den Statistischen Ämtern für eventuelle Rückfragen zum Erhebungsbogen zur Verfügung steht. Laut Bundesstatistikgesetz (§ 12) sind die Hilfsmerkmale zum frühestmöglichen Zeitpunkt von den übrigen Erhebungsmerkmalen zu trennen. Ferner müssen sie nach Überprüfung der Erhebung auf Schlüssigkeit und Vollständigkeit der jeweiligen Erhebungsergebnisse gelöscht werden.

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Teil I: Erzieherische Hilfen und sonstige Hilfen [jährlich]

Teil II: Maßnahmen der Jugendarbeit [alle 2 Jahre]

Teil III: Einrichtungen und tätige Personen [jährlich bzw. alle 2 Jahre]

Teil IV: Ausgaben und Einnahmen [jährlich]

Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige

Öffentlich geförderte Angebote der Jugendarbeit:

Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen für Kinder [jährlich]

Ausgaben und Einnahmen für Einzelund Gruppenhilfen sowie für Einrichtungen [jährlich]

Adoptionen Sorgerechtsentzüge, Vormundschaften etc. Vorläufige Schutzmaßnahmen Gefährdungseinschätzungen nach § 8a SGB VIII

Offene Angebote Gruppenbezogene Angebote Projekte und Veranstaltungen [alle 2 Jahre]

Einrichtungen der Kinder- u. Jugendhilfe (ohne ‚Kita‘) [alle 2 Jahre] Kinder und tätige Personen in öffentlich geförderter Kindertagespflege [jährlich] Personen in Großpflegestellen und die betreuten Kinder [jährlich]

Abb. 1   Übersicht über die Struktur und die Teilerhebungen der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik). (Quelle: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) in Anlehnung an Rauschenbach und Schilling 1997)

die Regelungen zur Auskunftspflicht bei öffentlichen und freien Trägern (§ 102 SGB VIII) sowie solche zur Übermittlung, Auswertung und Veröffentlichung der Daten (§ 103 SGB VIII). Auf der Grundlage der Regelungen in § 98 SGB VIII zu Zweck und Umfang der Erhebungen sowie zu den Erhebungsmerkmalen in § 99 SGB VIII ergibt sich die Grundstruktur der KJH-Statistik. Die Erhebungen werden in vier Teile untergliedert (vgl. Abb. 1). Diese grobe schematische Beschreibung des Grundgerüstes der KJH-Statistik verdeutlicht, dass nicht sämtliche Aufgaben und Leistungen oder auch Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe berücksichtigt werden. Ohne hier im Detail darauf einzugehen, zeigen sich zum Teil beträchtliche Lücken aufseiten der KJH-Statistik, wenn man schematisch die Paragrafen des SGB VIII neben das Erhebungsprogramm der amtlichen Statistik legt. So bleiben nahezu alle nicht unmittelbar adressatenbezogenen Aufgaben, wie z. B. konkrete Verwaltungsakte oder allgemeinere Tätigkeiten wie die Jugendhilfeplanung oder die Durchführung von

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Abb. 2   Dimensionen der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik. (Quelle: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat))

Hilfeplangesprächen unberücksichtigt.5 Sowohl mit Blick auf die Erfassung von Leistungen und Strukturen einzelner Arbeitsfelder als auch hinsichtlich der Berücksichtigung übergreifender Aufgaben ergeben sich Ansatzpunkte zur Qualifizierung und Weiterentwicklung der KJH-Statistik, wie im dritten Teil des Beitrags noch auszuführen sein wird. Beim aktuellen Erhebungsprogramm der KJH-Statistik können bei der Erfassung der adressatenbezogenen Leistungen und Aufgaben fünf Perspektiven unterschieden werden (vgl. Abb. 2). Dies sind im Einzelnen die • die Hilfeleistungen bzw. Angebote, • die Empfänger/-innen der Hilfe bzw. des Angebotes bzw. die Nutzer/-innen des Angebots, • die Einrichtungen, • die in den Einrichtungen tätigen Personen und

5Eine

Ausnahme hierzu stellen die seit 2012 erfassten Gefährdungseinschätzungen von Jugendämtern nach § 8a Abs. 1 SGB VIII dar (Pothmann 2014). Inwiefern sich hier möglicherweise eine systematische Weiterentwicklung der KJH-Statistik eröffnet, kann hier nicht abschließend bewertet werden.

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• die Ausgaben und Einnahmen, sofern es sich um solche der öffentlichen Gebietskörperschaften handelt. Allerdings sind auch hier deutlich unterschiedliche Gewichtungen zu beobachten. Wird die empfänger- und hilfebezogene Perspektive vor allem bei den Hilfen zur Erziehung sowie zumindest in Ansätzen noch bei der Kindertagesbetreuung umgesetzt, werden die anderen Perspektiven praktisch bei allen rechtlich verankerten adressatenbezogenen Leistungen und Aufgaben des SGB VIII erfasst, wenngleich auch mit einem unterschiedlichen Differenzierungsgrad.

1.2 Organisation und Durchführung der Erhebungen Bei der KJH-Statistik handelt es sich vom Grundsatz her um eine sogenannte Bundesstatistik. Das heißt, die Erhebungsinhalte und -modalitäten der KJH-­ Statistik sind bundeseinheitlich und basieren – wie bereits ausgeführt – auf einer bundesgesetzlichen Grundlage. Gleichwohl werden die Erhebungen durch die Statistischen Landesämter in den Bundesländern durchgeführt und deren Ergebnisse werden von den zuständigen Stellen für die Bundesländer veröffentlicht. Das Statistische Bundesamt wiederum fasst die Länderergebnisse zu einem Bundesergebnis zusammen. Die hierfür notwendigen Auswertungstabellen (Standardtabellen, Zusatztabellen) werden vom Statistischen Bundesamt in Kooperation mit den Ländern entwickelt. Ein nicht nur hierfür wichtiges Gremium, sondern auch für andere organisatorische, aber auch inhaltliche Fragen zu den Erhebungen der KJH-Statistik stellt die so genannte ‚Referentenbesprechung‘ beim Statistischen Bundesamt dar, in der die Statistikbehörden der Länder und das Statistische Bundesamt vertreten sind.6 Die Durchführung der Erhebungen zur KJH-Statistik liegt bei den statistischen Ämtern der Länder. Sie ermitteln die Auskunftspflichtigen, senden ihnen die notwendigen Informationen zur Durchführung der Datenerhebung zu, kontrollieren

6Ein

weiteres Gremium, das in diesem Zusammenhang allerdings in den letzten Jahren mit Blick auf die KJH-Statistik vergleichsweise geringe Aktivitäten gezeigt hat, ist der beim Statistischen Bundesamt bzw. beim Statistischen Beirat angesiedelte „Fachausschuss Sozialhilfe-/Pflege-/Kinder- u. Jugendhilfestatistik“. Der geringe Aktivitätsgrad mit Blick auf die KJH-Statistik ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die notwendige Kooperation und Kommunikation mit der Fachwelt auf den Ebenen von Praxis, Politik und Wissenschaft zur Qualifizierung und Weiterentwicklung der KJH-Statistik zumindest zurzeit auf andere Organisationsformen zurückgreift (Schilling und Pothmann 2013, S. 149 ff.).

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den Rücklauf, prüfen die abgegebenen Datensätze – das sind aufgrund der technischen Möglichkeiten für Online-Meldungen in der Regel keine Erhebungsbögen mehr – auf Vollständigkeit und Plausibilität der Angaben, erfassen die abgegebenen Daten, erstellen die Auswertungstabellen und übermitteln das Ergebnis an das Statistische Bundesamt. Sobald in den statistischen Ämtern der Länder die Auswertungstabellen erstellt sind, können diese als Statistische Berichte veröffentlicht werden. Die Statistischen Ämter der Länder wiederum nehmen bei der Veröffentlichung der Länderergebnisse in der Regel eine Auswahl auf Grundlage der umfangreichen Auswertungstabellen vor. Zusätzlich wird in diesen Berichten auch die kommunale Ebene berücksichtigt, indem Eckwerte auf Kreisebene veröffentlicht werden. Darüber hinaus können auch durch die Statistikbehörden der Länder spezielle Ergebnistabellen erstellt werden. Die Ergebnisse der Erhebungen werden zumindest für die Bundesebene nicht mehr in gedruckten Fachserien veröffentlicht, sondern im Internet als PDFDateien bzw. als EXCEL-Dateien kostenfrei bereitgestellt: www.destatis.de/ – > Alle Themen - > Soziales - >  Kinder- und Jugendhilfe (Zugriff 15.07.2019). Auch diese Maßnahme hat über einen längeren Zeitraum betrachtet zu einer heute deutlich schnelleren Bereitstellung der Ergebnisse geführt. Während man noch in den 1990er- und zum Teil auch in den 2000er-Jahren in der Regel ein Jahr und länger auf die Veröffentlichung der Ergebnisse warten musste, vergeht heute vom Ende des Erhebungsjahres bis zur Veröffentlichung der Resultate auf Bundesebene bei der überwiegenden Zahl der Erhebungen ein Zeitraum von 7 bis 13 Monaten, sofern keine Schwierigkeiten bei der Durchführung der Erhebung auftreten. Publikationen von ersten Länderergebnissen zu den einzelnen Erhebungen können auch weniger als ein halbes Jahr Zeit in Anspruch nehmen. Seit den 1990er-Jahren haben sich darüber hinaus Publikationsumfang und -format verändert. Es sind neue Publikationsformate zu einzelnen Erhebungen der KJH-Statistik entwickelt worden – u. a. mit dem Fokus auf einzelne Hilfearten oder auch mit Blick auf übergreifende Themen (beispielsweise für die Hilfen zur Erziehung und die Hilfen für junge Volljährige oder auch die Kindertagesbetreuung, aber auch hinsichtlich der Aufbereitung regionaler Ergebnisse). Die erweiterten Möglichkeiten für die Bereitstellung der Ergebnisse hat aber nicht nur den Umfang der Publikationen der amtlichen Statistik mit Ergebnissen der KJH-Statistik vergrößert, sondern hat auch zu neuen Veröffentlichungsformen geführt – beispielsweise mit Blick auf das statistische Informationssystem des Statistischen Bundesamtes „GENESIS-Online“ (www-genesis.destatis.de/genesis/ online; Zugriff 15.07.2019) oder auch die Regionaldatenbank der Statistischen Ämter (www.regionalstatistik.de; Zugriff 15.07.2019). Allerdings scheinen die

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Potenziale dieser internetgestützten Plattformen für die Bereitstellung der Ergebnisse der KJH-Statistik noch längst nicht ausgeschöpft zu sein. Darüber hinaus ist es über das Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder möglich, mit – je nach Datenquelle und Erhebung – unterschiedlichen datenschutzrechtlichen Auflagen auf Einzeldaten der KJH-Statistik zurückzugreifen. Damit können seitens wissenschaftlicher Einrichtungen weitergehende und über das Tabellenprogramm der Statistischen Ämter hinausgehende statistische Analysen bis hin zu multivariaten Modellrechnungen durchgeführt werden (beispielsweise Schilling 2006; Fuchs-­Rechlin et al. 2011). Dieser Weg der Datennutzung ist von zentraler Bedeutung für die Kinder- und Jugendhilfeforschung, da hierüber das Erkenntnispotenzial der KJH-Statistik erst vollständig genutzt werden kann.

2 Details zu den Erfassungsinhalten Zu den zentralen Merkmalen der KJH-Statistik gehört – wie bereits im ersten Teil des Beitrags herausgearbeitet – die Sortierung der Einzelerhebung in vier Teile. Im Folgenden werden vor allem die Inhalte der einzelnen Erhebungen und damit der Teilstatistiken dargestellt. Die nachfolgenden Ausführungen unterscheiden demnach zwischen „Erzieherischen Hilfen und sonstigen Hilfen (Teil I)“ (Abschn. 2.1), den „Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit (Teil II)“ (Abschn. 2.2), den „Einrichtungen und tätigen Personen (Teil III)“ (Abschn. 2.3) sowie den „Ausgaben und Einnahmen (Teil IV)“ (Abschn. 2.4).

2.1 Erzieherische Hilfen und sonstige Hilfen (Teil I) Der Teil I der KJH-Statistik umfasst die so genannten „Erzieherischen Hilfen und die sonstigen Hilfen“. Hierzu gehören Erhebungen über die Hilfen zur Erziehung, die Hilfen für junge Volljährige sowie die Eingliederungshilfen für seelisch behinderte junge Menschen, aber auch die Adoptionen, die vorläufigen Schutzmaßnahmen sowie eine Erhebung über weitere Aufgaben des Jugendamtes. Ferner werden seit 2012 seitens der Jugendämter Gefährdungseinschätzungen bei möglichen Kindeswohlgefährdungen erfasst. Dieser Teil der KJH-Statistik umfasst damit die meisten Einzelerhebungen, und zwar: a) Für die Hilfen zur Erziehung und die Eingliederungshilfen bei einer (drohenden) seelischen Behinderung werden die Art des Trägers, die Art der Hilfe, der

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Ort der Hilfedurchführung, die Dauer und Betreuungsintensität einer Leistung, die Gründe für eine Hilfegewährung, das Geschlecht und das Alter der jungen Menschen (nach Altersjahren) erfasst, aber auch die Lebenssituation der die Hilfe in Anspruch nehmenden Familien wird pro Einzelfall berücksichtigt. Ferner werden Gründe für die Beendigung einer Maßnahmen sowie Angaben über die Situation im Anschluss an die Hilfe statistisch erhoben (Lehmann und Kolvenbach 2010; Fendrich et al. 2018). Der Katalog der Erhebungsmerkmale wurde seitens des Gesetzgebers in den letzten Jahren ausgeweitet. So wird seit der Novellierung des SGB VIII durch das so genannte „Bundeskinderschutzgesetz“ 2012 erfasst, ob der erfassten Leistung der Hilfe zur Erziehung bzw. der Eingliederungshilfe eine Gefährdungseinschätzung im Sinne des § 8a Abs. 1 SGB VIII vorausgegangen ist – ein für empirische Beobachtungen zum institutionellen Kinderschutz wichtiges Datum (Mühlmann et al. 2015, S. 115 ff.). Ferner wird seit dem Berichtsjahr 2017 seitens der Statistikbehörden aufgrund der Novellierung des SGB VIII durch das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ erhoben, ob die Hilfe im Anschluss an eine vorläufige Maßnahme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen aufgrund der unbegleiteten Einreise eines Minderjährigen nach Deutschland erfolgt, womit eine wichtige Leerstelle der Datenlage zu einer in den 2010er-Jahren an Bedeutung gewonnenen Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen sowie der kommunalen Jugendämtern im Besonderen ausgefüllt werden kann (Deutscher Bundestag 2015, S. 30; Deutscher Bundestag 2017a). Allerdings sind zumindest die Ergebnisse der ersten Berichtsjahre zu diesem Merkmal noch wenig verlässlich, da die auskunftgebenden Jugendämter mitunter nicht zwischen regulären und vorläufigen Inobhutnahmen unterschieden haben. b) Adoptionen werden bereits seit 1950 im Rahmen der KJH-Statistik erfasst. Jährlich werden Angaben zu den abgeschlossenen Adoptionen von Minderjährigen und die Eckzahlen zur Adoptionsvermittlung durch Angaben der Adoptionsvermittlungsstellen der Jugendämter und der freien Träger über die Kinder- und Jugendhilfestatistik veröffentlicht. Damit liegen auch differenzierte Informationen über die verschiedenen Adoptionsformen (Fremdadoptionen, Stiefelternadoptionen, Verwandtenadoptionen, Auslandsadoptionen) vor. Die Erfassung berücksichtigt sowohl Angaben zu den Adoptivkindern als auch zu den annehmenden sowie abgebenden Eltern (ausführlicher Fendrich 2005; Fendrich und Mühlmann 2016). c) Die jährliche Erfassung der Pflegschaften, Vormundschaften, Beistandschaften, Pflegeerlaubnisse, Sorgerechtsentzüge und Sorgeerklärungen unterscheidet sich schon insofern von den anderen Erhebungen der KJH-Statistik,

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als dass es sich hierbei nicht um eine Individualerhebung, sondern um eine Sammelerhebung bei den Jugendämtern handelt. Bereits Rauschenbach und Schilling (1997, S. 123 ff.) haben herausgearbeitet, dass sich diese Erhebung vor allem auf Aufgabenbereiche des Jugendamtes bezieht, die eher dem ordnungsrechtlichen Bereich zuzuordnen sind und damit gerade auch in den 1990er-Jahren zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung der Kinder- und Jugendhilfe deutlich an Bedeutung verloren haben. Mit Beginn der 2000erund spätestens ab Mitte der 2000er-Jahre gilt dies zumindest für die sorgerechtlichen Verfahren und Maßnahmen der Familiengerichte nicht mehr. Gerade im Kontext der „Kinderschutzdebatte“ werden diese Ergebnisse seit einigen Jahren wieder stärker auch im Kontext zu Beiträgen für die Kinderund Jugendhilfeforschung beachtet (z. B. Fendrich und Pothmann 2010). Vor diesem Hintergrund sind auch aktuelle Veränderungen bei der Erfassung der Maßnahmen des Familiengerichts bei einer Gefährdung des Kindeswohls im Kontext des Bundeskinderschutzgesetzes einzuordnen (Meysen und Eschelbach 2012, S. 202 ff.). Mit dem Erhebungsjahr 2012 werden diesbezüglich auch alters- und geschlechtsspezifische Informationen erhoben sowie neben den sorgerechtlichen Maßnahmen differenzierte Angaben über die Gebote und Verbote der Familiengerichte gegenüber den Personensorgeberechtigen berücksichtigt. Hierüber liegen auch zusätzliche Angaben und Einblicke in die familiengerichtliche Praxis beim Einsatz von Maßnahmen nach § 1666 BGB vor (vgl. Mühlmann et al. 2015, S. 122). d) Bei den Inobhutnahmen gem. § 42 SGB VIII umfasst die Erhebung der KJH-Statistik seit 1995 neben Merkmalen wie Alter (nach Altersgruppen), Geschlecht, Migrationshintergrund und Aufenthalt vor der Maßnahme Angaben zur Art des Trägers, zur Form der Unterbringung, zu den Initiatoren einer Inobhutnahme und zu einer vorausgegangenen möglichen Gefährdungseinschätzung durch das Jugendamt. Darüber hinaus berücksichtigt der Erhebungsbogen den Beginn sowie die Dauer der Intervention, aber auch Gründe für eine Inobhutnahme und eventuelle anschließende Hilfen (Pothmann 2010; Tabel et al. 2013, S. 60 ff.). Analog zu den Hilfen zur Erziehung wird seit Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes für eine breitere Datenbasis zum institutionellen Kinderschutz erfasst, ob der Inobhutnahme eine Gefährdungseinschätzung durch das Jugendamt im Sinne des § 8a Abs. 1 SGB VIII vorausgegangen ist (Mühlmann et al. 2015, S. 115 ff.). Mit dem seit 01.11.2015 in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher werden im Rahmen dieser Erhebung ab 2017 auch die vorläufigen Inobhutnahmen

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bei unbegleitet eingereisten ausländischen Kindern und Jugendlichen berücksichtigt (§ 42a SGB VIII) (Deutscher Bundestag 2015, S. 30). e) Bei der aufgrund der Veränderungen der KJH-Statistik durch das Bundeskinderschutzgesetz bei Jugendämtern durchgeführten Erhebung über die Gefährdungseinschätzungen der kommunalen Jugendbehörden nach § 8a Abs. 1 SGB VIII werden keine Leistungen bzw. Hilfen für Kinder und ihre Familien statistisch erfasst, sondern genau genommen werden Verfahren des öffentlichen Jugendhilfeträgers bei möglichen Vernachlässigungen, Misshandlungen oder auch einem Missbrauchsverdacht gegenüber Kindern und Jugendlichen in den Blick genommen (Meysen und Eschelbach 2012, S. 202 ff.). Mit den empirischen Befunden zu den Gefährdungseinschätzungen wird eine wichtige Aufgabe der Jugendämter als Garant des staatlichen Wächteramtes in den Fokus einer empirischen Dauerbeobachtung der Kinder- und Jugendhilfe gerückt (Pothmann und Wohlgemuth 2011; Mühlmann et al. 2015, S. 107 ff.). Erfasst werden bei dieser Erhebung seit 2012 Geschlecht und Alter des Kindes oder Jugendlichen, dessen Wohl potenziell gefährdet ist, eine mögliche Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe vor und nach der Gefährdungseinschätzung sowie Informationen über die Initiative zu einer Meldung beim Jugendamt, aber insbesondere auch Angaben über das Ergebnis einer Gefährdungseinschätzung (Grundmann und Lehmann 2012). Empirische Untersuchungen im Kontext der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes kommen zu dem Ergebnis, dass über diese Angaben wichtige Daten zu einem zentralen Verfahren der Jugendämter bei möglichen Kindeswohlgefährdungen zur Verfügung stehen (Mühlmann et al. 2015, S. 130).

2.2 Angebote der Kinder- und Jugendarbeit (Teil II) Wenn – wie eingangs ausgeführt – die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik) Beiträge zu einer quantitativ empirischen Dauerbeobachtung der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Arbeitsfelder leistet und damit eine für die Kinder- und Jugendhilfeforschung relevante Datengrundlage darstellt, so galt dies für die Kinder- und Jugendarbeit bislang mit Blick auf die Qualität der Erhebungsinstrumente nur eingeschränkt. Dies gilt erst recht bei einem Vergleich des Arbeitsfeldes mit der Kindertagesbetreuung oder den Hilfen zur Erziehung. Die KJH-Statistik umfasste zwar seit Anfang der 1980er-Jahre eine Erfassung der öffentlich geförderten Maßnahmen der Jugendarbeit. Diese alle vier Jahre durchgeführte Erhebung hatte allerdings zahlreiche Schwachstellen. Infolgedessen wurde diese Erhebung 2008 zum letzten Mal durchgeführt, vom ­ Deutschen

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Bundestag für 2012 ausgesetzt und nunmehr ist nach einer umfassenden Neukonzeption und entsprechenden Beschlüssen von Bundestag und Bundesrat mit einer Erhebung für das Jahr 2015 ein Neuanfang gemacht worden (Pothmann et al. 2013; Pothmann 2017). Nach dem Willen des Gesetzgebers sieht die neu konzipierte Erhebung für die Kinder- und Jugendarbeit folgende Erhebungsdimensionen vor (von der Gathen-Huy et al. 2013): • Erfasst werden Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, sofern diese mit öffentlichen Mitteln pauschal oder maßnahmebezogen gefördert werden. Bei den im Sinne des § 11 SGB VIII berücksichtigten Angeboten werden offene und gruppenbezogene genauso berücksichtigt wie Projekte und Veranstaltungen. Ferner werden nach wie vor Angaben zu den Fortbildungsmaßnahmen für ehrenamtlich Engagierte anerkannter Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Veranstaltungen statistisch erfasst (§ 74 Abs. 6 SGB VIII). • Zu diesen Erhebungsdimensionen werden Merkmale erhoben wie Art und Rechtsform des Trägers, Dauer, Häufigkeit, Durchführungsort und Art des Angebots, Teilnehmende und Besucher/-innen von Angeboten der Kinderund Jugendarbeit – sofern möglich nach Alter und Geschlecht – oder auch personelle Ressourcen einschließlich der ehrenamtlich Engagierten unter Berücksichtigung von Angaben zum Alter, zum Geschlecht sowie zur Art der Beschäftigung.

2.3 Einrichtungen und tätige Personen (Teil III) Der Teil III der KJH-Statistik umfasst Erhebungen zu Einrichtungen und tätigen Personen in der Kinder- und Jugendhilfe. Damit wird über diesen Teil der amtlichen Statistik die institutionelle Ebene der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Arbeitsfelder in den Blick genommen. Die Erfassung der Einrichtungen und tätigen Personen ist insbesondere auch für die Forschung auf der Grundlage der KJH-Statistik in den letzten Jahrzehnten von besonderer Bedeutung (Schilling und Pothmann 2013). Es handelt sich hierbei um die zentralen Datenerhebungen, um die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt sowie die der Arbeitsfelder in den Blick nehmen zu können, wobei ein deutliches Schwergewicht auf den Bereich der öffentlich organisierten Kindertagesbetreuung gelegt wird. Der Teil III der KJH-Statistik ist in vier Einzelerhebungen unterteilt (vgl. Abb. 1). Das sind im Einzelnen Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen für Kinder,

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Einrichtungen und tätige Personen ohne die Tageseinrichtungen für Kinder, Kinder und tätige Personen in öffentlich geförderter Kindertagespflege sowie Personen in Großpflegestellen und die hier betreuten Kinder. Bereits aus diesen Benennungen wird nicht nur deutlich, dass dieser Teil der KJH-Statistik von zentraler Bedeutung für die empirische Beobachtung öffentlich organisierter Kindertagesbetreuung ist, sondern auch, dass nach einer etwas gröberen Differenzierung die Erhebungen in solche für die öffentlich organisierte Kindertagesbetreuung (Abschn. 2.3.1) und eine für Einrichtungen und Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe jenseits der Kindertagesbetreuung (Abschn. 2.3.2) eingeteilt werden können.

2.3.1 Erhebungen zur öffentlich organisierten Kindertagesbetreuung Die Statistik zur öffentlich organisierten Kindertagesbetreuung umfasst zunächst eine Erhebung zu den Kindertageseinrichtungen selbst. Neben den Einrichtungen werden hier Informationen zum Personal in Kindertageseinrichtungen sowie zu den dort betreuten Kindern erhoben. Eine Erfassung der Kinder in Kindertageseinrichtungen ist ebenso wie die Erhebungen zur öffentlich geförderten Kindertagespflege seit der Neuordnung der Kinder- und Jugendhilfestatistik Mitte der 2000er-Jahre Bestandteil dieses Teils der KJH-Statistik (Kolvenbach und ­Taubmann 2006). Bezogen auf die Tagespflege werden im entsprechenden Teil der KJH-Statistik ebenfalls Angaben zum Personal, also zu den Tagespflegepersonen, und zu den Kindern in Tagespflege erhoben. Das Erhebungsprogramm der amtlichen Statistik der Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege liefert im Detail jährlich Angaben zu folgenden Merkmalen: Art des Trägers und deren Rechtsform, Zahl der genehmigten Plätze, Anzahl der Gruppen und der Kinder in der Einrichtung. Mit Blick auf die Kinder werden Geburtsmonat und -jahr, Geschlecht, Migrationshintergrund, Betreuungszeiten, Förder- bzw. Unterstützungsbedarf nach SGB VIII/SGB XII, Mittagsverpflegung sowie ein möglicher Schulbesuch erfasst. Die Erhebung von Informationen über das Personal in Kindertageseinrichtungen bezieht sich auf Angaben zum Geschlecht und zum Alter, zum Arbeitsbereich, zur Stellung im Beruf, zum Beschäftigungsumfang und zum Berufsausbildungsabschluss. Bei den Tagespflegepersonen werden ebenfalls Angaben zum Geschlecht und zum Alter sowie zum Berufsausbildungsabschluss den Statistischen Landesämtern übermittelt. Weiter berücksichtigt die Erhebung zu den Tagesmüttern und -vätern tätigkeitsbezogene Qualifizierungsmaßnahmen sowie die Anzahl der betreuten Kinder und den Ort der Betreuung. Für das Jahr 2012 sind darüber hinaus erstmalig Angaben zur Betreuungsform der Großtagespflegestellen in einer weiteren Teilerhebung berücksichtigt worden (Fuchs-Rechlin und Schilling 2012).

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J. Pothmann

2.3.2 Erfassung von Strukturen anderer Arbeitsfelder Jenseits der Statistik zu den Tageseinrichtungen für Kinder sowie zur öffentlich organisierten Kindertagespflege werden sämtliche Einrichtungen der Kinderund Jugendhilfe und die hier tätigen Personen ab 2014 alle zwei Jahre – zuvor alle vier Jahre – im Rahmen einer Erhebung erfasst. Diese Teilerhebung zu den Einrichtungen und tätigen Personen eröffnet die Möglichkeit, infrastrukturelle Rahmenbedingungen der einzelnen Arbeitsbereiche und -felder zu beschreiben und zu analysieren. Dabei können zum einen über die Art der erfassten Einrichtungen – über 40 verschiedene Merkmalsausprägungen sind hier vorgesehen – Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe beobachtet werden. Darüber hinaus ist es zum anderen über die Einrichtungs- und Personalstatistik möglich, ein differenziertes Bild zur Personalsituation in den Arbeits- und Handlungsfeldern jenseits der Kindertagesbetreuung nachzuzeichnen. Das in diesem Kontext erfasste Personal wird – sofern es sich um haupt- und nebenberuflich Beschäftigte handelt – nach Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Qualifikationsabschluss sowie dem Beschäftigungsverhältnis einschließlich der Wochenarbeitszeit unterschieden (Fuchs-Rechlin und Schilling 2018).

2.4 Ausgaben und Einnahmen (Teil IV) Der Teil IV der KJH-Statistik erfasst jährlich Angaben zu den Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Gebietskörperschaften für Leistungen und Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Nicht erhoben werden hingegen die Eigenmittel freier Träger aus z. B. Mitgliedsbeiträgen oder auch Spenden zur Finanzierung von Leistungen und Strukturen oder auch die Elternbeiträge für die Finanzierung von frühkindlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote sowie für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Im Erhebungsbogen dieses Teils der KJH-Statistik wird zwischen einrichtungsbezogenen Aufwendungen und Ausgaben für so genannte „Einzel- und Gruppenhilfe“ unterschieden. Die Merkmalsausprägungen orientieren sich zum einen an dem rechtlich kodifizierten Aufgaben- und Leistungskatalog des SGB VIII. Zum anderen bestehen Anknüpfungspunkte an die ‚Arbeitsfeldlogik‘ der Kinder- und Jugendhilfe. Die KJH-Statistik ist mit Blick auf die finanziellen Aufwendungen eine geeignete Datenquelle, wenn es darum geht, Ausgaben aus den Kinder- und Jugendhilfeetats der öffentlichen Gebietskörperschaften an junge Menschen und

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ihre Familien oder auch für Einrichtungen, Dienste und Angebote in öffentlicher Trägerschaft sowie in Form von Zuschüssen für freie Träger darzustellen. Keine Aussagen sind auf der Grundlage dieser Daten hingegen zur Finanzierung dieser Ausgaben möglich, also beispielsweise zu der Fragestellung, zu welchen Anteilen die von den Kommunen verausgabten Geldmittel für die Kinder- und Jugendhilfe auf Zahlungen des überörtlichen Träger, des Landes oder auch des Bundes zurückzuführen sind. Um diese Analyseebene mit einzubeziehen, ist es notwendig neben der KJH-Statistik auch die Resultate der Finanzstatistik mit zu berücksichtigen (Kolvenbach 2010; Schilling 2011).

3 Weiterentwicklungsoptionen für eine bessere Nutzung der Ergebnisse in der Kinder- und Jugendhilfeforschung Für die KJH-Statistik ist mit Blick auf die letzten beiden Jahrzehnte zu konstatieren, dass Erhebungsinstrumente, Auswertungsverfahren sowie Verwendungskontexte sich zunehmend ausdifferenziert und weiterentwickelt haben. Zu diesen Verwendungskontexten gehört auch die die Kinder- und Jugendhilfeforschung und die in diesem Zusammenhang durchgeführten Sekundäranalysen von Ergebnissen der KJH-Statistik. Im Rahmen der bisherigen Ausführungen ist auf der einen Seite das Erkenntnispotenzial der statistischen Erhebungen für die Kinderund Jugendhilfeforschung deutlich geworden. Auf der anderen Seite sind aber auch Lücken deutlich geworden sowie Weiterentwicklungspotenziale aufgefallen sind. In einer keineswegs als abschließend zu verstehenden Aufzählung können in diesem Kontext folgende Entwicklungsprojekte benannt werden:7 • Es ist notwendig, das Instrument KJH-Statistik mit Blick auf eine verbesserte Erfassung der Jugendsozialarbeit zu erweitern und zu qualifizieren (Schilling und Kolvenbach 2011). Derzeit kann die KJH-Statistik trotz ihres grundsätzlichen Auftrags, die Auswirkungen der Bestimmungen des SGB VIII insgesamt – also auch des § 13 SGB VIII – zu erfassen, alleine keinen

7So

könnte die nachfolgende Aufzählung von möglichen Projekten einer Erweiterung und Qualifizierung der KJH-Statistik beispielsweise noch um die Frühen Hilfen, Angebote im Rahmen von Ganztagsschulen oder auch Leistungen „unterhalb“ der Hilfen zur Erziehung, also etwa gemäß § 16 SGB VIII – Förderung der Erziehung in der Familie –, erweitert ­werden.

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e­ntscheidenden Beitrag zur Verbesserung einer empirischen Basis für die Jugendsozialarbeit und ihre unterschiedlichen Handlungsfelder leisten. Vielmehr ist die aktuelle defizitäre Datenlage in der KJH-Statistik auch das Ergebnis eines Strukturproblems der Jugendsozialarbeit: Die zentralen rechtlichen Grundlagen für dieses Arbeitsfeld sind zwar im SGB VIII verankert, empirisch spielen aber die diversen Handlungsfelder in der Kinder- und Jugendhilfe kaum noch eine Rolle bzw. sind organisatorisch so unterschiedlich und unübersichtlich verankert, dass sie kaum noch sichtbar gemacht werden ­können. • In den letzten 10 Jahren sind die Jugendämter beispielsweise im Kontext von öffentlich gemachten und medial umfangreich aufbereiteten Vernachlässigungs- und Misshandlungsfällen sowie die sich daran anschließenden Debatten über einen gelingenden aktiven Kinderschutz wieder zunehmend ins Blickfeld der öffentlichen Beobachtung gerückt. Empirische Beiträge zu den Strukturen und Abläufen eines Jugendamtes konnte dabei die KJH-Statistik nur in einem sehr überschaubaren Ausmaß liefern. Insgesamt ist eine differenziertere Betrachtung der Jugendämter über das Instrument der KJH-­Statistik auch kein einfaches Unterfangen, da Struktur und inhaltliche Ausrichtung der Jugendämter vielfach unterschiedlich sind (Schilling und Pothmann 2013, S. 158 f.). Über die KJH-Statistik liegen somit bislang auch nur Eckwerte zur Anzahl und Qualifikation des Personals vor, die zudem auch nicht immer zuverlässig zu sein scheinen (Mühlmann 2016). Allerdings können Fragen danach, was in den Jugendämtern konkret geschieht, überhaupt nicht mit den aktuellen Erhebungen der KJH-Statistik beantwortet werden, sieht man einmal von der seit 2012 durchgeführten Erfassung der Gefährdungseinschätzungen von Jugendämtern ab. • Zuletzt hat das so genannte „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ Änderungen bzw. Weiterentwicklungen der KJH-Statistik vorgesehen. Diese beziehen sich vor allem auf die Erhebung zu den Einrichtungen und tätigen Personen ohne Tageseinrichtungen für Kinder. Diese Erhebung sollte von einer Einrichtungsauf eine Trägerstatistik umgestellt werden, da damit eine validere Datengrundlage über die Strukturen und Organisationen in der Kinder- und Jugendhilfe vorhanden gewesen wäre (Deutscher Bundestag 2017b, S. 68 ff.). Allerdings wurden die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen nach Verabschiedung durch den Deutschen Bundestag im Juni 2017 nicht mehr – Stand Juli 2019 – durch den Bundesrat bestätigt, sodass nicht davon auszugehen ist, dass es durch dieses Gesetz noch zu einer Novellierung des SGB VIII und damit auch zu einer Weiterentwicklung der Statistik kommen wird. Vielmehr bleibt abzuwarten, inwiefern in dem Ende 2018 gestarteten SGB VIII-Reformprozess

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(www.mitreden-mitgestalten.de; Zugriff: 15.07.2019) auch die notwendige Weiterentwicklung der KJH-Statistik mit berücksichtigt werden wird. • Sollte es auch vor dem Hintergrund der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention zu einer Neuordnung der Eingliederungshilfen kommen, wird dies aller Voraussicht nach auch Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe haben. Aus der dabei einmal mehr diskutierten so genannten ‚großen Lösung‘ oder auch ‚inklusiven Lösung‘ mit einer Neuordnung der Eingliederungshilfen in Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe resultieren erhebliche Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe mit Blick auf die Architektur des Leistungssystems oder auch auf die personelle und fachliche Ausstattung (Wiesner 2013, S. 178 f.). Letztlich werden solche Veränderungen im Leistungsspektrum und den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe nicht folgenlos für das empirische Beobachtungsinstrument KJH-Statistik bleiben können.

4 Resümee Die KJH-Statistik ist eine relevante Datenquelle für eine empirische Dauerbeobachtung der Leistungen und Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe für junge Menschen und ihre Familien inklusive ihrer Inanspruchnahme. Diese amtliche Statistik ist damit auch eine zentrale Datengrundlage für eine Sozialberichterstattung über das Aufwachsen junger Menschen, aber vor allem auch über einige Rahmungen der institutionalisierten Verfasstheit des Aufwachsens, beispielsweise mit Blick auf die Kindertageseinrichtungen, ambulante Dienste und Hilfen für Familien, stationäre Unterbringungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen, aber auch mit Blick auf Angebote der Kinder- und Jugendarbeit. Für diese exemplarisch genannten, aber auch andere Kontexte der Kinder- und Jugendhilfe ist die KJH-Statistik eine wichtige Datengrundlage für Sekundäranalysen im Rahmen einer Kinder- und Jugendhilfeforschung. Dabei steht die amtliche Statistik keineswegs im Gegensatz zur sozialwissenschaftlichen Forschung oder gar in Konkurrenz dazu. Vielmehr ist die KJH-Statistik als institutionalisierte Forschung zu verstehen und ist vor diesem Hintergrund ein wichtiger Baustein der Datengrundlagen für eine quantitative Kinder- und Jugendhilfeforschung. Konkret kann die KJH-Statistik als Datengrundlage für die Kinder- und Jugendhilfeforschung unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine Datengrundlage, um Hypothesen zu prüfen oder einen Beitrag zur Theoriebildung zu leisten, sondern auch um empirische

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J. Pothmann

Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Surveys einzuordnen bzw. zu kontextualisieren oder auch um Fragestellungen für weiterführende Forschungsarbeiten zu entwickeln. Die KJH-Statistik ist somit Teil eines für die quantitative empirische Dauerbeobachtung der Kinder- und Jugendhilfe notwendigen „Instrumentenkoffers“.

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Die amtliche Schulstatistik als Datenquelle für die Kinder- und Jugendhilfe Björn Hermstein, Nils Berkemeyer und Horst Weishaupt 1 Einleitung Im Zuge der voranschreitenden Institutionalisierung einer nationalen Bildungsberichterstattung in Deutschland erfuhr die Schulstatistik jüngst einen erkennbaren Bedeutungsgewinn, welcher besonders von der wissenschaftlich fundierten Beschäftigung mit steuerungsrelevanten Indikatorensystemen und den hierdurch aufgedeckten Datenbedarfen geprägt ist. Obschon die Potenziale einer e­ laborierten Björn Hermstein, ehem. wiss. Mitarbeiter am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund, Schulentwicklungsplaner bei der Stadt Oberhausen. Prof. Dr. Nils Berkemeyer, Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. i. R. Dr. Horst Weishaupt, Arbeitsbereich Struktur und Steuerung des Bildungswesens am DIPF - Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. B. Hermstein (*)  Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Berkemeyer  Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Weishaupt  Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Standort Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_13

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Schulstatistik bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind, hat sie unterdessen in einigen Ländern eine beachtliche analytische Leistungsfähigkeit erreicht, die auch für Sekundäranalysen im Interessenbereich der Kinder- und Jugendhilfe relevante Nutzungsmöglichkeiten verspricht. Diese sollen im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen.

2 Zum Verhältnis der pädagogischen Institutionen Schule und Kinder- und Jugendhilfe Anschließend an Merkens (2006) sind Schule und Kinder- und Jugendhilfe unisono pädagogische Institutionen, die aber funktionale, professionelle und organisatorische Spezifika aufweisen. Den von Speck (2014) identifizierten Begründungsmustern zur Schulsozialarbeit ist exemplarisch zu entnehmen, worin die Grenzen des Schulischen einerseits und die spezifischen Beiträge von Kinderund Jugendhilfe andererseits liegen (z. B. Abbau von Verhaltensauffälligkeiten, Unterstützung von Benachteiligten, Absicherung von Ganztagsbetreuung, Förderung von Lebenskompetenzen).1 Der Diskussion um die Potenziale regionaler bzw. kommunaler Bildungslandschaften, der eine Zielperspektive aufeinander abgestimmter Bildungsangebote zugrunde liegt, folgen zudem aktivitätsbezogene Schnittstellen von Schule und Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Übergänge zwischen Bildungsinstitutionen und zwischen Schule und Ausbildung, Gestaltung von Ganztagsschule und Inklusion), die im Rahmen von verschränkten Planungsaktivitäten oder einer kommunalen Bildungsberichterstattung konturiert werden können. Für eine transparente Repräsentation gemeinsamer oder institutionenspezifischer Bezugsprobleme kommunaler Bildungsplanung bedarf es adäquater Datengrundlagen. Zwar liegt der Schwerpunkt vornehmlich auf Daten zur quantitativen und qualitativen Kennzeichnung der Sozialstruktur und Jugendhilfeinfrastruktur, aber auch schulbezogene Daten können den jugendhilfeplanungsbezogenen Datenbedarf sinnvoll ergänzen (Merchel 2016). Für das von ihm favorisierte Modell einer integrierten kommunalen Bildungsplanung schlägt Maykus (2010, S. 285) ein „Drei-­ Säulen-Modell“ aus Jugendhilfe-, Sozialstruktur- und Schul- bzw. Bildungsdaten

1Es

ist allein der thematischen Ausrichtung des Beitrags geschuldet, dass die Leistungsfähigkeit von Kinder- und Jugendhilfe selektiv im Lichte ihres Verhältnisses zur Schule dargelegt wird. Die Eigenständigkeit des Handlungsprogramms von Kinder- und Jugendhilfe soll damit selbstverständlich nicht negiert werden.

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vor, wobei letztgenannter Datenbereich ihm zufolge durch Schülerzahlen und -prognosen, Abschlusszahlen, Übergangsquoten sowie Informationen zu Förderverfahren und ganztägiger Bildung operationalisiert werden kann. Die Bildungsberichterstattung liefert Hinweise auf Themenfelder, die für eine (schulorientierte) Kinder- und Jugendhilfe sowie eine hierauf bezogene Planungspraxis von Bedeutung zu sein scheinen und mithilfe von Schulstatistiken einer datenbasierten Beobachtung zugeführt werden können: 1. Regionale/räumliche Differenzen der Bildungssituationen, 2. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bzw. ausländischer Staatsbürgerschaft, 3. Ganztagsangebote und ganztägige Betreuung, 4. Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen sowie 5. Übergänge und Schulabschlüsse. Diese Themenfelder stellen lediglich eine Auswahl möglicher schulstatistischer Beschreibungsoptionen dar, die im Anschluss an allgemeine Informationen zur amtlichen Schulstatistik nachfolgend eingehender vorgestellt werden.

3 Die amtliche Schulstatistik Die Schulstatistik ist ein Teilbereich der amtlichen Bildungsstatistik und liefert eine laufende Dokumentation von Situationen und Entwicklungen im Schulwesen. Historisch betrachtet entstand sie, wie auch Statistiken zu anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen, bereits im 19. Jahrhundert aus dem Kontroll- und Steuerungsanspruch des Staates (Weishaupt 2012) und wurde entsprechend dem Wandel der informationellen Bedürfnisse und technischen Möglichkeiten der Datenerhebungen weiterentwickelt.

3.1 Hintergründe, Systematik und Quellen der amtlichen Schulstatistik Wegen des Bildungsföderalismus werden schulstatistische Daten auf Basis der Schulgesetze der Länder von den Kultusministerien selbst oder von den Statistischen Landesämtern in deren Auftrag zu bestimmen Statistikstichtagen erhoben.

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Hieraus, sowie aus den länderspezifischen Organisationsmerkmalen des jeweiligen Schulsystems, ergeben sich bisweilen unterschiedliche Erhebungsmerkmale und Aufbereitungen in den Landesschulstatistiken. Über einen Definitionskatalog, der Merkmale detailliert beschreibt und statistische Zuordnungen festlegt, und einen zwischen den Ländern vereinbarten Kerndatensatz werden vereinheitlichte Darstellungen zu länderübergreifenden Vergleichszwecken auf diversen Aggregationsebenen ermöglicht. Dazu tragen insbesondere die koordinativen Bemühungen der Kultusministerkonferenz (KMK) sowie des Statistischen Bundesamts (im Rahmen des mit ihm vereinbarten Veröffentlichungsprogramms) bei. Dennoch liefert die Schulstatistik in der gesamtstaatlichen Betrachtung nur einen Flickenteppich von Daten, der bspw. mit der nach bundesweit einheitlichen Erhebungskriterien und einheitlicher rechtlicher Grundlage erhobenen Kinderund Jugendhilfestatistik (vgl. den Beitrag von Pothmann in diesem Band) nicht vergleichbar ist. Grundlage der amtlichen Schulstatistik bilden diejenigen Informationen, die eine Schule im Zuge der schulrechtlich festgelegten Dokumentationspflicht über schul- und personenbezogene Daten schulintern erhebt und für weitere Verarbeitungszwecke an übergeordnete Behörden meldet. Da alle Schulen eines Landes zur Auskunft verpflichtet sind, handelt es sich um eine Vollerhebung. Die von der Schule zu erhebenden Datenbestände beziehen sich auf personale und schullaufbahnbezogene Eigenschaften von Schülerinnen und Schülern sowie auf Merkmale der Lehrkräfte sowie der Schulorganisation und sind in der Regel auf Verordnungsebene beschrieben. Ein Teil dieser für die einzelschulische und behördliche Verwaltungspraxis vorgesehenen Daten werden an eine statistische Meldestelle, die entweder beim Statistischen Landesamt oder dem Kultusministerium angesiedelt ist, periodisch übermittelt. Den Informationsinteressen entsprechend werden von dort aus Aggregatdaten in Form von Excel-Tabellen an das Sekretariat der Kultusministerkonferenz sowie das Statistische Bundesamt weitergegeben, woraus nachfolgend bundeseinheitliche statistische Berichte und Online-Datenbanken erstellt sowie Informationen an internationale Organisationen bzw. Behörden (UNESCO, OECD, EUROSTAT) übermittelt werden. Aufgrund des an der Einzelschule ansetzenden Erhebungsverfahrens sowie der periodischen Reproduktion der Daten ist es prinzipiell möglich, die Ausprägungen der erhobenen Merkmale auf Schulebene zu analysieren, in Zeitreihen nachzuzeichnen und regional (z. B. Stadtteil, Kommune, Land) zusammenzufassen. In den öffentlich abrufbaren Veröffentlichungen werden die Daten nur in aggregierter Form berichtet, kleinräumige Daten sind nur über die Statistischen Landesämter oder Kultusministerien zu erhalten. Als datenschutzrechtlich weniger sensibel eingestufte Daten, wie Schüleranzahlen nach Nationalität, Geschlecht

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und besuchter Schulart, werden für die einzelnen Schulen jährlich über Schulverzeichnisse publiziert und sind für NutzerInnen frei zugänglich. Dadurch ist es möglich, das Schulangebot auch Jugendamtsbezirken unterhalb der Kreisebene zuzuordnen. Überregional sind die Angebote des Statistischen Bundesamts (destatis.de) sowie der KMK (kmk.org/Statistik), die auf den Ebenen des Bundes und der Länder berichten, maßgeblich. Die umfangreichsten Publikationen des Statistischen Bundesamtes im Bereich Schule sind die Reihen der Fachserie 11 (Reihe 1 für Allgemeinbildende Schule, Reihe 1.1 für Private Schulen, Reihe 2 für Berufliche Schulen). Einige differenzierte Grunddaten auf Bundesländerebene sind zudem über die GENESIS-Online Datenbank interaktiv abrufbar. Vonseiten der KMK werden mehrere Periodika veröffentlicht, neben dem umfangreichsten Zahlenwerk „Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen“, das für einen Zeitraum von zehn Jahren jährlich aktualisierte Informationen auf personaler (Schülerinnen und Schüler, Abgänger, Lehrkräfte) und institutioneller Ebene (Schulen, Klassen, Unterrichtsstunden) enthält, auch spezielle Veröffentlichungen zum Ganztagsschulwesen und der sonderpädagogischen Förderung an Schulen. Von beiden Institutionen werden auf Bundesebene neben den Berichten im PDF-Format alle Datentabellen als Excel-Dateien mit Länderdaten bereitgestellt, was die direkte Weiterverarbeitung ermöglicht. Gegenüber dem Datenangebot des Statistischen Bundesamts enthalten die Schulstatistiken der KMK mehr genuin bildungsplanungsrelevante Informationen zur Lehrkräfte- und Unterrichtsversorgung. Die Angaben in den beiderseits berichteten Datensegmenten unterscheiden sich bisweilen, was auf divergierende Spezifikationen in den Definitionen zurückzuführen ist (Böttcher und Kühne 2017). Im Zuge der in den vergangenen Jahren vorangetriebenen Etablierung eines datenbasierten kommunalen Bildungsmonitorings (Döbert und Weishaupt 2015) wurde auch das Angebot vergleichbarer Bildungs- und Schulstatistiken in kleinräumigerer Gliederung ausgeweitet. Diese Entwicklung findet ihren Ausdruck in der von den statistischen Ämtern des Bundes und der Länder kooperativ koordinierten Kommunalen Bildungsdatenbank (www.bildungsmonitoring. de). Aus ihr lassen sich für die einzelnen Bundesländer für unterschiedliche Erhebungszeitpunkte Datentabellen zu Rahmenbedingungen und diversen Bildungsbereichen (Frühkindliche Bildung; Allgemeinbildende Schulen, Berufliche Bildung, Hochschulen) als Excel-Dateien generieren, die Merkmale auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte abbilden. Zu beachten ist, dass hier neben Basisdaten (in Form absoluter Häufigkeiten) bereits komplexere Kennziffern wie Übergangs- und Abschlussquoten angeboten werden. Je nach Kennziffer

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­ erden verschiedene institutionenbezogene und personale Differenzierungen vorw genommen. Zudem halten die Statistischen Ämter der Länder noch eigene Datenangebote vor, dann entsprechend der landeseigenen Spezifikationen, die den schulgesetzlichen Grundlagen folgen (z. B. bezogen auf Schularten und Übergangsregelungen). Eine Vergleichbarkeit zwischen landesinternen Teilräumen ist somit gewährleistet. Manche Länder, wie etwa Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg, bieten Landesdatenbanken an, mit denen bis hinunter auf die Ebene von Gemeinden regionalstatistische Datentabellen verfügbar sind. Sofern nicht standardmäßig veröffentlichte Merkmale und Merkmalskombinationen benötigt werden, können diese im Rahmen von Sonderauswertungen von den Statistischen Landesämtern, häufig kostenpflichtig, bezogen werden. Dies gilt auch für Datensätze, die Merkmale auf kleinräumigen Ebenen abbilden, ebenso für die für Forschungszwecke grundsätzlich zugänglichen Schülerindividualdaten, die von den Nutzern zumeist in Forschungsdatenzentren bei den Statistischen Landesämtern ausgewertet werden, sofern die Länder über eine Schülerindividualstatistik verfügen.

3.2 Ausgewählte Anwendungsfelder und Möglichkeiten der Datenanalyse mit amtlichen Schuldaten Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind entlang einem Teilsystem/Funktions-­ Schema folgende Anwendungsfelder für schulstatistische Analysen erkennbar: • Politik: Empirische Unterstützung parlamentarischer Debatten und politischer Aufgabenwahrnehmung • (kommunale) Administration: Bestandsaufnahmen und Prognosen im Kontext von Bildungsplanung/Schulentwicklungsplanung • Wissenschaft: Grundlage für empirische Überprüfungen von Annahmen über Wirkungszusammenhänge • Bildungsmonitoring/-berichterstattung: Basis für die Konstruktion steuerungsrelevanter Indikatoren zur dauerhaften Beobachtung und Analyse des Schulwesens. Losgelöst vom jeweiligen Verwendungszusammenhang eignen sich schulstatistische Daten für eine Vielzahl von Transformationsverfahren, überwiegend aus dem Bereich der deskriptiven Statistik. Ganz basal lassen sich aus absoluten

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Häufigkeiten Merkmalsverteilungen tabellarisch oder grafisch veranschaulichen. Oftmals werden absolute Werte in komplexere Kenngrößen transformiert, z. B. in relative Häufigkeiten, Mittelwerte und Zuwachsraten. Auch Dispersionsmaße wie die Varianz und die Standardabweichung lassen sich berechnen. Zudem können mit Korrelationsberechnungen, die auf unterschiedlichen Maßstabsebenen berechnet werden können (Einzelschule, Regionen), und mit Assoziationsmaßen (z. B. Odds Ratio/Chancenverhältnisse, Dissimilaritätsmaße, Relativer-Risiko-Index), die bivariate Merkmalsausprägungen in einer Untersuchungsgruppe voraussetzen (z. B. deutsche/nicht-deutsche Schülerinnen und Schüler) erste Aussagen über Zusammenhänge von unabhängigen (z. B. Ausländerstatus) und abhängigen (z. B. erzielter Schulabschluss) Eigenschaften getroffen werden. Die genannten schulstatistischen Messwerte entfalten ihr analytisches Potenzial vor allem, wenn sie für Regionen- und Zeitreihenvergleiche, die raumbezogene Disparitäten und zeitliche Trends aufzeigen, sowie für die Bildung komplexerer Indikatoren, Indizes oder auch Typologien (z. B. mittels Cluster- und Latenter Klassenanalyse) herangezogenen werden. Im Zuge der Entwicklung von schulbezogenen Sozialindizes werden schulbezogene Daten oftmals mit Daten der Sozial-, Wirtschaftsund Bevölkerungsstatistik kombiniert verarbeitet (Weishaupt 2016). Wie bereits skizziert werden Schuldaten klassischerweise jährlich summarisch bei den Schulen abgefragt, woraus schulübergreifende Datensätze zusammengeführt werden. Auf dieser Grundlage erlauben es die genutzten Messwerte zwar Aussagen über schülerbezogene Merkmale einer Schule zu verschiedenen Zeitpunkten zu treffen, die individuellen und institutionellen Hintergründe des Zustandekommens bestimmter Phänomene, wie das Auftreten von Schulartwechseln oder das Verlassen von Schulen ohne einen (Hauptschul-)Abschluss können so aber lediglich näherungsweise abgeschätzt werden. Im Vergleich dazu besteht der Vorteil von anonymisierten individuumsbezogenen Datensätzen (mit einer Schülerkennung) in erhöhten Disaggregationsoptionen, der Rekonstruierbarkeit typischer Schullaufbahnen sowie der damit verbundenen Verknüpfbarkeit von (personalen und institutionellen) Merkmalen zu mehreren Zeitpunkten zum Zwecke der Einschätzung von (Wirk-)Zusammenhängen. Im Zuge der Verständigung der Länder im Rahmen der KMK auf die Umsetzung eines Kerndatensatzes (KDS), der einen länderübergreifenden Mindestbestand an schulstatistischen Merkmalen gewährleisten soll, sollte eigentlich die methodische Umstellung auf eine flächendeckende Erhebung von schülerbezogenen Einzeldatensätzen erfolgen. Nur wenige Länder haben zusätzlich eine anonymisierte Schülerkennung eingeführt, die die Analyse von Bildungsverläufen über den Bildungsverlauf hinweg ermöglicht. Bis heute lässt sich folglich keine einheitliche Form der Datengewinnung feststellen, wobei die Erfahrungen aus den

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Individualdaten erhebenden Ländern neben den wissenschaftlichen Vorzügen auch politische, administrative und planungsbezogene Nutzenaspekte verdeutlichen (Böttcher und Kühne 2017).

4 Sekundäranalysen mit amtlichen Schulstatistiken in ausgewählten Datenbereichen Nachfolgend sollen die schulstatistischen Auswertungs- und Analysemöglichkeiten in den bereits oben genannten potenziell kinder- und jugendhilferelevanten Datenbereichen exemplarisch vorgestellt werden. Beschrieben werden so die praktischen Verwendungsoptionen von Schulstatistiken sowie die informationsbezogene Bandbreite, die Sekundaranalysen auf dieser Datengrundlage bieten.

4.1 Regionale/räumliche Differenzen der Bildungssituationen Räumlich-regionale Disparitäten hinsichtlich der schulbezogenen Angebotslagen sowie der Bildungsbeteiligung gehören zu den klassischen Untersuchungsthemen der Schul- und Bildungsforschung und werden nunmehr im Kontext eines regionalisierten Bildungsmonitorings mehr oder weniger dauerhaft beobachtet. Regional divergierende Gelegenheitsstrukturen des Schulbesuchs bestehen sowohl zwischen Regionen als auch innerhalb von Städten. Schulische Bildungsangebote und -beteiligungschancen sind dabei häufig sozialräumlich moderiert, was z. B. die Erreichbarkeit von Gymnasien für Jugendliche mit Migrationshintergrund mindert. Wie solche räumlichen Segregationsstrukturen mithilfe amtlicher Schuldaten abgebildet und mit welchen weiteren Datenbeständen diese kombiniert werden können, lässt sich an zwei jüngeren Studien zum Übergang zwischen Grundschule und Schulen der Sekundarstufe I veranschaulichen. Für eine auf die Untersuchungsregion Mannheim/Heidelberg bezogene Analyse nutzt Hauf (2007) amtliche Schuldaten, die einzelschulbezogene Angaben über die zu den Schularten der Sekundarstufe übergegangenen (ehemaligen) Viertklässlerinnen und Viertklässler, deren Grundschulempfehlungen und auch die Elternwünsche enthalten. Eine Informationsanreicherung wurde durch die zusätzliche Verwendung kommunaler Schulberichtsdaten der Schulträger erreicht. Auf dieser Datenbasis konnte Hauf für die Jahre 1980–2002 die Übergangsgeflechte zwischen einzelnen Grund- und weiterführenden Schulen rekonstruieren. Durch die Verarbeitung

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ausgewählter Sozialindikatoren (z. B. Ausländeranteil, Sozialhilfeempfängeranteil) hat er zudem die Untersuchungsräume auf Stadtteilebene sozialräumlich typisiert. Auf dieser Basis wurden stark differierende Übergangsquoten zwischen Grundschulen und Stadtteilen, ein starker Zusammenhang zwischen Sozialtyp der Stadtteile und den Bildungsaspirationen der dort lebenden Familien sowie eine erstaunlich persistente sozial disparate „Versäulung“ von Grundschulen mit bestimmten weiterführenden Schulen nachgewiesen. In ähnlicher Weise untersucht Terpoorten (2014) in einer umfangreichen Studie Segregationsstrukturen am Übergang zur Sekundarstufe I im Ruhrgebiet. Mit schulstatistischen Einzelschuldaten analysiert er Zusammenhänge zwischen sozialräumlichen Strukturen in den Städten und der Bildungsbeteiligung sowie den Einfluss der Schulangebote auf das Schulwahlverhalten. Zum Einsatz gelangten dabei verschiedene, aber aufeinander bezogene Auswertungsverfahren, an denen sich das variantenreiche analytische Potenzial schulstatistischer Daten offenbart. Für die Schuljahre 2003/2004 bis 2008/2009 lagen für jede Grundschule des untersuchten Gebiets Stamminformationen zur Schule (z. B. Schulart, Ganztagsschulangebot, Adresse) sowie Angaben zum schulartspezifischen Verbleib der auf eine weiterführende Schule übergegangenen Schülerinnen und Schüler vor. Auf dieser Datenbasis konnten Vernetzungsstrukturen zwischen Grund- und Sekundarstufenschulen nachgezeichnet sowie für jede Grundschule schulartbezogene Übergangsquoten errechnet werden. Ausgehend von der Deskription kleinräumiger Übergangsquoten sowie kartografischer Visualisierungen berechnet Terpoorten mit den auf Stadtteilebene aggregierten Daten Segregationsindizes, um die ungleiche Verteilungen von Übergängen zum Gymnasium in den Stadtgebieten des Ruhrgebiets sowie im Zeitvergleich zu beschreiben. Zudem korreliert er ebenfalls auf Stadtteilebene sozialräumliche Kontextinformationen in Form statistisch extrahierter Belastungsindizes mit den Übergangsquoten und konnte disparate Zusammenhänge von Sozialstruktur und Bildungsverhalten zwischen den Ruhrgebietsstädten ermitteln. Zudem wurden mit Distanzanalysen, die aufgrund einer Georeferenzierung der Schulinformationen möglich sind, wohnortbezogene Erreichbarkeiten der Schularten des Sekundarbereichs nachvollzogen. Terpoorten repliziert so den bekannten Befund, dass die räumliche Nähe zum Wohnort (bzw. der Grundschulstandort als aussagekräftiger Proxy) die Wahl der weiterführenden Schule bestimmt, was bei einer Konzentration von Förder- und Hauptschulen in einem Teil des Stadtgebiets durchaus problematische, weil leistungsfremde Aspekte begünstigende Folgen nach sich ziehen kann. Die bildungsplanerische Frage der Schaffung gerechter Voraussetzungen für die schülerseitige Regionalisierung des Schulwesens (Berkemeyer et al. 2016) wird hier also durch schulstatistische Analysen direkt angesprochen.

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4.2 Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Während in den Erhebungsprogrammen von Schulleistungsstudien wie PISA die Erhebung migrationsbezogener Merkmale von Schülerinnen und Schüler zum Standard gehört, ist das in der schulstatistischen Erfassung nicht der Fall. Bundeseinheitlich wird lediglich die Staatsangehörigkeit erfasst, wodurch Aussagen über bundesländerspezifische Bildungsbeteiligungslagen unter Berücksichtigung weiterer Migrationsmerkmale der Eltern- oder Großelterngeneration auf Grundlage von KMK- oder Destatis-Datensätzen nicht möglich sind (Kemper 2017). Problematisch am Merkmal der Staatsangehörigkeit ist die geringe Informationsreichweite, da zum einen für die Gruppe der Nicht-Deutschen (ohne deutschen Pass) keine Angaben über die Praktiken im familiären Umfeld ­vorliegen, zum anderen die Gruppe der (pass)deutschen Schülerinnen und Schüler darüber hinaus als homogene Einheit dargestellt wird, ohne allerdings auf schülerseitige bzw. familiale Zuwanderungserfahrungen sowie sprachliche Kommunikationsformen Rücksicht zu nehmen. Allerdings sind für die einzelnen Erhebungsprogramme der Länder verschiedene Entwicklungslinien in Hinblick auf eine aussagekräftigere Operationalisierung des Migrationshintergrundes festzustellen, wobei zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede bestehen (umfassende Informationen liefert Kemper 2017). Hinzu kommt eine gravierende Differenz zur Kinder- und Jugendhilfestatistik, die die ausländische Herkunft eines Elternteils als Migrationsmerkmal erfasst, während die Schulstatistik (mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen) darauf verzichtet. Dadurch ist der schulstatistisch erfasste Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund deutlich niedriger als in der Kinder- und Jugendhilfe- bzw. auch in der Bevölkerungsstatistik. Vergleichbar ist aber das Merkmal der überwiegend in der Familie gesprochenen Sprache. Für Analysen zu den Verteilungen von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, denen anschließend auch problembezogene Interventionsmaßnahmen folgen sollen, sind diese unterschiedlichen Definitionen sehr hinderlich. Das Potenzial eines individualstatistischen Erhebungsprogramms mit mehreren Informationen zur Ermittlung des Migrationshintergrunds von Schülerinnen und Schülern hat Kemper (2015) differenziert und problembezogen aufgezeigt. Genutzt werden statistische Individualdatensätze des Landes Rheinland-Pfalz, wobei die Original-Datensätze nur in geschützten Räumen eines Forschungsdatenzentrums ausgewertet werden konnten, da die Analysen eine disaggregierte Bereitstellung der zuvor spezifizierten Informationen für die Grundgesamtheit

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der Schülerinnen und Schüler erfordern. Solch detaillierte Untersuchungen gehen somit mit höheren organisatorischen, zeitlichen und auch finanziellen Kosten einher. Zudem bestehen datenschutzrechtliche Restriktionen, wenn Fallzahlen zu gering sind und die generierten Datenoutputs nicht freigegeben werden. Kemper konnte einen erweiterten Migrationshintergrund, basierend auf kombinierten Betrachtungen der Merkmale Geburtsland, Zuzugsalter, Staatsangehörigkeit und auch Familiensprache, abbilden. Seine Analysen zeigen etwa, dass die Gymnasialbesuchsquote mit ansteigendem Zuzugsalter von Schülerinnen und Schülern der ersten Generation deutlich abnimmt. Auch unterscheidet sich die schulartspezifische Bildungsbeteiligung je nach Geburtsland beträchtlich, auffällig sind hohe Förderschulbesuchs- und niedrige Gymnasialbesuchsquoten von in Serbien, der Türkei und Albanien Geborenen. In Bezug auf die Art des Schulabschlusses wird deutlich, dass Schülerinnen und Schüler mit und ohne Hauptschulabschluss unter den Absolventen mit Migrationshintergrund überrepräsentiert sind. Selbst innerhalb der gleichen Schularten ist ihr Risiko, z. B. die Förderschule ohne Hauptschulabschluss zu verlassen, höher. Kemper nutzt für die Ausweisung dieser Verteilungen und Zusammenhänge neben einfachen Quotenvergleichen auch wahrscheinlichkeitsbezogene Maßzahlen wie den Relativen-Risiko-Index. Schulstatistische Daten ermöglichen somit prinzipiell differenzierte Beschreibungen der Situation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im Hinblick auf Bildungsbeteiligung und Schulerfolg, wobei das gruppierende Unterscheidungsspektrum von der Art der Erhebung (Aggregat- oder Individualdaten) sowie den zugrunde liegenden Migrationsmerkmalen abhängen. Hier weisen die Erhebungsprogramme und Datenbestände der Länder vielfach noch Nachholbedarf ab. Die von Kemper aufgezeigten Beispiele zeigen, wie schrittweise, unter Verwendung diverser Kennzahlen, durch Anreichung mit weiteren Merkmalen (wie z. B. dem Geschlecht) sowie durch ebenenbezogene Differenzierungen, eine interventionsaffine Problemannäherung auf Basis schulstatistischer (Individual-)Daten aussehen kann. In jedem Fall bedarf es theoretischer Reflexion der gefundenen Ergebnisse, um deren Evidenz zu prüfen und der Gefahr Vorschub zu leisten, die Migrationsmerkmale allein als problematische Ursachen für z. B. Schulbildungsmisserfolg anzusehen, ohne ihre Interaktion mit den Strukturmerkmalen des Schulsystems (seiner Regionen, Einzelschul- und Klassenmerkmalen) zu beleuchten. Auffällige Konzentrationen von Migrationsmerkmalen in Einzelschulen bei gleichzeitiger Exklusion dieser Herkunftsaspekte in anderen Schulen (Weishaupt 2017a) können Folgen institutioneller Diskriminierung sein, was wiederum im jeweiligen Gebietskontext

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dialogisch zu ergründen ist, um schul- und sozialpädagogische sowie steuerungsbezogene Maßnahmen konzipieren zu können. In diesem Kontext ist auch die in einzelnen Ländern (z. B. in Brandenburg) bestehende Option zu betrachten, dem Migrationshintergrund mit stärker ereignisbezogenen Aspekten wie Flucht und Asyl einen tieferen Problembezug in der schulstatistischen Darstellung zu geben (Kemper 2016).

4.3 Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen Die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2009) durch Deutschland ist einer der tief greifendsten und folgenreichsten (systemexternen) Modernisierungsimpulse, der jemals auf das Schulsystem eingewirkt hat, die aber in den einzelnen Bundesländern bisher divergierend verarbeitet wurde (Berkemeyer et al. 2017). Die Beobachtbarkeit der Integrationssituation von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung, die in den Selbstbeschreibungskategorien des Systems entsprechend der sonderpädagogischen Förderbedarfe klassifiziert werden, hat allerdings mit den Entwicklungen der letzten Jahre nicht schrittgehalten. In der Bildungsberichterstattung ist die schulstatistische Darstellung der schulischen Integrations- und Exklusionssituation nach wie vor weitgehend auf Verwendung dreier statistischer Maßzahlen konzentriert: Klassifikationsbzw. Förderquote (Anteil der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allen Schülerinnen und Schülern), Inklusions- bzw. Integrationsanteil (Anteil der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem an allen Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf) und Segregationsquote (Anteil der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen an allen Schülerinnen und Schülern) (Brüggemann und Tegge 2016). Maße dieser Art sind zwar wichtig für eine grundsätzliche Klärung quantitativer Verteilungen auf die schulischen Förderorte sowie die Umfänge sonderpädagogischer Förderbedarfsdiagnosen und gewinnen ihre Bedeutung insbesondere in makrostrukturellen Langzeitbeobachtungen, weisen allerdings gravierende Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft auf. Zwischen den einzelnen Schulsystemen, sowohl international gesehen als auch innerhalb Deutschlands, bestehen gravierende Unterschiede bezüglich der klassifizierenden Diagnostik von Förderbedarfen sowie der Lernortzuweisen (Biermann und Powell 2014), die nach einer Vereinheitlichung der schulstatistischen Grunddaten verlangen, insbesondere weil die Unterscheidungen nach Förderstatus

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und Schulort zu grob sind und daher keine evidenten Anhaltspunkte für organisatorische und pädagogische Interventionen bieten. Eine Typisierung nach Inklusionsorientierung der Förderung wie für Kindertagesstätten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 247) existiert abgewandelt nicht für den Schulbereich. Einen guten Überblick zur allgemeinen Datenlage und den Datenlücken aus Sicht des Statistischen Bundesamtes bietet Malecki (2014). Der Stand öffentlich zugänglichen statistischen Datenmaterials zur Situation sonderpädagogischer Förderung im Schulsystem ist im Wesentlichen in der KMK-Datensammlungen „Sonderpädagogische Förderung an Schulen“ dokumentiert. Dargestellt werden die Anzahlen von (deutschen und ausländischen) Förderschülern in neun unterschiedlichen Förderschwerpunkten (z. B. Lernen, Geistige Entwicklung, Emotionale und soziale Entwicklung, Sehen, Kranke). Damit werden zwar vordringliche pädagogische Bedarfslagen abgebildet, allerdings wird jeder Schüler „statistisch nur einmalig in derjenigen Kategorie erfasst, die den größten zeitlichen Umfang an Förderung ausmacht.“ (Moser und Dietze 2015). So können zwar die genannten Kennziffern (z. B. Inklusionsanteile für die Bereiche Sehen oder Lernen) differenziert auf die Förderschwerpunkte angewendet werden, kumulierte Förderbedarfe, die auch angesichts von diagnostischen Definitionsspielräumen durchaus vorkommen, lassen sich so nicht beschreiben. Auch bleiben die konkreten Unterrichtsbedingungen an den Förderschulen intransparent (Weishaupt 2017c). Eine umfangreiche Dokumentenanalyse schulrechtlicher Bestimmungen von Blanck (2015) verschafft einen Eindruck von der Bandbreite der in Deutschland realisierten Integrationsformen von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarfen in die Schule. Beispielsweise kann zielgleich oder –different unterrichtet werden, können separate Sonderklassen an allgemeinen Schulen eingerichtet werden, kann sich die Schulart sowie die Anzahl der integrativ beschulten Förderschüler unterscheiden und werden in unterschiedlichen Ausmaßen Förderressourcen an die allgemeinen Schulen verlagert. Zudem wäre anzugeben, ob Schulen Barrierefreiheit gewährleisten können und ob bei Beeinträchtigungen ein Nachteilsausgleich gewährt wird. Schulstatistisch kann diese Mannigfaltigkeit gegenwärtig nicht beobachtet werden, was aber nötig wäre, um die pädagogisch-unterrichtliche Situation in den Schulen adäquat zu beschreiben und eventuelle Unterstützungsbedarfe abschätzen und beziffern zu können. Bundeseinheitlich kann auf Basis der Summendatensätze zwar die Schulabschlussart der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen angegeben werden, aber bislang kann keine differenzielle Aussage für an allgemeinen Schulen integrativ unterrichteten Förderschüler getroffen werden, „da der sonderpädagogische

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­ örderschwerpunkt nicht (für alle Schüler_innen) als individuelles Merkmal mit F dem erreichten Abschluss verknüpft werden kann.“ (Böttcher und Kühne 2017, S. 30) Wiederum kann anhand der vergleichsweise fortschrittlichen Dateninfrastruktur von Rheinland-Pfalz das dahin gehende Potenzial von Individualdatensätzen skizziert werden: So kann Kühne (2015) für Rheinland-Pfalz zeigen, dass Integrationsschüler im Förderschwerpunkt Lernen deutlich häufiger mindestens einen Hauptschulabschluss erreichen als Förderschulschüler des gleichen Schwerpunkts. Zudem können die weiteren Bildungsverläufe der „abschlusslosen“ Förderschüler (ihre förderschwerpunktbezogenen Abschlüsse werden als solche statistisch erfasst) nachgezeichnet werden, etwa um zu erkennen, ob noch ein Hauptschulabschluss nachgeholt wird. Und Kemper (2013) zeigt in Kombination mit Migrationsmerkmalen, dass Migranten häufiger ein Förderbedarf diagnostiziert wird, und sie an integrativen allgemeinen Schulen ebenfalls öfter mindestens einen Hauptschulabschluss aufweisen. Für ursächliche Analysen bedarf es allerdings tieferer Angaben über den biografischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler, weitere Informationen über ihre pädagogischen Bedarfe sowie über die schulorganisationsbezogenen Ressourcen und Maßnahmen der Förderung.

4.4 Ganztagsangebote und ganztätige Betreuung Der Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten war ein zentraler Punkt in den im Anschluss an die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie formulierten KMK-Handlungsfeldern. Die Erwartungen an die Ganztagsschule sind vielfältig, beziehen sich im schulpädagogischen Diskurs vor allem auf (re-) rhythmisierte unterrichtsnahe Lernzeiten und benachteiligungsausgleichende Fördermöglichkeiten sowie im sozialpädagogischen Kontext eher auf die Integration unterschiedlicher Bildungsmodalitäten und Betreuungsmodelle zum Zweck einer institutionellen Verschränkung diverser Bildungsinstanzen. Aus familienpolitischer Sicht geht es demgegenüber eher um die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Berufstätigkeit, insbesondere im Grundschulalter. Die leitende Definition der Kultusministerkonferenz von Ganztagsschulen unterscheidet nicht zwischen ganztägiger Betreuung und Beschulung und fasst eine Schule als Ganztagsschule, wenn. 1. „an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für Schülerinnen und Schüler bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst;

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2. an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagsessen bereitgestellt wird; 3. die Ganztagsangebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden sowie in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen.“ (KMK 2018, S. 4–5)

Diese Mindestdefinition wird noch mal nach den Gesichtspunkten des zeitlichen Umfangs sowie des Verbindlichkeitsgrads differenziert. Es werden die drei Ganztagsschulformen „voll gebunden“ (Verpflichtung für alle Schülerinnen und Schüler einer Schule zur Teilnahme an mindestens drei Tagen und täglich sieben Zeitstunden), „teilweise gebunden“ (einzelne Schüler, Klassen oder Klassenstufen einer Schule verpflichten sich zur Teilnahme im genannten Umfang) und „offen“ (Schülerinnen und Schüler können das Ganztagsangebot wahrnehmen, die Schule ermöglicht einen Aufenthalt an mindestens drei Wochentagen im Umfang von mindestens sieben Zeitstunden) unterschieden. Entsprechend dieser begrifflichen Grundlagen lassen sich auf Bundesebene mithilfe der KMK-Statistiken verschiedene quantitative Verteilungen von Schulorganisation und schülerbezogenen Beteiligungen auf die Modelle des schulischen Ganztags berechnen. Verglichen werden können die Anteile von Schulen in Ganztagsform sowie der Beteiligung von Schülerinnen und Schüler in den Schulstufen und Schularten nach Organisationsmodellen. Die Auswertungen der KMK-Statistiken zeigen, dass der Ganztagsausbau in den Jahren nach PISA I deutlich voranschreitet, allerdings (bis auf an Integrierten Gesamtschulen und Förderschulen) vor allem die offene Ganztagsschule angeboten und genutzt wird und erhebliche Länderunterschiede in dieser Entwicklungsperiode bestehen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016; Berkemeyer et al. 2017). Die einzige Bezugsquelle für bundes- und länderbezogene Auswertungen ist die KMK-Datensammlung „Allgemeinbilde Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik“, die online abrufbare Informationen nach der KMK-Definition seit dem Jahr 2002 bereithält. Weitere frei zugängliche und oberhalb der Länderebene koordinierte Datenangebote der amtlichen Schulstatistik zum schulischen Ganztag liegen nicht vor. Auch die kommunale Bildungsdatenbank, die eine wichtige Datenquelle für das kommunale Bildungsmonitoring darstellt, führt keine Ganztagsmerkmale. Somit bleiben für den Zugang zu kleinräumigen Informationen die Datenangebote der statistischen Landesämter, die aber eher selten eine webbasierte Abrufbarkeit von Tabellen ermöglichen. Zunehmend enthalten die Schulverzeichnisse der Länder eine Information zum Ganztagsangebot. Generell zeigt sich eine gewisse Zurückhaltung

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der statistischen Ämter hinsichtlich frei zugänglicher Informationen über Ausbaustand und Bildungsbeteiligung an Ganztagsschulen. Dies kann auch in der Schwierigkeit begründet liegen, die differenzierten Ganztagsmodelle abseits der KMK-Definition nach einem einheitlichen Verständnis statistisch zu erfassen. Das mag auch mit den vielfältigen Ganztagsschuldefinitionen der Bundesländer liegen, deren schulrechtlichen Konzipierungen des schulischen Ganztags in den meisten Fällen weit über die eher kriterienarme KMK-Definition hinausgehen (z. B. Kooperation mit außerschulischen Partnern; rhythmisierte Tagesstruktur) und sich im ländervergleich sehr heterogen darstellen. Ein zentrales Problem besteht in der fehlenden Abstimmung zwischen der Ganztagbetreuungsdefinition der Kinder- und Jugendhilfestatistik, die von einer Betreuungszeit von wöchentlich wenigstens 35 h während des gesamten Jahres ausgeht und der Ganztagsschuldefinition der Kultusministerkonferenz, die vorrangig die Öffnungszeit der Schule und nicht die Betreuungsdauer der Schülerinnen und Schüler definiert und sich nur auf die neun Monate außerhalb der Ferienzeit bezieht. Da die Träger ganztägiger Angebote an Grundschulen als Jugendhilfeeinrichtung (Kinderhort) geführt werden können (Weishaupt 2017b), bestehen bei der statistischen Abschätzung von Betreuungsquoten Doppelzählungen, auf die im Rahmen des Bildungsberichts für Deutschland hingewiesen wird (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 264). Zudem sinken die Ganztagsbetreuungsquoten, wenn die strengere Definition der Kinder- und Jugendhilfestatistik zu den Kindern in Tageseinrichtungen zur Berechnung herangezogen wird. Somit überschätzen schulstatistische Daten häufig die tatsächliche ganztätige Betreuungssituation an Schulen, ganz zu schweigen von der Frage nach der tatsächlichen durchgängigen und systematischen pädagogischen Förderung. Insbesondere bleibt die Betreuungssituation während der Ferienzeit in den Ganztagsschulstatistiken unberücksichtigt. In jedem Fall sollten die in den statistischen Erhebungsprogrammen definierten Merkmale gründlich geprüft werden, um die Ganztagsschulsituation mithilfe der statistischen Daten einzuschätzen.

4.5 Übergänge und Schulabschlüsse Die Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen sowie die Zertifikatsvergabe gehören zu den klassischen Beobachtungsbereichen im Rahmen von Untersuchungen zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit von Schulsystemen (Berkemeyer et al. 2017), da an ihnen die (soziale) Selektivität bemessen werden kann. Aufgrund der (länderspezifischen) differenzierten institutionellen Struktur bieten sich vielfältige Untersuchungsmöglichkeiten der Verteilungsströme

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z­ wischen und innerhalb der verschiedenen Bildungsstufen sowie der Verteilungen von Abschlüssen. Relativ leicht sind deskriptive Übergangsquoten zwischen Schul- und Klassenstufen auf Ebene der Länder und auch Regionen (Kreise und kreisfreie Städte) mithilfe des öffentlich zugänglichen Datenmaterials der schulstatistischen Stellen zu berechnen. Methodisch gesehen ähneln sich die Berechnungsformeln für Übergänge (zwischen Schul- und Bildungsstufen) und Schulartwechsel (zwischen zwei Schuljahren und Schularten) dahin gehend, dass die Zählergröße (z. B. Gymnasiasten der Eingangsjahrgangsstufe Sek I) immer in das Verhältnis zu einem Nenner gesetzt werden, der sich auf eine Bestandsgröße des Vorjahres bezieht. Damit bedarf es zumeist zweier Datensätze, die aufeinander bezogen werden. Allerdings ist bei kleinräumigen Analysen zu beachten, dass aufgrund verschiedener geografischer Lagen von z. B. Grund- und weiterführenden Schulen Verzerrungen auftreten können, da die Schülerinnen und Schüler zwischen den Jahren Schulen in verschiedenen Gebietskörperschaften besuchen (können). Die Bezugsgrößen sind somit ggf. nicht vollständig aufeinander beziehbar. Gleiches gilt für Abschlussquoten, für die Schuldaten auf Bevölkerungsdaten bezogen werden und somit ebenso Pendlereffekten unterliegen (Berkemeyer et al. 2014). Die verschiedenen statistischen Berichte sowie das dynamische Datenangebot der kommunalen Bildungsdatenbank veröffentlichen bereits berechnete Quoten, z. B. zum Übergang zur weiterführenden Schule, zum Übergang zur Sekundarstufe II oder auch zu Schulartwechseln, etwa zwischen Förderschulen und Schularten des allgemeinen Schulwesens. In den meisten Fällen sind die Berechnungsformeln angegeben. Diese Standardverfahren zur Darstellungen von Verteilungen an Übergangsschwellen können in Abhängigkeit vom verfügbaren statistischen Datenmaterial angereichert werden. Beispielgebend sind die umfassenden ländervergleichenden Analysen zum Übergang in die Sekundarstufe von Dietze (2011). Er konnte, je nach Verfügbarkeit, neben den Daten zu den Schulempfehlungen und vollzogenen Übergängen auch Angaben zur Akzeptanz der Schulempfehlung, den Ergebnissen von Aufnahmeprüfungen (in Ländern mit bindenden Schulempfehlungen) sowie dem Schulerfolg am Ende der Probezeit einbeziehen. Durch den Vergleich von Daten zu vollzogenen Übergängen und seitens der Grundschule ausgesprochenen Übergangsempfehlungen lassen sich Schulen und Regionen ermitteln, die hohe Anteile an Schülerinnen und Schülern aufweisen, denen keine Empfehlung für die jeweilige Schulart des Sekundarschulwesens ausgesprochen wurde. Eine solche Deskription könnte Ausgangspunkt sein für ursächliche Analysen, die dann z. B. regionale Unterschiede der Überweisungspraxis, die (mitunter ungleichmäßige) Verteilung von Schulangeboten und die Beschaffenheit der Lehrerurteile berücksichtigen sollten.

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Einen Mehrwert für Untersuchungen von Bildungsverläufen haben in jedem Fall schulstatistische Individualdaten. Sie erlauben den Blick in die bisherigen (schulbezogenen) Bildungsbiografien von Schülerinnen und Schülern sowie den analytischen Einbezug individueller, institutioneller und regionaler Bedingungen schulischer Bildungsergebnisse. Durch zeitkonstante Personenkennungen im statistischen Erhebungsprogramm erhöhen sich die Möglichkeiten von Verlaufsanalysen in entscheidender Weise: „Denn über die eindeutige Datensatzkennung einer Person lassen sich nunmehr aktuelle Statusinformationen zu allen vorangegangenen (und nachfolgenden) Ereignissen und Etappen in Beziehung setzen“ (Kühne 2015, S. 332). Am Beispiel hessischer Daten (aus speziellen Datenanforderungen) verdeutlicht Kühne den Erkenntnisgewinn und den Gewinn an Problembewusstsein. So können einerseits Wahrscheinlichkeiten für institutionelle Ursachen für schulischen Misserfolg (kein Hauptschulabschluss) ermittelt werden (z. B. Klassenwiederholung und Schulartwechsel), als auch anderseits genutzte Optionen für nachträgliche Aufwertungen des Abschlussniveaus (z. B. durch den Übergang an eine berufsbildende Schule) beschrieben werden. Detailliert zeichnet Kühne für den Zeitraum von drei Jahren Bildungsverläufe von hessischen Schulabgängern und –abgängerinnen ohne Abschluss nach und zeigt auf, an welchen Stellen im System ein vermehrter Drop-Out zu beobachten ist und welche alternativen Wege z. T. beschritten werden. Gerade im Kontext eines kommunalen Bildungsmonitorings können solche Auswertungen das Problembewusstsein für risikobehaftete Schullaufbahnen schärfen und die Diskussion möglicher Interventionen, auch unter Einbezug der Kinder- und Jugendhilfe, befruchten.

5 Schlussbetrachtung Die Schulstatistik gehört zu den umfangreichsten Datenquellen für nicht-reaktive Forschungen zum Schulwesen sowie für Planungs- und Monitoringaktivitäten. Als staatlich administrierte Datensammlung folgt ihr Erhebungsprogramm den institutionellen Dynamiken des Schulsystems. Wichtige Impulsgeber für die Modernisierung der Erhebungsprogramme sind wissenschaftliche Erkenntnisinteressen sowie das Bildungsmonitoring. Die obigen Darstellungen zeigen für solche Datenbereiche, die potenziell für die Kinder- und Jugendhilfe von Interesse sind, welche analytische Tiefenbeschreibungen unterdessen bestehen (siehe Fickermann und Weishaupt 2019). Abschließend soll auf die Grenzen amtlicher Schulstatistiken hingewiesen werden. Für ForscherInnen werden die schulstatistischen Datenbestände immer

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teilweise unbefriedigend bleiben, können sie ein Problem doch nie umfassend erfassen. Selbst Individualdatensätze mit Personenkennung weisen aus Sicht der angelegten Theorie immer Informationslücken auf, die in den Grenzen der statistischen Erhebungsprogramme begründet liegen. Diese Grenzen sind auch Produkt politischen Wollens und datenschutzrechtlichen Dürfens. Kaum zu erklären ist, wieso sich einige Bundesländer gegen eine Modernisierung ihres schulstatistischen Erhebungsprogramms entsprechend des anderswo realisierten State-of-theArt verschließen. Generell ist der rechtliche Regelungsstand der Schulstatistik unbefriedigend, nicht nur die Datenerhebung, sondern auch die Datenveröffentlichung und -weitergabe an nicht staatliche NutzerInnen betreffend. Hanschmann und Weishaupt (2017) sehen sogar das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit durch einen vielfach ungeklärten Informationszugang verletzt, da keine Pflicht auf Informationszugang besteht und die Zurverfügungstellung der Daten oftmals von personellen und organisatorischen Ressourcen der zuständigen Stellen abhängt. Mit einer administrativen Verhinderung von Auswertungen mittels amtlicher Schulstatistikdaten ist gegenwärtig also stets zu rechnen.

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Die amtliche Schulstatistik als Datenquelle …

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Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus Kirsten Fuchs-Rechlin

1 Grundinformationen Der Mikrozensus ist die Grundlage der amtlichen Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt in Deutschland. Er wird seit 1957, in den neuen Bundesländern seit 1991, jährlich erhoben und umfasst eine Zufallsstichprobe von 1 % der Bevölkerung. Damit nehmen derzeit etwa 370.000 Haushalte mit rund 830.000 Personen an der Mikrozensus-Befragung teil. Der Mikrozensus liefert Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit statistische Informationen zur Bevölkerungsstruktur, zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung, zu den Familien, Lebensgemeinschaften und Haushalten, zur Erwerbstätigkeit und Arbeitssuche, zur Aus- und Weiterbildung, zu den Wohnverhältnissen sowie zur Gesundheit. Im Mikrozensus integriert ist darüber hinaus die Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union. Der Mikrozensus ist als größte Mehrzweckerhebung Deutschlands eine wichtige Datengrundlage für die Sozialberichterstattung der Bundesregierung, etwa für den Reichtums- und Armutsbericht (BMAS 2017), den Migrationsbericht (BAMF 2016) oder die Familienberichte (BMFSFJ 2017), und hat nicht zuletzt Eingang in die nationale und regionale Bildungsberichterstattung gefunden (Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006 ff.; Regionalverband Ruhr 2012).

Prof. Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin, Professorin für Bildung und Erziehung in der Kindheit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. K. Fuchs-Rechlin (*)  Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M.-C. Begemann und K. Birkelbach (Hrsg.), Forschungsdaten für die Kinderund Jugendhilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23143-9_14

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K. Fuchs-Rechlin

Wie für amtliche Statistiken üblich, ist der Mikrozensus im Unterschied zu nicht-amtlichen Statistiken (etwa zu Forschungszwecken erhobenen Daten oder unternehmensorientierten Statistiken) in seiner Erhebung durch Gesetze geregelt. Maßgeblich für den Mikrozensus ist das Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und die Arbeitsmarktbeteiligung sowie die Wohnsituation der Haushalte (Mikrozensusgesetz 2016 – MZG 2016) in Verbindung mit dem Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz – BStatG). Hierdurch ergeben sich eine Reihe von Besonderheiten: So sind im Rahmen amtlicher Statistiken die Befragten i. d. R. zur Auskunft verpflichtet und die Ergebnisse sind öffentlich zugänglich zu machen; zudem sind die Statistiken fachlich zentral aufgebaut und bleiben im Zeitverlauf vergleichsweise stabil (Schilling 2002, S. 15 ff.). Die Erhebung des Mikrozensus erfolgt entweder über persönliche Befragungen durch Interviewerinnen und Interviewer der Statistischen Landesämter oder über schriftliche Befragungen, bei der die Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmer die Möglichkeit haben, den Fragebogen selbst auszufüllen. Bei der Befragung müssen nicht alle Haushaltsmitglieder anwesend sein, vielmehr ist es auch möglich, dass eine erwachsene Person Angaben zu den übrigen Haushaltsmitgliedern macht (sog. Proxy-Interview).

1.1 Erhebungsprogramm Am 1. Januar 2017 ist die Neufassung des Mikrozensusgesetzes vom 7. Dezember 2016 in Kraft getreten und hat damit das Mikrozensusgesetz 2005 abgelöst. Das (neue) Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und die Arbeitsmarktbeteiligung sowie die Wohnsituation der Haushalte (Mikrozensusgesetz – MZG) regelt u. a. Art und Gegenstand der Erhebung (§ 1 MZG). Demnach gliedert sich der Mikrozensus in ein Kernprogramm (§ 6 MZG) sowie drei weitere Erhebungsteile, die sich auf die Arbeitsmarktbeteiligung (§ 7 MZG), das Einkommen und die Lebensbedingungen (§ 8 MZG) sowie auf Informations- und Kommunikationstechnologien (§ 9 MZG) beziehen (vgl. Tab. 1). Neben einem jährlichen Grundprogramm wird das Kernprogramm sowie der Erhebungsteil zur Arbeitsmarktbeteiligung durch ein alle vier Jahre zu erhebendes Zusatzprogramm ergänzt. Seit der ersten Mikrozensuserhebung im Jahr 1957 hat sich das Fragenprogramm ständig weiterentwickelt und ausdifferenziert. Heute enthält der Fragebogen des Mikrozensus 220 Fragen (Anders 2018). Für den Mikrozensus besteht Auskunftspflicht (§ 13 MZG). Ausgenommen von dieser Regelung sind Teile der Zusatzprogramme aus dem Kernprogramm

Behinderung

Lebensunterhalt und Einkommen

Materielle Deprivation

Geleistete Zahlungen

Ausgeübte Tätigkeit

Erwerbstätigkeit ein Jahr vor der Berichtswoche

Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund

Stellung im Betrieb

Einkommen und erhaltene Zahlungen

Krankenversicherungsschutz

Weiterbildung

Zahl der lebenden Kinder

Arbeitsmarktbeteiligung und Kinderbetreuung

Haushaltsveränderung und Lebenssituation

Demografische Angaben

Gesundheitszustand

Schichtarbeit

Jährlich Ab 2020

Arbeitslosigkeit und Arbeitssuche

Haupttätigkeit

Vierjährlich Ab 2017/2019

(Fortsetzung)

Merkmale gem. Verordnung (EG) NR. 808/2004a

Ab 2021

Jährlich

Erhebungsteil: Informations- und Kommunikationstechnologien

DatenübertragungsHaushalt- und Familienzusammen- rate hang

Wohnsituation

Wohnung

Lfd

Jährlich

Vierjährlich

Ab 2018

Jährlich

Lfd

Erhebungsteil: Arbeits- Erhebungsteil: markt-beteiligung Einkommen und Lebens-bedingungen

Kernprogramm

Tab. 1   Erhebungsprogramm des Mikrozensus gem. Mikrozensusgesetz 2016

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus 281

Hilfe durch andere

Arbeitsmarktbeteiligung

Jährlich Ab 2021

aIn der Verordnung (EG) Nr. 808/2004 werden genannt: IKT-Sicherheit, IKT-Kompetenz, Hemmnisse/Auswirkungen der Nutzung Quelle: Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und die Arbeitsmarktbeteiligung sowie die Wohnsituation der Haushalte 2016 (Mikrozensusgesetzt – MZG)

Internetzugang und Internetnutzung

Angestrebter Bildungsabschluss

Pendlereigenschaften Wohnsituation

Ab 2020

Jährlich

Erhebungsteil: Informations- und Kommunikationstechnologien

Bildungsabschlüsse

Rentenversicherung

Ab 2017/2019

Vierjährlich

Jährlich

Vierjährlich

Ab 2018

Jährlich

Lfd

Lfd

Erhebungsteil: Arbeits- Erhebungsteil: markt-beteiligung Einkommen und Lebens-bedingungen

Kernprogramm

Tab. 1   (Fortsetzung)

282 K. Fuchs-Rechlin

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus

283

und dem Erhebungsteil zur Arbeitsmarktbeteiligung (z. B. Angaben zur Anzahl der geborenen Kinder, zur Behinderung, zur Schichtarbeit, zum Gesundheitszustand, zur Kinderbetreuung, zur Informations- und Kommunikationstechnologie) sowie einige Hilfsmerkmale (insbes. Kontaktdaten). Erwartungsgemäß liegen die Fallzahlen bei den Fragen, für die keine Auskunftspflicht besteht, deutlich niedriger. Darüber hinaus variiert je nach Erhebungsteil die Stichprobengröße. Während die Fragen des Kernprogramms an alle Personen gestellt werden, variieren die Auswahlsätze bei den übrigen Erhebungsprogrammen. Sie liegen beim Erhebungsteil zur Arbeitsmarktbeteiligung bei 45 % der nach § 6 MZG zu Befragenden, beim Erhebungsteil zum Einkommen und den Lebensbedingungen bei 12 % und beim Erhebungsteil zu Informations- und Kommunikationstechnologien bei 3,5 % der Gesamtstichprobe.

1.2 Stichprobe Bis zur Erhebung 2015 basierte die Stichprobenziehung des Mikrozensus auf den Ergebnissen der Volkszählung von 1987. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu dieser Auswahlgrundlage wurden jedoch zwei Problemfelder, die eine Aktualisierung der Stichprobenziehung erforderlich machten, offensichtlich: Zum einen ließ sich tendenziell eine Erhöhung des Stichprobenzufallsfehlers der Ergebnisse beobachten, zum anderen wurde die Realisierung der Stichprobe aufgrund von Veränderungen in den Auswahlbezirken (z. B. Straßenumbenennungen, Veränderungen von Hausnummern) zunehmend erschwert (Bihler und Zimmermann 2016). Mit der Erhebung des Zensus 2011 wurde die Ziehung einer neuen Stichprobe auf der Basis einer aktuelleren Auswahlgrundlage möglich. Demnach bilden die im Zensus 2011 erhobenen Anschriften sowie die an diesen Anschriften registrierten Wohnungen und Personen die Grundgesamtheit für die Stichprobenziehung (ebd.). Die Stichprobenziehung erfolgt über eine geschichtete Ziehung, wobei die Schichtung zum einen nach regionalen Einheiten (d. h. Kreise oder Zusammenfassung von Kreisen sowie Städte bzw. Teile von Städten) und zum anderen nach Größenklassen der Anschriften (d. h. Anzahl der Wohnungen je Anschrift) vorgenommen wurde. Im Jahr 2016 setzte sich die Auswahlgesamtheit folglich aus ‚243 Regionen * 4 Größenklassen = 972‘ Schichten zusammen und umfasste insgesamt knapp 19 Mio. Anschriften. Da es sich beim Mikrozensus um eine Klumpenstichprobe (Flächenstichprobe) handelt, müssen die Auswahleinheiten innerhalb der Schichten, gemessen an der Anzahl der Personen oder Wohnungen, möglichst gleich groß sein.

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K. Fuchs-Rechlin

­ eshalb werden aus der Menge der Anschriften sogenannte Auswahlbezirke D mit möglichst gleich vielen Wohneinheiten gebildet. Ziel ist es, Auswahlbezirke zu generieren, die durchschnittlich 9 Wohnungen bzw. 15 Personen umfassen. Mit diesem Vorgehen werden die Anschriften der Auswahlgesamtheit auf rund 4,6 Mio. Auswahlbezirke reduziert. Für die Erhebung wird aus der Gesamtheit der Auswahlbezirke 1 % gezogen. Diese Auswahl erfolgt jedoch nicht als einfache Zufallsauswahl, sondern aus jeder Schicht werden 1 % der Auswahlbezirke gezogen. Die Auswahlbezirke befinden sich für jeweils vier Jahre in der Erhebung, wobei jährlich ein Viertel der Auswahlbezirke aus der vorangegangenen Stichprobe durch neue Auswahlbezirke ersetzt werden. Dieses Rotationsverfahren ermöglicht zudem die Verknüpfung der Querschnittsdaten zu Paneldaten (vgl. Herter-Eschweiler und Schimpl-Neimanns 2018). Da die Mikrozensuserhebung mittlerweile nicht mehr in einer Berichtswoche erfolgt, sondern ‚unterjährig‘ (Afentakis und Bihler 2005), wird die Stichprobe schließlich gleichmäßig auf alle Kalenderwochen eines Erhebungsjahres verteilt. Innerhalb der von den Auswahlbezirken definierten Flächen werden alle Haushalte und Personen befragt. Die Stichprobe wird laufend aktualisiert, indem auf der Basis von Baugenehmigungen neue Anschriften identifiziert und der Grundauswahl hinzugefügt werden.

1.3 Hochrechnung Um Aussagen über die Grundgesamtheit treffen zu können, müssen die Ergebnisse des Mikrozensus hochgerechnet werden. Seit 2005 wird der Mikrozensus unterjährig erhoben, sodass neben den Jahresergebnissen auch Quartalsergebnisse ermittelt werden können. Erforderlich wurde diese Umstellung durch eine EU-Verordnung zur Durchführung der Arbeitskräfteerhebung aus dem Jahr 1998. Eine Ausnahmegenehmigung ermöglichte es, den Mikrozensus noch bis 2004 als jährliche Erhebung mit einer sog. Berichtswoche durchzuführen. Mit der Umstellung auf die Unterjährigkeit wurde zugleich eine Neukonzipierung des Hochrechnungsverfahrens erforderlich (Afentakis und Bihler 2005). Die Hochrechnung erfolgt in zwei Schritten: Im ersten Schritt wird von der Nettostichprobe auf die Bruttostichprobe, im zweiten Schritt von der Bruttostichprobe auf die Grundgesamtheit hochgerechnet. Mit dem ersten Hochrechnungsschritt werden zunächst die Stichprobenausfälle ausgeglichen (Statistisches Bundesamt 2017). Dabei werden auf der Basis von Informationen zu den Haushalten, für die keine Antworten vorliegen, sog. Kompensationsfaktoren berechnet. Bislang finden sich überdurchschnittlich hohe Ausfallquoten bei den

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus

285

­ inpersonenhaushalten und bei den Haushalten mit nicht deutscher Bezugsperson E (Afentakis und Bihler 2005). Der zweite Hochrechnungsschritt erfolgt anhand bestimmter, z. T. vom Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaft vorgegebener Merkmale. So wird bei der Berechnung der Hochrechnungsgewichte die Verteilung der Grundgesamtheit nach Geschlecht, Alter und Region berücksichtigt. Zusätzlich berücksichtigt wird das Merkmal Staatsangehörigkeit, da sich bei der nicht deutschen Bevölkerung ein sehr heterogenes Antwortverhalten zeigt. Auf der Basis dieser Merkmale erfolgt eine Anpassung an Eckwerte aus der laufenden Bevölkerungsfortschreibung und dem Ausländerzentralregister. Die Hochrechnungsfaktoren werden quartalsweise berechnet; das Jahresdurchschnittsgewicht ergibt sich aus dem arithmetischen Mittel der Quartalsfaktoren.

1.4 Konzepte und Definitionen Im Mikrozensus bzw. in den zu Forschungszwecken bereitgestellten Daten des Mikrozensus werden eine Vielzahl amtlicher und sozialwissenschaftlicher Definitionen und Konzepte realisiert. Im Folgenden werden jene Konzepte und Definitionen erläutert, die in den nachfolgenden, exemplarischen Analysen eine Rolle spielen (s. Kap. 2).

1.4.1 Bevölkerungsbegriff Im Mikrozensus werden Personen in Privathaushalten und Personen in Gemeinschaftsunterkünften (z. B. Altenheime) befragt, und zwar sowohl am Haupt- als auch am Nebenwohnsitz. Vor diesem Hintergrund müssen für die Analysen je nach Fragestellung unterschiedliche Bevölkerungsstichproben gewählt werden (Nöthen 2005). Für bestimmte Analysen, z. B. zur Wohnsituation der Haushalte, ist es sinnvoll, Personen mit mehreren Wohnsitzen auch entsprechend mehrfach zu zählen. Dies ist über die Stichprobe der Bevölkerung in Privathaushalten möglich. Hier sind lediglich die Personen in Gemeinschaftsunterkünften ausgeschlossen. Bei ökonomisch orientierten Analysen, etwa zur Einkommenssituation von Haushalten, sollen hingegen Doppelzählungen vermieden werden, sodass die Stichprobe auf die Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung eingegrenzt wird. Da in einem Haushalt mehrere Familien bzw. Lebensformen leben können, ist für familienbezogene Analysen eine weitere Spezifizierung notwendig (traditionelles Familienkonzept oder Lebensformkonzept). Dies geschieht über die Bezugsperson der Familie bzw. Lebensform (Lengerer et al. 2007). Die Bezugsperson

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K. Fuchs-Rechlin

der Lebensgemeinschaft ist bei Ehepaaren der Ehemann, bei unverheiratet zusammenlebenden Paaren die Bezugsperson des Haushalts und bei Alleinerziehenden das entsprechende Elternteil, bei dem das Kind lebt. Personen unter 15 Jahren können nicht als Bezugsperson fungieren.

1.4.2 Familien und Lebensformen Die Beziehung zwischen den Mitgliedern eines Haushalts wird über die sog. Haushaltsbezugsperson bestimmt. Dies ist die erste im Fragebogen eingetragene, erwachsene Person. Für alle anderen Haushaltsmitglieder wird erfragt, in welcher Beziehung sie zur Bezugsperson stehen. Differenziert wird in Ehe- bzw. Lebenspartner/-in der Bezugsperson, Kinder, Verwandte und schließlich weitere Personen des Haushalts. Im Mikrozensus wird zwischen dem traditionellen Familienkonzept und dem Konzept der Lebensformen unterschieden. Beim traditionellen Familienkonzept werden lediglich verheiratete Paare berücksichtigt. Danach zählen nicht nur Ehepaare mit Kindern zu den Familien, sondern ebenso Ehepaare ohne Kinder, wohingegen Personen, die mit Kindern in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft leben, zu den Alleinerziehenden gezählt werden. Das Lebensformkonzept ist dagegen auf die Elternschaft ausgerichtet, als Familie werden intergenerationale Konstellationen bezeichnet. Demzufolge wird das traditionelle Familienkonzept als „ehezentriert“, das Konzept der Lebensformen als „kindzentriert“ beschrieben (Nöthen 2005, S. 33). Das Lebensformkonzept des Mikrozensus kategorisiert Lebensformen anhand der beiden Merkmale Partnerschaft (ja/nein) und Elternschaft (ja/nein). Über die Kombination dieser beiden dichotomen Merkmale lassen sich vier Typen identifizieren: Zu den partnerschaftlichen Lebensformen zählen verheiratete ­ Paare, nicht eheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder. Zu den nicht-partnerschaftlichen Lebensformen werden Alleinerziehende sowie Alleinstehende (inkl. allein Lebende) gezählt. Mit dem Konzept der Lebensformen hat sich das Analysepotenzial des Mikrozensus für die familienbezogene Forschung deutlich erhöht, dennoch unterliegt dieses nach wie vor gewissen Einschränkungen (Lengerer 2007): Aufgrund des Haushaltsbezugs können Partnerschaften ohne gemeinsamen Haushalt nicht in den Blick genommen werden. Ebenfalls durch das ‚Raster‘ fallen Familienkonstellationen, bei denen die Kinder nicht oder nicht mehr im Haushalt der Eltern leben. Schwierig wird dadurch die Identifikation von zeitlebens kinderlosen Personen bzw. Paaren. Dies wird durch das Zusatzprogramm des Mikrozensus „Anzahl geborener Kinder“, welches sich an Frauen im Alter von 15 bis 75 Jahren richtet und alle vier Jahre erhoben wird, ausgeglichen (zuletzt

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus

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2016). Allerdings ist die Beantwortung dieser Fragen im Rahmen des Zusatzprogrammes freiwillig, sodass hier mit nicht unerheblichen Stichprobenausfällen zu rechnen ist.

1.4.3 Erwerbstätigkeit und atypische Erwerbsformen Für Analysen zu Beschäftigungsbedingungen ist das Konzept der Erwerbstätigkeit, das im Mikrozensus Anwendung findet, zentral. Der Mikrozensus orientiert sich am „Labor-Force-Konzept“ der internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Erwerbstätige sind in diesem Konzept alle Personen ab 15 Jahre, die in der Berichtswoche mindestens eine Stunde gegen Entgelt, als Selbstständige oder als mithelfende Familienangehörige, gearbeitet haben. Personen, die in der Berichtswoche nicht gearbeitet haben, gelten als erwerbstätig, wenn die Erwerbsunterbrechung nicht länger als drei Monate dauert oder bei einer längeren Abwesenheit eine Lohnfortzahlung von 50 % und mehr besteht (Crößmann und Eisenmenger 2016; Körner und Marder-Puch 2015). Als Erwerbslose werden Personen ab 15 Jahre definiert, „die im Berichtszeitraum nicht erwerbstätig war(en), aber in den letzten vier Wochen vor der Befragung aktiv nach einer Tätigkeit gesucht (haben) und eine neue Arbeit innerhalb von zwei Wochen aufnehmen (können)“ (Crößmann und Eisenmenger 2016, S. 73). Nichterwerbspersonen sind solche, die weder erwerbstätig noch erwerbslos sind und daher dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen (ebd.). Eine Konkretisierung ist über das Konzept der Kernerwerbstätigen möglich; darunter werden Erwerbstätige im Alter von 15 bis 64 Jahren, die sich nicht in (Aus-)Bildung oder in einem Freiwilligendienst befinden, verstanden. Zur Beschreibung der Veränderung von Erwerbsformen hat das Statistische Bundesamt das Konzept der atypischen Erwerbsformen entwickelt, das sich auch im Datensatz des Mikrozensus findet (Wingerter 2009). In diesem Konzept werden atypische Erwerbsformen in Abgrenzung zu einem Normalbeschäftigungsverhältnis bestimmt. Atypische Erwerbsformen lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie zeitlich befristet sind, in Teilzeit mit max. 20 h pro Woche ausgeübt werden, unter eine geringfügige Beschäftigung im Sinne der sozialgesetzlichen Definition fallen oder in Zeitarbeit ausgeübt werden. Den abhängig Beschäftigten werden die Selbstständigen gegenübergestellt, wobei diese in Selbstständige mit Mitarbeitern und Solo-Selbstständige unterschieden werden. Mit diesem Konzept soll explizit keine Wertung der Beschäftigungsverhältnisse vorgenommen werden. Ziel ist es vielmehr, die „Erwerbsformen nach einem einheitlichen Muster (zu) ordnen“ und „den Bedeutungsverlust klassischer Beschäftigungsverhältnisse (zu) beschreiben“ (Wingerter 2009, S. 1081).

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1.4.4 Berufe und Berufsklassifikationen Im Rahmen von amtlichen Statistiken wird – neben verschiedenen sozialwissenschaftlichen Berufsindikatoren – mit sogenannten Berufsklassifikationen gearbeitet, die in einem hierarchisch gegliederten System Berufsbereiche bis hin zu Einzelberufen immer feiner aufgliedern. Die derzeit gültige „Klassifikation der Berufe 2010“ wurde von der Bundesagentur für Arbeit auf der Grundlage vorliegender berufsfachlicher Informationen sowie mithilfe statistischer Klassifikationsverfahren, die berufliche Tätigkeiten nach Ähnlichkeit sortieren, gebildet (Wiemer et al. 2011). Dabei sind für die Definition von Berufen drei zentrale Merkmale ausschlaggebend (Bundesagentur für Arbeit 2010): Zum ersten wird ein Beruf durch ein Bündel von spezifischen, diesen Beruf charakterisierenden Tätigkeiten konstituiert. Zum zweiten handelt es sich bei dem Begriff des Berufs um ein tätigkeits- und nicht personenbezogenes Konstrukt, d. h. im Mittelpunkt steht nicht die Frage, was eine bestimmte Person kann oder weiß, sondern die Frage, welches Können und Wissen eine bestimmte Tätigkeit typischerweise erfordert. Zum dritten wird der Berufsbegriff durch zwei zentrale Dimensionen, die Berufsfachlichkeit und das Anforderungsniveau, konstituiert. Unter Berufsfachlichkeit wird „ein auf berufliche Inhalte bezogenes Bündel von Fachkompetenzen“ verstanden, wobei Fachkompetenzen spezifische, für die Ausübung eines Berufs erforderliche Kenntnisse und Fertigkeiten umfassen und in Aus- und Weiterbildung erworben werden (Bundesagentur für Arbeit 2010, S. 7). Das Anforderungsniveau bezieht sich auf die Komplexität der auszuübenden Tätigkeit und reicht von Helfer- und Anlerntätigkeiten bis hin zu hochkomplexen Tätigkeiten. Von den Fachkräften unterschieden werden die sog. Aufsichts- und Führungskräfte, und zwar deshalb, weil Leitung bzw. Führung als „spezielle Berufsfachlichkeit“ verstanden wird (Bundesagentur für Arbeit 2010, S. 22). Aufgrund der hohen Zertifikatsorientierung der Berufsausübung in Deutschland sind die Anforderungsniveaus zwar eng mit formalen, beruflichen Bildungsabschlüssen verknüpft, mit diesen jedoch nicht identisch.

1.5 Nutzung des Mikrozensus Ergebnisse des Mikrozensus sind auf der Homepage des Statistischen Bundesamtes (destatis.de) abrufbar. Zum einen finden sich dort die Fachserien zum Mikrozensus, zum anderen sind über die Datenbank genesis-online Tabellen kostenfrei abrufbar, die außerdem, bezogen auf Erhebungsjahre oder regionale Gliederung, individuell angepasst werden können. Außerdem steht für Forschungszwecke eine 75 %-Stichprobe des Mikrozensus, der Mikrozensus

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus

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Scientific-Use-File, zur Verfügung. Dieser Datensatz wird über die Forschungsdatenzentren der Statistischen Landesämter zur Verfügung gestellt. Daneben bieten die Forschungsdatenzentren der Statistischen Landesämter die Möglichkeit, an Gastwissenschaftlerarbeitsplätzen den nur leicht anonymisierten Standardfile des Mikrozensus zu nutzen. Ferner besteht die Möglichkeit, über die Datenfernverarbeitung Auswertungen des Mikrozensus beim Statistischen Bundesamt anzufordern (http://www.forschungsdatenzentrum.de/bestand/mikrozensus/index. asp). Neben den statistischen Ämtern unterhält GESIS (vgl. den Beitrag von Watteler in diesem Band) ein Forschungsdatenzentrum zum Mikrozensus (German Microdata Lab – GML), stellt mit dem Mikrodaten-Informationssystem (Missy) detaillierte Metadaten bereit und unterstützt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei Analysen mit Workshops und Nutzerkonferenzen sowie durch individuelle Beratungsangebote.

2 Exemplarische Analysen zu Beschäftigungsbedingungen in sozialen Berufen In den vergangenen Jahren ist vielfach der Frage nachgegangen worden, inwiefern Beschäftigungsbedingungen in sozialen Berufen zunehmend vom klassischen Normalarbeitsverhältnis abweichen und heterogener werden (u. a. Fuchs-Rechlin und Strunz 2014; Beher und Fuchs-Rechlin 2013; Fuchs-Rechlin 2011). Zugleich war damit die Frage verbunden, inwiefern die Beschäftigungsverhältnisse in sozialen Berufen prekärer werden (Kessl et al. 2014). Ein Vergleich der Beschäftigungsbedingungen von sozialen Berufen mit denen aller Beschäftigten zeigt, dass atypische Beschäftigung ein Kennzeichen sozialer Berufe und somit ein Charakteristikum dieses Teilarbeitsmarktes selbst darstellt (Fuchs-Rechlin 2011, 2018). So sind in sozialen Berufen 27 % atypisch beschäftigt, bei allen Erwerbstätigen liegt dieser Anteil bei lediglich 21 % (Fuchs-Rechlin 2018, S. 704). Damit geht jedoch nicht eine niedrigere Quote bei den Beschäftigten in sozialen Berufen mit einem Normalarbeitsverhältnis einher; stattdessen ist in den sozialen Berufen der Anteil der Selbstständigen – und dies sicherlich erwartungsgemäß – deutlich niedriger als bei allen Erwerbstätigen. Nimmt man die atypische Beschäftigung genauer in den Blick, dann zeigt sich zum einen, dass Beschäftigte in sozialen Berufen fast doppelt so häufig befristet beschäftigt sind wie alle Erwerbstätige (13 % vs. 7 %). Zum anderen sind Beschäftigte in sozialen Berufen häufiger in Teilzeit zu finden als alle Erwerbstätige (17 % vs. 14 %). Bei einer Differenzierung nach Geschlecht zeigt sich, dass in sozialen Berufen Befristung bei Frauen und Männern in nahezu gleichem

290

K. Fuchs-Rechlin

Maße vorkommt, die Teilzeitquote hingegen bei den Frauen – und dies angesichts der nach wie vor vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Familien sicherlich erwartungsgemäß – dreimal so hoch ist wie bei den Männern (19 % vs. 6 %; Fuchs-Rechlin 2018, S. 705). Allerdings weisen Frauen in sozialen Berufen eine höhere Berufsorientierung auf als Frauen anderer Berufsgruppen: Sie sind weniger häufig teilzeitbeschäftigt und vor allem geringfügige Beschäftigung spielt in diesen Berufszweigen kaum eine Rolle. Wobei letzteres vor allem dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass personenbezogene Dienstleistungen ein Mindestmaß an zeitlicher Präsenz und personeller Kontinuität voraussetzen. Erklärungsbedürftig bleiben jedoch die Unterschiede in den Beschäftigungsbedingungen von Männern und Frauen innerhalb des Arbeitsmarktsegmentes der sozialen Berufe. Dies betrifft – sowohl bei den sozialen Berufen als auch bei den anderen Berufsgruppen – insbesondere den Aspekt der Teilzeitbeschäftigung. Der Mikrozensus bietet die Möglichkeit, sich dieser Frage zu nähern, indem man der Frage von ‚unfreiwilliger‘ Teilzeitarbeit nachgeht. Konkret wird im Mikrozensus danach gefragt, inwiefern Teilzeitbeschäftigte reduziert arbeiten, weil sie keine Vollzeitstelle gefunden haben. M. a. W.: Inwiefern ist Teilzeitarbeit dem Arbeitsmarkt geschuldet oder inwiefern ist Teilzeitarbeit bewusst gewählt? Auf Basis der Daten des Mikrozensus zeigt sich, dass von allen Erwerbstätigen 16 % unfreiwillig in Teilzeit arbeiten. In sozialen Berufen liegt dieser Anteil auf einer Höhe mit allen Erwerbstätigen (vgl. Tab. 2). Die Erwerbstätigen in sozialpädagogischen Berufen bewegen sich – mit nur geringfügigen Unterschieden zwischen den einzelnen sozialpädagogischen Berufsgruppen – ebenfalls auf einer Höhe mit den Erwerbstätigen in anderen Berufen. Allerdings arbeiten Männer deutlich häufiger unfreiwillig in Teilzeit als Frauen: Von allen teilzeitbeschäftigten Männern geben 29 % an, keine Vollzeitstelle gefunden zu haben. Bei den Frauen liegt dieser Anteil bei lediglich 13 %. Dieses Gefälle zwischen Männern und Frauen findet sich auch bei den sozialen Berufen wieder (28 % vs. 16 %), wobei hier die Frauen anteilig etwas häufiger unfreiwillig in Teilzeit arbeiten als alle erwerbstätigen Frauen (16 % vs. 13 %). Teilzeitarbeit scheint demzufolge deutlich häufiger bei Frauen als bei Männern das Erwerbsmodell der Wahl zu sein. Auf der Ebene der sozialpädagogischen Berufe zeigen sich erwähnenswerte Befunde für die Männer: So sind insbesondere die Männer in der Kindertagesbetreuung häufiger von unfreiwilliger Teilzeitarbeit betroffen. Ihr Anteil liegt bei 34 % und damit fünf Prozentpunkte über dem Anteil aller erwerbstätigen Männer. Umgekehrt verhält es sich bei den Männern in der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik. Sie sind seltener als alle erwerbstätigen Männer in unfreiwilliger Teilzeitarbeit tätig.

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus

291

Tab. 2   Teilzeitbeschäftigte in unfreiwilliger Teilzeit nach Berufsgruppen und Geschlecht; 2014 (Angaben in 1000 und in %) Berufsgruppen

Frauen

In 1000

In %

Insgesamt

7791 1043

13,4

1366

395

28,9

9157

1438

15,7

Andere Berufe

7267 962

13,2

1324

383

29,0

8591

1345

15,7

Soziale Berufe

524

81

15,5

42

12

27,7

565

93

16,4

329

51

15,5

12

4

33,6

340

55

16,1

Berufe in der 61 HeilerzPflege/SonderPäd

10

15,8

11

3

27,2

72

13

17,5

105 Berufe in der SozArb/ SozPäd

15

14,5

16

3

21,0

121

19

15,4

N=

Männer

Alle Erwerbstätigen

Unfreiw. teil- N= zeitbeschäftigt

Unfreiw. teilzeitbeschäftigt

In 1000 In %

In 1000 In %

N=

Unfreiw. teilzeitbeschäftigt

Darunter: sozialpäd. Berufe Berufe in der Kinderbetreuung

Kernerwerbstätige (ohne mithelfende Familienangehörige), Jahresdurchschnittsgewicht Quelle: Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder; Mikrozensus 2014; eig. Berechnungen

Unfreiwillig in Teilzeit zu arbeiten, scheint jedoch vor allem ein ostdeutsches Phänomen zu sein: in den ostdeutschen Bundesländern arbeiten 37 % der Teilzeitbeschäftigten unfreiwillig reduziert, in den westdeutschen Bundesländern hingegen lediglich 11 % (vgl. Tab. 3). Dabei finden sich kaum Unterschiede zwischen Beschäftigten in sozialen Berufen und allen Erwerbstätigen. Innerhalb der sozialpädagogischen Berufe fallen die Beschäftigten in der Heilerziehungspflege/ Sonderpädagogik auf; ihr Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter liegt in den östlichen Bundesländern noch einmal deutlich über dem aller Beschäftigten in sozialen Berufen (44 % vs. 37 %).

292

K. Fuchs-Rechlin

Tab. 3   Teilzeitbeschäftigte in unfreiwilliger Teilzeit nach Berufsgruppen und Region; 2014 (Angaben in 1000 und in %) Berufsgruppen

West N=

Ost (inkl. Berlin)

Deutschland

Unfreiw. teil- N= zeitbeschäftigt

Unfreiw. teil- N= zeitbeschäftigt

Unfreiw. teilzeitbeschäftigt

In 1000 In %

In 1000 In %

In 1000 In %

Insgesamt

7563 848

11,2

1593

590

37,0 9157 1438

15,7

Andere Berufe

7110 799

11,2

1482

547

36,9 8591 1345

15,7

Soziale Berufe

454

49

10,9

112

43

38,9 565

93

16,4

267

26

9,8

73

29

39,2 340

55

16,1

7

12,0

12

5

43,8 72

13

17,5

12

11,7

20

7

33,5 121

19

15,4

Darunter: sozialpäd. Berufe Berufe in der Kinderbetreuung

59 Berufe in der HeilerzPflege/SonderPäd Berufe in der SozArb/SozPäd

100

Kernerwerbstätige (ohne mithelfende Familienangehörige), Jahresdurchschnittsgewicht Quelle: Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder; Mikrozensus 2014; eig. Berechnungen

Alles in allem arbeiten jedoch nur wenige Teilzeitbeschäftigte unfreiwillig reduziert. Die überwiegende Mehrzahl, nämlich von allen teilzeitbeschäftigten Erwerbstätigen 84 %, tut dies mehr oder weniger freiwillig – zumindest aber nicht aufgrund ungünstiger Arbeitsmarktbedingungen. Unfreiwillige Teilzeitarbeit trifft jedoch verschiedene Teilgruppen in sehr unterschiedlicher Weise: Männer häufiger als Frauen und vor allem Beschäftigte in Ostdeutschland häufiger als Beschäftigte in Westdeutschland. Darüber hinaus deuten die Befunde zu den sozialpädagogischen Berufsgruppen darauf hin, dass sich auf der Ebene der Einzelberufe deutliche Unterschiede zeigen, die auf der Aggregatebene der Berufsbereiche ‚verschwinden‘. Schaut man sich mittels multivariater Analyse die Bedingungsfaktoren für unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung an, dann bestätigen sich die bivariaten Befunde: ein geringeres Risiko im Falle einer Teilzeitbeschäftigung zu den ‚unfreiwillig‘ Teilzeitbeschäftigten zu gehören, haben Frauen (und zwar auch

Sekundäranalysen der amtlichen Statistik – Mikrozensus

293

bei Kontrolle ihrer Familienkonstellation), Personen, die in einer Partnerschaft leben, sowie Personen, die mit Kindern zusammen in einem Haushalt leben (vgl. Tab. 4). Demgegenüber haben ein höheres Risiko zu den unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten zu zählen jüngere Beschäftigte, Beschäftigte in der Kinderbetreuung, Beschäftigte im Sozialwesen sowie Beschäftigte, die in den östlichen Bundesländern (inkl. Berlin) arbeiten. Aufgrund der Ungleichverteilung der Teilzeitbeschäftigung zwischen Männern und Frauen (4 % bei den Männern vs. 25 % bei den Frauen; Fuchs-Rechlin 2018, S. 705) ist jedoch davon auszugehen, dass diese Befunde von der Situation der weiblichen Erwerbstätigen dominiert ist. Daher lohnt eine geschlechtsspezifisch differenzierte Analyse: Vergleicht man das Modell für die Frauen mit dem Modell für die Männer, dann zeigt sich, dass bei den Männern im Unterschied zu den Frauen ein Zusammenhang zwischen familienbezogenen Merkmalen (Partnerin nicht erwerbstätig, Alter des jüngsten Kindes unter sechs Jahre) und unfreiwilliger Teilzeit besteht, und zwar in der Weise, dass die Einbindung in familiäre Bezüge eher dazu führt, dass teilzeitbeschäftigte Männer, dies ‚unfreiwillig‘ tun, im Umkehrschluss also vermutlich eine Vollzeitbeschäftigung präferieren würden. Außerdem bestätigt sich bei einer geschlechtsdifferenzierten Betrachtung, dass eine unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung in einem Beruf in der Kinderbetreuung wahrscheinlicher ist als in anderen Berufsgruppen; und zwar sowohl für Männer als auch für Frauen. Auch zwischen Ost- und Westdeutschland finden sich Unterschiede im Hinblick auf unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung. Diese beziehen sich allerdings ausschließlich auf Arbeitsmarktmerkmale, wie etwa die Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen oder den Wirtschaftszweig. So ist in Ostdeutschland die Wahrscheinlichkeit einer unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigung höher als in Westdeutschland, wenn eine erwerbstätige Person einen Beruf in der Heilerziehungspflege/ Sonderpädagogik oder in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik ausübt. Umgekehrt ist in Westdeutschland die Wahrscheinlichkeit einer unfreiwilligen Teilzeitarbeit in Heimen sowie bei Interessensvertretungen/kirchlichen bzw. religiösen Vereinigungen höher. Alles in allem zeigt sich, dass unfreiwillige Teilzeitarbeit sowohl mit strukturellen Aspekten des Teilarbeitsmarktes der sozialen Berufe als auch mit geschlechtsspezifischen Erwerbsmustern assoziiert ist. So sind Beschäftigte in bestimmten Berufen und Wirtschaftszweigen stärker betroffen als andere; und auch regionale Aspekte des Arbeitsmarktes spielen eine Rolle für das Risiko, in einer unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigung ‚zu landen‘. Personen- oder familienbezogene Merkmale kommen insbesondere bei Männern zum Tragen, und zwar

1,72 1,22 1,34

25–35

35–45

45–55

,86 ,71

Partner/in teilzeitbeschäftigt

Partner/in vollzeitbeschäftigt

*** ***

,57 ,45 1,27

3 und mehr Kinder

Jü. Ki.