Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung [1 ed.] 9783428524297, 9783428124299

Gegenstand der Untersuchung bildet die Frage, ob und inwieweit die in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten bei Sach

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Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung [1 ed.]
 9783428524297, 9783428124299

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 197

Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung

Von

Annika Dießner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANNIKA DIESSNER

Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 197

Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung

Von

Annika Dießner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Werner Beulke, Passau Die Juristische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Wintersemester 2005 / 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-12429-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit, die im Wintersemester 2005/2006 von der juristischen Fakultät der Universität Passau angenommen wurde, spiegelt sämtliche Stadien der Diskussion über den Umfang des Schutzauftrags des Jugendamts wider – angefangen von den Kontroversen in Wissenschaft und Praxis über die Entwicklung von Handlungsempfehlungen bis hin zu den gesetzlichen Neuregelungen. Einerseits hatte ich die einmalige Gelegenheit, die Entstehung der für die Begutachtung der Fahrlässigkeit relevanten „Verkehrs“- und „Sondernormen“ hautnah mitzuerleben, andererseits ergab sich aber auch nach Einreichung der Arbeit am 31. August 2005 ein nicht unerheblicher Änderungsbedarf. Die vorliegende Fassung befindet sich auf dem Stand August 2005, z. T. wurde aber auch Literatur bis August 2006 berücksichtigt. Herzlich danken möchte ich zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Werner Beulke. Er hat nicht nur das Thema der Arbeit angeregt, sondern stand mir während der gesamten Entstehungszeit mit wertvollen Ratschlägen und Anregungen zur Seite. Außerdem bot er mir die Möglichkeit zur Tätigkeit an seinem Lehrstuhl sowohl als studentische Hilfskraft als auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die Jahre bei ihm werde ich immer in bester Erinnerung behalten. Daneben danke ich Herrn Prof. Dr. Bernhard Haffke für die besonders zügige Anfertigung des Zweitgutachtens. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen, Neue Folge“ sowie der Universität Passau für die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Programms zur Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft und Forschung. Des Weiteren möchte ich der Habilitandin Frau Dr. iur. Sabine Swoboda für ihr offenes Ohr und ihre wertvollen Hinweise sowie Herrn Ass. iur. Martin Strunz für die hilfreichen Tipps zum Umgang mit (den Tücken) der Computertechnik danken. Mein ganz besonderer Dank gilt jedoch Alexander. Berlin, im Februar 2008

Annika Dießner

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

A. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

C. Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Teil 1 Rechtsdogmatische Grundlagen

46

A. Falldokumentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition – Dreiklang aus Elternrecht, Kindeswohl und staatlichem Wächteramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

C. Zusammenfassung – verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts . . . . . . . . . . . . . .

91

E. Zusammenfassung – einfachgesetzliche Grundlagen des Kinder- und Jugendhilferechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 F.

Fazit: Das Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Teil 2 Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

156

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . 157 B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416

Teil 3 Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen

427

A. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 B. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

8

Inhaltsübersicht Teil 4 Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

432

A. Strafbarkeitsrisiko der fallverantwortlichen Fachkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 B. Strafbarkeitsrisiko der Leitungsverantwortlichen bei den freien Trägern . . . . . 451

Teil 5 Zusammenfassung und Ergebnisse

455

A. Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 C. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

A. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

C. Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1 Rechtsdogmatische Grundlagen A. Falldokumentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Fall „Laura Jane“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteil des AG Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Urteil des LG Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteil des OLG Oldenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beschluss des LG Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Fall „Jenny“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Beschluss des LG Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Beschluss des OLG Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Urteil des LG Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Fall „Tanja“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidungen der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Fall „Dominic“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Fall „Vanessa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 46 46 47 49 49 49 49 50 50 50 52 52 53 53 53 54 54 54 55 55 56 56 56 60 60

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Inhaltsverzeichnis VI.

Der Fall „Dennis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Neuere Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Reaktionen auf die bislang ergangenen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einzelne Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition – Dreiklang aus Elternrecht, Kindeswohl und staatlichem Wächteramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Elternverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sozialwissenschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Klassische“ Funktionen des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . a) Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Objektive Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Institutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtsdogmatische „Anomalien“ des Elternrechts . . . . . . . . . . . . a) Innen- und Außenverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Herrschaftsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fremdnützigkeit und Pflichtengebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Kindeswohl als ungeschriebener Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dilemma des Begriffs des Kindeswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Staatliches Wächteramt als Korrelat von Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . 1. Herleitung des staatlichen Wächteramts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsfigur der Schutzpflicht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzpflichten im Kontext elterlicher Kindeswohlgefährdung . . . (1) Rechtslage nach dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exkurs: Staatlicher Kinderschutz nach der EMRK . . . . . . . . . . (a) Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Wirkung von Entscheidungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . (3) Exkurs: Schutzpflichten im Rahmen eines Pflegeelternverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Träger des staatlichen Wächteramts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60 62 62 63 63 63 64 65 66 67 68 68 69 69 69 70 71 72 72 72 73 74 75 75 76 77 77 77 78 78 79 79 80 80 81 81 81

Inhaltsverzeichnis

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a) „Der Staat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die sogenannten freien Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Wächteramts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anforderungen an Schutzpflichten allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Primat vorbeugender Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anspruch des Kindes auf staatliches Tätigwerden? . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsätzliche Existenz eines Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzen des Wächteramts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Objektive Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 6 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 82 83 83 84 84 84 85 86 86 87 87 87 87 88 89 89

C. Zusammenfassung – verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts . . . . . . . . . . . . . . I. SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom JWG zum SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur des SGB VIII – vor und nach den aktuellen Neuerungen . . a) „Perspektivenwechsel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) TAG, KICK und KEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konkrete Maßnahmen zum Kinderschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtslage bis zum 30.9.2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vorbemerkung: Informationsgewinnung – Datenschutz . . . (aa) Keine Handlungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Leistungen der Jugendhilfe – Hilfen zur Erziehung, §§ 27 ff. SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) § 27 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Antrag vonnöten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Nicht dem Kindeswohl entsprechende Erziehung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Geeignetheit und Notwendigkeit der Maßnahme (bb) Insbesondere: § 31 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Rechtliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 92 92 93 93 95 96 96 97 97 97 99 99 99 100 100 101 101 102

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Inhaltsverzeichnis (g) Verhältnis bei Delegation der Hilfe an den freien Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Hilfeplanungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Entscheidung über das „Ob“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Entscheidung über das „Wie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Andere Aufgaben der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) „Notstandsberatung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Inobhutnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Anlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern? . . . . (dd) Sonstige Berechtigung zur Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Handeln des Jugendamts als Ortspolizeibehörde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) § 43 SGB VIII a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Allgemeine Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . (ee) Herausnahme – § 43 SGB VIII a. F. . . . . . . . . . . . . . . . (ff) Anrufung des Familiengerichts – § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unbestimmter Rechtsbegriff – Beurteilungsspielraum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Exkurs – Verpflichtung zu einer Strafanzeige? . . . . . (2) Aktuelle Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Konkretisierung des Schutzauftrags – § 8a Abs. 1 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Klarstellungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Handlungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Untersuchungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gebot kollegialen Zusammenwirkens . . . . . . . . . . (g) Kooperation mit den Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Vorläufige Krisenintervention – § 42 SGB VIII . . . . . . . . . (3) Ursprünglich geplante Änderungen durch das KEG . . . . . . . . . (a) § 50a SGB VIII-KEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) § 65 Abs. 1a SGB VIII-KEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Organisation der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freie Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102 102 102 103 104 104 105 105 105 106 108 108 109 109 114 115 116 118 120 121 121 121 121 122 122 123 124 125 126 127 128 128 128 129 129

Inhaltsverzeichnis

II.

(2) Aufgaben der freien Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Andere Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sicherstellung eines adäquaten Kinderschutzes – KICK/KEG (a) KICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) KEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Auswahl- und Kontrollrecht des Jugendamts . . . . . . . . . . . . . . . (a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Generelle Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Öffentliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Örtliche/Überörtliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Jugendamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Jugendhilfeausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) ASD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis zwischen Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Förderung der freien Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Subsidiaritätsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gesamtverantwortung und Gewährleistungsverpflichtung . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gerichtliche Durchsetzbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handlungsinstrumentarien bei Kindeswohlgefährdung . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahrenspfleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entscheidungsvorschlag des Jugendamts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Weisungsbefugnis des Familiengerichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Dienstaufsichtsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Einstweilige Anordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 129 129 130 130 130 131 131 131 132 132 133 133 134 135 135 135 136 136 137 137 137 138 138 138 139 140 140 142 142 143 143 143 144 145 145 145 145

E. Zusammenfassung – einfachgesetzliche Grundlagen des Kinder- und Jugendhilferechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

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Inhaltsverzeichnis I. II. III. IV.

V. VI. F.

Wesentliche Schritte bei (dem Verdacht) einer Kindeswohlgefährdung . . Der Perspektivenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . Bisherige Unklarheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reform/Reformbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. KICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. KEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenarbeit von Jugendamt und Familiengericht . . . . . . . . . . . . . . . . Dualismus in der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146 146 147 147 147 149 149 150

Fazit: Das Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Teil 2 Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . I. Echte und unechte Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Fahrlässige unechte Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die einzelnen Handlungslehren und ihre Auswirkungen auf den Unterlassensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kausale Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Finale Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Das „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns . . . . . . . . . . . . . . . (3) Soziale Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Negative Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Personale Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswirkungen der einzelnen Handlungslehren auf die Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einfluss der kausalen Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Auswirkungen der finalen Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Potentielle Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Tatsächliche Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) „Personale Unrechtslehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Prämissen der sozialen Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Auffassung Roxins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 157 157 157 158 160 161 161 162 162 162 163 163 164 165 165 166 166 166 167 167 168 168 168 169

Inhaltsverzeichnis c) Auswirkungen der Handlungs- und Verbrechenslehren auf die fahrlässigen Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Crux fahrlässigen Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verwandtschaft von Fahrlässigkeit und Unterlassung? . . . . (b) Geschichtliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Konkrete Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tatbestandsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz physisch-realer Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abgrenzung von Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Naturalistisch-ontologische Betrachtungsweise . . . . . . (bb) Normative Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) „Schwerpunkttheorie“/sozialer Handlungssinn . . . (b) „Konkurrenzlösung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Sonderproblem: Betreuungsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Eigene oder fremde Rettungsbemühungen? . . . . . . . . . (bb) Tun oder Unterlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Sonderfall „Untätigbleiben“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die gebotene Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) In physischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Personelle Unterbesetzung im Amt/Überbelastung des Sozialarbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Urlaubs-/Krankheitsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Fehlende Kenntnis der Gefahrensituation . . . . . . . . . . . (a) Denkbare Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Notwendigkeit der Kenntnis des Handlungsziels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) In rechtlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Rechtswidrige Dienstanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Zusammenwirken von Fachkräften . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Spekulativer Ausgang einer Meldung nach § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Ablehnende Entscheidung des Familiengerichts . . . . . b) Abschichtung vorsätzlicher Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . .

15

169 169 169 170 171 171 172 172 172 172 174 175 175 176 176 177 178 179 180 180 180 181 181 182 183 184 184 185 186 186 187 187 188 188 190 190

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Inhaltsverzeichnis (1) Generelle Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Sogenannte Vorstellungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Sogenannte Willenstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Existenz eines Unterlassungsvorsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Definition nach herrschender Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zurechenbarkeit des Erfolgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Grundsätzliche Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Kausalitätsfeststellung im Rahmen des Unterlassens . . . . . (aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Definition des Erfolgsbegriffs beim Unterlassen . . . . (a) Praktische Bedeutung der Frage . . . . . . . . . . . . . . . (b) Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Kausalität im Rahmen des Zusammenwirkens von Fachkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Lehre vom Regressverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Lehre von der objektiven Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Risikoverringerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Genereller Meinungsstand zur dogmatischen Herleitung . . . . . (a) Exkurs: Maßgaben des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . (aa) Bedeutungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG im Rahmen des Allgemeinen Teil des StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Wirkungen der Garantien des Bestimmtheitsgebots auf die Auslegung des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Genereller Diskussionsstand zur Garantenfrage in Judikatur und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Bedeutung von Rechtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) „Strenge Rechtspflichtlehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Eingeschränkte Rechtspflichtlehre“ . . . . . . . . . . . (bb) Materialisierungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Soziologisch orientierte Theorien . . . . . . . . . . . . . . (b) Vertrauens- oder Abhängigkeitsbeziehung . . . . . .

190 191 191 192 193 193 194 194 195 195 195 197 197 198 198 198 198 199 200 200 201 202 202 203 204 204 206 206 209 210 211 212 213 214 216 216 218

Inhaltsverzeichnis (g) Gefährdungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Handlungsverantwortung und soziale Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Kasuistische Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . (z) Organisations- und Institutionszuständigkeit . . . . . (h) Herrschaftsverhältnis über den Erfolgsgrund . . . . (c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Bedeutung von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ingerenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Herrschaftsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Herrschaftssystementwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Zweiteilung Armin Kaufmanns . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Diskussionsstand zur Garantenstellung zuständiger Jugendamtsmitarbeiter in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . (a) Beschützergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Garantenstellung aus besonderem Rechtssatz . . . . . . . (a) Ansicht des LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) . (b) Urteil des OLG Oldenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Urteile des OLG Düsseldorf (Fall „Tanja“), LG Stuttgart (Fall „Jenny“) sowie des AG Mönchengladbach (Fall „Vanessa“) . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Resonanz in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Aus Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Aus tatsächlicher Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Beschluss des OLG Stuttgart (Fall „Jenny“) . . . . (b) Reaktionen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Aus Amtsträgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Dogmatische Grundlagen der Garantenstellung kraft Amtsträgerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Grundsätzliche Zulässigkeit von Amtsträgergarantenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Argumente im Zusammenhang mit der Beschützergarantenstellung einzelner Amtsträger . . . . . . .

17 220 221 222 223 224 227 227 227 227 228 228 229 229 230 231 232 232 233 233 235

236 236 239 244 244 245 247 247 247 251 262 262 265 266

18

Inhaltsverzeichnis (d) Ansichten speziell zu Jugendamtsmitarbeitern . . . (ee) Aus Ingerenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Urteil des LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) . . (b) Aussagen Bringewats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ff) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Überwachergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ansicht Bringewats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Garantenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Qualitative Steigerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Delegation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Möglichkeit der Delegation einer Garantenstellung . . (bb) Auswirkungen auf den Pflichtenkreis . . . . . . . . . . . . . . (a) Bestehenbleiben der Garantenstellung? . . . . . . . . . (b) Konsequenzen für die Garantenpflichten . . . . . . . (g) Effekt von „Freizeichnungsklauseln“? . . . . . . . . . . (cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Nachträgliche Unzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Bestehenbleiben der Garantenstellung? . . . . . . . . . . . . (a) Oberlandesgericht Stuttgart (Fall „Jenny“) . . . . . (b) Landgericht Stuttgart (Fall „Jenny“) . . . . . . . . . . . (g) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Überlastung des einzelnen Sozialarbeiters . . . . . . . . . . . . . . (aa) Überlastungsanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Vertretungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ansicht Bringewats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Teambesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ansicht der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Weisungen des Vorgesetzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ansicht Fieselers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Ansicht Münders u. a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271 275 275 276 276 279 279 279 280 281 281 281 282 283 284 284 284 284 286 289 290 291 291 291 291 292 293 294 294 295 295 295 296 296 297 297 297 298 298 298

Inhaltsverzeichnis (cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) (Erfolglose) Meldung gegenüber dem Gericht . . . . . . . . . . . (aa) Ansicht Kunkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (h) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fahrlässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfassungsrechtliche Grundlagen/Bestimmung der Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Objektive Zurechenbarkeit/unerlaubtes Risiko . . . . . . (c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Besonderheiten des fahrlässigen Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . (a) Varianten fahrlässiger Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung beim aktiven Tun (bb) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung beim Unterlassen (cc) „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Indizierung der Sorgfaltspflichtverletzung durch die Verletzung der Garantenpflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Identität von Sorgfaltspflicht und Garantenpflicht . . . (bb) Strenge Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Teilweise Übereinstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ansichten der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) AG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) . . . . . . . . . . . . . . . (bb) LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Standpunkt des OLG Oldenburg (Fall „Laura Jane“) (dd) Aussagen des OLG Stuttgart (Fall „Jenny“) . . . . . . . . (ee) Urteil des LG Stuttgart (Fall „Jenny“) . . . . . . . . . . . . . (ff) Urteil des AG Mönchengladbach (Fall „Vanessa“) . . (gg) Urteil des AG Leipzig (Fall „Dominic“) . . . . . . . . . . . (b) Außer-Acht-Lassen der im Verkehr gebotenen Sorgfalt . . . (aa) Individueller oder generalisierender Sorgfaltsmaßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) (Wohl) herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Abweichende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Meinung Roxins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 299 299 300 300 301 301 302 302 303 303 303 304 305 306 306 306 307 307 308 308 308 309 309 310 310 310 311 311 312 312 312 313 313 313 314 314 314 315

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Inhaltsverzeichnis (bb) Bedeutung sogenannter Sondernormen . . . . . . . . . . . . (a) Existenz im Kinder- und Jugendhilferecht . . . . . . (b) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Prognoseentscheidungen im Verwaltungsrecht – Auswirkungen des Beurteilungsspielraums auf das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Sogenannte Verkehrsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Strafrechtliche Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Inhalt der Empfehlungen des Deutschen Städtetages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) „Differenzierte Maßfigur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Rolle der „Fachlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Meinungsbild in der Fachwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Eigene Lösung – verfassungskonforme Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Überlastung – Übernahmefahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . (ff) Erlaubtes Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Vertrauensgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Objektive Voraussehbarkeit des Erfolgseintritts . . . . . . . . . . (aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Äußerungen der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Vorliegende Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Reaktionen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zum „Freigängerfall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zu den vorliegend relevanten Konstellationen . . . (dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Objektive Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Pflichtwidrigkeitszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ermittlung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei Abhängigkeit der Rettung vom Verhalten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Einwand der möglichen Schädigung des Kindes zu einem späteren Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315 315 316

316 326 326 327 327 328 328 329 329 333 335 336 337 337 338 344 344 344 345 345 345 346 346 346 347 348 348

350 357 365 365

Inhaltsverzeichnis a) Pflichtenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeine Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes . . . . (2) Fahrlässige Rechtfertigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Rechtswidrige verbindliche Anweisung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Erkennbarkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verbindlichkeit der Weisung auch bei Rechtswidrigkeit oder Zweifeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Übernahmeverschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . b) Entschuldigungsgründe – Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Existenz des Entschuldigungsgrundes der Unzumutbarkeit . . . (2) Rechtswidrige Dienstanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Irrtumsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatbestandsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gebotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Fall „Laura Jane“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Fall „Jenny“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Reaktionen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Auf dem Gebiet des Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Auf dem Gebiet der Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unbewusste Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Bewusste Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Anlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Erkundigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Eigene Recherchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Rat eines Rechtskundigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Rat sonstiger Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Möglichkeit zur Erlangung korrekter Informationen . .

21 366 366 366 367 367 367 368 369 370 370 370 370 370 371 371 372 372 372 373 373 373 374 374 374 374 375 375 375 375 375 377 377 378 378 378 379 379 380

22

Inhaltsverzeichnis (dd) „Vorverschulden“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erlaubnistatbestandsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Modifizierte Vorsatztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Strenge Schuldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Eingeschränkte Schuldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Täterschaftsfragen und „eigenhändige“ Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . c) Besonderheit aufgrund Unterlassens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vertretene Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterlassungsvorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Doppelter Gehilfenvorsatz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorsatz hinsichtlich der vorsätzlich begangenen Haupttat . . . . (2) Vorsatz hinsichtlich des Hilfeleistens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Irrtumsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) § 16 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Versuchsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen der Beihilfe zum Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

380 381 382 382 382 382 383 383 383 384 390 390 390 391 391 391 393 393

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafbarkeitsrisiko nicht unmittelbar fallzuständiger Kollegen – Übermittlungspflichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestandsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beschützergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Aus Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Aufgrund tatsächlicher Schutzübernahme . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Tatsächliches Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

398

III.

393 394 394 394 395 396 396 396 396 396 397 397

399 399 399 400 400 400 400

Inhaltsverzeichnis

23

(bb) Normatives Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kraft Amtsträgergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Garantenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fahrlässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) „Sondernormen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Verkehrsnormen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) „Differenzierte Maßfigur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Objektive Voraussehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Objektive Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechtmäßiges Alternativverhalten generell . . . . . . . . . . . . . . (b) Speziell: Einwand möglichen Fehlverhaltens des fallzuständigen Sozialarbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafbarkeitsrisiko der an Teambesprechungen teilnehmenden/abstimmenden/ratgebenden Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung von Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Energieeinsatzkriterium/Konkurrenzlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Schwerpunktformel“/sozialer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aus Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aus tatsächlicher Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aus Amtsträgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fahrlässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Objektive Voraussehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Objektive Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

401 402 404 404 405 405 405 406 406 406 407 407 408 408

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Organisationsmängel der Leitungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416 417 418 418

II.

408 409 409 410 410 410 410 411 411 412 412 412 413 413 413 414 414 415 415 416

24

Inhaltsverzeichnis

II.

(1) Beschützergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Tatsächliche Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Amtsträgergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Überwachergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Garantenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fahrlässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verkehrsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Differenzierte Maßfigur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Objektive Voraussehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Objektive Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Einwand fehlender finanzieller Ressourcen . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . b) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienstanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktives Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Objektive Voraussehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Objektive Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418 418 418 419 420 420 420 420 421 421 422 422 422 423 423 423 423 424 424 424 425 425 425 425 426

Teil 3 Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen

427

A. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 B. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aus Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aus tatsächlicher Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aus Amtsträgerstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aus Ingerenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

428 428 428 429 429 429 430

C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

Inhaltsverzeichnis

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Teil 4 Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger A. Strafbarkeitsrisiko der fallverantwortlichen Fachkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung von Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Omissio libera in omittendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Individuelle Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. (Quasi-)Kausalität und objektive Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aus Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aus tatsächlicher Schutzübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ansicht von Bringewat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ansicht von Beulke/Swoboda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ansicht von Papenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Tatsächliches Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Normatives Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Vertrauen des Jugendamtsmitarbeiters . . . . . . . . . . . . . (bb) Vertrauen des Kindes bzw. seiner Eltern . . . . . . . . . . . (cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aus Amtsträgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Garantenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 8a Abs. 2 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlungen des Deutschen Städtetages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ansicht von Papenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ansicht von Bringewat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Sonder-/Verkehrsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Differenzierte Maßfigur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) „Fachlichkeit“ als Maßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ansicht von Bringewat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Ansicht von Papenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

432 432 433 433 433 433 434 434 434 434 435 435 435 437 437 437 437 438 438 438 439 439 439 439 440 440 440 440 441 441 442 442 442 442 442 443 443 443

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Inhaltsverzeichnis (b) Erlaubtes Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Vertrauensgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Geltung gegenüber dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Geltung gegenüber dem Vorgesetzten bei Weisungen (cc) Vorsätzliches Dazwischentreten eines Dritten . . . . . . . (d) Übernahmefahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Objektive Voraussehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Objektive Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. § 16 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

444 445 446 446 447 447 447 447 448 449 449 449 449 450 450 450 450

B. Strafbarkeitsrisiko der Leitungsverantwortlichen bei den freien Trägern . . . . . I. Organisationsmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschützergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aus Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aus Amtsträgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aus tatsächlicher Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ingerenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überwachergarantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fahrlässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dienstanweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451 451 451 451 452 452 452 452 452 453 454 454

II.

III.

IV.

V.

444 444

Teil 5 Zusammenfassung und Ergebnisse

455

A. Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 I. Rechtsdogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 II. Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

Inhaltsverzeichnis III. IV.

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Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen . . . . . . . . . . . . . . . 460 Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter der freien Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . 460

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu den sonstigen Jugendamtsmitarbeitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zu den Dienstvorgesetzten im Jugendamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zu den administrativ Verantwortlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zu den Mitarbeitern der freien Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bewertung der dokumentierten Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Fall „Laura Jane“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Fall „Jenny“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Fall „Tanja“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Fall „Dominic“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Fall „Vanessa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Fall „Dennis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

460 460 460 461 467 468 469 470 471 472 473 474 475 475 476

C. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

Abkürzungsverzeichnis a. aA a. a. O. abl. Abs. abw. AcP a. E. a. F. AG AGSP ähnl. AK Alt. a. M. Angekl. Anh. Anm. Art. ASD AT Aufl. AWO Az. BAG BAT BayBG BayKJHG BayLStVG BayObLG BayObLGSt BayVBl. BayVGH

am/auch andere(r) Ansicht am angegebenen Ort ablehnend Absatz abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) am Ende alte(r) Fassung Amtsgericht Arbeitgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie ähnlich Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch Alternative am Main Angeklagte(r), Angeklagten Anhang Anmerkung Artikel Allgemeiner Sozialer Dienst/Sozialdienst des JA Allgemeiner Teil Auflage Arbeiterwohlfahrt Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Bundes-Angestelltentarifvertrag (sowohl Ost als auch West) Bayerisches Beamtengesetz Bayerisches Kinder- und Jugendhilfegesetz Gesetz über das Landesstrafrecht und das Verordnungsrecht auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Bayerische Verwaltungsblätter – Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Abkürzungsverzeichnis BBG BbgPsychKG

Bd. Bearb. Begr. Bem. betr. BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BK BldW BLJA BMfFSFJ BMJ BRD BR-DrS BRRG Bsp. Bspr. bspw. BT-DrS BV BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE bzgl. bzw. ca. DAVorm DBSH

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Bundesbeamtengesetz Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch Kranke des Landes Brandenburg Band Bearbeiter Begründung Bemerkung betreffend Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (zitiert nach Band und Seite) Bonner Kommentar zum Grundgesetz Blätter der Wohlfahrtspflege (Zeitschrift) Bayerisches Landesjugendamt Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium der Justiz Bundesrepublik Deutschland Bundesratsdrucksache Beamtenrechtsrahmengesetz Beispiel(e) Besprechung beispielsweise Bundestagsdrucksache Verfassung des Freistaates Bayern Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite) Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (zitiert nach Band und Seite) bezüglich beziehungsweise circa Der Amtsvormund (Zeitschrift, ab dem Jahr 2001 umbenannt in Das Jugendamt) Deutscher Berufsverband für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e. V.

30 DDR ders. d.h. dies. diff. DIJuF Diskurs Diss. DJI DVBl. E EGMR Einf. Einl. EJ EL EMRK Erg. EuGRZ e. V. evtl. f. FamG FamRZ ff. FG FGG FK-SGB VIII Fn. Forum Erziehungshilfen FPR FS FuR G. GA GedSchr GenStA GG ggf. GK Grdl.

Abkürzungsverzeichnis Deutsche Demokratische Republik derselbe das heißt dieselbe differenzierend Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. Diskurs – Studien zu Kindheit, Jugend, Familie und Gesellschaft (Zeitschrift) Dissertation Deutsches Jugendinstitut e. V. Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Entscheidung/Entwurf Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführung Einleitung Evangelische Jugendhilfe (Zeitschrift) Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention Ergebnis Europäische Grundrechte-Zeitschrift eingetragener Verein eventuell folgende (r/s) Familiengericht Zeitschrift für das gesamte Familienrecht fortfolgende Freiwillige Gerichtsbarkeit Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Frankfurter Kommentar zum SGB VIII Fußnote(n) Forum Erziehungshilfen (Zeitschrift) Familie Partnerschaft Recht (Zeitschrift) Festschrift/Festgabe/Freistaat Familie und Recht (Zeitschrift) Gesetz Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (Zeitschrift) Gedächtnisschrift Generalstaatsanwaltschaft Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Grundkurs/Gemeinschaftskommentar Grundlagen

Abkürzungsverzeichnis GrS GS GVG Habil. h. M. Hrsg. HS HStR HzE i. E. inkl. insbes. i. R. d. i. S. d. i.V. m. i. w. S. JA JAmt JK JR Jugendhilfe Jura JuS JuSchG JWG JWohl JZ Kap. KEG KFH KG KGSt KICK KJ

KJHG KLK krit. KRK

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Großer Senat für Strafsachen Der Gerichtssaal (Zeitschrift) Gerichtsverfassungsgesetz Habilitation herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz Handbuch des Staatsrechts Hilfe(n) zur Erziehung im Ergebnis inklusive insbesondere im Rahmen des/der im Sinne des/der in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift)/Jugendamt Das Jugendamt – Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht (bis zum Jahr 2000 DAVorm) Jura-Kartei Juristische Rundschau (Zeitschrift) Jugendhilfe (Zeitschrift) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Jugendschutzgesetz Gesetz für Jugendwohlfahrt Jugendwohl – Zeitschrift für Kinder- und Jugendhilfe Juristenzeitung Kapitel Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich Katholische Fachhochschule Kammergericht Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (seit 01.01.2006 Zeitschrift, die aus der Zusammenführung der Zeitschrift Kindschaftsrechtliche Praxis und ZfJ hervorging) Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts – Kinder- und Jugendhilfegesetz Klausurenkurs kritisch vgl. UN-KRK

32 Lb lfd. LG lit. LJA LJA-Info LK LPK LWV m. m. E. Mj MschrKrim MüKo m.w. N. Nachw. NDV n. F. NJW NK no. np Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ o. o. ä. OLG öStGB OVG OWiG PAG PdW PolG RdJB RegE RegE-Begr. resp.

Abkürzungsverzeichnis Lehrbuch laufend(e) Landgericht litera Landesjugendamt Landesjugendamt-Info (von dem jeweiligen Landesjugendamt eines Bundeslandes herausgegebene Zeitschrift) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch Lehr- und Praxiskommentar Landeswohlfahrtsverband mit meines Erachtens Minderjährige(r), Minderjährigen Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Zeitschrift) Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen Nachweise(n) Nachrichtendienst des Deutschen Vereins (Zeitschrift) neue(r) Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch number Neue Praxis, Kritische Zeitschrift für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungsreport der Neuen Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oben oder ähnliches Oberlandesgericht Österreichisches StGB Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz) Prüfe dein Wissen Polizeigesetz Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift) Regierungsentwurf Regierungsentwurf-Begründung respektive

Abkürzungsverzeichnis RJWG Rn. RPflG Rs. Rspr. S. s. SGB SGB I SGB VIII SGB VIII-KEG SGB VIII-KICK SGB X SK SKF sog. SoldatG Sozialextra Sozialmagazin spektrum SS S/S StA StÄG StGB StPO str. StV s. u. TAG TuP u. u. a. UJ UN UNICEF Univ. UN-KRK Urt.

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Reichsjugendwohlfahrtsgesetz Randnummer(n) Rechtspflegegesetz Rechtssache Rechtsprechung Satz, Seite(n) siehe Sozialgesetzbuch Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – Allgemeiner Teil Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (Kinder- und Jugendhilfe) im KEG enthaltene Reformvorschläge zur Änderung des SGB VIII Fassung des SGB VIII bei Inkrafttreten des KICK Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz) Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Sozialdienst Katholischer Frauen sogenannte (n/r/s) Gesetz über die Rechtsstellung von Soldaten Zeitschrift für Soziale Arbeit und Sozialpolitik Sozialmagazin. Die Zeitschrift für Soziale Arbeit Zeitschrift des bis zum Jahr 2004 bestehenden LWV Hohenzollern Sommersemester Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch (Kommentar) Staatsanwaltschaft Strafrechtsänderungsgesetz Strafgesetzbuch Strafprozessordnung strittig(e) Strafverteidiger (Zeitschrift) siehe unten Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder (Tagesbetreuungsausbaugesetz) Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (Zeitschrift) und, unten und andere(n)/unter anderem Unsere Jugend (Zeitschrift) United Nations/Vereinte Nationen United Nations Children’s Fund/Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Universität UN-Kinderrechtekonvention Urteil

34 u.s.w. u. U. v. v. a. Var. vert. VG VGH vgl. Vor§ Vorb VorKap VwGO VwVfG WehrStG WHG wistra WRV WS z. z. B. ZfF ZfJ ZfRV ZFSH/SGB zit. ZPO ZStW z. T. zugl. zust. zutr.

Abkürzungsverzeichnis und so weiter unter Umständen versus/vom, von vor allem Variante vertiefend Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vorbemerkung zu einem Paragraphen/Abschnitt Vorbemerkung/en Vorbemerkung zu einem Kapitel Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Wehrstrafgesetz Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz) Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Weimarer Reichsverfassung Wintersemester zu, zum, zur zum Beispiel Zeitschrift für das Fürsorgewesen Zentralblatt für Jugendrecht (Zeitschrift; seit 1.1.2006 zusammen mit der Kindschaftsrechtlichen Praxis als KJ weitergeführt) Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch zitiert Zivilprozessordnung Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil zugleich zustimmend(e) zutreffend(e)

Einleitung A. Ausgangssituation Die Misshandlung von Kindern ist ein Phänomen, das bis in die Anfänge menschlichen Zusammenlebens zurückverfolgt werden kann.1 Sie stellt kein Novum dar. Eine neue Entwicklung zeigt sich jedoch darin, dass die Öffentlichkeit im Fall des Todes oder der Verletzung von Kindern, die durch die eigene Familie vernachlässigt oder (sexuell) misshandelt wurden, mittlerweile fast automatisch ein Versagen der Kinder- und Jugendhilfe konstatiert, wenn diese sogenannten Problemfamilien bereits im Vorfeld in den Fokus des Jugendamts geraten waren.2 Zusätzlich zu diesem medialen Druck sehen sich die betroffenen Sozialarbeiter3 seit einiger Zeit strafrechtlichen Verfahren ausgesetzt, in denen ihnen ihre vermeintliche Unzulänglichkeit als Straftat der fahrlässigen Körperverletzung oder der fahrlässigen Tötung, jeweils begangen durch Unterlassen, vorgeworfen wird.4 1 Vgl. den geschichtlichen Rückblick von Bensel/Rheinberger/Radbill in: Das misshandelte Kind, S. 10 ff. 2 Siehe z. B. DER SPIEGEL 38/1999, S. 90: „Musste Jenny sterben?“; Hamburger Abendblatt v. 17.1.2004: „Carolin – Versagte das Jugendamt?“; Welt am Sonntag v. 2.3.2003: „Der Mordfall Pascal bringt Skandal im Jugendamt ans Licht“; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 26.9.2004: „Die Kinderhölle – Der gerade vor Gericht verhandelte Fall Pascal ist keine Ausnahme: In deutschen Familien nehmen Verwahrlosung und Missbrauchsdelikte zu. Häufig greifen die Jugendämter zu spät ein, obwohl das Gesetz ihnen Chancen dafür einräumt.“ sowie Rückert in DIE ZEIT 17/2005 („,Komplizenschaft mit den Tätern‘ nennen Polizisten und Gerichtsmediziner das übermäßige Verständnis der Ärzte und Behörden für Eltern, die ihr Kind malträtieren, und rufen auf zu ,mehr Mut zum Wohle des Kindes‘. (. . .) Die Beamten des Kommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen im Landeskriminalamt Berlin sind empört über die Verzagtheit vieler Jugendamtsmitarbeiter.“). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den fiktiven Text „Kleine Schwester“ (Diogenes Verlag) von Martina Borger und Maria Elisabeth Straub, die eindringlich das Scheitern einer Familie und die damit einhergehende Vernachlässigung des in Pflege genommenen Kindes bei ausbleibender Kontrolle durch das Jugendamt beschreiben. 3 Nachfolgend soll aus sprachlichen Gründen lediglich die männliche Form der Berufsbezeichnung verwendet werden, der Sache nach ist damit aber selbstverständlich auch die weibliche erfasst. 4 Ausführliche Dokumentation der drei bekanntesten Verfahren („Laura Jane“, „Jenny“ und „Tanja“) bei Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 73 ff. sowie unter Teil 1 A. I., II. und III.

36

Einleitung

Ein eigener Tatbestand, der Versäumnisse von Sozialarbeitern im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdungen pönalisiert, existiert im deutschen Strafgesetzbuch nicht. Auch ist bislang keine höchstrichterliche Entscheidung zum Ausmaß der strafrechtlichen Verantwortung in derartigen Fällen ergangen. Vielmehr haben die mit der Thematik befassten Gerichte teils diametral entgegengesetzte Urteile gefällt5 oder sich durch Verfahrenseinstellungen einer abschließenden Beurteilung der Problematik entzogen6. Diese Umstände haben naturgemäß sowohl auf dem Gebiet der Sozialpädagogik als auch in der Rechtswissenschaft zu einer schwer überschaubaren Fülle von Literatur geführt. Wie in der Judikatur reichen dabei die Reaktionen von der strikten Verneinung bis hin zur offensiven Bejahung einer Strafbarkeit der in der Jugendhilfe Beschäftigten.7 Unter dem kriminologischen Gesichtspunkt wird außerdem über die Tauglichkeit der Strafverfolgung zur Verbesserung der Situation von Kindern gestritten.8 Eine Lektüre dieser Veröffentlichungen vermag zweifelnde Sozialarbeiter (wie auch Juristen) mehr zu verunsichern, als zu deren Absicherung beizutragen – nicht zuletzt deshalb, weil die Autoren teilweise selbst in Strafverfahren involviert waren und primär ihre eigene Sicht der Dinge darlegen.9 Überdies differieren die Äußerungen bei der Einschätzung des tatsächlichen Risikopotentials. Während manche die Sozialarbeiter als „Opferlamm“10 in Ausübung der ihnen obliegenden Aufgaben „mit einem Bein im Gefängnis“11 sehen und als mögliche Konsequenz einer strafrechtlichen Verfolgung die 5 Exemplarisch hierfür das Urteil des LG Osnabrück ZfJ 1996, 524 m. abl. Anm. Bringewat und i. E. zust. Anm. St. Cramer NStZ 1997, 238 f. im Gegensatz zu dem des OLG Oldenburg StV 1997, 133 (zu dem den beiden Urteilen zugrunde liegenden Fall „Laura Jane“ s. Teil 1, A. I.). 6 Vgl. den Einstellungsbeschluss des LG Osnabrück im Fall „Laura Jane“, abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 150. 7 Wiesner, ZfJ 2004, 167, Fn. 24 konstatiert gar „feindliche Lager (. . .) im Stellungskrieg“. 8 Gegen einen positiven Effekt der Strafverfolgung von Sozialarbeitern auf den Schutz von Kindern H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 212. 9 Vgl. z. B. die Veröffentlichung „Helfen mit Risiko“, herausgegeben von Mörsberger/Restemeier. Hierin kommen sowohl der im Fall „Laura Jane“ tätig gewordene Sachverständige Schrapper (S. 22 ff.), als auch die angeklagte Sozialarbeiterin (S. 179 ff.) zu Wort. Herausgeber Restemeier war deren Verteidiger, Mörsberger wurde von diesem in zweiter Instanz als Berater hinzugezogen (vgl. das Plädoyer auf S. 81 ff.). 10 So die Bezeichnung in dem Interview von Brand mit der angeklagten Sozialarbeiterin im Fall „Laura Jane“ (dazu unten Teil 1 A. I.), abgedruckt in Mörsberger/ Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 179; ähnlich auch Gericke in seinem Bericht zum Verhandlung vor dem LG Stuttgart im Fall „Jenny“ (siehe dazu unten Teil 1 A. II.): „Es war für die angeklagten Berufskollegen ein ziemlich belastendes Scenario und ich verlor nie das Gefühl, dass sie stellvertretend für die meisten von uns Sozialarbeitern dort waren – ein Musterprozeß!“

A. Ausgangssituation

37

„Lähmung der Jugendhilfe“12 bzw. eine „Absicherungsmentalität“13 befürchten, betonen andere die geringe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung.14 Die vormalige Bundesregierung beabsichtigte – ursprünglich etwas versteckt im Tagesbetreuungsausbaugesetz15 – auf die zu trauriger Berühmtheit gelangten Fälle der Schädigung des Kindeswohls trotz staatlicher Betreuung der Familie zu reagieren und die daraus resultierenden Handlungsempfehlungen verschiedenster Institutionen in Gesetzesform zu gießen.16 Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde der Entwurf jedoch geteilt und zunächst lediglich ein Teil der vorgesehenen Neuerungen verabschiedet, die nicht der Zustimmung des Bundesrats bedurften.17 Sie traten zum 1.1.2005 in Kraft.18 Zahlreiche andere geplante Reformen entfielen hingegen vorerst,19 darunter auch das Bestreben, den Schutzauftrag des Jugendamts in einem neu zu schaffenden § 8a SGB VIII ausdrücklich festzuschreiben.20

11 So eine Äußerung von Alexander, Sozialextra 2000, 13 und der Titel eines Beitrags von Schrapper in Sozialmagazin 1996, 19 sowie einer vom Rheinischen Studieninstitut für Kommunale Verwaltung in Köln am 16.3.2005 abgehaltenen Tagung. 12 Vgl. Oehlmann-Austermann, ZfJ 1997, 57 – er rekurriert hierbei auf die Befürchtung des LG Osnabrück NStZ 1996, 439. 13 Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 106; von Hermanni, JAmt 2003, 561; Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 13; Meysen/Schindler, JAmt 2004, 465; ähnlich Alexander, Sozialextra 2000, 13; aA Fieseler, ZfJ 2004, 179. 14 Mörsberger, JAmt 2002, 434, 437: „(. . .) eher Mythos denn reale Bedrohung“; ders., Jugendhilfe 2000, 229: „Weder Panik noch Selbstmitleid ist angebracht.“; ders., „. . . und schuld ist“, S. 91: „Wenn Sie nach der Veranstaltung ins Auto steigen sollten, dann können Sie sicher sein, dass das strafrechtliche Risiko, das Sie damit eingehen, um ein Tausendfaches höher ist als das hier thematisierte Risiko im beruflichen Kontext“; in diesem Sinne auch das DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2005, 232; Fieseler, UJ 2001, 433; ders., ZfJ 2004, 173; Pilz, Sozialextra 2001, 38; vgl. auch Meysen/Schindler, JAmt 2004, 465: „Machen Sie sich die Mühe und lassen Sie nicht einen Teil von sich in einem abstrakten Gefängnis stehen.“ 15 Die vollständige Bezeichnung des Gesetzes lautet „Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe“. Im folgenden wird es nur noch als TAG zitiert. Zur Gesetzgebung im Rahmen des TAG siehe Meysen, Editorial JAmt, Heft 10/2004, S. IV. 16 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-DrS 15/3676) bezog sich ausdrücklich (S. 26) auf die „Empfehlungen des Deutschen Städtetages zur Festlegung fachlicher Standards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls“, abgedruckt u. a. in ZfJ 2004, 187 sowie im Anhang der vorliegenden Arbeit. 17 BT-DrS 15/3676 sowie BT-DrS 15/3986. 18 G. v. 30.07.2004, BGBl. I, S. 3852. 19 Vgl. die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BT-DrS 15/4045. 20 Neben der allgemeinen Zielsetzung des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII.

38

Einleitung

Diese Neuregelung wurde – neben weiteren Klarstellungen – im sogenannten Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz21 weiterverfolgt, welches – selbst für Experten der Jugendhilfe überraschend noch vor der Auflösung des Bundestages22 – am 3.6.2005 vom Bundestag in 2. und 3. Lesung beschlossen wurde und dem der Bundesrat am 8.7.2005 zustimmte.23 Es trat am 1.10.2005 in Kraft.24 Parallel zum TAG hatte der Freistaat Bayern im September 2004 einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der nach eigenen Angaben ebenfalls auf die „Stärkung des staatlichen Wächteramtes“ und auf die „Betonung des Schutzauftrages des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung“ abzielte.25 Zu diesem Zweck sah er unter anderem vor, diesen Schutzauftrag in einem neu einzufügenden § 50a SGB VIII zu verankern.26 Er scheiterte. Unabhängig davon, wann das KICK in Kraft trat, sowie von der Frage, ob durch die Große Koalition die im KEG enthaltenen Regelungen doch noch realisiert werden, wurde jedoch mit beiden Entwürfen bzw. Regelungen keine Entscheidung für oder gegen eine Strafbarkeit von Sozialarbeitern getroffen, sondern lediglich der bereits im Grundgesetz vorgesehene Auftrag des Staats zum Schutz des Kindeswohls einfachgesetzlich niedergelegt. Unklarheit besteht bislang darüber, inwiefern die Reformen die Urteilsfindung in zukünftigen Strafverfahren zu beeinflussen vermögen. Tatsache ist, dass die wenigen, auf der Basis der bisherigen Rechtslage ergangenen Urteile zur Unterlassungsstrafbarkeit in der Kinder- und Jugendhilfe nur die „Spitze des Eisbergs“ betrafen, das heißt Fälle, in denen der Grad der Misshandlung oder Vernachlässigung ein solch hohes Maß erreichte, dass die Opfer starben oder massiv physisch bzw. psychisch geschädigt wurden.27 Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass eine bedeutend größere Anzahl von Kindern und Jugendlichen Erfahrungen mit weniger schwerwiegenden Kindeswohlgefährdungen macht.28 21 Im folgenden nur noch durch die offizielle Abkürzung KICK bezeichnet (die z. T. gewählte Abkürzung TAG II soll aus Klarstellungsgründen nicht verwendet werden). 22 Siehe z. B. Wiesner, ZfJ 2005, 221, der angesichts der zu erwartenden Auflösung des Bundestags und dessen Diskontinuität davon ausging, dass das Gesetz vorher nicht mehr in Kraft treten würde. 23 BR-DrS 444/05. 24 G. v. 8.9.2005 – BGBl. I S. 2729 – KICK. 25 Vgl. den „Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich (KEG)“, BR-DrS 712/04, S. 2. 26 Siehe BR-DrS 712/04, S. 2, 5 f., 28 f. 27 In diesem Sinne auch H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 192 f. sowie Busch, UJ 2002, 83. 28 Vgl. Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl, S. 50, 52 f., 58 sowie die Zusammenfassung des UNICEF-Berichts „Todesfälle bei Kindern durch Misshandlungen und

A. Ausgangssituation

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Zwar existiert nach Auskunft der Justizministerien der Länder in keinem einzigen Bundesland eine Weisung gegenüber den Staatsanwaltschaften, die Strafverfolgung von Sozialarbeitern intensiver zu betreiben.29 Sollte jedoch die generelle gesellschaftliche Tendenz zur Ausweitung der Strafverfolgung30 auch vor der Sozialarbeit nicht Halt machen, dann ist nicht auszuschließen, dass die Staatsanwaltschaften zur Untersuchung auch dieser weniger gravierenden Fälle auf ihre Strafbarkeitsrisiken für Jugendamtsmitarbeiter und deren Vorgesetzte übergehen werden. Überdies scheint sich die Problematik angesichts leerer Kassen in den Kommunen zu verschärfen.31 So wurde im Jahr 2003 – soweit ersichtlich – erstmals in einem Strafverfahren die Frage angerissen, ob die gebotene Fremdunterbringung eines Kindes lediglich aus Angst vor den entstehenden Kosten unterblieben war.32 Vernachlässigungen in den Industrieländern“ vom August 2003 von Tarneden, die auf S. 5 angibt, dass in den USA im Jahr 1996 auf 1400 erfasste Kindestötungen drei Millionen angezeigter Fälle nicht-tödlicher Misshandlungen entfallen (Daten zur BRD sind nicht enthalten). Nach Angaben auf S. 1 des Berichts sterben in Deutschland in jeder Woche zwei Kinder an den Folgen körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung. In seinem Artikel „Die Kinderhölle“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung v. 26.9.2004 auf S. 59 berichtet Lücke, dass momentan ein Forscherteam um die Leipziger Rechtsmedizinerin Ulrike Böhm sämtliche Obduktionsberichte von unerwarteten Todesfällen bei Kindern auswertet, und dass bereits jetzt feststeht, dass seit 1994 mehr als 1000 Kinder an den Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung gestorben sind. 29 Dies ergaben schriftliche Anfragen bei allen 16 Landesjustizministerien im Juli 2004. 30 So auch der 10. Kinder- und Jugendbericht, vgl. BT-DrS 13/11368, S. 274 f.; siehe in diesem Zusammenhang den „Kapuzenkordel-Fall“ über die Aufsichtspflicht von Erzieherinnen auf dem Außengelände bei Kindern im Krippenalter (Urteil des AG Hamburg-Harburg v. 1.2.2000, aufgehoben in zweiter Instanz vom LG Hamburg am 13.9.2000, beide Entscheidungen besprochen bei Ollmann, ZfJ 2004, 2 ff.), sowie den „Freigängerfall“ (BGHSt 49, 1 ff.), in dem es um die Strafbarkeit von Ärzten einer psychiatrischen Klinik wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen aufgrund der Gewährung von Lockerungen gegenüber einem Untergebrachten ging. 31 In diesem Zusammenhang sei auf die in dem im Bundesrat eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich“ (KEG) vorgeschlagenen Regelungen zur Kostendämpfung in der Kinder- und Jugendhilfe hingewiesen, die u. a. eine stärkere Kostenbeteiligung von Eltern bei Hilfen zur Erziehung beinhalten (vgl. BR-DrS 712/04). 32 Siehe den Fall „Vanessa“, erläutert in Teil 1 unter A. V., in dem das AG Mönchengladbach in seinem Urteil vom 9.3.2004 (Az. 13 Cs 343/03; abrufbar unter http:// www.justiz.nrw.de) meint: „Dies lässt zumindest die Vermutung nicht für ausgeschlossen erscheinen, der Angeklagte sei bei seiner Entscheidung einzugreifen und direkt oder indirekt tätig zu werden oder nicht, von dieser Problematik nicht frei gewesen.“ Interessant auch die Meldung des AGSP, abrufbar unter http://www.agsp.de/html/ n127.html, wonach in Jugendämtern die Order ausgegeben wurde, dass aus Kostengründen Fremdunterbringungen nur noch im Fall von Lebensgefahr erwogen werden sollten. Siehe zudem Fieseler in ZfJ 2004, 179 f.: „So berichtete mir gerade Manfred Busch von einem Fall, der sich in Sachsen ereignet hat: Obwohl Nachbarn das Jugend-

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Einleitung

In diesem Zusammenhang haben Rechtsprechung und Literatur auch eine mögliche Ausweitung der Problematik mit Blick auf potentielle Angeklagte ausgemacht: So monierte ein Gericht in einem obiter dictum, primär seien die für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Jugendhilfe Verantwortlichen für Versäumnisse bei der Betreuung von „Problemfamilien“ zur Verantwortung zu ziehen.33 Die Diskussion um die dogmatische Begründbarkeit einer strafrechtlichen Verantwortung der in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten sollte angesichts dessen nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die wenigen Verurteilungen, die dabei verhängten relativ milden Strafen sowie die geringe Wahrscheinlichkeit einer Anklage abgetan werden. Vielmehr erscheint eine eingehende Betrachtung der strafrechtlichen Risiken in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe angebracht, die sämtliche darin involvierte Berufsgruppen beleuchtet, und die die als Reaktion auf die bisherigen Verurteilungen zu begreifenden Handlungsempfehlungen auf ihre Tauglichkeit zur Risikominimierung unter die Lupe nimmt. Zu betonen ist jedoch, dass nicht unternommen werden soll, die eigene – laienhafte – Ansicht zur fachlichen „Richtigkeit“ von Entscheidungen im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdungen an die Stelle ausgebildeter Sozialpädagogen zu setzen. Auch soll es nicht um die – in der Praxis häufig als problematisch erachtete – Zusammenarbeit der verschiedenen, in Fälle von Kindeswohlgefährdung involvierten Professionen gehen.34 Vielmehr soll sich die

amt alarmiert hatten, sind dort zwei von ihrer Mutter tagelang nicht versorgte Kleinkinder beinahe ums Leben gekommen, weil das Jugendamt nichts, auch keinen Hausbesuch unternahm. Dies angeblich auch, weil nicht genug Personal vorhanden gewesen sei.“ Weiter berichtet er, er habe erfahren, dass im Fall der Tötung von zwei Jungen durch ihren Vater „leitende Mitarbeiter“ gegenüber Reportern eingeräumt hätten, dass nicht jeder angezeigten Gewaltbereitschaft von Vätern nachgegangen werden könne, und der begleitete Umgang, den die Mutter gefordert hatte, würde „Geld kosten“. Vgl. schließlich auch den Artikel „Spandau kann sich Heimkinder nicht mehr leisten“ im Tagesspiegel vom 3.6.2005 sowie den in der Berliner Morgenpost vom 22.8.2005: „Hartz IV statt Jugendhilfe – Senat will Heimunterbringung, Krisenberatung und Familienunterstützung weiter drastisch kürzen“. 33 LG Osnabrück NStZ 1996, 437 = ZfJ 1996, 527 (Fall „Laura Jane“); dem zust. Oehlmann-Austermann, ZfJ 1997, 57 f.; zugunsten einer möglichen Strafbarkeit argumentiert auch Mörsberger in „. . . und schuld ist“, S. 95 sowie ders. in Wiesner, SGB VIII, § 50 Rn. 104. 34 Umfassend zu diesem Themenkomplex Goldstein/Freud/Solnit/Goldstein, Das Wohl des Kindes; exemplarisch in diesem Zusammenhang das Streitgespräch zwischen Salgo und Mörsberger in: Wächteramt und Jugendhilfe, S. 17 ff. sowie dasjenige in SOS-Kinderdorf e. V., Hilfe und Kontrolle, S. 21 ff. Vgl. auch Mörsberger in: Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 87: „. . . Die Art und Weise, wie in erster Instanz durch Staatsanwaltschaft und Gericht diese Fragen angegangen worden sind, das war ein Unding, mit der Rolle der Strafjustiz in unserem Staate nur schwer vereinbar (. . .) Da ist Grenzüberschreitung passiert.“

B. Gang der Untersuchung

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vorliegende Arbeit auf die strafrechtliche Würdigung der Fallkonstellationen beschränken. Dabei soll zugleich der von Hans-Jörg Albrecht in dem als Reaktion auf die tragischen Ereignisse in der Saarbrücker Tosa-Klause zu begreifenden Memorandum getroffenen provokanten Aussage nachgegangen werden, Strafverfahren gegen fallbetreuende Sozialarbeiter folgten keinen juristisch-rationalen, sondern kriminalpolitischen Erwägungen.35

B. Gang der Untersuchung Im Lichte dieser Vorüberlegungen bietet sich folgende Vorgehensweise an: Im ersten Teil der Arbeit sollen die rechtsdogmatischen Grundlagen der Kinderund Jugendhilfe herausgearbeitet werden. Zunächst werden die bislang ergangenen, wegweisenden Urteile zur Strafbarkeit von Jugendamtsmitarbeitern und die diesen zugrunde liegenden Sachverhalte dokumentiert, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder zurückgegriffen werden wird. Im Anschluss daran sollen die grundgesetzlichen Regelungen, namentlich der Dreiklang von Elternrecht, Kindeswohl und staatlichem Wächteramt in Art. 6 Abs. 2 und 3 GG sowie dessen einfachgesetzliche Ausprägungen im BGB und SGB VIII aufgezeigt werden. Im Zusammenhang hiermit werden die aktuellen Reformen erläutert. Der zweite Teil betrachtet zunächst das Strafbarkeitsrisiko der Jugendamtsmitarbeiter in Deutschland36, wobei mit den fallzuständigen Mitarbeitern „an der Basis“ begonnen werden soll. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf dem fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt, also auf einem „Schnittpunkt, an dem sich zahlreiche Dogmen über Fahrlässigkeit und Unterlassung treffen und bewähren“ müssen.37 Dem werden jeweils einige Ausführungen zum vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt nachfolgen.38 35 Siehe H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 193; zust. Meysen/Schindler, JAmt 2004, 465. Ähnlich auch Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 1: „Das (gemeint ist die unterschiedliche Entscheidungspraxis der mit dem Thema befassten Gerichte, Anm. nicht im Original) macht deutlich, dass die Strafjustiz über keine objektiven allgemein anerkannten Kriterien zur Beurteilung des Verhaltens von Sozialarbeiter/innen verfügt.“ 36 Einen Überblick über die Strafbarkeitsrisiken dieser Profession in anderen europäischen Staaten (Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Schweden, England und Schottland) bietet H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 213 ff. 37 So Struensee, JZ 1977, 217. 38 Zwar ist es theoretisch denkbar, dass ein Sozialarbeiter die Schädigung des Kindes der von ihm betreuten Familie billigend in Kauf nimmt und damit nach der heute herrschenden Ansicht (vgl. Wessels/Beulke, Rn. 220 m.w. N.) mit dolus eventualis,

42

Einleitung

Inhaltliche Schwerpunkte der Untersuchung bilden vor allem die Frage nach der Existenz einer Garantenstellung und den daraus folgenden Garantenpflichten, nach der (möglichen) Rechtfertigung sowie verschiedene Irrtumsprobleme. Speziell im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeit spielen überdies Probleme bei der Ermittlung des Maßstabs der anzuwendenden Sorgfalt sowie der Justitiabilität des Verhaltens der Exekutive durch die Judikative bei einem verwaltungsrechtlichen Beurteilungsspielraum, Fragen des rechtmäßigen Alternativverhaltens sowie des vorsätzlichen Dazwischentretens eines Dritten und Aspekte der objektiven Zurechnung bei der Abhängigkeit des Rettungsgeschehens vom Verhalten dritter Personen eine Rolle. Außer Acht gelassen wird eine mögliche Strafbarkeit wegen echter Unterlassungsdelikte. Neben der Verantwortlichkeit der fallzuständigen Sozialarbeiter soll auch das strafrechtliche Risiko ihrer Kollegen im Jugendamt untersucht werden, wenn diese Informationen über die „Problemfamilie“ von Dritten erlangen, bzw. sofern sie an Teamberatungen, Hilfeplangesprächen nach § 36 SGB VIII oder neuerdings an Risikoeinschätzungen nach § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII teilnehmen oder dem fallzuständigen Sozialarbeiter einen Rat erteilen. Hierbei wird jeweils nur das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt untersucht. Probleme treten insoweit neben der Frage nach einer Garantenstellung vor allem bei der Ermittlung der (Quasi-)Kausalität auf. Außerdem soll geprüft werden, inwiefern die Dienstvorgesetzten Gefahr laufen, wegen fahrlässigen unechten Unterlassens angeklagt zu werden, wenn sie auf Organisationsmängel in ihrem Verantwortungsbereich nicht oder nur unzureichend reagieren. Hier wird vor allem eine Garantenstellung zum Schutz der Rechtsgüter des Kindes, aber auch eine solche im Hinblick auf das Verhalten der Untergebenen zu untersuchen sein. Überdies wird deren Strafbarkeitsrisiko wegen der Erteilung einer rechtswidrigen Dienstanweisung, also wegen eines aktiven Tuns, untersucht werden. Im dritten Teil der Arbeit sollen die strafrechtlichen Risiken der für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlichen Personen (z. B. Landräte, Bürgermeister sowie Mitglieder des Jugendhilfeausschusses) eruiert werden, die darin bestehen könnten, dass es bei der Finanzplanung unterlassen wurde, ausreichende finanzielle bzw. personelle Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Funktionsfähigkeit der Jugendhilfe zu gewährleisten. Hierbei tritt aufgrund der Tatsache, dass diese Personen nicht unmittelbar mit der „Problemfamilie“ in also bedingtem Vorsatz, agiert. Soweit ersichtlich wurde bis jetzt jedoch noch kein wegen einer vorsätzlichen Tat angeklagter Sozialarbeiter (vgl. den Fall „Tanja“, erläutert in Teil 1, A. III.) rechtskräftig verurteilt. Gegen eine derartige Verurteilung wird meistens auch die Schwierigkeit des Vorsatznachweises sprechen. Die Ausführungen hierzu sollen daher relativ knapp ausfallen.

B. Gang der Untersuchung

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Kontakt getreten sind, das Problem der Herleitung einer Garantenstellung in noch viel größerem Maß auf als bei den Jugendamtsmitarbeitern und deren Vorgesetzten. Zudem spielen Fragen der objektiven Zurechnung eine Rolle. Die Arbeit wird sich aber nicht auf die Beschäftigten des Jugendamts bzw. ASD und auf die für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Verantwortlichen beschränken, sondern im vierten Teil auch die Situation der Mitarbeiter der „freien Jugendhilfe“ betrachten. Die Ausführungen werden sich hierbei auf deren in der Praxis häufiges Tätigwerden im Rahmen einer sozialpädagogischen Familienhilfe nach § 31 SGB VIII beschränken. Dabei wird abermals die Frage nach dem Bestehen einer Garantenstellung und dem Umfang hieraus resultierender Garantenpflichten relevant, wie auch diejenige nach dem Maß der anzuwendenden Sorgfalt und nach der objektiven Vermeidbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs vor dem Hintergrund der Abhängigkeit des Kinderschutzes vom Rettungsverhalten Dritter. Schließlich ist auch hier zu untersuchen, ob die Leitungsverantwortlichen des freien Trägers sich strafbar machen können. Zwar wird vereinzelt zusätzlich eine Anklage der Familienrichter gefordert39, welche „Anträge“40 der fallzuständigen Sozialarbeiter nach § 1666 BGB womöglich abschlägig beschieden und somit einen Entzug des elterlichen Sorgerechts verweigert haben. Auf den ersten Blick erscheint daher auch eine Betrachtung ihres Strafbarkeitsrisikos interessant. Indes wäre eine solche Untersuchung aufgrund des in § 339 StGB verankerten „Richterprivilegs“41 ein pures dogmatisches Glasperlenspiel, das jeglicher praktischer Relevanz entbehren würde und daher unterbleiben soll.42 39 In diesem Sinne Frings, JWohl 1997, 179 f.; Kunkel, ZfSH/SGB 2001, 135; ders., LPK-SGB VIII, § 50, Rn. 16 (der aber die Existenz des § 339 StGB konzediert); Ruffing in: „. . . und schuld ist“, S. 26; Wiesner in: „und schuld ist“, S. 23; aA Mörsberger, „. . . und schuld ist“, S. 92. 40 Genaugenommen handelt es sich bei diesen „Anträgen“ um bloße „Anregungen“, da im Rahmen von § 1666 BGB der Amtsermittlungsgrundsatz herrscht (vgl. § 12 FGG). 41 Kritisch hierzu Mörsberger, Wächteramt und Jugendhilfe, S. 137, der es „unerträglich“ findet, dass das Familiengericht ähnliche Funktionen wie das Jugendamt ausübt, aber trotzdem strafrechtlich grundsätzlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Zum Richterprivileg im Zusammenhang mit dem Parallelfall der Haftung psychiatrischer Sachverständiger im Strafverfahren Krauß, StV 1985, 513. 42 Unzutreffend daher das LG Osnabrück (abgedruckt in ZfJ 1996, 527 sowie in Bringewat, Tod eines Kindes, S. 142 ff. und Mörsberger/Restemeier (Hrsg.) Helfen mit Risiko, S. 109 ff.) im Fall „Laura Jane“, das in seinem Urteil ausführt, wenn § 1 SGB VIII eine garantenpflichtbegründende Norm wäre, „. . . würde dies bedeuten, dass er (der Richter, Anm. nicht im Original) die volle Verantwortung auch strafrechtlich trägt, sofern er entgegen dem Antrag des Jugendamts Maßnahmen ablehnt und Kinder dadurch Schaden erleiden.“ Das Richterprivileg scheint auch Wiesner, „. . . und schuld ist“, S. 23 zu übersehen. Bohnert, ZStW 117 (2005), 317, Fn. 98 führt das Richterprivileg des § 839 Abs. 2 BGB an, das jedoch nicht weiterführt. Die entscheidende Frage lautet, ob sich der Richter einer Straftat schuldig macht – und das schließt § 339 StGB grundsätzlich aus, solange bei der Entscheidung keine Rechtsbeugung vorge-

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Einleitung

Unabhängig davon, ob die strafrechtliche Ahndung von Unterlassungen in der Kinder- und Jugendhilfe für rechtlich zustimmungswürdig erachtet wird, kann angesichts der ergangenen Urteile die Existenz eines Risikos für die fallzuständigen Sozialarbeiter, Beschuldigte eines Strafverfahrens zu werden, heutzutage nicht verhehlt werden. Als Reaktion auf die bisherigen Gerichtsprozesse sind daher von verschiedenen Seiten Handlungsempfehlungen für die Kinder- und Jugendhilfe verfasst worden.43 Ob diese tauglich sind, das Strafbarkeitsrisiko zumindest merklich zu reduzieren oder ob sie – wie z. T. in der Praxis befürchtet wird44 – sogar die Strafbarkeitsrisiken vergrößern, soll neben der Frage, ob in den bislang ergangenen Urteilen rechtlich nachvollziehbare Ergebnisse erzielt wurden, Gegenstand des fünften Teils der Untersuchung sein, in dem zudem die wesentlichen Erkenntnisse der vorangegangenen Teile zusammengefasst werden.

C. Ziele der Arbeit Wenn man das Risiko der in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten, wegen eines fahrlässigen unechten Unterlassungsdeliktes angeklagt zu werden, näher untersucht, so stößt man unausweichlich auf eine schier unerschöpfliche Vielzahl ungeklärter Fragestellungen. Die dabei geführten Kontroversen beschränken sich nicht auf das Strafrecht, sondern betreffen auch das Öffentliche Recht und das Zivilrecht. Bei den hier behandelten Problemen wirken einerseits Fragen des Verfassungsrechts, des Kinder- und Jugendhilferechts, des Kommunalrechts sowie des Rechts des öffentlichen Diensts bzw. des Beamtenrechts auf die Lösung ein, andererseits spielen auch Aspekte des Familienrechts sowie des Zivilprozessrechts und der Freiwilligen Gerichtsbarkeit eine Rolle. Angesichts dieser „Problemgemengelage“ kann es in der vorliegenden Arbeit nicht darum gehen, jede einzelne sozial- beziehungsweise strafrechtliche Fragestellung erschöpfend zu behandeln. Vielmehr sei diesbezüglich auf die zahl-

nommen wurde (zur Sperrwirkung des § 339 StGB Kindhäuser, LPK-StGB, § 339, Rn. 14). 43 Beispielhaft seien hierfür die „Empfehlungen des Deutschen Städtetages zur Festlegung fachlicher Standards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls“, ohne die dazugehörigen Anlagen u. a. abgedruckt in ZfJ 2004, 187 sowie im Anhang dieser Arbeit, oder das in JAmt 2003, 561 vorgestellte „Leipziger Schutz- und Kontrollkonzept“ genannt. 44 Siehe die dem DIJuF-Rechtsgutachten in JAmt 2005, 231 zugrunde liegende Anfrage: „Der Fachbereich Jugendhilfe im JA Y erarbeitet Standards im Handlungsfeld Kindeswohlgefährdung. Der Widerstand zahlreicher Mitarbeiter/innen in den Sozialen Diensten gegen solche Standardisierungen ist groß. Es wird die Meinung vertreten, mit standardisierten Bögen würde es dem Staatsanwalt ggf. leichter fallen, eine/n Sozialarbeiter/in auf die Anklagebank zu bringen.“

C. Ziele der Arbeit

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reichen Monographien verwiesen, die dem Leser im Zusammenhang mit den jeweils diskutierten Einzelproblemen an die Hand gegeben werden. Zudem resultiert der fragmentarische Charakter der Arbeit aus dem Umstand, dass es nicht „die“ Betreuung einer „Problemfamilie“ durch „die“ Jugendhilfe gibt. Dies liegt zum einen daran, dass die Jugendämter zum Teil abweichende Organisations- und Entscheidungsstrukturen aufweisen, und zum anderen ist dies dem Umstand geschuldet, dass zwischen den beteiligten Institutionen bei einer Kindeswohlgefährdung – dem Jugendamt, dem Familiengericht, den freien Trägern – lokal unterschiedlich ausgeprägte Formen der Zusammenarbeit existieren. Das Ziel besteht daher einerseits darin, den in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten, die mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen – unmittelbar oder mittelbar – befasst sind, eine – soweit ersichtlich – bislang einmalige Zusammenschau der ihnen zufallenden strafrechtlichen Risiken anhand „typischer“ Konstellationen zu bieten, wobei die anfangs dokumentierten Fälle eine gewisse Orientierung ermöglichen. Andererseits soll den zur Strafrechtspflege Berufenen umfassend Zeugnis über das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt und die damit zusammenhängenden dogmatischen Kontroversen anhand des Tätigkeitsfelds Sozialarbeit im Kontext von Kindeswohlgefährdungen abgelegt werden. Dabei wird auch erstmals vertieft darauf eingegangen, welchen Beitrag die Empfehlungen des Deutschen Städtetages zur Risikominimierung zu leisten vermögen und welche Auswirkungen die aktuellen Reformen im Kinder- und Jugendhilferecht auf die Strafbarkeit wegen eines fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts zeitigen.

Teil 1

Rechtsdogmatische Grundlagen A. Falldokumentationen Da sich die bislang veröffentlichte Literatur im wesentlichen darauf beschränkt, den ergangenen Urteilen zuzustimmen bzw. diese zu kritisieren, sollen vor der Darstellung der Grundlagen des Kinder- und Jugendhilferechts und der Prüfung der Strafbarkeitsrisiken der einzelnen in der Jugendhilfe beschäftigten Personengruppen zunächst die fünf bekanntesten Fälle und die Entscheidungen der einzelnen Instanzen kurz erläutert werden.1 Um zu verdeutlichen, dass die Verfolgungspraxis seitens der Strafverfolgungsorgane sehr unterschiedlich ist, wird anschließend ein Fall dokumentiert, in dem keine Anklage erging.

I. Der Fall „Laura Jane“2 Bei dem Prozess um den Tod der sechs Monate alten Laura Jane wegen Unterernährung handelt es sich – soweit ersichtlich – um den ersten3 in Deutschland bekannt gewordenen Fall, in dem sich eine Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe neben der Mutter selbst vor Gericht zu verantworten hatte. Er führte zu einem großen Echo in der sozialpädagogischen wie juristischen Fachwelt.4

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Weitere Fälle nennen Busch, UJ 2002, 83 sowie Frings, JWohl 1997, 174 f. In einigen Veröffentlichungen, wie z. B. bei Fieseler, UJ 2001, 433, 436; ders., ZfJ 2004, 177 sowie bei H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 193 f., wird das Kind Lydia (Troost) genannt. Während Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 75, Fn. 9 diesen Namen für den offenbar richtigen halten, lassen Mörsberger/Restemeier, die das Kind ebenso nennen, die Frage offen und begnügen sich in ihrer Dokumentation „Helfen mit Risiko“ auf S. 5 in Fn. 1 mit dem Hinweis, dass sie „als Regelfall“ eine Namensveränderung vorgenommen hätten. Unabhängig von der Frage nach dem wahren Namen des Kindes soll es hier mit dem in der Öffentlichkeit bekannteren Namen Laura Jane bezeichnet werden. 3 Auch Mörsberger (im Interview mit Jäger, Jugendhilfe 2000, 228) und Wiesner, ZfJ 2004, 167 meinen, vor diesem Fall habe es so gut wie keine vergleichbaren Strafverfahren gegeben; s. a. Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Soziales und Familie, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit der „Garantenstellung“ des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung, S. 6 („Ausgangspunkt für die Debatte zur ,Garantenstellung‘ des Jugendamtes“). 2

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1. Sachverhalt Laura Jane wurde am 15.10.1993 als zweites Kind ihrer alleinerziehenden Mutter geboren. Die Familie hatte bereits vor der Geburt Bekanntschaft mit der später angeklagten Sachbearbeiterin des ASD und Jugendamts der Stadt Osnabrück gemacht. Im Verlauf der Betreuung wurden erfolglos verschiedene Hilfsangebote zur Organisation des Haushalts und Versorgung des erstgeborenen Sohnes unterbreitet. Im Oktober 1993 erhielt die Sozialarbeiterin Mitteilungen von Nachbarn der Familie, sie hätten während des entbindungsbedingten Krankenhausaufenthalts der Mutter die unglaublich verschmutzte Wohnung gesäubert. Auch wurde der späteren Angeklagten von einer Kollegin zugetragen, dass sich der Vater des Kindes über die mangelnde Haushaltsführung und einen wunden Po des erstgeborenen Sohnes Peter5 beschwert habe. Auf diese Tatsachen von der Sozialarbeiterin angesprochen, meinte Laura Janes Mutter, dies sei auf Probleme in der Schwangerschaft zurückzuführen. In der Folge erhielt die Sozialarbeiterin immer wieder von verschiedenen Seiten (Onkel der Kinder, dessen Lebensgefährtin, Nachbarn) Mitteilungen, dass die Mutter mit dem Haushalt bzw. mit der Pflege des Erstgeborenen überfordert sei. In Aktenvermerken führte die spätere Angeklagte diese Benachrichtigungen auf versteckte Konflikte zurück und erachtete die geäußerten Sorgen als vorgeschoben. Sie hielt regelmäßigen Kontakt mit der Mutter und bot dabei stets Hilfe an. Am 13.3.1994 kam Laura Jane ins Krankenhaus. Die Mutter begründete die mit Fieber verbundene, großflächige6 und von Pilzbefall begleitete Windeldermatitis des Kindes mit dem Gebrauch einer ungeeigneten Windel. Sie meldete sich bei der Sachbearbeiterin und erklärte sich mit dem Einsatz der kurz zuvor angebotenen Familienhilfe einverstanden. Der behandelnde Arzt kontaktierte die Angestellte des Jugendamts ebenfalls. Er vermutete die Ursache für die Leiden des Kindes hingegen in einer über längere Zeit unzureichenden Pflege und äußerte den Verdacht, die Mutter sei überfordert. Außerdem informierte er sie über zahlreiche anonyme Anrufer im Krankenhaus, die von der Vernachlässigung der Kinder berichtet hätten. Die spätere Angeklagte teilte der Mutter am Folgetag sowohl die Vorwürfe der Anrufer als auch die Tatsache mit, dass ab 4 Aus der Flut der Veröffentlichungen seien nur die zwei umfassendsten herausgegriffen: Bringewat, Tod eines Kindes, der ab S. 116 die zu dem Fall ergangenen Entscheidungen dokumentiert, sowie Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, die u. a. neben einem Abdruck der Anklageschrift (S. 19 ff.) die angeklagte Sozialarbeiterin (S. 179 ff.) zu Wort kommen lassen und Teile des in erster Instanz durch den Sachverständigen Schrapper erstatteten Gutachtens (S. 22 ff.) anführen. 5 Name nach Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 55. 6 Die Dermatitis reichte von den Kniekehlen bis zu den Achseln.

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April eine sozialpädagogische Familienhilfe beim Sozialdienst katholischer Frauen angestellt werde, die möglicherweise bei ihr eingesetzt werden könne. Auf die Frage, wie es zur Zeit im Haushalt aussehe, antwortete die Mutter, dieser sei „ein Schlachtfeld“. Die Sachbearbeiterin überzeugte sich davon mit eigenen Augen und räumte zusammen mit der Mutter notdürftig auf. In der Folge äußerte die Großmutter der Kinder gegenüber der Sozialarbeiterin, man solle ihrer Tochter die Kinder wegnehmen, weil sie diese nicht adäquat ernähre. Zwischen dem Laura Jane im Krankenhaus betreuenden Arzt, der Sachbearbeiterin sowie der Kindesmutter fand am 23.3.1994 ein Gespräch statt. Letzterer wurden dabei die korrekte Pflege des Kindes und Hilfemöglichkeiten aufgezeigt. Außerdem betonte der Arzt, Laura Jane benötige eine täglich mindestens zweistündige Körperpflege durch eine Fachkraft, die bis zum „Hineinschauen in die Windel“ reichen müsse. Die Frage an die Sachbearbeiterin, ob sie sich kümmern werde, wurde von dieser bejaht. Sie erklärte, ab dem 1.4.1994 stünde eine sozialpädagogische Familienhilfe zur Verfügung. Unmittelbar nachdem das Kind aus dem Krankenhaus entlassen worden war, suchte die spätere Angeklagte das Gespräch mit der Mutter. Sie machte dabei klar, dass der chaotische Haushalt und die unzureichende Versorgung der Kinder deren Wohl erheblich gefährdet hätten und dass dies nicht ein zweites Mal vorkommen dürfe. Auf die Tätigkeitsfelder der sozialpädagogischen Familienhilfe angesprochen, meinte die Mutter, sie benötige „einen Tritt in den Hintern“. Die Sozialarbeiterin besprach den Fall mit ihrer Kollegin, und beide kamen zu dem Schluss, dass die sozialpädagogische Familienhilfe notwendig sei. In der Folge wurde ein entsprechender Kontakt hergestellt. Dabei forderte die Sachbearbeiterin jedoch nicht die dem Arzt versprochene zweistündige Pflege des Kindes. Am 19., 21., 22., 26. und 29.4.1994 besuchte die Familienhelferin die Familie. Im Vordergrund stand dabei die Organisation des Haushalts. Die Sachbearbeiterin des Jugendamts hatte sich am 22.4.1994 bei der Familienhelferin nach dem Verlauf der Betreuung erkundigt und erfahren, dass diese gut angelaufen sei. Eine Woche danach fuhr sie in den Urlaub. Am 2.5.1994 scheiterte ein von der Familienhelferin und der Mutter geplanter Arztbesuch daran, dass letztere die Tür nicht öffnete. Auch am Folgetag öffnete niemand. Nachdem die Mutter auch an dem Ausweichtermin drei Tage später nicht angetroffen worden war, hinterließ die Familienhelferin eine Nachricht, es müsse über die Zusammenarbeit geredet werden. Am 7.5.1994 wurde der Notarzt gerufen, der Laura Janes Tod feststellte.

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2. Entscheidungen a) Urteil des AG Osnabrück7 Das erstinstanzlich zuständige Amtsgericht – Schöffengericht – Osnabrück folgte der Anklage8 und erachtete die Sozialarbeiterin trotz eines entlastenden Sachverständigengutachtens9 der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) für schuldig. Es verwarnte sie nach § 59 Abs. 1 StGB und behielt sich die Verurteilung zu einer Geldstrafe in Höhe von 180 Tagessätzen zu je 80 DM vor. Außerdem sollte die Sozialarbeiterin 7500 DM als Bußgeld an das Kinderdorf Paderborn zahlen.10 b) Urteil des LG Osnabrück11 Auf die Berufung der Angeklagten hin sprach die siebente Strafkammer des LG Osnabrück sie frei. Es verneinte eine Garantenstellung der in der Kinderund Jugendhilfe Beschäftigten und attestierte hilfsweise ein Handeln innerhalb der Grenzen des verwaltungsrechtlichen Beurteilungsspielraums, welches einer Nachprüfung durch das Gericht entzogen sei. c) Urteil des OLG Oldenburg12 Die Staatsanwaltschaft legte gegen diesen Freispruch erfolgreich Revision ein.13 Der erste Strafsenat des OLG Oldenburg hob daraufhin das Landgerichtsurteil – soweit es die Ausführungen zur Garantenstellung betraf – auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts zurück. Er war der Ansicht, dass Sozialarbeiter sehr wohl Garanten seien.

7 Urteil v. 17.5.1995, Az 5 Ls 11 Js 17617/94 (II 27/95); abgedruckt bei Bringewat, Tod eines Kindes, S. 116 ff. sowie Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 54 ff. 8 Auszüge der Anklageschrift vom 23.12.1994 bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 19 ff. 9 Teile des von Schrapper erstellten Gutachtens abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 22 ff. 10 So Lahmann-Lammert, Sozialmagazin 1995, 52 f. 11 ZfJ 1996, 524 = NStZ 1996, 437 ff. m. abl. Anm. Bringewat = FamRZ 1996, 1376 ff.; i. E. zust. Anm. durch St. Cramer, NStZ 1997, 238 f. 12 NStZ 1997, 238 = StV 1997, 133 mit i. E. zust. Anm. Bringewat = FamRZ 1997, 1032; zust. auch Oehlmann-Austermann, ZfJ 1997, 55 ff. 13 Antrag der Staatsanwaltschaft vom 20.5.1996, wiedergegeben bei Mörsberger/ Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 137 ff.

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d) Beschluss des LG Osnabrück14 Mit Zustimmung der Angeklagten, ihres Verteidigers sowie der Staatsanwaltschaft wurde das Verfahren schließlich nach § 153 II StPO eingestellt.15 Dieser Umstand wurde durch die (Fach)Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet. Während einige hierin de facto die Einräumung einer Schuld durch die Sozialarbeiterin sahen16, hielten andere die Einstellungsverfügung für einen „Quasi-Freispruch“.17

II. Der Fall „Jenny“18 Der Prozess um den Tod der zweieinhalbjährigen Jenny aus Stuttgart versetzte die Fachwelt abermals in Aufruhr.19 1. Sachverhalt Jenny wurde am 30.9.1993 in Lüneburg als Kind einer Mutter geboren, die aufgrund einer in der Kindheit erlittenen Hirnhautentzündung mit einem an der Grenze zur Debilität rangierenden Intelligenzquotienten von 55 ausgestattet war. Bereits im Krankenhaus erkannte das Pflegepersonal, dass die junge Frau mit der Betreuung des Kindes überfordert war, und informierte das zuständige Jugendamt. Nachdem die Kleinfamilie zunächst im Schwangerenwohnheim verblieben war, einigte man sich darauf, dass eine Kinderpflegerin bei der täglichen Versorgung des Kindes zur Seite stehen sollte, was in der Folgezeit auch erfolgreich praktiziert wurde. Indes war die Mutter bei Abwesenheit der Kinder14 Beschluss v. 11.12.1996, Az 22 Ns (IV 133/96), abgedruckt bei Mörsberger/ Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 150. 15 Zweifel an der Erfüllung der Voraussetzungen für eine Einstellung hegt Bringewat, Tod eines Kindes, S. 162 f.; aA H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 194: „(. . .) unter diesen Bedingungen wohl das Klügste“. 16 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 163; ders., Wächteramt und Jugendhilfe, S. 119; ders., StV 1997, 133. 17 Mörsberger bei Jäger, Jugendhilfe 2000, 228; ders., Wächteramt und Jugendhilfe, S. 29; Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 6; dagegen Salgo, Wächteramt und Jugendhilfe, S. 17; s. auch Neue Osnabrücker Zeitung v. 20.12.1996: „Freispruch“ (abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 151); Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 2. 18 Umfassende Dokumentation des Falls bei Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 77 ff.; vgl. auch den Kurzbericht von H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 194 f.; Alexander, sozialextra 2000, 12 f. sowie Friedrichsen, DER SPIEGEL, 39/1999, S. 90 ff. 19 Stellungnahmen zu dem Verfahren u. a. bei Binschus, ZfF 2000, 55 ff.; Mörsberger, LJA-Info Hessen 2000; Pilz, sozialextra 2001, 38 ff.; vgl. auch den Bericht über den Prozess bei Gericke, EJ 1999, 309 ff.

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pflegerin mit der Betreuung ihrer Tochter heillos überfordert.20 In einem dieser Momente schlug sie Jenny so heftig, dass diese mehrere Tage stationär behandelt werden musste. Als sich die körperlichen Übergriffe (u. a. Bisse) auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus fortsetzten, wurde Jenny zwischenzeitlich nach § 43 SGB VIII a. F. in einer Pflegefamilie untergebracht. Eine psychiatrische Untersuchung der Mutter, die infolge der Misshandlungen stattfand, ergab, dass es ihr neben der Intelligenz auch an Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse ihres Kindes mangelte. Als die Leiterin des Schwangerenwohnheims gegenüber dem Sozialarbeiter anregte, Jennys Mutter das Sorgerecht entziehen zu lassen, erklärte dieser ihr gegenüber, eine Sorgerechtsentziehung sei nur mit Einwilligung der Mutter denkbar. Die Trennung der Kleinfamilie wegen der Maßnahme nach § 43 SGB VIII a. F. endete, als man der Mutter einen Platz im Stuttgarter Weraheim anbot, einer Einrichtung, die eine ständige Betreuung gewährleisten konnte, und sie dieses Angebot im März 1994 annahm. Die Mutter zog mit ihrem Kind nach Stuttgart. Ein „Übergabegespräch“ zwischen dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter aus Lüneburg und dem Leiter des Weraheims bzw. eines Sozialarbeiters des Jugendamts in Stuttgart, bei dem die Vorgeschichte der Familie, insbesondere die Misshandlungsproblematik, hätte erläutert werden können, fand nicht statt. Lediglich die Leiterin des Schwangerenwohnheims meldete sich bei der Heimleitung in Stuttgart und informierte über das vorangegangene Verhalten der Mutter. Eine Dokumentation dieser Informationen im Weraheim unterblieb jedoch. Die Familie lebte insgesamt zwei Jahre in dem Heim, das vom Diakonischen Werk, also einem freien Träger der Jugendhilfe betrieben wurde. Während des ersten Jahres wurde sie von einer Sozialarbeiterin betreut, die Kenntnis von erneuten Misshandlungen von Jenny erhielt. Als die Mutter einen Mann kennen lernte, wurde ihr erlaubt, diesen jedes zweite Wochenende zu besuchen. Auch der Lebensgefährte schlug das Kind. Im März 1995 fand im Weraheim ein Zuständigkeitswechsel statt. Jennys Mutter wurde nunmehr von einem männlichen Sozialarbeiter betreut. Seine ehemals für die Kleinfamilie verantwortliche Kollegin teilte mit, dass das Kind Bisswunden erlitten habe. Von Jennys Krankenhausaufenthalt infolge der Misshandlungen erfuhr er von anderen Behörden. Nachdem der Sozialarbeiter der Mutter einen Weihnachtsbesuch bei ihrem Lebensgefährten gestattet hatte, kehrte sie nicht mehr in die Einrichtung zurück, sondern erklärte, sie wolle dort bleiben.

20 Siehe dazu die Angaben im Urteil des OLG Stuttgart NJW 1998, 3133, wonach die Mutter ihr Kind gelegentlich achtlos ablegte, um sich Männern zuzuwenden, oder mit ihrem ungeschützten Kind im Eisregen spazieren ging.

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Da sie das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter besaß, konnte sie an ihrem Vorhaben nicht gehindert werden. In dem „Übergabegespräch“ zwischen dem Betreuer der Familie im Weraheim und der Sozialarbeiterin des nunmehr zuständigen Stuttgarter Jugendamts wurde verabredet, Jenny in einem Tagesheim unterzubringen. Bis ein entsprechender Platz gefunden wäre, sollte das Mädchen einstweilen bei der Mutter verbleiben. Hätte die Jugendamtsmitarbeiterin erfahren, welche Vorgeschichte die Mutter-Kind-Beziehung aufwies, hätte sie notfalls für eine sofortige Betreuung des Mädchens sorgen können. In der Folge wurde Jenny sowohl von ihrer Mutter als auch von deren neuem Lebenspartner misshandelt (u. a. durch Werfen an die Wand). Das Kind wurde im März 1996 einem befreundeten Paar zur Beaufsichtigung übergeben, das ebenfalls versuchte, es mit Gewalt zu beruhigen. Dabei wurde Jenny so schwer misshandelt, dass sie am 15.3.1996 ihren Verletzungen erlag. 2. Entscheidungen Nachdem das Paar, das dem Kind die tödlichen Verletzungen zugefügt hatte, zu acht bzw. drei Jahren Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge, Jennys Mutter zu zwei Jahren und zwei Monaten auf Bewährung wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und ihr Freund zu sieben Monaten auf Bewährung wegen Körperverletzung verurteilt worden waren, richtete sich das Augenmerk der Strafverfolgungsorgane auf die in den Fall involvierten Sozialarbeiter. a) Die Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart Zunächst wurde Anklage gegen den Sozialarbeiter aus Lüneburg erhoben, dem fahrlässige Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) zur Last gelegt wurde, weil er den Leiter des Weraheims in Stuttgart nicht über das Verhalten der Mutter im Vorfeld informiert hatte und trotz der gravierenden Verletzungen von Jenny keinen Antrag auf Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts beim (damals zuständigen)21 Vormundschaftsgericht gestellt hatte. Des Weiteren klagte die Staatsanwaltschaft den männlichen Betreuer des Stuttgarter Heims an. Ihm wurde fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 229, 13 StGB) vorgeworfen. Er hätte aus der Klientel seiner Einrichtung schließen müssen, dass es sich bei der Kleinfamilie nicht um einen „Normalfall“ handelte, und dies in dem „Übergabegespräch“ mit dem Jugendamt Stuttgart auch deutlich machen müssen, sodass eine sofortige Unterbringung in 21 Der Wechsel der sachlichen Zuständigkeit vom Vormundschafts- zum Familiengericht fand erst später im Zuge der Kindschaftsrechtsreform (in Kraft getreten zum 1.7.1998) statt.

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einer Ganztageseinrichtung hätte erfolgen können. Der Tod von Jenny sei für ihn jedoch nicht vorhersehbar gewesen, weil er keine Kenntnis von den Ergebnissen der psychiatrischen Untersuchung der Mutter besaß. Die Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaft richteten sich ursprünglich auch gegen andere Personen, darunter u. a. der Leiter des Jugendamts Stuttgart, der durch einen Zeugen beschuldigt wurde, bereits vor dem Tod des Kindes von dessen Misshandlungen erfahren zu haben, sowie die Leiterin des ASD Stuttgart.22 Diese Ermittlungen wurden Ende Juli 1997 jedoch eingestellt.23 b) Der Beschluss des LG Stuttgart Das Landgericht Stuttgart lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens zunächst ab, weil es Zweifel an der Pflichtwidrigkeit des Verhaltens der Beschuldigten hegte und daher den hinreichenden Tatverdacht (§ 203 StPO) verneinte. Daraufhin legte die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde (§§ 204, 210 Abs. 2 StPO) zum Oberlandesgericht Stuttgart ein. c) Der Beschluss des OLG Stuttgart 24 Diese Beschwerde hatte Erfolg, sodass das Hauptverfahren vor dem LG Stuttgart schließlich doch eröffnet wurde. Das OLG Stuttgart bestätigte die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung der Beschuldigten wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen und führte in seinem Beschluss aus, dass eine Garantenstellung nicht aus dem Gesetz, wohl aber aus der tatsächlichen Übernahme des Falls resultiere. d) Das Urteil des LG Stuttgart 25 Der Lüneburger Sozialarbeiter wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 70 DM verurteilt. Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen nach §§ 222, 13 StGB erging nicht. Auch wurde dem Angeklagten nur noch die unterbliebene 22

Siehe dazu Lehmann, EJ 1999, 304. Ausführungen über die Umstände der Ermittlungen bei Hörner, „. . . und schuld ist“, S. 55 ff.; Bericht über die Konsequenzen für die tägliche Arbeit (Festlegung von Mindeststandards, Arbeitshilfe zum Kinderschutz in Form einer Lose-Blatt-Sammlung, Stuttgarter Kinderschutzbogen etc.) durch den Jugendamtsleiter Pfeifle selbst in „Die Verantwortung“, S. 83 ff. 24 NJW 1998, 3131 = StV 1998, 659 = NStZ 1998, 572 = NVwZ 1998, 1221 = ZfJ 1998, S. 382 = EJ 1999, 303. 25 Urteil v. 17.9.1999, Az. 1 (15) KLs 114 Js 26273/96; zusammengefasst durch Lehmann, EJ 2000, 48 ff. 23

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Mitteilung über die Misshandlungen, nicht jedoch das Unterlassen eines Antrags beim Vormundschaftsgericht zur Last gelegt. Der Verurteilte legte gegen den Richterspruch zunächst Revision ein, nahm diese jedoch in der Folge zurück26 und machte damit die in der Fachwelt geäußerte Hoffnung auf eine höchstrichterliche Klärung der Rechtsfragen zunichte.27 Der Stuttgarter Sozialarbeiter wurde freigesprochen. Ihm wurde zugute gehalten, dass die Geschehnisse für ihn nicht vorhersehbar gewesen waren.

III. Der Fall „Tanja“ 28 Im Fall des Missbrauchs der dreizehnjährigen Tanja durch einen Bekannten der Mutter befassten sich die Strafgerichte mit der Verantwortlichkeit einer Sozialarbeiterin wegen Verletzung ihrer Fürsorgepflicht. 1. Sachverhalt Nachdem das Mädchen ihrer Lehrerin anvertraut hatte, sie werde von einem Bekannten der Mutter fortwährend sexuell missbraucht, alarmierte diese vor Beginn der Sommerferien telefonisch die zuständige Sozialarbeiterin. Sie erhoffte sich dabei ein unmittelbares Tätigwerden im sozialen Umkreis von Tanja. Statt dessen bot die Jugendamtsmitarbeiterin lediglich an, der Schule Informationsmaterial über den sexuellen Missbrauch von Kindern zukommen zu lassen. Auf die Bitte der Anruferin um konkrete Hilfe reagierte sie ablehnend. Sie erwiderte nur, man könne mit dem Kind beim Jugendamt vorbeikommen. Nachdem die Lehrerin das Gespräch verärgert abgebrochen hatte, beschränkten sich die Aktivitäten der Sozialarbeiterin auf die Anfertigung eines Aktenvermerks. Die Sommerferien verstrichen ohne weitere sexuelle Übergriffe auf Tanja, doch ihr Zustand verschlechterte sich im Oktober. Sie versuchte, sich nach einem erneuten Missbrauch (zum wiederholten Mal) das Leben zu nehmen. Erst danach vertraute sie sich einem Mitschüler an. Dessen Eltern erstatteten schließlich Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs. 2. Entscheidungen der Gerichte Während der mutmaßliche Täter aufgrund des Aussageverhaltens des Mädchens freigesprochen wurde, verurteilte das Amtsgericht die Sozialarbeiterin 26

So die Information von Bringewat, ZfJ 2000, 401, Fn. 5. Beispielhaft der Titel des Beitrags von Mörsberger in LJA-Info Hessen, 2000: „Jetzt aber bitte nach Karlsruhe!“ 28 Dokumentation des Falls bei Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 80 f. 27

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wegen der Verletzung ihrer Fürsorgepflicht (§ 170d Abs. 1 StGB a. F.) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Hiergegen legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung Berufung ein. Das LG verwarf die Berufung der Staatsanwaltschaft und sprach die Sozialarbeiterin frei. Gegen das Urteil legte die Staatsanwaltschaft erfolglos Revision ein. Das OLG Düsseldorf sah es als erwiesen an, dass die Kausalbeziehung zwischen dem Verhalten der Sozialarbeiterin und dem Missbrauch, hilfsweise jedoch der Vorsatz zur Verletzung der Fürsorgepflicht fehlte.29

IV. Der Fall „Dominic“ 30 1. Sachverhalt Dominic wurde im Juni 1998 als Kind einer heroinabhängigen Mutter in Leipzig geboren. Aufgrund der Drogensucht der Mutter und der Arbeitslosigkeit beider Elternteile kam es immer wieder zu erheblichen finanziellen Engpässen. Infolgedessen trat die Familie sowohl mit dem Sozial- als auch mit dem Jugendamt in Kontakt, um entsprechende Hilfen zu erhalten. Der Vater, der das für die Drogen benötigte Geld durch Diebstähle finanzierte, wurde Anfang des Jahres 2000 inhaftiert. Kurz zuvor waren zwar sowohl ein Nachbar und als auch die Tante des Kindes bei einem Mitarbeiter des Jugendamts vorstellig geworden und hatten eine mangelnde Fürsorge der Eltern gegenüber Dominic moniert. Als nach einem Fachteamgespräch im Jugendamt ein Hausbesuch durchgeführt wurde, wurde jedoch keine Gefährdung des Kindeswohls diagnostiziert. In der Folge übernahm eine Mitarbeiterin des Jugendamts Leipzig den Vorgang von ihrem Kollegen. Sie erfuhr im April 2000 von der Jugendgerichtshilfe, dass die Mutter mit ihrem Kind Drogen bei einem Dealer erwerbe und suchte noch am selben Tag die Wohnung der Familie auf. Dort war allerdings niemand anzutreffen. Als sie es drei Tage später erneut versuchte, öffnete ihr wiederum niemand. Auf ein Schreiben mit der Bitte um ein Gespräch im Mai 2000 reagierte die Mutter nicht. Im Juni 2000 erfuhr eine andere Sozialarbeiterin von der Großmutter des Kindes, die ebenfalls betreut wurde, dass Dominics Mutter wohl Drogenprobleme habe. Auf das Wohl des Kindes wirke sich das aber nicht aus. Sie – die 29

OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 199 = StV 2000, 554. Nach Hannemann, S. 227 ff., die aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten zitiert. Eine kurze Notiz zum Verfahrensausgang findet sich auch bei Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 11. 30

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Großmutter – habe jedoch kaum mehr Kontakt zu ihrer Tochter. Die Mitarbeiterin des Jugendamts hielt diese widersprüchlichen Angaben fest und leitete sie an die für Dominic zuständige Sachbearbeiterin weiter. Als Reaktion auf diese Erkenntnisse forderte diese die Mutter erneut schriftlich zu einem Gespräch im Jugendamt auf. Sie erhielt auch hierauf keine Antwort. Ab dem Zeitpunkt der Inhaftierung des Vaters musste Dominics Mutter selbst für die Finanzierung des Heroins sorgen. Sie tat dies, indem sie sich prostituierte. Sie übernachtete mehrfach bei ihren Freiern und ließ das Kind allein in der Wohnung zurück. Im Juni 2000 legte die Mutter Dominic, nachdem sie ihn versorgt hatte, in sein Bett und verließ abermals die Wohnung. Sie kehrte für mindestens vierzehn Tage nicht nach Hause zurück. Einem Verwandten, bei dem sie sich aufhielt, erzählte sie, das Kind sei bei seiner Großmutter. Das verhungerte und verdurstete Kind wurde am 10.7.2000 von einer Gerichtsvollzieherin aufgefunden. 2. Entscheidung Das Amtsgericht Leipzig verurteilte die zuständige Sozialarbeiterin wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) zu einer Geldstrafe, nachdem die Staatsanwaltschaft gegen sie und ihren Vorgänger ermittelt hatte.31 Das Gericht bejahte eine Garantenstellung aus Gesetz (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII) sowie als Beschützergarant aus tatsächlicher Schutzübernahme. Die objektive Sorgfaltspflichtverletzung sah es in der Nichtbehebung des Informationsdefizits begründet. Auch sei die Vernachlässigung des Kindes als typische Form elterlichen Fehlverhaltens objektiv voraussehbar gewesen. Hätte die Sozialarbeiterin die unterlassene Handlung vorgenommen, so wäre der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben.

V. Der Fall „Vanessa“ 32 1. Sachverhalt Vanessa wurde im Februar 2001 in Mönchengladbach geboren. Ihre Familie geriet im Frühjahr 2001 in das Visier des Jugendamts, als ihr Vater im Rahmen des Scheidungsverfahrens angab, die Mutter leide seit der Geburt des Kindes unter Depressionen, sei zeitweise aggressiv und befinde sich in fachärztlicher Behandlung. 31

AG Leipzig, Urt. v. 21.6.2001 – 64 Cs 301 Js 70846/00 (nicht veröffentlicht). Zitiert aus dem Urteil des AG Mönchengladbach vom 9.3.2004 (Az. 13 Cs 343/ 03), abrufbar im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen unter http://www. justiz.nrw.de. 32

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Der zunächst zuständige Jugendamtsmitarbeiter vermerkte nach einem Hausbesuch und mehreren Zusammenkünften im Zusammenhang mit einer MutterKind-Kur, die Mutter sei zwar physisch und psychisch angespannt, die Versorgung von Vanessa leide hierunter jedoch nicht. Er vermittelte der Mutter zum Juli 2001 einen Therapieplatz für eine psychotherapeutische Behandlung. Außerdem wurde ab September 2001 die Betreuung Vanessas durch eine Tagesmutter angeregt. Am 23.1.2002 fand im Rahmen des Scheidungsverfahrens der Hauptverhandlungstermin vor dem Familiengericht statt. Der Vater bezichtigte die Mutter abermals der depressionsbedingten Erziehungsunfähigkeit. Nach dem Termin berichtete er dem Jugendamtsmitarbeiter von einem zwei Wochen zurückliegenden Suizidversuch der Mutter. Damit konfrontiert, stritt diese den Vorfall jedoch ab. In den folgenden Monaten nahm die Mutter einige psychotherapeutische Hilfsangebote an, brach diese in der Folge aber stets ab. Als sie am 8.6.2002 bei Vanessas Tagesmutter anrief und dieser mitteilte, es ginge ihr sehr schlecht und sie höre Stimmen, die ihr befehlen würden, aus dem Fenster zu springen, brachte diese sie in eine psychiatrische Klinik. Die Tagesmutter unterrichtete hiervon das Jugendamt. Die Mutter zog mit Vanessa am 14.6.2001 in einen anderen Stadtteil von Mönchengladbach, sodass der spätere Angeklagte für die Familie zuständig wurde. Zwischen dem ehemals und dem nunmehr zuständigen Sozialarbeiter fand ein „Übergabegespräch“ statt, bei dem die Gesamtproblematik sowohl mündlich erörtert als auch die Fallakte ausgehändigt wurde, die sämtliche Schriftwechsel, Protokolle und Vermerke enthielt. Im Verlauf der nächsten zwei Monate stellte sich das Verhalten des Kindsvaters widersprüchlich dar. Einige Male meldete er sich telefonisch und erklärte, Vanessas Mutter habe Selbstmordäußerungen getätigt, dann wieder meinte er, es habe eine Aussprache stattgefunden und die Familie wünsche keine weitere Beratung – eine Aussage, die er wenige Tage später wieder revidierte. Im Rahmen einer Supervision im August 2002 trug der spätere Angeklagte die Problematik im Fall „Vanessa“ vor. Das Team diskutierte eine Trennung von Mutter und Kind, kam jedoch zu dem von allen getragenen Ergebnis, dass es besser sei, Vanessa bei ihrer Mutter zu lassen, um hierdurch das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Sozialarbeiter zu stärken, sodass zukünftig Hilfeangebote angenommen werden würden. Als die Mutter im September 2002 die psychotherapeutische Behandlung beendete, wandte sich die Ärztin an den späteren Angeklagten und berichtete ihm, sie befürchte Kurzschlusshandlungen ihrer Patientin. Nur unter Androhung, ihr das Kind andernfalls zu entziehen, habe die Mutter der Einnahme der

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ihr verschriebenen Psychopharmaka zugestimmt. Sie wies eindringlich darauf hin, dass auf die Frau stärker geachtet und ihr das Kind notfalls entzogen werden müsse. Im Oktober 2002 stellte die zwischenzeitlich für Vanessa eingesetzte Verfahrenspflegerin im Termin vor dem Familiengericht den Antrag, ein psychiatrisches Gutachten beider Elternteilen zu der Frage einzuholen, ob eine das Kindeswohl gefährdende Erkrankung vorliege. Sie gab zu Protokoll, sie halte es für unverantwortlich, Vanessa bis zu einem Ergebnis mit der Mutter allein zu lassen. Der Richter erklärte, er könne dieser derzeit keine Hilfen auferlegen, er gehe aber davon aus, dass das Jugendamt ihm umgehend mitteile, falls die Mutter nicht bereit oder in der Lage sei, Hilfsangebote anzunehmen. Wenige Tage danach kam es zu einer Besprechung zwischen dem Sozialarbeiter und der Verfahrenspflegerin. Hierbei berichtete diese von Äußerungen der Mutter bezüglich eines erweiterten Selbstmordes. Sie forderte, eine sozialpädagogische Familienhilfe einzusetzen, um die Familie kontrollieren zu können. Der Sozialarbeiter meinte jedoch, es sei wichtig, das Vertrauen der Mutter zu stärken, indem man dieser das Kind belasse. Noch im Oktober 2002 teilte die Fachärztin, welche Vanessas Mutter psychotherapeutisch betreut hatte, dem zuständigen Sachbearbeiter im Jugendamt mit, sie habe von einer Patientin, die die Mutter in Mönchengladbach kennen gelernt habe, die Mitteilung erhalten, dass diese jener anvertraut habe, Vanessa bereits mehrfach einen Schal um den Hals gelegt, ihn jedoch bislang immer rechtzeitig gelöst zu haben, bevor das Kind Schaden erlitt. Der Sozialarbeiter wollte Vanessas Mutter mit der Vertrauensperson konfrontieren. Letztere lehnte das jedoch ab. Er hielt daher einen Bericht für nicht genügend beweiskräftig und gerichtsverwertbar. Weder klärte er den Sachverhalt weiter auf noch veranlasste er eine weitere Supervision. Als sich die Mutter am 24.10.2002 mit ihrer Tochter in einer psychiatrischen Klinik vorstellte, fiel den Mitarbeitern ein zu passives Verhalten des Kindes sowie blaue Flecken in dessen Gesicht und kleine Schnittwunden an dessen Scheide und Oberschenkeln auf. Eine Mitarbeiterin teilte diese Beobachtungen u. a. dem Angeklagten mit, der die Informationen in einen Vermerk aufnahm. Mitte November vermerkte er überdies, dass sich Hinweise auf Überbelastungen der Mutter häuften und diese vermehrt Alkohol und Tabletten konsumiere. Es werde daher vorgeschlagen, unverzüglich einen Anhörungstermin anzuberaumen, um gegebenenfalls einen Sorgerechtsentzug veranlassen zu können. Eine gerichtliche Anhörung wurde indes nicht veranlasst, obwohl Vanessa eine Prellung unter dem Auge aufwies. Vielmehr kontaktierte der Sozialarbeiter das Gesundheitsamt, um abermals eine psychiatrische Behandlung zu initiieren. Diese begann im Dezember 2002.

A. Falldokumentationen

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Der zuständige Oberarzt wies, nachdem ihm die Vorgeschichte geschildert worden war, darauf hin, dass die Weiterbehandlung und Betreuung nach dem Klinikaufenthalt elementar wichtig sei, was der spätere Angeklagte bejahte. An dem im Februar 2003 stattfindenden „Runden Tisch“ anlässlich der Entlassung von Vanessas Mutter nahm er unter Hinweis auf eine kurzfristige Überbelastung dennoch nicht teil. Er fragte auch nicht bei der Klinik nach, was entschieden worden war. Am 21.2.2003 verließ die Mutter gegen den Rat ihrer Ärzte die Klinik. Sie erklärte, sie wolle den Sozialarbeiter selbst kontaktieren, was sie am 5. oder 6. März tat. Es wurde ein Treffen für den 12. März 2003 vereinbart. Einen Tag später teilte die Großmutter des Kindes ihm mit, ihre Tochter trinke wieder, sodass sie sich große Sorgen mache. Zwischenzeitlich hatte sich die Mutter mit Vanessa in ein Düsseldorfer Hotel begeben. Sie benahm sich dort psychisch auffällig. Auf die Nachfrage einer Mitarbeiterin gab sie an, von ihrem Freund geschlagen worden zu sein und sich in das Hotel geflüchtet zu haben. Der Mitarbeiterin gelang es in langen Gesprächen, sie dazu zu bewegen, bei dem örtlichen Frauenhaus um Aufnahme zu bitten. Dort angekommen, setzte sich ihr psychisch auffälliges Verhalten fort. Am 10. März rief die Mutter den Sozialarbeiter an und berichtete, sie habe in ihrer Wohnung Angstzustände bekommen. Nun sei sie im Frauenhaus, wo sie sich sicher und wohl fühle. Den vereinbarten Termin könne sie nicht einhalten. Sie denke über eine weitere Mutter-Kind-Therapie nach. Beide verabredeten, dass die Mutter sich melden sollte, sobald sie Gewissheit über einen Platz hätte. Bereits einige Tage später kontaktierte die Großmutter den Sozialarbeiter und berichtete über Misshandlungen von Vanessa durch die Mutter am Tag vor deren Aufenthalt im Hotel. Der spätere Angeklagte verwies jedoch auf das vorangegangene Telefongespräch und riet ihr, in Zukunft bei akuten Gefährdungslagen die Polizei einzuschalten. Auch eine Mitarbeiterin des Frauenhauses Düsseldorf meldete sich bei dem zuständigen Sachbearbeiter und berichtete von Aussagen der Hotelangestellten, wonach Vanessas Mutter auf dem Balkon gestanden habe, und es den Anschein gehabt hätte, als wollte sie springen. Die Aufnahme ins Frauenhaus sei nur deshalb erfolgt, weil am Wochenende kein Fachpersonal vor Ort gewesen sei. Man habe versucht, die Frau und ihr Kind in eine Mutter-Kind-Therapie zu vermitteln, am 11.3.2003 habe die Mutter die Einrichtung jedoch wieder verlassen. Der spätere Angeklagte nahm an diesem Tag mit einem Mitarbeiter des Gesundheitsamts Kontakt auf. Letzterer zog Erkundigungen über die Entlassungsmodalitäten aus der Klinik ein, sodass der Sozialarbeiter erfuhr, dass der Mutter geraten worden war, Vanessa einstweilen in eine Pflegefamilie oder in ein Mutter-Kind-Heim zu geben, was sie abgelehnt hatte.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Als der Sozialarbeiter tags darauf versuchte, die Familie zu besuchen, öffnete niemand. Er rief die Polizei an. Als jedoch in der Leitstelle niemand abnahm, veranlasste er nichts mehr. Am 19.3.2003 bedrängte Vanessas Großmutter den späteren Angeklagten, nun endlich etwas zu unternehmen. Er riet ihr jedoch lediglich, ihrer Tochter einen Brief zu schreiben. Als sie am 21.3.2003 telefonisch erneut ein Eingreifen des Jugendamts forderte, weil Mutter und Tochter womöglich schon tot in der Wohnung lägen, entgegnete der Sozialarbeiter, ob sie wisse, wie teuer eine Wohnungstür sei. Erst als die Großmutter heftiger reagierte und fragte, was denn wichtiger sei, wenn die beiden dort liegen würden, rief er die Polizei. Diese fand, nachdem sie die Wohnungstür aufgebrochen hatte, die Mutter neben der von ihr durch Ersticken getöteten Tochter. 2. Entscheidung Der Sozialarbeiter wurde wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) vom Amtsgericht Mönchengladbach zu 6000 EURO Geldstrafe verurteilt. 3. Berufung Der Sozialarbeiter sowie die Staatsanwaltschaft legten hiergegen Berufung ein. Das Landgericht Mönchengladbach erließ daraufhin am 23.11.2004 einen Beschluss, durch den es das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten sowie seiner Verteidigerinnen gegen Zahlung eines Betrages von 4000 EURO gemäß § 153a StPO vorläufig einstellte.33

VI. Der Fall „Dennis“ 34 1. Sachverhalt Dennis wurde am 11.2.1994 als zweites Kind seiner Eltern in Hagen geboren. Die Familie lebte in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, was bereits dazu geführt hatte, dass der ältere Bruder zu den Großeltern gegeben worden war.

33 Az. 12 Ns 82/04 (bislang nicht im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen veröffentlicht). 34 Nach Hannemann, S. 209, die aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten zitiert.

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Im November 1994 meldete sich ein Bekannter der Familie beim zuständigen Jugendamt in Hagen, der sich nach einem Besuch über den Zustand der Wohnung der Familie (insbesondere über den Zustand des Kinderzimmers) beschwerte und eine Ehekrise sowie eine erhebliche Vernachlässigung des Kindes schilderte. Er ging dabei insbesondere auf eine Unterernährung von Dennis sowie einen Pilzbefall im Genitalbereich ein. Außerdem berichtete er, dass der Junge nächtelang allein gelassen werde. Der Anrufer drohte, Dennis notfalls selbst aus der Wohnung zu holen. Aufgrund dieser Mitteilung nahm der zuständige Sozialarbeiter telefonisch Kontakt mit der Familie auf und vereinbarte einen Hausbesuch. Der Sozialarbeiter setzte seinen Vorgesetzten in Kenntnis, und beide kamen zu dem Schluss, dass ein sofortiges Tätigwerden vonnöten sei. Zu diesem Zweck machten sie sich noch am selben Tag unangemeldet zu der Wohnung der Familie auf. Jedoch scheiterte ihr Besuchsvorhaben, da ihnen niemand öffnete. Am nächsten Tag telefonierte der Sozialarbeiter gegen 13.00 Uhr mit dem Kindsvater und vereinbarte mit diesem einen Besuch für 14.00 Uhr. Während des eineinhalbstündigen Besuchs, bei dem sich der Sozialarbeiter und sein Vorgesetzter ausschließlich im aufgeräumten Wohnzimmer aufhielten, befand sich der blasse und dünne Dennis auf dem Boden und wirkte ungewöhnlich ruhig. Die gemeldete Pilzerkrankung bestand tatsächlich, wurde jedoch – so die Aussage der Eltern – von einem Kinderarzt behandelt. Das Untersuchungsheft für ihren Sohn vermochten sie nicht zu zeigen, versprachen aber, es nachzureichen. Im Verlauf des Gesprächs mit den Vorwürfen des Bekannten konfrontiert, äußerten die Eltern den Verdacht, dieser führe einen persönlichen Rachefeldzug. Die Aktivitäten der Jugendamtsvertreter beschränkten sich an diesem Tag auf das Aufzeigen von Hilfemöglichkeiten bei Ehekrisen (Eheberatungsstellen) und auf die Bitte, die Mütterberatung aufzusuchen. Außerdem wurden die Eltern aufgefordert, das Untersuchungsheft alsbald vorzulegen. Mutter und Vater rutschten in der Folge immer tiefer ab und ließen Dennis ab Januar 1995 oft allein zu Hause, um ihre Stammkneipe aufzusuchen. Besorgten Bekannten gegenüber gaben sie vor, das Kind befinde sich bei den Großeltern bzw. werde von einer Babysitterin betreut. Zwei Termine, die den Eltern vom Jugendamt gesetzt wurden, um das Vorsorgeheft nachzureichen, ließen sie ungenutzt verstreichen. Der zuständige Jugendamtsmitarbeiter nahm sich mit seinem Vorgesetzten vor, der Familie abermals einen Hausbesuch abzustatten. Dazu kam es nicht mehr, weil Dennis am 7.3.1995 infolge hochgradiger Unterernährung und Austrocknung verstarb.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

2. Entscheidung Gegen den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter sowie dessen Vorgesetzten wurden keine Anklagen wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen erhoben.35

VII. Neuere Verfahren In letzter Zeit werden bzw. wurden in weiteren Fällen Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Jugendamts vorgenommen.36 Besonders hervorzuheben ist hierbei der Fall „Bernhard“.37 Dieser lebte während der ersten fünf Lebensjahre mit seiner geistig behinderten Mutter bei einer Pflegemutter. Im Kindergarten wurden Auffälligkeiten beobachtet, und immer wieder gingen beim Jugendamt Anrufe von Nachbarn ein, die berichteten, Bernhard sehe vernachlässigt aus. Die zuständige Sozialarbeiterin suchte daraufhin die Pflegemutter auf und sprach mit dieser. Als es im Jahr 2001 Hinweise dafür gab, dass die Pflegemutter Drogen nehme, und Bernhard verwahrlost angetroffen worden war, brachte man das Kind in einer anderen Pflegefamilie unter. Etwa ein Jahr später vertraute der Junge seinen neuen Pflegeeltern an, dass er in der Kneipe der ehemaligen Pflegemutter sexuell missbraucht worden sei. Gegen die zuständige Sozialarbeiterin beim städtischen Jugendamt wurde nach Presseberichten wegen Beihilfe zur Körperverletzung durch Unterlassen ermittelt. Laut Auskunft der Staatsanwaltschaft Saarbrücken wurde das Ermittlungsverfahren aber zwischenzeitlich mit richterlicher Zustimmung gemäß § 153a StPO gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt.

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Hannemann, S. 214. Vgl. z. B. den Fall „Michelle“ aus Hamburg (siehe hierzu unter http://www. taz.de/pt/2006/02/15/a0306.1/textausdruck (Stand: 15.2.2006)). 37 Nicht zu verwechseln mit dem Fall Pascal, einem Freund des Bernhard, der möglicherweise von einer Gruppe Pädophiler getötet wurde (vgl. aber z. B. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2.3.2003: „Starb Pascal, weil das Jugendamt versagte?/Die Kinderschänder von Saarbrücken“ oder Süddeutsche Zeitung vom 28.2. 2003: „Eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Im Fall des getöteten Pascal wird nun auch gegen das Jugendamt ermittelt“). Es ist jedoch Bernhard (von Mörsberger in Saarbrücker Memorandum, S. 27 mit „M.“ bezeichnet), wegen dessen Schädigungen gegen die frühere Pflegemutter und die betreuende Sozialarbeiterin ermittelt wird. Vermischt werden diese beiden Schicksale häufig, weil die Pflegemutter die Wirtin der Klause war, in dessen Hinterzimmer Pascal missbraucht worden sein soll, bis er starb. 36

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VIII. Reaktionen auf die bislang ergangenen Verfahren 1. Untersuchungen Der Fall „Bernhard“ führte – verbunden mit dem Druck der Öffentlichkeit durch Pascals Schicksal – dazu, dass die Stadt Saarbrücken eine Expertenkommission „Kinderschutz und Kinderzukunft“ ins Leben rief, die im September des Jahres 2004 ihr Gutachten mit dem Titel „Verantwortlich handeln – Schutz und Hilfe bei Kindeswohlgefährdung – Saarbrücker Memorandum“ veröffentlichte.38 Überdies veranlassten die vorstehend geschilderten Strafverfahren gegen Sozialarbeiter – neben zahllosen Tagungen und Publikationen – eine „neue Dynamik bei der Entwicklung von Standards und sozialpädagogischer Handlungssicherheit im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen.“39 2. Handlungsempfehlungen Über das „ideale Verhalten“ von Jugendamtsmitarbeitern bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung ist man sich weitgehend einig – ein kompetentes Verhalten in Fällen potentieller Kindeswohlgefährdung bestimmt sich im wesentlichen durch zwei Merkmale: Zum einen muss für die Handlungsverantwortlichen Klarheit darüber bestehen, welches Verfahren von ihnen gefordert wird, und zum anderen müssen ihnen Instrumente zum Erkennen und Bewerten von Kindeswohlgefährdungen an die Hand gegeben werden.40

38 Vgl. Mörsberger, Saarbrücker Memorandum, S. 12. Damit wird eine ähnliche Verfahrensweise gehandhabt wie in England, wo in derartigen Fällen eine Untersuchungskommission eingesetzt wird, die den Fall untersucht (siehe exemplarisch den von Lord Laming veröffentlichten Bericht The Victoria Climbié Inquiry – summary and recommendations). 39 So Meysen, ZfJ 2001, 415. Zu beachten ist gleichwohl, dass ausweislich des Urteils des Landgerichts Osnabrück im Fall „Laura Jane“ (abgedruckt in NStZ 1996, 439) bereits vor dem Geschehen bei dem Jugendamt, dem die Angeklagte zugeordnet war, Arbeitshilfen zum Umgang mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen existierten. Nochmals ist auf eine interessante Parallele hinzuweisen – im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Psychiatern im Maßregelvollzug wurden als Reaktion auf vereinzelte Verurteilungen die sogenannten „Waldliesborner Thesen“ erlassen (abgedruckt in StV 1985, 478; vgl. dazu auch Schaffstein, Lackner-FS, S. 796, Fn. 4a), die Hinweise für die prognostische Bewertung der Gefahrenlage bieten. Siehe zudem die Checkliste zur Erstellung einer Prognose im Rahmen von Lockerungsentscheidungen, die vom Westfälischen Arbeitskreis „Maßregelvollzug“ angeführt wird (abgedruckt in NStZ 1991, 66 ff.). 40 Merchel, ZfJ 2003, 251 f., 256 f.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

a) Einzelne Projekte Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Verfahrensstandards sind das interdisziplinär angelegte Forschungsprojekt von Münder/Mutke/Schone „Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz“41 sowie das Projekt von Fegert/Berger/Klopfer/Lehmkuhl/Lehmkuhl „Umgang mit sexuellem Missbrauch“42 zu nennen. Während das erstgenannte Vorhaben das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Justiz im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdungen beleuchtet, befasst sich das letztgenannte Projekt mit dem Spezialfall des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der hierbei notwendigen professionellen Zusammenarbeit von Medizin, Jugendhilfe und Justiz. Der Deutsche Städtetag veröffentlichte im April 2003 aus Anlass der erfolgten Strafverfahren „Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls“.43 Es handelt sich dabei um Handlungsempfehlungen zur Tatsachengewinnung, die kombiniert sind mit Risikoabwägungsinstrumenten44, auf die verwiesen wird, z. B. auf den Dormagener Qualitätskatalog45. Dieser Qualitätskatalog fußt im wesentlichen auf vier Kriterien, namentlich auf der Gewährleistung des Kindeswohls, der Problemakzeptanz, der Problemkongruenz sowie der Hilfeakzeptanz. Die hiermit angesprochenen Aspekte zur Erkennung des Risikopotentials eines Falls setzen sich zunehmend durch46 und wurden z. T. auch im Rahmen der Reform des SGB VIII durch das KICK berücksichtigt.

41 Vgl. hierzu Münder und Mutke in: SOS-Kinderdorf e. V. (Hrsg.), Hilfe und Kontrolle, S. 90 ff. sowie Schone, Forum Erziehungshilfen 2000, 231 ff. 42 Fegert/Berger/Klopfer/Lehmkuhl/Lehmkuhl, Umgang mit sexuellem Missbrauch. 43 Veröffentlicht in ZfJ 2004, 187 ff. sowie im Anhang dieser Arbeit. In den Empfehlungen sind einige andere Ansätze implementiert (z. B. Dormagener Qualitätskatalog oder das „Glinder Manual“ und der Erhebungbogen der Stadt Recklinghausen (vgl. hierzu Blank/Degener, Saarbrücker Memorandum, S. 124 f.; krit. dazu Merchel, ZfJ 2003, 257, Fn. 27)). Krit. zu den Empfehlungen des Deutschen Städtetages Mörsberger, Saarbrücker Memorandum, S. 103 ff. Zu einer ähnlichen Veröffentlichung kam es in England auf der Grundlage der am 1.7.2004 in Kraft getretenen Kinderschutzverordnung mit dem Titel „Safeguarding Children“ (näher hierzu H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 226, der im Zuge dessen eine „eindeutige Verstrafrechtlichung der Kontrolle“ festzustellen meint). 44 Grundsätzlich zur Entwicklung von Risikoeinschätzungsverfahren Kindler/Zimmermann, Diskurs 2003, 5 ff.; Kindler, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 59. 45 Siehe hierzu die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 189, Fn. 4 sowie im Anhang. 46 Siehe nur das DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2005, 231 und Blank/Degener, Saarbrücker Memorandum, S. 124 sowie Kohaupt, JAmt 2005, 222.

A. Falldokumentationen

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Das Jugendamt Leipzig nahm den Fall „Dominic“ zum Anlass, ein eigenes „Schutz- und Kontrollkonzept“ zu entwickeln.47 Und auch in Hamburg führte ein – wenn auch nicht speziell jugendhilfespezifischer – Fall48 dazu, dass im Februar 2004 von der Behörde für Soziales und Familie Handlungsempfehlungen veröffentlicht wurden, die sich speziell dem Verfahren bei möglicher Kindeswohlgefährdung widmen.49 Ende Mai 2005 endete schließlich eine im Juli 2001 begonnene Langzeitstudie des Deutschen Jugendinstituts mit dem Titel „Kindeswohlgefährdung und Allgemeiner Sozialer Dienst“.50 Ziel dieser Untersuchung war es, geeignete rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen zu beschreiben und angemessene fachliche Grundhaltungen und Methoden für die Arbeit des ASD mit Familien in kindeswohlgefährdenden Situationen zu erarbeiten.51 Als Konsequenz hieraus wurde unter anderem eine Datenbank zur Erfassung von Fällen in Zusammenhang mit dem Verdacht entsprechender Gefährdungslagen entwickelt. b) Wirkung Auch die damalige Bundesregierung52 sowie Opposition53 gaben im Jahr 2004 die durchgeführten Strafverfahren gegen Jugendamtsmitarbeiter beziehungsweise spektakuläre Fälle von Kindeswohlschädigungen als Grund an, um die staatlichen Interventionsmöglichkeiten und Datenschutzregelungen zu reformieren.54 Aber auch nach dem Inkrafttreten des KICK sind die Bemühungen seitens der Politik um einen effektiven Kinderschutz nicht abgerissen. So ist das Gesundheitsministerium derzeit mit der Problematik der Pflichtuntersuchungen für Kinder befasst, während das Familienministerium seit April 2006 das Modell47

Siehe hierzu von Hermanni, JAmt 2003, 561 ff. So Merchel, ZfJ 2003, 249 f. 49 Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Soziales und Familie, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit der „Garantenstellung“ des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung; krit. hierzu Fieseler, ZfJ 2004, 175, Fn. 13 – er meint, hierin seien keine konkreten Aussagen zur Krisenintervention enthalten. Gute Gesamtschau von regionalen Materialien zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung in dem im folgenden vorzustellenden Handbuch des DJI (in der Internetfassung abrufbar unter http://213.133.108.158/asd/asdmat.htm (Stand: 27.7.2005)). 50 Vgl. hierzu Drechsel, JAmt 2002, 440 ff.; Wiesner, ZfJ 2004, 170 f. sowie jüngst Meysen, Editorial JAmt Heft 02/2006, S. IV. 51 Instruktiv zur Fallübergabe Döring/Fraumann/Heinz/Wittner, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 49 mit Bsp. für Anschreiben und Formblättern; zur Dokumentation von Fällen Blüml/Lillig, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 45. 52 Siehe BT-DrS 15/3676, S. 26. 53 Vgl. BR-DrS 712/04, S. 28. 54 Siehe dazu bereits oben in der Einleitung unter A. 48

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

projekt „Frühe Hilfen/Frühwarnsystem“ verfolgt. Darüber hinaus wurde im Justizministerium eine Arbeitsgruppe zum Thema „Kinder besser schützen“ eingerichtet, die die Erleichterung von familienrechtlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdungen und eine Verbesserung der Zusammenarbeit der beteiligten Professionen bis Ende 2006 verfolgt.55

IX. Fazit Ungeachtet der Besonderheiten der geschilderten Fälle lassen sich einige Aussagen tätigen, welche die Schwerpunktbildung in der folgenden Untersuchung wesentlich beeinflussen: 1. Zunächst ist eine „Zweiteilung“ bezüglich der Personen auszumachen, die im Fokus der Anklage stehen. In einem Teil der Fälle unterlassen sowohl die Eltern als auch die Sozialarbeiter eine gebotene Handlung (etwa die Ernährung bzw. das Ergreifen von Schutzmaßnahmen), in anderen Fällen bleiben die Sozialarbeiter untätig, während die Eltern aktiv gegen das Wohl der Kinder vorgehen. 2. Nur in einem Fall bezog sich der strafrechtliche Vorwurf darauf, dass überhaupt nicht eingeschritten wurde, obwohl ein Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung bekannt geworden war.56 In den restlichen Konstellationen griffen die Sozialarbeiter sehr wohl zu Maßnahmen, zum Beispiel zur Gewährung von Hilfen zur Erziehung, zu Hausbesuchen oder zu schriftlichen Aufforderungen zum Erscheinen im Jugendamt – Maßnahmen, die sich freilich im Ergebnis als nicht ausreichend zum Schutz des Kindes erwiesen. 3. Lediglich in einem Fall wurde ein Mitarbeiter eines freien Trägers angeklagt.57 Er wurde jedoch freigesprochen, und das Gericht äußerte sich nicht zur Existenz einer Garantenstellung in diesem Bereich. 4. Nur in einem geringen Teil der Fälle war ein Sozialarbeiter im wesentlichen allein mit dem Fall befasst.58 Mehrheitlich waren mehrere Personen in den Hilfeprozess involviert, entweder weil die Zuständigkeiten zwischenzeitlich wechselten59 oder weil die weitere Betreuung an einen Mitarbeiter eines freien Trägers delegiert worden war60. 55 Wiesner, Editorial KJ 2006, 165; s. a. Aktuelle Notizen in KJ Heft 1/2006, 3 (zur Initiative des Familienministeriums) sowie Aktuelle Notizen in KJ Heft 4/2006, 168 und Meysen, Editorial JAmt 05/2006, S. IV. 56 Im Fall „Tanja“ (s. o. Teil 1 A. III.). 57 Im Fall „Jenny“ (s. o. Teil 1 A. II.). 58 Namentlich im Fall „Tanja“ (s. o. Teil 1 A. III.). 59 Wie im Fall „Jenny“ (s. o. Teil 1 A. II.), „Vanessa“ (s. o. Teil 1 A. V.) oder „Dominic“ (s. o. Teil 1 A. IV.). 60 Vgl. den Fall „Laura Jane“ (oben Teil 1 A. I.).

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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5. Dazu passt auch, dass nur in zwei der vorgestellten Fälle ein Gericht monierte, der Sozialarbeiter habe eine „falsche“ Entscheidung getroffen.61 Gegenstand des Vorwurfs war ansonsten stets die Art und Weise der Informationssammlung, -weiterleitung und -speicherung.62 6. Bislang ist in allen hier dokumentierten, aber auch in den darüber hinaus bekannten Fällen, im Ergebnis kein Urteil wegen vorsätzlichen Unterlassens ergangen. Selbst wenn die Anklageschrift einen derartigen Vorwurf enthalten hatte, kam es nicht zu einer entsprechenden rechtskräftigen Verurteilung.63 7. Die Vorgesetzten der zuständigen Sozialarbeiter wurden lediglich als Zeugen gehört. Sie wurden nicht angeklagt, selbst wenn gegen sie ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war.64 8. In rechtsdogmatischer Hinsicht konzentrierten sich die Ausführungen der Strafgerichte vor allem auf die Frage der Garantenstellung von Sozialarbeitern, auf den Einwand, diese hätten „fachlich“ gehandelt, auf die Frage der Kausalität bzw. der objektiven Zurechnung sowie auf den Vorsatz. 9. Auszumachen sind schließlich zwei verschiedene „Dreieckskonstellationen“: Zum einen auf der Schädigerseite, wenn neben den Eltern eine dritte Person schädigt65, und zum anderen auf der Helferseite, wenn ein Mitarbeiter eines freien Trägers als Familienhelfer tätig wird, oder wenn infolge von Ortswechsel der Familie ein anderer Jugendamtsmitarbeiter zuständig wird.66

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition – Dreiklang aus Elternrecht, Kindeswohl und staatlichem Wächteramt Die verfassungsrechtliche Stellung von Ehe und Familie in Deutschland wird bestimmt im wesentlichen durch Artikel 6 des Grundgesetzes sowie durch die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche nach § 31 Abs. 1 BVerfGG für alle staatlichen Organe bindende Wirkung entfaltet.67 61 Dies geschah in dem erstinstanzlichen Urteil des AG Osnabrück im Fall „Laura Jane“ (s. o. Teil 1 A. I. 2. a)) sowie in der Beschwerdeentscheidung des OLG Stuttgart im Fall „Jenny“ (s. o. Teil 1 A. II. 2. c)) im Hinblick auf die Strafbarkeit des Lüneburger Sozialarbeiters. 62 Vgl. z. B. die Fälle „Dominic“ (s. o. Teil 1 A. IV.) und „Jenny“ (s. o. Teil 1 A. II.) im Hinblick auf den Stuttgarter Sozialarbeiter. 63 Vgl. den zweitinstanzlichen Freispruch im Fall „Tanja“, oben Teil 1 A. III. 2. 64 Siehe hierzu den Fall „Jenny“, oben Teil 1 A. II. 65 So geschehen im Fall „Jenny“ (s. o. Teil 1 A. II.). 66 Vgl. den Fall „Laura Jane“ (s. o. Teil 1 A. I.). 67 Außerdem finden sich in den Landesverfassungen Regelungen zum Elternrecht (vgl. z. B. Art. 126 der Verfassung des FS Bayern). Diese sind jedoch durch das

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staats. Der Norm liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Familie die Keimzelle jeder menschlichen Gesellschaft darstellt und in ihrer Bedeutung mit keiner anderen Bindung vergleichbar ist68, sodass unsere Gesellschaft um der eigenen Erhaltung und Förderung willen gezwungen ist, sie in besonderem Maß zu schützen. Während Art. 6 Abs. 1 GG dieses Ziel in Form einer Generalklausel zu verwirklichen sucht und die Familie allgemein betrifft, stellen der zweite und dritte Absatz der Regelung leges speciales im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Eltern ihren Kindern gegenüber dar.69 Besonders bedeutend für die vorliegende Arbeit ist das „staatliche Wächteramt“ in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, welches zusammen mit seinen einfachgesetzlichen Ausprägungen in BGB und SGB VIII bei der Untersuchung der Strafbarkeitsrisiken der Beschäftigten in der öffentlichen Jugendhilfe eine große Rolle spielen wird. Da das staatliche Wächteramt jedoch in einer verfassungsrechtlichen Dreieckskonstellation mit den Begriffen des Elternrechts und des Kindeswohls steht, kann eine isolierte Betrachtung dieser staatlichen Funktion nicht stattfinden. Vielmehr sollen im folgenden alle drei Termini sowie ihr Bezug zueinander vorgestellt werden.

I. Elternverantwortung 1. Sozialwissenschaftliche Grundlagen Nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht und die Pflicht der Eltern.70 Dem Staat steht daher – im Gegensatz zur Situation in der Schule (Art. 7 Abs. 1 GG) – innerhalb der Familie kein eigenes Erziehungsrecht zu.71 Seine Rechte beschränken sich vielmehr auf die Verhütung des Missbrauchs der elterlichen Kompetenzen. Grundgesetz überlagert bzw. bei einem engeren Gewährleistungsbereich als Art. 6 GG ihn besitzt, nach Art. 31 GG i.V. m. Art. 142 GG unbeachtlich. Vgl. hierzu Böckenförde in Essener Gespräche, S. 57 ff. 68 BVerfGE 24, 119 (149). Zur rechtsphilosophischen Streitfrage, ob es sich dabei um eine naturrechtliche Vorgabe oder um die Verleihung der Verantwortung für die Kinder an die Eltern durch den Staat handelt, s. Erichsen, Elternrecht-KindeswohlStaatsgewalt, S. 27 ff. sowie Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 20 f. jeweils m.w. N. 69 Heilmann in: Wächteramt und Jugendhilfe, S. 2. 70 Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist in § 1 Abs. 2 SGB VIII wortgleich einfachgesetzlich wiederholt und wird aufgrund der Verknüpfung von Recht und Pflicht vom Bundesverfassungsgericht als „Elternverantwortung“ bezeichnet; vgl. BVerfGE 24, 119 (143) mit Verweis auf BVerfGE 10, 59 (67). 71 M/D-Badura, GG, Art. 6, 41. Lieferung (Oktober 2002), Rn. 96, 117, 130.

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt die Prämisse zugrunde, dass diejenigen, die einem Kind das Leben schenken, von Natur aus bereit und dazu berufen sind, die Verantwortung dafür zu übernehmen.72 Außerdem ist die Norm Folge der Annahme, dass den Eltern das Wohl ihres Kindes regelmäßig mehr am Herzen liegt als irgend einer anderen Person oder Institution.73 2. „Klassische“ Funktionen des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG a) Abwehrrecht Ihre ureigenste Funktion entfalten die Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat.74 Sie sollen die Freiheitssphäre des Einzelnen schützen, indem sie Eingriffe der öffentlichen Gewalt von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen oder sie – bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten – sogar vollends verbieten. Auch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG stellt ein Abwehrrecht dar75, weil mit der Zuweisung der Pflege und Erziehung der Kinder an die Eltern diese Funktion gleichsam dem Staat entzogen wird.76 (1) Schutzbereich Vom persönlichen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind zunächst – wie bereits der Wortlaut der Norm deutlich werden lässt – die leiblichen Eltern eines Minderjährigen erfasst. Auf den Schutz des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht berufen können sich hingegen die Pflegeeltern eines Kindes77, ebenso wenig wie dessen Großeltern. Der sachliche Schutzbereich der Norm umfasst die Pflege und Erziehung. Unter der Pflege ist die allgemeine Sorge für das Kind in körperlicher und geistig-charakterlicher Hinsicht zu verstehen, die Erziehung zielt hingegen auf die Entfaltung der Anlagen des Kindes unter dem elterlichen Einfluss ab, damit 72 BVerfGE 24, 119 (150); Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 48: „Das ,Naturgefühl der Eltern‘ wird so ins Rechtliche gewendet“. 73 BVerfGE 59, 360 (376). 74 BVerfGE 7, 198 (204) [Fall Lüth] – ständige Rechtsprechung; Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 11, 21 ff. 75 Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 30; Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 14; Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 43; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 634; s. auch BVerfGE 61, 358 (371): „Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat“. 76 Es steht damit im Gegensatz zum Elternrecht der Weimarer Verfassung, dem lediglich Programmcharakter zuteil wurde; dazu Willutzki, DAVorm 2000, 378 sowie Brokamp, S. 48 m.w. N. 77 BVerfGE 79, 51 (60).

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

es im Lauf der Zeit reif genug sein wird, eines Tages ein eigenverantwortliches Leben führen zu können.78 Damit die Eltern sich auf das Grundrecht berufen können, müssen sie ihre Handlungen in Übereinstimmung mit dem Kindeswohl vornehmen. Verstoßen sie hiergegen, so ist der sachliche Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht eröffnet.79 (2) Eingriff Sofern der Gesetzgeber in den Schutzbereich eines Abwehrrechts eingreift, ist er nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, einem Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, darauf angewiesen, dass ein entsprechender Gesetzesvorbehalt existiert.80 Zwar ist ein solcher (qualifizierter) Vorbehalt ausdrücklich lediglich für den Fall der unfreiwilligen Trennung von Eltern und Kind durch Art. 6 Abs. 3 GG vorgesehen, indes kommt ein Grundrechtsvorbehalt konkludent in der Zuweisung des Wächteramts an den Staat in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum Ausdruck.81 Auf den ersten Blick erscheinen diese Vorbehalte gegenstandslos, weil nach den obigen Ausführungen im Fall eines dem Kindeswohl widerstrebenden elterlichen Verhaltens der sachliche Schutzbereich von vornherein nicht eröffnet ist. Indes bedarf der Staat insoweit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für sein Handeln, als sich Maßnahmen zur Wiederherstellung des Kindeswohls auf die Zukunft beziehen und keinen strafenden Charakter besitzen sollen. Durch ihr Verhalten in der Vergangenheit haben die Eltern nicht auch ihr Elternrecht für die Zukunft „verwirkt“, sodass ein Eingriff in das zukünftige Elternrecht zu bejahen ist. Doch welche konkreten staatlichen Maßnahmen stellen einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht dar? Unproblematisch ist der Fall, in dem der Staat 78 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 74. Lieferung (1995), Rn. 102; Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 48. 79 Heilmann/Salgo in: Das misshandelte Kind, S. 949. 80 BVerfGE 83, 130 (142) [Josefine Mutzenbacher]; LPK-SGB VIII-Steffan, § 1, Rn. 12. 81 M/D-Badura, GG, Art. 6, 41. Lieferung (Oktober 2002), Rn. 98; Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 14; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 652; vgl. auch Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 48, der eine Eingriffsgrundlage neben dem Wortlautargument mithilfe einer systematischen Überlegung zu Art. 6 Abs. 3 GG herleitet. Als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht erachtet hingegen Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 59 den Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Vgl. auch die vermittelnde Ansicht von BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 74. Lieferung (1995), Rn. 162 ff. („atypischer Grundrechtsvorbehalt“, d.h. formal existiert eine Grundrechtsschranke, die jedoch dogmatisch aus den Rechten Dritter herzuleiten ist).

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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bei der Wahrnehmung von Schutzmaßnahmen gegen den Willen der Eltern vorgeht,82 weil in diesem Fall sämtliche Voraussetzungen des sogenannten „klassischen“ Eingriffsterminus erfüllt sind, namentlich ein finales, unmittelbares, mit rechtlicher Wirkung ausgestattetes und mit Befehl und Zwang realisiertes Handeln83. Anders ist die Situation jedoch zu beurteilen, wenn der Staat sich auf die Erbringung von Hilfen zur Erziehung (s. §§ 27 ff. SGB VIII) beschränkt. Hier fehlt es gerade an der einseitig festgesetzten, mittels Befehl angeordneten Maßnahme, hier kommt es auf das Einverständnis und die Mitwirkung der Eltern an, und eine „Zwangsbeglückung“ soll gerade nicht stattfinden. Auch der sogenannte moderne Eingriffsbegriff,84 der mit dem Erstarken des Sozialstaats entwickelt wurde, vermag daran nichts zu ändern85, weil das staatliche Handeln in diesem Fall den Eltern als Grundrechtsträgern die Erziehung nicht (ganz oder teilweise) unmöglich macht, sondern diese Kompetenz gerade zu stärken versucht.86 b) Objektive Werteordnung Seit geraumer Zeit ist anerkannt, dass die Grundrechte neben ihrer Abwehrfunktion überdies ein von subjektiven Grundrechtspositionen losgelöstes objektives Wertesystem vorgeben.87 Daher ist die Aussage des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG auch bei der Anwendung des einfachen Rechts (wie z. B. des BGB und des SGB VIII) im Wege der grundrechtskonformen Auslegung zu berücksichtigen.88

82 Zum Beispiel bei der Herausnahme des Minderjährigen nach § 43 SGB VIII a. F. oder bei der vorläufigen Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch den Familienrichter im Rahmen einer einstweiligen Anordnung. 83 Siehe hierzu BVerfGE 105, 279 (300). 84 Vgl. hierzu Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 239. 85 So BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 74. Lieferung (1995), Rn. 205; aA Meysen, ZfJ 2001, 410. 86 Indes ist die Frage nach der Eingriffsqualität der Hilfen zur Erziehung in der Praxis wegen § 31 SGB I irrelevant, da hierdurch zumindest für das Sozialrecht klargestellt wird, dass der Gesetzesvorbehalt nicht nur für die Eingriffsverwaltung gilt (s. hierzu Mrozynski, SGB I, § 31, Rn. 4). Diese Norm hält die Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen nur dann für möglich, soweit ein Gesetz dies vorschreibt oder zulässt, sodass – zumindest im Ergebnis – auch für die §§ 27 ff. SGB VIII der Vorbehalt des Gesetzes gilt. 87 BVerfGE 7, 198 (205) [Fall Lüth]. 88 BVerfGE 24, 119 (149 f.); 37, 217 (240).

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

c) Institutsgarantie Schließlich sind im Grundgesetz zahlreiche Institutsgarantien89 festgelegt, welche die Existenz bestimmter privater Einrichtungen garantieren und damit der Disposition des Gesetzgebers entziehen. Neben der allgemeinen Institutsgarantie von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG ist die elterliche Kindererziehung innerhalb der Familie zusätzlich durch Abs. 2 der Norm geschützt.90 Die individuelle elterliche Erziehung wird dadurch davor geschützt, vollständig abgeschafft beziehungsweise durch eine staatliche Kollektiverziehung ersetzt zu werden. 3. Grundrechtsdogmatische „Anomalien“ des Elternrechts91 Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG besitzt neben seinen „herkömmlichen“ Funktionen als Abwehrrecht gegenüber dem Staat, Ausdruck einer objektiven Werteordnung sowie Institutsgarantie auch „ungewöhnliche“ Eigenschaften, welche einerseits den sachlichen Schutzbereich näher kennzeichnen und andererseits die Norm zu einer Besonderheit im System der Grundrechte geraten lassen. a) Innen- und Außenverhältnis Die Elternverantwortung erscheint zunächst insofern außergewöhnlich, als sie neben dem Außenverhältnis zwischen Individuum beziehungsweise Individuen und Staat auch das Innenverhältnis zwischen den Eltern und ihren Kindern betrifft.92 Im Gegensatz zu den „üblichen“ Grundrechten, die – ungeachtet diverser Funktionserweiterungen – nach dem „klassischen“ Verständnis als Abwehrrechte gegenüber dem Staat fungieren, regelt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG damit das Verhältnis zwischen zwei Grundrechtsträgern untereinander.

89 Diese sind zu unterscheiden von den sog. institutionellen Garantien, die öffentlich-rechtliche Einrichtungen betreffen. Siehe hierzu und zu Einrichtungsgarantien allgemein Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 70 ff. 90 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 74. Lieferung (1995), Rn. 11 m.w. N.; Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 30. 91 Zu einer weiteren, hier nicht näher thematisierten Eigentümlichkeit – dem Komplementärcharakter von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG – s. BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 74. Lieferung (1995), Rn. 31 sowie Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 51. 92 Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 50 f.; Jeand’Heur, Schutzgebote, S. 19.

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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b) Herrschaftsverhältnis Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG normiert eine Bestimmungsmacht der Eltern im Verhältnis zu ihren Kindern.93 Eine solche Form der Herrschaft94 einer Person über eine andere ist im Grundgesetz beispiellos.95 Die Regelung wird damit begründet, dass das hilflose, unmündige Kind Schutz und Hilfe benötigt, um zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit reifen zu können, die ihren Platz in der Gesellschaft finden wird.96 Wäre Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG so zu verstehen, dass das Kind hierdurch der willkürlichen Beherrschung durch seine Eltern ausgesetzt ist97, würde es zum bloßen Beherrschungsobjekt degradiert werden. Das Kind wäre dann nach der sogenannten Objektformel des Bundesverfassungsgerichts98 in seiner in Art. 1 Abs. 1 GG geregelten Menschenwürde beeinträchtigt und wegen der Indisponibilität dieses Rechts – dem obersten Wert der Demokratie99 – zugleich darin verletzt.100 Die Regelung ist daher im Lichte der dem Kind zustehenden Menschenwürde und seines Rechts auf Entfaltung seiner Persönlichkeit101 verfassungskonform auszulegen, dergestalt dass die Norm den Eltern keinen ungebundenen Machtanspruch gegenüber ihren Kindern verleiht.102 Die Zulässigkeit der Fremdbestimmung – und damit die Ausübung des Grundrechts – ist vielmehr davon abhängig, dass sie zum Wohl des Kindes erfolgt.103 Durch diese Deutung der elterlichen Bestimmungsmacht wird überdies vermieden, dass elterliche und kindliche Grundrechte kollidieren und in eine entsprechende Konkordanz gebracht werden müssen.

93

Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 49; Willutzki, DAVorm 2000,

378. 94 Böckenförde in Essener Gespräche, S. 60. Krit. zu diesem Terminus Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 49 f. (siehe S. 50: „. . . Führungsrolle, aber keine Herrschaftsposition“). 95 Ansonsten sieht das GG lediglich die Herrschaft über Sachen vor, s. Art. 14 Abs. 1 GG. 96 BVerfGE 24, 119 (144). 97 I.d.S. die frühere Auffassung in der Literatur, Nachweise bei Willutzki, DAVorm 2000, 378. 98 BVerfGE 5, 85 (204); 7, 198 (205); 27, 1 (6), 87, 209 (228). 99 BVerfGE 5, 85 (204). 100 Zur Indisponibilität des Rechts s. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 365. 101 Vgl. Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. 102 BVerfGE 72, 155 (172). 103 BVerfGE 61, 358 (371); 75, 201 (218); vgl. jüngst BVerfG NJW 2003, 1031; Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 52; Röchling, FamRZ 2006, 161.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

c) Fremdnützigkeit und Pflichtengebundenheit Mit einem derartigen Verständnis des in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG normierten Herrschaftsverhältnisses ist zugleich eine weitere Besonderheit der Regelung angesprochen: Es ist deren Eigenschaft als fremdnütziges Recht.104 Damit ist gemeint, dass Adressaten des Grundrechts zwar die Eltern sind, ihnen jedoch dieses Recht primär um des Kindes willen verliehen worden ist und in erster Linie dessen Wohl dient.105 Die Eltern agieren also gleichsam als Treuhänder ihres Kindes.106 Außerdem erscheint Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als ein ungewöhnliches Grundrecht, weil es im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Grundrechte, die neben der gewährten Freiheit zur Inanspruchnahme des ihnen innewohnenden Rechts zugleich die Freiheit beinhalten, vom Gebrauch desselben Abstand zu nehmen, den Eltern außer dem Recht zur Pflege und Erziehung des Kindes auch eine diesbezügliche Pflicht auferlegt. Die im Verfassungsrecht geführte Kontroverse, ob aus Grundrechten als notwendiges Korrelat zugleich die Pflicht zur Ausübung derselben folgt107, ist für die Elternverantwortung daher nicht relevant. Schließlich stellt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG insofern eine Besonderheit im Bereich der Grundrechtspflichten dar, als es das Recht mit der Pflicht untrennbar verbindet, sodass zwar die Wahlfreiheit besteht, Vater bzw. Mutter zu werden oder kinderlos zu bleiben, jedoch im Fall einer Entscheidung zugunsten der Elternschaft hieraus zugleich die Pflicht folgt, für die Erziehung und Pflege der Nachkommenschaft zu sorgen.108

104 Jeand’Heur, RdJB 1992, 165; Münder, ZfJ 2000, 81. Recht pathetisch – aber in der Sache zutreffend – in diesem Zusammenhang Goldstein/Freud/Solnit, Jenseits des Kindeswohls, S. 108: „Das Grundgesetz arrangiert nicht die Arena für einen Zweikampf zwischen Eltern- und Kindesinteressen. Wenn es sich für den Schutz der Elternrechte ausspricht, so geschieht dies in der Überzeugung, damit den Kindesinteressen am besten zu dienen.“ Vgl. auch Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, der auf S. 32 anmerkt, dass in der Pflege und Erziehung des Kindes mit der Möglichkeit der Selbstverwirklichung und Daseinserfüllung für die Eltern auch eine eigennützige Komponente liegt. 105 BVerfGE 61, 358 (371). 106 BVerfGE 59, 360 (372); 64, 180 (189); Böckenförde in Essener Gespräche, S. 64; krit. zum Terminus der Treuhand hingegen Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 51 f. 107 Vert. hierzu Hofmann in: HStR V, § 114, Rn. 1 ff.; Bethge, NJW 1982, 2145. 108 Einprägsam in diesem Zusammenhang Böckenförde in Essener Gespräche, S. 68: „. . . Pflicht zur Ausnutzung, die zur Pflichtengebundenheit in der Ausnutzung hinzutritt.“ (Hervorhebungen im Original).

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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II. Das Kindeswohl als ungeschriebener Rechtsbegriff 1. Definition Als fremdnütziges Recht verpflichtet Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG die Eltern in erster Linie dem Kindeswohl. Zwar ist dieser Terminus nicht expressis verbis im GG enthalten. Jedoch wird durch die gebotene Auslegung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG im Lichte der Menschenwürde der Schutzbereich des Elternrechts im Sinne des Kindeswohls abgesteckt, sodass letzterem zumindest de facto Verfassungsrang zukommt.109 Aus dem Umstand, dass das Wohl des Kindes den Schutzbereich der elterlichen Verantwortung definiert, ist zugleich das Verhältnis zwischen den beiden Termini abzuleiten: Dem Kindeswohl gebührt der Vorrang vor dem elterlichen Erziehungsrecht.110 Dieses Verständnis entspricht auch den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK, wonach das Kindeswohl bei allen staatlichen Handlungen der Legislative, Exekutive und Judikative vorrangig zu berücksichtigen ist.111 Doch was ist unter dem Begriff des Kindeswohls konkret zu verstehen? Und wer besitzt eigentlich die Definitionsmacht darüber, welches elterliche Verhalten im einzelnen den Interessen des Kindes entspricht? Schließlich stellt der Terminus einen äußerst unbestimmten Rechtsbegriff dar, und was genau im Einzelfall dem Wohl des Kindes entspricht, unterliegt zahlreichen Lösungsansätzen in den verschiedenen Wissenschaften (Psychologie, Pädagogik etc.) und ist nicht zuletzt vom jeweiligen Zeitgeist und der individuellen Weltanschauung abhängig.112 Die Antwort auf die Frage ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG selbst. Indem die Norm den Eltern ihrem Wortlaut nach „zuvörderst“ das Recht zuweist, die Pflege und Erziehung der Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen 109 Heilmann in: Wächteramt und Jugendhilfe, S. 4 f.; ders., UJ 2001, 411, 412; Jeand’Heur, Schutzgebote, S. 18. 110 BVerfGE 37, 217 (252); 56, 363 (383); 68, 176 (188); 75, 201 (218); 99, 145 (156); Heilmann in: Wächteramt und Jugendhilfe, S. 8. Diesen Umstand übersieht das LG Osnabrück in seinem Urteil im Fall „Laura Jane“ (abgedruckt in ZfJ 1996, 528; s. a. Teil 1 A. I. 2. b)), indem es ausführt: „Es kann überhaupt nicht fraglich sein, dass diese Spannungen (gemeint sind diejenigen zwischen dem Elternrecht und dem Kindeswohl, Anm. nicht im Original) ausschließlich dadurch zu lösen sind, dass auf Kooperation und Zusammenarbeit gesetzt wird, soweit und solange dies noch eben erträglich ist.“ 111 Die am 5.4.1992 in Kraft getretene UN-Kinderrechtekonvention entfaltet freilich keine unmittelbare innerstaatliche Wirkung, sondern begründet für die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 4 UN-KRK die völkerrechtliche Verpflichtung, das nationale Recht in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen zu gestalten; vert. hierzu Jeand’Heur, Schutzgebote, S. 182 ff. 112 Instruktiv zum unterschiedlichen Verständnis des Terminus Kindeswohl in den jeweiligen Kulturkreisen Korbin in: Das misshandelte Kind, S. 49 ff.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

zu gestalten113, verpflichtet sich der Staat im Bereich der Familie114 dazu, weder Erziehungsziele noch -methoden zu statuieren.115 Daher sind es in erster Linie die Eltern, die die Definitionsmacht besitzen zu bestimmen, was im einzelnen dem Wohl ihres Kindes genügt.116 Der Staat ist folglich nicht berechtigt, den Eltern die – vermeintlich – bessere Förderungsmöglichkeit für ihr Kind aufzuzeigen.117 Jedoch behält er das Recht zu einer rechtlichen „Grenzkontrolle“118, d.h. er hat zu prüfen, ob sich die betreffende Erziehungsstrategie überhaupt noch im Rahmen des Kindeswohls bewegt, oder ob die Eltern ihr Erziehungsrecht missbrauchen. Rechtsdogmatisch lässt sich dies damit begründen, dass bestimmte Grundrechtsbereiche dem Staat wie auch den Eltern unverfügbar und absolut vorgegeben sind: Es sind dies u. a. die Menschenwürde des Kindes sowie sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.119 Die Definitionsmacht der Eltern stellt sich daher von ihrem Umfang her als „Einschätzungsprärogative“ dar.120 2. Dilemma des Begriffs des Kindeswohls Bei unbefangener Betrachtung dieser Vorgaben scheinen zumindest die Fälle, in denen Schädigungen des Kindes durch seine Eltern zweifelsfrei festgestellt werden, mittels eines entschlossenen Eingreifens und einer großzügig gehandhabten „Trennungspolitik“ leicht zu beheben zu sein. Ein solches Verständnis der Anforderungen an das staatliche Wächteramt würde indes vernachlässigen, dass auch durch die Trennung der Kinder von 113

So BVerfGE 24, 119 (143). Anders ist dies im Bereich der Schule, wo dem Staat durch Art. 7 Abs. 1 GG ein eigenes Erziehungsrecht zuerkannt wird. 115 Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 59, 71; vgl. auch sein Zitat von Anschütz auf S. 67 sowie S. 71, der bereits im Jahr 1933 in seinem Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung die plakative Formulierung verwendete, der Staat „soll die Erziehung der Kinder überwachen, nicht aber übernehmen“ (Hervorhebungen im Original); in diesem Sinne auch Heilmann, ZfJ 2000, 46. 116 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 60, 79 (88, 94); s. auch M/D-Badura, GG, Art. 6, 41. Lieferung (Oktober 2002), Rn. 107; Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 60 f. 117 BVerfGE 60, 79 (94); vgl. auch Böckenförde in Essener Gespräche, S. 76, der hieraus die Subsidiarität des staatlichen Wächteramts folgert. 118 Diesen Terminus verwendet Reuter, AcP 192 (1992), 108. 119 Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 15. 120 Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 52; vgl. auch Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 58, 64 ff.: „Interpretationsprimat“. 114

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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ihren Eltern und dem damit einhergehenden Bindungsverlust ernste (psychische) Schädigungen und folglich Beeinträchtigungen des Kindeswohls auftreten können (sogenannte „sekundäre Kindeswohlsschädigung“). Der Staat ist daher nur dann dazu ermächtigt, diese „Kollateralschäden“ hinzunehmen, wenn die Beeinträchtigungen lediglich kurzfristiger oder geringfügiger Natur sind, und wenn sie notwendig sind, um das Kindeswohl auf lange Sicht zu bewahren.121

III. Staatliches Wächteramt als Korrelat von Schutzpflichten 1. Herleitung des staatlichen Wächteramts a) Rechtsfigur der Schutzpflicht allgemein Mittels Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG weist der Gesetzgeber die Pflege und Erziehung von Kindern deren Eltern zu. Die Norm verleiht letzterem also, wie bereits erwähnt, ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Indes drohen Eingriffe in Grundrechte nicht ausschließlich von staatlicher Seite – auch Private vermögen diese zu tangieren. Die Grundrechtsberechtigten können „privaten Störern“ ihre verfassungsmäßigen Rechte nicht direkt entgegenhalten, richten sich diese doch gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nur an die staatliche Gewalt und entfalten aus diesem Grund keine unmittelbare Drittwirkung. Daher ist es notwendig, den Staat „dazwischenzuschalten“, um, vermittelt durch die Schaffung einfacher Gesetze, den Schutz des Grundrechtsberechtigten gewährleisten zu können.122 Die genannten Grundrechte statuieren zu diesem Zweck sogenannte Schutzpflichten.123 Aus dogmatischer Sicht ist die Herleitung derartiger staatlicher Obligationen noch nicht völlig geklärt. Während die Rechtsprechung auf den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte und auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG rekurriert, sieht die

121

BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 203. Sehr instruktive Darstellung zu diesem Themenkomplex bei Isensee in: HStR V, § 111, der in Rn. 85 die Staatsaufgabe Sicherheit in Verbindung mit den Grundrechten analog zur Abwehrfunktion der Grundrechte als „Freiheit des einen Grundrechtsträgers vom Übergriff des anderen“ definiert. 123 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 82 ff.; weitere berühmte Beispiele für Schutzpflichten bilden z. B. der Schutz des ungeborenen Kindes vor Abtreibung (BVerfGE 39, 1 (41 ff.); 88, 203), Sicherheitsvorkehrungen gegen terroristische Anschläge (BVerfGE 46, 160 (164 ff.) [Schleyer-Urteil]), die Rechtfertigung der Strafvollstreckung (BVerfGE 64, 261 (275)) oder der Schutz gegenüber atomaren Gefahren (BVerfGE 49, 89 (140 ff.) [Kalkar I]; 53, 30 (57 ff.) [Mühlheim Kärlich]). Vert. zur Schutzpflicht Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 53 f. 122

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Literatur Schutzansprüche des Bürgers als notwendiges Korrelat des staatlichen Gewaltmonopols an124. b) Schutzpflichten im Kontext elterlicher Kindeswohlgefährdung (1) Rechtslage nach dem Grundgesetz Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts fordern im Spezialfall der Kindeswohlgefährdung in erster Linie die Menschenwürde des Kindes (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) sowie dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) den Staat dazu auf, Leib und Leben des Kindes zu schützen.125 Diese Pflichten haben sich in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum sogenannten staatlichen Wächteramt verdichtet.126 Wie bereits der wörtliche Bezug des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zeigt127, existiert das Wächteramt nicht losgelöst und gewährt dem Staat kein eigenständiges Erziehungsrecht, sondern es ist akzessorisch zum Elternrecht.128 Da es sich bei letzterem um ein Abwehrrecht gegen den Staat handelt, besteht somit im Ergebnis ein grundrechtliches Spannungsverhältnis. Es ist dies dasjenige zwischen dem Abwehrrecht der Eltern und der Schutzpflicht des Staats zugunsten des Kindes. Grundsätzlich dominiert die abwehrrechtliche Komponente des Art. 6 Abs. 2 GG.129 Funktioniert die Erziehung des Kindes, so beschränkt sich die hieraus 124

Vgl. hierzu E. Klein, NJW 1989, 1625 f. m.w. N. BVerfGE 24, 119 (144); 60, 79 (88); 72, 122 (134). 126 BVerfGE 24, 119 (Leitsatz 4 und S. 144; in der Entscheidung führt das BVerfG überdies legitime Interessen des Staats an der Erziehung des Nachwuchses, sozialstaatliche Überlegungen sowie allgemeine Gesichtspunkte der öffentlichen Ordnung als Gründe für die Existenz des staatlichen Wächteramts an); 55, 171 (179); 60, 79 (88); 72, 122 (134) und jüngst BVerfG v. 28.1.2004 (1 BvR 994/98), abgedruckt in ZfJ 2004, 422 f. (zur Verpflichtung des Staats gegenüber dem Kind bei verantwortungsloser Namenswahl durch die Eltern). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Heilmann in: Wächteramt und Jugendhilfe, S. 5; ders., ZfJ 2000, 41; krit. hierzu Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 69 f., der meint, aus den Grundrechten des Kindes dürfe aufgrund deren klassischer Funktion als Abwehrrecht gegenüber dem Staat keine Eingriffsbefugnis in Elternrechte folgen. Vielmehr wirken die Kindesgrundrechte seiner Ansicht nach als Schutzbereichsbegrenzungen des Elternrechts. 127 Krit. zur sprachlichen Verknüpfung der beiden Sätze des Art. 6 Abs. 2 GG Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 67, Fn. 1: „Worauf bezieht sich ,ihre‘? Was heißt ,Betätigung‘? Warum steht dort ,staatliche Gemeinschaft‘ und nicht schlicht ,Staat‘?“; diesem zust. u. a. Gröschner in Dreier, GG, Art. 6 Rn. 116. 128 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 178; Böckenförde in Essener Gespräche, S. 75; Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 58. 125

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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folgende Rolle des Staats auf die eines passiven Beobachters – anders jedoch, sofern dies den Eltern Schwierigkeiten bereitet, das Kindeswohl also gefährdet erscheint.130 In dem Fall ist der Staat als „Ausfallbürge des Kindeswohls“131 zum Tätigwerden berufen.132 Dem staatlichen Wächteramt sind folglich sowohl vorbeugende als auch korrigierende Züge immanent.133 (2) Exkurs: Staatlicher Kinderschutz nach der EMRK Nicht nur Regelungen im deutschen, sondern auch solche im internationalen Recht bieten Anhaltspunkte für die Existenz staatlicher Schutzpflichten. Soweit es Kindeswohlgefährdungen betrifft, sind dies vor allem Art. 3 UN-KRK sowie Art. 8 EMRK. (a) Art. 8 EMRK Art. 8 EMRK gewährleistet in seinem Absatz 1 ein Recht auf ein Familienleben, in dessen Ausübung nach Absatz 2 von staatlicher Seite nur dann eingegriffen134 werden kann, wenn der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für den Schutz der Gesundheit oder für den der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich ist.135 Folglich ist eine Trennung von Eltern und Kind nur dann möglich, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen und die Maßnahme nicht unverhältnismäßig erscheint.136 Die Europäische Menschenrechtskonvention und die entsprechenden Zusatzprotokolle, welche völkerrechtliche Verträge darstellen, genießen, da sie kraft einfachen Zustimmungsgesetzes137 in das deutsche Recht eingefügt wurden 129

Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 16. BVerfGE 24, 119 (144). 131 So bildhaft Jestaedt, DVBl. 1997, 693; ähnlich Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 50. 132 Das verfassungsrechtliche Gefüge von Elternrecht und staatlichem Wächteramt missversteht das zweitinstanzlich zuständige LG Osnabrück im Fall „Laura Jane“ (abgedruckt in ZfJ 1996, 528 = NStZ 1996, 437), das isoliert auf die „Freiräume, die die Verfassung dem Elternrecht einräumt“ abstellt, ohne auf den staatlichen Schutzauftrag gegenüber dem Kind einzugehen. 133 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 183. 134 Nach Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 24 m.w. N. in Fn. 130 sind unter Eingriffen alle staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die das Zusammenleben oder Zusammensein von Eltern(teilen) und dem Kind verhindern. 135 Vgl. hierzu Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 37 f. mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des EGMR. 136 Siehe Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 56. 137 Die Bundesrepublik Deutschland hat dies im Jahr 1952 getan; vgl. BGBl. II, S. 685. 130

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

(vgl. Art. 59 Abs. 2 GG), lediglich den Rang eines Bundesgesetzes unterhalb der Verfassung.138 Ihre Verletzung kann daher nicht unmittelbar Prüfungsgegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, jedoch beeinflussen die Normen die Auslegung der Normen des Grundgesetzes, sodass unter Umständen eine justitiable Verletzung des Rechtsstaatsgebots und des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegt.139 (aa) Schutzbereich Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fasst das Elternrecht140 sehr weit und hat in zahlreichen Entscheidungen das Verhalten nationaler Behörden und Gerichte für unverhältnismäßig erachtet.141 Maßgebend für die Rechtfertigung eines Eingriffs, zum Beispiel im Rahmen von Fürsorgemaßnahmen, ist stets das Kindeswohl, wobei dieses mit dem Elternrecht abgewogen wird. Zwar herrscht grundsätzlich eine geringe Kontrolldichte – die Prüfungsintensität seitens des Gerichtshofs nimmt jedoch zu, sofern ein endgültiger Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kind zu befürchten ist.142 (bb) Schutzpflichten Ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG leitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus Art. 3 EMRK143 eine staatliche Pflicht zum Schutz Minderjähriger vor schwer138

BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120. So erst jüngst das BVerfG JAmt 2004, 602. 140 Die Norm ist vom sachlichen Schutzbereich her weiter gefasst als das deutsche Recht und erfasst auch Pflegeeltern, s. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 16. 141 Vgl. zum Beispiel den Fall EGMR NJW 2003, 809 (812) (K and T v. Finnland) sowie den Fall Haase v. Germany (Application no. 11057/02, S. 20: „. . . the taking of a new-born baby into public care at the moment of its birth ist an extremely harsh measure. There must be extraordinarily compelling reasons before a baby can be physically removed from its mother, against her will immediately after birth as a consequence of a procedure in which neither she nor her partner has been involved . . .“), in denen es jeweils um die Trennung von Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt ging und der EGMR in beiden Fällen das staatliche Vorgehen als zu drastisch und nicht erforderlich im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erachtete. 142 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 37. 143 Sofern das Leben des Kindes auf dem Spiel steht, zieht der EGMR ergänzend Art. 2 EMRK heran. Der EGMR leitet Schutzpflichten des Staats aus den Art. 3 EMRK her, der das Verbot von Folter normiert; vgl. hierzu den bei Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 57, Fn. 42 angeführten krassen Fall E and Others v. United Kingdom (Application no. 33218/96) aus dem Jahr 2002 sowie den von Z and Others v. United Kingdom (Application no. 29392/95) aus dem Jahr 2001 (abgedruckt in ZfJ 2005, 159 ff.). 139

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wiegenden Gefährdungen für deren physisches und psychisches Wohl her. Auch er verpflichtet alle drei Gewalten zu einem effektiven Schutz und verlangt hierbei eine gewisse Dynamik, das heißt eine ständige Überprüfung des bestehenden Schutzkonzepts auf seine aktuelle Wirksamkeit. (b) Wirkung von Entscheidungen des EGMR Durch Art. 46 EMRK wird für alle Vertragsparteien die Pflicht begründet, den Entscheidungen des EGMR Folge zu leisten. Zwar besitzen dessen Urteile keine kassatorische Wirkung, sondern lediglich einen Feststellungseffekt, indes besteht – wie auch vom Bundesverfassungsgericht erst jüngst wieder herausgestellt144 – die Pflicht, Urteile des EGMR jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn verfahrensrechtlich zulässigerweise eine erneute Entscheidung über den Streitgegenstand ergehen kann, und wenn das Urteil auch in materieller Hinsicht nicht gegen nationales Recht verstößt. (3) Exkurs: Schutzpflichten im Rahmen eines Pflegeelternverhältnisses Eine weitere Besonderheit bei der Begründung staatlicher Schutzpflichten gegenüber in ihrem Wohl gefährdeten Kindern ergibt sich im Rahmen von Pflegeverhältnissen.145 Da Pflegeeltern, wie bereits erwähnt, nicht dem persönlichen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG unterfallen, kommt aufgrund der Akzessorietät des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG auf den ersten Blick für diese Fälle auch das staatliche Wächteramt nicht zum Tragen. Indes ergibt sich die Pflicht des Staats zur Gewährleistung des Kindeswohls hierbei direkt aus Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG.146 2. Träger des staatlichen Wächteramts Doch wer genau ist mit dem Terminus „die staatliche Gemeinschaft“ im Sinne des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG gemeint? 144 Beschluss des BVerfG v. 14.10.2004 (2 BvR 1481/04; Fall „Görgülü“), abgedruckt in JAmt 2004, 601 ff. (s. a. BVerfG v. 10.1.2005, 1 BvR 2790/04 auf die wiederum ablehnende Entscheidung des OLG Naumburg in dem Fall sowie den Beschluss v. 5.4.2005, abgedruckt in JAmt 2005, 370). 145 Vgl. in diesem Zusammenhang den vom BGH entschiedenen Fall „Alexander“ (abgedruckt in NJW 2005, 68 = DVBl. 2005, 250 = FamRZ 2005, 93), bei dem dem Pflegekind Schadensersatzansprüche wegen Amtshaftung zugesprochen wurden. Laut Meysen, NJW 2003, 3372, Fn. 63 wurden die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die zuständige Sozialarbeiterin durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart jedoch eingestellt. 146 Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 54.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

a) „Der Staat“ Stellt man auf die Eigenschaft des „staatlichen Wächteramts“ als verdichtete Schutzpflicht gegenüber dem Kind ab, dann scheint, wie bei den sonstigen, aus Grundrechten abzuleitenden Schutzpflichten, lediglich der Gesetzgeber deren Adressat zu sein. Überwiegend wird dies mit dem Argument der Gestaltungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und damit letztlich mit dem Gebot der Gewaltenteilung begründet.147 Bei dem Spezialfall des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ist zu beachten, dass es sich hierbei um eine gesetzlich explizit niedergelegte staatliche Schutzpflicht handelt, für die Art. 1 Abs. 3 GG gilt. Indes ist auch bei dieser aufgrund des rechtsstaatlichen Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes vorrangig die zur Gesetzgebung berufene Legislative148 aufgefordert, tätig zu werden. Innerhalb der von dieser statuierten Kompetenzbereiche sind allerdings auch Exekutive und Judikative durch die Norm angesprochen. b) Die sogenannten freien Träger Aufgrund der personellen oder finanziellen Unterversorgung wird die staatliche Gemeinschaft häufig nicht in der Lage sein, die aus dem staatlichen Wächteramt resultierenden Handlungen selbst auszuführen. Es stellt sich daher die Frage, ob der Staat die ihm von Verfassungs wegen übertragenen Aufgaben auf private Verbände oder Zusammenschlüsse delegieren kann. Das Grundgesetz sieht diese Möglichkeit nicht ausdrücklich vor. Im übrigen sprechen sowohl der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG als auch die Systematik (Art. 1 Abs. 3 GG) und das Telos des Wächteramts, welches ursprünglich auf die „klassische Eingriffsverwaltung“ und damit auf originär staatliche Tätigkeiten ausgerichtet war, eher gegen die Übertragbarkeit von Aufgaben.149 Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1976 nicht direkt Bezug auf diese Fragen genommen, sondern die Delegation von Aufgaben auf sogenannte freie Träger als mit dem Sozialstaatsprinzip150 vereinbar erklärt. Zugleich hat es die

147 H. Dreier, Jura 1994, 513: „. . . allgemeine Regel (. . .), dass lediglich das ,Ob‘, nicht jedoch das ,Wie‘ als grundrechtsgeboten qualifiziert werden kann“; vgl. auch E. Klein, NJW 1989, 1637 f. 148 Bislang ist die Kinder- und Jugendhilfe Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 72 Abs. 2, 74 Abs. 1 Nr. 7 GG: „öffentliche Fürsorge“). Durch die Föderalismusreform wird sich die Kompetenz angesichts der in Art. 84 Abs. 1 GG neu geschaffenen Möglichkeit der Länder, abweichende Verfahrens- und Behördenregelungen zu treffen, z. T. auch im Kinder- und Jugendhilferecht auf die Länder verlagern; hierzu krit. Meysen, JAmt 2006, 217 ff. 149 Siehe hierzu Heilmann, ZfJ 2000, 44. 150 Vgl. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG.

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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Gesamtverantwortung des Staats bei der Wahrnehmung behördlicher Aufgaben betont.151 Damit hat es herausgestellt, dass dieser sich durch die Übertragung von Befugnissen an freie Träger nicht seiner verfassungsrechtlich auferlegten Verantwortung vollends entledigen kann, sondern auch im Rahmen der Delegation stets sicherzustellen hat, dass er dem ihm auferlegten Wächteramt selbst genügen kann. Zu diesem Zweck muss er die Ausführung der Aufgaben durch die nichtstaatlichen Organisationen überwachen und kontrollieren.152 Zusammenfassend folgt also aus der Aufgabendelegation, dass die eigentliche Wächterpflicht gegenüber den Eltern sich in eine solche gegenüber den freien Trägern umwandelt. 3. Inhalt des Wächteramts Dem in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verwendeten Terminus der „Wacht“ ist nicht viel für den Inhalt der dem Staat auferlegten Aufgabe zu entnehmen. Daher ist es vonnöten, die Anforderungen an Schutzpflichten allgemein näher zu betrachten, um im folgenden unter Rückgriff auf Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG das Wesen dieser „Obacht“ näher umschreiben zu können.153 a) Anforderungen an Schutzpflichten allgemein Zunächst ist im Zusammenhang mit staatlichen Schutzpflichten allgemein darauf hinzuweisen, dass deren Existenz nichts darüber aussagt, welche konkreten Maßnahmen der Staat zu ergreifen hat. Vielmehr besitzt dieser ein Ermessen dahingehend, wie auf eine bestimmte Gefahrenlage zu reagieren ist.154 Notwendig ist lediglich, dass ein hinreichender Schutz für das betreffende Rechtsgut gewährleistet wird, dass also mit anderen Worten dem aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspringenden Untermaßverbot Genüge getan wird. Zu diesem Zweck hat die Legislative entsprechende Gesetze zu erlassen. Indes endet die Wirkung staatlicher Schutzpflichten hiermit nicht, vielmehr haben die Exekutive wie auch die Judikative jeweils im Rahmen des Vollzugs dieser Regelwerke einen adäquaten Schutzstandard innerhalb der ihnen zustehenden Kompetenzen walten zu lassen.155 151

BVerfGE 22, 180 (202). BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 182; Heilmann, ZfJ 2000, 44. 153 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 183. 154 Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 164, Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 53. 155 Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 53 f. 152

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Überdies beinhaltet das Schutzpflichtenkonzept für den Staat den Auftrag, den bereits statuierten Schutzstandard vor dem Hintergrund möglicher neuer Gefahrenquellen regelmäßig auf seine Wirksamkeit zu überprüfen.156 b) Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG Sinn und Zweck der Schutzpflicht ist die Kompensation der fehlenden Verteidigungsfähigkeit des Kindes vor Gefahren für sein Wohl. Daher hängen die Entstehung und der Umfang der Pflichten des Staats zum Schutz außer von der Art, dem Grad und Ausmaß der Gefahr auch vom Rang des gefährdeten Rechtsguts und dem bereits vorhandenen gesetzlichen Schutzapparat ab.157 (1) Primat vorbeugender Tätigkeit Der Staat hat in erster Linie Verletzungen für das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Kindes zu vermeiden158, er hat also eine „vorausschauende Wacht“159 zu betreiben und ist nicht auf ein reaktives Tätigwerden im Fall eines bereits eingetretenen Erziehungsschadens beschränkt.160 Ist eine Gefährdung des Wohls zu befürchten, muss der Staat sie abwehren oder – sofern sich die Gefahr schon realisiert hat – den eingetretenen Schaden kompensieren. (2) Informationsbeschaffung Für präventives wie reaktives Tätigwerden ist naturgemäß die Kenntniserlangung der zuständigen Stellen vonnöten. Der Staat ist daher zur Erfüllung seiner Aufgabe erforderlichenfalls zu sogenannten Informationsbeschaffungseingriffen161 bei Dritten, wie zum Beispiel Nachbarn, Lehrern etc., befugt. Dies jedoch nur dann, wenn Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung beste-

156 Isensee, HStR V, § 111, Rn. 153. Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 54 sprechen einprägsam von einem „Auftrag zum dynamischen Grundrechtsschutz“. 157 BVerfGE 49, 89 (142) [Kalkar I]; 56, 54 (78) [Fluglärm]; Brünning, JuS 2000, 955, 957. 158 BVerfGE 10, 59 (84). 159 So die Formulierung von BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 185; vgl. auch Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 49. 160 Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 75. 161 So BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 186; Heilmann, ZfJ 2000, 45; ders. in Wächteramt und Jugendhilfe, S. 7; vgl. hierzu auch Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 75.

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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hen.162 Rechtsdogmatisch begründen lässt sich diese Befugnis mit einem Annex zu der Schutzpflicht des Staats.163 Hieraus folgt jedoch wegen des Übermaßverbots kein Recht zu einer „Rundum-die-Uhr-Betreuung“ von „Problemfamilien“.164 Zudem ist mit dieser Argumentation weder ein Betretensrecht der elterlichen Wohnung, noch ein Auskunftsrecht gegenüber den Personensorgeberechtigten selbst bzw. eine Übermittlungsbefugnis von Daten an andere Träger der Jugendhilfe verbunden. Derartige Eingriffe bedürfen wegen ihrer starken Grundrechtsrelevanz165 einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage.166 (3) Verhältnismäßigkeit Ist das „Ob“ der Eingriffsmöglichkeit des Staats bejaht, wird die Frage relevant, welche Maßnahmen der Staat konkret zu ergreifen hat. Dies hängt davon ab, ob dem Eingriff ein legitimes Regelungsziel zugrunde liegt, welches das rechtsstaatlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprinzip zulässt.167 Die vorzunehmende Handlung muss demnach das geeignete und relativ mildeste Mittel sein, das im Einzelfall auch nicht zu unangemessenen Ergebnissen führt. Nach Möglichkeit muss der Staat zunächst auf helfende und auf Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen zurückgreifen168 – dies nicht zuletzt aufgrund der bereits erwähnten, dem Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG immanenten objektiven Werteentscheidung zugunsten der Erziehung des Kindes durch die Eltern. Oft wird jedoch eine entscheidende Einschränkung dieses grundsätzlichen Vorrangs der Hilfe vor dem Eingriff übersehen: Eine Hilfe muss im konkreten Fall überhaupt geeignet sein.169 Ein pauschaler zeitlicher Vorrang unterstützender Hilfen ist der Verfassung daher nicht zu entnehmen. 162

Böckenförde in Essener Gespräche, S. 79. In diese Richtung gehen auch die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, u. a. abgedruckt in ZfJ 2004, 192 sowie im Anhang der Arbeit („. . . Vorfrage“). 164 Wiesner, ZfJ 2004, 166. 165 Vgl. Art. 13 GG sowie Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 GG in der Ausprägung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung – entwickelt wurde diese Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Bundesverfassungsgericht im sogenannten „Volkszählungsurteil“ (BVerfGE 65, 1(41)). 166 Den hiermit angesprochenen Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes vernachlässigt Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 137, indem er – freilich im Zusammenhang mit dem Amtsbeistand/Amtspfleger/Amtsvormund – meint, eine Übermittlungsbefugnis mit der grundrechtsimmanenten Beschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ableiten zu können. 167 M/D-Badura, GG, Art. 6, 41. Lieferung (Oktober 2002), Rn. 98; Ossenbühl, Erziehungsrecht, S. 76. 168 BVerfGE 24, 119 (144 f.). 163

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

c) Anspruch des Kindes auf staatliches Tätigwerden? Mit der Antwort auf die Frage, in welchen Fällen und auf welche Art und Weise der Staat zum Schutz des Kindes tätig werden muss, ist jedoch noch nicht beantwortet, in welchen Konstellationen sich aus der Pflicht zum Schutz des Kindes auch ein Recht desselben auf staatliche Intervention gegenüber den Eltern ergibt. Hat das Kind also aus dem staatlichen Wächteramt als Verdichtung der dem Staat obliegenden Schutzpflichten einen Anspruch auf Tätigwerden? Und wenn ja, wann besteht dieser Anspruch? (1) Grundsätzliche Existenz eines Anspruchs Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG bietet keinen Hinweis auf ein subjektiv-öffentliches Recht des Kindes auf ein staatliches Tätigwerden. Auch das Schutzpflichtenkonzept führt nicht zu einem Anspruch des gefährdeten Kindes, da es sich zunächst nur an den Gesetzgeber selbst richtet, nicht jedoch auch an die Exekutive.170 In diesem Zusammenhang wird jedoch das vom Bundesverfassungsgericht gebrauchte Argument zur Begründung des staatlichen Wächteramts relevant, wonach vorrangig die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes zu einer staatlichen Schutzpflicht führen. Dass Art. 1 Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG subjektive Grundrechtspositionen begründen, ist unumstritten.171 Nicht einheitlich wird jedoch beurteilt, ob der subjektivrechtliche Charakter der Normen dem des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG gleichzustellen ist. So interpretiert ein Teil der Literatur die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in der Weise, dass das Kind lediglich Begünstigter, nicht jedoch auch zwingend Berechtigter sei – ansonsten hätte es nicht der Heranziehung zusätzlicher grundrechtlicher Schutzpflichten bedurft.172 Die Vertreter dieser Ansicht bemühen also ein argumentum e contrario, um den subjektiv-rechtlichen Charakter des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG abzulehnen. 169

Hierauf weist zutreffend Heilmann, ZfJ 2000, 45 hin. Darauf weisen zutreffend Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 87, Fn. 43 hin. Sie meinen allerdings offenbar nicht, dass Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG eine Verdichtung von Schutzansprüchen darstellt, sondern wollen das Schutzpflichtenkonzept zu dem von ihnen bejahten Rechtsanspruch aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG „verstärkend“ hinzuziehen. 171 Siehe statt aller Maurer, AT, § 8, Rn. 11. 172 So BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 175, der Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG konsequenterweise als „atypische grundrechtliche Schutzpflicht“ erachtet. 170

B. Verfassungsrechtliche Ausgangsposition

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Dem ist entgegenzuhalten, dass die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts gerade so zu verstehen sind, dass es sich bei Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG um die Verdichtung der anerkannten Schutzpflichten aus Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG handelt. Die Regelung des staatlichen Wächteramts stellt sich nicht als aliud, sondern als eine Übertragung in Übereinstimmung mit diesen Pflichten dar.173 Folglich erscheint es vorzugswürdig, aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG Schutzansprüche zugunsten des Kindes folgen zu lassen, sofern die Norm einschlägig ist.174 (2) Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs Damit ist noch nicht beantwortet, wann genau dieser Anspruch entsteht. Auch insoweit hilft der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG nicht weiter. Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich, wenn man die Norm systematisch auslegt. In Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist der grundsätzliche verfassungsrechtliche Vorrang des Elternrechts im Hinblick auf die Pflege und Erziehung des Kindes statuiert. Hieraus folgt, dass das staatliche Wächteramt, und damit auch Ansprüche des Kindes auf staatliches Tätigwerden, nur dann einschlägig sind, wenn das Kindeswohl gefährdet erscheint.175 4. Grenzen des Wächteramts a) Verhältnismäßigkeitsprinzip Da durch das Wächteramt unter Umständen in das elterliche Abwehrrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eingegriffen wird, hat der Staat bei der Auswahl der zu treffenden Maßnahmen in erster Linie das bereits erwähnte Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten. (1) Übermaßverbot Zunächst wird dessen Ausprägung als Übermaßverbot relevant, bestimmt dieses doch nicht nur den Inhalt der Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Beseitigung einer Kindeswohlgefährdung, sondern führt es auch dazu, dass bestimmte Gren173

Ähnlich auch Gröschner in Dreier, GG, Art. 6, Rn. 121. Einen Anspruch nehmen auch Leipholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 6, Rn. 637; Jeand’Heur, Schutzgebote, S. 90 ff. und – anhand der verfassungskonformen Auslegung von Normen des SGB VIII-Coester, FamRZ 1991, 256 sowie LPK-SGB VIIISteffan, § 1, Rn. 13; Schellhorn, § 1, Rn. 14, Wiesner, SGB VIII, § 1, Rn. 24 und MüKo-Strick, SGB VIII, § 1, Rn. 5 an. 175 Ebenso Coester, FamRZ 1991, 256. 174

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

zen nicht überschritten werden dürfen, sofern sie im Einzelfall zu unangemessenen Ergebnissen führen würden. Zulässig ist es für den Staat demnach nur, das relativ mildeste Mittel einzusetzen. (2) Untermaßverbot Indes folgen Beschränkungen des Wächteramts nicht ausschließlich im Hinblick auf ein „Zuviel“ an staatlichem Eingriff. Wie bereits dargelegt, verdichten sich in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG Schutzpflichten des Staats. Es kann sich daher auch die Frage stellen, ob die getroffenen Maßnahmen überhaupt ausreichend waren, um dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Rechtsgüter des Kindes zu gewährleisten, ob also die Grenze „nach unten“ beachtet wurde. Welches Vorgehen hierzu geboten ist, wird vom Bundesverfassungsgericht nicht eindeutig artikuliert. Während es sich in den überwiegenden Fällen auf eine Evidenzkontrolle beschränkt, hat es vereinzelt seinen Prüfungsspielraum auf einen Verstoß gegen das sogenannte Untermaßverbot erweitert. Mit der enger gefassten Evidenzkontrolle trägt das Bundesverfassungsgericht der Tatsache Rechnung, dass im staatlichen Gefüge Deutschlands allein ein Teil der Legislative unmittelbar demokratisch legitimiert ist.176 Daher sei es in erster Linie Sache des Parlaments, den Schutz der Grundrechte zu gewährleisten; ihm gebühre eine Einschätzungsprärogative.177 Diese sei nur dann nicht einschlägig, wenn ein Schutz überhaupt nicht existiere oder wenn evident unzulängliche Maßnahmen getroffen worden seien. In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch hat das Bundesverfassungsgericht hingegen einen strengeren Prüfungsmaßstab angelegt178 und hinterfragt, ob der Gesetzgeber das relevante empirische Material sorgfältig ermittelt und hinzugezogen, ob er die widerstreitenden Interessen miteinander abgewogen hat, und ob schließlich die daraufhin erlassenen Maßnahmen den Schutz der gefährdeten Rechtsgüter effektiv gewährleisten können.179 Auch bei dieser Prüfung darf das Bundesverfassungsgericht jedoch das Gewaltenteilungsprinzip nicht außer Acht lassen; es darf sich nicht zum subsidiären Gesetzgeber aufschwingen. Insbesondere hat es der Legislative einen Prognosespielraum bezüglich der Effektivität der verschiedenen denkbaren Mittel zur Erreichung des beabsichtigten Ziels zuzugestehen.

176

Vgl. z. B. den Nichtannahmebeschluss des BVerfG in NJW 1998, 3264, 3265. In diesem Sinne auch Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 53. 178 BVerfGE 88, 203 (254) unter Berufung auf Isensee in: HStR V, § 111, Rn. 165 f.; krit. hierzu Hermes/Walther, NJW 1993, 2337, 2340. 179 Beispiele für die Durchführung der Prüfung anhand bekannter Entscheidungen des BVerfG bei Michael, JuS 2001, 764, 767. 177

C. Zusammenfassung – verfassungsrechtliche Grundlagen

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b) Objektive Werteordnung Überdies ergeben sich bei der Bestimmung der staatlichen Eingriffsbefugnisse Einschränkungen aus der in Art. 6 Abs. 1 GG angesprochenen objektiven Wertentscheidung des Grundgesetzes, die als Keimzelle des Staats zu verstehende Familie zu schützen.180 Hieraus folgt – wie auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – für den Staat die Verpflichtung, primär eine Wiederherstellung der elterlichen Verantwortung zu favorisieren, anstatt das Kind von der Familie zu trennen. c) Art. 6 Abs. 3 GG Schließlich ergeben sich für den Staat Beschränkungen durch Art. 6 Abs. 3 GG, der eine unfreiwillige Trennung der erziehungsberechtigten Eltern181 von ihrem Kind auf Fälle der Verwahrlosung wegen Versagens der Erziehungsberechtigen oder aus anderen Gründen begrenzt und damit implizit ein sogenanntes relatives Trennungsverbot182 aufstellt. Die Norm ist als eigenständiges Grundrecht mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt zu charakterisieren.183 Sie regelt und beschränkt zugleich einen besonderen Fall der Ausübung des staatlichen Wächteramts184 – den stärksten Eingriff in das Elternrecht.185 Durch Art. 6 Abs. 3 GG wird die Stellung der Eltern, denen außerdem das Recht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zusteht, verstärkt, und der Rechtfertigungsdruck auf den Staat im Vergleich zur Trennung des Kindes von sonstigen Erziehungsberechtigten ohne Elterneigenschaft erhöht.186

C. Zusammenfassung – verfassungsrechtliche Grundlagen Den Eltern wird durch die Verfassung die Verantwortung für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder zugewiesen (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Dem Staat steht hingegen im Rahmen der familiären Erziehung – anders als in dem der Schule – kein eigenes Erziehungsrecht zu. 180

Erichsen, Elternrecht-Kindeswohl-Staatsgewalt, S. 58; Heilmann, UJ 2001, 411,

414. 181 Art. 6 Abs. 3 GG bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Trennung des Kindes von den Eltern, sondern betrifft das unfreiwillige Auseinanderreißen der Familie gegen den Willen der Erziehungsberechtigten, welche nicht zwingend mit den Eltern identisch sein müssen. 182 BVerfGE 76, 1 (48). 183 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 217, 250. 184 BVerfGE 24, 119, (138). 185 BVerfGE 60, 79 (89); 68, 176 (187); 79, 51 (60). 186 BK-Jestaedt, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 220.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Mit der Verleihung der Erziehungs- und Pflegerechte und -pflichten gewährt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den Eltern eine Bestimmungsmacht über ihr Kind. Dies ist im Lichte der Menschenwürde damit zu rechtfertigen, dass das Elternrecht ein fremdnütziges Grundrecht darstellt. Oberste Richtschnur jeglichen elterlichen Handelns ist das Kindeswohl. Durch diese dogmatische Prämisse ist zugleich das Rangverhältnis zwischen der elterlichen Verantwortung und dem Kindeswohl erkennbar: Letzterem ist von Verfassungs wegen der Vorrang einzuräumen. Primär sind die Eltern dazu ermächtigt, herauszufinden, was im einzelnen dem Wohl ihres Kindes entspricht, ihnen kommt also ein Interpretationsprimat zu. Jedoch zeigt Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, dass es sich dabei um keine Monopolstellung handelt. Ist eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten, so verpflichten die Grundrechte des Kindes den Staat zu dessen Schutz. Diese Schutzpflichten haben sich im staatlichen Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) verdichtet. Bei der Auswahl der zu ergreifenden Maßnahmen sind die verfassungsrechtlichen Besonderheiten der Eltern-Kind-Beziehung zu beachten. Da Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den Eltern ein Abwehrrecht gegen den Staat gewährt, muss ein Eingriff in dieses Recht zunächst das Übermaßverbot beachten. Ein genereller Vorrang staatlicher Hilfsangebote vor Eingriffen in die elterliche Sorge ist dem nicht zu entnehmen. Die Frage, ob Hilfen gegenüber dem Eingriff das mildere Mittel darstellen, wird nur dann relevant, wenn die Hilfen überhaupt geeignet erscheinen. Entscheidend ist daher die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Hilfsmaßnahmen im jeweiligen Einzelfall. Zu beachten ist außerdem, dass aus Grundrechten des gefährdeten Kindes Schutzpflichten resultieren, die dazu führen, dass das sogenannte Untermaßverbot nicht verletzt werden darf. In bestimmten Fällen ist ein Eingreifen des Staats in die elterliche Sorge unumgänglich. Der Gesetzgeber hat den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag durch das SGB VIII sowie das BGB einfachgesetzlich sowohl auf die Exekutive als auch auf die Judikative verteilt. Zwar wird in der Rechtswirklichkeit ein überwiegender Teil der Arbeit der Exekutive von den sogenannten freien Trägern verrichtet. Indes handeln diese nicht in Erfüllung des verfassungsrechtlichen Wächteramtsauftrags, weil Art. 1 Abs. 3 GG den Adressatenkreis der Grundrechte auf die öffentliche Gewalt beschränkt. Vielmehr agiert in diesem Fall die Exekutive als staatliche Wächterin, indem sie die Mitarbeiter der freien Träger bei ihrer Arbeit überwacht.

D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts

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D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts Durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG wird der Legislative der Auftrag erteilt, das Eltern-Kind-Verhältnis und den in diesem Zusammenhang verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Kindes gesetzlich auszugestalten.187 Was konkret bei einem nicht dem Kindeswohl entsprechenden Verhalten der Eltern zu tun ist, hat der Gesetzgeber nicht in einem einheitlichen Regelwerk zusammengefasst. Vielmehr hat er die Folgen mit dem SGB VIII und mit dem Vierten Buch des BGB188 im wesentlichen189 auf das Öffentliche und das Bürgerliche Recht verteilt.190 Er hat damit die Verantwortung für die Kinder- und Jugendhilfe der Judikative (Familiengericht) und Exekutive (Jugendamt) aufgebürdet.191 Nachfolgend sollen die Struktur der Regelwerke und insbesondere die Normen, die das staatliche Wächteramt verwirklichen, näher vorgestellt werden.

187 BVerfGE 24, 119 (149 f.). Dass der hierfür erforderliche Gesetzesvorbehalt neben dem Art. 6 Abs. 3 GG auch implizit dem Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zu entnehmen ist, wurde bereits erläutert (s. o. Teil 1 B. III. 3. a)). 188 Zu beachten ist, dass nicht für jede ehe- und familienbezogene Regelung wegen des Vorbehalts des Gesetzes ein Gesetz notwendig ist. Der Normgeber hat sich beim Erlass des Grundgesetzes an den zu diesem Zeitpunkt bereits existenten Normen des Bürgerlichen Rechts orientiert. Diesen kommt daher ein definierender, nicht jedoch ein eingreifender Charakter zu, sofern sie nicht gerade darauf gerichtet sind, die Ehe und Familie zu beschränken; vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 647 ff. 189 Nicht verschwiegen werden soll jedoch, dass das StGB ebenfalls Regelungen enthält, die kindeswohlschädigendes Verhalten – z. T. vorrangig von Eltern – sanktionieren (vgl. § 171 StGB; hierzu vert. Bohnert, ZStW 117 (2005), 292 ff. Empirische Daten bei Ostendorf, Inpflichtnahme, S. 11 ff., der die Kriminalstatistik und die zu § 170d StGB a. F. (= § 171 StGB n. F.) in Schleswig-Holstein in den Jahren 1992– 1997 ergangenen Ermittlungsverfahren wegen dieses Delikts analysiert). Zugunsten des Kindesschutzes auch als Sache des Strafrechts siehe Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 98. Unzutreffend die Aussage von Kreutz, ZfF 2000, 203, dass es sich bei § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII um die kinder- und jugendhilferechtliche Spezifizierung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes handele. Kreutz vermengt dabei die verwaltungsrechtliche Primär- und die strafrechtliche Sekundärebene. 190 In jüngerer Zeit sind auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts auf der Grundlage des Kindschaftsrechtsreformgesetzes (in Kraft getreten am 1.7.1998) das Gewaltschutzgesetz (in Kraft getreten am 11.12.2001) sowie das Kinderrechteverbesserungsgesetz (in Kraft getreten am 12.4.2002) zu nennen. 191 Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 58, führen aus, dass diese institutionelle Aufgabenverteilung von Verfassungs wegen nicht geboten war; ähnlich auch Wiesner, ZfJ 2004, 166, der die Zuweisung an die Gerichte für „traditionell“ erachtet; aA Meysen, ZfJ 2001, 410 f. – er meint, aufgrund der sogenannten Wesentlichkeitstheorie sei eine Entscheidung durch den „sachlich und persönlich unabhängigen Richter (Art. 97 GG)“ notwendig.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

I. SGB VIII 1. Vom JWG zum SGB VIII192 An die Stelle des JWG aus dem Jahr 1961 ist nach einer jahrzehntelang andauernden Reformdebatte193 gemäß Art. 1 des KJHG vom 26.6.1990 das SGB VIII getreten.194 Es erlangte am 1.1.1991 in den alten, mit dem Einigungsvertrag in den neuen Bundesländern bereits am 3.10.1990 Wirksamkeit. Das Kinder- und Jugendhilferecht stellt einen Besonderen Teil des Sozialgesetzbuchs dar, auch wenn der der Kinder- und Jugendhilfe auferlegte Schutzauftrag den sonstigen Büchern des SGB fremd ist.195 Das JWG ging im Kern auf das RJWG aus dem Jahr 1922 zurück196 und wies starke eingriffs- und ordnungsrechtliche Züge auf.197 Zwar hatte sich die Praxis der Jugendhilfe nach 1961 stark verändert – de lege lata bestanden ihre Ziele jedoch noch immer im wesentlichen in der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung sowie in autoritativer Fürsorglichkeit.198 Vorrangiger Beweggrund für die Einführung des SGB VIII war es nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers, den de facto bereits eingetretenen „Perspektivenwechsel“199 in der Kinder- und Jugendhilfe nunmehr auch im gelten-

192 Chronologie zur bisherigen Jugendhilfegesetzgebung in Deutschland (ohne das TAG bzw. KICK) bei Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 12; vert. hierzu Jordan/Sengling, S. 18 ff.; Hannemann, S. 96 ff., 148 ff. 193 Bereits in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts begannen von verschiedenen Seiten Überlegungen zu einer Reform, s. Wiesner, SGB VIII, Einl., Rn. 3 ff. 194 Das KJHG stellt ein sog. Artikelgesetz dar. Neben dem Stammgesetz, dem SGB VIII, das in Art. 1 KJHG geregelt wird, enthält das KJHG in anderen Artikeln die Neuregelung weiterer Gesetze, welche die Kinder- und Jugendhilfe betreffen. Die in der Praxis häufig anzutreffende Angewohnheit, Normen des SGB VIII als solche des KJHG zu zitieren, ist daher nicht korrekt, sondern kann genaugenommen lediglich in der Form „Art. 1 § . . . KJHG“ erfolgen. 195 Mrozynski, SGB I, § 8, Rn. 2, § 27, Rn. 1; Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 62. 196 Gleiches galt für die Jugendhilfeverordnung der DDR aus dem Jahr 1966; vert. hierzu Seidenstücker, NDV 1990, 234. 197 Vgl. dazu auch Mörsberger in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 95: „Wie sich in dieser Hinsicht Jugendämter früher verstanden haben – in bester Absicht – habe ich als Rechtsreferendar bei einem Jugendamt noch hautnah miterlebt: ,Schauen Sie‘, sagte die Abteilungsleiterin, ,wie ich das mache: Ich setze die Mutter unter Druck, drohe mit dem Entzug des Sorgerechts, damit sie das Formular für die Heimunterbringung unterschreibt.‘ So konnte sie tatsächlich im nachhinein behaupten: ,Die Mutter war einverstanden, mit dem geringeren Eingriff.‘“ 198 Münder, Einführung, S. 14; Wiesner, FuR 1990, 325. 199 BT-DrS 11/5948, S. 41.

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den Recht zu verankern, den Gesetzestext also der Rechtswirklichkeit anzupassen.200 Im Zuge dessen wurden zum Beispiel die bereits seit geraumer Zeit von nur noch geringer praktischer Relevanz201 geprägten Instrumente der Fürsorgeerziehung und der gerichtlich angeordneten Erziehungsbeistandschaft abgeschafft, die eingreifenden Maßnahmen also reduziert. Gleichzeitig wurden der Leistungskatalog der Jugendhilfe erweitert und solche Hilfen einheitlich gesetzlich geregelt, die in der Praxis in unterschiedlicher Ausformung schon zuvor gewährt worden waren.202 2. Struktur des SGB VIII – vor und nach den aktuellen Neuerungen a) „Perspektivenwechsel“ Als das SGB VIII in Kraft trat, wurde der „Perspektivenwechsel“ teilweise in dem Sinne gedeutet, dass das Jugendhilferecht nunmehr keinerlei ordnungsrechtliche Züge mehr aufweise und die Jugendamtsmitarbeiter mit der Gesetzesreform ihre staatliche Wächterfunktion eingebüßt hätten.203 Diese Auffassung wurde nicht zuletzt durch die damalige Bundesregierung selbst gefördert, die schon auf dem Vorblatt des Gesetzentwurfs das SGB VIII als „Leistungsgesetz“ bezeichnete, welches das „eingriffs- und ordnungsrechtliche (. . .) Instrumentarium (. . .)“ des JWG ablösen sollte.204 200

BT-DrS 11/5948, S. 1. Der Grund dafür bestand in der Entscheidung des BGH vom 20.12.1978 (BGHZ 73, 131, 135 f.), in der die Subsidiarität der Fürsorgeentscheidung gegenüber gerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 BGB betont wurde. 202 Münder, Einführung, S. 15 f. 203 Beispielhaft die Aussage von Eichenhofer, JuS 1992, 279: „In der Jugendhilfe erscheint der Staat also nicht mehr als Schutzmann, sondern als sozialpädagogischer Animateur.“ Vgl. auch Mörsberger in seinem Plädoyer im Fall „Laura Jane“ vor dem LG Osnabrück (abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 101): „Das Jugendamt ist Jugendamt und nicht Wächteramt.“ sowie das LG Osnabrück (ZfJ 1996, 527 = NStZ 1996, 439): „(. . .) nahezu keinerlei unmittelbare Eingriffsmöglichkeiten. Methodisch kann Jugendhilfe fast ausschließlich nur auf der Basis der Mitarbeitsbereitschaft der Eltern oder Erziehungsberechtigten tätig werden.“ Passend im übrigen die Aussage einer der beschuldigten Sozialarbeiter im Fall „Jenny“, wiedergegeben bei Wiesner, ZfJ 2004, 161, Fn. 11: „Wenn die Eltern nicht einverstanden sind, kann man nichts tun“ (vom OLG Stuttgart moniert in seinem Urteil, abgedruckt in NJW 1998, 3133). Vgl. schließlich auch die empörte Äußerung von Fieseler in UJ 2001, 436: „So wurde auf einer Frankfurter Tagung einem Podiumsteilnehmer nicht widersprochen, der allen Ernstes meinte, einer (noch) sorgeberechtigten Mutter müsse das Kind schon um dieses Rechts willen aus der Klinik selbst dann mit nach Hause gegeben werden, wenn von ihr Gefahren für Leib und Leben des Kindes ausgehen. Es wurde völlig übersehen, dass dies (jedenfalls) bei einem völlig hilflosen Kleinkind eine Aussetzung im strafrechtlichen Sinne (§ 221 StGB) sein kann.“ 204 BT-DrS 11/5948. Eine gewisse Klarstellung erfolgt erst auf S. 48. 201

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Die geltenden Regelungen auf ein reines Leistungsgesetz zu reduzieren, würde jedoch bedeuten, die Struktur des SGB VIII zu verkennen205, wie auch die damalige Bundesregierung ausdrücklich in ihrem ursprünglichen Entwurf zum TAG dargelegt hat.206 Bereits der Wortlaut des § 2 Abs. 1 SGB VIII und auch die Systematik des Gesetzes insgesamt zeigen nämlich, dass das Gesetz zwischen „Leistungen“207 und „andere(n) Aufgaben“208 unterscheidet.209 Der Gesetzgeber trägt durch diese Differenzierung den Vorgaben der Generalklausel und Leitnorm210 des § 1 SGB VIII Rechnung. Er wiederholt hierin den in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geregelten grundsätzlichen Vorrang elterlicher Erziehungsverantwortung sowie die Existenz eines staatlichen Wächteramts einfachgesetzlich (vgl. § 1 Abs. 2 SGB VIII).211 Demnach besteht das Ziel212 der Jugendhilfe gemäß § 1 Abs. 3 SGB VIII sowohl in der Beratung und Unterstützung der Eltern bei der Erziehung213 als auch im Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl214. Ist eine konkrete Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB zu verneinen, so steht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG allein den Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihres Kindes zu. Der Staat hat sich in dem Fall auf die Stärkung der elterlichen Erziehungsverantwortung zu beschränken, um hierdurch eine Form mittelbaren Kinderschutzes zu betreiben.215 205 Pointiert Fieseler, Sozialextra 2000, 14: „Die Rede vom ,Perspektivenwechsel‘ und der Wunsch, den (angeblichen) Ruf einer ,Elternverfolgungsbehörde‘ los zu werden, haben manche Jugendamtsmitarbeiter – hart ausgedrückt – um den Verstand gebracht“. Krit. auch dessen Äußerungen in Sozialextra 2004, 43. Vgl. auch Ostendorf, Inpflichtnahme, S. 43 f. 206 Vgl. BT-DrS 15/3676, S. 25: „Einem solchen Dienstleistungsverständnis sind durch den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe zur Abwendung von Gefahren für das Kindeswohl (vgl. auch § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII) strukturelle Grenzen gesetzt.“ Siehe auch die Äußerung in der Bundesratsinitiative zum KEG (BR-DrS 712/ 04): „Diese (die Jugendämter, Anm. nicht im Original) sind nicht ausschließlich Dienstleistungsbehörden.“ 207 Vgl. § 2 Abs. 2 SGB VIII und zweites Kapitel des SGB VIII. 208 Siehe § 2 Abs. 3 SGB VIII sowie drittes Kapitel des SGB VIII. 209 Plakativ Kunkel, FamRZ 1997, 193 (194): „Eingriff und Leistung sind im KJHG keine getrennten Handlungsfäden, sondern nach Art eines Zopfmusters miteinander verflochten.“ 210 BT-DrS 11/5948, S. 44. 211 Die Normenhierarchie verkennen in diesem Zusammenhang Feldmann/Hillmeier/Lichtinger, BLJA – Mitteilungsblatt 4/1997, die das „. . . Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft (. . .) nicht im Gegensatz zum SGB VIII (. . .) sehen, vielmehr als Konkretisierung . . .“. Nicht das GG konkretisiert das SGB VIII, sondern umgekehrt. 212 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 24. 213 Vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII. 214 Siehe § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII. 215 BT-DrS 11/5948, S. 1; vgl. auch Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 18; ders., Tod eines Kindes, S. 20.

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Ist hingegen die Gefährdungsschwelle für das Kindeswohl überschritten, können sich Eltern nicht auf ihre Rechte aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG berufen; ihr Handeln unterfällt in diesem Fall nicht mehr dem Schutzbereich des Grundrechts.216 Der Staat ist daher nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in der Lage – und aufgrund seiner Schutzpflichten gegenüber dem Kind auch dazu verpflichtet – unmittelbaren Kinderschutz zu betreiben. Folgerichtig sind dem SGB VIII sowohl Aspekte des Ordnungsrechts als auch solche der Sozialpädagogik immanent217 – ein Umstand, den das auf dem vorkonstitutionellen RJWG fußende JWG naturgemäß nicht in dem Maß zu berücksichtigen vermochte. Welche Handlungsstrategien die Jugendämter im Fall von familiären Krisen konkret verfolgen können, soll im folgenden dargestellt werden. b) TAG, KICK und KEG Zuvor soll jedoch kurz auf aktuelle Reformen eingegangen werden. Der Deutsche Städtetag hatte im April 2003 Empfehlungen zum Umgang mit Fällen von Kindeswohlgefährdung abgegeben und dies mit einem aus den bislang durchgeführten Strafverfahren erwachsenen Interesse der Mitarbeiter von Jugendämtern begründet.218 In der Folge griff die damalige Bundesregierung diese Empfehlungen auf und verarbeitete sie – recht versteckt – in einem Gesetzentwurf zum TAG.219 Sie nannte als maßgebenden Anlass hierfür ebenfalls tragische Fälle von Kindeswohlgefährdungen.220 216 Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 52; Heilmann, ZfJ 2000, 41. Dass jedoch ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, da die Maßnahmen des Jugendamts in die Zukunft gerichtet sind, wurde bereits im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grundlagen erläutert (s. o. Teil 1 B. I. 2. a) (1)). Es stimmt daher, wenn Harnach-Beck, Sozialmagazin 1996, 27 von einer „Beschneidung der Elternrechte“ im Fall einer anders unabwendbaren Gefahr für Leben und Gesundheit des Kindes spricht, und wenn Wiesner, ZfJ 2004, 166 bei Maßnahmen gegen den Willen der Eltern eine „Entmachtung der Eltern – eine Einschränkung oder einen Entzug ihres unverantwortlich genutzten Elternrechts“ voraussetzt. 217 Ebenso GK-SGB VIII-Fieseler, § 1, Rn. 17; Baltz in: öffentliche Verantwortung, S. 190 f.; Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl, S. 356 („. . . verschränken sich dienstleistungs- und wächteramtsorientierte Aufgaben oft (. . .) miteinander . . .“). Das vorstehend aufgeführte Zitat von Eichenhofer ist also zumindest missverständlich, stimmte jedoch insofern, als Jugendamtsmitarbeiter nach den Normen des SGB VIII in der bis zum Inkrafttreten des KICK geltenden Fassung nicht selbst die Kinder aus der Familie „holen“ konnten. 218 Siehe hierzu ZfJ 2004, 187 sowie den Anhang. 219 Zu Teilen des Gesetzgebungsverfahrens (vom ursprünglichen Gesetzentwurf über Bedenken der Opposition zur Finanzierung der Reformen bis hin zum „Splitting“ zum Zweck der Verhinderung der Ablehnung des in toto zustimmungsbedürftigen Gesetzes im Bundesrat) vgl. den Überblick bei Wiesner, ZfJ 2004, 447 ff. 220 Vgl. zu derartigen Fällen bereits oben Teil 1 A.

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Zwar wurden diese Regelungen nicht – wie ursprünglich beabsichtigt – zum 1.1.2005 umgesetzt, indes wurden sie – z. T. modifiziert und für viele überraschend – noch vor dem Ende der Legislaturperiode nach der zweiten und dritten Lesung am 3.6.2005 vom Bundestag beschlossen221 und am 8.7.2005 vom Bundesrat mit der erforderlichen Zustimmung versehen.222 Das KICK trat am 1.10.2005 in Kraft.223 Ursprünglich beabsichtigte auch die damalige Opposition eine Reform des SGB VIII. Der Freistaat Bayern hatte zu diesem Zweck das KEG in den Bundesrat eingebracht.224 Hierin ging es zwar vorrangig um eine Kostenreduzierung bei den Kommunen im Hinblick auf bestimmte Leistungen, indes zielte die Initiative auch auf die Sicherstellung der Aufgabenerfüllung und auf Strukturverbesserungen in den Jugendämtern.225 Dieser Entwurf wurde jedoch am 3.6.2005 im Bundestag abgelehnt.226 c) Konkrete Maßnahmen zum Kinderschutz (1) Rechtslage bis zum 30.9.2005 Mit dem Inkrafttreten des KICK am 1.10.2005 haben sich zahlreiche bedeutende Änderungen des SGB VIII ergeben. Strafrechtliche Anklagen, die den Zeitraum vor diesen Neuerungen betreffen, müssen jedoch wegen des rechtsstaatlich begründeten Rückwirkungsverbots (nulla poena sine lege praevia)227 auf der Grundlage der Fassung des SGB VIII vor der Novelle entschieden werden. Die Darstellung der bis zum 30.9.2005 geltenden Regelungen soll daher im Folgenden den Anfang bilden. Begonnen wird mit den Leistungen der Jugendhilfe, die von den Änderungen, soweit es hier interessiert, der Sache nach unberührt geblieben sind.228 An221

BT-DrS 15/179. BR-DrS 813/04. 223 G. zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom 8.9.2005 (Kinderund Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz – KICK), BGBl. I S. 2729. 224 Siehe BR-DrS 712/04. 225 Siehe BR-DrS 712/04, Vorblatt, S. 1. 226 Auf die – auch in der Diskussion im Bundestag am 3.6.2005 angesprochene – Möglichkeit, dass nach der Bundestagswahl vom 18.9.2005 die im KEG enthaltenen Reformvorschläge erneut verfolgt werden könnten, sei hier nochmals hingewiesen. Daher werden die folgenden Ausführungen auch die Maßgaben des KEG berücksichtigen. 227 BGHSt 39, 1, 29; vgl. hierzu auch Wessels/Beulke, Rn. 48 ff. 228 Zwar waren in diesem Kontext zahlreiche Änderungen – vor allem hinsichtlich der Kostenüberantwortung an die Eltern – geplant (vgl. v. a. BR-DrS 712/04 (KEG)), diese beeinflussen jedoch die hier interessierenden Grundfesten der Leistungen nicht. 222

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schließend werden die „anderen Aufgaben“ im Sinne des § 2 Abs. 3 SGB VIII vorgestellt, wobei die Ausführungen zur geltenden Rechtslage den Anfang bilden. Schließlich werden die Reform KICK und der Reformvorschlag KEG erläutert werden. (a) Vorbemerkung: Informationsgewinnung – Datenschutz Um ihre Aufgaben erfüllen zu können, namentlich zur effektiven Ausübung des staatlichen Wächteramts, ist es, wie bereits erörtert,229 essentiell für die Kinder- und Jugendhilfe, an die notwendigen Informationen über „Problemfamilien“ zu gelangen. Erst damit wird sie in die Lage versetzt, eine sowohl dem Über- als auch dem Untermaßverbot genügende Entscheidung treffen zu können. Folglich wird der Schutzbereich des elterlichen informationellen Selbstbestimmungsrechts tangiert, sodass nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage vonnöten ist.230 (aa) Keine Handlungsvorgaben Explizit enthielt das SGB VIII bis zum 30.9.2005 keine Vorgaben dazu, wie eine das Kindeswohl gefährdende Situation von den sozialpädagogischen Fachkräften konkret zu behandeln war.231 So blieb insbesondere unklar, wer genau über die Situation der Familie zu befragen war, ob die Eltern mit einbezogen werden sollten, und ob der fallzuständige Sozialarbeiter, allein oder unterstützt durch seine Kollegen, eine Entscheidung über den weiteren Fortgang der Betreuung zu treffen hatte. (bb) Datenschutz Anhaltspunkte dafür, was zu tun war, ergaben sich lediglich aus den Regelungen zum Datenschutz in der Kinder- und Jugendhilfe232 – wobei zu betonen ist, dass aus dem Datenschutz kein Recht, Informationen einzuholen folgt, sondern dass dieser ein solches Recht bereits logisch voraussetzt.233 Der Gesetzgeber hat den Datenschutz, ermächtigt durch § 37 S. 1 HS 2 SGB I, außer in dem allgemeinen Sozialdatenschutz im SGB I und SGB X vor allem in dem in § 35 Abs. 1 S. 1 SGB I statuierten Sozialgeheimnis und in 229 230 231 232 233

hin.

Siehe hierzu oben Teil 1 B. 3. b) (1). Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 67. So auch die Einschätzung von Wiesner, ZfJ 2004, 443. Umfassend hierzu LPK-SGB VIII-Kunkel, § 61, Rn. 5 ff. Darauf weisen Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 67 zu Recht

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entsprechenden Regelungen im SGB X bezüglich der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten234 spezialgesetzlich in §§ 61 ff. SGB VIII normiert.235 Gemäß § 62 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 SGB VIII sind die für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Sozialdaten, das heißt Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten Person236, grundsätzlich bei den Betroffenen selbst zu erheben. Häufig sind jedoch die Eltern nicht zur Mitwirkung an der Datenerhebung bereit, vor allem, sofern es nicht um bloße Leistungen, sondern um wächteramtliche Aufgaben des Jugendamts geht. In diesem Fall regelte und regelt § 62 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII weiterhin, wann die Informationsgewinnung bei Dritten, zum Beispiel bei Nachbarn, Verwandten oder anderen Personen, zulässig ist. Indes spielt nicht nur die Datenerhebung, sondern auch die Datenübermittlung237 eine entscheidende Rolle – beispielsweise bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit des Jugendamts238 sowie bei der Delegation von Aufgaben an Mitarbeiter sogenannter freier Träger239, hinsichtlich derer nach § 61 Abs. 4 SGB VIII a. F. ein den öffentlichen Trägern entsprechender Datenschutz galt. Problematisch war die Weitergabe bislang vor allem deshalb, weil § 64 SGB VIII a. F. keine eindeutigen Regelungen enthielt240, sodass manche Autoren diese Befugnis sogar gänzlich in Frage stellten.241 234

Vgl. § 35 Abs. 2 SGB I. Bildhaft in diesem Zusammenhang LPK-SGB VIII-Kunkel, § 61, Rn. 5: „Zu der ,Basisregelung‘ des allgemeinen Sozialgesetzbuches treten ,Jugendhilfe-Additive‘.“; Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 68: „Die im SGB X formulierten Vorschriften zum Sozialdatenschutz werden in §§ 61 ff. SGB VIII bereichsspezifisch verschärft.“ 236 So die Legaldefinition des Begriffs in § 67 Abs. 1 SGB I. 237 Geregelt in §§ 64 f. SGB VIII. 238 Zum Beispiel infolge eines Umzugs der Familie in eine andere Stadt, einer Neuverteilung von Aufgabenbereichen im Jugendamt – vgl. in diesem Zusammenhang den Fall „Jenny“ (erläutert oben in Teil 1 A. II. 1.) sowie die Stellungnahme von Jaspke in „. . . und schuld ist“, S. 24 f.: „. . . durchaus nicht unüblich, dass Familien von einem Stadtbezirk in den anderen ziehen und zwar schneller, als das Jugendamt die Akten weitergeben kann. Meine Erfahrung (. . .), dass die Informationen ausgesprochen mangelhaft waren Es handelte sich in einem Fall um einen schwerwiegenden sexuellen Missbrauch (. . .) Ich habe dann erst einmal völlig neu begonnen“. 239 Siehe hierzu den Fall „Laura Jane“, erläutert in Teil 1 A. I. 1. 240 Siehe zu den Positionen zur Begründung einer Weitergabebefugnis das LG Stuttgart, abgedruckt bei Lehmann, EJ 2000, 51 im Fall „Jenny“ (s. o. Teil 1 A. II. 1.) (§§ 35 SGB I, 69 SGB X i.V. m. § 64 SGB VIII) und Fieseler, Sozialextra 2000, 20 (§ 34 StGB). Die konkrete Ermächtigungsgrundlage offen lassen Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 89 f. (entweder § 64 SGB VIII a. F., § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII a. F., § 34 StGB oder rechtfertigende Pflichtenkollision). 241 Vgl. LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a; Wiesner, ZfJ 2004, 172; ders., ZfJ 2004, 444; generell zurückhaltend zur Weitergabe anvertrauter Daten auch Mörsberger, „. . . und schuld ist“, S. 24. 235

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Unklar war die Situation bis zum 1.10.2005 auch im Hinblick auf die sogenannten anvertrauten242 Sozialdaten, für die § 65 SGB VIII a. F. besonders strenge Regelungen aufstellte. (b) Leistungen der Jugendhilfe243 – Hilfen zur Erziehung, §§ 27 ff. SGB VIII (aa) § 27 SGB VIII Wird eine dem Wohl des Kindes bzw. des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet, so besitzen die Personensorgeberechtigten – nicht jedoch das Kind bzw. der Jugendliche selbst – nach § 27 Abs. 1 SGB VIII einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung244, wenn eine solche für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen geeignet und notwendig ist.245 (a) Antrag vonnöten? Uneinigkeit herrscht darüber, ob die Erbringung der Hilfe an einen vorausgegangenen Antrag der Eltern geknüpft ist. Während das Bundesverwaltungsgericht dies bejaht,246 nimmt die sozialrechtliche Literatur die Gegenposition ein.247 Für die letztgenannte Ansicht spricht neben dem Wortlaut des § 27 SGB VIII, der kein Antragserfordernis aufstellt, wesentlich dessen Sinn und Zweck. Die Norm soll gerade unsichere Eltern in ihrer Erziehungsfähigkeit stärken. Über die Beteiligung am Hilfeplanverfahren wird im übrigen das notwendige Einverständnis gewährleistet, sodass die Eltern nicht übergangen werden.

242 Nach LPK-SGB VIII-Kunkel, § 65, Rn. 7 sind Daten dann i. S. d. Norm (in paralleler Auslegung zu § 203 Abs. 1 StGB) anvertraut, wenn sie einem Mitarbeiter des Jugendamts im Vertrauen darauf kundgegeben wurden, dass sie Dritten nicht zugänglich sind. 243 Zu weiteren – hier nicht behandelten – Leistungen siehe die Aufzählung in § 2 Abs. 2 Nr. 1, 2, 3, 5, 6 SGB VIII. 244 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 27, Rn. 21 ff.; Wiesner, SGB VIII, § 27, Rn. 3 ff. 245 Ob aus diesen unbestimmten Rechtsbegriffen ein Beurteilungsspielraum folgt, ist umstritten. Bejahend BVerwG ZfJ 2000, 35 f.; VG Hamburg ZfJ 2000, 278; OVG Koblenz ZfJ 2001, 25; LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a; Hoffmann, ZfJ 2003, 47; dagegen VGH Mannheim ZfJ 2003, 68; LPK-SGB VIII-Kunkel, § 27, Rn. 5; Münder, ZfJ 2001, 401 ff. 246 BVerwG ZfJ 2001, 210. 247 LPK-SGB VIII-Kunkel, § 27, Rn. 1, 7a, § 36, Rn. 11; Schellhorn, § 27, Rn. 16.

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(b) „Nicht dem Kindeswohl entsprechende Erziehung“ § 27 Abs. 1 SGB VIII setzt voraus, dass eine dem Kindes- bzw. Jugendwohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Hierunter ist ein Erziehungsmangel zu verstehen, der in absehbarer Zeit zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen kann, wenn ihm nicht mit den Hilfearten der §§ 28 bis 35 SGB VIII entgegengetreten wird.248 Folglich stellt sich die Situation qualitativ anders dar als die Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB, denn § 27 SGB VIII setzt im Vergleich dazu auf einer niedrigeren Gefährdungsstufe an.249 Die Hilfen zur Erziehung bewegen sich daher vorrangig250 in dem Bereich, in welchem das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG (noch) ein Eingreifen in die elterliche Sorge zum Wohl des Kindes verhindert. (g) Geeignetheit und Notwendigkeit der Maßnahme Eine Hilfe zur Erziehung bedingt stets das Einverständnis der Personensorgeberechtigten, wie sich aus § 36 Abs. 1 S. 1 SGB VIII entnehmen lässt.251 Die konkrete Form der Hilfe kann dabei in erster Linie aus §§ 28 ff. SGB VIII folgen, indes stellt das zweite Kapitel des SGB VIII keinen abschließenden Katalog dar, wie die Formulierung des § 27 Abs. 2 S. 1 SGB VIII („insbesondere“) zeigt.252 Entscheidend ist vielmehr, dass die anvisierte Maßnahme im konkreten Einzelfall geeignet und notwendig ist.253

248

So LPK-SGB VIII-Kunkel, § 27, Rn. 2b. LPK-SGB VIII-Kunkel, § 27, Rn. 2b; MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 173; Münder u. a., FK-SGB VIII, § 27, Rn. 5; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 74; Wiesner, ZfJ 2003, 121; ders., spektrum 2000, S. 4. 250 Es ist jedoch, wie § 1666a BGB zeigt, nicht vollkommen ausgeschlossen, dass auch wenn die Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB überschritten wurde, eine Hilfe zur Erziehung zum Zweck der Krisenbeseitigung eingesetzt wird; vgl. hierzu Kunkel, ZfSH/SGB 2001, 131 (133): „Das Überschreiten der Gefährdungsschwelle verpflichtet den staatlichen Wächter zum Eingreifen, aber nicht notwendig auch zu Eingriffen.“. 251 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 27, Rn. 12; vgl. aber auch Münder/Mutke/ Schone, Kindeswohl, S. 355, die als Fazit ihrer empirischen Studie festhalten, dass häufig die erforderliche elterliche Zustimmung durch „sanften Druck“ erzeugt wird, indem die Jugendamtsmitarbeiter ankündigen, bei Ablehnung das Gericht einzuschalten. Hierdurch gewinnt die Hilfe ihrer Ansicht nach einen „informalen Eingriffscharakter“ (S. 356). 252 Bildhaft in diesem Zusammenhang LPK-SGB VIII-Kunkel, § 27, Rn. 13: „Innovationsklausel“. 253 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip missversteht das zweitinstanzlich zuständige LG Osnabrück im Fall „Laura Jane“ (NStZ 1996, 437; näher hierzu oben Teil 1 A. I.), indem es die Geeignetheit eines milderen Mittels nicht hinterfragt. 249

D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts

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Die Eignung ist der konkreten Maßnahme einerseits dann abzusprechen, wenn Eltern sich der Mitwirkung verschließen, andererseits dann, wenn keine Hilfe ersichtlich ist, mittels derer die familiäre Situation positiv beeinflusst werden könnte. Ob eine bestimmte Hilfe zur Erziehung notwendig ist, beurteilt sich sowohl nach dem Über- als auch nach dem Untermaßverbot.254 Ausschlaggebend ist nach § 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII der erzieherische Bedarf, wobei sowohl familienunterstützende255 als auch familienergänzende256 und gegebenenfalls auch familienersetzende257 Maßnahmen in Betracht kommen. (bb) Insbesondere: § 31 SGB VIII (a) Allgemeines Die intensivste Form ambulanter, familienunterstützender Hilfen, die in der Praxis immer häufiger zum Einsatz kommt258, ist die sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII.259 Ihr Ziel ist es, die Situation von Eltern und Kindern langfristig zu stabilisieren und damit letztlich eine Trennung zu vermeiden.260 Der Jugendhelfer besitzt hierzu ein mannigfaltiges Aufgabenfeld, das zum Beispiel in der Verbesserung der Wohnsituation, dem Begleiten bei Behördengängen, dem Anleiten der Eltern im Hinblick auf Gesundheit und Körperpflege des Kindes oder ähnlichem bestehen kann. Der Familienhelfer arbeitet dabei – anders bei den sonstigen Hilfen – mit der Familie in ihrer Gesamtheit.

254 Siehe dazu bereits oben (Teil 1 B. III. 4. a) (2)). So auch LPK-SGB VIII-Kunkel, § 27, Rn. 4. 255 Vgl. §§ 28, 29, 30, 31 SGB VIII. 256 Siehe § 32 SGB VIII. 257 Vgl. §§ 33, 34, 35 SGB VIII. 258 Vgl. die Notiz in ZfJ 2004, 119, wonach laut Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2002 11% mehr Familien und 10% mehr Kinder durch die sozialpädagogische Familienhilfe betreut wurden als im Vorjahr. 259 BT-DrS 11/5948, S. 70. Vert. zu dieser Hilfeform Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 68 ff.; Jordan/Sengling, S. 175 ff. 260 LPK-SGB VIII-Frings, § 31, Rn. 2, Schellhorn, Einführung, Rn. 87; Fieseler/ Herborth, Recht der Familie, S. 243. Bringewat spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit einer „hilfebezogenen Kontrolle“ bei der Erziehungshilfe (Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 71). Seiner Ansicht nach ist zwischen dem „Nahziel“ der Gewährleistung des Kindeswohls und dem generellen Ziel des § 1 Abs. 3 i.V. m. Abs. 1 SGB VIII zu differenzieren (S. 77 f.).

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

(b) Rechtliche Konstruktion Im wesentlichen sind vier verschiedene Möglichkeiten denkbar, um eine sozialpädagogische Familienhilfe zu initiieren und durchzuführen. Zum einen kann der Jugendamtsmitarbeiter die Maßnahme selbst vornehmen,261 zum anderen kommt in Betracht, dass er damit den Mitarbeiter eines freien Trägers betraut. Im letztgenannten Fall entsteht ein privatrechtliches vertragliches Schuldverhältnis zwischen den Eltern und dem freien Träger, durch das der Leistungsberechtigte, das heißt der jeweilige Elternteil, ein Forderungsrecht erwirbt. Der Vertrag ist dabei als ein solcher mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter (nämlich der Kinder) zu qualifizieren.262 Überdies können die Eltern die Fachkraft im Rahmen ihres Wunsch- und Wahlrechts nach § 5 SGB VIII auswählen, und schließlich besteht die Möglichkeit, dass die Eltern sich die Hilfe selbst beschaffen. (g) Verhältnis bei Delegation der Hilfe an den freien Träger Nicht eindeutig geklärt ist, welche Rechtsposition der Mitarbeiter des freien Trägers bei der Erbringung von Hilfen im Rahmen einer Delegation von Pflichten durch den Jugendamtsmitarbeiter einnimmt. Zum einen kommt in Betracht, dass ihm eine originär-eigene Rechtsposition zusteht,263 zum anderen ist es denkbar, ihn – unabhängig vom zugrunde liegenden Vertragstyp – als eine Art „sozialrechtlichen Erfüllungsgehilfen“ anzusehen.264 (cc) Hilfeplanungsverfahren265 (a) Entscheidung über das „Ob“ Da die sozialpädagogische Familienhilfe auf einen längeren Zeitraum angelegt ist (vgl. § 31 S. 2 SGB VIII), soll nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB VIII über ihre Gewährung – wie über andere auf längere Dauer angelegte Hilfen auch – 261

Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 80: „. . . eher selteneres Vorge-

hen“. 262 Der Begriff des Vertrages mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter geht auf Larenz (NJW 1960, 78) zurück. Es ist umstritten, ob dessen Rechtsgrundlage die ergänzende Vertragsauslegung bildet, oder ob es sich hierbei um eine auf § 242 BGB fußende richterliche Rechtsfortbildung handelt (siehe dazu Palandt-Heinrichs, § 328, Rn. 14 m.w. N.). 263 So LPK-SGB VIII-Papenheim, § 5, Rn. 15. 264 LPK-SGB VIII-Kunkel, § 36, Rn. 2; ders., Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 190; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 81, Fn. 51; ders., Tod eines Kindes, S. 68 f.

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im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte266 entschieden werden.267 Bei dieser Entscheidung über das „Ob“ der Maßnahme sind die Eltern nicht zugegen.268 Aufgrund der Unbestimmtheit des Terminus „Zusammenwirken“ besteht in der Praxis keine Einigkeit darüber, ob dem kollegialen Tätigwerden rechtsverbindliche Kraft zukommt.269 Für eine solche Bindungswirkung ist zwar anzuführen, dass dadurch den Kollegen ihre Verantwortung bei der Beratung aufgezeigt werden würde, sodass damit im Ergebnis eine gewisse disziplinierende Wirkung erzielt werden könnte. Indes spricht der Sinn der kollegialen Beratung – der darin besteht, dem Sozialarbeiter von ihm bislang vernachlässigte Aspekte des Falls aufzuzeigen – gegen eine entsprechende Bindungswirkung. Für das bloße Aufzeigen neuer Gesichtspunkte bedarf es keiner Verbindlichkeit.270 (b) Entscheidung über das „Wie“ Eltern sollen, im Gegensatz zur Entscheidung über das „Ob“ der Hilfe, bei der Frage beteiligt werden, wie die Hilfe konkret ausgestaltet wird.271 Dies geschieht nach § 36 Abs. 2 S. 2 HS 1 SGB VIII im Rahmen der Aufstellung des Hilfeplans.272 Dieser Plan soll Feststellungen über den erzieherischen Bedarf, 265 Instruktiv zum „idealtypischen Verlauf“ eines Planungsprozesses das Schaubild bei Münder u. a., FK-SGB VIII, § 36, Rn. 22. Vert. zum Hilfeplan auch Schmid, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 74. 266 Vgl. § 72 SGB VIII. 267 Zur datenschutzrechtlichen Zulässigkeit des Zusammenwirkens siehe LPK-SGB VIII-Kunkel, § 36, Rn. 29. 268 Rechtlich daher nicht nachvollziehbar die Bedenken, die Becker in „. . . und schuld ist“ auf S. 23 äußert: „Und das ist das, was ich in meiner Praxis sehr häufig erlebe, dass bei der Hilfeplanung die Eltern auch bei Kinderschutzfällen in den Konferenzen zugegen sind. (. . .) häufig (. . .) dass man dann nicht in einer kompetenten und professionellen Weise im Angesicht der Eltern (. . .) reden kann.“ Unzutreffend Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 11: „. . . in der Regel keine Möglichkeit (. . .), die Herausnahme eines gefährdeten Kindes aus einer Familie durchzusetzen; denn die Entscheidung über die Fremdunterbringung eines Kindes ist im Rahmen des Hilfeplanungsverfahrens gemäß § 36 SGB VIII zu treffen.“ 269 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 36, Rn. 23 („In der Praxis finden sich unterschiedliche Formen (der Zusammenarbeit, Anm. nicht im Original) von der ,bloßen‘ Beratung bis hin zum verbindlichen Teambeschluss.“). 270 So auch im Ergebnis Münder u. a. FK-SGB VIII, § 36, Rn. 23. Sie fordern „. . . zumindest ein ,Vetorecht‘“ des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters. 271 Häufig wird in diesem Zusammenhang von einem „Aushandeln“ gesprochen; krit. demgegenüber LPK-SGB VIII-Kunkel, § 36, Rn. 6. Vgl. hierzu auch Bringewat, ZfJ 2000, 407 – er meint zu Recht, dass mit dem Erreichen des Interventionsbereichs des staatlichen Wächteramts die Grenze des „Aushandelns“ erreicht ist. 272 Vgl. hierzu LPK-SGB VIII-Kunkel, § 36, Rn. 27: „Das Hilfeplanverfahren ist das Herzstück des Hilfeplanungsverfahren“.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthalten.273 Nach dem in § 36 Abs. 2 S. 2 HS 2 SGB VIII ausgedrückten Willen des Gesetzgebers ist er regelmäßig darauf zu überprüfen, ob die gewählte Hilfeart noch geeignet und notwendig ist. Seine Bedeutung besteht – neben der besseren Planbarkeit des Einsatzes von Fachkräften – darin, die Vorstellungen sowohl der leistungsgewährenden als auch der leistungsempfangenden Seite zu dokumentieren.274 Hierdurch wird klar erkennbar, ob von dem für die Hilfe zur Erziehung nötigen Einverständnis des Personensorgeberechtigten auszugehen ist, oder ob beide Seiten bisher „aneinander vorbeigeredet“ haben. Außerdem beugt der Hilfeplan einer Auseinandersetzung über den Umfang der Hilfe vor, indem er Rechte und Pflichten statuiert.275 (c) Andere Aufgaben der Jugendhilfe Sind keine geeigneten Hilfen zur Erziehung ersichtlich oder verschließen sich die Eltern einer solchen, scheiden Leistungen als mittelbare Form des Kinderschutzes aus. Das Jugendamt hat in derartigen Fällen auf „andere Aufgaben der Jugendhilfe“ im Sinne des § 2 Abs. 3 SGB VIII zu rekurrieren, um dem ihm obliegenden Wächteramt zu genügen. Nachfolgend sollen diese „anderen Aufgaben“ in ihrer einfachgesetzlichen Ausformung vor dem 1.10.2005 erläutert werden. (aa) § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII Zunächst könnte man daran denken, aus dem in § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII angeordneten Ziel des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl ließe sich eine Art „Generalklausel“ herleiten, die zu jeglichen notwendigen Eingriffen gegenüber Eltern, die das Kindeswohl missachten, ermächtigen würde. Ein solches Verständnis des § 1 Abs. 3 SGB VIII würde jedoch in der verwaltungsrechtlichen Terminologie einen Rückschluss von einer Aufgabe auf eine Befugnis bedeuten276 – ein Vorgehen, das wegen des rechtsstaatlichen Vor273 Näher zum Inhalt eines Hilfeplans Münder u. a., FK-SGB VIII, § 36, Rn. 27; Wiesner, SGB VIII, § 36, Rn. 58. 274 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 36, Rn. 29. 275 Beispielsweise pro Woche ein zweistündiger Besuch der sozialpädagogischen Familienhilfe, wobei diese bei der Erstellung von Putzplänen und der Säuberung des Haushalts assistiert. 276 Meysen, ZfJ 2001, 411. Vgl. zu diesem Fehler im Polizeirecht Öffentliches Recht in Bayern-Heckmann, Rn. 63.

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behalts des Gesetzes nicht hingenommen werden kann. Vielmehr muss danach Ausschau gehalten werden, welche besonderen Ermächtigungsgrundlagen der Gesetzgeber zum Eingriff in das Elternrecht im SGB VIII festgelegt hat.277 (bb) „Notstandsberatung“ Gemäß § 8 Abs. 3 SGB VIII können Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Alter ohne Kenntnis der Sorgeberechtigten in Not- und Konfliktlagen beraten werden, sofern eine Mitteilung an letztere den Zweck der Beratung vereiteln würde. Teilweise wurde § 8 Abs. 3 SGB VIII vor dem Inkrafttreten des KICK als die weitgehendste Einschränkung des Elternrechts angesehen, da den Kindern hierdurch ein Anspruch auf Beratung „hinter dem Rücken“ der Sorgeberechtigten gewährt wird.278 Auch wurde diese Maßnahme zum Teil als die einzige echte Eingriffsmöglichkeit in das Elternrecht bezeichnet.279 Aus demselben Grund wie bei § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII – das heißt dem Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis – konnten und können jedoch bei der Beratung notwendig werdende Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Inobhutnahme, nicht auf § 8 Abs. 3 SGB VIII gestützt werden. (cc) Inobhutnahme280 (a) Anlässe Unter einer Inobhutnahme ist, wie § 42 Abs. 1 SGB VIII a. F. ausführte, die vorläufige Unterbringung des Minderjährigen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder sonstigen Wohnform zu verstehen. Die Maßnahme stellt folglich ein auf einen kurzen Zeitraum ausgerichtetes Kriseninterventionsinstrument dar.281

277

So Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 29. I.d.S. Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 15. Im Gegensatz dazu kommt es bei den sonstigen Maßnahmen zum „offenen Konflikt“ zwischen Staat und Eltern. 279 Vgl. Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 131; ders., FamRZ 1997, 194, wo er die „Notstandsberatung“ sogar als den stärksten Eingriff in das Elternrecht bezeichnet. 280 Neuere Daten des Statistischen Bundesamts zur Inobhutnahme mit Schaubildern (zum Alter der betroffenen Kinder sowie zur Initiative der Maßnahme) vom Jahr 1999 bis 2003 bei Meysen/Schindler, JAmt 2004, 455 f. Demnach blieb die Anzahl der in Obhut genommenen Kinder während dieser Zeit in etwa konstant. 281 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 42, Rn. 1; Mrozynski, SGB VIII, § 42, Rn. 3; Meysen/Schindler, JAmt 2004, 456. 278

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Bis zum 1.10.2005 waren zwei Möglichkeiten denkbar, um eine Inobhutnahme vorzunehmen. Einerseits existierten die Fälle der sogenannten Selbstmelder (§ 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII a. F.), bei denen ohne Vorprüfung, ob eine Gefährdungslage vorlag, allein gestützt auf das subjektive Schutzbedürfnis des die Meldung tätigenden Kindes dieses in Obhut genommen werden konnte.282 Zum anderen war das Jugendamt nach § 42 Abs. 3 S. 1 SGB VIII a. F. verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen dies erforderte.283 Die notwendigen Informationen bezüglich der Erforderlichkeit konnte das Jugendamt dabei aufgrund des § 62 Abs. 3 Nr. 2 lit. c) SGB VIII a. F. auch bei Dritten erfragen. Von § 42 Abs. 3 S. 1 SGB VIII a. F. erfasst war zudem der Fall, in dem der Minderjährige dem Jugendamt durch Dritte284 zugeführt wurde.285 (b) Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern? Ob die Norm dem Jugendamt überdies die Befugnis verlieh, das Kind gegen den Willen der Eltern von zu Hause mitzunehmen, war in Literatur und Praxis lebhaft umstritten. Insbesondere § 43 SGB VIII a. F., der explizit die Herausnahme des Kindes oder Jugendlichen ohne Zustimmung des Personenberechtigten aus einer Einrichtung oder der Obhut einer anderen Person als den Eltern regelte, animierte viele Autoren zu dem Umkehrschluss, dass dies gegen den Willen der Eltern nicht zulässig sei.286 Die Praxis hingegen betonte stets, dass es notwendig sei, im Krisenfall die vorläufige Trennung von Eltern und Kind selbst vornehmen zu können. Sie argumentierte, es könne für die Handlungsbefugnisse des Jugendamts keinen Unterschied machen, ob das Kind vor dem gewalttätigen Vater oder vor einem 282 Münder u. a. FK-SGB VIII, § 42, Rn. 10; Schindler, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 84. 283 Der Erziehungsberechtigte war nach § 42 Abs. 3 S. 4, Abs. 2 S. 2 SGB VIII a. F. stets unverzüglich vom Jugendamt über die erfolgte Inobhutnahme zu informieren. Widersprach er der Maßnahme, so hatte das Jugendamt ihm entweder den Minderjährigen zu übergeben oder eine Entscheidung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. anzuregen, vgl. § 42 Abs. 3 S. 4, Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bzw. 2 SGB VIII a. F. 284 Zum Beispiel durch die Polizei, Schule oder den Kindergarten. 285 LPK-SGB VIII-Röchling, § 42, Rn. 55: „Regelfall“. 286 Vgl. auch die Begründung der Bundesregierung zum ursprünglich geplanten TAG (BT-DrS 15/3676, S. 26): „Damit liegt für den Anwendungsbereich des § 42 der Umkehrschluss nahe.“; s. a. Meysen/Schindler, JAmt 2004, 458; Pilz, Sozialextra 2001, 40. Späth berichtet in Wächteramt und Jugendhilfe auf S. 79 von kontroversen Diskussionen um diese Frage im Rahmen der der Dokumentation zugrunde liegenden Fachtagung.

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seinem Wohl abträglichen Dritten geschützt werden müsse. Außerdem führte sie an, der Wortlaut des § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. selbst gebiete keine einschränkende Auslegung der Inobhutnahmebefugnis.287 Ein Teil der Literatur meinte den Konflikt zwischen praktischem Bedürfnis und gesetzlicher Regelung durch einen Kompromiss lösen zu können, dergestalt, dass der Begriff der Obhut nicht lediglich den räumlichen Aufenthalt des Kindes in der Familie, sondern darüber hinaus eine entsprechende Betreuung durch diese voraussetze. Eine vollständige Vernachlässigung des Kindes sollte zu einer Inobhutnahme auch bei den Eltern berechtigen; bei einer lediglich unzureichenden Versorgung des Kindes war der Weg über § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. dieser Ansicht zufolge versperrt.288 Diese Strategie war wenig praxistauglich, weil im Einzelfall unter Berücksichtigung der gebotenen Eile oft nur sehr schwer zwischen einer vollständigen Vernachlässigung des Kindes und einer „bloßen“ unzureichenden Versorgung unterschieden werden kann. Für die Auffassung der Praxis stritt zwar ihr Bestreben, den Kinderschutz effektiv zu verwirklichen.289 Dogmatisch war ihr jedoch ein Handeln nach der Devise „Der Zweck heiligt die Mittel“ vorzuwerfen. Neben dem bereits angeführten systematischen Argument (§ 43 SGB VIII a. F.) sprach nämlich der Grundsatz, dass Eingriffe in Grundrechte stets ausdrücklich gesetzlich festgelegt sein müssen (Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes), gegen die favorisierte Lösung. Die Möglichkeit zur Wegnahme des Kindes aus seiner Familie durch den Jugendamtsmitarbeiter selbst, gestützt auf § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F., musste daher abgelehnt werden.290 287 So die Auffassung des AG Mönchengladbach im Urteil v. 9.3.2004 zum Fall „Vanessa“ (Az 13 Cs 343/03, abrufbar unter www.justiz.nrw.de), das sogar einen Umkehrschluss aus § 43 SGB VIII a. F. zog, um damit die Anwendbarkeit des § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. gegenüber der eigenen Familie zu begründen, diese Befugnis i. E. jedoch dahingestellt ließ und eine Eingriffsmöglichkeit nebulös aus Art. 6 GG herleitete. Für eine Inobhutnahmebefugnis auch bereits vor dem 1.10.2005 Bringewat, KJ 2006, 238. 288 In diesem Sinne Mrozynski, SGB VIII, § 42, Rn. 4; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2004, 76. 289 Informativ in diesem Zusammenhang das Schaubild 4 bei Meysen/Schindler, JAmt 2004, 458, wonach die weitaus meisten Kinder und Jugendlichen ohne vorheriges Ausreißen und an nicht jugendgefährdenden Orten, folglich also offensichtlich bei ihren Eltern in Obhut genommen wurden. 290 Ebenso BT-DrS 15/3676, S. 37; LPK-SGB VIII-Röchling, § 42, Rn. 58; Münder u. a., FK-SGB VIII, § 42, Rn. 15; Schellhorn, § 43, Rn. 1; Wiesner, SGB VIII, § 43, Rn. 3; ders., SGB VIII-2006, § 42, Rn. 24; Gerber, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 114; Schindler, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 85; Meysen/Schindler, JAmt 2004, 458. Einigkeit bestand jedoch darüber, dass § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. nicht zur Anwendung unmittelbaren Zwangs (z. B.: Aufbrechen der Wohnungstür; Entreißen des Kindes) ermächtigte. (Siehe hierzu Münder u. a., FK-SGB VIII, § 42, Rn. 16, die jedoch im Einzelfall eine Rechtfertigung durch den allgemeinen Notwehr-

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

(dd) Sonstige Berechtigung zur Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern Damit war jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob der Jugendamtsmitarbeiter selbst, gestützt auf andere Rechtsgrundlagen, beziehungsweise ob außenstehende Dritte zum Eingreifen befugt waren. (a) Handeln des Jugendamts als Ortspolizeibehörde? Kunkel versuchte, eine Inobhutnahme auch gegen den Willen der Eltern aus dem Zuhause des Kindes unter anderem291 dadurch zu legitimieren, dass er das Jugendamt in derartigen Fällen als Ortspolizeibehörde charakterisierte, die auf der Grundlage der polizeirechtlichen Generalklausel der Länder tätig werden sollte.292 Im Freistaat Bayern ist die Möglichkeit, eine örtliche Polizei zu errichten, in Art. 83 Abs. 1 BV vorgesehen. Zwar gilt in diesem Zusammenhang tatsächlich der sogenannte materielle Polizeirechtsbegriff, das heißt, von der Regelung sind alle Behörden erfasst, denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zukommt293, indes ist die polizeiliche Generalklausel des Art. 11 Abs. 1 PAG an dem sogenannten eingeschränkt-institutionellen Polizeibegriff orientiert. Nach Art. 1 PAG sind unter der Polizei im Sinne dieses Gesetzes die im Vollzugsdienst tätigen Dienstkräfte zu verstehen.294 Folglich konnte das von Kunkel vorgeschlagene Konzept für den Freistaat Bayern bereits aus diesem Grund nicht überzeugen. Verstand man Kunkels Aussage hingegen dahingehend, dass das Jugendamt als „örtliche Polizei“ im weiteren Sinne tätig werden sollte, so kam auf den ersten Blick in Betracht, dass man das jugendamtliche Handeln im Freistaat Bayern auf die sicherheitsrechtliche Generalklausel des Art. 6 Abs. 2 Nr. 3 BayLStVG stützte. Gemäß Art. 6 BayLStVG sind u. a. die Kommunen zur Gefahrenabwehr zuständig, sodass das Jugendamt als von den örtlichen Trägern der Jugendhilfe errichtete Institution hätte tätig werden können.

tatbestand (§ 32 StGB, §§ 227 ff. BGB) für möglich hielten, sowie Wiesner, ZfJ 2004, 161.) 291 Er rekurrierte zudem auf die – auch hier vertretene – Möglichkeit, das Familiengericht um den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu ersuchen, s. Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 7. 292 Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 7; ders., Handbuch KJHGSGB VIII, Stichwort „Inobhutnahme“; ders., ZFSH/SGB 2001, 134. 293 Öffentliches Recht in Bayern – Heckmann, Rn. 30. 294 Nach Art. 129 Abs. 2 S. 1 BayBG sind Polizeivollzugsbeamte alle Polizeibeamten, die nicht Verwaltungsbeamte der Polizei sind.

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Gegen diese Konstruktion sprach indes neben der Tatsache, dass Art. 6 Abs. 4 BayLStVG Eingriffe in die Freiheit der Person und in die Unverletzlichkeit der Wohnung gerade von der Ermächtigung ausnimmt, dass die Generalklausel nach der Formulierung des Art. 6 Abs. 2 BayLStVG nur dann Platz greift, sofern keine spezialgesetzliche Regelung existiert. Zwar regelte § 42 SGB VIII a. F. gerade nicht den Fall der Inobhutnahme des gefährdeten Kindes im elterlichen Heim, jedoch trägt das SGB VIII der im Grundgesetz angelegten Trias von Elternrecht, Kindeswohl und staatlichem Wächteramt Rechnung. Hätte man demgegenüber einen Rückgriff auf das allgemeine Sicherheitsrecht zugelassen, das allein an der Abwehr von Gefahren für das körperliche Wohl des gefährdeten Kindes orientiert ist, dann hätte man dieses verfassungsrechtliche Gefüge ignoriert. Ein Rückgriff auf das allgemeine Sicherheitsrecht war daher abzulehnen. (b) § 43 SGB VIII a. F. Man hätte zwar auf den ersten Blick daran denken können, dass die Trennung von Eltern und Kind auf § 43 SGB VIII a. F. gestützt werden konnte, sobald das Kind z. B. in eine Kindertagesstätte gebracht wurde. Dem stand allerdings entgegen, dass der Sinn und Zweck der Herausnahme nach § 43 SGB VIII a. F. darin bestand, das Kind aus Institutionen zu entfernen, aus denen gerade die Gefahr drohte.295 Damit widersprach die teleologische Auslegung der Norm diesem Vorgehen. (g) Allgemeine Rechtfertigungsgründe Die Frage nach der Auslegung des § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. wurde häufig dahingestellt gelassen, und eine Herausnahmebefugnis damit begründet, dass dem Jugendamtsmitarbeiter „jedenfalls“ die allgemeinen Rechtfertigungsgründe des Strafrechts zur Seite stünden. Diese Meinung übersah jedoch die folgende Kontroverse296 in der Rechtswissenschaft. Grundsätzliche Anwendbarkeit der §§ 32 ff. StGB auf Amtsträger? Zunächst muss nämlich geklärt werden, ob sich Jugendamtsmitarbeiter überhaupt auf §§ 32 ff. StGB berufen dürfen, wenn ihnen eine Handlungskompetenz durch die speziell für sie geschaffenen Gesetze gerade nicht zur Seite steht.297 295 296 297

Siehe Schindler, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 85. Siehe Norouzi, JA 2005, 308: „Ein AT-,Klassiker‘“. Siehe hierzu umfassend Hillenkamp, 32 Probleme, S. 33 ff. m.w. N.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Wenn eine Familie vom Jugendamt betreut wird und der zuständige Sozialarbeiter im Zuge dieser Betreuung eine so massive Gefährdung des Kindes diagnostiziert, dass ein Verbleib in der Obhut der Eltern nicht mehr hinnehmbar ist, dann handelt er in Ausübung der dem Staat aus dem Sozialstaatsprinzip erwachsenden Aufgabe der Fürsorge und damit als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) StGB.298 In der Strafrechtsliteratur wird in derartigen Fällen die Anwendbarkeit der §§ 32 ff. StGB z. T. mit dem Argument verneint, das Staatsnotrecht sei abschließend in der Verfassung geregelt, und die Verwaltung sei nicht dazu befugt, Lücken der staatlichen Kompetenzordnung selbst aufzufüllen.299 Auch die Ansicht, die einen Rückgriff auf die §§ 32 ff. StGB im Fall der Selbstverteidigung annehmen will, da eine Trennung zwischen den dienstlichen und den persönlichen Belangen nicht denkbar sei300, muss eine Handlungsbefugnis in Abrede stellen, weil in den Fällen drohender Kindeswohlgefährdung keine Selbstverteidigung, sondern die Abwehr von Gefahren durch dritte Personen angestrebt wird. Zwar bejaht die wohl herrschende Meinung in der Literatur die Möglichkeit zum Handeln auf der Basis der allgemeinen Rechtfertigungsgründe des Strafgesetzbuchs mit dem Argument, wenn eine Bestrafung des Amtswalters möglich sei, so müsse er spiegelbildlich auch die Vergünstigungen des StGB gewährt bekommen.301 Für diese Sichtweise streitet zudem das wünschenswerte Ergebnis – der effektive Kinderschutz. Jedoch müssten dann auch die Voraussetzungen der §§ 32 ff. StGB bezüglich der Sozialarbeiter vorliegen. § 32 StGB Im Zusammenhang mit der Nothilfe (§ 32 StGB) stellt sich dabei das Problem, dass das Gesetz einen gegenwärtigen Angriff fordert, das heißt eine durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter und Interessen302, der unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder noch andauert.303 298 Sofern der Sozialarbeiter – wie früher üblich – verbeamtet ist, dann folgt die Amtsträgereigenschaft bereits aus § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) StGB. 299 Jakobs, 12/41 ff.; 13/42; Seelmann, ZStW 89 (1977), 50 ff. 300 Roxin-Schünemann-Haffke, S. 88; Schünemann, GA 1985, 365 f. 301 BGH NStZ 2005, 31; Lackner/Kühl, § 32, Rn. 17; S/S/Lenckner/Perron, § 32, Rn. 42a ff.; Tröndle/Fischer, Vor § 32 Rn. 6; § 34, Rn. 24; Roxin, AT I, § 15, Rn. 93 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, § 9, Rn. 93; Wessels/Beulke, Rn. 288 f.; Fahl, JR 2004, 188; Norouzi, JA 2005, 308. 302 Siehe Wessels/Beulke, Rn. 325. Auch ein Unterlassen (z. B. der Versorgung eines Säuglings) kann einen Angriff darstellen, sofern diese Untätigkeit dem aktiven

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Nur in den seltensten Fällen wird jedoch diese Angriffslage vorliegen, etwa in dem Sinne, dass der Vater das Kind verprügelt oder gerade im Begriff ist, es sexuell zu missbrauchen. § 34 StGB Zwar erfasst die rechtfertigende Notstandshilfe nach § 34 StGB im Gegensatz hierzu auch die sogenannte Dauergefahr, also einen gefahrdrohenden Zustand von längerer Dauer, der jederzeit in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann.304 Jedoch verlangt die Norm einschränkend, dass die vorgenommene Rettungshandlung objektiv erforderlich ist, also das relativ mildeste Mittel darstellt. Anders als beim Notwehrrecht hat damit eine Güterabwägung stattzufinden. Vorrangig ist daher staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, bevor dieses Recht ausgeübt werden darf.305 Zwar stellen die Jugendamtsmitarbeiter Repräsentanten des Staats dar, wenn sie einem Kind im Rahmen der Betreuungstätigkeit zu Hilfe eilen, indes verfügten sie – wie ausgeführt – bislang nicht über eine eigenständige Handlungsbefugnis. Sie nahmen also in dem Fall – von den Befugnissen her – die gleiche Position wie eine Privatperson ein,306 sodass der Rechtsgedanke der Subsidiarität privater gegenüber staatlicher Hilfe im Notfall auch im Hinblick auf die Sozialarbeiter zur Geltung kam. Das mildere Mittel gegenüber der eigenhändigen Inobhutnahme stellte die Alarmierung der zuständigen Stellen dar, die im konkreten Fall bereits auf der Basis der geltenden Rechtsordnung zum Eingreifen befugt waren. Doch welche anderen staatlichen Organe waren konkret dazu ermächtigt, kindeswohlschützend einzugreifen und eine Trennung von Eltern und Kind zu bewirken?

Handeln wegen einer besonderen Rechtspflicht zum Tätigwerden nach § 13 StGB gleichzustellen ist; vgl. BayObLG NJW 1963, 824 Nr. 17. 303 Hierzu zuletzt BGH NStZ 2005, 31. 304 Wessels/Beulke, Rn. 306. Als Beispiel mag der Fall dienen, in dem der Sozialarbeiter nach vergeblichem Klopfen die Haustür öffnet und ein Baby allein vorfindet, das in seinem Bett liegt, dünn ist und einen apathischen Eindruck macht, bei dem jedoch eine konkrete Krankheit oder ein gesundheitsbedrohender Zustand nicht erkennbar ist. 305 Wessels/Beulke, Rn. 308. 306 Abweichend stellt sich die Situation in den sogenannten Folterfällen dar. Zugunsten der Zulässigkeit präventiver Folter wird häufig angeführt, dass der Polizist – hätte er als Privatperson gefoltert, um an die notwendigen Informationen zu gelangen – durchaus hätte foltern dürfen; siehe z. B. Fahl, JR 2004, 187.

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Herbeiführung einer einstweiligen Anordnung Zunächst war insoweit zu untersuchen, ob der Familienrichter im Fall einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls eine vorläufige Trennung von Eltern und Kind anordnen kann. Der Gesetzestext gestattet ein derartiges Vorgehen zwar nicht explizit, indes ist gewohnheitsrechtlich anerkannt, dass der Familienrichter bis zur Durchführung des Sorgerechtsverfahrens Interimsanordnungen treffen kann, um das Kind umfassend zu schützen, zum Beispiel durch die vorläufige Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts gegenüber den Eltern.307 Polizeiliche „Zuführung“ Im übrigen kommen als handlungsbefugte staatliche Repräsentanten die Polizeibehörden in Betracht. Die Polizisten konnten sich zwar bislang, auch wenn sie – wie in der Praxis so häufig – von einem Sozialarbeiter alarmiert werden, nicht auf die Grundsätze der Amtshilfe berufen, weil dem Jugendamt als der ersuchenden Behörde gerade nicht die hierfür nötige eigenständige Befugnis zur Wegnahme des Kindes zukam.308 Zudem bieten weder Spezialgesetze wie § 8 S. 1 JuSchG309 noch die Standardbefugnis nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 1 PAG310 (beim Betreten der Wohnung in 307 OLG Frankfurt a. M. FamRZ 2000, 1037; BayObLG FamRZ 1991, 1218; 1995, 948; 1999, 178; MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 207 ff. Vgl. auch die Studie von Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl, S. 134 f., 151, wonach in 43,7% aller untersuchten Fälle von Kindeswohlgefährdungen einstweilige Anordnungen erlassen wurden. Zum konkreten Inhalt möglicher vorläufiger Maßnahmen Palandt-Diederichsen, § 1666, Rn. 57 (Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, ggf. zusammen mit dem Verbot, den Eltern den Aufenthaltsort des Kindes mitzuteilen, bis hin zur Entziehung der gesamten Personensorge). 308 Amtshilfe liegt nur dann vor, wenn der ersuchenden Behörde (im vorliegenden Fall dem Jugendamt) die Aufgabe als eigene obliegt, s. §§ 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 HS 1, Abs. 2 SGB X (inhaltsgleich mit §§ 4 Abs. 1, 7 Abs. 1 HS 1, Abs. 2 VwVfG). Ein Fall der Amtshilfe lag also vor dem 1.10.2005 nicht bezüglich der Inobhutnahme des Kindes aus der Familie, jedoch dann vor, wenn der Sozialarbeiter aufgrund einer ihm zustehenden Ermächtigung handelte und es sich lediglich um die Ausübung unmittelbaren Zwangs handelte, zu dem er aus rechtlichen Gründen nicht ermächtigt war (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB X); unzutreffend daher Bohnert, ZStW 117 (2005), 322; zutreffend dagegen Gerber, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 114. 309 Das im Jahr 2002 in Kraft getretene Gesetz betrifft die Entfernung von Minderjährigen von jugendgefährdenden Orten, wie z. B. von Bahnhöfen oder aus dem „Rotlichtviertel“, nicht aber die Inobhutnahme bei den Eltern; siehe Scholz/Liesching, JuSchG, § 8, Rn. 2. 310 Demnach können Personen bei Gefahren für ihr Leib oder Leben in einen sogenannten Schutzgewahrsam genommen werden. Zwar erfasst die Norm, die in erster

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Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Var. o. Nr. 3 PAG) eine Ermächtigungsgrundlage. Allerdings stellte die „konkretisierte polizeiliche Generalklausel“311 des Art. 11 Abs. 1 S. 1 i.V. m. Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 3 PAG eine Möglichkeit dar, mit der sich die Herausnahme des Kindes aus der Obhut der Eltern letztlich doch begründen ließ.312 Der Sozialarbeiter fungierte formal als bloßer „Melder“ gegenüber der Polizei.313 Nachdem diese den Minderjährigen aus der Obhut der Eltern entfernt hatte, übergab sie ihn dem Jugendamtsmitarbeiter im Wege einer „Zuführung“314, sodass im Ergebnis die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. erfüllt waren. Voraussetzung hierfür war jedoch, dass aus der ex-ante- und ex-situationeSicht des Polizisten315 eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des Kindes bestand. War dieser sich unsicher, lag also lediglich ein Gefahrenverdacht vor, konnte er lediglich Gefahrerforschungseingriffe316 vornehmen. Er hatte daher unter Umständen zunächst bei der Familie nachzufragen, ob das Kind wohlauf ist, und es sich eventuell vorzeigen zu lassen. Fazit Sofern es dem Sozialarbeiter – beispielsweise aufgrund eines richterlichen Bereitschaftsdiensts317 – möglich war, den zuständigen Familienrichter (telefoLinie Fälle von Selbstgefährdungen betrifft, auch Gefahren, die von anderen Personen drohen (Öffentliches Recht in Bayern-Heckmann, Rn. 361). Jedoch passt die angeordnete Rechtsfolge, namentlich die Herbeiführung eines mit hoheitlicher Gewalt hergestellten Rechtsverhältnisses, kraft dessen einer Person die Freiheit entzogen wird, sodass sie von der Polizei in einer dem polizeilichen Zweck entsprechenden Weise verwahrt wird (Öffentliches Recht in Bayern-Heckmann, Rn. 367), nicht auf die hier in Frage stehenden Fallkonstellationen. 311 So die Bezeichnung von Öffentliches Recht in Bayern-Heckmann, Rn. 75. 312 Die Generalklausel war nicht dadurch „gesperrt“, dass zumindest vom Tatbestand her Art. 17 Abs. 1 Nr. 1 PAG einschlägig war. Art. 11 Abs. 1 PAG enthält nämlich den Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die unter anderem auch Leib und Leben eines Bürgers beinhaltet. Daher werden im konkreten Fall auch nicht die Eingriffsvoraussetzungen für das polizeiliche Tätigwerden eingeschränkt. 313 Datenschutzrechtliche Probleme ergaben sich dabei – entgegen Bohnert, ZStW 117 (2005), 322, Fn. 110 – wegen des rechtfertigenden Notstands gerade nicht. 314 Vgl. jedoch LPK-SGB VIII-Röchling, § 42, Rn. 56. Er möchte den Begriff der „Zuführung“ durch die Polizei von vornherein auf Fälle begrenzen, in denen diese „. . . mit Rücksicht auf ihre polizeilichen/ordnungsbehördlichen Befugnisse, z. B. § 8 JuSchG (. . .) bei Mj im Zusammenhang mit besonderen Gefahrenbereichen“ handeln. 315 Siehe Öffentliches Recht in Bayern-Heckmann, Rn. 135. 316 Vgl. hierzu Öffentliches Recht in Bayern-Heckmann, Rn. 133. 317 Gemäß der Untersuchung von Freifrau König von und zu Warthausen, Kindeswohl, S. 111 f. existieren im Freistaat Bayern nur bei 13% aller Familiengerichte Rufbereitschaften (und bei diesen nur bei 11% auch nachts), in Brandenburg hingegen

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nisch) über die Gefahrenlage zu informieren, hatte er eine entsprechende einstweilige Anordnung einzuholen, bevor er selbst kindesschützend tätig wurde. War er dazu nicht in der Lage, so hatte er die Polizei zu informieren, die ihm das Kind nach der Trennung von den Eltern zuführte. Die Problematik dieser Konstruktion bestand darin, dass der Sozialarbeiter regelmäßig von der Einschätzung der Gefahrenlage durch einen Dritten abhängig war, und damit unter Umständen wertvolle Zeit vergangen war, bevor das Kind in Sicherheit gebracht wurde.318 Nur dann, wenn ihm beide Möglichkeiten nicht erfolgversprechend erschienen, konnte er im Rahmen der allgemeinen Notwehrbefugnisse selbständig agieren. (ee) Herausnahme – § 43 SGB VIII a. F. § 1632 Abs. 1 BGB bestimmt, dass grundsätzlich den Eltern das Recht zusteht, von jeder Person, Einrichtung oder Behörde die Herausgabe des Kindes bzw. des Jugendlichen zu verlangen. Hielt sich der Minderjährige jedoch mit Zustimmung der Personensorgeberechtigten bei einer anderen Person oder einer Einrichtung auf, und wurden Tatsachen bekannt, welche die Annahme rechtfertigten, dass das Kindeswohl im Sinne von § 1666 BGB gefährdet war, so konnte das Jugendamt nach § 43 S. 1 SGB VIII a. F. bei Gefahr im Verzug das Kind oder den Jugendlichen anstelle der Eltern von dort entfernen und bei einer geeigneten Person, Einrichtung oder sonstigen betreuten Wohnform unterbringen. Die Norm ermächtigte die Jugendhilfe lediglich dazu, die originär den Eltern zustehenden Befugnisse wahrzunehmen, verlieh jedoch – gleich dem § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. – kein Recht, unmittelbaren Zwang anzuwenden319 und betraf ihrem eindeutigen Wortlaut nach nicht die Wegnahme des Kindes von den Eltern.320 Die Regelung war zwar als Ermessenstatbestand formuliert, indes war, wie das Tatbestandsmerkmal der „Gefahr im Verzug“ zeigte321, regelmäßig von beträgt der Wert 75% (und hier gaben 100% der Richter an, dass diese auch nachts besteht). 318 Dies gab auch Bohnert, ZStW 117 (2005), 321 zu bedenken. Siehe zudem Schindler, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 85, die darauf einging, dass damit einhergehende strafrechtliche Ermittlungen nicht immer dem Wohl des Kindes dienen (ähnlich Gerber, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 115). 319 BT-DrS 11/5948, S. 81; Münder u. a., FK-SGB VIII, § 43, Rn. 1. 320 LPK-SGB VIII-Röchling, § 43, Rn. 4. 321 Unzutreffend in diesem Zusammenhang Kunkel, Handwörterbuch SGB VIIIKJHG, Stichwort: „Herausnahme des Kindes oder des Jugendlichen“, der ausführt, eine Ermessenreduzierung auf Null komme dann in Betracht, „wenn der Mitarbeiter eine Garantenstellung hat, aus der sich eine Handlungspflicht ergibt, er sich bei einem

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einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen322, sofern man nicht die Befugnis von vornherein nur im Sinne einer Kompetenzübertragung auf die Kinder- und Jugendhilfe ansah.323 (ff) Anrufung des Familiengerichts – § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. Hielt es das Jugendamt324 zur Abwendung einer Gefährdung des Kindes oder Jugendlichen für erforderlich, so hatte es nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. das Familiengericht anzurufen, um eine Entscheidung nach § 1666 BGB zu erwirken.325 Über die Benachrichtigung hinausgehende Befugnisse zum selbständigen Eingriff in die elterliche Sorge ließen sich aus § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. nicht ableiten.326 Die in der Bevölkerung teilweise verbreitete Auffassung, das Jugendamt sei befugt, den Eltern gegebenenfalls ihr Kind dauerhaft „wegzunehmen“, war daher unzutreffend. Vielmehr bereitete das Jugendamt durch ein Vorgehen nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. den Eingriff lediglich vor, welchen das Familiengericht in der Folge ausführte.327

Unterlassen also strafbar machen würde.“ Kunkel vermischt die strafrechtliche Sekundär- mit der verwaltungsrechtlichen Primärebene. 322 So LPK-SGB VIII-Röchling, § 43, Rn. 15; Münder u. a., FK-SGB VIII, § 43, Rn. 8; Schellhorn, § 43, Rn. 3; Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 152. 323 So Mrozynski, SGB I, § 39, Rn. 4. Auch die Herausnahme nach § 43 Abs. 1 SGB VIII a. F. war, wie dessen Satz 3 zeigte, von der Zustimmung der Personensorgeberechtigten bzw. erforderlichenfalls von der unverzüglichen Herbeiführung der Entscheidung des Familiengerichts abhängig. 324 Behördenintern wurde die Anrufung des Familiengerichts z. T. dem Vorgesetzten des zuständigen Sozialarbeiters zugewiesen, siehe Fieseler, UJ 2001, 435. Siehe auch Punkt 3.4 der Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 190 (auch abgedruckt im Anhang): „Vor einer Anrufung des Familiengerichts hat sich die fallverantwortliche Fachkraft im kollegialen Team zu beraten und die/den nächste/n Vorgesetzte/n zu informieren.“ 325 Zu den verschiedenen Kooperationsmöglichkeiten zwischen Familiengericht und Jugendamt Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl, S. 245 f. 326 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 50, Rn. 21. Anders war dies zur Zeit der Geltung des JWG. Hier bot § 64 des Gesetzes eine eigenständige Eingriffsnorm zugunsten des Jugendamts. 327 Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 131 verwendete zur Beschreibung der Stellung des Jugendamts daher treffend folgende Metapher: „Das Jugendamt ist also gleichsam das Auge (§§ 50 Abs. 3, 42, 43 SGB VIII) des staatlichen Wächters, das Familiengericht aber dessen Schwert.“

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(a) Unbestimmter Rechtsbegriff – Beurteilungsspielraum? Dem zuständigen Sozialarbeiter wurde durch § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. auferlegt, den unbestimmten Rechtsbegriff des Kindeswohls328 sowie den Zeitpunkt, in dem die Gefährdung dieses Wohls eine Mitteilung an das Familiengericht erforderlich werden ließ, auf den Einzelfall anzuwenden. Ihm oblag es dabei zu prüfen, ob eine Gefahrenlage im Sinne des § 1666 BGB vorlag, ob die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage waren, die Gefährdung selbst zu beseitigen, und ob das Risiko für das Kind nicht auf andere Art und Weise abgewendet werden konnte.329 Nicht geklärt war, ob hieraus ein der verwaltungsrechtlichen330 Kontrolle entzogener jugendamtlicher Beurteilungsspielraum folgte.331 Zum Teil verneinten einige Autoren eine Ausnahme vom Grundsatz des Art. 19 Abs. 4 GG mit dem Argument, eine Kompetenz der Judikative zur Kontrolle der jugendamtlichen Entscheidung komme bereits im familiengerichtlichen Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB zum Ausdruck.332 Hiergegen ließ sich jedoch anführen, dass die Auslegung des Begriffs der Kindeswohlgefährdung durch das Familiengericht nicht als richterliche Überprüfung der Deutung durch das Jugendamt, sondern als eigenständige Sichtweise interpretiert werden kann. Dass das Gericht sich bei seiner Entscheidung auf 328 Siehe dazu bereits oben Teil 1 B. II. Zur Bedeutung des unbestimmten Rechtsbegriffs im Rahmen des Verwaltungsrechts Maurer, AT, § 7, Rn. 27. 329 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 50, Rn. 23. 330 Wie Meysen, ZfJ 2001, 412 zutreffend ausführte, wurde die Existenz eines Beurteilungsspielraums in verwaltungsrechtlicher Hinsicht im Rahmen des § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. kaum praktisch relevant. 331 Zugunsten eines Beurteilungsspielraums LG Osnabrück ZfJ 1996, 529 (Fall „Laura Jane“; siehe dazu oben Teil 1 A. I.); MüKo-Strick, SGB VIII, § 50, Rn. 11; Schellhorn, § 50, Rn. 23; Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 75; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 93; Schrapper, Sengling-FS, S. 58 ff.; Heilmann, ZfJ 2000, 41. Vgl. auch BR-DrS 712/04 S. 28: „§ 50 Abs. 3 SGB VIII räumt dem Jugendamt einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Frage ein, ob es zur Abwendung einer Gefährdung des Wohls des Kindes ein Tätigwerden des Gerichts für erforderlich hält.“ LPK-SGB VIII-Kunkel, § 50, Rn. 13, sprach von einer „Einschätzungsprärogative“ und begründete dies mit dem Argument, es läge keine von der Rechtsprechung anerkannte Fallgruppe eines Beurteilungsspielraums der Verwaltung vor (zu Recht krit. hierzu Meysen, ZfJ 2001, 412, Fn. 59 und Hoffmann, ZfJ 2003, 41, Fn. 1, die monierten, dass die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung auch bei diesem Terminus von einem Fall mangelnder Justitiabilität ausgeht). Unzutreffend in diesem Zusammenhang im übrigen Freifrau König von und zu Warthausen, Kindeswohl, S. 164 sowie Frings, JWohl 1997, 174 (181), die von „(fachliche(m)) Ermessen“ sprachen, sowie Busch, UJ 2002, 85 („Ermessensentscheidung“). Ermessen ist im Verwaltungsrecht nur auf der Rechtsfolgenebene anzunehmen (s. Maurer, AT, § 7, Rn. 7), und § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. sah gerade eine zwingende Rechtsfolge (die Anrufung des Gerichts) vor. 332 Meysen, ZfJ 2001, 412.

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die gleichen Gesichtspunkte wie der Sozialarbeiter stützt, heißt jedoch keineswegs, dass hiermit zwangsläufig eine Kontrolle der Exekutive durch die Judikative intendiert ist. Für die Annahme eines Beurteilungsspielraums sprach vielmehr ganz entscheidend der prognostische Charakter der Entscheidung.333 Zwar ist im Verwaltungsrecht anerkannt, dass Prognoseentscheidungen nicht per se einen Beurteilungsspielraum eröffnen334 – die Rechtsprechung hat einen derartigen Entscheidungsspielraum von Amtsträgern jedoch in Konstellationen angenommen, in denen eine Entscheidung wesentlich von den persönlichen Erfahrungen und Eindrücken eines Amtswalters abhängt und nur von diesen getroffen werden kann, wie zum Beispiel bei der Bewertung von Risiken durch das Bundesgesundheitsamt bei der Genehmigung des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen335, bei der Bedarfsentscheidung im Rahmen des Erlasses einer städtebaulichen Entwicklungssatzung336 oder bei der Ermittlung des Kaufkraftausgleichs für Beamte mit Sitz im Ausland337. Das zukünftige Verhalten von Menschen – speziell das zukünftige Verhalten der Eltern ihrem Kind gegenüber – ist nicht exakt vorauszusagen338 und wesentlich von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters (z. B. infolge eines Hausbesuchs) abhängig, sodass die Prognoseentscheidung die Annahme eines Beurteilungsspielraums legitimierte.339 Dass ein Beurteilungsspielraum anzunehmen war, bedeutete jedoch nicht, dass das Verhalten des Amtsträgers einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle vollständig entzogen gewesen wäre, vielmehr war § 114 VwGO analog anzuwenden,340 sodass die Verwaltungsgerichte prüfen mussten, ob der Jugendamtsmitarbeiter die Voraussetzungen der Beurteilungslehre beachtet hatte. Verletzt sind deren Vorgaben etwa bei einem Verstoß gegen Verfahrensvorschriften, bei einem nicht vollständig ermittelten Sachverhalt, bei der Einstellung sachfremder Erwägungen in die Beurteilung sowie bei Verstößen gegen allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze.341 333

Hierzu auch LG Osnabrück ZfJ 1996, 529. Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 24a, 37. 335 OVG Berlin NVwZ 1995, 1023 f. 336 BVerwG NVwZ 1999, 409. 337 BVerwG DVBl 1996, 1130. 338 So auch H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 207 ff. im Zusammenhang mit der Rückfallgefahr von Straftätern (S. 207: „. . . Baselines der Gewalt sind weitgehend unbekannt“). Siehe auch die 10 bedeutendsten Theorien zur Entstehung von Gewalt bei Schneider, S. 17 ff. (speziell zur Entstehung von Gewalt in der Familie S. 118 ff.). 339 Zur Relevanz dieser Kriterien Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 24a. 340 Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 23. 334

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Zudem hatte das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob in dem konkreten Fall nur eine bestimmte Verhaltensstrategie rechtmäßig gewesen wäre, ob also von einer Reduzierung des Beurteilungsspielraums „auf Null“ auszugehen war.342 (b) Datenschutz Datengewinnung Nicht vollständig geklärt war auch, auf welche Vorschrift sich das Jugendamt bei der hierfür erforderlichen Informationsgewinnung stützen konnte. Zwar regelte § 62 Abs. 3 Nr. 2 lit. d) SGB VIII a. F. die Datenerhebung bei Dritten, sofern sie für eine gerichtliche Entscheidung erforderlich war. Jedoch sollte diese Entscheidung nach dem Wortlaut des Gesetzes „Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch“ sein, sodass dann, wenn im folgenden familiengerichtlichen Verfahren nicht eine Leistung, sondern ein Sorgerechtsentzug angeordnet wurde, die Meldung nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. als „andere Aufgabe der Jugendhilfe“343 genau genommen nicht hierunter fiel.344 Datenübermittlung Ein Parallelproblem trat dann auf, wenn dem Mitarbeiter des Jugendamts Sozialdaten zum Zweck persönlicher und erzieherischer Hilfen von einem Mitglied der „Problemfamilie“, zum Beispiel im Rahmen des Hilfeplanverfahrens, anvertraut worden waren, da auch § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII a. F. die Informationsweitergabe davon abhängig machte, dass diese die Voraussetzung für eine Leistungsgewährung bildeten.345 341

Näher hierzu BVerwGE 85, 180; BVerwG NVwZ 1999, 758; Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 37a, 38; Maurer, AT, § 7, Rn. 43. 342 Siehe hierzu Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 6. 343 Vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 6 SGB VIII. 344 LPK-SGB VIII-Kunkel, § 62, Rn. 13 hielt die einschränkende Voraussetzung der sich anschließenden Leistung des Jugendamts für nicht mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG vereinbar. Er legte die Norm im Lichte der Verfassung aus. Anders offensichtlich Fieseler, Sozialextra 2004, 43, der im Zusammenhang mit den ursprünglich geplanten Änderungen durch das TAG von einer „Einschränkung des bisherigen kinder- und jugendhilfespezifischen Sozialdatenschutzes“ ausging. Zwar hat der Deutsche Städtetag im Jahr 2003 diesbezüglich Handlungsempfehlungen abgegeben, indes genügen diese – wie Wiesner (ZfJ 2004, 171) zutreffend ausgeführt hat – nicht dem verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgebot. 345 LPK-SGB VIII-Kunkel, § 50, Rn. 18a nahm in diesem Fall eine stillschweigende Einwilligung in die Weitergabe der Informationen an, sofern diese von vornherein in Aussicht gestellt wurde. In diesem Sinne wohl auch das OLG Stuttgart NJW 1998, 3134 im Fall „Jenny“ (s. hierzu oben Teil 1 A. II.): „Belange des Datenschut-

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Unklar blieb zudem die Ermächtigungsgrundlage für die Weitergabe der erhobenen Daten an das Familiengericht, wenn der Sozialarbeiter Informationen über eine Kindeswohlgefährdung im Lauf seiner Betreuungstätigkeit erlangte, weil § 64 Abs. 1 SGB VIII a. F. die Übermittlung von Daten nur zu dem Zweck gestattete, zu dem diese erhoben wurden, und eine Ausnahme nach Absatz 2 lediglich dann vorsah, wenn der Erfolg einer zu gewährenden Leistung durch die Datenweitergabe nicht in Frage gestellt wurde. Insoweit erschien es angezeigt, den Begriff des „Zwecks“ weit auszulegen und alle Aufgaben nach § 2 SGB VIII darunter zu fassen, also auch die Benachrichtigung des Familiengerichts gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 6 SGB VIII.346 Damit konnte jedoch nicht die Weitergabebefugnis bei einem Wechsel der örtlichen oder personellen Zuständigkeit des Jugendamts bzw. des freien Trägers begründet werden. Einige Autoren wollten hierfür auf § 34 StGB ausweichen347, eine weitere Ansicht begründete die Datenweitergabe mit dem Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision.348 Stellungnahme Einerseits sprach bereits das verfassungsrechtliche Schutzpflichtenkonzept dafür, dass der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts dann zurückstehen muss, wenn Leib und Leben des Kindes gefährdet sind, andererseits der Umstand, dass § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. ansonsten einen Großteil seiner praktischen Relevanz eingebüßt hätte. Datenschutzrechtlich ließen sich die Probleme z. T. im Rahmen der Datenweitergabe bei einem Zuständigkeitswechsel über § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII a. F. in Verbindung mit § 34 StGB lösen. Die Norm bestimmte für die anvertrauten Daten die Befugnis zur Weitergabe, sofern das Strafrecht dies im Zusammenhang mit § 203 StGB gestattete. Hieraus war zu folgern, dass, wenn sogar bei den besonders geschützten anvertrauten Daten die Ermächtigung bezes (vgl. §§ 64, 65 KJHG) standen hier angesichts der Gefährdung des Kindeswohls einer Information nicht entgegen.“ Das Problem wurde gänzlich übersehen bei Busch, UJ 2002, 84. 346 In diese Richtung auch die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, in denen geäußert wird, dass „. . . der Übermittlung der Daten § 64 Abs. 2 SGB VIII nicht im Weg (steht), da der Erfolg der zu gewährenden Leistung nicht durch die Übermittlung, sondern durch die Weigerung der Personensorgeberechtigten in Frage gestellt wird.“ (ZfJ 2004, 192 sowie Anhang). 347 Siehe hierzu die Empfehlungen des Deutschen Städtetages (ZfJ 2004, 192 sowie Anhang), der unter 3.8.3. bis zu einer Neuregelung die Befugnis zur Datenweitergabe auf § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII a. F. i.V. m. § 34 StGB stützen wollte. Auch Fieseler, Sozialextra 2000, 20 f. rekurrierte auf § 34 StGB, um eine Weitergabebefugnis im Fall „Jenny“ herzuleiten. 348 Bringewat, NJW 1998, 947.

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stand, diese weiterzuleiten, sonstige Daten erst recht einer Übermittlung an andere Stellen zugänglich sein mussten. Eine Regelungslücke bestand jedoch in der Situation, in der zwar Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bestanden, in der jedoch noch keine Anrufung des Familiengerichts sinnvoll erschien und keine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr im Sinne des § 34 StGB bestand.349 (gg) Exkurs – Verpflichtung zu einer Strafanzeige? Schließlich stellte und stellt sich die Frage, ob dem Sozialarbeiter im Fall der Schädigung des Kindes durch die Eltern als „andere Aufgabe“ auch die Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden obliegt. Im Gegensatz zu den bisher genannten Befugnissen war und ist eine Anzeigepflicht nicht ausdrücklich im SGB VIII aufgeführt. Um sie zumindest für möglich zu halten, müsste – wegen des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes – eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage existieren.350 Eine solche ist jedoch nicht ersichtlich, insbesondere ist § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII zu unbestimmt gefasst, um eine solche darzustellen,351 sodass die Strafanzeige gegen die Eltern keine „andere Aufgabe“ nach dem SGB VIII darstellt.352 Die Befugnis, als Sozialarbeiter eine Anzeige zu erstatten, resultiert aus dem Umstand, dass die in § 203 Abs. 1 Nr. 5 StGB geregelte Schweigepflicht von Sozialarbeitern dann nicht gilt, wenn sich eine Befugnis zur Offenbarung des Geheimnisses aus § 34 StGB ergibt oder aufgrund der Schwere der von den Eltern zu befürchtenden Straftaten sogar eine Pflicht zur Erstattung einer Anzeige aus § 138 StGB folgt.353 Eine Pflicht zur Anzeige kann sich überdies dann ergeben, wenn diese das einzige Mittel zur Verhinderung weiterer Straftaten gegenüber dem Kind darstellt.354

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Wiesner/Schindler/Schmid, Einführung, S. 100. Zur datenschutzrechtlichen Zulässigkeit in Fällen des sexuellen Missbrauchs Ollmann, ZfJ 1998, 355, 359. 351 Anderer Ansicht Ollmann, ZfJ 1998, 356. 352 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 50, Rn. 29; i. d. S. auch die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 193 sowie im Anhang („. . . keine Pflicht des Jugendamts zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden (. . .) vielmehr im fachlichen Ermessen . . .“); Meysen, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 40. 353 Zu diesen beiden Rechtfertigungsgründen S/S/Lenckner, § 203 Rn. 29, 30 f. Zur datenschutzrechtlichen Ermächtigung siehe die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 192 f. sowie im Anhang (§ 64 Abs. 2 SGB VIII i.V. m. § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 SGB X). 354 So auch Gerber, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 115. 350

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(2) Aktuelle Rechtslage Wie bereits erwähnt wurde, erfuhr das SGB VIII zahlreiche Änderungen im Zusammenhang mit dem Problemfeld der Kindeswohlgefährdung. Seitens der seinerzeitigen Bundesregierung zielten Änderungen durch das KICK vor allem auf die Konkretisierung des Schutzauftrags im Fall des Verdachts einer Kindeswohlgefährdung, auf eine Reform der vorläufigen Kriseninterventionsinstrumente sowie auf die Umgestaltung des Datenschutzes in der Kinder- und Jugendhilfe.355 (a) Konkretisierung des Schutzauftrags – § 8a Abs. 1 SGB VIII Bislang existierte im SGB VIII lediglich die Zielvorgabe des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII, wonach die Jugendhilfe Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen sollte. (aa) Klarstellungsfunktion Mit dem Inkrafttreten des KICK ist in § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII erstmals explizit ein Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe im Fall kindeswohlgefährdender Situationen geregelt. Nach Aussage des Gesetzgebers sollen die zuständigen Sozialarbeiter hierdurch dabei unterstützt werden, ihren Handlungsauftrag zu erkennen, zudem soll die Norm aber auch dazu beitragen, falsche Handlungserwartungen zu vermeiden.356 Dadurch, dass die Norm im Allgemeinen Teil des SGB VIII verortet ist, wird zudem betont, dass der Schutzauftrag bei sämtlichen Tätigkeiten der Jugendhilfe zu berücksichtigen ist, also auch im Bereich der Leistungen gemäß § 2 Abs. 2 SGB VIII.357 Die Regelung besitzt damit vorrangig Klarstellungscharakter.358 (bb) Handlungsvorgaben Daneben enthält sie die bislang nicht im SGB VIII vorhandenen Handlungsvorgaben im Fall von Kindeswohlgefährdungen, das heißt Anforderungen, welche die Fachlichkeit den Sozialarbeitern in derartigen Konstellationen abver-

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Synopse hierzu bei Wiesner/Schindler/Schmid, Einführung. Meysen/Schindler, JAmt 2004, 450. 357 Meysen/Schindler, JAmt 2004, 451. 358 BT-DrS 15/3676, S. 26: „. . . (verfassungs-)rechtliche Grundlagen sollen nun zur Verdeutlichung des Schutzauftrags der Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich geregelt werden.“ 356

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langt.359 Der Gesetzgeber hat sich dabei an den Empfehlungen des Deutschen Städtetages360 orientiert.361 (a) Untersuchungsgrundsatz Zunächst ist § 8a Abs. 1 SGB VIII ein gegenüber § 20 SGB X speziellerer Untersuchungsgrundsatz zu entnehmen.362 Die Norm bestimmt, dass bei gewichtigen Anhaltspunkten, also im Fall konkreter Hinweise oder ernstzunehmender Vermutungen auf entsprechende Zustände363 für jeden Sozialarbeiter eine Pflicht besteht, Informationen zu sammeln. Hierfür wurden die Datenschutzbestimmungen entsprechend klargestellt. Gespräche des Jugendamtsmitarbeiters mit Dritten sind – sofern sie der Realisierung des Schutzauftrags des § 8a SGB VIII dienen – nach § 62 Abs. 3 Nr. 2 lit. d) SGB VIII explizit zulässig.364 Zudem ist es nunmehr möglich, Nachbarn und Bekannte sowie andere Außenstehende zu befragen, wenn die Erhebung der Daten bei den Betroffenen selbst den Zugang zu der Familie ernsthaft gefährden würde (vgl. § 62 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII)365. (b) Gebot kollegialen Zusammenwirkens Bindungswirkung? Hat ein Jugendamtsmitarbeiter – der nach dem Wortlaut der Regelung nicht fallzuständig sein muss – Informationen erlangt, so muss er die gewonnenen Erkenntnisse in einem nächsten Arbeitsschritt bewerten.366 In § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII hat der Gesetzgeber zu diesem Zweck das fachliche Gebot367 der Kollegialentscheidung kodifiziert.368 Die Risikoabschät359 Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 2 hält deren Inkorporierung in das SGB VIII angesichts der Grundrechtsrelevanz der behandelten Materie für unabdingbar. 360 Siehe ZfJ 2004, 187 ff. sowie Anhang. 361 BT-DrS 15/3676, S. 26, 30. 362 Vgl. aber LPK-SGB VIII-Kunkel, § 50, Rn. 11, der im Rahmen der Benachrichtigungspflicht gegenüber dem Familiengericht den § 20 SGB X vor Inkrafttreten des KICK nicht für einschlägig erachtete, da es sich bei der Ermittlung der maßgebenden Fakten nicht um ein Verwaltungsverfahren handele. Kunkel entnahm die Ermittlungspflicht direkt aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. 363 So die Definition bei Meysen/Schindler, JAmt 2004, 451. 364 Nach BT-DrS 15/3676, S. 38 soll hierdurch vorrangig die Risikoabschätzung in den Fällen ermöglicht werden, in denen die Eltern ihre Mitarbeit verweigern. 365 Laut BT-DrS 15/3676, S. 38 soll mittels dieser Norm vor allem in Fällen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eine Informationssammlung erleichtert werden. 366 Vgl. in diesem Zusammenhang Punkt 3.2 der Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 189 (auch abgedruckt im Anhang).

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zung soll also im Team erfolgen, welches jedoch nicht nach den Grundsätzen des § 36 SGB VIII besetzt sein muss. Weitere Anforderungen lassen sich weder dem Wortlaut der Norm noch der entsprechenden Gesetzesbegründung bzw. den Empfehlungen des Deutschen Städtetages entnehmen. So bleibt insbesondere unklar, ob am Ende der Beratung eine Abstimmung stattzufinden hat, und ob bejahendenfalls der fallzuständige Jugendamtsmitarbeiter an das bei der Beratung erzielte Ergebnis gebunden ist. Notwendige Mindestvoraussetzung ist laut der Regelung lediglich, dass mindestens zwei Fachkräfte gemeinsam die Situation beurteilen.369 Wie bereits im Rahmen des § 36 SGB VIII ausgeführt wurde, sprechen die besseren Gründe gegen eine Verbindlichkeit des Zusammenwirkens der Fachkräfte. Aufgrund dessen kann eine solche auch im Hinblick auf § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII nicht angenommen werden. Informationsverschaffungsrecht Die bei der Kollegialentscheidung unter Umständen notwendig werdende Offenbarung anvertrauter Daten ist nunmehr nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VIII zulässig. Dabei ist der eingefügte § 64 Abs. 2 lit. a) SGB VIII zu beachten, der das Gebot der Anonymisierung und Pseudonomisierung statuiert, soweit es die Aufgabenerfüllung zulässt. Bei einem Zuständigkeitswechsel – ob nun intern im Jugendamt veranlasst oder aufgrund eines örtlichen Wechsels zum Beispiel nach einem Umzug der Familie – kann ein Datenaustausch künftig über § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII erfolgen.370 (g) Kooperation mit den Eltern Grundsätzlich sind nach § 8a Abs. 1 S. 2 HS 1 SGB VIII die Eltern bei der Risikoabwägung mit einzubeziehen.371 Hierdurch wird dem in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG statuierten Vorrang der elterlichen Verantwortung Rechnung getragen.372 Ausnahmsweise sollen sie jedoch außen vor bleiben, wenn durch die Beteiligung der Eltern der Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Frage gestellt wird (§ 8a Abs. 1 S. 2 HS 2 SGB VIII). 367 Siehe hierzu Punkt 3.21 der Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 189 (auch abgedruckt im Anhang). 368 BT-DrS 15/3676, S. 10, 30. 369 Meysen/Schindler, JAmt 2004, 452; Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 28. 370 Siehe dazu BT-DrS 15/3676, S. 14. 371 Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 17 meint, dies geschehe in der Regel im Rahmen eines Hausbesuchs. 372 Meysen/Schindler, JAmt 2004, 452.

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Zu beachten ist, dass in der Regelung nicht von der Befragung der Eltern, sondern von deren Einbeziehung die Rede ist. Folglich sind die Jugendamtsmitarbeiter nicht dazu befugt, die Eltern „zu verhören“, bzw. sind die Eltern auch nicht verpflichtet, die für die Beurteilung der Gefährdungslage erforderlichen Informationen preiszugeben.373 Mit der Regelung des § 8a Abs. 1 S. 3 SGB VIII wird ersichtlich auf den im folgenden noch näher vorzustellenden § 1666a BGB rekurriert.374 Demnach hat der Jugendamtsmitarbeiter vorrangig Hilfe anzubieten – sofern eine solche in Betracht kommt. (b) § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII Durch das KICK wurde überdies § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. gestrichen. Damit wurde jedoch keineswegs beabsichtigt, die Pflicht des Jugendamts zur Verständigung des Familiengerichts bei Gefahren für das Kindeswohl zu beseitigen. Diese ist vielmehr künftig in § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII geregelt.375 Folglich bleibt damit auch in Zukunft die Frage aktuell, ob dem Jugendamt ein Beurteilungsspielraum in Bezug auf den Begriff des Kindeswohls und eine entsprechende Gefährdungslage eingeräumt ist.376 Die Regelung unterscheidet sich zwar in ihrem ersten Halbsatz nicht von § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. Sie wird jedoch um einen zweiten Halbsatz ergänzt, der vorsieht, dass das Familiengericht auch dann anzurufen ist, wenn die Erziehungs- oder Personensorgeberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, an der Risikoabschätzung mitzuwirken.377 Hierdurch wird klargestellt, dass es für einen „Antrag“ des Jugendamts beim Familiengericht nicht erforderlich ist, dass die konkrete Gefährdungslage bereits durch den Sozialarbeiter „durchermittelt“ wurde – ein Umstand, den manche Familienrichter in der Vergangenheit entgegen ihrer Amtsermittlungspflicht (§ 12 FGG) und in Unkenntnis der fehlenden Ermittlungsmöglichkeiten des Jugendamts zuweilen forderten.378 373 BT-DrS 15/3676, S. 30: „. . . Obliegenheit, die sich bereits aus dem Pflichtcharakter des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt.“ Vgl. dazu auch Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 20. 374 Meysen/Schindler, JAmt 2004, 453. 375 BT-DrS 15/3676, S. 10; vgl. hierzu auch Punkt 3.4 der Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 190 (sowie im Anhang). 376 Bejahend Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 44; Fieseler/Hannemann, KJ 2006, 120. 377 Zur Schwierigkeit des „Hinwirkens“ auf eine Hilfeakzeptanz Kohaupt, JAmt 2005, 222 ff. im Zusammenhang mit § 8a SGB VIII. Interessant auch Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 22: „Damit wird das Familiengericht bereits vor der Feststellung einer Kindeswohlgefährdung in die Pflicht genommen.“

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Der Gesetzgeber favorisiert also die frühzeitige Einschaltung des Familiengerichts, um die sich aus der Amtsermittlungspflicht ergebenden Chancen (bspw. Einholung eines ärztlichen Gutachtens) zur Gefahrenabschätzung nutzen zu können. Werden Anhaltspunkte für eine dringende379 Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen erkennbar, die eine Inobhutnahme des Kindes erfordern und kann eine Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt zu dieser Maßnahme berechtigt (vgl. § 8a Abs. 3 S. 2 SGB VIII). (c) Vorläufige Krisenintervention – § 42 SGB VIII Obwohl bereits in § 8a Abs. 3 S. 2 SGB VIII eine Regelung bezüglich der Inobhutnahme erfolgt, bleibt diese laut amtlicher Überschrift in § 42 SGB VIII geregelt.380 Beseitigt wurde jedoch die vielerorts als künstlich381 bezeichnete Trennung von Inobhutnahme und Herausnahme, sodass die Krisenintervention unabhängig von dem Ort, an dem das Kind angetroffen wird, stets nach § 42 SGB VIII zu beurteilen ist.382 Zudem wurde durch das KICK die Struktur des Paragraphen geändert.383 Zäumte § 42 SGB VIII a. F. „den Gaul gewissermaßen am Schwanz auf“384, so orientiert sich die beschlossene Neuregelung an der chronologischen Abfolge einer vorläufigen Schutzmaßnahme. Die Anlässe, bei denen eine Inobhutnahme zulässig ist, sind in § 42 Abs. 1 S. 1 SGB VIII geregelt. Neben dem bereits bekannten „Selbstmelder“ (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII) bleibt die Situation beibehalten, in der eine drin378 So Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl, S. 245; Meysen/Schindler, JAmt 2004, 455 (Die Autoren sehen in der geplanten Neuregelung einen Hinweis auf eine „Verantwortungsgemeinschaft“ (S. 454) zwischen Jugendamt und Familiengericht.) sowie Langenfeld/Wiesner, Saarbrücker Memorandum, S. 62, 77 f. und Wiesner, ZfJ 2004, 166. 379 Ursprünglich lautete die Formulierung im Gesetzentwurf „schwerwiegende und dringende Gefahr“. 380 Kritik zum nicht ganz eindeutigen Verhältnis von § 8a SGB VIII zu § 42 SGB VIII bei Röchling, FamRZ 2006, 162, der einen Verweis auf § 42 in § 8a SGB VIII vermisst. Siehe auch Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 59 – er misst § 8a Abs. 3 S. 2 SGB VIII „ausschließlich Verweisungscharakter“ bei. 381 Meysen/Schindler, JAmt 2004, 459; siehe auch Meysen, Stellungnahme 1, S. 9: „. . . eine Wohltat für die Praxis.“ 382 Mit der Verschmelzung von § 42 und § 43 SGB VIII trägt der Gesetzgeber zugleich der statistischen Wirklichkeit Rechnung, derzufolge der stark überwiegende Teil der Interventionen Inobhutnahmen darstellt. Siehe hierzu die Angaben bei Meysen/ Schindler, JAmt 2004, 458, wonach im Jahr 2003 den bundesweit 27.209 Inobhutnahmen lediglich 169 Herausnahmen gegenüberstanden. 383 BT-DrS 15/3676, S. 37. 384 So die treffende Formulierung bei Meysen/Schindler, JAmt 2004, 457.

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gende Gefahr385 für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert. Die Regelung differenziert zwischen Konstellationen, in denen die Intervention dem Willen der Eltern entspricht (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a) SGB VIII) und solchen, in denen die Inobhutnahme deren Willen zuwiderläuft (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII). Der Gesetzgeber beseitigte damit die „rechtliche Grauzone“386, in der sich Sozialarbeiter bis zum 30.9.2005 bewegten, wenn sie Kinder und Jugendliche zwangsweise aus der Obhut ihrer personensorgeberechtigten Eltern entfernten. Eine solche Maßnahme ist jedoch nur dann rechtmäßig, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII, vgl. auch § 8a Abs. 3 S. 2 SGB VIII).387 Zudem wird in § 42 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 SGB VIII geregelt, dass die Übergabe des Kindes an die Eltern nur erfolgen darf, wenn keine Kindeswohlgefährdung (mehr) besteht, oder wenn die Eltern bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden. Schließlich ist neben der Möglichkeit freiheitsentziehender Maßnahmen (§ 42 Abs. 5 SGB VIII) erstmals ausdrücklich die Unzulässigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs durch die Sozialarbeiter selbst geregelt (§ 42 Abs. 6 SGB VIII).388 (3) Ursprünglich geplante Änderungen durch das KEG Obgleich das von der damaligen Opposition in den Bundesrat eingebrachte KEG in erster Linie darauf abzielte, die Handlungsfähigkeit der Kommunen vor dem Hintergrund der Kostenexplosion in der Kinder- und Jugendhilfe sicherzustellen, waren darin auch Regelungen zur Stärkung des staatlichen Wächteramts und zur Betonung des Schutzauftrags vorgesehen.389

385 Im ursprünglichen Entwurf zum TAG war von „. . . schwerwiegende(r) und dringende(r) Gefahr“ die Rede (BT-DrS 15/3676, S. 10). Krit. zu diesem Terminus Meysen, Stellungnahme 1, S. 9 f. Im KICK wurde dieser Begriff abgemildert. 386 BT-DrS 15/3676, S. 37. 387 Zu einem weiteren Anlass – der Inobhutnahme von Flüchtlingskindern – (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII) siehe Meysen/Schindler, JAmt 2004, 459. 388 Siehe dazu das DIJUF-Gutachten in JAmt 2006, 78 f. 389 BR-DrS 712/04, Vorblatt, S. 2. Vgl. aber auch die „Doppelbegründung“ in BRDrS 712/04, S. 28: „Die neue Vorschrift des § 50 a SGB VIII soll damit zum einen ein praxisgerechtes Instrument zur Früherkennung von Erziehungsdefiziten und Hilfebedarf darstellen, zum anderen aber auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderund Jugendkriminalität durch eine möglichst frühzeitige Einwirkung auf gefährdete Jugendliche leisten.“ (Hervorhebungen nicht im Original).

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(a) § 50a SGB VIII-KEG Zu diesem Zweck sah der Gesetzentwurf – auf den ersten Blick ähnlich dem der damaligen Bundesregierung390 – vor, den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe in einer eigenen Norm zu konkretisieren. Die Norm sollte, anders als der im KICK vorgesehene und schließlich realisierte § 8a, im Zusammenhang mit den „anderen Aufgaben“ (vgl. § 2 Abs. 3 SGB VIII) verortet werden. Auch § 50a Abs. 1 S. 1 SGB VIII-KEG betonte für die Jugendamtsmitarbeiter die Pflicht, den Sachverhalt bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung von Amts wegen zu ermitteln. Hierfür statuierte § 50a Abs. 2 S. 1 HS 1 SGB VIII-KEG eine Befugnis zur Befragung der Eltern. Im zweiten Halbsatz der Norm war eine Pflicht der Eltern zur Erteilung der für die Abschätzung des Risikos notwendigen Auskünfte enthalten.391 Bezüglich der der Ermittlung des Sachverhalts notwendigerweise nachfolgenden Risikoabwägung enthielt die Norm, anders als die von der Bundesregierung vorgeschlagene Neuregelung, nicht das Gebot des kollegialen Zusammenwirkens, indes zählte § 50a Abs. 4 SGB VIII-KEG eine Reihe von Konstellationen auf, in denen davon ausgegangen werden sollte, dass eine Gefährdung des Wohls des Kindes oder Jugendlichen zu vermuten sei.392 Zwar wurde auch in § 50a Abs. 3 S. 1 SGB VIII-KEG der grundsätzliche Vorrang von Leistungen vor Eingriffen der Jugendhilfe statuiert; § 50a Abs. 3 S. 2 SGB VIII-KEG stellte jedoch insofern eine Neuerung dar, als hierin bei fehlender Bereitschaft der Eltern zur Annahme dieser Leistungen beziehungsweise bei Fehlen einer geeigneten Hilfsmaßnahme eine Verpflichtung des Jugendamts begründet wurde, das Familiengericht anzurufen. Im Gegensatz zu der bis zum 1.10.2005 und auch weiterhin geltenden Rechtslage sollte also eine Art Automatismus der Handlungsabläufe im Jugendamt bei Fällen von Kindeswohlgefährdung statuiert werden: Nachdem Tatsachen bekannt geworden wären, die im Fall ihrer Bestätigung eine solche begründet hätten, sollten grundsätzlich die Eltern befragt werden, im Anschluss hieran sollten 390 Während die Überschrift des § 8a SGB VIII „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ lautet, wurde § 50a SGB VIII-KEG mit „Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung“ (vgl. BR-DrS 712/04, S. 5) betitelt. 391 Krit. hierzu Meysen, Stellungnahme 2, S. 2-2 („KEG: „Law and Order“ statt Schutz von Kindern“), S. 2-3 („Na dann! Man ist geneigt zynisch anzumerken: „So eine Vorschrift wünscht sich die Kriminalpolizei schon lange . . .“); ders./Schindler, JAmt 2004, 452 f. 392 Krit. gegenüber der Statuierung derartiger gesetzlicher Vermutungen Meysen, Stellungnahme 2, S. 2-3: „Der zahlenmäßige Hauptgrund für eine Kindeswohlgefährdung, die Vernachlässigung, wird in dem Entwurf schlicht vernachlässigt, ebenso die psychische Misshandlung oder der Autonomiekonflikt . . .“; ders./Schindler, JAmt 2004, 464: „. . . eine (bedenkliche) Definition . . .“; krit. auch Sauter, Stellungnahme, S. 2: „. . . Liste des KEG eindeutig zu deliktsorientiert“.

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diesen Hilfen zur Erziehung angeboten werden. Wären die Eltern unwillig oder unfähig zu deren Annahme gewesen, hätte der Jugendamtsmitarbeiter das Familiengericht zu benachrichtigen gehabt. Die beabsichtigte Rechtslage stand damit im Gegensatz zur ehemals geltenden, die dem Jugendamtsmitarbeiter diese Pflicht nur dann auferlegte, wenn er die Benachrichtigung für erforderlich hielt (vgl. § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII) – der Beurteilungsspielraum des Jugendamtsmitarbeiters sollte also auf die Bewertung der Tatsachen zum Zeitpunkt ihrer Kenntnisnahme begrenzt werden. (b) § 65 Abs. 1a SGB VIII-KEG Ähnlich dem Gesetzentwurf der damaligen Bundesregierung enthielt auch derjenige der damaligen Opposition eine Reform des Datenschutzes. Nach § 65 Abs. 1a SGB VIII-KEG sollten Daten künftig auch dann nicht mehr als anvertraut anzusehen sein, wenn sie zur Erlangung einer Sach- oder Geldleistung in Erfüllung der Mitwirkungspflicht preisgegeben worden waren.393 (c) Fazit Sowohl die vormalige Bundesregierung als auch die Opposition strebten also an, den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe zu konkretisieren und die Datenschutzregelungen zugunsten des Kinderschutzes zu modifizieren. Die handwerklichen Mittel, mit denen dies geschehen sollte, waren jedoch sehr unterschiedlich. 3. Organisation der Jugendhilfe Die Jugendhilfe in Deutschland ist – das zeigt § 3 Abs. 2 SGB VIII – nach dem sogenannten dualen System394 organisiert. Hiermit ist gemeint, dass auf dem Gebiet der Erbringung von Leistungen sowohl öffentliche als auch freie Träger der Jugendhilfe agieren. Diese Aufgabenteilung stellt kein Novum des SGB VIII dar, sondern kann bereits auf eine lange Tradition zurückblicken.395 Jahrhundertelang wurde die Jugendhilfe nahezu ausschließlich von nichtstaatlichen Organisationen erbracht, die in ihrem Tun meist religiös motiviert waren. Zwar verpflichtet das Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) den Staat heutzutage zum Ausgleich sozialer Gegensätze und damit auch zur Jugendhilfe, indes 393 394 395

Krit. hierzu Meysen, Stellungnahme 2, S. 5 f. Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 188. Münder u. a., FK-SGB VIII, § 3, Rn. 7.

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lässt sich aus dieser Pflicht nicht die Art und Weise der Erbringung sozialer Arbeit herleiten.396 Schließlich spricht auch ein drittes, pragmatisches Argument für den Einsatz freier Träger: Der Staat könnte die Jugendhilfe in Deutschland aus finanziellen sowie organisatorischen Gründen kaum allein meistern.397 a) Freie Träger (1) Beispiele Das SGB VIII regelt – anders als in Bezug auf die öffentlichen Träger (s. § 69 SGB VIII) – nicht gesondert, wer als freier Träger398 anzusehen ist, setzt jedoch in einigen Vorschriften verschiedene Institutionen als in der Jugendhilfe tätig voraus.399 Beispiele für anerkannte freie Träger bilden die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, der Ring deutscher Pfadfinder- und Pfadfinderinnenverbände sowie die Kirchen.400 (2) Aufgaben der freien Träger (a) Leistungen Den freien sind neben den öffentlichen Trägern sämtliche Leistungen als Aufgabe zugewiesen.401 Leistungsverpflichtungen erlegt das Gesetz jedoch aufgrund der Autonomie der freien Träger402 grundsätzlich der öffentlichen Jugendhilfe auf (§ 3 Abs. 2 S. 2 SGB VIII), womit freilich nicht gemeint ist, dass letztere diese Pflichten auch tatsächlich selbst erbringen.403 396

BVerfGE 22, 180 (204). Laut BT-DrS 11/5948, S. 48 betrug der Anteil der von den freien Trägern erbrachten Leistungen an sämtlichen Leistungen der Jugendhilfe zum Zeitpunkt des Erlasses des KJHG bereits etwa 2/3. 398 Zwar verwendet das Gesetz diesen Terminus ebenso wie den der „öffentlichen Träger“ nicht, sondern spricht stets von „Trägern der freien bzw. öffentlichen Jugendhilfe“. Aufgrund der stärkeren Prägnanz und Geläufigkeit im täglichen Sprachgebrauch soll dennoch gelegentlich die Kurzform Verwendung finden. 399 Vgl. z. B. § 11 Abs. 2 und § 75 Abs. 3 SGB VIII. Außerdem wird aus dem in § 5 SGB VIII statuierten Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten als notwendige Voraussetzung eine plurale Trägerstruktur gefolgert, vgl. z. B. Wiesner, SGB VIII, § 5, Rn. 1. 400 Weitere Beispiele bei LPK-SGB VIII-Papenheim, § 3, Rn. 10 sowie bei Münder u. a., FK-SGB VIII, Vor § 69, Rn. 5 ff. 401 Vgl. §§ 2 Abs. 2, 3 Abs. 2 S. 1 SGB VIII. 402 Wiesner, SGB VIII, § 3, Rn. 14. 403 BT-DrS 11/5948, S. 48. 397

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(b) Andere Aufgaben Die neben den Leistungen in § 2 Abs. 3 SGB VIII als „andere Aufgaben“ bezeichneten Einsatzgebiete der Jugendhilfe sind als hoheitliches Handeln zu charakterisieren.404 Sie sind daher im Grundsatz der öffentlichen Jugendhilfe zur Erfüllung zugewiesen, können jedoch durch freie Träger derivativ405 gemäß § 3 Abs. 3 S. 2 SGB VIII dann ausführt werden, wenn diese gesetzlich ausdrücklich dazu ermächtigt werden. Dies ist für die das staatliche Wächteramt verwirklichenden Maßnahmen nach §§ 42, 50 bis 52a sowie 53 Abs. 2 bis 4 SGB VIII durch § 76 Abs. 1 SGB VIII geschehen. Die konkreten Modalitäten der Beteiligung an der Aufgabe bzw. der Übertragung der Aufgabe sind dabei in einem koordinationsrechtlichen öffentlich-rechtlichen Vertrag zu statuieren.406 (3) Sicherstellung eines adäquaten Kinderschutzes – KICK/KEG (a) KICK Der Gesetzgeber hat im KICK – durch den Deutschen Städtetag angeregt407 – eine Regelung zur Gewährleistung des Kindesschutzes bei der Einschaltung freier Träger getroffen. Gemäß § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII sind in den aufgabenübertragenden öffentlich-rechtlichen Verträgen zwischen den örtlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe408 und freien Trägern letztere darauf zu verpflichten, dass die dort tätigen Fachkräfte eine den Vorgaben des § 8a Abs. 1 SGB VIII entsprechende Risikoeinschätzung vornehmen, wobei sie bei der Abschätzung der Gefährdung gegebenenfalls eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen müssen. Mit dieser Regelung wird also eine Informationssammlungspflicht sowie eine Risikoabwägung im Team409 im Ergebnis auch bei den freien Trägern obligatorisch. Kommen die Fachkräfte zu der Einschätzung, eine Kindeswohlgefährdung liege vor, so haben sie nach § 8a Abs. 2 S. 2 SGB VIII auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken410 und – falls die Eltern ablehnen411 oder die 404 Münder u. a., FK-SGB VIII, VorKap 3, Rn. 7; krit. zu dieser Charakterisierung Kunkel, SGB VIII-Online-Handbuch, Stichwort: Allgemeine Vorschriften/Schutz von Sozialdaten – § 2 – Aufgaben der Jugendhilfe (2001), S. 2. 405 Kunkel, Freie Träger, S. 7. 406 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 76, Rn. 6. Wiesner, SGB VIII-2006, § 42, Rn. 34 spricht von einem öffentlich-rechtlichen Auftragsverhältnis. 407 Empfehlungen des Deutschen Städtetages unter Punkt 3.71, ZfJ 2004, 191 (auch abgedruckt im Anhang). 408 Siehe zu diesem Begriff Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 36. 409 Siehe oben Teil 1 D. I. 2. c) (2) (a) (aa) (b).

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Hilfe nicht geeignet erscheint, um die Gefährdungslage zu beseitigen – das Jugendamt zu informieren. (b) KEG Auch im Gesetzentwurf der Opposition war mit § 50a Abs. 1 S. 2 SGB VIIIKEG eine Regelung bezüglich der freien Träger enthalten; indes beschränkte sich diese darauf, eine Informationspflicht gegenüber dem Jugendamt bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung zu statuieren (§ 50a Abs. 4 SGB VIII-KEG). (4) Auswahl- und Kontrollrecht des Jugendamts Gemäß § 76 Abs. 2 SGB VIII bleiben die Träger der öffentlichen Jugendhilfe auch bei der Beteiligung an oder Übertragung von Aufgaben nach § 76 Abs. 1 SGB VIII an freie Träger für deren Erfüllung verantwortlich. Ob aus diesem Umstand ein Recht des öffentlichen Trägers zur Auswahl und Kontrolle der Mitarbeiter der freien Jugendhilfe resultiert, ist umstritten. Die Frage wird auch durch die Neuregelungen nicht beantwortet. (a) Meinungsstand Das OLG Oldenburg412 bejahte im Fall „Laura Jane“ ein Auswahl- und Kontrollrecht, ohne seinen Standpunkt näher zu begründen. Dies kritisiert der überwiegende Teil der Literatur unter Hinweis auf das autonome Betätigungsrecht der freien Träger (vgl. § 4 Abs. 1 S. 2 SGB VIII).413 410 Interessant hierzu die Ausführungen von Meysen/Schindler, JAmt 2004, 453 f., die in der Mitteilungsverpflichtung gegenüber den freien Trägern die Chance sehen, dass einer Fallabgabe an das Jugendamt und damit einer Abschottung der Familie gegenüber öffentlichen Hilfsmaßnahmen entgegengewirkt wird. Siehe in diesem Zusammenhang auch das a. a. O. auf S. 454 beigefügte Schaubild 1 „Der Teufelskreislauf des negativen Images der Jugendhilfe“. Zudem meinen Meysen/Schindler (a. a. O.), dass durch die geplanten Neuregelungen der Informationsaustausch zwischen der freien und öffentlichen Jugendhilfe gefördert werde. 411 Wiesner, SGB VIII-2006, § 8a, Rn. 41. 412 Urt. abgedruckt in ZfJ 1997, 56 m. Anm. Oehlmann-Austermann; vgl. auch die Anm. von Bringewat, StV 1997, 133. In diesem Sinne wohl auch das BAG ZfJ 2002, 72 (welches das arbeitgebertypische Weisungsrecht freilich aus § 79 SGB VIII herleiten will) m. abl. Anm. Kunkel, ZfJ 2000, 60; für ein Auswahl- und Kontrollrecht ebenfalls Fieseler, ZfJ 2004, 171, 178 sowie Merchel, ZfJ 2003, 255; aA LG Osnabrück im Fall „Laura Jane“, abgedruckt in ZfJ 1996, 529. 413 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 76, Rn. 12, die jedoch ausdrücklich andere Regelungen im Vertrag zwischen öffentlichem und freien Träger für zulässig erachten; wei-

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Kunkel schließlich sucht einen Mittelweg. Er argumentiert nicht mit einem Vorrang des § 4 Abs. 1 S. 2 SGB VIII vor dem § 76 SGB VIII, sondern meint, ein Auswahl- und Kontrollrecht in Übereinstimmung mit beiden Normen rechtfertigen zu können. Zu diesem Zweck zieht er eine Parallele zwischen dem kommunalen Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden414 und dem autonomen Betätigungsrecht der freien Träger. Seiner Ansicht nach besteht die in § 4 Abs. 1 S. 2 SGB VIII zum Ausdruck kommende Privilegierung der freien Träger auf dem Gebiet des § 76 SGB VIII darin, dass sich die Kontrolle durch den öffentlichen Träger auf eine Rechtsaufsicht, d.h. auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns zu beschränken hat. Eine Fachaufsicht, also die Frage, ob eine bestimmte Maßnahme zweckmäßig ist, sei den öffentlichen Trägern hingegen mit Blick auf die privilegierte Stellung der freien Träger verwehrt.415 (b) Stellungnahme (aa) Generelle Zulässigkeit Gegen das OLG Oldenburg könnte auf den ersten Blick sprechen, dass § 4 SGB VIII durch seinen Standort in den allgemeinen Vorschriften gleichsam „vor die Klammer gezogen“ ist und damit das Verhältnis zwischen den freien und den öffentlichen Trägern grundsätzlich regelt, während dieses im zweiten Abschnitt des fünften Kapitels des SGB VIII lediglich konkretisiert416, nicht jedoch modifiziert wird. Allen ein Weisungs- und Kontrollrecht ablehnenden bzw. einschränkenden Ansichten ist jedoch wegen ihrer Beschränkung der Argumentation auf die einfachgesetzlichen Vorschriften ein entscheidender Vorwurf zu machen: Sie vernachlässigen die Prämissen des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Diese Norm auferlegt das staatliche Wächteramt ausschließlich der staatlichen Gemeinschaft und damit der Legislative, Exekutive und Judikative. Eine Übertragung auf die sogenannten freien Träger scheidet bereits unter dem Blickwinkel des Art. 1 Abs. 3 GG aus.417 Zwar würde die Kinder- und Jugendhilfe ohne die freien

tergehend Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, Vor § 50, Rn. 49, der auch im Fall derartiger Kontraktsklauseln ein Kontrollrecht ausschließen will; ebenfalls abl. LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 27, § 76, Rn. 17. 414 Vgl. Art. 28 Abs. 2 GG. 415 Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 136; ders., Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 12; ders., SGB VIII-Online-Handbuch, Stichwort: Allgemeine Vorschriften/Schutz von Sozialdaten, § 4 – Zusammenarbeit der öffentlichen Jugendhilfe mit der freien Jugendhilfe (2002), S. 2 f.; ders., Freie Träger, S. 14 ff. 416 Münder u. a., FK-SGB VIII, VorKap 1, Rn. 4. 417 Zu weiteren Argumenten gegen eine Adressierung der staatlichen Wächteramts an freie Träger Teil 1 B. III. 2. b).

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Träger heutzutage vermutlich kollabieren – indes vermag dieser Umstand nicht deren völlig weisungs- und kontrollfreie Arbeit zu begründen. Vielmehr ist § 4 Abs. 1 S. 2 SGB VIII im Licht des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG so auszulegen, dass sowohl ein Auswahl- als auch ein Kontrollrecht der öffentlichen Jugendhilfe gegenüber den bei freien Trägern beschäftigten Mitarbeitern zulässig ist. (bb) Ermächtigungsgrundlage Nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ist es jedoch notwendig, dass für diese Auswahl- und Kontrollrechte auch entsprechende einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen existieren. Kunkel meint, diese entstünden „. . . als Nebenpflichten ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung“.418 Zum Teil seien sie spezialgesetzlich geregelt,419 und zum Teil resultierten sie „. . . aus dem gesetzlichen Wächteramt des öffentlichen Trägers“. Auch die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, die sich auf die Statuierung von Mitteilungspflichten des Mitarbeiters des freien Trägers konzentrieren, gehen von einer per se bestehenden Kontrollpflicht des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters aus.420 Papenheim hingegen verneint die Existenz einer solchen Ermächtigungsgrundlage und verlangt die vertragliche Vereinbarung entsprechender Kontrollen.421 Zwar ist es zur Konfliktvermeidung bei einer Delegation von Aufgaben nach § 76 Abs. 2 SGB VIII in der Tat anzuraten, in dem zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen Vertrag klare Absprachen über den genauen Umfang und die Modalitäten einer etwaigen Kontrolle festzuhalten – indes kann das Recht des öffentlichen Trägers auch dann angenommen werden, wenn derartige Pflichten nicht explizit vereinbart worden sind. Dies ergibt sich aus einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs. (cc) Datenschutz Schließlich dürfte eine derartige Kontrolle nicht gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen.422 Der Mitarbeiter des freien Trägers selbst ist den Daten418

Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 10 f. Er führt exemplarisch § 86c Abs. 2 SGB VIII an (S. 11 a. a. O.) – diese Norm bezieht sich jedoch nicht speziell auf das Zusammenwirken von öffentlichem und freiem Träger. 420 Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 191, Punkt 3.7 (auch abgedruckt im Anhang). 421 LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a. 422 Für einen Verstoß LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a. 419

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schutzregelungen grundsätzlich nicht unterworfen, wie sich aus § 61 Abs. 1 S. 2 SGB VIII ergibt.423 Sofern der Mitarbeiter des freien Trägers den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter über den Betreuungsverlauf in Kenntnis setzt, handelt es sich um die Erhebung von Daten durch den Jugendamtsmitarbeiter bei Dritten, die nach §§ 35 Abs. 1 S. 1 SGB I, 67a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 2 lit. b aa) SGB X, 61 Abs. 1, 62 Abs. 3 Nr. 2 lit. c) bzw. d) SGB VIII zulässig ist. Wurde eine sozialpädagogische Familienhilfe an den Mitarbeiter eines freien Trägers delegiert, ist dieser bei pflichtgemäßer Umsetzung der aus § 61 Abs. 3424 SGB VIII resultierenden Verpflichtung zur Gewährleistung eines adäquaten Datenschutzes selbst zur Weitergabe anvertrauter Daten berechtigt – in der zur Initiierung der Hilfe erforderlichen Zustimmung der Eltern ist konkludent eine Einwilligung in die Datenweitergabe enthalten, sodass eine solche nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII zulässig ist. Zwar ist der Familienhelfer gemäß § 203 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB grundsätzlich zum Schweigen verpflichtet, indes stellt nicht jede Wahrnehmung über die familiäre Situation ein Geheimnis im Sinne dieser Norm dar. Zudem ist auch insoweit in der Erteilung der erforderlichen Zustimmung der Eltern zu der Hilfe zur Erziehung ein konkludentes Einverständnis zur Weitergabe der Daten an den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter zu sehen, sodass auch § 203 StGB einem Kontrollrecht nicht zuwiderläuft. (dd) Fazit Die grundsätzliche Zulässigkeit einer Kontrolle der freien Träger durch das Jugendamt ergibt sich aus der verfassungskonformen Auslegung des § 4 Abs. 1 S. 2 SGB VIII. Zu derartigen Handlungen ermächtigt einfachgesetzlich der Sachzusammenhang zu § 76 Abs. 2 SGB VIII. Sofern die Jugendamtsmitarbeiter sich bei den Mitarbeitern der freien Träger nach dem Betreuungsverlauf erkundigen, erheben sie gemäß §§ 35 Abs. 1 S. 1 SGB I, 67a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 2 lit. b aa) SGB X, 61 Abs. 1, 62 Abs. 3 Nr. 2 lit. c) bzw. d) SGB VIII zulässigerweise Daten. Die Mitarbeiter der freien Träger sind – sofern eine Verpflichtung nach § 61 Abs. 3 SGB VIII erfolgte – wegen der in der elterlichen Zustimmung zur Hilfe 423 Speziell zum Datenschutz bei den kirchlichen Trägern siehe LPK-SGB VIIIKunkel, § 61, Rn. 270. Zu dem aus § 78 Abs. 1 S. 2 SGB X resultierenden Datenschutz durch die Übermittlung von Sozialdaten vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe an den freien Träger siehe Rn. 271 a. a. O. Zur Gewährleistungspflicht bei einer Delegation von Aufgaben vgl. § 61 Abs. 3 SGB VIII sowie Rn. 273 a. a. O. 424 Vor dem Inkrafttreten des KICK: § 61 Abs. 4 SGB VIII a. F.

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zur Erziehung konkludent mitenthaltenen Einwilligung selbst zur Weitergabe anvertrauter Daten nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII befugt. Aus dem gleichen Grund entfällt auch eine Strafbarkeit nach § 203 StGB. b) Öffentliche Träger (1) Örtliche/Überörtliche Träger Die öffentliche Jugendhilfe wird gemäß § 69 Abs. 1 S. 1 SGB VIII sowohl von den örtlichen wie auch von den überörtlichen Trägern wahrgenommen. Örtliche Träger sind nach § 69 Abs. 1 S. 2 SGB VIII die Kreise und die kreisfreien Städte.425 Wer überörtlicher Träger ist, regelt gemäß § 69 Abs. 1 S. 3 SGB VIII das Landesrecht.426 Nach § 69 Abs. 3 SGB VIII hat jeder örtliche Träger ein Jugendamt und jeder überörtliche Träger ein Landesjugendamt zur Wahrnehmung der aus dem SGB VIII resultierenden Aufgaben zu errichten. (2) Das Jugendamt Mit der Einführung des SGB VIII erfolgte eine Kommunalisierung der Jugendhilfe427, sodass das Jugendamt heute eine deutlich gewichtigere Stellung als zur Zeit der Geltung des JWG einnimmt.428 Das Jugendamt ist zweigliedrig aufgebaut. Die ihm obliegenden Aufgaben werden gemäß § 70 Abs. 1 SGB VIII durch den Jugendhilfeausschuss und durch die Verwaltung wahrgenommen.429

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Kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände können gemäß § 69 Abs. 5 SGB VIII Aufgaben für den örtlichen Bereich übernehmen, erhalten hierdurch jedoch nicht den Status eines öffentlichen Trägers. Dies kann vielmehr im Fall einer entsprechenden landesrechtlichen Regelung nur auf Antrag geschehen (vgl. § 69 Abs. 2 SGB VIII). 426 Zusammenstellung der gesetzlichen Regelungen bei GK-SGB VIII-Schleicher, § 69, Rn. 20. Für den Freistaat Bayern: Art. 12 BayKJHG. 427 Jordan/Sengling, S. 244; Münder, Einführung, S. 15. 428 Während das JWG die Hilfen zur Erziehung dem Jugendamt, die Fürsorgeerziehung sowie die freiwillige Erziehungshilfe jedoch dem Landesjugendamt zuwies, sind heutzutage sämtliche Hilfen zur Erziehung sowie Wächteramtsaufgaben beim Jugendamt konzentriert (vgl. § 85 Abs. 1 SGB VIII). Vgl. aber das Vorwort von Wiesner, SGB VIII-2006, in dem darauf hingewiesen wird, dass im Zuge der Föderalismusreform eine Öffnungsklausel bezüglich der Befugnis des Bundes zur Bestimmung von Behörden diskutiert wurde, die nach Ansicht der Autoren „das Ende des Jugendamt und seiner Zweigliedrigkeit“ bedeutet. 429 Vgl. in diesem Zusammenhang das Schaubild bei Hannemann, S. 176.

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(a) Verwaltung Letzterer sind die laufenden Verwaltungsgeschäfte zugewiesen. Sie werden nach § 70 Abs. 2 SGB VIII von dem Leiter der Verwaltung der Gebietskörperschaft, also dem Landrat oder (Ober-)Bürgermeister vorgenommen, sofern dieser nicht dem Leiter des Jugendamts einen entsprechenden Auftrag erteilt hat. Im SGB VIII sind keine Regelungen zum Aufbau der Verwaltung in den Jugendämtern enthalten. Begründen lässt sich dies damit, dass die Organisation der Verwaltung einen Teil des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts darstellt und daher den Kommunen überlassen ist.430 (b) Jugendhilfeausschuss Wie die Beschränkung des Aufgabenbereichs auf Geschäfte der laufenden Verwaltung und die Notwendigkeit, sich den Beschlüssen des Jugendhilfeausschusses gemäß zu verhalten, zeigen, kommt dem Jugendhilfeausschuss eine bedeutsamere Stellung zu als der Verwaltung des Jugendamts. Der Jugendhilfeausschuss kann sich grundsätzlich mit allen Angelegenheiten der Jugendhilfe befassen431 – auch mit der Mittelverwendung (§ 71 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII) – und stellt den Ort der Kommunikation zwischen freien und öffentlichen Trägern dar.432 Er besteht aus beratenden und stimmberechtigten Mitgliedern. Letztere werden in § 71 Abs. 1 SGB VIII näher behandelt. Die Mehrzahl der Stimmen haben demnach die Mitglieder der Gemeindevertretungen inne, also diejenigen des Kreistags bzw. Gemeinderats oder durch diese gewählte Personen mit Erfahrungen in der Jugendhilfe. Die politischen Vertretungskörperschaften Gemeinderat/Stadtverordnetenversammlung und Kreistag sind es auch, die über den Umfang der Mittel und über die Satzung des Jugendamts beschließen,433 da der Jugendhilfeausschuss einen beschließenden Ausschuss im Sinne der Kommunalverfassung darstellt.434

430 Jordan/Sengling, S. 249 f. mit einem Beispiel für einen typischen Verwaltungsaufbau auf S. 250. 431 LPK-SGB VIII-Mahler/Kunkel, § 71, Rn. 13; Münder u. a., FK-SGB VIII, § 71, Rn. 6. 432 Schellhorn, § 71, Rn. 1; Wiesner/Kaufmann, SGB VIII, § 71, Rn. 1. 433 Siehe hierzu das Schaubild zu Rn. 198 bei Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, sowie Rn. 202 („. . . Ausschuss besonderer Art“). 434 Vgl. Art. 5 Abs. 1 BayKJHG: „Der Jugendhilfeausschuss ist ein beschließender Ausschuss des Gemeinderats oder des Kreistags.“

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(3) ASD Die Bestimmung des § 69 Abs. 3 SGB VIII, dass ein Jugendamt innerhalb der kommunalen Verwaltung als eigenständige Einheit existieren muss, um die Aufgaben nach dem SGB VIII vorzunehmen, wirkt sich wesentlich auf die Einrichtung des sogenannten Allgemeinen Sozialen Dienstes aus, einer seit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts existenten Form des Außendiensts der Jugend-, Sozial- und Gesundheitshilfe, die früher „Familienfürsorge“ genannt wurde und einen „ganzheitlichen Ansatz“ verfolgt, also gesetzesübergreifend und problemorientiert Hilfe leistet.435 Indem die Norm nämlich die Wahrnehmung von Aufgaben des SGB VIII explizit den Jugendämtern zuweist436, ist eine Tätigkeit von ASD-Mitarbeitern auf dem Gebiet der Jugendhilfe nur dann unproblematisch möglich, wenn der ASD organisatorisch dem Jugendamt zugeordnet ist.437 c) Verhältnis zwischen Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe (1) Förderung der freien Jugendhilfe Durch § 74 Abs. 1 SGB VIII wird die in § 4 Abs. 3 SGB VIII allgemein statuierte Pflicht zur Unterstützung der freien Träger durch die öffentliche Jugendhilfe konkretisiert.438 Demnach soll die öffentliche Jugendhilfe die freiwillige Tätigkeit auf ihrem Gebiet fördern, wenn bestimmte Voraussetzungen439 erfüllt werden. Im Regelfall stellt § 74 Abs. 1 SGB VIII eine Verpflichtung dar;440 hiervon kann nur in Ausnahmefällen abgewichen werden. Zu beachten 435 Zur Definition des ASD Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Anhang Glossar, S. 448. Siehe auch Blüml, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 107, der meint, der ASD nehme „. . . typische Management-Funktionen wahr, ohne jedoch dafür die entsprechende öffentliche und auch fachliche Anerkennung zu erhalten.“ 436 Und hierdurch zugleich in die Verwaltungskompetenz der Länder eingreift, was jedoch das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Vorgängernorm im JWG für eine zulässige Annexregelung gehalten hat, vgl. BVerfGE 22, 180 (211). 437 Siehe BT-DrS 12/3711, S. 41 („In einem gewissen Spannungsverhältnis zu dieser vom Gesetzgeber gewollten Allzuständigkeit des Jugendamts stehen Tendenzen in der Praxis, die Wahrnehmung einzelner Aufgaben einem allgemeinen Sozialdienst zuzuweisen, der außerhalb des Jugendamts organisiert ist. (. . .) Abgesehen davon, dass das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz zu einem wesentlichen Teil auch Hilfen für die gesamte Familie enthält, steht die Zuordnung des allgemeinen Sozialdienstes zum Jugendamt der Wahrnehmung von Aufgaben nicht entgegen.“); vgl. hierzu auch LPKSGB VIII-Vondung, § 69, Rn. 9; Münder u. a., FK-SGB VIII, § 69, Rn. 11. 438 Schellhorn, § 74, Rn. 1; Wiesner, SGB VIII, § 74, Rn. 1. 439 Vgl. § 74 Abs. 1 S. 1 HS 2 Nr. 1 bis 5 SGB VIII. 440 Vgl. den Wortlaut der Norm („sollen“).

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ist, dass zu diesen Ausnahmefällen nicht die schlechte Haushaltslage der öffentlichen Träger gehört.441 Zuständig für die Verteilung der Fördermittel ist gemäß § 71 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII der Jugendhilfeausschuss. In seinem Ermessen steht es nach § 74 Abs. 3 S. 1 SGB VIII auch, in welcher Form und Höhe die Förderung erfolgt.442 (2) Subsidiaritätsprinzip? Lange Zeit war umstritten, ob den Trägern der freien Jugendhilfe ein Vorrang vor der öffentlichen Jugendhilfe zuzubilligen sei.443 Das Bundesverfassungsgericht444 äußerte sich im Jahr 1967 nicht explizit zu der Frage, ob ein sogenanntes Subsidiaritätsverhältnis bestehe, erklärte jedoch die damals geltenden Normen, die keine „Funktionssperre“ für öffentliche Träger zugunsten der freien Träger vorsahen, für verfassungsgemäß, und legte sie verfassungskonform aus, indem es das Gebot der Zusammenarbeit für maßgebend erachtete. Von diesem Grundsatz zeugt § 4 SGB VIII noch heute.445 Während § 4 Abs. 1 SGB VIII den Grundsatz partnerschaftlicher Zusammenarbeit statuiert, normiert der zweite Absatz einen bedingten Vorrang der freien Jugendhilfe.446 (3) Gesamtverantwortung447 und Gewährleistungsverpflichtung (a) Allgemeines Durch § 79 Abs. 1 SGB VIII wird den (örtlichen und überörtlichen) Trägern der öffentlichen Jugendhilfe die Gesamtverantwortung im Sinne einer Letztverantwortlichkeit zugewiesen und damit der bereits erwähnten Bundesverfassungs441 LPK-SGB VIII-Steffan, § 74, Rn. 25. Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerwGE 69, 146, 154 f., das bezüglich der Gewährung einer Weihnachtsbeihilfe im Rahmen der Kriegsopferfürsorge durch die Kommune meinte: „Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht die zur Zeit noch andauernde angespannte Haushaltslage.“ 442 Zu möglichen Ermessensfehlern Kunkel, Praxisbericht, S. 6 ff. 443 Vgl. zum Ganzen Münder u. a., FK-SGB VIII, § 4, Rn. 8 ff.; Kunkel, Freie Träger, S. 3 ff. 444 BVerfGE 22, 180 (206). 445 Vgl. BT-DrS 11/5948, S. 48 f. 446 Schellhorn, § 4, Rn. 16; aA Münder u. a., FK-SGB VIII, § 4, Rn. 19, die den in § 4 Abs. 1 SGB VIII statuierten Grundsatz partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit einer Vorrangstellung für sprachlogisch unvereinbar halten. 447 Von der Verwendung des in der Literatur in diesem Zusammenhang geläufigen Begriffs der Garantenstellung, der von dem strafrechtlichen Terminus der Garantenstellung zu unterscheiden sein soll (vgl. statt aller Münder u. a., FK-SGB VIII, § 79, Rn. 1), wird hier aus Klarstellungsgründen abgesehen.

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gerichtsentscheidung aus dem Jahr 1967 Rechnung getragen.448 § 79 SGB VIII konkretisiert den Begriff der Gesamtverantwortung durch den Zusatz der Planungsverantwortung sowie durch die folgenden Absätze 2 und 3 der Norm, welche Gewährleistungs- und Ausstattungspflichten statuieren. Demnach haben die öffentlichen Träger u. a. dafür zu sorgen, dass die notwendigen Dienste und Einrichtungen zur Verfügung stehen, sowie dass eine entsprechende personelle und sachliche Ausstattung der (Landes)Jugendämter gewährleistet ist.449 Hervorzuheben ist dabei die Pflicht, eine ausreichende Anzahl von Fachkräften450 zu gewährleisten, sowie die Pflicht, soviel Finanzmasse zur Verfügung zu stellen, wie nötig ist, um alle Aufgaben nach dem SGB VIII erfüllen zu können.451 Um ermitteln zu können, wie viel Finanzmasse der öffentliche Träger konkret vorzuhalten hat, muss wiederum die Planungsverantwortung erfüllt werden. Hierfür hat der öffentliche Träger den konkreten Hilfebedarf zu eruieren und eine Jugendhilfeplanung im Sinne des § 80 SGB VIII vorzunehmen. (b) Gerichtliche Durchsetzbarkeit? Doch kann bei einer zu eng bemessenen Finanzplanung der öffentlichen Träger zu einer Aufstockung der Mittel angehalten werden? Diese Frage wird in der Literatur nicht einstimmig beantwortet. Während die wohl überwiegende Ansicht meint, dass mit der Gewährleistungspflicht kein subjektiv-öffentliches Recht auf Erfüllung der Pflicht aus § 79 SGB VIII korrespondiere, sodass mangels Klagebefugnis (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO) nur eine verwaltungsgerichtliche Klage auf Erbringung einer452 konkreten Leistung in Betracht komme,453 wird vereinzelt als Gegenposition hierzu vertreten, es bestehe ein Recht zur prinzipalen Kontrolle auf Einhaltung der Norm.454 Gegen die letztgenannte Ansicht spricht jedoch neben dem Wortlaut des § 79 SGB VIII der Umstand, dass ein Anspruch des Einzelnen auf ausreichende 448

BVerfGE 22, 180 (201); Wiesner, SGB VIII, § 79, Rn. 1. Laut Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 217 hat die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) Richtwerte für die Personalbemessung entwickelt. 450 Vgl. § 72 SGB VIII. 451 Kunkel, Praxisbericht, S. 27 m.w. N. 452 Zu beachten ist, dass die Klage nach herrschender Meinung nicht auf die konkrete Hilfsmaßnahme, sondern auf eine Hilfe zur Erziehung zu richten ist, da § 27 SGB VIII die Anspruchsgrundlage bildet (siehe Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 73 m.w. N.). 453 LPK-SGB VIII-Kunkel, § 79, Rn. 21; Schellhorn, § 79, Rn. 10. 454 GK-SGB VIII-Fieseler, § 79, Rn. 9. 449

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Budgetierung des Sozialetats diesem ein „Mehr“ an rechtlichen Befugnissen verleihen würde, das aufgrund der Möglichkeit, auf die konkrete Leistung zu klagen, zur Durchsetzung der ihm vermeintlich zustehenden Rechte gar nicht notwendig ist. Anders stellt sich die Situation dann dar, wenn der Bürgermeister oder der Jugendamtsleiter die zu geringe Budgetierung beanstanden. In dem Fall sind diese nicht in eigenen Rechten betroffen und somit nicht klagebefugt i. S. v. § 42 Abs. 2 VwGO. Ihnen bleibt daher nur die – freilich nicht förmliche – Rechtsaufsichtsbeschwerde zum Regierungspräsidium, zur Bezirksregierung bzw. zum Innenministerium.455

II. BGB Wie bereits im Rahmen der Ausführungen zu § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII erwähnt, ist für Maßnahmen, die einen länger andauernden Eingriff in das Elternrecht bedeuten, das Familiengericht zuständig.456 Den Eltern stehen nach § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB die Pflicht und das Recht zur Sorge für ihr Kind zu. Die dadurch legaldefinierte elterliche Sorge stellt die einfachgesetzliche Ausprägung der in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG statuierten Elternverantwortung dar und umfasst die Personen- und Vermögenssorge (vgl. § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB). Die Personensorge umschreibt alle Betreuungsaufgaben, die nicht als bloße Vermögensverwaltung anzusehen sind.457 Sie beinhaltet gemäß § 1631 Abs. 1 BGB insbesondere die Pflicht und das Recht zur Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung des Kindes sowie zur Bestimmung seines Aufenthalts. Auch für die Ausübung der elterlichen Sorge gilt – entsprechend der grundgesetzlich geregelten Elternverantwortung – der Maßstab des Kindeswohls (vgl. z. B. §§ 1627 S. 1, 1666 Abs. 1 BGB).458 1. Handlungsinstrumentarien bei Kindeswohlgefährdung Wird das Wohl des Kindes durch die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung, unverschuldetes Versagen der Eltern oder 455

LPK-SGB VIII-Kunkel, § 79, Rn. 22. Dies hat sich auch nach Inkrafttreten des KICK nicht geändert und war in diesem Zusammenhang auch nicht geplant gewesen. 457 Schwab, Familienrecht, Rn. 538. 458 Schwab, Familienrecht, Rn. 544. Zur verfassungsrechtlichen Situation s. o. Teil 1 B. I. 3. c). 456

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durch Versagen eines Dritten gefährdet, so hat das Familiengericht nach § 1666 Abs. 1 BGB die erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung dieses Zustands zu treffen, sofern die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Die Vorschrift konkretisiert Art. 6 Abs. 2 und 3 GG459 und ermächtigt das Familiengericht im Interesse des Kindes zu Eingriffen in die Personen- und Vermögenssorge der Eltern. Wie bereits dargelegt, stellt der Terminus des Kindeswohls einen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Mittlerweile sind in Praxis und Forschung Fallgruppen entwickelt worden, um eine nicht dem Kindeswohl entsprechende Situation benennen zu können.460 Es sind dies Fälle von Vernachlässigung und körperlicher bzw. seelischer Misshandlung, Autonomie- bzw. Zuordnungskonflikte sowie Fälle sexuellen Missbrauchs.461 Eine Gefährdungslage für das Kindeswohl i. S. d. § 1666 Abs. 1 BGB liegt nach der Rechtsprechung dann vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr besteht, dass sich bei der weiteren Entwicklung des Kindes eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lässt.462 Ist bereits eine Schädigung des Kindes eingetreten, so ist das Familiengericht in jedem Fall zum Eingreifen berechtigt.463 Welche Maßnahmen das Gericht konkret ergreifen kann, hat der Gesetzgeber nicht festgelegt, sondern dem Richter insoweit ein Auswahlermessen zugebilligt.464 Ein Verfahren nach § 1666 BGB endet daher nicht zwangsweise mit der 459

MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 1. Vgl. in diesem Zusammenhang auch nochmals das Bestreben des KEG, in § 50a Abs. 4 gesetzliche Vermutungen einzuführen, oben Teil 1 D. I. 2. c) (3) (a). 461 Näher dazu Münder, FPR 2003, 280, 281 f.; vert. zum Ganzen Münder/Mutke/ Schone, Kindeswohl, S. 46 ff., die auf S. 99 feststellen, dass die Vernachlässigung die zahlenmäßig größte Gruppe von Kindeswohlgefährdungen bildet (bei ca. 2/3 aller gefährdeten Kinder diagnostiziert). Im Einzelfall ist jedoch eine Diagnose nicht immer einfach zu treffen. Als Beispiel mag die am 22.9.2004 im WDR ausgestrahlte Reportage „Menschen hautnah – Vorwurf: Kindesverwahrlosung – 10 Kinder sollen ins Heim“ dienen, die die Familie Schmitz mit ihren 13 Kindern zum Gegenstand hatte. Das Bonner Jugendamt nahm 2 der Kinder aus dem Kindergarten heraus in Obhut und drohte die Heimunterbringung von weiteren 10 Kindern an, weil es eine Vernachlässigung infolge einer Erziehungsunfähigkeit der Eltern vermutete. Es begründete seine Entscheidung mit Sprachmängeln der Kinder, aggressivem Verhalten gegenüber Gleichaltrigen und der Tatsache, dass sämtliche Kinder die Sonderschule besuchten. Die Eltern bestritten dies vehement und forderten eines der Kinder zurück. 462 BGH FamRZ 1956, 350; BayObLG FamRZ 1977, 473; OLG Frankfurt a. M. NJW 2002, 3785; OLG Celle FamRZ 2003, 1490. 463 OLG Stuttgart FamRZ 2002, 1279 (psychosozialer Minderwuchs). 464 BayObLG FamRZ 1999, 318 f.; MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 159 f., 169. Zu möglichen Maßnahmen Staudinger-Coester, § 1666, Rn. 186 ff.: Auflagen und Gebote, Weisung, Hilfe anzunehmen, Entzug von Teilbereichen der elterlichen Sorge, wie z. B. Aufenthaltsbestimmungsrecht etc; s. im übrigen Münder/Mutke/Schone, Kin460

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Trennung des Kindes von den Eltern. Wegen des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips hat sich das Familiengericht vielmehr auf die im Einzelfall geeignete, relativ mildeste und angemessene Maßnahme zu beschränken. Eine besondere einfachgesetzliche Ausprägung hat dieses Prinzip im Hinblick auf familientrennende Maßnahmen durch § 1666a BGB erfahren.465 Demnach ist die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts bzw. die zwangsweise erfolgende Einweisung des Kindes in ein Heim nur als ultima ratio denkbar.466 Vorrangig ist zu prüfen, ob der Gefährdungslage durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann, d.h. durch die Hilfsangebote des zweiten Kapitels des SGB VIII.467 Sofern also die Eltern das Bemühen erkennen lassen, dass sie durch fachliche Hilfen, die auch geeignet erscheinen, die Gefahr abzuwenden, die Situation des Kindes verbessern wollen, kommt eine Trennung von Eltern und Kind regelmäßig nicht in Betracht.468 Das (zeitliche) Übermaßverbot hat seinen einfachgesetzlichen Niederschlag außerdem in § 1696 Abs. 2 BGB gefunden, welcher bestimmt, dass Maßnahmen nach § 1666 BGB aufzuheben sind, wenn das Kindeswohl nicht mehr gefährdet erscheint. Auch ohne besonderen Anlass sind schließlich länger andauernde Maßnahmen nach § 1696 Abs. 3 BGB in angemessenen Abständen zu überprüfen. 2. Verfahren a) Zuständigkeit Sachlich zuständig für Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung ist gemäß §§ 23b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 GVG, 621 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i.V. m. § 1666 Abs. 1 BGB das Familiengericht469, wobei stets der Richter zur Entscheidung berufen ist (§ 14 Abs. 1 Nr. 8 RPflG).470 Die örtliche Zuständigkeit folgt aus §§ 43, 46 FGG. deswohl, S. 33 f. sowie Oberloskamp, FPR 2003, 285, 287 f. und Haase, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 119. 465 Palandt-Diederichsen, § 1666a, Rn. 1; vgl. auch Meysen/Schindler, JAmt 2004, 450, die hierin die Anordnung einer „Verantwortungsgemeinschaft“ zwischen Jugendamt und Familiengericht erkennen. 466 BayObLG NJW 1992, 121. 467 Viele Autoren meinen, erst durch das KJHG sei der in § 1666a BGB proklamierte Vorrang von Hilfen vor Eingriffen in die elterliche Sorge auch rechtstatsächlich „unterfüttert“ worden; vgl. z. B. Coester, FamRZ 1991, 253 und Wiesner, ZfJ 2003, 121. 468 Staudinger-Coester, § 1666a, Rn. 9. 469 Nach § 64 Abs. 1 FGG sind dies die Amtsgerichte. 470 Bis zum 30.6.1998 war die Herausnahme des Kindes dem Vormundschaftsgericht vorbehalten. Dies änderte sich mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz vom

D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts

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b) Verfahrensgrundsätze Das Verfahren richtet sich gemäß § 621a Abs. 1 ZPO nach den Normen des FGG.471 Es stellt ein sogenanntes Amtsverfahren dar472, d.h. ein Antrag ist für das familiengerichtliche Tätigwerden in der Theorie473 nicht vonnöten. Zudem ermittelt das Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen von Amts wegen, vgl. § 12 FGG. c) Verfahrenspfleger Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz ist im Jahr 1998 die Rechtsfigur des Verfahrenspflegers eingeführt worden. Ein solcher ist gemäß § 50 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 FGG bei Kindeswohlverfahren in der Regel zu bestellen.474 Das Gericht hat neben den Eltern und dem Kind (vgl. §§ 50a f. FGG) gemäß § 49a Abs. 1 Nr. 8 FGG den zuständigen Sozialarbeiter des Jugendamts anzuhören. Die Behörde wird hierbei nicht als Gehilfe des Gerichts, sondern als pädagogische Fachbehörde hinzugezogen.475 d) Entscheidungsvorschlag des Jugendamts? Das konkrete Zusammenspiel zwischen Justiz und Verwaltung ist jenseits der Pflicht zur Anhörung des Jugendamts und der Pflicht zur Einsetzung eines Verfahrenspflegers gesetzlich nicht kodifiziert; vielmehr überlässt das FGG dem Richter einen weiten Gestaltungsspielraum.476 16.12.1997 zum 1.7.1998 (BGBl. I, S. 2942). Unzutreffend daher Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 5, der auch im Jahr 2002 noch im Zusammenhang mit § 50 SGB VIII a. F. von der Einschaltung des Vormundschaftsgerichts spricht; ebenso H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 196. 471 Keidel/Kuntze/Winkler-Weber, Vorb § 64, Rn. 10. 472 MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 190 ff.; vert. Keidel/Kuntze/Winkler-Schmidt, § 12, Rn. 7 ff. 473 In der Rechtswirklichkeit leitet freilich der „Antrag“ des Jugendamts den größten Teil der Verfahren ein, s. Münder, FPR 2003, 280; das konstatiert auch das AG Osnabrück (Fall „Laura Jane“, s. oben Teil 1 A. I., Urteil u. a. abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 68): „Das Vormundschaftsgericht ermittelt im Regelfall nicht selber, sondern muss sich auf die Angaben des Jugendamtes verlassen.“). Vgl. auch die Fallerhebung durch Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl, S. 119, wonach das Jugendamt prozentual am weitaus häufigsten das Gericht über mögliche Kindeswohlgefährdungen informiert (zu 75,5% gegenüber der Polizei, die in 0,6% der Fälle der Melder war oder Verwandten, die in 1,3% der Fälle das Gericht informierten). 474 Näher hierzu Staudinger-Coester, § 1666, Rn. 210 ff. 475 Wiesner, ZfJ 2004, 166. Beispiele für eine diagnostische Einschätzung der Situation des Kindes dem Gericht gegenüber bei Harnach-Beck, Psychosoziale Diagnostik, S. 248 ff.; dies., Sozialmagazin 1996, 22, 31 und Maas, Soziale Arbeit, S. 219 ff.

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Ungeklärt ist daher zum einen, ob der zuständige Sozialarbeiter im Rahmen seiner Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren befugt ist, dem Gericht einen Entscheidungsvorschlag zu unterbreiten. Gegen eine solche Befugnis spricht der Charakter des Sorgerechtsverfahrens als Amtsverfahren, in dem das Gericht von Anträgen der Verfahrenbeteiligten – anders als in der ZPO – gerade unabhängig ist. Ob der Richter die als Anregungen zu deutenden „Anträge“ nichtsdestotrotz bei seiner Entscheidung berücksichtigt, ist von der Beziehung zwischen Familiengericht und Jugendhilfe abhängig, die wegen der geringen Regelungsdichte der Verfahrensvorschriften im FGG in der Praxis recht unterschiedlich ausgeprägt sein kann.477 e) Weisungsbefugnis des Familiengerichts? Zum anderen wird diskutiert, ob das Familiengericht seinerseits das Jugendamt in der Entscheidung mit bindender Wirkung zur Erbringung bestimmter Hilfen anweisen kann. Während Strick mit der Rechtsprechung die Zulässigkeit solcher Maßnahmen auf §§ 1666, 1666a BGB stützen will478, lehnt der überwiegende Teil der Literatur derartige Leistungsanordnungen unter Hinweis auf die in § 50 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII zum Ausdruck gebrachte, eigenständige Position des Jugendamts ab.479 Die §§ 1666, 1666a BGB würden nur eine Eingriffsgrundlage gegenüber den Eltern, nicht jedoch auch gegenüber dem Jugendamt statuieren. Außerdem spreche ein historisches 476 Das Gesetz KICK bzw. der Gesetzentwurf KEG zielen bzw. zielten – wie dargelegt – auf eine frühere Inanspruchnahme des Familiengerichts ab. 477 In diesem Sinne auch das DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2004, 133 sowie Kloster-Harz, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 116. Zu dem im Einzelfall recht unterschiedlichen Verhältnis zwischen Familiengericht und Jugendamt Münder/Mutke/ Schone, Kindeswohl, S. 196 ff., 217 ff. Vgl. auch die Studie von Freifrau König von und zu Warthausen, Kindeswohl, S. 177, wonach 73% der befragten Jugendamtsmitarbeiter im Freistaat Bayern nach eigenen Angaben fast immer mit ihrem Vorschlag durchdrangen, sowie S. 179 a. a. O., wo berichtet wird, dass 100% der befragten Jugendamtsmitarbeiter in Brandenburg angaben, dass „selten“ eine andere Entscheidung seitens des Familiengerichts getroffen worden sei. 478 OLG Frankfurt a. M. DAVorm 1993, 943 ff. m. Anm. Dickmeis; BayObLG FamRZ 1991, 1220; 1995, 949 f.; MüKo-Strick, SGB VIII, § 50, Rn. 2, 5; diff. Coester, FamRZ 1991, 253, der eine Weisungsbefugnis bei einem Ermessen der Verwaltung für ausgeschlossen hält; vgl. auch LPK-SGB VIII-Kunkel, § 36, Rn. 18, der eine Weisungsbefugnis des Familiengerichts nur im Fall der Mitwirkungsbereitschaft der Eltern gegenüber öffentlichen Hilfen für ausgeschlossen erachtet, da dann bereits die Voraussetzungen des § 1666 BGB fehlten, ansonsten aber eine Anordnungsbefugnis des Gerichts bejaht. 479 Vgl. Münder u. a., FK-SGB VIII, § 50, Rn. 28; MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 176 f.; Schellhorn, § 27, Rn. 4, 8; Maas, Soziale Arbeit, S. 223; Wiesner, ZfJ 2003, 121; diff. Staudinger-Coester, § 1666a, Rn. 13, der eine Anordnungskompetenz nur dann bejaht, wenn das Jugendamt die Hilfen zur Erziehung aus anderen als sozialpädagogischen Gründen abgelehnt hat.

D. Einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts

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Argument gegen die Weisungsbefugnis: Der Gesetzgeber habe sich in der Begründung des KJHG ausdrücklich gegen eine Anweisungskompetenz des Familiengerichts ausgesprochen.480 f) Rechtsmittel (1) Beschwerde Unabhängig von der Frage, ob die Judikative im Verfahren nach § 1666 BGB verbindliche Anweisungen an die sozialpädagogische Fachbehörde erteilen kann, steht dem zuständigen Sachbearbeiter beim Jugendamt unbestritten die Befugnis zu, gegen eine seiner Ansicht nach zu Unrecht ergangene Endentscheidung des Gerichts die befristete Beschwerde zum OLG einzulegen (vgl. §§ 621e Abs. 1, 3, 516 ZPO, § 119 Abs. 1 Nr. 1 GVG).481 Gegen die Entscheidung der zweiten Instanz kann bei entsprechender Zulassung bzw. bei Verwerfung der Beschwerde wegen Unzulässigkeit nach § 621e Abs. 2 ZPO vom Jugendamt weitere Beschwerde zum BGH erhoben werden. Diese kann lediglich auf eine Gesetzesverletzung gestützt werden. Neue Tatsachen dürfen gemäß § 27 S. 2 FGG i.V. m. § 561 ZPO grundsätzlich keine Berücksichtigung finden. (2) Dienstaufsichtsbeschwerde Neben der Möglichkeit, Inhalt anzufechten, besteht lichkeit, das Verhalten des sichtsbeschwerde prüfen zu

die Entscheidung des Richters in Bezug auf ihren zudem die gesetzlich nicht explizit geregelte MögRichters durch den Vorgesetzten mittels Dienstauflassen.482

g) Einstweilige Anordnungen Kann das Gericht im Interesse des Kindes nicht das Ende der Ermittlungen abwarten, so kann es vorläufige Anordnungen zu dessen Schutz treffen, die bis zu einer endgültigen Entscheidung gelten.483 480 BT-DrS 11/5948, S. 66 f. Vgl. jedoch auch die dritte Auflage des MüKo aus dem Jahr 1992, in der Hinz diese Äußerung des Gesetzgebers im umgekehrten Sinne interpretiert (§ 1666, Rn. 53). 481 Die Rechtsmittelbefugnis folgt hier aus §§ 57 Abs. 1 Nr. 9, 64 Abs. 3 S. 3 FGG. Vert. zum Beschwerdeverfahren MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 219 ff. 482 Zimmermann, Praktikum der FG, S. 28. 483 Vgl. hierzu jedoch Heilmann, Kindliches Zeitempfinden, S. 257 f., der aus verfassungsrechtlichen Gründen eine zeitliche Beschränkung derartiger Entscheidungen

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Für deren Erlass genügt bereits die Glaubhaftmachung der Kindeswohlgefährdung sowie der Dringlichkeit der Anordnung (vgl. § 294 Abs. 1 ZPO). Von einer Anhörung der Verfahrensbeteiligten kann nach §§ 49a Abs. 3 i.V. m. 49 Abs. 4 S. 1, 50a Abs. 3, 50b Abs. 3 S. 1 FGG bei Gefahr im Verzug vorerst abgesehen werden, im folgenden ist sie jedoch gemäß §§ 49a Abs. 3 i.V. m. 49 Abs. 4 S. 2, 50a Abs. 3 S. 2, 50b Abs. 3 S. 2 FGG unverzüglich nachzuholen.

E. Zusammenfassung – einfachgesetzliche Grundlagen des Kinder- und Jugendhilferechts I. Wesentliche Schritte bei (dem Verdacht) einer Kindeswohlgefährdung Sofern ein Jugendamtsmitarbeiter damit konfrontiert wird, dass ein Kind möglicherweise in seinem Wohl gefährdet ist, muss er zunächst den Sachverhalt ermitteln. Er hat sodann die Gefahr einzuschätzen und nach Abwägung aller Umstände die geeigneten und erforderlichen Maßnahmen vorzunehmen, wobei ihm im Fall des § 27 Abs. 1 S. 1 SGB VIII ein Beurteilungs- und ein Ermessensspielraum und im Zusammenhang mit § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII ein Beurteilungsspielraum zusteht. Bei der Gefahrenabschätzung ist zu berücksichtigen, dass die Kindeswohlgefährdung keinen statischen, einmaligen Zustand darstellt, sondern einen dynamischen Prozess innerhalb der Familie, sodass es stets notwendig ist, die eingeleiteten Hilfen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

II. Der Perspektivenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe Ermächtigt durch die Art. 74 Nr. 7, 72 Abs. 2 GG, hat der Bundesgesetzgeber mit Wirkung zum 3.10.1990 beziehungsweise zum 1.1.1991 das bis dato geltende JWG durch das SGB VIII ersetzt und damit einen „Perspektivenwechsel“ in der Kinder- und Jugendhilfe herbeigeführt. Im Zuge dessen hat er zahlreiche vereinzelt bereits praktizierte Hilfen zur Erziehung kodifiziert. Der Hilfecharakter des Gesetzes wurde zudem durch die Eingliederung des Kinderund Jugendhilferechts in das Sozialgesetzbuch zum Ausdruck gebracht. Von Teilen der sozialpädagogischen Fachwelt wie auch der Judikative wurde jedoch übersehen, dass trotz dieser Neuerungen das Kinder- und Jugendhilfeannimmt und zu diesem Zweck eine analoge Anwendung von § 70h Abs. 2 FGG propagiert.

E. Zusammenfassung – einfachgesetzliche Grundlagen

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recht noch immer janusköpfig ist. So hat das Jugendamt, ungeachtet des Hilfsauftrags gegenüber den Eltern, schützend einzugreifen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Wohl des Kindes gefährdet ist. Dieser Umstand resultiert aus verfassungsrechtlichen Vorgaben und hierbei insbesondere aus dem in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG kodifizierten staatlichen Wächteramt. Das SGB VIII bringt das bereits in der Systematik des § 2 SGB VIII zum Ausdruck. Zwar besitzen die fallzuständigen Sozialarbeiter in der Tat keine Befugnis, den Eltern ihr Kind dauerhaft vorzuenthalten, und der Schwerpunkt des SGB VIII besteht mit den §§ 28 ff. SGB VIII darin, Hilfen zur Erziehung aufzulisten. Jedoch zeigen die §§ 42 und 50 Abs. 3 a. F. bzw. § 8a SGB VIII, dass das Jugendamt nicht lediglich eine pure Leistungsbehörde darstellt.

III. Bisherige Unklarheiten Bis zum 1.10.2005 bestanden einige Unklarheiten bei der Anwendung des SGB VIII in Fällen möglicher Kindeswohlgefährdung. Zum einen waren die Regelungen zur Informationsgewinnung nicht eindeutig gefasst und für einige Konstellationen völlig unpassend, zum anderen fehlten Anhaltspunkte dafür, auf welche Art und Weise mit den gesammelten Informationen verfahren werden sollte, das heißt: wie die Informationsbewertung vorzunehmen war. Zwar existierten im Hinblick auf die Risikoabwägung durchaus entsprechende Empfehlungen, indes kam diesen keine verbindliche Wirkung zu, sodass die Vorgehensweise in den einzelnen Jugendämtern zum Teil recht unterschiedlich ausgestaltet war. Außerdem war der in der Praxis häufige Fall der Inobhutnahme eines Kindes gegen den Willen der Eltern aus deren Obhut nach zutreffender Ansicht nicht gesetzlich geregelt, sodass sich das Jugendamt grundsätzlich familiengerichtlicher beziehungsweise polizeilicher Hilfe bedienen musste und gegebenenfalls die allgemeinen Nothilferechte auszuüben hatte.

IV. Reform/Reformbestrebungen 1. KICK Im Hinblick auf die Empfehlungen des Deutschen Städtetages im Zusammenhang mit Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung sowie die genannten dogmatischen Ungereimtheiten, die sich bei der Anwendung des SGB VIII in der Praxis zeigten, hat der Gesetzgeber zahlreiche Normen umgestaltet, vor allem im dritten Kapitel des SGB VIII. Zunächst ist im Allgemeinen Teil des SGB VIII der § 8a Abs. 1 S. 1 eingefügt worden, der den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe im Fall einer

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Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Kindeswohlgefährdung deutlich hervorhebt. Hiermit möchte der Gesetzgeber darauf hinweisen, dass bei sämtlichen Aktivitäten des Jugendamts – also auch im Rahmen der Hilfen zur Erziehung – stets auf Anzeichen für derartige Fälle zu achten ist. Zudem sind erstmals Regelungen geschaffen worden zur Risikoabschätzung bei Konstellationen, in denen eine Kindeswohlgefährdung im Betracht kommt. Zum einen legt der Gesetzgeber in § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII den Grundsatz der Kollegialentscheidung fest, sodass die Fachkräfte bei der Einschätzung der Gefährdungslage nicht mehr länger auf sich gestellt sind, zum anderen betont er in § 8a Abs. 1 S. 2 und 3 SGB VIII, dass die Eltern bei der Risikoabwägung grundsätzlich zu beteiligen sind, sofern hierdurch nicht der Schutz des Kindes in Frage gestellt wird. Schließlich legt er in § 8a Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VIII fest, dass die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe die sogenannten freien Träger vertraglich dazu zu verpflichten hat, im Fall der Delegation von Aufgaben ein diesen Standards genügendes Schutzkonzept zu verfolgen. Demnach muss sichergestellt werden, dass das Jugendamt informiert wird, wenn Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen und die Eltern nicht gewillt sind, diesen durch die Inanspruchnahme von Hilfen zu begegnen. Des Weiteren ist das Kinder- und Jugendhilferecht insoweit geändert worden, als Jugendamtsmitarbeiter ein Kind gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII auch gegen den Willen der Eltern in Obhut nehmen können, sofern eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Weiterhin hat der Gesetzgeber in § 8a Abs. 3 SGB VIII, der den § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. ersetzt, klargestellt, dass der Jugendamtsmitarbeiter gegenüber dem Familiengericht nicht dazu verpflichtet ist, einen Fall „durchzuermitteln“, bevor er dieses über die Kindeswohlgefährdung unterrichtet.484 Zwar war dies im Lichte des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 12 FGG) auch bereits vor dem Inkrafttreten des KICK die richtige Vorgehensweise, indes hatten sich – wie empirische Untersuchungen eindrucksvoll belegen – bei einigen Gerichten abweichende Praktiken entwickelt. Schließlich hat der Gesetzgeber auf einige in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Fälle spektakulärer Kindeswohlgefährdungen reagiert und die bislang zum Teil unklaren Regelungen zur Datensammlung und -übermittlung bei möglicher Kindeswohlgefährdung reformiert. Mit dem Inkrafttreten des KICK ist es unstreitig möglich, auch anvertraute Daten im Rahmen eines internen oder externen Zuständigkeitswechsels zu übermitteln (vgl. § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII).

484

Vgl. § 8a Abs. 3 S. 1 HS 2 SGB VIII.

E. Zusammenfassung – einfachgesetzliche Grundlagen

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2. KEG Die vormalige Opposition schlug ebenfalls vor, die Gesetzeslage im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten bei Kindeswohlgefährdungen zu verändern. Ihrer Ansicht nach sollte der Schutzauftrag des Jugendamts in einem § 50a SGB VIII enthalten sein, also im Zusammenhang mit den „anderen Aufgaben“ der Kinder- und Jugendhilfe. Zwar beinhaltete der Vorschlag – wie auch derjenige der damaligen Bundesregierung – die Pflicht, Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen nachzugehen, aber die Erforschung des Sachverhalts sollte nach dem Willen der Opposition durch ein Befragungsrecht gegenüber den Eltern und eine elterliche Pflicht, dem Jugendamtsmitarbeiter Auskünfte zu erteilen, erleichtert werden. Im Hinblick auf die gesammelten Informationen und die auf dieser Basis zu treffende Risikoabwägung enthielt § 50a Abs. 4 SGB VIII-KEG nicht abschließende Tatbestände, in denen eine Kindeswohlgefährdung zu vermuten sein sollte. Bezüglich des Datenschutzes sah das KEG eine Neufassung des § 65 SGB VIII vor. In einem Absatz 1a sollte eingefügt werden, dass eine Tatsache dann nicht mehr anvertraut ist, wenn sie zur Erlangung einer Sach- oder Geldleistung preisgegeben wird.

V. Zusammenarbeit von Jugendamt und Familiengericht Ungeachtet der Neuerungen werden Jugendamtsmitarbeiter auch in Zukunft nicht die Befugnis besitzen, den Eltern ihr Kind dauerhaft vorzuenthalten. Hierzu sind lediglich die Familiengerichte im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 1666 BGB befugt, die jedoch in aller Regel von den zuständigen Sozialarbeitern nach § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII benachrichtigt werden. Auch die Familiengerichte haben den in § 1666a BGB kodifizierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Demnach ist ein Sorgerechtsentzug nur dann denkbar, wenn keine Hilfen zur Erziehung geeignet sind, um das Kindeswohl wiederherzustellen. Daher kommt regelmäßig eine dauerhafte Trennung von Eltern und Kind dann nicht in Betracht, sofern die Eltern die Bereitschaft erkennen lassen, mithilfe staatlicher Unterstützung die bestehenden Probleme aus dem Weg zu räumen, und eine derartige Hilfe zur Erziehung geeignet erscheint. Das Verfahren nach § 1666 BGB richtet sich nach dem FGG und gewährt dem Familiengericht, abgesehen von einigen Anhörungspflichten und der grundsätzlichen Notwendigkeit der Einsetzung eines Verfahrenspflegers, einen großen Gestaltungsspielraum. Es ist daher nicht geklärt – und wurde auch

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durch die Reform im Oktober 2005 nicht geklärt –, ob das Jugendamt dem Gericht Entscheidungsvorschläge unterbreiten kann, und ob – umgekehrt – das Jugendamt vom Familiengericht angeordnete Hilfen zur Erziehung auch gewähren muss.

VI. Dualismus in der Kinder- und Jugendhilfe Im SGB VIII sind nicht nur die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe als existent vorausgesetzt, sondern auch die sogenannten freien Träger. Zwar können letzteren bereits wegen Art. 1 Abs. 3 GG nicht per Gesetz die in § 2 Abs. 3 SGB VIII geregelten „anderen Aufgaben“ übertragen werden, indes besteht eine derartige Möglichkeit durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Damit auch bei derartigen Delegationen ein adäquater Kindesschutz gewahrt bleibt, sieht § 8a Abs. 2 SGB VIII nunmehr vor, dass durch entsprechende Verträge ein gewisser Schutzstandard gewährleistet wird. § 50a Abs. 1 S. 2 SGB VIII-KEG statuierte insoweit eine Benachrichtigungspflicht des Mitarbeiters des freien Trägers gegenüber dem Jugendamtsmitarbeiter. Ob mit einer Delegation zugleich ein Recht der Jugendamtsmitarbeiter einhergeht, die entsprechende Fachkraft bei dem freien Träger auszuwählen und zu überwachen, ist zwar in der Begründung zum KICK nicht explizit geregelt – die Frage ist jedoch aufgrund der verfassungskonformen Auslegung des SGB VIII im Lichte des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zu bejahen.

F. Fazit: Das Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber den in der Jugendhilfe Beschäftigten durch das SGB VIII eine Doppelrolle zugewiesen hat. Während die Sozialarbeiter vorrangig die elterliche Erziehungskompetenz durch Beratung und Hilfe stärken sollen,485 sind sie im Fall einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII und neuerdings § 8a SGB VIII zu dessen Schutz berufen. Diese Janusköpfigkeit ist zwar de lege lata auch dem Familiengericht immanent, denn – wie insbesondere § 1666a BGB zeigt – muss es nicht zwangsweise einen Entzug des Personensorgerechts anordnen, sondern es kann gegebenenfalls auf Hilfen zur Erziehung zurückgreifen.486 Auch kann das Gericht genau genommen die Schuld für eine aus einer ex-post-Betrachtung erkennbare Fehlentscheidung wegen der durch § 12 FGG statuierten Amtsermittlungspflicht 485 486

Vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII. MüKo-Olzen, BGB, § 1666, Rn. 161.

F. Fazit: Das Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe

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nicht auf das Jugendamt abwälzen. Jedoch ist in der Realität zumeist eine Mitteilung des Jugendamts das ausschlaggebende Moment für ein Tätigwerden des Familienrichters – wie sollte dieser auch sonst von der Kindeswohlgefährdung erfahren, wo er doch bei seiner täglichen Arbeit nicht direkt mit den „Problemfamilien“ befasst ist?487 Der Gesetzgeber trägt dem Umstand der größeren persönlichen Nähe der Sozialarbeit zu den „Problemfamilien“ durch die Anzeigepflicht des § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII Rechnung. Gleichzeitig weist er den in der Jugendhilfe Beschäftigten durch den hierin verankerten Beurteilungsspielraum eine Art Filterfunktion zu. Der daraus erwachsende Zwiespalt für die Sozialarbeiter besteht darin, den „cut off point“488, also die Situation, in der ein Verbleib des Kindes bei seinen Eltern nicht mehr hinnehmbar ist, von Fallgestaltungen zu unterscheiden, in denen Hilfestellungen zur Überwindung der Krise ausreichen.489 Agieren die Mitarbeiter des Jugendamts zu spät, so besteht die Gefahr, dass das Kind am Leib und im schlimmsten Fall auch am Leben geschädigt wird – die hieraus resultierenden strafrechtlichen Risiken wegen des Unterlassens gebotener Schutzmaßnahmen sollen im weiteren Verlauf der Arbeit näher untersucht werden.490 Jedoch darf nicht vergessen werden, dass auch das übereilte und übertriebene Tätigwerden der Jugendhilfe eine Schädigung des Kindeswohls bewirken kann. 487 Vgl. auch die empirische Untersuchung von Erben/Schade, ZfJ 1994, 209, in der ein entscheidender Einfluss des Jugendamts auf das Verfahren und die richterliche Entscheidung konstatiert wird. 488 Harnach-Beck, Psychosoziale Diagnostik, S. 181. 489 So auch der 10. Kinder- und Jugendbericht, vgl. BT-DrS 13/11368, S. 274. 490 Ein vergleichbares Dilemma besteht z. B. bei Ärzten in Kliniken, in denen psychisch kranke Straftäter untergebracht sind. Ihnen obliegt die Aufgabe, einerseits die Allgemeinheit vor den gefährlichen Straftätern zu schützen, andererseits jedoch dem grundrechtlich verbürgten Freiheitsanspruch des Einzelnen (vgl. Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. 1 GG) Rechnung zu tragen; hierzu BVerfGE 70, 297 sowie BGHSt 49, 1 ff. m. zust. Anm. Saliger, JZ 2004, 977 (er meint, die strafrechtliche Prüfung finde hierbei „auf einem gesellschaftspolitischen Minenfeld“ statt); LG Göttingen NStZ 1985, 410; StA Paderborn NStZ 1999, 51 m. Anm. Pollähne; vert. zum Ganzen H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 187 ff., 208 ff.; Grünebaum, Strafbarkeit, S. 32 ff., 64, 84; Schaffstein, Lackner-FS, S. 795 ff.; vgl. zudem die „Waldliesborner Thesen“, abgedruckt in StV 1985, 478 sowie die Ausführungen des Westfälischen Arbeitskreises „Maßregelvollzug“ zu Lockerungen im Maßregelvollzug, abgedruckt in NStZ 1991, 64. Ähnlich überdies die Situation im Zusammenhang mit psychiatrischen Gutachtern im Strafprozess (siehe dazu Krauß, StV 1985, 512). Schließlich findet sich eine Parallele bei der Frage nach der Strafbarkeit von Amtsträgern des Umweltamts, die nach § 1a Abs. 1 S. 2 WHG zwischen dem Wohl der Allgemeinheit und dem Nutzen des Einzelnen abzuwägen haben (s. hierzu LG Bremen NStZ 1982, 164; GenStA Hamm NStZ 1984, 219; Rudolphi, Dünnebier-FS, S. 561; ders., NStZ 1984, 193; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 671; Möhrenschlager, Anm. NStZ 1982, 165).

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In diesem Fall stellt sich zunächst die Frage nach einer Bestrafung wegen der Entziehung des Minderjährigen gegenüber dem Personensorgeberechtigten (vgl. § 235 Abs. 1 S. 2 StGB)491 sowie nach einer Haftung des Staats wegen Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V. m. Art. 34 GG, begründet durch einen Verstoß gegen die Vorschriften des SGB VIII.492 Zudem birgt ein übereiltes Agieren der Jugendhilfe Risiken in sich, die jenseits der rechtlichen Gesichtspunkte des Sachverhalts auftreten. Es handelt sich dabei einerseits um die Gefahr, dem Minderjährigen durch eine Fehlreaktion auf die tatsächliche bzw. vermeintliche primäre Kindeswohlgefährdung seitens der Eltern eine sogenannte sekundäre Kindeswohlgefährdung493 beizubringen. Bei einem verfrühten, übertriebenen Handeln der an familiengerichtlichen Entscheidungsprozessen beteiligten Personen ist damit gemeint, dass Kinder durch den Verlust der Bindung zu den Eltern massiv in ihrer Psyche geschädigt werden („Trennungstrauma“).494 Andererseits besteht das Risiko, dass, wenn der zuständige Sozialarbeiter zu früh (und damit im Hinblick auf die – seiner Ansicht nach gebotene – Herausnahme des Kindes aus der Familie erfolglos) das Familiengericht informiert, in 491

Freilich ist dafür vorsätzliches Handeln vonnöten, das nur schwer nachzuweisen

ist. 492 Vgl. BGH NJW 2005, 68 = DVBl. 2005, 250 = FamRZ 2005, 93 (vgl. hierzu auch die Vorinstanz OLG Stuttgart NJW 2003, 3419 m. Anm. Meysen, NJW 2003, 3369) – in dem Verfahren ging es um ein verspätetes Eingreifen der Jugendhilfe. 493 Vert. zu diesem Thema Dettenborn, FPR 2003, 293, 295, der unter der sekundären Kindeswohlgefährdung ein Synonym für „professionelle Kindeswohlgefährdung“ versteht und damit auch den Fall zu späten Eingreifens der Jugendhilfe unter diesen Terminus subsumiert. Eher den Fall zu frühen bzw. übertriebenen Eingreifens mit dem Begriff „sekundärtraumatische Folgen“ zu verbinden, scheint dagegen Maywald, FPR, 2003, 299, 306. 494 Hierzu der 10. Kinder- und Jugendbericht, vgl. BT-DrS 13/11368, S. 275; Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe nach dem Diktat der Strafjustiz??, S. 4; Wiesner, in: Wächteramt und Jugendhilfe, S. 19. Vgl. auch das Dossier „Der Verdacht“ in DIE ZEIT 26/2003, über einen Fall eines unzutreffenden Verdachts sexuellen Missbrauchs eines Mädchens durch ihren Vater, bei dem das Jugendamt vor dem Familiengericht eine im Ergebnis 2-jährige Trennung des damals achtjährigen Kindes von der Familie erwirkte, welche in der Folge den Kontakt zwischen Eltern und Kind massiv schädigte („,Eigentlich will ich gar nicht mit dir reden‘, sagt das Kind jetzt. ,Am liebsten wäre ich gar nicht mehr dein Kind.‘ Oder: ,Ich hab dich nicht mehr lieb.‘ (. . .) Heute leidet Lena an krankhaften Ess-Brech-Attacken und schwerer Neurodermitis.“) sowie den vom EGMR am 8.7.2004 entschiedenen Fall Haase v. Germany (Application no. 11057/02) (S. 22: „When examining the advantages and disadvantages of a family measure, it was, however relevant to consider that a separation of the children from their parents could jeopardise the development of the children, in particular in their first years of life . . .“). Goldstein/Freud/Solnit, Jenseits des Kindeswohls, S. 49, 105 f. wollen denn auch im Fall einer Trennung von Eltern und Kind nicht von einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung sprechen, sondern schlagen vor, die „am wenigsten schädlichen Alternative zum Schutz von Wachstum und Entwicklung des Kindes“ zu suchen.

F. Fazit: Das Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe

153

aller Regel ein Vertrauensverlust bei den Eltern im Hinblick auf die Jugendhilfe eintreten wird, sodass diese sich einer weiteren einverständlichen Zusammenarbeit verschließen, weil sie sich „verraten“ fühlen.495 In dem Fall hat der Sozialarbeiter noch weniger die Chance als vor dem „Bruch“ mit den Eltern, den Zustand des Kindes zu erkennen, da die Eltern ihm nicht mehr die Tür öffnen werden, sodass er mangels eines erzwingbaren Auskunftsrechts auf Hinweise aus dem Umfeld der Familie angewiesen ist.496

495 So die vom LG Osnabrück in NStZ 1996, 439 geäußerte Befürchtung im Fall „Laura Jane“ (i. d. S. auch die angeklagte Sozialarbeiterin in einem Interview von Brand nach dem Freispruch, abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 183) sowie die Befürchtung des Deutschen Städtetages in seinen Empfehlungen, ZfJ 2004, 191 f. (auch abgedruckt im Anhang). S. a. die Erwägungen von Lord Browne-Wilkinson zu dem vom EGMR im Jahr 2001 entschiedenen Fall Z and Others v. United Kingdom (Appl. no. 29392/95, abgedruckt in ZfJ 2005, 157): „. . . ein fruchtbarer Boden für die Entstehung von Unbehagen und Rechtsstreitigkeiten . . .“. Vgl. zudem den 10. Kinder- und Jugendbericht, BT-DrS 13/11368, S. 275 f.; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 82; Blum-Maurice in: Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 193, 199 f.; Gläss/Etzel, Jugendhilfe 2000, 242, 249; Heilmann, UJ 2001, 411, 416; Mörsberger, Wächteramt und Jugendhilfe, S. 136 f.; ders. in: Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 94 („Die Herausnahme eines Kindes aus der Familie ist in psychischer Hinsicht vergleichbar mit der Amputation eines Körperteils.“); Wiesner, ZfJ 2004, 167. Vgl. aber auch Fieseler, ZfJ 2004, 177; ders., UJ 2001, 436, dem nach eigenen Angaben Jugendamtsmitarbeiter berichtet haben, dass eine Androhung der Einschaltung des Gerichts die Eltern eher zur Mitarbeit motiviert als diese verweigern lässt; unentschlossen Tauche, np 1996, 365 („Ein Machtmittel ist z. B. die Inobhutnahme, die durch den Schock, den sie bewirkt, sowohl Veränderungsprozesse beschleunigen, wie ein ewiges Misstrauen gegen die Jugendhilfe begründen kann.“). Eine umgekehrte Ursache möglicher Konflikte verortet schließlich Kohaupt, JAmt 2005, 222 f. bei der vordergründigen Zustimmung der Eltern, die aber keine tatsächliche Akzeptanz der Hilfe beinhaltet. 496 In diesem Sinne auch die Aussage von Inselmann, Abteilungsleiter im Jugendamt Hamburg, in dem Artikel von Rückert in DIE ZEIT 17/2005: „Absoluten Schutz für Kinder gebe es nicht, die beste Methode sei darum, die Eltern zu erreichen und zu einer freiwilligen Zusammenarbeit mit der Behörde zu bewegen. Dies sei aber nur möglich, wenn das Jugendamt als hilfreicher Freund und nicht als spionierende Überprüfungsinstanz auftrete. Gerade Familien, die im Visier der Ämter stehen, reagieren nämlich empfindlich auf Einmischung. Manche ziehen sogar jedes halbe Jahr um, um der staatlichen Aufsicht zu entrinnen. Drohgebärden, meint Inselmann, führten da zu gar nichts.“ Siehe auch Restemeier in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 84: „Auf Familien im sozialen Brennpunkt kann nur Einfluss genommen werden, wenn der Sozialarbeiter nicht als Kontrollorgan im engeren Sinne auftritt.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch Meysen, Stellungnahme 2, S. 2–3 gegenüber den im KEG enthaltenen Änderungsvorschlägen: „§ 50a Abs. 1 Satz 2 E-SGB VIII normiert eine generelle Meldepflicht für Leistungserbringer und verpflichtet damit die Fachkräfte bei Trägern der freien Jugendhilfe gesetzlich zum Vertrauensbruch gegenüber den Familien, die sich ihnen in ihrer Not anvertraut haben.“ Zu möglichen Strategien zur weiteren Zusammenarbeit des ASD mit Familien während der Antragstellung Wolff, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 120. Zur Arbeit nach Ablehnung des Antrags ders., a. a. O., Frage 94.

154

Teil 1: Rechtsdogmatische Grundlagen

Schließlich birgt die exzessive Herbeiführung von Entscheidungen nach § 1666 BGB das Risiko in sich, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Familiengericht auf Dauer verhindert wird, da dieses mit „Anträgen“ überhäuft und in seiner Arbeitsfähigkeit gelähmt wird.497 Das Dilemma der Jugendhilfe kann daher zusammenfassend mit den Worten „zu früh, zu spät, zu viel oder zu wenig“498 beschrieben werden.499 Es trifft jedoch im Lichte der vorstehenden Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Elternrecht, Kindeswohl sowie staatlichem Wächteramt nicht zu, dass sie von einer Vielzahl von Zielen bestimmt wird, die miteinander unvereinbar wären. Wenn sich die Eltern öffentlicher Hilfen nicht verschließen und das Jugendamt innerhalb der Grenzen seines Beurteilungsspielraums eine Mitteilung an das Familiengericht nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII nicht für notwendig erachtet, so kann zum Beispiel durch den Einsatz einer sozialpädagogischen Hilfe (vgl. § 31 SGB VIII) sowohl die elterliche Erziehungsverantwortung gestärkt als auch das Wohl des Kindes geschützt werden. Sofern das Kindeswohl durch das elterliche Verhalten jedoch konkret gefährdet ist und öffentliche Hilfsangebote nicht erfolgversprechend erscheinen, bewegen sich die Eltern nicht mehr innerhalb des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Da § 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII gemäß den Vorgaben der Verfassung auszulegen ist, ist in diesem Fall die Aufgabe, die elterliche Verantwortung zu stärken, für die Jugendamtsmitarbeiter schon gar nicht eröffnet. § 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII steht also unter der Prämisse, dass die Eltern sich überhaupt auf ihre elterliche Verantwortung zu berufen vermögen. Die Jugendamtsmitarbeiter haben bei einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls in Erfüllung des staatlichen Wächteramts (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) auf die in § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII statuierte Aufgabe zu rekurrieren und müssen dementsprechend versuchen, das Kindeswohl effektiv zu schützen.500 497

Merchel, ZfJ 2003, 249, 250. Goldstein/Freud/Solnit, Diesseits des Kindeswohls, S. 115. Zu möglichen Ursachen sekundärer Kindeswohlgefährdung Wolff, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 46. 499 Vgl. hierzu die Studie von Fegert/Berger/Breuer/Deget/Haasemann/Klopfer/ Wolke/Lehmkuhl/Lüderitz/Walter/Lehmkuhl, vorgestellt in ZfJ 1996, 448, 483, wonach auf die Einstiegsfrage, ob sich das Dilemma zwischen Hilfe, Beratung und Kinderschutz seit der Einführung des KJHG verändert hat, immerhin 22% der Befragten antworteten, das Konfliktpotential habe sich sogar noch vergrößert. 71% meinten, es habe sich insgesamt nichts verändert, und nur 7% fanden, das Dilemma habe sich verringert. 500 Interessant in diesem Zusammenhang Kohaupt, JAmt 2005, 219: „. . . ich habe einmal nachgeforscht, woher das Wort Schutz kommt: es bedeutet ,dämmen, stauen, hindern‘. Aber es ist auch eine Intensivierung von schießen.“ 498

F. Fazit: Das Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe

155

Folglich ist die Sozialarbeit nach dem Willen des Gesetzgebers nicht dazu berufen, miteinander nicht zu vereinbarende Aufgaben zu erfüllen, sie hat vielmehr die von Verfassungs wegen vorgegebenen Prioritäten einzuhalten. Im Sinne dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben ist dann auch das Dilemma des „zu früh, zu spät, zu viel oder zu wenig“ zu entscheiden – dem Kindeswohl gebührt der Vorrang vor dem Elternrecht. Freilich ist zu konzedieren, dass der verfassungsrechtliche und einfachgesetzlich umgesetzte Auftrag der Jugendhilfe nur in der Theorie so eindeutig abzugrenzen ist. Die Crux besteht für die Sozialarbeiter darin, diese Vorgaben bei ihrer täglichen Arbeit umzusetzen.501 Auch ist zu betonen, dass die Grundentscheidung der Staatsordnung, dem Kindeswohl den Vorrang einzuräumen, nicht zur Legitimierung einer „Absicherungsmentalität“ führen darf. Ein solches Handeln würde abermals gegen die Verfassung verstoßen – in diesem Fall gegen die als vorrangig zu erachtende elterliche Verantwortung (vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG).

501 Zu möglichen Strategien im Umgang mit eigenen Unsicherheiten und Belastungen in Gefährdungsfällen Döring, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 127.

Teil 2

Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt Nachdem die notwendigen Vorbemerkungen zu den rechtsdogmatischen Grundlagen des Elternrechts und der Jugendhilfe getroffen wurden, sollen im folgenden die denkbaren Fallgestaltungen bei der Betreuung von „Problemfamilien“ im einzelnen strafrechtlich untersucht werden.1 Obgleich in der medialen Berichterstattung oft von der Verantwortlichkeit „des Jugendamts“ die Rede ist2, kann sich ein Kollektiv nicht strafbar machen, sondern nur dessen einzelne Mitglieder.3 Daher soll sich die folgende Untersuchung nach den in den Hilfeprozess involvierten Personengruppen gliedern. Dazu werden zunächst solche Fälle hinterfragt, in denen die Familie durch Mitarbeiter der öffentlichen Träger, also durch solche des Jugendamts oder des Allgemeinen Sozialen Dienstes betreut wurde.4 Der erste Interessenschwerpunkt soll bei der Strafbarkeit der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter selbst liegen. Im Anschluss hieran wird zu ermitteln sein, ob die in letzter Zeit immer häufiger geäußerte Forderung, auch die leitenden Angestellten im Jugendamt strafrechtlich haftbar zu machen, nach geltender Rechtslage realisierbar ist.

1 Dass das Handeln von Sozialarbeitern (auch) strafrechtlich justitiabel ist, ergibt sich bereits aus Art. 20 Abs. 3 GG, wonach die Judikative die Exekutive kontrolliert (s. Bringewat, Tod eines Kindes, S. 31 ff.; ders., BldW 2002, 25; ders., Wächteramt und Jugendhilfe, S. 117: „. . . gehört zu den Selbstverständlichkeiten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens . . .“; Meysen, ZfJ 2001, 415: „. . . selbstverständlich“). Wie sich hingegen der Einwand fachlich korrekten Verhaltens, der von angeklagten Jugendamtsmitarbeitern in der Vergangenheit oft zum Zweck der Verteidigung angeführt wurde, auf den einzelnen Stufen der Strafbarkeitsprüfung (insbesondere auf die Beurteilung der Sorgfaltswidrigkeit) auswirkt, soll später an den passenden Stellen diskutiert werden. 2 Vgl. z. B. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2.3.2003: „Starb Pascal, weil das Jugendamt versagte?/Die Kinderschänder von Saarbrücken“ sowie Süddeutsche Zeitung vom 28.2.2003: „Eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Im Fall des getöteten Pascal wird nun auch gegen das Jugendamt ermittelt“. 3 Dieser Umstand kommt in nahezu allen Publikationen zu diesem Thema zum Ausdruck – siehe z. B. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 84; Bringewat, Wächteramt und Jugendhilfe, S. 118; Fieseler, UJ 2001, 435; Wiesner, „. . . und schuld ist“, S. 8. 4 Wenn im folgenden von Jugendamtsmitarbeitern die Rede ist, sind – sofern nicht explizit eine Unterscheidung vorgenommen wird – hiermit auch die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes gemeint.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter I. Echte und unechte Unterlassungsdelikte Es wird heutzutage kaum noch bestritten, dass zwischen echten und unechten5 Unterlassungsdelikten zu differenzieren ist.6 Unklarheit besteht jedoch noch immer darüber, worin genau das maßgebende Abgrenzungskriterium7 zwischen beiden Rechtsfiguren besteht. 1. Abgrenzungsversuche In der Vergangenheit wurde danach abgegrenzt, ob der Täter gegen ein Gebot oder gegen ein Verbot verstoßen hatte. Im erstgenannten Fall sollte ein echtes, im letztgenannten ein unechtes Unterlassungsdelikt verwirklicht worden sein.8 Dogmatischer Hintergrund dieser Ansicht war die von Luden9 entwickelte These, dass es sich bei den unechten Unterlassungsdelikten um einen Anwendungsfall des Begehens handelt. Diese Prämisse haben jedoch Engisch10 und Armin Kaufmann11 erfolgreich widerlegt, indem sie nachwiesen, dass jedes Unterlassen einen Verstoß gegen ein Handlungsgebot zeitigt, während jedes Tun einen Verstoß gegen ein Verbotsgesetz bedeuten muss. Die Abgrenzung nach Gebots- bzw. Verbotsverstoß wird daher heutzutage kaum mehr vertreten.12 Die heutige Rechtsprechung und ein Teil der Literatur erachten vielmehr das echte Unterlassungsdelikt aus materiellen Gesichtspunkten als Gegenpol zu den 5 Zu diesem Begriff krit. MüKo-Freund, StGB, Bd. I, § 13, Rn. 55 („Im Unterlassen ist nicht etwa ein aktives Tun verborgen.“) – er führt aus, dass die Bezeichnung historisch bedingt ist und aus der Zeit herrührt, als man das unechte Unterlassungsdelikt noch als Sonderfall des aktiven Begehens ansah. 6 Nach Androulakis, Studien, S. 140 handelt es sich hierbei um den „,eisernen Bestand‘ der Unterlassungslehre.“ Siehe aber auch Maiwald, JuS 1981, 473, der die Zweiteilung als „. . . höchst streitig, jedoch wenig fruchtbar“ ansieht. 7 Krit. zum Begriff „Abgrenzung“ Haft, AT, S. 176: „. . . schief, weil die Unterlassung ein Nichts ist, von dem eine Abgrenzung, genau besehen, nicht möglich ist.“ 8 Siehe hierzu BGHSt 14, 280, 281. 9 Luden, Abhandlungen, S. 220, 223 ff., 242. 10 Engisch, MschrKrim 1939, 424 ff. 11 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 3 ff., s. S. 274: „Insofern lässt sich pointierend sagen: Die unechte Unterlassung ist ein echter Fall des Unterlassungsdelikts.“ 12 Die Ansicht Ludens hat jedoch in jüngerer Zeit Philipps, Handlungsspielraum, S. 15 ff. mit seiner „Lehre vom Handlungsspielraum“ wieder aufgegriffen, nach der ein Verbot stets die universelle Grenze des Handlungsspielraums darstellt, während Gebote ein bestimmtes Ziel innerhalb des Handlungsspielraums setzen. Im Fall eines Verbots soll die Grenze durch ein Tun oder durch ein pflichtwidriges Unterlassen überschritten werden; dem zust. NK-Seelmann, § 13, Rn. 14.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

reinen Tätigkeitsdelikten, während das unechte Unterlassungsdelikt das Gegenstück zu den Erfolgsdelikten bilden soll.13 Kritiker dieser Ansicht monieren, dass zum Teil auch den echten Unterlassungsdelikten Erfolgsabwendungsgebote zugrunde liegen.14 Daher untersucht eine Gegenansicht formal, ob die Unterlassung ausdrücklich im Gesetz geregelt ist (dann echtes Unterlassungsdelikt) oder nicht (in dem Fall unechtes Unterlassungsdelikt)15. Schließlich fragen andere Autoren nach der Begehungsgleichheit des Unterlassens. Hat der Gesetzgeber im Besonderen Teil des StGB selbst dem Tun eine bestimmte Form des Unterlassens ausdrücklich oder stillschweigend gleichgestellt oder kann dies durch die Anwendung von § 13 Abs. 1 StGB erreicht werden, so ist von einem unechten Unterlassungsdelikt auszugehen, andernfalls soll ein echtes Unterlassungsdelikt vorliegen.16 2. Praktische Bedeutung Die praktische Bedeutung der Unterscheidung ist vor allem darin zu sehen, dass eine Garantenstellung des Täters, das heißt das rechtliche Einstehenmüssen für das Ausbleiben eines Erfolgs17, nur bei den unechten Unterlassungsdelikten, nicht jedoch bei den Omissivdelikten gefordert wird. Außerdem hängt hiervon die Anwendbarkeit der in § 13 Abs. 2 StGB vorgesehenen Strafmilderungsmöglichkeit ab.18

13 BayObLG NJW 1990, 1861; SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 10; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 27 ff.; Ebert, AT, S. 175; Gropp, AT, § 11 Rn. 3; Jescheck/Weigend, AT, § 58 III 2; R. Schmidt, S. 282; Sofos, Mehrfachkausalität, S. 200; Wessels/Beulke, Rn. 696 f. 14 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 206 ff. (S. 207: § 41 Abs. 1 WehrStG), 231, Fn. 306, 275. 15 Grundlegend Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 206 ff., 275 ff.; ders., JuS 1961, 173 (krit. demgegenüber der Korreferent des Aufsatzes Böhm, JuS 1961, 178); Kaufmann folgend u. a. S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 137; Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 7; Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 45, Rn. 35; ähnlich auch Herzberg, Garantenprinzip, S. 30. 16 Roxin, AT II, § 31, Rn. 17 ff.; ebenso Schünemann, Grund und Grenzen, S. 44; ders., ZStW 96 (1984), 303; ähnlich Silva Sanchez, Roxin-FS, S. 645, der eine Dreiteilung der Unterlassungsdelikte de lege ferenda vertritt (konkret: begehungsgleiche, echte und verschärfte, nicht begehungsgleiche Unterlassungsdelikte, s. S. 650 a. a. O.). 17 Vgl. § 13 Abs. 1 StGB. 18 Skeptisch demgegenüber Volk, Tröndle-FS, S. 221: „. . . Meist ist es doch so, dass man sich über das Ergebnis, die Strafbarkeit oder Straflosigkeit eines Verhaltens nämlich, im stillen schon klar ist, ehe man beginnt, das angeblich so grundlegende Problem zu lösen, ob jemand etwas getan oder unterlassen hat.“ Instruktiv zum Hintergrund der Strafmilderungsmöglichkeit Arzt, JA 1980, 556.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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Bezüglich der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bedeutsamen Delikte der Körperverletzung bzw. des Totschlags sowie der Nötigung besteht kein Zweifel daran, dass es sich um unechte Unterlassungsdelikte handelt. Kategorisierungsprobleme ergeben sich jedoch mit Blick auf den Straftatbestand der gröblichen Verletzung der Fürsorgepflicht (§ 171 StGB)19 sowie den der Aussetzung durch Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).20 Während Roxin z. B. bei letzterem die Begehungsgleichheit bejaht und damit ein unechtes Unterlassungsdelikt annimmt21, bestehen im Hinblick auf die Abgrenzung nach dem formalen Kriterium Zweifel. Hier hängt die Entscheidung von der nicht eindeutig zu beantwortenden Frage ab, ob ein ImStich-Lassen nur durch Untätigkeit erreicht werden kann. Die Anhänger einer Abgrenzung nach materiellen Kriterien wiederum werden ein echtes Unterlassungsdelikt annehmen, da der Gesetzgeber lediglich ein bestimmtes Verhalten pönalisiert, nicht jedoch auch einen Erfolg.22 Eine Streitentscheidung ist bei näherer Betrachtung der §§ 171, 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB entbehrlich, weil beide Tatbestände sogenannte echte Sonderdelikte darstellen, bei denen trotz der Kontroversen um die Einordnung der Normen zu den echten bzw. unechten Unterlassungsdelikten insofern Einigkeit besteht, als dass bei der Bestimmung des in Betracht kommenden Täterkreises ergänzend auf die zu § 13 Abs. 1 StGB entwickelten Denkmuster zurückgegriffen werden kann.23 Da in der bislang ergangenen Judikatur zum Thema der vorliegenden Arbeit der Schwerpunkt der Strafbarkeitsprüfung auf die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte (delicta commissiva per omissionem) gelegt wurde, soll mit deren Betrachtung begonnen werden. Ausgeklammert wird die Untersuchung der Strafbarkeit wegen echter Unterlassungsdelikte (delicta omissiva). In diesem Zusammenhang wird lediglich die 19 Dieser Straftatbestand (allerdings noch in der Fassung vor dem 4. Gesetz zur Reform des Strafrechts als § 170d StGB) wurde der Jugendamtsmitarbeiterin im Fall „Tanja“ (s. o. Teil 1 A. III. 2.) zur Last gelegt. 20 Zu weiteren Zweifelsfällen (§§ 225 Abs. 1, 3. Variante, 340 Abs. 1 S. 1 2. Var., 357 Abs. 1 3. Var. StGB) vgl. Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 29. 21 Roxin, AT II, § 31, Rn. 18; ebenso Lackner/Kühl, § 221, Rn. 4; S/S/Eser, § 221, Rn. 4. 22 So SK-Horn/Wolters, § 221, Rn. 6. 23 Vgl. zu § 171 StGB S/S-Lenckner, § 171, Rn. 3; Bohnert, ZStW 117 (2005), 292 ff., 298 („Die Fürsorgepflicht ist identisch mit der Garantie i. S. v. § 13 StGB.“) und Neuheuser, NStZ 2000, 175; zu § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB s. Tröndle/Fischer, § 221, Rn. 5 m.w. N. Praktische Bedeutung erlangt die Unterscheidung im Hinblick auf die Anwendbarkeit des § 13 Abs. 2 StGB, durch den eine fakultative Strafmilderung statuiert wird. Da dies aber lediglich die Strafzumessung berührt, soll die Frage in diesem Rahmen dahingestellt bleiben; vert. zu der Frage i. R.v. § 171 StGB Neuheuser, NStZ 2000, 179.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) relevant. Da dieser Tatbestand jedoch nur vorsätzlich verwirklicht werden kann und in der Mehrzahl der Fälle ein entsprechender Nachweis nicht gelingen wird, soll dessen Betrachtung ausgeklammert bleiben. Zudem wird das Hauptproblem der unterlassenen Hilfeleistung – die Frage nach der Zumutbarkeit – der Sache nach im Rahmen der Schuldprüfung beim unechten Unterlassensdelikt mitbehandelt. Möglich ist dann lediglich noch eine Strafbarkeit wegen § 138 Abs. 3 StGB aufgrund einer leichtfertig unterlassenen Anzeige geplanter Straftaten, wobei diese wiederum nur bei den Katalogtaten Mord oder Totschlag (§ 138 Abs. 1 Nr. 6 StGB) relevant wird.

II. Fahrlässige unechte Unterlassungsdelikte Wenn Eltern ihre Kinder (schwer) misshandeln oder vernachlässigen, droht ihnen unter Umständen eine Bestrafung wegen Mordes oder Totschlags (§§ 211, 212 StGB), Körperverletzung (mit Todesfolge) oder Aussetzung (mit Todesfolge) (§§ 223, 227, 221 StGB). Weiterhin kommt eine Verurteilung wegen Nötigung (§ 240 StGB), (schwerem) sexuellen Missbrauch von Kindern (mit Todesfolge) (§§ 176, 176a, 176b StGB) oder Verletzung der Fürsorgepflicht (§ 171 StGB) in Betracht. Ist der die „Problemfamilie“ betreuende Sozialarbeiter nicht oder nicht rechtzeitig zum Schutz des späteren Opfers eingeschritten, so stellt sich in der Mehrzahl aller Fälle die Frage, ob ihm bezüglich des eingetretenen Taterfolgs ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann. Voraussetzung hierfür ist gemäß § 15 HS 2 StGB zunächst, dass überhaupt ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand existiert. Im Hinblick auf die Aussetzung, die Nötigung und den (schweren) sexuellen Missbrauch (mit Todesfolge) sowie die gröbliche Verletzung der Fürsorgepflicht ist dies zum Beispiel nicht der Fall. Hat der Gesetzgeber hingegen ein bestimmtes fahrlässiges Verhalten unter Strafe gestellt, dann ist es für eine entsprechende Bestrafung nach allgemeinen Grundsätzen24 vonnöten, die Tatbestandsmäßigkeit der Unterlassung, die Rechtswidrigkeit des Verhaltens sowie die Schuld des Sozialarbeiters festzustellen.

24 Vgl. statt aller Wessels/Beulke, Rn. 83; krit. Maihofer, Henkel-FS, S. 75; Rödig, Lange-FS, S. 39.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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1. Vorbemerkung Im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung wird vor allem eines deutlich werden: Selbst wenn man mit Binding das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt als „. . . in der Welt der Delikte das Kleinste der Kleinen“25 versteht, so treten doch beim unechten Unterlassen auf nahezu sämtlichen Ebenen des Deliktsaufbaus Streitfragen auf, die in ihrem Umfang über diejenigen beim Begehungsdelikt weit hinausgehen. Dies betrifft namentlich die Abschichtung der Fahrlässigkeit vom Vorsatz und die zu diesem Zweck notwendige Definition des dolus eventualis im Rahmen des Unterlassens, die Zurechnung des eingetretenen Erfolgs zum Verhalten sowie die Bestimmung der Garantenstellung und des Umfangs der hieraus resultierenden Pflichten. Warum treten hier so große Schwierigkeiten auf? Auf den ersten Blick scheinen die Kontroversen sämtlich der geringen Regelungsdichte des § 13 Abs. 1 StGB sowie des § 15 S. 1 StGB geschuldet zu sein. Indes sind auch auf dem Gebiet der Begehungsdelikte zahlreiche Rechtsfragen nicht gesetzlich geregelt, wie zum Beispiel diejenige nach der Bestimmung des Vorsatzes oder der Kausalität, und dennoch sind sie heutzutage zumindest im Grundsatz geklärt. Um die Frage nach dem Aufbauproblem beantworten zu können, ist es daher vonnöten, an einer anderen Stelle anzusetzen. Fündig wird man, wenn man sich das von § 13 Abs. 1 StGB aufgestellte Erfordernis vor Augen führt, dass das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entsprechen muss. Zur Wahrung dieser sibyllinischen „Entsprechensklausel“ ist es zunächst vonnöten herauszufinden, was generell das konstituierende Element einer Handlung im strafrechtlichen Sinne ausmacht. a) Die einzelnen Handlungslehren und ihre Auswirkungen auf den Unterlassensbegriff Der Blickpunkt des Interesses muss sich also auf die seit mehr als einem Jahrhundert immer wieder unterschiedlich beantwortete Frage richten, wie der Handlungsbegriff – der Anknüpfungspunkt jedes strafrechtlichen Systems, welcher idealerweise sowohl Grund-, als auch Verbindungs- und Grenzelement sein soll26 – zu bestimmen ist.27

25

Binding, Die Normen, Bd. II, S. 102. Gropp, AT, § 4, Rn. 4; Volk, Tröndle-FS, S. 210. 27 Hierzu instruktiv vor allem Gropp, AT, § 4, Rn. 27 ff., Roxin, AT I, § 8, Rn. 7 ff. und Wessels/Beulke, Rn. 85 ff. Vgl. auch den guten Überblick bei Schünemann, Grundfragen, S. 18 ff. 26

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

(1) Kausale Handlungslehre Am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts definierten die Vertreter des kausalen Handlungsbegriffs, allen voran von Liszt, eine Handlung als Verursachung einer Veränderung in der Außenwelt durch ein willkürliches menschliches Verhalten.28 Das große Verdienst dieser Lehre liegt nach heutiger Sicht in der Abgrenzung menschlichen Handelns von sogenannten Nicht-Handlungen, wie zum Beispiel Körperbewegungen unter dem Einfluss von vis absoluta oder Reflexe.29 Der Lehre ist daher eine Abgrenzungsfunktion zu attestieren. Legt man sie zugrunde, ergeben sich jedoch dann Schwierigkeiten, wenn gerade kein nach außen hin erkennbares kausales Verhalten vorliegt, so z. B. im Rahmen des Versuchs und des Unterlassens.30 Zwar versuchte von Liszt 31 begrifflich auch die Unterlassung mitzuerfassen, indem er den von ihm entwickelten Handlungsbegriff ausdehnte. Indes führte dies lediglich dazu, dass das Problem verschoben wurde. Die Verursachung im naturwissenschaftlichen Sinne, die sogenannte conditio sine qua non, versagt nämlich mangels eines hinwegzudenkenden Wirkens des Unterlassenden. Wenn zum Beispiel ein Mensch einen anderen ertrinken sieht und nicht einschreitet, dann gibt es eben schlichtweg nichts, das man hinwegdenken könnte. Folglich mangelt es dieser Handlungslehre an der Eigenschaft als Grundelement. Eine weitere Schwäche besteht darin, dass die auf dem naturwissenschaftlichen Weltbild gründende Lehre bestimmte Tatbestände, die nicht auf einer Verursachung, sondern auf einer bestimmten Bewertung beruhen, nur auf sehr gekünstelte Weise zu begründen vermag.32 (2) Finale Handlungslehre (a) Allgemeines Nicht zuletzt deshalb wurde diese Sichtweise vor allem von Welzel bekämpft, indem er eine finale Handlungslehre entwickelte.33 Diese ist phänomenologisch28 Siehe v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 152. Behling verstand die Handlung als Vornahme einer Körperbewegung oder Nichtbewegung, getragen von einem entsprechenden Willen. 29 Gropp, AT, § 4, Rn. 32; Roxin, AT I, § 8, Rn. 12. 30 So auch die Kritik von Otto, GK AT, § 5, Rn. 34. 31 Von Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 152. 32 Das „Paradebeispiel“ in diesem Zusammenhang bildet die Beleidigung, die von Liszt, Strafrecht, S. 108 durch die Interpretation der Handlung als „Erregung von Luftschwingungen, welche beim Empfänger zu entsprechenden Stoffwechselveränderungen im Nervensystem führen“ zu erfassen suchte. Krit. demgegenüber Roxin, AT I, § 8, Rn. 15: „. . . klingt (. . .) lächerlich und ist es auch.“

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ontologisch geprägt und erachtet das vom Willen gesteuerte zweckgerichtete Verhalten als das maßgebende Moment einer Handlung im strafrechtlichen Sinne. Wie die kausale scheitert indes auch die finale Handlungslehre auf dem Gebiet der Unterlassungen letztlich am Kausalitätskriterium. Wenn es an einer Ursächlichkeit im naturwissenschaftlichen Sinne mangelt, dann ist auch kein „planmäßiges Lenken“ des Handlungsverlaufs denkbar, sodass eine Finalität stets zu verneinen ist.34 (b) Das „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns Anders als die kausale Handlungslehre haben einige Vertreter der finalen Sichtweise35 das Problem nicht durch eine Modifikation ihres Handlungsbegriffs zu ändern gesucht. Vielmehr sahen sie das Unterlassungsdelikt als selbständige Erscheinungsform der Straftat an, für die das im Jahr 1959 von Armin Kaufmann entwickelte „Umkehrprinzip“36 gelten sollte.37 Nach diesem stehen sich Tun und Unterlassen im Verhältnis von A+a und A+non a gegenüber, wobei A die handlungsfähige Person und a die Handlungsrealisierung symbolisiert. Die Regeln des Allgemeinen Teil des StGB sollen demnach quasi „unter umgekehrten Vorzeichen“ Anwendung auf die unechten Unterlassungsdelikte finden. Aus dieser Grundüberlegung zieht Kaufmann Schlussfolgerungen zu zahlreichen Aspekten der unechten Omissionen.38 (3) Soziale Handlungslehre Die soziale Handlungslehre verfolgt im Gegensatz zur finalen Handlungslehre einen normativ orientierten Ansatz. Sie wurde zwar bereits vor dem Erstarken des Finalismus entwickelt, gewann jedoch erst in jüngerer Zeit an Be33

Welzel, Strafrecht, S. 33 ff. Vgl. auch die Kritik bei Jescheck/Weigend, AT, § 23 III 2b; Otto, GK AT, § 5, Rn. 35. 35 Roxin, AT II, § 31, Rn. 184 bezeichnet diese Ansicht im Zusammenhang mit der Frage nach der Existenz eines Unterlassungsvorsatzes als „orthodox-finalistische Lehre“. 36 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 87 ff.; zust. Welzel, Strafrecht, S. 203. Kaufmann bezog sich hierbei auf die Formel Radbruchs, der Tun und Unterlassen als a und nona einordnete (s. Radbruch, Handlungsbegriff, S. 140). Zu weiteren Umschreibungen der Radbruch’schen Formel siehe Androulakis, Studien, S. 44. 37 Armin Kaufmann geht dabei – wie bereits erörtert (s. o. Teil 2 A. I. 1.) – von der Prämisse aus, dass es sich bei den unechten Unterlassungsdelikten um „echte Fälle“ der Unterlassung handelt. 38 Näher dazu bei den einzelnen Prüfungspunkten des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts. 34

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deutung. Ihre Vertreter, grundlegend in diesem Zusammenhang Eberhard Schmidt 39, meinen im Begriff des Sozialen ein maßgebliches Moment des strafrechtlichen Handlungsbegriffs auszumachen.40 Einerseits wird der Vorteil dieser Betrachtungsweise in ihrer Weite gesehen. Sie vermag sämtliche Erscheinungsformen des Unrechts zu erfassen (insbesondere den Versuch und die Fahrlässigkeit) und erfüllt somit die Grundfunktion eines Handlungsbegriffs.41 Hierin wird jedoch zugleich auch ihre wesentliche Schwäche vermutet: In ihrer Konturenlosigkeit. Durch den Anknüpfungspunkt im Sozialen rücken nämlich auch die sogenannten Nicht-Handlungen wieder in den Fokus, sodass es an einem abgrenzenden Element dieses Handlungsbegriffs mangelt.42 (4) Negative Handlungslehre An einer anderen Stelle hat die von Herzberg begründete negative Handlungslehre angesetzt.43 Sie sieht in dem Nicht-Vermeiden des tatbestandlichen Erfolgs trotz Vermeiden-Könnens in Garantenstellung das maßgebende Moment.44 Mittels dieser Definition scheinen Tun und Unterlassen problemlos mit einem einzigen Satz beschreibbar. Indes erfüllt der negative Handlungsbegriff nur auf den ersten Blick eine derartige Verbindungsfunktion. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Dogmen des Unterlassungsdelikts nicht ohne weiteres auf das Begehungsdelikt übertragbar sind, sodass im Ergebnis die einheitliche Definition des Handlungsbegriffs doch nicht durchgehalten werden kann.45

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Eb. Schmidt, JZ 1956, 188 ff. Zu weiteren Vertretern und deren Auffassungen vgl. Donatsch, Sorgfaltsbemessung, S. 9 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 23 VI 1; Wessels/Beulke, Rn. 91 – letztere schließen sich diesen in Rn. 93a an. 41 Gropp, AT, § 4, Rn. 58. 42 Dies erkennen auch Wessels/Beulke, Rn. 93: Sie sehen angesichts des fragmentarischen Charakters des Strafrechts jedoch hierin gerade keinen Mangel. 43 Herzberg, Garantenprinzip, S. 174 ff., von ihm selbst relativiert in GA 1996, 10, Fn. 18: „Obwohl ich im Kern daran festhalte, beurteile ich heute die Formel als missglückt.“ Für einen negativen Handlungsbegriff Behrendt, Unterlassung, S. 121 ff.; vgl. zudem Jakobs, 7/58, der auf dem Gebiet der Begehungs-Erfolgsdelikte eine Garantenstellung fordert. 44 Herzberg, Garantenprinzip, S. 177. 45 Jescheck/Weigend, AT, § 23 IV; Roxin, AT I, § 8, Rn. 37; Wessels/Beulke, Rn. 87 („verfehlt (. . .) die im Gesetz angelegte Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsstraftaten.“); krit. auch Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 136 ff., sowie Arzt, JA 1980, 555, der meint, Herzbergs Ansicht erschöpfe sich in Gemeinplätzen und beinhalte keine Begrenzungsfunktion. 40

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Roxin konstatiert jedoch, dass die Aussagen Herzbergs im Rahmen der Zurechnung Gewicht erlangen.46 (5) Personale Handlungslehre Roxin selbst erachtet auf der Grundlage der von ihm entwickelten personalen Handlungslehre jedwede Persönlichkeitsäußerung als Handeln.47 Damit gelingt es ihm, nicht beherrschbare Geschehensabläufe auszugrenzen und zugleich sämtliche Erscheinungsformen strafrechtlichen Verhaltens zu erfassen48, also Grund- und Verbindungselement zu vereinen. Seiner Ansicht wird jedoch – hierin stimmt der Ansatz mit der sozialen Handlungslehre überein – eine gewisse Konturenlosigkeit attestiert, da eine Persönlichkeitsäußerung nicht zwingend strafrechtlichen Charakter besitzen müsse.49 (6) Fazit Sämtliche Handlungslehren lassen sich – kurzgefasst und ungeachtet ihrer mannigfaltigen Nuancierungen – auf zwei diametral entgegengesetzte Hauptströmungen zurückführen: Während die eine Strömung an vorrechtliche Gegebenheiten wie die naturwissenschaftliche Verursachung oder ontologische Greifbarkeit anknüpft, orientiert sich die andere an Wertungsgesichtspunkten. Eben dieses Meinungsspektrum spiegelt sich auch auf dem Gebiet der Unterlassungsdelikte wider. Die Autoren, die ihre Definition strafrechtlich relevanten Handelns nicht von naturwissenschaftlichen Prämissen, sondern von normativen Gesichtspunkten abhängig machen,50 sind durchaus in der Lage, die auf dem Gebiet der Begehungsdelikte entwickelten Rechtsfiguren auf das Unterlassungsdelikt anzuwenden, während die Gegenansichten Ausnahmen konstruieren müssen.

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Roxin, AT I, § 8, Rn. 39. Roxin, AT I, § 8, Rn. 44 f.; ähnlich SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 18. 48 Roxin, AT I, § 8, Rn. 47. 49 Vgl. Gropp, AT, § 4, Rn. 73, der als Beispiel u. a. den Roman eines Schriftstellers anführt; krit. auch Jescheck/Weigend, AT, § 23 V, die speziell im Hinblick auf die fahrlässige Unterlassung Zweifel äußern; gegen dieses Argument Roxin, Lampe-FS, S. 429 f., der den Begriff an den kriminalpolitischen Vorgaben des Gesetzgebers orientieren will. 50 Wie Freund in MüKo, StGB, Bd. I, Vor §§ 13 ff., Rn. 13 zutreffend konstatiert, lassen sich die jüngeren Handlungslehren kaum mehr auf einen einheitlichen Begriff zurückführen. 47

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Zwar werden heutzutage zunehmend die normativ orientierten Theorien vertreten, sodass man auf den ersten Blick meinen könnte, die rechtsdogmatischen Streitigkeiten seien nur rechtshistorischer Natur. Im Rahmen der Diskussion des unechten Unterlassungsdelikts finden sich dennoch häufig Reminiszenzen an die früher vorherrschenden Handlungslehren,51 so zum Beispiel bei der Frage nach der Existenz einer Unterlassungskausalität oder eines Unterlassungsvorsatzes sowie bei der Frage, inwiefern die Kenntnis der Gefahrensituation für die physisch-reale Möglichkeit der Handlung vonnöten ist. b) Auswirkungen der einzelnen Handlungslehren auf die Fahrlässigkeit Die gerade vorgestellten Handlungslehren zeitigen jedoch nicht nur Wirkungen auf das dogmatische Verständnis der Unterlassungsdelikte; vielmehr üben sie bis in die Gegenwart einen beherrschenden Einfluss auch auf die Verbrechenslehre52 und damit zugleich auf das Verständnis der hier relevanten Fahrlässigkeitsdelikte aus. (1) Einfluss der kausalen Handlungslehre Für die erfolgsorientierte kausale Handlungslehre spielte bei der Unterscheidung, ob ein Täter den Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hat, letzteres lediglich als minderschwere Begehungsform im Rahmen der Schuld eine Rolle.53 (2) Auswirkungen der finalen Handlungslehre Im Gegensatz dazu gewann die Unterscheidung bei der finalen Handlungslehre wegen des Erfordernisses eines willensgetragenen Verhaltens bereits im Unrechtstatbestand an Bedeutung – fehlt es doch an einem solchen bei fahrlässiger Deliktsverwirklichung.54

51

So auch die Einschätzung von Roxin, Lampe-FS, S. 423. Wessels/Beulke, Rn. 102; vgl. auch den Überblick über die Lehren von der Straftat bei Rn. 812 ff. 53 Siehe von Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 256; krit. hierzu Hirsch, Lampe-FS, S. 517 („. . . rückblickend wundert man sich, wie eine solche Auffassung sich überhaupt so lange halten konnte.“); Jescheck/Weigend, AT, § 22 II 2; Kudlich, PdW, S. 136. 54 Zu Recht weist jedoch Roxin, AT I, § 10, Rn. 67 darauf in, dass der finale Handlungsbegriff selbst noch nichts über die Tatbestandserfüllung und das Vorliegen eines entsprechenden Vorsatzes aussagt. 52

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Uneinigkeit herrschte anfangs allerdings darüber, ob es die finale Handlungslehre überhaupt vermochte, auch das fahrlässige Verhalten begrifflich zu erfassen. (a) Potentielle Finalität Zunächst meinte Welzel, noch unter dem Einfluss der kausalen Handlungslehre stehend,55 dass im Rahmen der Fahrlässigkeit lediglich von einer „potentielle(n) Finalität“56 ausgegangen werden könnte, die darin bestehen soll, dass der Täter den Erfolg zwar „blindkausal“ verursacht habe, diesen aber durch eine mögliche Zwecktätigkeit hätte vermeiden können.57 (b) Tatsächliche Finalität Dem trat Niese entgegen. Seiner Ansicht nach ist die Fahrlässigkeit bereits begrifflich mit „echter“ Finalität zu vereinbaren.58 Niese geht von der Prämisse aus, Vorsatz stelle „rechtlich relevante“ Finalität dar. Die beiden Termini seien jedoch nicht identisch, sondern ersterer sei ein Unterbegriff des letztgenannten.59 Auf dem Gebiet der Fahrlässigkeit beziehe sich die Finalität nicht auf eine rechtlich relevante Handlung, sie sei jedoch vorhanden. Niese definiert also die Fahrlässigkeit als finale Handlung, bei der zugleich normativ auf die Nichterfüllung der an die Handlung geknüpften, sorgfaltsbezogenen Zulässigkeitsbedingungen abgestellt wird.60 Dem hat sich Welzel in der Folge angeschlossen.61 55

Und damit noch ausgehend von einem einheitlichen Unrechtstatbestand. Welzel, Lb (1949), S. 23. 57 Welzel, Strafrecht (1949), a. a. O.: „Das Geschehen ist nicht, wie bei der vorsätzlichen Tötung, auf den Tod hin zielgerichtet, sondern blindkausal. Aber von einem reinen Naturvorgang unterscheidet es sich dadurch, dass es durch die mögliche Zwecktätigkeit ihres Urhebers vermeidbar war.“ Hierzu krit. Hirsch, Lampe-FS, S. 517: „. . . Irrweg (. . .) nur eine Verlegenheitskonstruktion in den Anfängen des Finalismus“. Hirsch weist auf S. 518 a. a. O. nach, dass dadurch die Fahrlässigkeits- sachwidrig in Unterlassungsdelikte umgewandelt würden. 58 Niese, Finalität, S. 43: „Finalität ist ein Seinssachverhalt, der entweder „ist“ oder „nicht ist“ (. . .). Deshalb ist auch mögliche Finalität keine Finalität, und in der Aussage, jemand hätte einen Erfolg durch Zwecktätigkeit vermeiden können, liegt die Feststellung, dass er tatsächlich weder auf die Herbeiführung noch auf die Vermeidung dieses Erfolgs hin zwecktätig, final gehandelt hat.“ (Hervorhebungen im Original). 59 Niese, Finalität, S. 53 f. 60 Niese, Finalität, S. 63. Krit. dazu Struensee, JZ 1987, 55, der meint, Niese habe damit „. . . ohne es zu bemerken, den methodischen Ansatz der finalen Handlungslehre preisgegeben.“ sowie Jakobs, 9/8, Fn. 12. 61 Welzel, Strafrecht, S. 130. Zu weiteren Ansätzen, die Finalität mit der Fahrlässigkeit zu harmonisieren, umfassend Struensee, JZ 1987, 56 f. 56

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(c) „Personale Unrechtslehre“ Welzel war es auch, der aus dem finalen Handlungsbegriff die „personale Unrechtslehre“ entwickelte.62 Diese unterscheidet bereits im objektiven Unrechtstatbestand zwischen der vorsätzlichen und der fahrlässigen Begehungsweise und definiert das tatbestandliche Unrecht beim Fahrlässigkeitsdelikt als Verstoß gegen Sorgfaltspflichten. Durch diese Einordnung des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit wurden zahlreiche, noch heute nicht vollständig geklärte Fragen herbeigeführt. Als Beispiel mag diejenige dienen, ob die von der wohl herrschenden Ansicht angenommene Bedeutung der individuellen Motivationslange für den Vorsatz bereits im Tatbestand bewirkt, dass auch bei der Fahrlässigkeit schon auf dieser Zurechnungsebene die Sorgfaltswidrigkeit an dem individuellen Können zu messen ist.63 (3) Prämissen der sozialen Handlungslehre Die Vertreter der sozialen Handlungslehren verfolgen keinen einheitlichen Kurs. Zum Teil haben sich ihre Anhänger dem sogenannten teleologischen System angeschlossen, das dem Vorsatz wie der Fahrlässigkeit einen janusköpfigen Charakter beimisst und die Rechtsinstitute sowohl auf der Ebene des Tatbestands als auch auf der Ebene der Schuld prüft.64 (4) Auffassung Roxins65 Roxin verfährt der Sache nach ähnlich, er knüpft jedoch als Mitbegründer der heutigen Lehre von der objektiven Zurechnung66 insofern wieder an die kausale Handlungslehre an, als er den Aufbau des vorsätzlichen wie auch des fahrlässigen Delikts für grundsätzlich identisch erachtet. In beiden Fällen könne dann von der Verwirklichung des Unrechtstatbestands gesprochen werden, wenn der Täter die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten habe.67 62 Welzel, Strafrecht, S. 62; vgl. dazu Otto, GK AT, § 7, Rn. 49; Roxin, AT I, § 10, Rn. 89 f. 63 Vgl. hierzu den Überblick bei Hirsch, Lampe-FS, S. 524. 64 Siehe z. B. Wessels/Beulke, Rn. 657, 817. 65 Zu seinem an normativen kriminalpolitischen Leitmotiven orientierten Strafrechtssystem siehe jüngst Roxin, Lampe-FS, S. 427 ff. 66 Vgl. grundlegend Honig, Frank-FS, S. 174 ff. sowie Roxin, Honig-FS, S. 133 ff.; ders., AT I, § 11, Rn. 39 ff. 67 Roxin, AT I, § 11, Rn. 44, § 24, Rn. 10 ff.; krit. hierzu Hirsch, Lampe-FS, S. 518: „. . . begnügt sich bei beiden Deliktsarten damit, auf die Kausalität weitere Erfordernisse katalogartig aufzupfropfen“; Hirsch moniert überdies, dass hierdurch der mögliche Tatzeitpunkt vorsätzlicher Delikte verschoben werden könnte.

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(5) Fazit Sowohl das Verständnis des Handlungsbegriffs als auch die davon beeinflussten Verbrechenslehren wirken sich wesentlich auf den Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts und die inhaltlichen Anforderungen aus, die an den Fahrlässigkeitsbegriff selbst gestellt werden. Zwar wenden heutzutage auch Autoren die personale Unrechtslehre an, welche die finale Handlungslehre ablehnen. Trotz dieser Annäherung bleibt es jedoch fraglich, wie der Verbrechensbegriff an bestimmten Punkten zu konkretisieren ist. Um es mit Jescheck/Weigend zu sagen, bestehen Unklarheiten unter anderem „. . . bei der Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit, bei den Kriterien für die Vermeidbarkeit des Gebotsirrtums, bei den Maßstäben der Sorgfaltspflichtverletzung und der persönlichen Zurechnung im Rahmen der Fahrlässigkeit, bei den Garantenpflichten und der Gleichstellungsklausel im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte . . .“.68 c) Auswirkungen der Handlungs- und Verbrechenslehren auf die fahrlässigen Unterlassungsdelikte (1) Crux fahrlässigen Unterlassens Die Verbindung der Unterlassungsproblematik mit dem schwierigen Bereich der Fahrlässigkeit potenziert die bereits angedeuteten Probleme. (a) Verwandtschaft von Fahrlässigkeit und Unterlassung? Auf den ersten Blick sind hier Überschneidungen denkbar, da sich beide Rechtsfiguren mit einer enttäuschten Handlungserwartung zu befassen scheinen. Aus diesem Grund wurde früher69 und wird vereinzelt sogar noch heute70 eine Verwandtschaft von Unterlassen und Fahrlässigkeit angenommen. Wie jedoch Jakobs instruktiv ausführt, ist dem Täter beim fahrlässigen Begehungsdelikt nicht vorzuwerfen, dass er die gebotene Sorgfalt unterlassen habe, denn der Täter hat überhaupt nicht sorgfältig zu handeln, sondern ein unsorgfältiges Verhalten zu unterlassen.71 68 Jescheck/Weigend, AT, § 22 VI 5. Sie folgern daraus, es könne keine Verbrechenslehre geben, „. . . die mehr sein kann, als ein vergänglicher Entwurf“. 69 Siehe dazu die umfassenden Nachweise bei Binavince, Momente, S. 37 ff. sowie Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 167 f. 70 Stratenwerth, Jescheck-FS, S. 290 ff.; Maiwald, JuS 1981, 479; Röhl, JA 1999, 900 f.

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(b) Geschichtliche Entwicklung Die vorliegende Arbeit behandelt bei näherer Betrachtung eine Gemengelage von zwei zu trennenden Problemfeldern, die im übrigen auch in ihrer historischen Entwicklung nur sehr wenige Berührungspunkte aufweisen.72 Während die moderne Fahrlässigkeitsdogmatik an den Begehungsdelikten ausgebildet wurde, wurden Aufbaufragen des unechten Unterlassungsdelikts vornehmlich anhand vorsätzlicher Omissionen untersucht.73 Auch weisen beide Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens eine gegenüber den vorsätzlichen Begehungsdelikten relativ junge Geschichte auf. Zwar waren Regelungen zur strafrechtlichen Handlungspflicht in bestimmten Fällen74 sowie zu einzelnen Fahrlässigkeitstatbeständen75 bereits in der Constitutio Criminalis Carolina enthalten. Indes ging die Rechtsordnung noch lange Zeit grundsätzlich davon aus, dass nur ein aktives Tun unerwünscht sei76, und dass die Tat in aller Regel vorsätzlich begangen werde.77 Die Frage nach einer fahrlässigen Verwirklichung von Straftaten durch Unterlassen entfaltete erst im Lauf der Industrialisierung und der damit einhergehenden Automatisierung von Handlungsabläufen ihre heutige Bedeutung.78

71 Jakobs, 9/6; zust. Gropp, AT, § 12, Rn. 67; Hirsch, Lampe-FS, S. 518 (im Zusammenhang mit der Kritik an der Lehre von der „potentiellen Finalität“ im Rahmen der Fahrlässigkeit; s. dazu oben Teil 2 II. 1. b) (2) (a)); vgl. auch Roxin, AT I, § 24, Rn. 34: „. . . wer etwas nicht kann, muss es lassen.“ Gegen eine Identität von Fahrlässigkeit und Unterlassung auch Binvavince, Momente, S. 41 ff. ( S. 48 a. a. O.: „Das „Unterlassungsmoment“ der Fahrlässigkeit ist die „Nicht-Einhaltung“ der Sorgfalt, die man nicht als „Unterlassung“ bezeichnen kann, da die Sorgfalt nicht als „Handlung“ bezeichnet werden kann.“). 72 Informativ in diesem Zusammenhang Androulakis, Studien, S. 133 f., der darlegt, dass die auf den ersten Blick bestehende etymologische Verwandtschaft zwischen den Begriffen Fahrlässigkeit und Unterlassen (Gemeinsamkeit: „etwas lassen“) bei näherer Betrachtung nicht haltbar ist, da Fahrlässigkeit vom mittelhochdeutschen warlôs (= achtlos, unaufmerksam), nicht jedoch von „fahren lassen“ abstammt. (Allerdings ist die Herleitung des Begriffs der Fahrlässigkeit nicht unumstritten, s. dazu den Überblick bei MüKo-Duttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 38 ff.; ders., Kohlmann-FS, S. 26 f. m.w. N.). 73 Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 3 f.; Struensee, JZ 1977, 217. 74 Vgl. hierzu D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 13 f.; Schünemann, ZStW 96 (1984), 288. 75 Instruktiv in diesem Zusammenhang der geschichtliche Überblick bei MüKoDuttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 42 ff.; speziell zur Constitutio Criminalis Carolina siehe Rn. 49 a. a. O. Ausführlich zum Ganzen Binding, Die Normen, Bd. IV, S. 8 ff. 76 Siehe Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 26; Jescheck/Weigend, AT, § 58 I 2. 77 Bildhaft in diesem Zusammenhang Binding, Die Normen, Bd. IV, S. 328: „. . . Jagd nach dem Vorsatz in der Fahrlässigkeit“. 78 Zur kriminalpolitischen Bedeutung siehe MüKo-Duttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 1 ff. sowie Gropp, AT, § 12, Rn. 1 ff. Schünemann, JA 1975, 435 meint gar, die

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(2) Konkrete Auswirkungen Spezifische Probleme ergeben sich zum Beispiel bei der Frage, in welchen Konstellationen wegen des bei der Fahrlässigkeit stets nachweisbaren Unterlassungsmoments letztlich ein Unterlassungsdelikt anzunehmen ist und ob die Verletzung der Garantenpflicht die Sorgfaltspflichtverletzung indiziert. Bei der Behandlung scheinbarer Spezialprobleme ist darauf zu achten, dass diese teilweise den Bereich der Strafbarkeit insgesamt beeinflussen können. Als Beispiel mag die Frage dienen, inwieweit es für die individuelle Handlungsfähigkeit beim Unterlassungsdelikt auf eine Wissenskomponente ankommt. Stellt man hier große Anforderungen, dann schränkt man zugleich die Möglichkeiten der Fahrlässigkeit beim Unterlassen ein.79 d) Fazit Die nachfolgende Darstellung verfolgt maßgeblich das Anliegen, diejenigen Probleme, die gewöhnlich im Rahmen der Betrachtung des Verhaltens von Jugendamtsmitarbeitern eine entscheidende Rolle spielen, von nur peripheren Problemen freizuhalten. Entscheidend sind die Frage nach der Existenz einer Garantenstellung, die nach dem anzuwendenden Sorgfaltsmaßstab (und dabei insbesondere die Reich-

Fahrlässigkeitsdelikte seien lange Zeit „Stiefkinder der Strafrechtsdogmatik“ gewesen und hätten sich mittlerweile zu deren „Lieblingskindern“ entwickelt. 79 Speziell im Hinblick auf die Unterlassungsfahrlässigkeit hat Armin Kaufmann (Dogmatik, S. 169 ff.) mittels seines „Umkehrprinzips“ hergeleitet, dass dem fahrlässigen Begehungsdelikt, also dem Handeln in Unkenntnis der bewirkten Umstände auf der Unterlassensseite der Gebotserfüllungsversuch gegenüberzustellen sei. Haffke (ZStW 87 (1975) 49 ff.) lehnt diese Anwendung des „Umkehrprinzips“ ab. Er meint, dem fahrlässigen Begehungsdelikt, welches als Unwille zur Herbeiführung des verbotenen Erfolgs zu charakterisieren sei, entspreche spiegelbildlich der Fall, in dem der Täter es unterlassen habe, etwas zu wollen. Kaufmann irre jedoch, wenn er dieses Spiegelbild mit „der Täter will etwas“ übersetzt. Gegen diese Kritik wiederum hat sich Struensee (JZ 1977, 220) gestellt. Er wirft Haffke selbst eine fehlerhafte Handhabung des „Umkehrprinzips“ vor. Nicht sei die Unkenntnis in Kenntnis umzuwandeln, sondern eine durch Unkenntnis geprägte Handlung sei durch das Unterlassen einer durch Unkenntnis charakterisierten Handlung zu ersetzen. Struensee (JZ 1977, 220 f.) stimmt jedoch auch Armin Kaufmann in dessen Ableitungen nicht zu. Seiner Ansicht nach kann das „Umkehrprinzip“ nur zu einer Unterlassung, niemals aber zur Vornahme einer Handlung führen. Diese spezielle Kontroverse, die lediglich exemplarisch angeführt wurde und an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden soll, zeigt bereits, dass das „Umkehrprinzip“ zur Lösung spezieller Rechtsfragen kaum praktikable Antworten anzubieten vermag. Es ist daher im Ergebnis zu begrüßen, dass sich Kaufmanns Lehre bis heute nicht hat durchsetzen können (ebenso Eb. Schmidt, JZ 1956, 188 ff.).

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weite der Prüfungskompetenzen des Strafgerichts) sowie die nach der Ermittlung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. 2. Tatbestandsmäßigkeit Der Tatbestand des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts beinhaltet neben der Untätigkeit ungeachtet der physisch-realen Handlungsmöglichkeit die Zurechenbarkeit des eingetretenen Erfolgs, die Existenz einer Garantenstellung sowie die objektive Fahrlässigkeit des Täters, welche zu einem objektiv vorherseh- und vermeidbaren Taterfolg geführt hat.80 a) Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz physisch-realer Möglichkeit (1) Abgrenzung von Tun und Unterlassen (a) Allgemeines Während der Fall, in dem eine Mutter ihr eigenes Kind verhungern und verdursten lässt, in zahlreichen Veröffentlichungen als „Paradebeispiel“ für eine Unterlassungshandlung aufgeführt wird81, schweigt die Literatur zum Verhalten eines für die Familie zuständigen Sozialarbeiters. Geht man vom natürlichen Wortsinn des Begriffs Unterlassen aus, so scheinen Fälle von Kindesschädigung trotz jugendamtlicher Betreuung der Familie auf den ersten Blick eindeutig als ein Unterlassen zu charakterisieren zu sein. Schließlich hat es der Mitarbeiter des Jugendamts versäumt, das Kind vor Gefahren für sein Wohl zu schützen, obwohl ihm das durch § 1 Abs. 3 S. 3 SGB VIII – und nunmehr auch § 8a SGB VIII – zur Aufgabe gemacht wird.

80 Die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen wird nicht einheitlich gehandhabt. So will z. B. Arzt, JA 1980, 554 die Garantenstellung noch vor der Frage der Kausalität betrachten. Im folgenden soll dem Aufbaumuster bei Wessels/Beulke, Rn. 877 (dem entspricht das Schema bei Jäger, Rn. 374) gefolgt werden. Es wird vorliegend jedoch insoweit davon abgewichen, als der Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht bereits bei der objektiven Zurechnung, sondern im Rahmen der Fahrlässigkeit behandelt wird, da erst zu diesem Zeitpunkt geklärt sein wird, was genau der Strafrichter dem Sozialarbeiter vorzuwerfen vermag, wie groß also der Prüfungsumfang der Judikative gegenüber Akten der Exekutive ist. 81 Siehe z. B. Androulakis, Studien, S. 16; Casabona in: Spanisch-Deutsches Symposium, S. 95; Ebert, AT, S. 173; Otto, GK AT, § 9, Rn. 16 f.; Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 12; Wessels/Beulke, Rn. 697 und Maiwald, JuS 1981, 474; zu dessen historischer Bedeutung im Zusammenhang mit dem Rücktritt vom Versuch s. Küper, ZStW 112 (2000), 12, Fn. 37.

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Bei völliger Untätigkeit der Mitarbeiter öffentlicher Träger ist dem nichts entgegenzusetzen. Zweifel an der eindeutigen Einordnung als Unterlassen ergeben sich indes in der – typischen – Situation, in welcher der Sozialarbeiter zwar diverse Hilfsmaßnahmen initiiert hat, diese jedoch im Ergebnis nicht den gewünschten Erfolg (namentlich die Stabilisierung der familiären Verhältnisse als mittelbare Form des Kindesschutzes) zu erzielen vermochten.82 Ist in derartigen Fällen auf das im Ergebnis unzureichende Tun oder auf das Unterlassen des effektiven Schutzes für das Kind abzustellen? In der strafrechtlichen Literatur wird bereits seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert, auf welche Weise eine rechtlich einleuchtende Abgrenzung von Tun und Unterlassen bei solch ambivalenten Verhaltensweisen83 im Rahmen der Fahrlässigkeit zu treffen ist.84 Es handelt sich hierbei nicht um ein Spezialproblem der Kinder- und Jugendhilfe. Die Qualität des Täterverhaltens und die vorab schon angesprochene Frage der Abgrenzung des echten vom unechten Unterlassungsdelikt entscheiden vielmehr darüber, ob nach § 13 StGB eine Garantenstellung erforderlich ist, um die Strafbarkeit zu begründen. Für Unterlassungsstraftaten sieht § 13 Abs. 2 StGB zudem fakultativ eine Strafmilderung vor. Es werden also durch die Qualifizierung des Verhaltens auch die Rechtsfolgen der Tat beeinflusst. Die zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen vertretenen Einzelmeinungen sind heutzutage kaum mehr überschaubar, und eine Darstellung aller würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.85 Sie lassen sich jedoch auf die bereits im Rahmen der Vorbemerkung hingewiesenen zwei Hauptströmungen zurückführen. Während eine Gruppe in der Literatur einer naturwissenschaftlichen, das heißt kausalen Betrachtungsweise folgt bzw. ontologisch mit dem Erfordernis des Energieeinsatzes argumentiert, beziehen die Gegenauffassungen Wertungsaspekte in ihre Entscheidung mit ein. 82 Ein Beispiel hierfür bildet der Fall „Laura Jane“ (s. dazu oben Teil 1 A. I.), in dem die Jugendamtsmitarbeiterin eine sozialpädagogische Familienhelferin engagierte, es aber versäumte, dieser die Aufgabe zu übertragen, bei dem Baby eine ausgiebige Körperpflege zu betreiben und eine Meldepflicht bei Unregelmäßigkeiten zu vereinbaren. 83 Krit. zu diesem Begriff Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 26; Röhl, JA 1999, 898. 84 „Fallklassiker“, die in nahezu jeder Abhandlung zu diesem Themenkomplex auftauchen, sind u. a. der „Apothekerfall“ (RGSt 15, 151), der „Ziegenhaarfall“ (RGSt 63, 211), der „Radleuchtenfall“ (RGSt 63, 292) sowie der „Radfahrerfall“ (BGHSt 11, 1). In letzter Zeit stehen z. B. der „Herdplattenfall“ (BGH NStZ 1999, 607) sowie BGH NStZ 2003, 657 („Hepatitisfall“) im Mittelpunkt der Diskussion. Zu weiteren Konstellationen, in denen Abgrenzungsprobleme erwachsen können (z. B. Ingerenz und sogenannte Begleithandlungen), Walter, ZStW 116 (2004), 559 f. 85 Zu weiteren – vereinzelt gebliebenen Mindermeinungen – siehe die Nachweise bei Brammsen, GA 2002, 195, Fn. 12.

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(aa) Naturalistisch-ontologische Betrachtungsweise Die Anhänger der naturalistisch-ontologischen Betrachtungsweise fragen entweder danach, welches Verhalten letztlich kausal geworden ist86 bzw. danach, ob ein Energieeinsatz in eine bestimmte Richtung erfolgt ist, der den Taterfolg hervorgerufen hat.87 Teilweise werden beide Ansätze kombiniert.88 Problematisch ist am Kriterium des Energieeinsatzes insbesondere, dass es sich bei den Zweifelsfällen gerade um ein solches Verhalten handelt, das mehreren Deutungsmöglichkeiten offen steht89, durch das also unter Umständen Energie in mehrere Richtungen entfaltet wurde. So ist z. B. in dem berühmten „Radfahrerfall“90 unklar, ob für die Beurteilung des Verhaltens daran angeknüpft werden muss, dass ohne Licht gefahren wurde (dann Tun) oder dass keine Beleuchtung angebracht wurde (dann Unterlassen).91 Außerdem wird durch Spezialfragen, zum Beispiel ob für einen Energieeinsatz auch bereits die bloße körperliche Existenz genügt,92 sowie durch das bis heute nicht eindeutig definierte Merkmal „in bestimmter Richtung“ die als Vorteil gegenüber den normativen Theorien propagierte Klarheit der naturalis-

86 Sie beschränken sich dabei auf die Anwendung der sogenannten conditio-sinequa-non-Formel, die im Fall der Unterlassungsdelikte stets zur Feststellung fehlender Kausalität führt (vgl. dazu auch bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (1) bei von Liszt und der Ausdehnung seines Handlungsbegriffs). Grundlegend Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 61 ff. (vgl. S. 62: „Für die Kausalität des Unterlassenen ist der Unterlassende nicht kausal.“); i. d. S. auch Joecks, § 13, Rn. 15; MüKo-Freund, StGB, Bd. I, § 13, Rn. 8; Casabona in: Spanisch-Deutsches Symposium, S. 103 f.; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 42; Jäger, Rn. 333; Jescheck/Weigend, AT, § 58 II 2; Samson, Welzel-FS, S. 585 ff.; Röhl, JA 1999, 899; Stoffers, GA 1993, 264 ff.; ders., Formel, S. 106 ff. sowie das LG Osnabrück NStZ 1996, 438 (= ZfJ 1996, 526) im Fall „Laura Jane“: „Positives Tun der Angekl. hat den Todesfall nicht verursacht.“ Das AG Osnabrück hatte die Frage hingegen nicht thematisiert (s. den Urteilsabdruck bei Bringewat, Tod eines Kindes, S. 116 ff. = Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 54 ff.). 87 Engisch, Gallas-FS, S. 167 ff.; Güntge, Begehen, S. 21; Herzberg, Röhl-FS, S. 282; Roxin, AT II, § 31, Rn. 78; ders., Spinellis-FS, S. 949; ders., ZStW 74 (1962), 415; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 111 f.; Brammsen, GA 2002, 205; Duttge, JR 2004, 36 f.; Gössel, ZStW 96 (1984), 326 f., 330; Otto, Jura 2000, 549 f.; Otto/ Brammsen, Jura 1985, 531; Schlüchter, JuS 1976, 795. 88 SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 6; Otto, GK AT, § 9, Rn. 2; Sieber, JZ 1983, 434 f., 437. 89 So Jäger, Rn. 333. 90 BGHSt 11, 1. 91 In diesem Sinne Wessels/Beulke, Rn. 700. 92 Vgl. hierzu Herzberg, Röhl-FS, S. 282 m. zahlreichen Beispielen, der ein gewisses Maß an Aktivität fordert und die bloße körperliche Existenz nicht genügen lassen möchte. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Roxin, Spinellis-FS, S. 953 ff.; ders., AT II, § 31, Rn. 94 f., der einen geringeres Maß an Energieeinsatz fordert; vert. zum Ganzen Sieber, JZ 1983, 434 ff.

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tischen Betrachtungsweise letztlich doch verwässert.93 Das Problem bei der Orientierung am Kausalitätskriterium besteht schließlich darin, dass dieses in Fällen des Versuchs zum Teil nicht zu einer Abgrenzung führen kann.94 (bb) Normative Betrachtungsweise (a) „Schwerpunkttheorie“/sozialer Handlungssinn Die der normativen Betrachtungsweise zuzuordnenden Lehren meinen die Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt nicht anhand von rein äußerlichen Anhaltspunkten treffen zu können. Sie fragen nach dem sozialen Sinn eines Verhaltens95 oder versuchen herauszufinden, ob der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“96 beim Tun oder Unterlassen liegt. Diese Vorgehensweisen besitzen gegenüber den ontologisch orientierten Theorien den Vorteil, dass sie dem Rechtsgefühl widerstrebende Ergebnisse ohne dogmatische Rückausnahmen97 vermeiden können. Gleichzeitig wird ihnen dieser Umstand jedoch entgegengehalten, indem von der Gegenansicht moniert wird, dass sie das gewünschte Ergebnis bereits voraussetzen und sich damit eines Zirkelschlusses bedienen. Eine Wertung komme erst dann in Betracht, wenn die Strafbarkeit des Verhaltens festgelegt sei.98 Außerdem bleibe unklar, wonach sich der Schwerpunkt bemessen soll.99 Schließlich fehle es der „Schwerpunkttheorie“ an der nötigen Trennschärfe.100

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Kargl, GA 1999, 466; Ranft, JZ 1987, 860. So Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 70; Struensee, Stree/Wessels-FS, S. 142; Brammsen, GA 2002, 204. 95 Eb. Schmidt, Engisch-FS, S. 348 f. (zu der von ihm begründeten Handlungslehre siehe bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (3)). 96 Grundlegend Mezger, JZ 1958, 281; ebenso S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 158; Ebert, AT, S. 173; Hauf, AT, S. 65; Wessels/Beulke, Rn. 700; Laubenthal, JuS 1989, 828; Ranft, JZ 1987, 862; in diesem Sinne seit geraumer Zeit auch die obergerichtliche Rechtsprechung, vgl. BGHSt 6, 46, 59; 40, 257, 265; BGH NStZ 1999, 607 sowie BGH NStZ 2005, 447; OLG Saarbrücken NJW 1991, 3045; OLG Stuttgart wistra 2000, 392 f. 97 Wie zum Beispiel das Konstrukt „Unterlassen durch Tun“, das u. a. bei der Beurteilung einer aktiven Teilnahme an einem Unterlassungsdelikt oder beim Abschalten lebenserhaltender Geräte bei Komapatienten an Bedeutung gewinnt. Siehe zu dieser Rechtsfigur statt aller Roxin, AT II, § 31, Rn. 99 ff., der jedoch die Einführung der Schwerpunktformel „durch die Hintertür“ bestreitet. 98 SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 6; Otto, GK AT, § 9, Rn. 2; Roxin, AT II, § 31, Rn. 79; ders., Spinellis-FS, S. 949; ders., ZStW 74 (1962), 417 f.; Samson, Welzel-FS, S. 585; Gössel, ZStW 96 (1984), 325; Otto/Brammsen, Jura 1985, 531; vgl. auch Sieber, JZ 1983, 433, Fn. 31: „Tautologie“; ebenso Walter, ZStW 116 (2004), 566; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 108. 99 Jakobs, 28/4; Roxin, Spinellis-FS, S. 949 f.; ders., ZStW 74 (1962), 418. 94

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(b) „Konkurrenzlösung“101 Zum Teil wird eine Wertung erst dann für zulässig erachtet, wenn eine Prüfung beider Handlungsmodalitäten jeweils bezüglich Tatbestand und Beteiligungsform eine vergleichbare Tat ergeben hat, wenn also sowohl ein Tun als auch ein Unterlassen angenommen werden könnte. Auf den bereits erwähnten „Radfahrerfall“ bezogen, könnte sowohl auf ein Tun (die Fahrt ohne Licht) als auch auf ein Unterlassen (die unterbliebene Montage der Beleuchtungsanlage) abgestellt werden, weil beide Verhaltensweisen (quasi-)kausal für den eingetretenen Erfolg waren und in ihrem Unrechtsgehalt vergleichbar sind. Wenn dies festgestellt ist, soll, so die Ansicht, in einem zweiten Schritt in der Regel an das Tun angeknüpft werden.102 (cc) Stellungnahme Einer umfassenden Diskussion der mannigfaltigen Einzelmeinungen sowie einer Streitentscheidung bedarf es nur dann, wenn sich die einzelnen Ansichten im Hinblick auf Sozialarbeiter, die unzureichende Maßnahmen im Zusammenhang mit der Betreuung ergriffen haben, unterschiedlich auswirken. Das ist nicht der Fall. Die Ansicht, die einen Energieeinsatz in eine bestimmte Richtung fordert, muss zu dem Ergebnis kommen, dass eventuell ergriffene Hilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII in erster Linie auf die Erhaltung des Familienverbunds und lediglich indirekt auf einen Schutz vor Kindeswohlgefährdung gerichtet waren. Die Anhänger des Kausalitätskriteriums werden ebenfalls ein Unterlassen diagnostizieren, da allein das Hinwegdenken der getroffenen Maßnahmen die Kindeswohlschädigung nicht ungeschehen macht.103 Vielmehr hätten aktive Gegen100 Joecks, § 13, Rn. 15 („. . . viel zu diffus.“); Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 71; Herzberg, Röhl-FS, S. 275; Struensee, Stree/Wessels-FS, S. 138; Geppert, JK 4/04, StGB § 13/38. 101 Begriff nach Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 72 und Walter, ZStW 116 (2004), 568. 102 Grundlegend Jakobs, 28/4 (er geht nicht von einem generellen Vorrang des aktiven Tuns aus, sondern nennt Beispiele, in denen im Ergebnis das Unterlassen maßgebend sein soll); ebenso Walter, ZStW 116 (2004), 567; für einen Vorrang des Tuns aber Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 72 ff.; NK-Seelmann, § 13, Rn. 28; Baumann/ Weber/Mitsch, § 15, Rn. 27, Fn. 73 und wohl auch Gropp, AT, § 11, Rn. 62 sowie Puppe, AT2, § 45, Rn. 15 und Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 2. Nach Kienapfel/Höpfel, Z 28, Rn. 25 ist dies auch die herrschende Ansicht in Österreich. 103 Ähnlich die Bewertung des „Herdplattenfalls“ (BGH NJW 1999, 607) durch Puppe, AT2, § 46, Rn. 6 und Roxin, AT II, § 31, Rn. 89.

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maßnahmen ergriffen werden müssen, wie zum Beispiel die Anregung der Entziehung des Sorgerechts gegenüber dem Familiengericht.104 Dem muss auch die Lehre vom „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ folgen, weil es sich hier um eine recht eindeutig zu beantwortende Wertungsfrage handelt. Nicht der (zum Schutz des Kindes unzureichende) Versuch, die elterliche Erziehungskompetenz durch Hilfen zu stärken, ist vorwerfbar, sondern nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip geboten,105 obgleich der Sozialarbeiter einer Fehleinschätzung hinsichtlich der Geeignetheit der Hilfsmaßnahme unterliegt. Vielmehr betrifft der Vorwurf das Untätigbleiben, wenn ein auf den Schutz des Sozialarbeiters angewiesenes Kind ohne effektiven Schutz seiner „Täterfamilie“ ausgeliefert bleibt.106 Schließlich kommt auch die „Konkurrenzlösung“ zu keinem anderen Ergebnis, da die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen nicht kausal und damit nicht tatbestandsmäßig für die eingetretenen Schädigungen des Kindes wurden. Anders als bei der sonstigen Abgrenzungsdiskussion im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte, wo in der Regel mit Hinweis darauf, dass es sich bei dem Unterlassungsmoment um eine wesensnotwendige Modalität des Handlungsvollzugs handelt, ein aktives Tun angenommen wird107, betreffen die hier zu behandelnden Fahrlässigkeitsdelikte also in der Regel den Unterlassungsbereich. (b) Sonderproblem: Betreuungsabbruch108 Doch wie ist im besonderen Fall des Abbruchs von Rettungsbemühungen abzugrenzen? Hier kommt zunächst folgende Konstellation in Betracht: Ein Sozialarbeiter delegiert die Erbringung von Hilfen, zum Beispiel eine sozialpädagogische Familienhilfe, an Mitarbeiter eines freien Trägers. In der Folge

104 In diesem Sinne auch das AG Osnabrück (abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 54 ff.) im Fall „Laura Jane“. 105 Siehe dazu oben Teil 1 B. I. 2. a) (2) und D. I. 2. c) (1) (b) (aa) (g). 106 So auch Bringewat, Tod eines Kindes, S. 35, der jedoch (vgl. Fn. 58 a. a. O.) in „seltenen Ausnahmefällen“ eine Strafbarkeit wegen der tatsächlich ergriffenen Maßnahmen nicht ausschließen will, diese Ausnahmen aber ebenso wenig wie Kreutz, ZfF 2000, 202, Fn. 10 weiter konkretisiert; kryptisch auch Busch, UJ 2002, 85: „. . . Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs gegenüber der Fachkraft oftmals ein Unterlassen . . .“ (Hervorhebung nicht im Original). 107 Siehe hierzu Androulakis, Studien, S. 134 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 58 II 2; Wessels/Beulke, Rn. 700. 108 Bei Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 107, firmiert dieses Rechtsproblem unter der Bezeichnung „abgebrochener Gebotserfüllungsversuch“. Herzberg, Röhl-FS, S. 278 nennt es die „Beseitigung selbst gesetzter Umstände“ und Walter, ZStW 116 (2004), 560 das „Abbrechen rettender Kausalverläufe“.

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weist er diesen an – sei es wegen Geldmangels, unzutreffender Gefahrenprognose o. ä. –, die weitere Betreuung einzustellen.109 Ist in dem Fall an die im Ergebnis unzulängliche Hilfeleistung und damit per saldo an ein Unterlassen oder an das Vereiteln weiterer Hilfen und folglich an ein aktives Tun anzuknüpfen? Diese Frage wird in der Literatur kontrovers diskutiert. (aa) Eigene oder fremde Rettungsbemühungen? Vorrangig muss geklärt werden, ob sich das Verhalten als Unterbrechung fremder oder eigener Rettungsbemühungen darstellt. Während bei der erstgenannten Variante nämlich unstreitig ein Tun anzunehmen ist,110 ist dies bei der letztgenannten umstritten. Für die Annahme eines eigenen Gebotserfüllungsversuchs des Mitarbeiters des freien Trägers spricht zwar, dass dieser es ist, der unmittelbar mit der Familie zu tun hat und eventuelle Gefahrensituationen als erster sinnlich wahrnimmt. Indes handelt es sich bei dem Einsatz um die Erfüllung einer dem Jugendamtsmitarbeiter eigenen Aufgabe.111 Bildlich gesprochen, realisiert der Jugendamtsmitarbeiter diese lediglich durch fremde Hände, sodass bei wertender Betrachtung von einem eigenen Tun des Jugendamtsmitarbeiters auszugehen ist.112 Damit wird die Frage relevant, wann im Fall des Abbruchs eigener Rettungsbemühungen von einem Tun beziehungsweise Unterlassen auszugehen ist.

109 Eine vergleichbare Konstellation ist gegeben, wenn der Sozialarbeiter eine Hilfemaßnahme initiiert, in einem Computerprogramm (z. B. einem solchen, wie es das DJI als eines der Ergebnisse seines Projekts „Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)“ (s. dazu näher o. Teil 1 VIII. 2. a)) entwickelt hat; siehe hierzu Blüml/Lillig, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 45) eine Wiedervorlage für ein bestimmtes Datum vorsieht, diese Erinnerung aber durch einen unbeabsichtigten Tastendruck entfernt. 110 Vgl. Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 79; Kudlich, PdW, S. 152 f.; Roxin, AT II, § 31, Rn. 114; Wessels/Beulke, Rn. 701, alle Autoren im Zusammenhang mit vorsätzlichem Handeln. Wie jedoch Kühl, AT, § 19, Rn. 1 ausführt, ist die Problematik ebenso beim fahrlässigen Delikt zu entscheiden. 111 Schließlich richtet sich das grundgesetzlich statuierte staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) lediglich an die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG; näher dazu oben Teil 1 B. III. 2. b)). 112 Anderer Ansicht LPK-SGB VIII-Papenheim, § 76, Rn. 1, der aus § 76 Abs. 1 SGB VIII ein argumentum e contrario folgert. Nur bei der Erfüllung „anderer Aufgaben“ sei eine Delegation überhaupt möglich.

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(bb) Tun oder Unterlassen? Die überwiegende Ansicht in der Literatur will bereits bei jeder Rückgängigmachung eines beendeten Gebotserfüllungsversuchs ein Begehungsdelikt annehmen.113 Dem halten Kritiker entgegen, dadurch würde der von Anfang an Untätige, der bei fehlender Garantenstellung lediglich nach § 323c StGB haftet, in nicht nachvollziehbarer Weise gegenüber dem Hin- und Herschwankenden privilegiert, der dann stets wegen des Begehungsdelikts zu bestrafen wäre. Nach der Gegenansicht soll daher ein aktives Tun erst dann vorliegen, wenn der rettende Kausalverlauf die „Sphäre des Opfers“ erreicht hat, der Gebotserfüllungsversuch also bereits in das Vollendungsstadium eingetreten ist.114 Im vorliegenden Fall zielt die Hilfegewährung darauf ab, die Familiensituation zu stabilisieren und eine Trennung von Eltern und Kind zu verhindern. Sofern der Mitarbeiter des freien Trägers jedoch Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung hat, wird er aufgrund seiner Verpflichtung aus dem Übernahmevertrag den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter informieren, der seinerseits (gegebenenfalls) das Familiengericht informiert115 und das Kind gegebenenfalls in Obhut nimmt. Der Jugendamtsmitarbeiter kann also zum Zeitpunkt der Delegation einer Hilfeerbringung auf Mitarbeiter freier Träger nicht mit letzter Sicherheit davon ausgehen, alles getan zu haben, um den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden, sondern er muss auch mit dem Scheitern rechnen. Damit liegt im Ergebnis ein unbeendeter Gebotserfüllungsversuch vor.116 Da beide Ansichten für die Qualifizierung des Behandlungsabbruchs als aktives Tun voraussetzen, dass der Abbruch zumindest das Stadium der Beendigung erreicht hat, ist im Hinblick auf die eingangs geschilderte Konstellation stets von einem Unterlassen auszugehen.

113 Samson, Welzel-FS, 579 ff.; Stoffers, JA 1992, 178; i. E. ebenso Herzberg, RöhlFS, S. 279 f. 114 Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 81 f.; S/S/Stree, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 160; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 108; Puppe, AT2, § 46, Rn. 11; Roxin, AT II, § 31, Rn. 110; ders., Spinellis-FS, S. 959 f.; Wessels/Beulke, Rn. 702; ähnlich Walter, ZStW 116 (2004), 562 der vorschlägt, darauf abzustellen, ob die eingeleiteten Rettungsmaßnahmen dem Opfer bereits eine rechtlich geschützte Position verschafft haben und dementsprechend ihr Abbruch einen Angriff auf das geschützte Rechtsgut bedeutet. 115 Siehe § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII. 116 Zur Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch s. statt aller Roxin, AT II, § 30, Rn. 165 ff.

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(cc) Sonderfall „Untätigbleiben“? Indes kommt noch eine ganz andere Sachlage in Betracht: So ist es vorstellbar, dass der Sozialarbeiter Hilfen für eine „Problemfamilie“ initiiert und diese durch einen Mitarbeiter eines freien Trägers erbringen lässt, dann aber im weiteren Verlauf keine Wirkungskontrolle mehr im Hinblick auf die angeordneten Maßnahmen erfolgt.117 Diese Fallkonstellation erinnert auf den ersten Blick stark an die bereits aufgeworfene Frage, wann beim Abbrechen von Rettungshandlungen von einem Tun bzw. Unterlassen auszugehen ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die hier interessierenden Fälle mit dem „Lehrbuchfall“ nichts gemeinsam haben, bei dem der Retter dem Ertrinkenden das rettende Seil entzieht, kurz bevor dieser es zu fassen bekommt.118 Während dort nämlich ein von der Rechtsordnung erwarteter Energieeinsatz (das Zuwerfen des Seils) durch einen missbilligten (das Zurückziehen der Rettungsleine) aufgehoben wird, und sich die Frage stellt, ob an das negative aktive Agieren im zweiten Teil isoliert anzuknüpfen ist, handelt es sich bei der fehlenden Wirkungskontrolle durch den Sozialarbeiter um ein bloßes Untätigbleiben, das auf die eingeleitete Hilfegewährung folgt. (dd) Fazit Daher wird das Problem des Betreuungsabbruchs auch in diesem Zusammenhang nicht relevant. Nach den allgemein zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen entwickelten Theorien ist vielmehr in aller Regel von einem Unterlassen des Sozialarbeiters auszugehen. (2) Die gebotene Handlung119 Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurde sehr allgemein vom Unterlassen der „gebotenen Handlung“ gesprochen. Sofern man im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs unechte Unterlassungsdelikte als existent erachtet, ist bei diesen die geforderte Handlung im einzelnen beschrieben.120

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Abermals mag hier der Fall „Laura Jane“ (s. o. Teil 1 A. I.) als Beispiel dienen. Vgl. hierzu Kudlich, PdW, S. 151 f. 119 Mit dieser Frage wird strenggenommen bereits auf den Inhalt möglicher Garantenpflichten rekurriert. Um jedoch Anknüpfungspunkte für die nachfolgende Kausalitätsbetrachtung bilden zu können, soll bereits an dieser Stelle ein kurzer Ausblick erfolgen. 120 So z. B. bei § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB (s. o. Teil 2 A. I. 1.). 118

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Indes findet sich bei den sonstigen unechten Unterlassungsdelikten eine derartige „Handlungsanleitung“ nicht. Hier muss darauf zurückgegriffen werden, was in der konkreten Situation objektiv erforderlich war, um den Erfolg zu verhindern.121 Dem Garanten können dabei unter Umständen mehrere Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.122 Auf die vorliegende Untersuchung gewendet, ergibt sich unter Berücksichtigung der im ersten Teil der Arbeit dargestellten Handlungsinstrumentarien folgendes: Erachtet der Sozialarbeiter eine Hilfe nach §§ 28 ff. SGB VIII für ausreichend, so hat er zum Beispiel im Fall des Einsatzes einer sozialpädagogischen Familienhilfe123 den Familienhelfer darüber zu instruieren, dass bei Unregelmäßigkeiten eine unverzügliche Rückmeldung zu ergehen hat.124 Außerdem ist es notwendig, dass der Jugendamtsmitarbeiter das Aufgabenfeld des Adressaten des freien Trägers klar definiert und seinen Auswahl- und Kontrollpflichten bezüglich der freien Träger nachkommt. Meint der Jugendamtsmitarbeiter, die Grenze des § 1666 BGB sei überschritten, so gilt: Bleibt noch genug Zeit, um die Entscheidung des Familiengerichts abzuwarten, ist er gehalten, dem Gericht seine Beobachtungen gemäß § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII mitzuteilen. Gegebenenfalls musste er vor dem 1.10.2005 eine einstweilige Anordnung oder eine „Zuführung“ anregen. Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn der Jugendamtsmitarbeiter lediglich die Polizei über eine (mögliche) Straftat der Eltern informiert,125 weil dies in der Regel keine unmittelbare Krisenintervention und keinen unmittelbaren Schutz des Kindes bewirkt. Der Sozialarbeiter hat in derartigen Fällen vielmehr vorrangig eine Inobhutnahme vorzunehmen; vor dem Inkrafttreten des KICK hatte er eine solche zu initiieren. (3) Handlungsfähigkeit126 (a) In physischer Hinsicht Unter dem Unterlassen im strafrechtlichen Sinne ist nicht das bloß passive Nichtstun, sondern die Nichtvornahme einer bestimmten rechtlich geforderten Tätigkeit zu verstehen.127

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Roxin, AT II, § 31, Rn. 180; Wessels/Beulke, Rn. 708. Gropp, AT, § 11, Rn. 58; Jakobs, 29/12. 123 Vgl. § 31 SGB VIII. 124 So die Ansicht des OLG Düsseldorf im Fall „Tanja“, abgedruckt in NStZ-RR 2001, 200. 125 Zu möglichen Ausnahmen siehe oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (gg). 122

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Rechtlich gefordert werden kann ein Tätigwerden nur dann, wenn der passiv Bleibende sich in der Lage befindet, die gebotene Handlung auch tatsächlich vorzunehmen.128 Diese Möglichkeit fehlt einerseits, wenn kein Mensch die rettende Handlung vorzunehmen imstande ist, sie also objektiv unmöglich ist. Auf der anderen Seite begründen aber auch Defizite speziell in der Person des Untätigen129 die (subjektive) Unmöglichkeit der rettenden Handlung.130 (aa) Personelle Unterbesetzung im Amt/ Überbelastung des Sozialarbeiters Zweifel an der tatsächlichen Handlungsmöglichkeit ergeben sich zunächst im Hinblick auf die personelle Unterbesetzung vieler Ämter, sei diese nun dauerhaft, beispielsweise infolge von Einsparmaßnahmen oder nur temporär, zum Beispiel im Rahmen notwendiger Urlaubsvertretungen. In diesen Fällen wird der angeklagte Sozialarbeiter vermutlich einwenden, er sei gar nicht in der Lage gewesen, sich eingehender mit der familiären Situation und der gebotenen Reaktion von Seiten des Jugendamts hierauf zu befassen, da noch zahlreiche andere Familien hätten betreut werden müssen.131 126 Krit. zu diesem Begriff Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 59: „. . . wenig glücklich deshalb, weil es nicht um die Fähigkeit zu koordiniertem, zweckorientierten Handeln schlechthin, sondern um die Fähigkeit geht, eine ganz bestimmte Handlung vorzunehmen.“ (Hervorhebung im Original). Der Prüfungsstandort der Handlungsfähigkeit wird im Schrifttum nicht einheitlich beurteilt. Während die wohl herrschende Auffassung sie als konstitutiv für den Unterlassungsbegriff erachtet (s. z. B. SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 2; S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 141 ff.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 35 ff.), diskutieren Jescheck/ Weigend, AT, § 23 VI 2b, § 59 II 2 und Wessels/Beulke, Rn. 708 die Handlungsfähigkeit – wie hier – erst im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit. 127 SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 1; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 25; Wessels/Beulke, Rn. 708. 128 BGH wistra 2000, 136; Stratenwerth, Jescheck-FS, S. 291 f. Siehe in diesem Zusammenhang Maiwald, JuS 1981, 476: „Versteht man vortatbestandlich das Unterlassen (. . .) als Antwort auf eine Situationsanforderung, so setzt dies offenbar voraus, dass der Unterlassende auf diese Anforderung auch antworten kann.“ (Hervorhebung im Original). 129 Zum Beispiel Ohnmacht, mangelnde physische Nähe zum gefährdeten Rechtsgut etc. 130 Vert. zum Ganzen Roxin, AT II, § 31, Rn. 8 ff. 131 Nach Angaben des Sachverständigengutachtens von Schrapper, abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 43, hatte die angeklagte Sozialarbeiterin im Fall „Laura Jane“ ca. 40 Familien mit 100 Kindern allein zu betreuen (Dies sah das erstinstanzlich zuständige Amtsgericht Osnabrück (s. den Urteilsabdruck auf S. 72 in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko) jedoch lediglich als Strafmilderungsgrund an.). Gemäß dem Artikel „Die feindlichen Eltern“ von Rückert in DIE ZEIT 17/2005 ist ein Hamburger Sozialarbeiter für rund 45 Problemfamilien zuständig („Eine höhere Überwachungsdichte sei nicht zu leisten, heißt es, schon gar nicht in Zeiten des Personalabbaus. Im Jugendamt des Bezirks Hamburg Nord bei-

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Dieser Einwand vermischt jedoch Aspekte der Rechtfertigung der Untätigkeit mit denen des Tatbestands. Er vermag nicht die zum Zeitpunkt der Untätigkeit abstrakt bestehende Möglichkeit, in das familiäre Geschehen einzugreifen, auszuschließen. Sachgerechter erscheint es daher, die physische Handlungsfähigkeit zu bejahen und die Auswirkungen dieses Umstands erst später zu betrachten.132 (bb) Urlaubs-/Krankheitsfälle Doch wie ist im Fall der Übernahme von Urlaubsvertretungen über die Handlungsfähigkeit des Vertretenen zu entscheiden? Betreut ein Sozialarbeiter eine Familie und fährt er zeitweilig in den Urlaub, so ist er mangels räumlicher Nähe zu der „Problemfamilie“ im Zeitpunkt der Zuspitzung der Ereignisse unstreitig nicht in der Lage, die rettende Handlung selbst vorzunehmen. Damit liegt ein geradezu „klassischer Fall“ physischer Handlungsunmöglichkeit vor.133 Dass dies unter Umständen zu mit dem Rechtsgefühl unvereinbaren Ergebnissen führen kann, liegt auf der Hand. Auf den ersten Blick erscheint in diesem Zusammenhang eine Parallele zur actio libera in causa, also eine omissio libera in causa134 denkbar, um an ein mögliches Vorverhalten des Jugendamtsmitarbeiters anknüpfen zu können.

spielsweise sind in den vergangenen Jahren ein Drittel aller Stellen gestrichen worden.“). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Heek in Sozialmagazin 2001, 34 ff. sowie in Sozialmagazin 2004, 33 angeführten Überlastungsanzeigen sowie ihre Erläuterung in Sozialmagazin 2004, 29 ff. Siehe überdies empirische Daten zur Überlastung beim ASD bei Blüml, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 124. Zu möglichen Ursachen von Überlastungssituationen Krieger, Handbuch Kindeswohlgefährdung Frage 125. Interessant auch die Parallele zum „Freigängerfall“ (BGHSt 49, 1 ff.), den der BGH im Jahr 2003 entschieden hat. Auch in diesem Fall wurde der schlechte Zustand der geschlossenen Abteilung einer Akutpsychiatrie lediglich zum Anlass genommen, um die Strafe der angeklagten Ärzte zu mildern, die nach Aussagen des Gerichts „ganz erheblichen Anforderungen bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ausgesetzt“ waren (BGHSt 49, 1, 7); krit. hierzu Saliger, JZ 2004, 980. 132 BGHSt 15, 18, 22 spricht denn auch davon, dass einem überlasteten Polizeibeamten „. . . nicht der Vorwurf der Pflichtwidrigkeit und damit eines rechtswidrigen Verhaltens gemacht werden“ könne; vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 20 (speziell im Hinblick auf die Pflichtenkollision); Roxin, AT II, § 31, Rn. 11 f.; aA Jescheck/Weigend, AT, § 59 II 2; insbesondere zur Frage, ob Sozialarbeiter bei Überbelastung physisch-real handlungsfähig waren, Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 88. 133 Bildhaft zu Fällen räumlicher Distanz von gefährdetem Rechtsgut und untätig Bleibendem Wessels/Beulke, Rn. 708: „. . . wer in Bonn spazieren geht, unterlässt nicht die Rettung des bei Köln in den Rhein Gefallenen.“ 134 Siehe hierzu Androulakis, Studien, S. 152 ff.; Kudlich, PdW, S. 158 f.; Roxin, AT II, § 31, Rn. 99 ff.; ders., Spinellis-FS, S. 957 f.; vert. Baier, GA 1999, 272 ff. m.w. N.

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Diese würde voraussetzen, dass dem Unterlassen ein aktives Tun vorangegangen ist, welches die Handlungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Unterlassung vereitelt hat. Wenn jedoch ein Sozialarbeiter in den Urlaub fährt, ohne für seine adäquate Vertretung zu sorgen, dann kann sowohl nach den ontologisch und den naturalistisch135 als auch nach den normativ136 orientierten Theorien nicht an das aktive Tun, zum Beispiel an die Flugreise, sondern lediglich an das Unterlassen eines effektiven Kinderschutzes angeknüpft werden. Es handelt sich daher bei den hier beschriebenen Konstellationen um einen Fall der sogenannten omissio libera in omittendo137, bei der der Täter durch ein Unterlassen seine Erfolgsabwendungsmöglichkeiten zunichte macht. Diese lässt sich ungeachtet der Kontroversen im Zusammenhang mit der actio138 bzw. omissio libera in causa139 durch die korrekte Anwendung des § 8 S. 1 HS 2 StGB lösen. Die Norm bestimmt, dass die Straftat zu dem Zeitpunkt begangen wird, in dem der Unterlassende hätte handeln müssen. Folglich ist im Hinblick auf den verreisenden Sozialarbeiter zu fragen, ob bereits zum Zeitpunkt des letzten Arbeitstages eine Pflicht bestand, für eine adäquate Vertretung zu sorgen bzw. eine solche im Hinblick auf die übernommenen Fälle zu instruieren.140 Da dies nach der Übernahme der Betreuung stets zu bejahen ist, beeinflusst die Handlungsunfähigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der Kindesschädigung im Ergebnis die Verfolgbarkeit der Unterlassung nicht.141 (cc) Fehlende Kenntnis der Gefahrensituation (a) Denkbare Konstellationen Schließlich stellt sich die Frage, ob die physisch-reale Handlungsmöglichkeit verneint werden muss, wenn der zuständige Sozialarbeiter von der Krise keine Kenntnis erlangt hat, zum Beispiel weil eine Betreuung an den Mitarbeiter eines freien Trägers delegiert worden war und keine Meldung an den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter im Krisenfall erging – sei es, weil dies pflichtwidrig ver-

135 Weil keinerlei Energie in Richtung Kindesschutz eingesetzt bzw. die Urlaubsfahrt hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg entfiele. 136 Da der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nicht im Aufsuchen des Urlaubsorts, sondern im unzureichenden Schutz des Kindes besteht. 137 So bezeichnet u. a. von Otto, GK AT, § 9, Rn. 11 sowie von Welp, Vorangegangenes Tun, S. 137, Fn. 155. 138 Vgl. hierzu statt aller Wessels/Beulke, Rn. 415 ff. 139 Siehe zu den kontrovers diskutierten Lösungsansätzen eingehend Baier, GA 1999, 277 ff. 140 Generell in diesem Sinne auch Otto, GK AT, § 9, Rn. 11 m.w. N. in Fn. 8. 141 So auch Bringewat, Tod eines Kindes, S. 38.

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säumt wurde oder weil eine entsprechende Verpflichtung in der Delegationsvereinbarung fehlte.142 In diesen Zusammenhang fällt auch die Konstellation, in der den Sozialarbeiter Meldungen über eine Familie erreichen, die signalisieren, dass „etwas nicht stimmt“, und die zwar isoliert betrachtet noch keine unmittelbare Gefahrenlage für Leib und Leben des Kindes begründen, jedoch, wäre ihnen nachgegangen worden, zur Identifizierung der Gefahr geführt hätten.143 (b) Notwendigkeit der Kenntnis des Handlungsziels? Mit diesen beiden Konstellationen ist erneut ein Grundproblem der Unterlassungsdogmatik angesprochen: Namentlich geht es darum, ob es für die individuelle Handlungsfähigkeit konstituierend ist, dass der Untätiggebliebene Kenntnis bezüglich der tatbestandlichen Situation besitzt. Armin Kaufmann und Welzel bejahen dies unter der Prämisse der von ihnen vertretenen finalen Handlungslehre. Ihrer Ansicht nach kommt eine finale Tätigkeit, das heißt: ein bewusst vom Ziel her gelenktes Wirken, ohne Erfassung des Handlungsziels, also der Gefahrensituation, die es zu beseitigen gilt, nicht in Betracht.144 Dem Täter hätten die Gefahr und die Handlungsmöglichkeit beziehungsweise das zur Beseitigung der Gefahr konkret Erforderliche bekannt sein müssen.145 Wie Schünemann herausgearbeitet hat, beruht diese Ansicht auf dem speziellen Bedeutungsgehalt, den die beiden Autoren der Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet der Unterlassungen beimessen.146 So definieren sie diese als Möglichkeit, ein erkanntes Ziel anzusteuern.147

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Letzteres geschah im Fall „Laura Jane“ (s. o. Teil 1 A. I.). Siehe auch in diesem Zusammenhang den Fall „Laura Jane“ (s. o. Teil 1 A. I.). 144 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 40 ff., 45; ders., von Weber-FS, S. 231 f.; Welzel, Strafrecht, S. 201; siehe dazu Schöne, JZ 1977, 153: „Wer nicht weiß oder für möglich hält, dass ein Unfall geschehen ist, kann dem Verletzten keine Hilfe leisten; er unterlässt die Hilfe nicht.“ Siehe jedoch auch Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 173: Hier erachtet er die Kenntnis von der tatbestandsmäßigen Situation auch dann für gegeben, wenn der Untätigbleibende die falschen Schlüsse aus einer bestimmten Situation gezogen hat. Der irrige Schluss auf einer zutreffenden Tatsachenbasis beeinträchtigt seiner Ansicht nach also nicht die Handlungsfähigkeit. 145 Indirekte Folge dieser Ansicht ist, dass ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt nur in der Variante des fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuchs, nicht jedoch in der Form der unbewussten Fahrlässigkeit in Betracht kommt; vgl. Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 62; Haffke, ZStW 87 (1975), 48 f.; Schöne, JZ 1977, 152. 146 Schünemann, Grund und Grenzen, S. 42; krit. hierzu Schöne, JZ 1977, 154 f. 147 Schünemann, Grund und Grenzen, S. 42. 143

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(g) Kritik Die damit gestellten Anforderungen an die Handlungsfähigkeit sind jedoch zu Recht als zu weitgehend kritisiert worden.148 Für die Vertreter des kausalen Handlungsbegriffs folgt dies bereits daraus, dass sie nicht auf einer wie auch immer gearteten Finalität der Handlung beharren.149 Und auch die soziale Handlungslehre erachtet die Kenntnis von der Gefahrensituation sowie der zu ihrer Abwehr verfügbaren Hilfsmittel nicht als notwendig für die Beurteilung der Möglichkeit einer Handlung.150 Fünfsinn argumentiert, unter anderem sei „auf der sprachlogischen Ebene“ kein Grund für eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit auf den fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuch erkennbar.151 Schünemann meint, wenn die Handlungsfähigkeit nur potentielle Finalität bedinge, dann sei nicht einzusehen, warum diese potentielle Finalität zugleich aktuelle Kenntnis voraussetzen sollte.152 Unter Bezugnahme auf diese Argumente hat die Ansicht von Armin Kaufmann und Welzel daher auch unter den Finalisten selbst Kritik erfahren.153 (d) Stellungnahme Für die Ansicht der herrschenden Meinung, dass bereits die potentielle Kenntnis der tatbestandlichen Situation genügt, spricht einerseits, dass auch in diesen Fällen eine Strafwürdigkeit besteht. Andererseits streitet für dieses Ergebnis, dass das Wissenselement adäquat bei der Frage behandelt werden kann, ob ein vorsätzliches oder ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt vorliegt. Daher ist die Handlungsfähigkeit auch in den vorstehend unter (a) beschriebenen Konstellationen zu bejahen. 148 S/S/Stree, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 143; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 63; Herzberg, Garantenprinzip, S. 200 ff. (bezüglich der Erkennbarkeit der tatbestandlichen Situation (S. 202 a. a. O.); im Hinblick auf die „Erkennbarkeit des Verwirklichungsweges“ hält er jedoch Armin Kaufmanns und Welzels Ansicht für vorzugswürdig (S. 201 a. a. O.)); Schünemann, Grund und Grenzen, S. 41 ff.; Haffke, ZStW 87 (1975), 62 ff.; Maiwald, JuS 1981, 478; Struensee, JZ 1977, 221. 149 So auch das Fazit von Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 62. 150 Vgl. statt aller Wessels/Beulke, Rn. 709. 151 Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 63; ähnlich Schünemann, Grund und Grenzen, S. 42. 152 Schünemann, Grund und Grenzen, S. 42. Er definiert daher die Unterlassung als die „Nichtvornahme einer individuell möglichen Handlung“ (S. 43 a. a. O.). 153 LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 96; SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 3; Maiwald, JuS 1981, 478; Struensee, JZ 1977, 217.

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(b) In rechtlicher Hinsicht Bisweilen stellt sich die Frage, ob dem Sozialarbeiter eine an sich physisch mögliche Handlung auch von Rechts wegen möglich war. (aa) Rechtswidrige Dienstanweisungen Beispiele dafür bilden Fälle, in denen beim Jugendamt anonyme Meldungen über Kindeswohlgefährdungen eingingen, eine entsprechende Dienstanweisung jedoch lautete, derartigen Hinweisen nicht nachzugehen154 bzw. Konstellationen, in denen Sozialarbeiter durch ihre Vorgesetzten angehalten wurden, Hinweise auf Kindesmisshandlung nur bei Lebensgefahr zu verfolgen.155 Hier spricht auf den ersten Blick die in den beamtenrechtlichen Regelungen statuierte Gehorsamspflicht (vgl. §§ 55 Abs. 2 HS 1 BBG, 37 S. 2 BRRG, Art. 64 Abs. 2 S. 2 HS 1 BayBG) dagegen, eine Handlungsfähigkeit zu bejahen – ein Umstand, der auch bei nichtverbeamteten Sozialarbeitern durch die Anwendung des für den öffentlichen Dienst geltenden § 8 Abs. 2 S. 1 BAT erzielt werden könnte. Indes sind in den §§ 56 Abs. 2 S. 3 HS 2 BBG, 38 Abs. 2 S. 2 HS 2 BRRG, Art. 65 Abs. 2 S. 3 HS 2 BayBG bzw. § 8 Abs. 2 S. 3 BAT Ausnahmefälle enthalten, in denen die Verbindlichkeit einer Weisung zu verneinen ist. Dazu zählt u. a. die Konstellation, in der die Ausführung eine Straftat des Amtswalters begründen würde, und dieser Umstand für ihn auch erkennbar ist. In diesem Fall ist also bereits aus beamten- bzw. dienstrechtlicher Sicht kein Hindernis für die Handlungsfähigkeit existent. Sofern dem Sozialarbeiter die Begehung der Straftat nicht erkennbar ist, ist er dem Wortlaut der Normen nach zur Ausführung der Weisung verpflichtet. Wollte man aus dem Grund die Handlungsfähigkeit verneinen, würde man jedoch vernachlässigen, dass die beamtenrechtliche Verbindlichkeit einer Weisung

154 Von einer derartigen Direktive wurde bei der durch die Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen veranstalteten Tagung mit dem Titel „Die strafrechtliche Verantwortung in der Praxis der Sozialen Arbeit“ am 21.6.2004 in Köln von einigen Teilnehmern berichtet. 155 So geschehen nach Auskunft von Eberhard, abrufbar unter http://www.agsp.de/ html/n130.html. In dem namentlich nicht genannten Jugendamt sei in einer Dienstbesprechung angemahnt worden, dass zwar „eigentlich eine Vielzahl von Unterbringungen von Kindern in Pflegefamilien und Heimen angebracht sei. (. . .) Aber zur Vermeidung von kostenintensiven Fremdunterbringungen wolle man verstärkt mit den Eltern reden.“ Siehe in diesem Zusammenhang auch die Nachricht des AGSP unter http:// www.agsp.de/html/n127.html, in der von einer ähnlichen Aussage einer Sozialarbeiterin gegenüber einer „gut unterrichteten Pflegemutter aus dem norddeutschen Raum“ berichtet wird.

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im Innenverhältnis und die strafrechtliche Verantwortung des einzelnen Amtswalters im Außenverhältnis getrennt werden müssen.156 Die Verbindlichkeit der Direktive im Innenverhältnis ändert nichts daran, dass die Weisung im Außenverhältnis gegen die Rechtsordnung verstößt, sodass die Handlungsfähigkeit zu bejahen ist. Leistet der Amtswalter ihnen Folge, weil er denkt, dass er daran gebunden sei, so kann dies jedoch unter Umständen Auswirkungen auf die Garantenstellung, die Rechtswidrigkeit oder die Schuld zeitigen. (bb) Zusammenwirken von Fachkräften Doch wie wirkt es sich auf die Handlungsfähigkeit des fallzuständigen Sozialarbeiters unter rechtlichen Gesichtspunkten aus, wenn zum Beispiel im Rahmen des Kollegiums eine Entscheidung getroffen wurde und diese zum Inhalt hatte, das Kind vorerst in der Familie zu belassen?157 Würde man einem derartigen Zusammenwirken rechtsverbindliche Wirkung für den Verantwortlichen zubilligen, dann ergäben sich in der Tat zumindest Zweifel an der Handlungsfähigkeit.158 Wie jedoch bereits im Rahmen des Überblicks über die Regelungen des SGB VIII dargelegt wurde, sprechen die überzeugenderen Argumente gegen die Verbindlichkeit einer derartigen Entscheidung für den mit der „Problemfamilie“ befassten Jugendamtsmitarbeiter.159 Sofern sich der Sozialarbeiter nichtsdestotrotz an die Entscheidung gebunden fühlte, so unterlag er einem Irrtum über den Umfang seiner Handlungsfähigkeit, der nichts an deren Bestehen ändert. (cc) Spekulativer Ausgang einer Meldung nach § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII Weiterhin ist zu prüfen, wie auf das von Sozialarbeitern vorgebrachte Argument zu reagieren ist, es sei zum Zeitpunkt der noch möglichen Meldung an das Familiengericht nicht sicher gewesen, ob dem „Antrag“ auf Trennung von 156

Felix, Remonstrationsrecht, S. 122. Bezüglich der mit dem Inkrafttreten des KICK einhergegangenen Änderungen (obligatorische Kollegialentscheidung bei der Risikoabschätzung) s. o. Teil 1 D. I. 2. c) (2) (a) (bb) (b). 158 Zur Handlungsfähigkeit im Fall entgegenstehender Normen OLG Bremen NJW 1957, 72 („Terrierfall“ – hierin wurde die Handlungsfähigkeit aufgrund rechtlicher Unmöglichkeit verneint); zust. Gropp, AT, § 11, Rn. 48 f. Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 18 u. Roxin, AT II, § 31, Rn. 14 wollen hingegen erst die Erfolgsabwendungspflicht und damit die Tatbestandsmäßigkeit des Unterlassens verneinen. 159 Siehe dazu oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b) (cc) (a). 157

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Eltern und Kind wirklich entsprochen worden wäre, weshalb eine Benachrichtigung nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII unterblieben sei. Dafür, dass in derartigen Fällen die Handlungsfähigkeit zu verneinen ist, spricht auf den ersten Blick, dass die Jugendamtsmitarbeiter keine rechtliche Möglichkeit besitzen, den Eltern ihr Kind selbst dauerhaft „wegzunehmen“. Indes ist dem bereits entgegenzuhalten, dass selbst wenn das Gericht keine einstweiligen Anordnungen erlassen hätte, er – vor dem Inkrafttreten des KICK – eine polizeiliche „Zuführung“ bis zum Erlass einer gerichtlichen Entscheidung hätte initiieren bzw. nach dem Erlass des Gesetzes eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII hätte vornehmen und das Kind auf diesem Weg hätte retten können.160 Selbst wenn man die erkennbaren Anhaltspunkte für zu gering erachtet, um eine „Zuführung“ durch die Polizei (vor dem KICK) bzw. eine Inobhutnahme (nach dem 1.10.2005) zu begründen, dann gebieten Opferschutzgesichtspunkte, dass sogar ernstliche Zweifel am Erfolg einer möglichen Rettungsmaßnahme die Handlungspflicht und damit die Handlungsfähigkeit nicht entfallen lassen.161 Allgemein gefasst gilt: Nur sofern das Scheitern der Rettungsbemühungen sicher voraussehbar ist, erscheint es rechtlich unbedenklich, die Vornahme der Handlung als nicht mehr geboten anzusehen.162 Da dies jedoch bei einem „Antrag“ nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII vor allem im Hinblick auf die Amtsermittlungspflicht des Familiengerichts (vgl. § 12 FGG) wohl nie von vornherein festgestellt werden kann, sind Sozialarbeiter stets als rechtlich befähigt anzusehen, gefährdete Kinder dem schädigenden Einfluss ihrer Eltern zu entziehen.163

160 Zu diesen Möglichkeiten s. o. Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (dd). Das übersieht Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 12: „Im Zuständigkeitsbereich eines derart zurückhaltenden Familiengerichts kann den Mitarbeiter/innen des Jugendamts ein strafrechtlicher Vorwurf nicht gemacht werden.“ 161 Roxin, AT II, § 31, Rn. 10; in diesem Sinne auch Otto, JK 9/03 StGB Vor § 13/ 15. 162 BGHSt 48, 77, 92 („Politbürofall“); BGH NStZ 2000, 414 f. m.w. N. 163 So auch Bringewat, Tod eines Kindes, S. 38. In diesem Zusammenhang ist zudem auf § 8a Abs. 3 HS 2 SGB VIII hinzuweisen, wonach auch bei fehlender Mitwirkungsbereitschaft der Personensorgeberechtigten eine Meldung gegenüber dem Familiengericht zu ergehen hat. Der Gesetzgeber favorisiert also eine möglichst frühzeitige Benachrichtigung des Familiengerichts und verlangt keine „Durchermittlung“ des Sachverhalts seitens des Jugendamts.

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(dd) Ablehnende Entscheidung des Familiengerichts Wie verhält es sich schließlich in der Phase nach Erlass der eine Trennung ablehnenden familiengerichtlichen Entscheidung? Auch in diesem Fall steht dem zuständigen Sozialarbeiter unstreitig nicht die Befugnis zu, die seiner Ansicht nach falsche Entscheidung der Justiz selbständig zu revidieren, indem er das Kind eigenhändig dauerhaft von den Eltern trennt. Geht er jedoch noch immer davon aus, dass das Kindeswohl gefährdet sei, hat er eine erneute Benachrichtigung des Familiengerichts vorzunehmen und, sofern dies nicht erfolgversprechend erscheint, nochmals eine „Zuführung“ zu organisieren (bis zum 30.9.2005) bzw. (seit dem 1.10.2005) die Inobhutnahme durchzuführen. Möglicherweise hat er zudem eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Vorgesetzten des Familienrichters einzureichen.164 Es bestehen daher keine Bedenken, die Handlungsfähigkeit auch in dieser Konstellation zu bejahen. b) Abschichtung vorsätzlicher Unterlassungsdelikte Wie bereits im Rahmen der Analyse bisher entschiedener Fälle angemerkt, wurden in der Vergangenheit bereits Anklagen wegen vorsätzlichen Unterlassens jugendamtlicher Rettungsmaßnahmen erhoben.165 Obgleich diese im Ergebnis sämtlich ohne Erfolg blieben, soll im folgenden herausgearbeitet werden, auf welche Weise in Zweifelsfällen der Vorsatz von der Fahrlässigkeit abzuschichten ist. (1) Generelle Problematik Macht sich der Sozialarbeiter keine Gedanken über die Möglichkeit einer Gefährdung des Kindeswohls durch die Eltern und erkennt er daher nicht die drohende Schädigung, so kommt nach allen in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten mangels eines intellektuellen Moments nur ein fahrlässiges Delikt in Betracht.166 Es handelt sich dabei um einen Fall der unbewussten Fahrlässigkeit, der – wie § 16 Abs. 1 S. 2 StGB zeigt – strafbewehrt ist. Erkennt der Sozialarbeiter hingegen während seiner Betreuungstätigkeit die Möglichkeit der Schädigung des Kindes, so erfüllt er die nach allen vertretenen 164

Siehe dazu die Ausführungen oben Teil 1 D. II. 2. f). So geschehen im Fall „Tanja“, bei dem eine gröbliche Verletzung der Fürsorgepflicht Gegenstand der Anklage war (§ 170d StGB a. F.). 166 Vgl. hierzu den Beispielsfall bei Hillenkamp, 32 Probleme, S. 11 f. 165

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Auffassungen gleichermaßen für notwendig erachtete kognitive Mindestanforderung an den Eventualvorsatz wie an die bewusste Fahrlässigkeit. Die Entscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit hängt in dieser Konstellation davon ab, ob man die Vorstellung von der konkreten Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung ausreichen lässt oder ob man die Willenskomponente für unverzichtbar hält und bejahendenfalls, welche Anforderungen an deren Qualität man stellt. (a) Sogenannte Vorstellungstheorien Ein Teil der Literatur hält das Willenselement zur Bestimmung des dolus eventualis für entbehrlich und konzentriert sich zur Abgrenzung von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit auf das Wissenselement. Während einige bereits dann Vorsatz bejahen wollen, wenn der Täter trotz Kenntnis der konkreten Möglichkeit des Erfolgs handelt167, nehmen andere an, er habe den Erfolgseintritt für wahrscheinlich, das heißt für mehr als möglich, aber weniger als überwiegend wahrscheinlich halten müssen.168 Eine weitere Unterart der sogenannten Vorstellungstheorien hält schließlich Maß und Qualität des eingegangenen Risikos für ausschlaggebend.169 (b) Sogenannte Willenstheorien Die sogenannten Willenstheorien erachten hingegen ein voluntatives Element für die Bestimmung des Eventualvorsatzes für unentbehrlich. Während einige ihrer Vertreter meinen, bei bedingt vorsätzlichem Handeln sei charakteristisch, dass der Täter den Erfolg billigend in Kauf nehme,170 fordern andere, dass er diesem zumindest gleichgültig gegenübersteht171. Eine dritte Ansicht wiederum verlangt, dass der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts ernst nimmt und sich mit ihr abfindet.172 167

Vgl. Langer, Jura 2003, 138; Lesch, JA 1997, 805 ff. Siehe z. B. Jakobs, 8/23. („Es geht um die Kenntnis, dass die Tatbestandsverwirklichung nicht unwahrscheinlich ist.“) 169 Herzberg, JuS 1987, 781 f.; ders., JZ 1988, 573, 639. Vgl. zu weiteren Unterarten der Ansicht Hillenkamp, 32 Probleme, S. 3 ff. m.w. N. 170 RGSt 76, 115; BGHSt 36, 1; 44, 99; BGH NStZ 1999, 507; wistra 2000, 177; Tröndle/Fischer, § 15, Rn. 13; Baumann/Weber/Mitsch, § 20, Rn. 53 f.; Maurach/Gössel, AT I, § 22, Rn. 34. 171 BGH NStZ-RR 2000, 327 m. Bspr. Baier, JA 2001, 194; OLG Celle NJW 2001, 2647 m. Bspr. Fahl, JA 2002, 100; MüKo-Joecks, StGB, Bd. I, § 16, Rn. 35; S/S-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 84; Beulke, Jura 1988, 644; Fahl, Jura 2003, 66. 172 Joecks, § 15, Rn. 31; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 43; Beulke, KLK I, Rn. 107; ders., KLK III, Rn. 339 f.; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 75; Bringewat, Tod eines 168

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(c) Stellungnahme Entscheidend für die sogenannten Willenstheorien spricht, dass sie mit der überwiegend anerkannten173 Definition des Vorsatzes als Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestands in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände174 harmonieren. Wenn der dolus eventualis eine Unterart des Vorsatzes darstellt, dann erscheint es im Lichte der genannten Definition nur folgerichtig, dass es sich hierbei um eine zweigliedrige Rechtsfigur handeln muss, die sich aus einem Wissens- und einem Willenselement zusammensetzt. Auch die sogenannten Wissenstheorien berufen sich implizit auf das voluntative Element, wenn sie anführen, wer die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erkannt und trotzdem gehandelt habe, könne gar nicht anders, als sich mit dessen Erfolgseintritt abzufinden. Indes stellt diese Ableitung eine bloße Behauptung dar, die nicht näher erläutert wird und der Fälle entgegenzuhalten sind, in denen der Erfolg dem Täter trotz der Tatbegehung höchst unerwünscht ist.175 Zudem zeigen Konstellationen der vorliegenden Art,176 in denen bereits von Verfassungs wegen eine Risikoabwägung geboten ist, die Kenntnis der Tatsachen also als Teil des Berufsbilds gefordert wird, dass die Wissenstheorien keine einleuchtende Abschichtung der unterschiedlichen Wissensbereiche zu bieten vermögen.177 Kindes, S. 81; Haft, AT, S. 159; Jescheck/Weigend, AT, § 29 III 3a; Roxin, AT I, § 12, Rn. 27; Wessels/Beulke, Rn. 223 f.; der Sache nach auch BGHSt 7, 363 („Lederriemenfall“), in dem der BGH im Abfinden mit dem Erfolg eine Billigung sieht, sowie OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 201 (Fall „Tanja“, s. o. Teil 1 A. III.). 173 BGHSt 36, 1, 10; Otto, GK AT, § 7, Rn. 44; Wessels/Beulke, Rn. 203; das voluntative Element verneinen hingegen NK-Puppe, § 15, Rn. 26 ff.; Jakobs, 8/8; ders., Studien, S. 38 f., 113 ff.; Herzberg, BGH-Wiss-FS, S. 51; Lesch, JA 1997, 802. 174 BGHSt 19, 295, 298. 175 Vgl. z. B. den in diesem Zusammenhang oft zitierten „Lederriemenfall“ (BGHSt 7, 363), bei dem die Täter nachweislich zunächst versuchten, eine „opferfreundlichere“ Begehungsweise anzustreben, um dessen Tod zu verhindern und nach der Tatausführung noch erfolglos Wiederbelebungsversuche unternahmen, sowie den von Baumann/Weber/Mitsch in § 20, Rn. 55 angeführten „Wilhelm-Tell-Fall“. Siehe auch Roxin, AT I, § 12, Rn. 39 („Die Situation, dass jemandem eine Möglichkeit deutlich vor Augen steht, man aber (. . .) mit ihrer Realisierung nicht ernstlich rechnet, ist psychologisch sehr häufig“) sowie Wessels/Beulke, Rn. 217. 176 Siehe zudem die bereits im Rahmen des Dilemmas in der Kinder- und Jugendhilfe vergleichend herangezogenen Berufsbilder oben Teil 1 F. 177 So auch Grünebaum, Strafbarkeit, S. 43 im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Anstaltsärzten bei untergebrachten Straftätern. Instruktiv Roxin, AT I, § 12, Rn. 40, der nachweist, dass die Ergebnisse der sogenannten Wissens- und Willenstheorien i. d. R. gleich und Unterschiede vor allem terminologischer Natur sind.

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Vorzugswürdig erscheinen also die sogenannten Willenstheorien. Diese lassen sich nicht eindeutig trennen. So nimmt der BGH zum Beispiel im „Lederriemenfall“ an, ein Billigen „im Rechtssinn“ liege bereits dann vor, wenn der Erfolg dem Täter höchst unerwünscht gewesen war, er sich jedoch mit ihm abgefunden hatte.178 Auch äußert das Gericht in einer späteren Entscheidung, aus der Gleichgültigkeit gegenüber der Erfolgsherbeiführung könne auf eine Billigung geschlossen werden.179 (2) Existenz eines Unterlassungsvorsatzes? Dass auch im Rahmen des Unterlassens zwischen dem vorsätzlichen und dem fahrlässigen Unterlassungsdelikt unterschieden werden muss, wird einhellig bejaht180 und entspricht auch der unter anderem in der Systematik des § 138 StGB zum Ausdruck gebrachten Intention des Gesetzgebers. Damit ist jedoch noch nicht beantwortet, wie der Vorsatz im Rahmen von Omissionen konkret zu definieren ist. Eine Antwort hierauf hängt von der bereits angesprochenen Vorfrage ab, welche Attribute man als dem Handlungsbegriff immanent erachtet.181 (a) „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns Armin Kaufmann lehnt auf der Basis des von ihm propagierten „Umkehrprinzips“ die Existenz eines Unterlassungsvorsatzes im Sinne eines der Finalsteuerung eigenen Unterlassungsentschlusses („bewusste und gewollte Unterlassung“)182 ab, da der Täter wisse, dass es auch ohne ihn zur Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolgs kommen werde. Er fragt stattdessen, „ob der handlungsfähige Garant einen Handlungsentschluss zur Erfolgsabwendung gefasst (und realisiert) hat oder nicht“183 und bezeichnet den letztgenannten Fall als „Quasi-Vorsatz“.184 Dessen Kennzeichen soll das Fehlen des Verwirklichungswillens zur Erfüllung des Gebots darstellen.185 178 BGHSt 7, 363; i. d. S. auch Baumann/Weber/Mitsch, § 20, Rn. 54; Maurach/ Gössel, AT I, § 22, Rn. 34 ff. Roxin, AT I, § 12, Rn. 36 will daher die Billigungstheorie nur noch als „Variante der h. L.“, also des Sich-Abfindens, sehen. 179 BGH NStZ-RR 2000, 327 m. Bspr. Baier, JA 2001, 194. So auch Roxin, AT I, § 12, Rn. 37: „. . . Gleichgültigkeit ein sicheres Indiz“. 180 Vgl. schon Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 67 im Jahr 1959: „. . . so einhellige Auffassung, dass es keines Beleges bedarf.“ S. a. S. 309 ff. speziell zu den unechten Unterlassungsdelikten. 181 Siehe dazu die Vorbemerkung, oben Teil 2 A. II. 1. a). 182 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 73, 80; ders., von Weber-FS, S. 230. 183 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 311; ders., von Weber-FS, S. 229 f.; Welzel, Strafrecht, S. 212.

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(b) Definition nach herrschender Meinung Die Rechtsprechung und die überwiegende Ansicht in der Literatur folgen jedoch nicht dem „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns und erachten bereits begrifflich einen Unterlassungsvorsatz für denkbar. Sie definieren diesen als Entscheidung zwischen Untätigbleiben und möglichem Tun.186 Eine Gleichstellung mit dem Vorsatzbegriff beim aktiven Tun sei jedenfalls dann gewährleistet, wenn der Täter in Kenntnis des objektiven Unterlassungstatbestands den Entschluss fasst, untätig zu bleiben.187 Liegt eine derartige Entscheidung nicht vor und entschließt sich der Täter lediglich nicht, etwas zu tun, soll dies nach herrschender Ansicht ebenfalls für die Bejahung des Vorsatzes genügen.188 Für diese Ansicht spricht, dass sie im Bereich der Begehungsdelikte dem dolus directus zweiten Grades gleicht.189 Dolus eventualis soll schließlich dann anzunehmen sein, wenn der Unterlassende erkennt, dass infolge seines fehlenden Eingreifens zwar möglicherweise der tatbestandliche Erfolg eintreten wird, und er diesen Ausgang zwar nicht bezweckt, diese Möglichkeit jedoch ernst nimmt und sich damit abfindet, dass der Erfolg eventuell eintreten wird.190 (3) Fazit Vereinzelt wird der Sozialarbeiter keine Kenntnis von der Intensität der Gefahrenlage für das Kind besessen haben. In einem Strafverfahren wird eine derartige Kenntnis unter Umständen auch schwer nachzuweisen sein.191 Mangels des sogenannten Wissenselements kommt in beiden Fällen lediglich eine Strafbarkeit wegen unbewusst fahrlässigen Unterlassens in Betracht. Hat der des Unterlassens bezichtigte Sozialarbeiter die Schädigung des Kindes in Betracht gezogen, wird er in aller Regel auf einen „guten Ausgang der 184

Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 115, 120, 127, 309. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 114 f., 123, 127, 170 f., 224, 310. Wenn sich der Täter hingegen zumindest darum bemüht, das Gebot zu erfüllen, soll aufgrund des geminderten Handlungsunwerts ein Fall der Fahrlässigkeit vorliegen, s. S. 109 f., 127 a. a. O. 186 BGHSt 19, 295, 299; 46, 373, 379; Wessels/Beulke, Rn. 732. 187 Gropp, AT, § 11, Rn. 84; Jescheck/Weigend, AT, § 59 VI 2a. 188 Jescheck/Weigend, AT, § 59 VI 2b. 189 Gropp, AT, § 11, Rn. 84. 190 Roxin, AT II, § 31, Rn. 185. 191 So auch Bringewat, Tod eines Kindes, S. 84; ders., UJ 2001, 429 sowie Meysen, ZfJ 2001, 414. Vgl. zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen an die beweismäßigen Feststellungen des Vorsatzes allgemein Wessels/Beulke, Rn. 220 ff. 185

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Sache“ vertraut haben192, zumindest wird er sich wohl in diesem Sinne vor Gericht einlassen. Damit hat er aber nicht bedingt vorsätzlich, sondern, gegebenenfalls nach dem Grundsatz in dubio pro reo, nur bewusst fahrlässig gehandelt.193 c) Zurechenbarkeit des Erfolgs Im Rahmen der Prüfung, ob jemand wegen eines vollendeten Erfolgsdelikts zu bestrafen ist, muss festgestellt werden, ob der eingetretene Erfolg dem Täter zugerechnet werden kann. Dies beginnt auf der Ebene des Tatbestands und setzt sich – jeweils angepasst an die Anforderungen der jeweiligen Deliktsstufe – bei der Rechtswidrigkeit und der Schuld fort.194 Ziel dieser Feststellung ist es, dem Schuldprinzip195 zu genügen und damit die Rechtsfigur des versari in re illicita zu überwinden, also die Bestrafung eines beliebigen, nicht auf den konkreten Tatbestand bezogenen rechtswidrigen Verhaltens.196 (1) Kausalität Speziell im Zusammenhang mit dem Tatbestand ist dabei zunächst erforderlich, dass der Erfolg faktisch auf das Verhalten des Täters zurückgeführt werden kann, dieses also kausal für den Schaden des Opfers wurde. Wie die Kausalität im einzelnen bestimmt werden muss, ist im Strafgesetzbuch nicht geregelt. Wissenschaft und Rechtsprechung haben daher verschiedene Auffassungen entwickelt. (a) Grundsätzliche Definitionsansätze Heutzutage wird durch die Rechtsprechung und die herrschende Lehre eine Handlung mit der sogenannten Bedingungs- bzw. Äquivalenztheorie dann als ursächlich für den Erfolg erachtet, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann,

192 In diesem Sinne das Urteil des OLG Düsseldorf im Fall „Tanja“, abgedruckt in NStZ-RR 2001, 200. 193 Vgl. in diesem Zusammenhang BGH NStZ 2003, 431; BGH NStZ 2001, 475; BGH NStZ-RR 2000, 165; BGHSt 36, 1, 2, 10; 38, 345, 351; OLG Celle NJW 2001, 2647; s. auch Fahl, JA 2002, 100 f. sowie Kudlich, PdW, S. 137. Zumindest missverständlich daher Kohaupt, JAmt 2005, 219: „Zu diesen Unsicherheiten gesellt sich die Garantenpflicht, in der professionelle Helferinnen auch juristisch zu Mittätern werden“ (Hervorhebung nicht im Original). 194 Hierzu Wessels/Beulke, Rn. 177. 195 BVerfGE 95, 96 (131); 96, 245 (249); BGHGrS 2, 194, 200. 196 So die Definition von Roxin, AT I, § 7, Rn. 56.

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ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio sine qua non).197 Aufgrund der durch die Gleichwertigkeit aller Erfolgsbedingungen erzeugten unbegrenzten Weite198, verbunden mit ihrem Unvermögen, über unklare Ursachenketten und Beweisschwierigkeiten hinwegzuhelfen199, wird die Bedingungstheorie in der Literatur jedoch teilweise abgelehnt und durch die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung ersetzt.200 Nach dieser Ansicht ist ein Kausalzusammenhang dann anzunehmen, wenn sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung nach den bekannten Naturgesetzen notwendig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen.201 Aber auch diese Lehre vermag in Zweifelsfällen nicht zu einer Entscheidung zu verhelfen.202 Zudem ist im Streit, welche Bedingungen als „gesetzmäßig“ im Sinne der Theorie anzusehen sind.203 Eine Beschränkung des Ausmaßes der Äquivalenztheorie auf anderem Wege beabsichtigen schließlich diejenigen, die bereits im Rahmen der Kausalität normative Überlegungen anstellen. Namentlich sind dies die sogenannte Adäquanz204- und die Relevanztheorie205. Beiden ist entgegenzuhalten, dass die herrschende Lehre sowie die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung seit geraumer Zeit ebenfalls Wertungsaspekte berücksichtigen, diese jedoch von der

197 RGSt 1, 373; 44, 137, 139; BGHSt 1, 332; Baumann/Weber/Mitsch, § 14, Rn. 8 f.; Stratenwerth/Kuhlen, § 8, Rn. 17; Wessels/Beulke, Rn. 156. 198 Otto, GK AT, § 6, Rn. 17 sowie Rönnau/Faust/Fehling, JuS 2004, 114 konstatieren einen „regressus ad infinitum“ (Rückgriff ins Unendliche); bildhaft in diesem Zusammenhang Wessels/Beulke, Rn. 174: „Sogar die Eltern (. . .) haben eine Bedingung (. . .) gesetzt, denn wenn M nicht von ihnen gezeugt worden wäre, hätte er den T nicht verletzen (. . .) können.“ 199 Berühmte Beispiele bilden in diesem Zusammenhang die „Conterganfälle“ (vgl. LG Aachen JZ 1971, 510 sowie Knauer, Kollegialentscheidung, S. 88) und der „Ledersprayfall“ (BGHSt 37, 106). 200 Vertreter dieser Lehre sind u. a. S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 75, SKRudolphi, Vor § 1, Rn. 41 (zust. SK-Hoyer, Anh. zu § 16, Rn. 65); Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 92 ff.; Jakobs, 7/12; Jescheck/Weigend, AT, § 28 II 4; Roxin, AT I, § 11, Rn. 14 ff.; Hilgendorf, NStZ 1994, 564 ff.; Schünemann, JA 1975, 580 und Spendel, JZ 1973, 138 f. Weitergehend NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 86; dies., Anm. NStZ 2004, 555, die bereits die „gut bestätigte Gesetzesvermutung“ ausreichen lassen will (Knauer, Kollegialentscheidung, S. 120 ff. charakterisiert sie als Vertreterin der sogenannten Inus-Bedingung). 201 Grundlegend Engisch, Kausalität, S. 21. 202 Siehe hierzu Knauer, Kollegialentscheidung, S. 98 ff., 118 ff. 203 Vgl. in diesem Zusammenhang Hilgendorf, NStZ 1994, 564 f. 204 Maurach/Zipf, AT I, § 18, 30 ff. 205 Grundlegend Blei, AT, S. 104 ff.

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naturwissenschaftlichen Kausalität trennen und auf die Ebene der objektiven Zurechnung verlagern, ohne dass damit Einbußen verbunden wären.206 (b) Kausalitätsfeststellung im Rahmen des Unterlassens (aa) Allgemeines Von einer Kausalität im Sinne einer „realen Wirkkraft“207 kann bei einem bloßen Untätigbleiben nicht die Rede sein, weil es aus ontologischer Sicht gerade nichts gibt, das man hinwegdenken könnte. Folglich ist eine modifikationslose Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel zum Scheitern verurteilt.208 Die soziale und die personale Handlungslehre lösen dieses Problem, indem sie das Kausalitätskriterium im Fall des Unterlassens funktional auslegen, dergestalt, dass die von der Rechtsordnung erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden könne, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.209 Mithilfe dieser Formel ist es möglich, eine Art „Quasi-Kausalität“210 zu ermitteln, die nach Rechtsprechung und herrschender Ansicht in der Literatur bereits dann gegeben sein soll, wenn der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre.211

206 Rönnau/Faust/Fehling, JuS 2004, 115; instruktiv Roxin, AT I, § 11, Rn. 34, der die Adäquanztheorie u. a. auf das Fehlen eines normativen Zurechnungskorrektivs bis zum Jahr 1953 zurückführt und in Rn. 37 meint, das Adäquanzprinzip sei in der heutigen Zurechnungslehre aufgegangen; ähnl. auch Wessels/Beulke, Rn. 171. 207 In diesem Sinne die Formulierung von Roxin, AT II, § 31, Rn. 38. 208 Plakativ Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 106: „. . . aus Nichts kann nichts werden“; ebenso Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 324: „ex nihilo nihil fit.“ 209 Ständige Rechtsprechung, vgl. BGHSt 6, 1, 2; 7, 211, 214; 37, 106, 126; 48, 77, 93; BGH NStZ 1986, 217; NJW 2000, 2757; Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 24; Ebert, AT, S. 177; Otto, GK AT, § 9, Rn. 96; Wessels/Beulke, Rn. 711; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 742; Schlüchter, JuS 1976, 794; dieser „umgekehrten“ conditio sine qua non – Formel folgen im Bereich der Unterlassungsdelikte auch z. T. die Vertreter der Theorie der gesetzmäßigen Bedingung, vgl. S/S-Stree, § 13, Rn. 61; Jakobs, 7/25, 29/15 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 III 4; anderer Ansicht hingegen Engisch, Kausalität, S. 30 sowie Hilgendorf, NStZ 1994, 564, die diese Theorie auch im Rahmen des Unterlassens für anwendbar erachten. 210 So bezeichnet u. a. von S/S/Stree, § 13, Rn. 61 und von Gropp, AT, § 11, Rn. 71; s. a. BGHSt 48, 77, 92 („Politbürofall“: „quasi-ursächlich“). Andere nennen diese Form des Zusammenhangs „hypothetische Kausalität“, vgl. z. B. Joecks, § 13, Rn. 16. 211 Durch die letztgenannte Einschränkung soll der Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens Rechnung getragen werden, eine Minderung an die Beweisanforderungen soll damit jedoch nicht einhergehen; vgl. RGSt 11, 23; BGH NStZ 2000, 583; S/S/Stree, § 13, Rn. 61; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 111 f.; krit. zu dieser Formulierung SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 15: „. . . zumindest missverständlich. Denn nach dem Grundsatz des in dubio pro reo muss dies feststehen und der Richter muss (. . .) Gewissheit erlangen.“; s. a. Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 321: „. . . nur ein rhetorischer Kunstgriff“.

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(bb) „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns Dem auf ontologische Gesichtspunkte abstellenden Finalisten Armin Kaufmann ist ein solches Vorgehen verwehrt. Er folgert aus dem von ihm entwickelten „Umkehrprinzip“, dass es beim Unterlassen nicht auf die Verursachung ankommen könne.212 Selbst wenn man sich nämlich den Unterlassenden wegdenke, beeinflusse dies nicht den Fakt der Beeinträchtigung des Rechtsguts. Im Ergebnis wollen jedoch auch die Finalisten nicht auf die für die Beachtung des Schuldprinzips notwendige Bejahung der Zurechenbarkeit des Erfolgs verzichten. So leitet Armin Kaufmann aus dem Erfordernis der Handlungsfähigkeit eine „potentielle Kausalität“ der Unterlassungsdelikte her, also die Möglichkeit, planvoll lenkend auf das Geschehen einzuwirken.213 (cc) Fazit Deshalb besteht zumindest im Ergebnis, wenn auch nicht in der dogmatischen Herangehensweise, zwischen den einzelnen Handlungsbegriffen kein Unterschied. Zu Recht wird der Streit um die Frage nach der Ursächlichkeit des Unterlassung daher „. . . zu den wirklichkeitsfremden und unergiebigen Streitfragen, die die deutsche Rechtswissenschaft unnötig belasten“ gezählt.214 (dd) Definition des Erfolgsbegriffs beim Unterlassen Es bleibt jedoch noch zu klären, welcher Erfolg im Rahmen des Unterlassens zugrunde gelegt werden, ob also auch insoweit darauf abgestellt werden muss, dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt hätte vermieden werden können. (a) Praktische Bedeutung der Frage Diskutiert wird dieser Umstand bislang vor allem im Zusammenhang mit dem sogenannten Fensterwurffall 215, in dem ein Vater sich bei einem Hausbrand nicht entschließen konnte, seine beiden Kinder durch einen Wurf vom 212

Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 61 ff., 67, 73; ders., von Weber-FS, S. 219. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 64 ff.; ebenso Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 53 m.w. N. 214 So Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 46, Rn. 18 mit Nachweisen zur geschichtlichen Entwicklung der Diskussion; s. a. Arzt, JA 1980, 556 („Praktisch (. . .) freilich bedeutungslos“) und bereits Nagler, GS 111 (1938), 28. („Wie sollte der Richter befugt sein, eine Mutter, die ihr Kind vorsätzlich und mit Überlegung verhungern ließ, wegen Mordes auf das Blutgerüst zu schicken, wenn sie nicht den Tod des Kindes auch wirklich durch die Versagung der Nahrung verursacht hat?“) 215 Siehe auch die Sachverhaltsdarstellung bei Wessels/Beulke, Rn. 712. 213

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Dachgeschoss aus dem Fenster in die Arme bereitstehender Helfer zu retten, da er befürchtete, sie würden einen Sturz nicht überleben. Er bewahrte sich selbst vor dem Feuertod durch einen Sprung, die Kinder kamen in den Flammen um. Hier stellt sich die Frage, ob auf den konkreten Tod durch Verbrennen bzw. Ersticken oder generell auf den Tod (auch durch den Sturz) abgestellt werden soll. Die Antwort darauf erlangt Bedeutung, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass die Kinder den Wurf tatsächlich überlebt hätten, da beim Rekurs auf den Tod allgemein der Vater freizusprechen wäre.216 Überdies wird das Problem in den sogenannten Peritonitisfällen217 relevant, bei denen im Rahmen einer notwendig werdenden Nachoperation die Frage auftritt, ob bereits die durch die Nichtvornahme einer notwendigen Nachoperation verhinderte Lebensverlängerung um einige Stunden oder Tage als quasikausale Tötung anzusehen ist, oder ob darauf abgestellt werden muss, ob der Tod als solcher zu verhindern war. Bedeutung gewinnen diese beiden Konstellationen im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit einerseits im Hinblick auf den Einwand, dass selbst wenn die fachlich gebotene sozialpädagogische Familienhilfe eingesetzt worden wäre, der Vater das Kind nicht bei deren Anwesenheit am Vormittag, sondern am Nachmittag misshandelt hätte, sowie andererseits bezüglich der Argumentation, dass das Kind, selbst wenn eine Benachrichtigung des Familiengerichts zunächst zu einer Trennung von Eltern und Kind geführt hätte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach deren Aufhebung geschädigt worden wäre. Würde man hier auf den konkreten Erfolgseintritt (auf die Schädigung am Vormittag bzw. auf die frühere Schädigung) abstellen und fragen, ob dieser vermeidbar war, so müsste man die (Quasi-)Kausalität bejahen, weil der Tod am Vormittag bzw. die Schädigung vor der Aufhebung der Trennung durch das Ergreifen von Gegenmaßnahmen zu verhindern waren. (b) Diskussionsstand Es besteht in der Literatur keine Einigkeit darüber, wie der Erfolg im Rahmen des Unterlassens zu definieren ist, und auch die Rechtsprechung zeigt sich bislang uneinheitlich. So stellte der BGH im „Fensterwurffall“ allgemein darauf ab, ob der Tod der Kinder durch den Wurf vermieden worden wäre,218 216 Im „Fensterwurffall“ hingegen wurde feststellt, dass die Kinder den Wurf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt hätten, sodass das Kausalitätsproblem in dem Fall nicht relevant wurde. 217 Vgl. BGH NStZ 1981, 218 (hierzu Puppe, AT2, § 48, Rn. 19 ff.); NStZ 1985, 26; StV 1994, 425. 218 BGH JZ 1973, 173.

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in den „Peritonitisfällen“ hingegen ließ er bereits die unterbliebene Lebensverlängerung als maßgebenden Erfolg ausreichen, er begnügte sich also mit der konkreten Betrachtungsweise. Während zum Teil in der Literatur, gestützt auf den Rechtsgedanken der Garantenstellung, auf den Erfolg allgemein abgestellt wird219, betont die Gegenansicht die in § 13 Abs. 1 StGB geforderte Begehungsgleichheit und meint, deshalb müsse auch bei den Unterlassungsdelikten auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt rekurriert werden.220 Die erstgenannte Meinung verfolge lediglich die Absicht, die z. B. im Arzthaftungsrecht auftretenden Beweisschwierigkeiten und die unter Umständen aus dem in-dubio-Grundsatz folgende Konsequenz eines Freispruchs zu vermeiden.221 (g) Stellungnahme Zwar spricht für die Ansicht, die auf den konkreten Erfolg abstellt, in der Tat, dass dann das Begehungs- und das Unterlassungsdelikt gleich behandelt werden würden. Indes sind angesichts der Unterschiede zwischen beiden gewisse Modifikationen der anhand der Begehungsdelikte entwickelten strafrechtlichen Termini unumgänglich. Insbesondere im Hinblick auf die Untersuchung der Strafbarkeit von Beschützergaranten erscheint es gekünstelt, bereits auf der Ebene der Kausalität den Umstand entlastend wirken zu lassen, dass das zu beschützende Opfer zu einem anderen Zeitpunkt oder auf eine andere Art und Weise zu Schaden gekommen wäre, weil diesen der uneingeschränkte Schutz eines bedrohten Rechtsguts obliegt. Dass der Erfolg möglicherweise auch durch die Vornahme der gebotenen Handlung nicht hätte verhindert werden können, kann ohne weiteres bei der wertenden Betrachtung im Rahmen der objektiven Vermeidbarkeit als einem Bestandteil der objektiven Fahrlässigkeit abgehandelt werden, sodass der Ansicht der Vorzug zu geben ist, die auf den Erfolg in seiner allgemeinen Form abstellt. (ee) Kausalität im Rahmen des Zusammenwirkens von Fachkräften Auf den ersten Blick scheint im Kontext der Strafbarkeit fallzuständiger Jugendamtsmitarbeiter bei elterlichen Kindeswohlschädigungen – insbesondere 219 Vgl. z. B. Wessels/Beulke, Rn. 712; Schlüchter, JuS 1976, 794; Schünemann, StV 1985, 232. 220 Siehe Kindhäuser, LPK-StGB, § 13, Rn. 17; Erb, Alternativverhalten, S. 256 f.; Herzberg, MDR 1971, 882 u. Spendel, JZ 1973, 140. 221 Das konzediert auch Erb, Alternativverhalten, S. 256.

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unter Berücksichtigung des § 36 SGB VIII – das durch den „Ledersprayfall“222 berühmt gewordene Problem der Kausalität im Rahmen von Kollegialentscheidungen Platz zu greifen. Unabhängig von der Bindungswirkung von Entscheidungen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechts ist jedoch bei näherer Betrachtung festzustellen, dass diese Problemkonstellation hier nicht vorliegt. Die (Quasi-)Kausalität des Verhaltens der fallzuständigen Sozialarbeiter lässt sich bereits mit den herkömmlichen Dogmen lösen: Das Eingreifen zum Schutz des Kindes kann nicht hinzugedacht werden, ohne dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Erfolg entfiele. Relevanz entfaltet dieses Rechtsproblem bei der Betrachtung der Strafbarkeitsrisiken von Kollegialmitgliedern, die an dem tatbestandlichen Erfolg ausschließlich über die im Ergebnis verhängnisvolle Gremiumsentscheidung mitwirken. (c) Lehre vom Regressverbot? Bei den in der vorliegenden Untersuchung relevanten Konstellationen sind regelmäßig mindestens223 drei Personen involviert: Das kindliche Opfer, der fahrlässig untätig bleibende Sozialarbeiter sowie der häufig vorsätzlich handelnde bzw. unterlassende Elternteil. Mit der Betreuung der Familie und der Wahl einer bestimmten Verhaltensstrategie, die keine Trennung von Eltern und Kind beinhaltet, wirkt der Sozialarbeiter ausschließlich mittelbar auf die Situation des Kindes ein. Den unmittelbaren Einfluss auf das Wohlergehen des Kindes üben jedoch die Eltern aus. Im strafrechtlichen Sinne resultiert aus diesem Umstand die Frage, ob die Kausalität des Jugendamtsmitarbeiters durch ein vollverantwortliches Verhalten der Eltern beeinflusst wird.224 Sofern den Eltern selbst Fahrlässigkeit vorgeworfen wird, wird dies nicht vertreten. Wird jedoch die fahrlässige Untätigkeit des Betreuers der Familie im Fall des vorsätzlichen Prügelns/Hungernlassens bzw. durch den Missbrauch seitens der Eltern überlagert? 222

BGHSt 37, 106 ff. Im Fall „Jenny“ (vgl. oben Teil 1 A. II. 1.) bestand genaugenommen sogar eine „Viereckskonstellation“, da neben dem Sozialarbeiter und der Mutter auch die beiden Babysitter gegenüber dem Opfer eine Rolle spielten. 224 Im Fall „Jenny“ lehnte das OLG Stuttgart (NJW 1998, 3134) die Relevanz des Verhaltens der Kindesmutter für die Strafbarkeit des Stuttgarter Sozialarbeiters bereits ab, weil diese nach den Feststellungen in dem gegen sie gerichteten Prozess nicht strafrechtlich vollverantwortlich handelte. Auch im Fall „Vanessa“ entfiel aufgrund der psychischen Erkrankung der Mutter der Einwand, ein Regressverbot unterbreche die Zurechnung des Erfolgs. Das AG Mönchengladbach sprach dies jedoch in seinem Urteil nicht an. 223

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Eine früher vertretene Ansicht, die sogenannte Lehre vom Regressverbot, bejahte dies mit der Behauptung, in dieser Konstellation werde der Kausalzusammenhang unterbrochen.225 Die Vertreter der Theorie des gesetzmäßigen Zusammenhangs lehnen dieses Ergebnis ab, weil ein gesetzmäßiger Zusammenhang vom Dazwischentreten eines Dritten unabhängig sei.226 Die Äquivalenztheorie verneint die Auswirkungen des Verhaltens Dritter auf die Kausalität schließlich, sofern die zunächst gesetzte Bedingung fortgewirkt hat, die ursprüngliche Kausalkette also nicht durch ein „überholendes Zweitereignis“ unterbrochen worden ist.227 Bei den hier interessierenden Fällen wirkt die Bedingung regelmäßig fort, da gerade das Unterlassen eines effektiven Schutzes des Kindes die Basis für dessen (weitere) Schädigung bietet. Auf die Kausalität des jugendamtlichen Unterlassens hat das vorsätzliche bzw. fahrlässige Dazwischentreten der Eltern also keinen Einfluss. (2) Lehre von der objektiven Zurechnung (a) Allgemeines Bis zum Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts beschränkte sich die Zurechnungsprüfung auf die Frage nach der Kausalität des Verhaltens. Im Lauf der Zeit wurde man jedoch immer mehr Fallkonstellationen gewahr, in denen bei konsequenter Anwendung der Kausalitätstheorien von einer Ursächlichkeit auszugehen war, bei denen jedoch aus normativen Erwägungen eine Bestrafung als unbillig empfunden wurde. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Fahrlässigkeitsdelikte zu nennen.228 Um derartige Fälle zufriedenstellend lösen zu können, wurde in der Folgezeit durch die Literatur, allen voran Roxin,229 die objektive Zurechnung entwi225 Ausführlich zur Geschichte dieser Rechtsfigur Wehrle, Fahrlässige Beteiligung, S. 24 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 226 Vgl. statt aller Roxin, AT I, § 11, Rn. 24; siehe auch ders. in StV 2004, 486 zum „Freigängerfall“ (BGHSt 49, 1 ff.), in dem er anmerkt, dass der BGH mit keinem Wort auf die „Lehre vom Regressverbot“ eingeht, obwohl der Sachverhalt (fahrlässig handelnder Arzt und vorsätzlich agierender Untergebrachter) geradezu ein „Paradebeispiel“ dieser Rechtsfigur darstellt. Vertiefend zu den ursprünglichen Ansätzen sowie zu neueren Lehren Roxin, Tröndle-FS, S. 177 ff. 227 BGH NStZ 2001, 29 f.; BGHSt 7, 268; 39, 195, 197 f.; Lackner/Kühl, Vor § 13, Rn. 11; Tröndle/Fischer, Vor § 13, Rn. 18a ff.; SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 49; S/S/ Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 77; Wessels/Beulke, Rn. 164 ff. Ablehnend auch bereits RGSt 58, 566; 61, 318; 64, 370. 228 Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 110. Instruktiv zur geschichtlichen Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung Schünemann, GA 1999, 208 ff. 229 Siehe dazu bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (5).

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ckelt.230 Die Diskussion darüber kann zwar bis heute noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden, nahezu unbestritten ist jedoch, dass diese Rechtsfigur auf zwei aufeinander bezogenen Prinzipien gründet: Der Schaffung einer unerlaubten Gefahr sowie der Realisierung derselben im eingetretenen Erfolg.231 Hierdurch soll bei wertender Betrachtung des Geschehens ermittelt werden, ob der eingetretene Erfolg als das „Werk“ des Täters angesehen werden kann oder ob man den Erfolgseintritt dem Zufall zuschreiben muss.232 Eine Fallgruppe der objektiven Zurechnung ist hier von besonderem Interesse – die Rechtsfigur der Risikoverringerung. Weitere Fallgruppen, die grundsätzlich Platz greifen könnten, sind der atypische Kausalverlauf und das erlaubte Risiko sowie das eigenverantwortliche Dazwischentreten eines Dritten. Da diese Aspekte jedoch auch bei der Voraussehbarkeit im Rahmen der Feststellung der objektiven Fahrlässigkeit eine Rolle spielen, sollen sie zur Vermeidung doppelter Ausführungen erst an späterer Stelle behandelt werden. (b) Risikoverringerung? Die Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr ist unter anderem dann abzulehnen, wenn das Risiko des Schadenseintritts durch das Handeln des Täters lediglich verringert wurde.233 Ist ein Sozialarbeiter vollends untätig geblieben, so ist ihm dieser Einwand von vornherein versagt. Es erscheint jedoch denkbar, dass ein wegen fahrlässigen Unterlassens angeklagter Sozialarbeiter geltend macht, er habe durch die Betreuung der Familie das Risiko des Schadenseintritts (lediglich) vermindert, indem er Hilfen zur Erziehung gewährte, die sich in dem konkreten Fall leider als unzureichend erwiesen. Eine derartige Aussage wäre indes ungenau, da sie das maßgebliche „Risiko“ nicht hinreichend beschreibt. In den hier relevanten Fällen besteht dieses Risiko in dem Fehlverhalten der Eltern gegenüber ihrem Kind. Wurde zum Beispiel eine sozialpädagogische Familienhilfe eingesetzt, hat dies zwar unter Umstän230 Die Rechtsprechung hat bislang nicht ausdrücklich auf diese Lehre Bezug genommen, wendet aber der Sache nach die von dieser herausgearbeiteten Wertungsgesichtspunkte an; vgl. z. B. BGHSt 11, 1, 7 („Radfahrerfall“): „. . . im strafrechtlichen Sinne ursächlich“ oder den jüngst entschiedenen „Freigängerfall“ (BGHSt 49, 1, 3 f.): „Der von den Angeklagten gewährte Ausgang (. . .) kausal. (. . .) Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten entfällt allerdings der ursächliche Zusammenhang zwischen dem verkehrsrichtigen Verhalten eines Angeklagten und dem Tötungs- und Verletzungserfolg, wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten eingetreten wäre . . .“. 231 Vgl. statt aller SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 57 m.w. N. 232 Bildhaft in diesem Zusammenhang Wessels/Beulke, Rn. 180: Abschichtung zwischen „Unglück und Unrecht“; ebenso Rönnau/Faust/Fehling, JuS 2004, 115. 233 Wessels/Beulke, Rn. 193 ff.

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den die Gesamtsituation der Familie verbessert. Zugleich hat sie keine neue Gefahr geschaffen. Aber der Vorwurf der Unterlassungsdelikte ist auch ein ganz anderer: Strafrechtlicher Anknüpfungspunkt ist hier das Aufrechterhalten der Gefahrenlage. Bei wertender Betrachtung des Geschehens hat der Sozialarbeiter eine rechtlich missbilligte Gefahr aufrechterhalten beziehungsweise nicht beseitigt, sodass die Rechtsfigur der Risikoverringerung nicht einschlägig ist. d) Garantenstellung (1) Genereller Meinungsstand zur dogmatischen Herleitung Mit der Feststellung, dass die gebotene Handlung trotz physisch-realer Möglichkeit nicht vorgenommen und hierdurch ein tatbestandlicher Erfolg herbeigeführt wurde, ist „das heute noch umstrittenste und dunkelste Kapitel der Dogmatik des Allgemeinen Teils“234, welches den „Mittelpunkt der Problematik des unechten Unterlassungsdelikts“235 bildet, noch gar nicht behandelt. Die „große Crux“236 der unechten Unterlassungsdelikte besteht namentlich darin herauszufinden, ob ein Täter, wie von § 13 Abs. 1 HS 1 StGB vorgeschrieben, rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und ob das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht. Durch die Schaffung dieser Generalklausel hat der Gesetzgeber im Jahr 1975 zwar klargestellt, dass allein rein sittliche Gebote zur Begründung einer strafrechtlichen Einstandspflicht nicht ausreichen.237 Er hat außerdem festgelegt, dass sich aus den jedermann treffenden Pflichten, wie zum Beispiel der Hilfspflicht aus § 323c StGB, keine Garantenstellung ableiten lässt, da diese Pflichten alle Menschen und nicht lediglich eine rechtlich besonders herausgehobene Personengruppe tangieren.238 Im übrigen hat er jedoch die nähere Ausgestaltung dieser Rechtsfigur der Judikatur und Wissenschaft überlassen.239

234 Roxin, AT II, § 32, Rn. 2; ähnlich Jakobs, 29/26 („. . . eine der schwierigsten Aufgaben der Dogmatik des AT“) und Puppe, AT2, § 45, Rn. 10 („. . . das Kardinalproblem der unechten Unterlassungsdelikte“). 235 Arzt, JA 1980, 553. 236 Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 50. 237 So bereits RGSt 66, 71; vgl. aber die (nationalsozialistisch geprägten) Auffassungen von Schaffstein, Gleispach-FS, S. 96 und Nagler, GS 111 (1938), S. 42 f. Zur rechtsphilosophischen Frage nach der Trennung von Recht und Moral siehe den Überblick bei Grünewald, Garantenpflichten, S. 48 ff. 238 BGHSt 3, 65; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 74; Jakobs, 29/26; Wessels/ Beulke, Rn. 717. 239 BT-DrS V/4095, S. 8 („. . . die Zeit für eine sachgemäße gesetzliche Regelung jedenfalls dieser Problematik noch nicht reif . . .“), gebilligt von BVerfGE 96, 68;

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Aus diesem Grund erscheint es nicht verwunderlich, dass die Existenz einer Garantenstellung der für eine Problemfamilie zuständigen Jugendamtsmitarbeiter – im Gegensatz zur Garantenstellung der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern240 – bislang nicht eindeutig geklärt ist.241 Die Entscheidungsprobleme sind dabei nicht primär dem Kinder- und Jugendhilferecht geschuldet. Wie zahlreiche andere streitige Fallkonstellationen (z. B. die Frage nach der Garanteneigenschaft von Polizisten242 oder Justizvollzugsbeamten243 sowie diejenige nach der garantenschaffenden Kraft zivilrechtlicher Pflichten244) zeigen, handelt es sich vielmehr um eine grundsätzliche Fragestellung im Rahmen der Unterlassensdogmatik.

BVerfG JZ 2004, 303 ff. m. krit Anm. Seebode; krit. zu dieser Vorgehensweise generell Sangenstedt, Garantenstellung, S. 94 f. 240 Siehe hierzu z. B. BGH NStZ 2004, 94 f.; MüKo-Freund, StGB, Bd. I, § 13, Rn. 164; Joecks, § 13, Rn. 23; SK-Rudolphi, § 13, Rn. 47; Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 54 („klassischer Fall einer Garantenstellung kraft Gesetzes“); Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 103; Bringewat, Tod eines Kindes, S. 47 f.; Herzberg, Garantenprinzip, S. 335 („Schulfall“); Kudlich, PdW, S. 149; Roxin, AT II, § 32, Rn. 17; Schaffstein, Gleispach-FS, S. 106, 110 f.; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 240 („Ur-Grundfall“); ders., in: Spanisch-Deutsches Symposium, S. 74; ders., GA 1973, 237; Silva Sanchez, Roxin-FS, S. 647; Arzt, JA 1980, 555; Armin Kaufmann, JuS 1961, 175. 241 Anderer Ansicht Wiesner, spektrum 2000, 12; „. . . dürfte nach der Entscheidung des OLG Stuttgart im Fall ,Jenny‘ (. . .) nicht mehr umstritten sein.“ sowie Fieseler, ZfJ 2004, 172: „Ich gehe davon aus, dass es (. . .) inzwischen unumstritten ist (. . .), dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (. . .) eine Garantenstellung haben können . . .“. Vgl. zudem die Äußerung des Deutschen Städtetages in seinen Empfehlungen, abgedruckt in ZfJ 2004, 191 sowie im Anhang („. . . originäre eigene Garantenstellung der die Leistung erbringenden Fachkraft als Beschützergarantin aus Pflichtenübernahme“) sowie der damaligen Opposition in ihrer Begründung des KEG (BR-DrS 712/04, S. 29: „Das Wohl des Kindes erfordert eine zeitnahe Datenweitergabe innerhalb des Jugendamtes aufgrund seines in Art. 6 GG festgeschriebenen staatlichen Wächteramtes und der damit im Zusammenhang stehenden Garantenstellung.“); nicht ganz so eindeutig die Begründung der damaligen Bundesregierung im Zusammenhang mit dem KICK (BT-DrS 15/3676, S. 26: „Strafrechtliche Verfahren wegen einer sog. Garantenstellung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern haben in den letzten Jahren zu intensiven fachlichen Diskussionen über Verfahrensstandards (. . .) geführt“). Diesen Aussagen ist jedoch allein die im Jahr 2004 ergangene Literatur zu dieser Thematik entgegenzuhalten, s. z. B. Zaczyk, Rudolphi-FS, S. 370 und H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 202 ff., die beide einer Garantenstellung skeptisch gegenüberstehen (siehe überdies Bohnert, ZStW 117 (2005), 290 ff., der eine Einstandspflicht ebenfalls ablehnt). Zudem relativiert Wiesner seine Aussage selbst, wenn er in ZfJ 2004 auf S. 168 in Fn. 29 zugesteht, dass „. . . nicht verschwiegen werden (soll), dass die Herleitung (der Garantenstellungen) im Einzelnen noch Schwachstellen aufweist.“ 242 Vgl. BGHSt 38, 388; BGH NStZ 2000, 147; Pawlik, ZStW 111 (1999), 335 ff. 243 Abl. zu der Frage, ob diesen die allgemeine Strafverfolgung auferlegt sei, BGHSt 43, 85; bejahend bezüglich einer Garantenstellung für Leib und Leben der Strafgefangenen z. B. Tröndle/Fischer, § 13, Rn. 6a sowie Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c.

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In der folgenden Erörterung sollen zunächst die generell zur Ermittlung strafrechtlicher Einstandspflichten vertretenen Ansichten skizziert werden. Nicht diskutiert werden soll die noch heute häufig in Frage gestellte Verfassungsmäßigkeit des § 13 StGB im Lichte des Bestimmtheitsgebots.245 Die vorliegende Untersuchung wird sich vielmehr auf eine praxisrelevante Entscheidung de lege lata konzentrieren. Indes kann der Einfluss des Art. 103 Abs. 2 GG wegen seiner Verbindlichkeit für den Richter (siehe Art. 1 Abs. 3 GG) nicht vollends außer Acht gelassen werden. Da sich sämtliche Konkretisierungsbemühungen im Hinblick auf § 13 StGB an der Verfassungsnorm messen lassen müssen, soll der Diskussion ein kurzer Abriss zum Art. 103 Abs. 2 GG vorangestellt werden, der eine Bewertung der im Anschluss aufzuzeigenden Verständnismodelle ermöglichen soll. (a) Exkurs: Maßgaben des Art. 103 Abs. 2 GG (aa) Bedeutungsgehalt Nach allgemeiner Ansicht sind dem Art. 103 Abs. 2 GG246 vier Garantien zu entnehmen: Namentlich sind dies das Bestimmtheitsgebot für Strafrechtsnormen (nulla poena sine lege certa), das Verbot strafbegründender und strafschärfender Analogie sowie die Verhinderung eines derartigen Gewohnheitsrechts (nulla poena sine lege scripta et stricta) und das Verbot rückwirkender Bestrafung (nulla poena sine lege praevia).247 Im Zusammenhang mit § 13 StGB erscheinen vor allem die drei erstgenannten Garantien relevant. 244 Die Frage nach der Garantenstellung des Herstellers gesundheitsgefährdender Produkte wegen zivilrechtlicher Verkehrssicherungspflichten wurde von BGHSt 37, 106 ff. („Ledersprayfall“) offengelassen (und stattdessen eine solche aus Ingerenz bejaht), vgl. hierzu Beulke/Bachmann, JuS 1992, 739 f. 245 Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 13 StGB hegen z. B. M/D-SchmidtAßmann, GG 30. Lieferung (1992), Art. 103 Abs. 2, Rn. 223, 232; MüKo-Schmitz, StGB, Bd. I, § 1, Rn. 47; NK-Seelmann, § 13, Rn. 2; Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 40 f.; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 14 ff.; diff. zwischen den einzelnen Garantenstellungen Seebode, Spendel-FS, S. 340 ff. Wie jedoch das BVerfG erst kürzlich wiederholt hat (s. JZ 2004, 303 ff.), ist die Norm mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar (s. in diesem Zusammenhang – wenn auch vor Inkrafttreten des § 13 StGB – Herzberg, Garantenprinzip, S. 254: „Die Gesetzgebung ist eine Kunst des Möglichen.“). Vgl. auch die instruktive Darstellung der Diskussion in der Strafrechtswissenschaft bei D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 138 ff. Außer Acht gelassen werden soll zudem die – allerdings auf die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des § 13 StGB bezogene – Ansicht von Grünwald, ZStW 70 (1958), 416 und Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 255 ff., wonach eine dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügende Regelung der Garantenfrage nur im Besonderen Teil des StGB möglich sein soll (krit. demgegenüber u. a. Haft, AT, S. 179; Henkel, MschKrim 1961, 182). 246 Einfachgesetzlich wird diese Regelung in § 1 StGB wiederholt; vgl. auch Art. 7 Abs. 1 EMRK, der ebenfalls den Rang eines einfachen Bundesgesetzes einnimmt.

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Das Bestimmtheitsgebot 248 richtet sich an den Normgeber und verlangt von diesem, Strafgesetze so zu formulieren, dass der Adressatenkreis der Regelung allein anhand der gesetzlichen Formulierung zu erkennen vermag, ob ein bestimmtes Verhalten strafrechtliche Konsequenzen zeitigt.249 Ausgeschlossen werden soll hierdurch jedoch nicht der Gebrauch auslegungsbedürftiger Begriffe. Diese sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dann nicht problematisch, wenn aus ihnen zumindest das Risiko einer Strafverfolgung erkennbar wird.250 Die äußerste Grenze der Auslegung, die der Richter zu beachten hat, soll dabei der mögliche Wortsinn bilden.251 Gegebenenfalls muss er die entscheidungserhebliche Norm dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG252 im Weg der sogenannten konkreten Normenkontrolle zur Entscheidung vorlegen. Das Bestimmtheitsgebot wird durch das sogenannte Analogieverbot mit Blick auf den Rechtsanwender „verlängert“253. Bei einem Analogieschluss wird ein für den Täter nachteiliger Rechtssatz auf einen gesetzlich nicht geregelten oder vom Gesetzeswortlaut nicht mehr umfassten Fall ausgedehnt oder eine tätergünstige Norm eingeschränkt.254 Unzulässig soll im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG die Neuschöpfung von täterungünstigem Strafrecht sein, nicht jedoch die Klarstellung des Telos eines Gesetzes.255 247 Siehe hierzu BK-Rüping, GG, Art. 103 Abs. 2, 60. Lieferung (1990), Rn. 19 ff.; M/D-Schmidt-Aßmann, GG 30. Lieferung (1992), Art. 103 Abs. 2, Rn. 178; SK-Rudolphi, § 1, Rn. 5 ff.; Tröndle/Fischer, § 1, Rn. 2; Jähnke, 50 Jahre-BGH-FS, S. 393; Roxin, AT I, § 5, Rn. 7 ff.; Seebode, Spendel-FS, S. 320 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 47 ff. 248 Zu dessen Begründungsmöglichkeiten Duttge, Handlungsunwert, S. 148 ff. 249 BVerfGE 14, 174; 245; 25, 269; 32, 346; 47, 120; 55, 152; 71, 114; 73, 234; 87, 224; relativ aktuelles Beispiel zur Unbestimmtheit einer Norm: die Vermögensstrafe nach § 43a StGB, welche nach der Entscheidung des BVerfG vom 20.3.2002 (BGBl. I S. 1340) zu unbestimmt gefasst und daher nichtig ist. Einprägsam im Zusammenhang mit dem Bestimmtheitsgebot die Äußerung durch von Liszt, Vorträge und Aufsätze, S. 80 im Jahr 1893, das StGB stelle die „Magna Charta des Verbrechers“ dar. 250 BVerfGE 91, 1 (12) („2. Sitzblockadenentscheidung“); zu weiteren Relativierungen des Bestimmtheitsgrundsatzes durch die Rechtsprechung siehe BK-Rüping, GG, Art. 103 Abs. 2, 60. Lieferung (1990), Rn. 21. 251 BVerfGE 47, 109 (123); 73, 235; BGHSt 1, 209 f.; 14, 116, 118; 33, 21, 23; SK-Rudolphi, § 1, Rn. 29; S/S/Eser, § 1, Rn. 37; D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 150; Beispiel für mangelnde Bestimmtheit: BVerfGE 92, 1 (12) (krit. hierzu Tröndle, BGH-Wiss-FS, S. 527 ff.): Gewalt i. S. d. § 240 StGB liegt dann nicht vor, wenn es um die bloße körperliche Anwesenheit einer Person an einer Stelle geht, die jemand anderes einnehmen will. Gegenbeispiel: BVerfG NJW 1998, 1135 („Schwarzfahrerfall“): „Erschleichen“ i. S. v. § 265a StGB ist demnach auch dann anzunehmen, wenn der sog. Schwarzfahrer keine Sicherheitsvorkehrungen unterlaufen muss, um in den Genuss der Leistung zu gelangen. 252 In Verbindung mit §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG. 253 So die bildhafte Formulierung von MüKo-Schmitz, StGB, Bd. I, § 1, Rn. 55. 254 Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff.

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Auf den ersten Blick scheinen sich aus dem Analogieverbot keine Konsequenzen für die Wirksamkeit des § 13 StGB zu ergeben, da seit dem Jahr 1975 ein Gesetz existiert, das dem Rechtsanwender die Beurteilung einer bestimmten Konstellation ermöglicht.256 Problematisch mutet jedoch an, dass der Gesetzgeber die weitere Entwicklung der Garantendogmatik ausdrücklich der Judikatur und Lehre überantwortet hat. Damit hat er bei einem mehr materiellen Verständnis der Analogie – wie sie auch die im Erstarken begriffene Lehre definiert – dazu aufgerufen, strafbegründendes Recht zu schaffen.257 Indes ist in diesem Zusammenhang das Primat verfassungskonformer Auslegung zu beachten.258 Demnach ist die Lesart eines Gesetzes zu bevorzugen, welche (am besten) mit der Verfassung in Einklang steht.259 Erst wenn dieses Mittel erfolglos ausgeschöpft wurde, ist davon auszugehen, dass eine Norm verfassungswidrig ist. § 13 StGB enthält sowohl den Hinweis, der Täter eines unechten Unterlassungsdelikts müsse für den Erfolg rechtlich einzustehen haben als auch die Vorgabe, dass dessen Untätigkeit dem aktiven Tun entsprechen müsse. Wenn sich die Interpretationen von Rechtsprechung und Wissenschaft innerhalb dieser Wortlautvorgaben halten, dann ist nach dem herkömmlichen Verständnis der Analogie von einer bloßen Auslegung auszugehen. Die neuere Sichtweise mag in diesem Zusammenhang eine die Analogie beinhaltende Auslegung annehmen, welche jedoch das erlaubte Maß der Rechtsfindung nicht überschreitet.260 Gewohnheitsrecht schließlich entsteht durch eine gleichmäßige, länger andauernde, vom Rechtsgeltungswillen getragene Übung in der Rechtsgemein255 Eine neuere Ansicht meint, eine „analogiefreie“ Auslegung sei – vor allem im Rahmen der teleologischen Verfahrensweise – bereits denklogisch nicht möglich. Ihre Verfechter wollen daher nicht zwischen Analogie und Auslegung, sondern zwischen zulässiger, die Analogie einschließender Auslegung und einer außergesetzlichen, freien Rechtsfindung zum Nachteil des Täters abgrenzen (in diesem Sinne u. a. Fincke, Verhältnis, S. 15 f.; Jakobs, 4/33 ff.; wohl auch Haft, AT, S. 179; Jescheck/Weigend, AT, § 15 III 2a; Stratenwerth/Kuhlen, § 3, Rn. 31 ff.; zweifelnd gegenüber einer Trennbarkeit von Analogie und teleologischer Auslegung auch SK-Rudolphi, § 1, Rn. 35 sowie Welp, Vorangegangenes Tun, S. 146 und Wessels/Beulke, Rn. 56; vertiefend zum Ganzen Sangenstedt, Garantenstellung, S. 72 ff.). Dem wird jedoch mit Recht entgegengehalten, dass es sich zwar tatsächlich bei der Analogie wie auch bei der Auslegung um zwei gleiche Schlussverfahren handelt. Dennoch gebiete aber der verfassungsrechtliche Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, dass nur innerhalb der Grenzen des vom demokratisch gewählten Legislativorgan verabschiedeten Wortlauts entschieden werden darf (Roxin, AT I, § 5, Rn. 36). 256 Vgl. Jescheck/Weigend, AT, § 58 IV 3; Roxin, AT II, § 31, Rn. 32. 257 So NK-Seelmann, § 13, Rn. 1. 258 Vgl. hierzu BVerfGE 48, 40 (45 f.); 64, 229 (241 f.); 88, 145 (166 f.); 90, 263 (274 f.). Zu den Grundlagen dieser Rechtsfigur instruktiv Duttge, Kohlmann-FS, S. 29. 259 Siehe hierzu Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 79. 260 Anderer Ansicht z. B. Haft, AT, S. 179, der eine Analogie in diesem Zusammenhang für unausweichlich hält.

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schaft.261 Es unterscheidet sich von der Analogie dadurch, dass es eine ungeschriebene Rechtsquelle darstellt, während die Analogie als ein „Weiterdenken“ im Hinblick auf bereits kodifiziertes Recht zu charakterisieren ist.262 Das Grundgesetz verbietet die Anwendung eines derartigen Rechts zu Lasten des Täters.263 Auch bezüglich dieses Verbots besteht bei § 13 StGB eine problematische Situation. Vereinzelt wird eine „gewohnheitsrechtliche Verfestigung“ der dogmatisch nur schwer einzuordnenden264 Garantenstellung aus Ingerenz, das heißt aus vorangegangenem Tun, angenommen265, teilweise wird sogar die gesamte Garantendogmatik als gewohnheitsrechtlich verfestigt angesehen.266 Erachtet man im Hinblick auf die Frage nach der strafrechtlichen Einstandspflicht eine länger andauernde Rechtspraxis überhaupt als existent, dann spricht jedoch entscheidend gegen deren gewohnheitsrechtliche Verfestigung, dass Rechtsprechung und Wissenschaft sich stets in dem bereits angesprochenen Spielraum bewegen, der ihnen durch den Gesetzgeber zugebilligt wird. Folglich stellt sich das Vorgehen begrifflich als Auslegung dar, nicht jedoch als Schaffung einer ungeschriebenen Rechtsquelle.267 Damit bleibt im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit zu klären, inwiefern die Herleitung einer Garantenstellung durch das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot beeinflusst wird. (bb) Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG im Rahmen des Allgemeinen Teil des StGB Der Diskussion, auf welche Weise sich diese Garantie auf die Strafrechtspraxis auswirkt, ist jedoch die grundsätzliche Frage vorgeschaltet, ob Art. 103 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit Normen des Allgemeinen Teils des StGB 261

SK-Rudolphi, § 1, Rn. 17; Larenz, Methodenlehre, S. 356 ff. So Fincke, Verhältnis, S. 17, der freilich von dem neueren Verständnis der Analogie als notwendigem Bestandteil der Auslegung ausgeht und die Analogie daher als Auslegungsmethode beschreibt. 263 BVerfGE 71, 115; 73, 235. 264 Nähere Untersuchungen hierzu bei Pfleiderer; Garantenstellung; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik; Welp, Vorangegangenes Tun; krit. zu diesen Ansichten u. a. Schünemann, Grund und Grenzen, S. 81 ff.; ders., GA 1974, 236 ff. 265 So interpretiert Seebode, JZ 2004, 306 die Entscheidung des BVerfG (JZ 2004, 303 ff.); in diesem Sinne auch BVerfGE 96, 68 ff. 266 BGHSt 4, 20, 22: „. . . heute allgemein anerkannt.“; 19, 152, 154; Jescheck/Weigend, AT, § 15 III 1. 267 So auch generell im Hinblick auf die Lehren des Allgemeinen Teil des Strafrechts Roxin, AT I, § 5, Rn. 47, der zudem in der folgenden Randnummer auf den entscheidenden Vorteil dieser Sichtweise – die Möglichkeit, von der vormals gewählten Deutung abweichen zu können – hinweist. 262

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(§§ 1 bis 79b StGB) überhaupt Geltung besitzt. Diese wird nicht einheitlich beantwortet. Während einige Autoren die grundgesetzliche Regelung in diesem Bereich vollkommen oder zum Teil negieren268, lehnt die Mehrzahl eine Rücknahme des Geltungsumfangs des Art. 103 Abs. 2 GG gänzlich ab.269 Gegen die erstgenannte Ansicht spricht, dass der Gesetzgeber in dem Fall mittels eines „simplen legislatorischen Kunstgriffs“270, namentlich dadurch, dass er originär dem Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs zugehörige Normen in den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs inkorporierte, in der Lage wäre, bestimmte Regelungsbereiche der Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG zu entziehen.271 Auch die speziell im Hinblick auf § 13 StGB geäußerte Ansicht, bei der Norm handele es sich in Wahrheit um eine die Strafbarkeit einschränkende Regelung272, ist abzulehnen, da im StGB kein generelles Gebot existiert, das eine strafrechtliche Einstandspflicht aller für andere Menschen aufstellt.273 (cc) Wirkungen der Garantien des Bestimmtheitsgebots auf die Auslegung des § 13 StGB Es bleibt daher lediglich zu klären, welche Wirkungen eine verfassungskonforme Auslegung des § 13 StGB speziell im Lichte des Bestimmtheitsgebots nach sich zieht.274

268 Gegen eine Geltung des Analogieverbots u. a. Jähnke, Schlüchter-GedSchr, S. 105 u. Jakobs, 4/43; gegen die des Bestimmtheitsgrundsatzes beispielsweise Herzberg, Garantenprinzip, S. 254. 269 S/S/Eser, § 1, Rn. 26; Duttge, Handlungsunwert, S. 162 ff.; ders., KohlmannFS, S. 16 ff.; Maurach/Zipf, AT I, § 10, Rn. 21; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 90 ff.; Seebode, Spendel-FS, S. 337. Nicht ganz eindeutig der BGH im Zusammenhang mit der actio libera in causa – während der 4. Strafsenat die Anwendbarkeit der Rechtsfigur für die verhaltensgebundenen Delikte mit Blick auf das durch Art. 103 Abs. 2 GG statuierte Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts im Zusammenhang mit § 20 StGB verneint hat (BGHSt 42, 235, 241), halten der 2. und der 3. Strafsenat jenseits dieser Normen weiter daran fest (BGH NStZ 2000, 584; BGH JR 1997, 391). 270 So die Formulierung von Sangenstedt, Garantenstellung, S. 92. 271 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fincke, Verhältnis, S. 3 ff., der – u. a. rechtshistorisch sowie rechtsvergleichend – auf die Relativität der Verortung von Normen in einem bestimmten Teil des StGB hinweist. 272 Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 46, Rn. 40 ff. 273 So zu Recht Jakobs, 29/4; Seebode, Spendel-FS, S. 335; Armin Kaufmann, JuS 1961, 176; i. E. ebenso Welp, Vorangegangenes Tun, S. 143 f. 274 Zur Konkretisierung der Ausflüsse des Bestimmtheitsgebots generell Duttge, Kohlmann-FS, S. 21 ff.

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Zunächst folgt aus der dem Gesetzgeber aufgebürdeten Aufgabe, dem Bürger mögliche Strafbarkeitsrisiken klar aufzuzeigen und das StGB als dessen „Risikokatalog“ zu gestalten, dass die beiden Vorgaben des § 13 StGB, das rechtliche Einstehenmüssen und die sogenannte Entsprechensklausel, angemessen zu berücksichtigen sind und nicht eine vom Wortlaut der Norm vollkommen losgelöste Dogmatik entwickelt werden kann. Weiterhin zeitigt das Bestimmtheitsgebot die Konsequenz, dass eine rein kasuistisch orientierte Herleitung von Garantenstellungen den Erfordernissen der Verfassung nicht gerecht zu werden vermag.275 Die gebotene Auslegung des § 13 StGB hat darin zu bestehen, ein umfassendes System zu entwickeln, welches sämtliche Garantenstellungen erklären kann. Diese Grundeinteilung darf nicht mit bloß umschreibenden „Schlagwörtern“ ausgefüllt werden, sondern muss die maßgebenden Wertungskriterien aus dem geltenden Recht ableiten, insbesondere aus der Verfassung.276 Schließlich bewirkt Art. 103 Abs. 2 GG, dass bereits im Hinblick auf die einzelnen Garantenstellungen ein restriktives Vorgehen angezeigt ist.277 (b) Genereller Diskussionsstand zur Garantenfrage278 in Judikatur und Lehre Durch die herausgearbeitete Notwendigkeit, sich bei § 13 StGB an den Wortlautvorgaben zu orientieren, sind die wesentlichen Argumentationstopoi im Streit um die Herleitung einer Garantenstellung vorgegeben, nicht jedoch ihre Gewichtung im einzelnen. Während ein Teil der Literatur sowie die überwiegende Mehrheit der Rechtsprechung vorrangig auf den ersten Halbsatz des § 13 Abs. 1 StGB abstellen, den Rechtspflichtcharakter der Garantenstellung betonen und meinen, damit in der Regel zugleich der „Entsprechensklausel“ des § 13 Abs. 1 HS 2 StGB Genüge getan zu haben, sehen andere Autoren das maßgebende Kriterium darin, das Moment zu bestimmen, welches die materielle Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen bewirkt. Sie stellen damit eher auf den zweiten Halbsatz des § 13 Abs. 1 StGB ab.279 Eine dritte Ansicht schließlich möchte Aspekte von Rechtspflicht und Gleichwertigkeit miteinander verbinden, um eine strafrechtliche Handlungspflicht herzuleiten.280 275

In diesem Sinne bereits Schünemann, ZStW 96 (1984), 304. So auch die Forderung von Sangenstedt, Garantenstellung, S. 103 ff. 277 Ebenso NK-Seelmann, § 13, Rn. 10; S/S/Stree, § 13, Rn. 6; Baumann/Weber/ Mitsch, § 15, Rn. 41; Sowada, Jura 2003, 237. 278 Der Begriff „Garant“ geht auf Nagler, GS 111 (1938), 59 zurück; krit. hierzu Dencker, Stree/Wessels-FS, S. 159, Fn. 1 und Freund, Erfolgsdelikt, S. 39 ff., 135 ff. 279 Vgl. z. B. H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 202 ff. 276

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Die Bandbreite der vertretenen Denkmodelle erschöpft sich indes nicht in dieser Meinungstrias. Vielmehr ist das Feld der vertretenen Ansichten nahezu unübersehbar detailliert geworden. Dies liegt einerseits daran, dass teilweise isoliert der Haftungsgrund speziell für einzelne Garantenstellungen diskutiert wird, ohne ein Gesamtkonzept zu hinterfragen281, teilweise aber auch an dem jeweiligen dogmatischen Ausgangspunkt der Autoren.282 Ziel der vorliegenden Arbeit kann und soll es nicht sein, sämtliche Ansätze im einzelnen wiederzugeben. Vielmehr werden im folgenden nur die hauptsächlich vertretenen Richtungen skizziert, um das Verständnis der im folgenden en détail darzustellenden Ansichten zur Garantenstellung der Jugendamtsmitarbeiter zu ermöglichen. Die hierbei favorisierte Einteilung der Ansichten wird in der Literatur zum Teil abweichend vorgenommen.283 (aa) Bedeutung von Rechtspflichten Dafür, dass die Statuierung rechtlicher Pflichten durch Normen oder Verträge für die Garantenstellung von Belang ist, spricht seit dem Jahr 1975 der erste Halbsatz des § 13 Abs. 1 StGB. Es blieb jedoch seitens des Gesetzgebers die Frage unbeantwortet, welchen Charakter und welche Qualität diese Rechtsquellen besitzen müssen, um ein strafrechtliches Einstehenmüssen erzeugen zu können, und welche Rolle in diesem Zusammenhang die sogenannte Gleichstellungsklausel des § 13 Abs. 1 HS 2 StGB spielt. Dass der Gesetzgeber mit seiner Formulierung nicht auf Normen des StGB rekurrieren wollte, ist unstreitig, denn ansonsten würde sich der Inhalt des § 13 StGB auf die „Binsenweisheit“284 beschränken, dass derjenige wegen eines Un-

280 Bildhaft in diesem Zusammenhang Herzberg, Garantenprinzip, S. 206, der bereits im Jahr 1972 im Hinblick auf die Garantendiskussion eine „Pendelbewegung“ zwischen Rechtspflicht- und Gleichstellungsprinzip konstatiert. 281 Vgl. z. B. Stree, H. Mayer-FS, S. 146 ff., der sich auf die Betrachtung der Garantenstellung kraft Übernahme beschränkt, sowie Welp, Vorangegangenes Tun, der die Ingerenz behandelt. 282 Siehe in diesem Zusammenhang beispielhaft die im folgenden näher abzuhandelnden Ansichten von Herzberg, Garantenprinzip, der das Problem im Rahmen des von ihm entwickelten sogenannten negativen Handlungsbegriff (vgl. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (4)) diskutiert, E. A. Wolff, Kausalität, der die Frage im Zusammenhang mit der Bewirkensqualität der Unterlassung abhandelt sowie Androulakis, Studien, der die Problematik als eine Differenzierungsfrage erachtet, nachdem er die unechte Unterlassung von sonstigen Omissionen abgeschichtet hat. 283 Siehe statt aller Androulakis, Studien, S. 180 ff., der zwischen unitaristischen und pluralistischen Theorien unterscheidet. 284 Sangenstedt, Garantenstellung, S. 188.

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terlassenserfolgs zur Verantwortung gezogen werden könnte, der strafrechtlich für den Nichteintritt desselben einzustehen hat.285 Während diese Prämisse unbestritten ist, wird kontrovers diskutiert, ob außerstrafrechtliche Normen dazu imstande sind, Handlungspflichten im Sinne des StGB hervorzurufen, beziehungsweise ob (darüber hinaus auch) andere Garantenquellen denkbar sind. (a) „Strenge Rechtspflichtlehre“ Nach überkommener, bereits von Feuerbach vertretener Ansicht286 stellte neben dem Vertrag das Gesetz die mögliche Quelle einer Garantenstellung dar.287 Hierzu trat in der Folge die Ingerenz.288 Diese Trias wurde im weiteren Verlauf durch die enge Lebens- und Gefahrengemeinschaft ergänzt. Im Lauf der Zeit wurde jedoch herausgearbeitet, dass nicht jedes Gesetz eine Garantenstellung zu kreieren vermag.289 Hierfür spricht zum einen die Tatsache, dass das Strafrecht teilweise andere Zielvorgaben als das Zivilrecht und das Öffentliche Recht verfolgt, und zum anderen, dass ansonsten der dem grundgesetzlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip zu entnehmende Charakter des Strafrechts als ultima ratio290 konterkariert werden würde.291 Auch für den Entstehungsgrund des Vertrags ergab sich bereits relativ früh, dass es zur Begründung von Handlungspflichten nicht auf die rechtliche Wirksamkeit, sondern auf die tatsächliche Übernahme der hieraus resultierenden Pflichten ankommt.292 Der zivilrechtliche Vertragsbruch als solcher kann wegen

285 Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 52; Schünemann, ZStW 96 (1984), 298: „bloße Tautologie“. 286 In diesem Sinne auch RGSt 63, 394, siehe aber RGSt 66, 73; 69, 321; für eine Anknüpfung an die Lehre Feuerbachs aufgrund verfassungskonformer Auslegung des § 13 Abs. 1 StGB in der Gegenwart Seebode, Spendel-FS, S. 345; dagegen Schünemann, ZStW 96 (1984), 298: „offensichtlich indiskutabler Atavismus“; krit. auch Roxin, AT II, § 31, Rn. 34. 287 Vert. zur Geschichte der Rechtspflichtlehre Schünemann, Grund und Grenzen, S. 218 ff. 288 Zu deren Historie siehe u. a. Welp, Vorangegangenes Tun, S. 29 ff. 289 Vgl. in diesem Zusammenhang BGHSt 37, 106, 137 („Ledersprayfall“); Herzberg, Garantenprinzip, S. 208: „. . . liefe auf die Abdankung des Strafrechts im Unterlassungsbereich hinaus.“; D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 26 f.; Wessels/Beulke, Rn. 720. Ablehnend gegenüber der Rechtspflichttheorie auch Schaffstein, GleispachFS, S. 73 ff. (der freilich eine Garantenstellung auf der Grundlage der nationalsozialistischen „völkischen Sittenordnung“ herleiten will, vgl. S. 96 a. a. O.). 290 Siehe hierzu Roxin, AT I, § 2, Rn. 28 f. m.w. N. 291 Sangenstedt, Garantenstellung, S. 182. 292 So bereits RGSt 17, 260, 261; siehe aber auch RGSt 39, 397, 398; 58, 130, 131; 64, 273, 275 f.

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des bereits erwähnten ultima-ratio-Charakters des Strafrechts keine Relevanz für das Strafrecht entfalten.293 Zudem lässt sich in neuerer Zeit aus der Entstehungsgeschichte des § 13 Abs. 1 StGB ein historisches Argument speziell gegen die Herleitung von Garantenstellungen aus außerstrafrechtlichen Gesetzen folgern: So verfolgte der Normgeber mit der Formulierung des § 13 Abs. 1 StGB nachweislich nicht das Ziel, die strenge formelle Rechtspflichttheorie gesetzlich zu verankern. Nach eigenem Bekunden beschränkte er sich vielmehr darauf, das Erfordernis einer Garantenstellung, die daraus folgende Garantenpflicht sowie die Gleichwertigkeit der Unrechtsverwirklichung mit dem aktiven Tun festzulegen.294 Gegen diese Theorie spricht aus heutiger Sicht, dass sie nicht der dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot zu entnehmenden Forderung nach einem allumfassenden Garantensystem nachzukommen vermag. Zudem kann ihr entgegengehalten werden, dass zumindest der Wortlaut des § 13 Abs. 1 HS 2 StGB dafür spricht, dass die Rechtspflicht einen gewissen Gleichstellungscharakter besitzen muss, der bei der kasuistischen Betrachtungsweise vernachlässigt wird. Nichtsdestotrotz rekurriert ein Teil der Rechtsprechung sowie der Literatur zur Begründung einer strafrechtlichen Einstehenspflicht zum Teil bis in die Gegenwart auf die Topoi Gesetz, Vertrag und vorangegangenes Tun.295 (b) „Eingeschränkte Rechtspflichtlehre“296 Eine einschränkende Spielart der formellen Rechtsquellenlehre, die heute vertreten wird, meint, nicht jede beliebige, wohl aber besonders qualifizierte außer293 Weitere Argumente gegen die Herleitung einer Garantenstellung aus Vertrag bei Stree, H. Mayer-FS, S. 148 ff. 294 Vgl. hierzu BT-DrS V/4095, S. 8 sowie Sangenstedt, Garantenstellung, S. 189 ff. 295 Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang das – im Hinblick auf die Garantenstellung bei Jugendamtsmitarbeitern ausführlich zu erörternde – Berufungsurteil im Fall „Laura Jane“ genannt, bei dem das LG Osnabrück sich auf eine Prüfung von Gesetz (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII) und Vertrag (Arbeitsvertrag der Angeklagten) beschränkte (abgedruckt in NStZ 1996, 437); siehe ebenso das für die Revision zuständige OLG Oldenburg in StV 1997, 134. Ein Verweis auf die neuere Betrachtungsweise fehlt ebenfalls bei Münder u. a., FKSGB VIII, § 1, Rn. 39 sowie bei Mörsberger in: Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 159 f. In der allgemeinen strafrechtlichen Literatur folgen vor allem Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 51, 75 sowie Seebode, Spendel-FS, S. 342 f. noch der formellen Betrachtungsweise. Zu beachten ist jedoch, dass der BGH seit einiger Zeit die Tendenz erkennen lässt, dass er von der isolierten Betrachtung möglicher Garantenquellen abrückt, s. BGHSt 48, 305 (zur Garantenstellung von getrennt lebenden Ehegatten – „(. . .) eine vermittelnde Betrachtungsweise angezeigt“) sowie BGHSt 38, 388, 390; 48, 91 f. („Politbürofall“), in denen das Gericht die im folgenden zu erörternde Trennung von Beschützer- und Überwachergarantenstellung vornimmt. 296 Teilweise wird diese Ansicht auch als „Funktionenlehre“ bezeichnet; s. z. B. OLG Stuttgart NJW 1998, 3132 (Fall „Jenny“); Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 83;

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strafrechtliche Rechtspflichten könnten eine Garantenstellung kreieren. Entscheidend hierfür sei, dass nach den Maßstäben des Strafrechts das Passivbleiben dem Begehungstatbestand wertungsmäßig gleichzustellen sei.297 Im Anschluss an Armin Kaufmann wird versucht, die dabei denkbaren Positionen nach der Beziehung des Handlungspflichtigen zu dem gefährdeten Rechtsgut bzw. zur Gefahrenquelle zu systematisieren.298 Während es bei der sogenannten Überwachergarantenstellung um die Bewahrung der Allgemeinheit vor einer Gefahrenquelle geht, handelt es sich bei der Position als Beschützergarant um eine Situation, in der ein bestimmtes Rechtsgut vor einer Vielzahl von Gefahren durch die Außenwelt zu schützen ist. Möglich sollen jedoch auch sogenannte doppelfunktionale Handlungen sein, das heißt, dass ein Handlungspflichtiger sowohl für den Schutz der Allgemeinheit als auch für die Bewachung einer bestimmten Gefahrenquelle verantwortlich ist.299 Der Vorteil gegenüber der alten Betrachtungsweise liegt darin, dass sie die Richtung der Handlungspflichten aufzuzeigen vermag.300 Einen Beitrag zur inhaltlichen Bestimmung einer strafrechtlichen Einstandspflicht, also eine Aussage darüber, welches das kennzeichnende Moment jeder Garantenstellung ist, vermag diese Kategorisierung jedoch nicht zu leisten. Sie baut vielmehr auf einem gewissen Kanon an Entstehungsgründen auf, auf denen zum Teil bereits die „strenge Rechtspflichttheorie“ gründete – freilich angepasst an die aktuelle dogmatische Entwicklung301. Damit setzt sich diese Ansicht302

Jakobs, 29/27; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 2; Pawlik, ZStW 111 (1999), 337; Sowada, Jura 2003, 237; s. a. Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 77 („funktionelle Rechtspflichtlehre“) und Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 46, Rn. 64 („materiell-formelle Garantenlehre“). 297 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 284 f.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung, S. 333 f.; dagegen Sangenstedt, Garantenstellung, S. 210 ff. 298 Grundlegend Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 283 ff.; ihm folgend neuerdings auch BGHSt 48, 91 f. („Politbürofall“) sowie SK-Rudolphi, § 13, Rn. 24; S/S/Stree, § 13, Rn. 9; Androulakis, Studien, S. 205 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 716; Maiwald, JuS 1981, 481 f.; gegen eine Systematisierungswirkung der Unterscheidung hingegen Jakobs, 29/27; zweifelnd auch Arzt, JA 1980, 652. 299 Vgl. in diesem Zusammenhang NK-Seelmann, § 13, Rn. 55, der auf den „. . . in Lehrbüchern legendäre(n) (. . .) Bademeister“ hinweist, welcher sowohl als Beschützergarant für das Wohl der Badenden als auch als Überwachergarant im Hinblick auf die Gefahrenquelle Wasser verantwortlich sein soll. Ein aktuelles Beispiel vermag auch der kürzlich entschiedene „Politbürofall“ zu liefern (BGHSt 48, 77, 91 f.), in dem der BGH sowohl eine Überwachergarantenstellung der Mitglieder des Politbüros der DDR für das Grenzregime als auch eine Beschützergarantenstellung gegenüber den zur Flucht entschlossenen DDR-Bürgern annahm. Aus diesen doppelfunktionalen Handlungen wird z. T. die Beliebigkeit der Systematisierung gefolgert (s. z. B. Pawlik, ZStW 111 (1999), 342; dagegen u. a. Gropp, AT, § 11, Rn. 21). 300 S/S/Stree, § 13, Rn. 9; Bringewat, Tod eines Kindes, S. 41; Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 14 f.; Stree, H. Mayer-FS, S. 147; Pawlik, ZStW 111 (1999), 339.

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jedoch zugleich der bereits dargelegten Kritikpunkte gegenüber der strengen formellen Rechtspflichtlehre aus.303 (bb) Materialisierungsansätze Es wird daher – teils von den Vertretern der eingeschränkten Rechtspflichttheorie selbst, teils von Autoren, die diese vollends aufgeben wollen – vertreten, es sei zur eindeutigen Bestimmbarkeit von strafrechtlichen Einstandspflichten notwendig, den „materiellen Kern“ aller Garantenstellungen zu ermitteln, damit auf das von der eingeschränkten formellen Rechtspflichttheorie gebildete „materielle Fundament“304 der Kategorisierung nach Beschützer- und Überwachergarant aufgebaut werden kann. Die bereits angesprochene Vielfalt der Meinungen zu dieser Frage führt auch im Hinblick auf die Materialisierung dazu, dass nachfolgend nur die bekanntesten Ansichten referiert werden können.305 (a) Soziologisch orientierte Theorien Verbreitet wird versucht, die Grundlage jeglicher Garantenstellung durch einen Rückgriff auf die gesellschaftsbezogenen Wissenschaften zu ermitteln. Androulakis prüft eine Handlungsverpflichtung auf zwei Stufen. Zunächst ist seiner Ansicht nach die ontologische Vergleichbarkeit zwischen dem Unterlassen und einem aktiven Tun nachzuweisen. Das charakteristische Moment, welches das Unterlassen dem aktiven Tun gleichstellt, soll in dem sozialen Näheverhältnis zwischen dem Handlungspflichtigen und dem gefährdeten Rechtsgut 301 Der von der streng formellen Betrachtungsweise herrührende Rechtsgrund des Vertrags erfährt z. B. in diesem Zusammenhang seine Fortsetzung als Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme bzw. als Amtsträger oder Organ juristischer Personen; vgl. Gropp, AT, § 11, Rn. 27, 30a; instruktiv auch Stree, H. Mayer-FS, S. 148 ff. 302 Joecks, § 13, Rn. 21; Lackner/Kühl, § 13, Rn. 6; SK-Rudolphi, § 13, Rn. 25; S/ S/Stree, § 13, Rn. 8; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 77 f. („Materiell-formelle Garantenlehre“); Gropp, AT, § 11, Rn. 21; Haft, AT, S. 185 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 2; Wessels/Beulke, Rn. 716; Arzt, JA 1980, 648; Bringewat, BldW 2002, 26. 303 Siehe z. B. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 36 f.; Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 50; Roxin, AT II, § 32, Rn. 22; Seebode, Spendel-FS, S. 333 sowie Bohnert, ZStW 117 (2005), 303. 304 So die Bezeichnung von Roxin, AT II, § 32, Rn. 22. 305 Einen wesentlich umfassenderen Überblick über die zahlreichen Ansätze zur Materialisierung des Haftungsgrunds geben z. B. Schünemann, Grund und Grenzen, S. 77 ff. (zu Konzeptionen bis zum Jahr 1970); Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 79, Fn. 207; Otto/Brammsen, Jura 1985, 532 ff. (alle bis zum Jahr 1985) sowie Sangenstedt, Garantenstellung, S. 123 ff. (bis zum Jahr 1988) und D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 38 ff. (bis zum Jahr 1998); siehe auch die nach eigener Aussage „signifikanten Beispiele“ bis zum Jahr 1991 bei Jakobs 29/28, Fn. 53 sowie die Übersicht auf dem Stand vom Jahr 2000 bei Grünewald, Garantenpflichten, S. 18 ff.

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bzw. der Gefahrenquelle bestehen, das bereits vor dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs existiert haben müsse und von ihm als „schon vorher DanebenSein“ beschrieben wird.306 Er differenziert dabei zwischen einer besonderen Nähe entweder zum Inhaber des verletzten Rechtsguts oder zum Gefahrenherd.307 Im Folgenden ist seiner Ansicht nach die axiologische Vergleichbarkeit zu prüfen, es ist also zu beantworten, ob die ontologisch dem Handeln vergleichbare Unterlassung, die Androulakis bereits als Garantenstellung begreift308, auch strafwürdig erscheint.309 Entscheidend hierfür sei das aktuell herrschende weltanschauliche, politische und soziale Klima.310 Otto311 und Brammsen312 verfahren ähnlich, indem sie auf die Erwartungen an die Vornahme einer bestimmten Handlung in der Gesellschaft abstellen.313 Sie halten die von Bärwinkel 314 auf der Basis der sozialethischen Unrechtslehre propagierte garantenschaffende Kraft sozialer, gemeinwohlnotwendiger Rollen für zu unpräzise315 und richten ihren Blick auf einzelne zwischenmenschliche Erwartungshaltungen, namentlich auf die von Luhmann herausgearbeiteten 306 Androulakis, Studien, S. 159 ff.; 206 ff.; krit. demgegenüber Sangenstedt, Garantenstellung, S. 126 ff., der anführt, Androulakis lasse sich in Wahrheit von normativen Erwägungen leiten; abl. auch D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 40 („Kriterium der Nähe (. . .) zu weit, unklar und unbestimmt“); ebenso Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 52 in Übereinstimmung mit Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 119 u. Schünemann, Grund und Grenzen, S. 151 ff. 307 Androulakis, Studien, S. 159 f. Insoweit zust. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 40. 308 Androulakis, Studien, S. 221. 309 Androulakis, Studien, S. 220, 223: „Differenzierungsfrage“. 310 Androulakis, Studien, S. 220; auch insoweit ablehnend Sangenstedt, Garantenstellung, S. 130, der den mangelnden Bezug zur Verfassung moniert. 311 Otto, GK AT, § 9, Rn. 42 ff. 312 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 116 ff.; krit. zum Näheverhältnis Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 46, Rn. 62; Roxin, AT II, § 32, Rn. 31 („. . . zu unbestimmt.“) und Sangenstedt, Garantenstellung, S. 145 ff. (s. S. 146: „. . . behelfen sich mit bloßen Mutmaßungen und einer laienhaft oberflächlichen Alltagslogik . . .“). 313 Otto/Brammsen, Jura 1985, 536; ähnlich Kreutz, ZfF 2000, 203 f.; krit. Freund, Erfolgsdelikt, S. 137, der die Gleichstellung mittels der „Erwartungserwartung“ als „blanke petitio principii“ abkanzelt; s. a. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 45: „. . . fehlt auch bei dieser Kategorie jede formelle, auf rechtlicher Basis beruhende Begründungsgrundlage“ und Grünewald, Garantenpflichten, S. 26: „. . . Schluss vom Sein auf das Sollen ist bekanntlich unzureichend.“ 314 Bärwinkel, Struktur, S. 111; gegen seine Ansicht Schünemann, Grund und Grenzen, S. 128 ff.; Bärwinkels Meinung wurde weitergeführt von Philipps, Handlungsspielraum, S. 151 f.; 157; 178. 315 Siehe Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 55 ff.; Otto, GK AT, § 9, Rn. 33; ders./Brammsen, Jura 1985, 535 f.; krit. auch D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 43; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 134 ff.; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 128 ff. und E. A. Wolff, Kausalität, S. 39 f. (der sich freilich nicht auf Otto bzw. Brammsen, sondern auf die generelle Prägnanz sozialer Rollen bezieht).

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„Erwartungen von Erwartungen“316. Diese sollen zur Entlastung der Kommunikation unausgesprochen geltende Regeln darstellen und die Fähigkeit zur Erzeugung einer Garantenstellung besitzen, wenn sie allgemein erwartet werden können, zwingend und gegenseitig sowie von solcher Festigkeit und solchem Gewicht sind, dass ihre Verletzung einem positiven Tun gleichkommt.317 Die Voraussetzungen sollen jedenfalls immer dann erfüllt sein, wenn sich die Erwartungen in einer entsprechenden Rechtsnorm verdichtet haben.318 Herzberg knüpft an die Zweiteilung Armin Kaufmanns an. Er meint auf der Grundlage des von ihm vertretenen „negativen Handlungsbegriffs“319, dass eine besondere Verantwortlichkeit des Täters im sozialen Leben die Garantenstellung hervorrufe.320 Außerstrafrechtliche Normen haben seiner Ansicht nach einen wichtigen Indizcharakter für die Existenz einer Garantenstellung, da das Recht die soziale Wirklichkeit abbilde. Letztlich entscheidend sein sollen jedoch strafrechtliche Wertungsgesichtspunkte.321 (b) Vertrauens- oder Abhängigkeitsbeziehung Manche Autoren322 scheinen auf den ersten Blick ähnlich wie die an soziologischen Erkenntnissen orientierten Theorien zu verfahren. Sie stellen ebenfalls auf die tatsächlichen Verhältnisse in der Gesellschaft ab, meinen aber, die Garantenstellung mithilfe des ihrer Ansicht nach konkreteren Vertrauenstopos herleiten zu können.323 Einigkeit herrscht dahingehend, dass unter der Ägide des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots nicht bereits das tatsächliche Vertrauen als „subjektiv-psychologischer Befund“324, sondern nur als eine Art „Normvertrauen“325 316

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 33 ff. Siehe Otto, GK AT, § 9, Rn. 42 bis 46; ders./Brammsen, Jura 1985, 537. 318 Kreutz, ZfF 2000, 204. 319 Siehe hierzu bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (4). 320 Herzberg, Garantenprinzip, S. 215; krit. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 47 f.; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 171 ff. sowie Freund, Erfolgsdelikt, S. 146 ff., der meint, mit dem Kriterium der Sonderverantwortlichkeit könne der Grund der Strafbarkeit nicht eruiert werden. 321 Herzberg, Garantenprinzip, S. 216, 336. 322 Eine Tendenz in Richtung Vertrauensprinzip (wenngleich unter Rekurs auf die familienrechtlichen Regelungen) hat der BGH (BGHSt 48, 301, 305) jüngst in seinem Urteil zum Wegfall der Garantenpflicht bei getrennt lebenden Ehegatten anklingen lassen; vgl. dazu Wessels/Beulke, Rn. 718. Dabei handelt es sich jedoch um kein Novum; siehe z. B. schon RGSt 70, 45 f. 323 Zur geschichtlichen Entwicklung des Vertrauensprinzips siehe Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 78 ff. 324 So die Terminologie bei Sangenstedt, Garantenstellung, S. 221. 317

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ausschlaggebend sein kann.326 Als Argument dafür mag die Überlegung dienen, dass ansonsten das besonders leichtgläubige Opfer einen dogmatisch nicht nachvollziehbar höheren strafrechtlichen Schutz gegenüber einem kritischeren Zeitgenossen genießen würde.327 Dogmatisch bemerkenswert erscheinen in diesem Zusammenhang vor allem die Überlegungen von E. A. Wolff. Er argumentiert auf der Grundlage des von ihm entwickelten Kausalbegriffs und meint, ein Bewirken sei beim Begehungswie beim unechten Unterlassungsdelikt dann anzunehmen, wenn der Täter es einem anderen „zum Schlechten wendet“.328 Im Gegensatz dazu steht für ihn das Vorenthalten einer besonderen Vergünstigung, welches die Situation des § 323c StGB kennzeichnen soll. Lediglich im erstgenannten Fall sieht er eine Garantenstellung als gegeben an. Der einzelne vertraue in dieser Konstellation darauf, dass andere ihre Verpflichtungen erfüllen, und durch eben dieses Vertrauen gerate er in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Täter. Dieses muss nach Ansicht Wolffs zum normalen Leben gehören und darf – im Gegensatz zum echten Unterlassungsdelikt – nicht lediglich eine Sondervergünstigung des Handelnden gegenüber dem Hilfsbedürftigen darstellen.329 Die entscheidende Frage lautet also, ob es sich bei der unterbliebenen Handlung um eine „Heldentat“ oder um eine „normalerweise zu erwartende Handlung“ handelt.

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Sangenstedt, Garantenstellung, S. 222. LK-Jescheck, § 13, Rn. 4; Blei, H. Mayer-FS, S. 140; E. A. Wolff, Kausalität, S. 40; Philipps, Handlungsspielraum, S. 177 f.; speziell zur Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme Arzt, JA 1980, 650; Maiwald, JuS 1981, 481 f.; Wessels/Beulke, Rn. 718, 720 (zur natürlichen Verbundenheit sowie zur tatsächlichen Übernahme); zur Ingerenz vgl. Welp, Vorangegangenes Tun, S. 176 f.; krit. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 221 f. (der ein argumentum e contrario zu einzelnen Begehungstatbeständen zieht, bei denen ein Vertrauensverhältnis eine Rolle für die Strafbarkeit spielt, und die generelle Tauglichkeit dieses Aspekts in Frage stellt); Schünemann, Grund und Grenzen, S. 352 f. – er argumentiert, mit dem objektivierten Vertrauen normativiere sich der Vertrauensaspekt und gerate im Ergebnis zur Rechtspflicht „par excellence“ (auf S. 344 anerkennt er jedoch den Vertrauensakt des Opfers als einen Modus der für ihn maßgebenden Herrschaftsbegründung); ebenso NK-Seelmann, § 13, Rn. 43: („. . . zirkuläre Argumentation . . .“) sowie Grünewald, Garantenpflichten, S. 25. Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 137 f. relativiert die Kritik Schünemanns, betont aber, das Vertrauenskriterium sei nicht allein zur Ermittlung strafrechtlicher Einstandspflichten tauglich. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 57 schließlich meint, es sei in der bisherigen Diskussion nicht geglückt, den Begriff des Vertrauens hinreichend genau zu bestimmen; sie äußert daher, dieser Umstand könne nur einen Ansatzpunkt, nicht jedoch den alleinigen Grund für eine Strafbarkeit bilden. 327 So NK-Seelmann, § 13, Rn. 49; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 220 f. 328 E. A. Wolff, Kausalität, S. 40 ff. (vgl. insbesondere S. 40, Fn. 18: „. . . rechtlich gegründetes Vertrauensverhältnis“); krit. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 246 ff.; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 96 ff. 329 E. A. Wolff, Kausalität, S. 37. 326

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Diese Differenzierung führt zu der Frage, wie in diesem Zusammenhang die maßgebenden Wertungskriterien zu bestimmen sind – ein Umstand, der keine einheitliche Behandlung erfährt. Während eine Gruppe von Autoren auf die Gedanken der soziologisch orientierten Theorien (und damit auf die Überlegungen von Brammsen, Herzberg und Otto) abstellt und danach fragt, ob das Untätigbleiben gegen eine gesellschaftliche Handlungspflicht verstößt330, hält die Gegenansicht331 die Verankerung des Vertrauens in der Rechtsordnung in toto für ausschlaggebend. Zum Teil wird die Ansicht auch dahingehend abgewandelt, dass aus einem Vertrauen eine gesteigerte Abhängigkeitsbeziehung zum Handlungspflichtigen erwachsen müsse, indem der Vertrauende sich sonstiger Schutzmaßnahmen begebe.332 (g) Gefährdungskriterium333 Eine Modifikation der Abhängigkeitstheorien beziehungsweise des Vertrauensprinzips – vor allem auf dem Gebiet der tatsächlichen Übernahme einer Schutzfunktion334 – stellt die Ansicht dar, welche die gesteigerte Gefährdung des auf die Vornahme der gebotenen Handlung Vertrauenden als maßgebend erachtet.335

330 Blei, H. Mayer-FS, S. 140; ähnlich OLG Celle NJW 1961, 1939, 1940 („. . . sozialethische(n) Gebundenheit“); konsequent (da bereits gegenüber den „sozialen Theorien“) krit. hierzu Sangenstedt, Garantenstellung, S. 225. 331 Jakobs, 29/46 f.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 179; E. A. Wolff, Kausalität, S. 38 ff.; hiergegen werden die bereits im Rahmen der „strengen formellen Rechtspflichtlehre“ vorgebrachten Kritikpunkte fortgesetzt, s. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 233 f. 332 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54c; ders., JR 1989, 337 f. speziell zu Amtsträgern; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c; Kahlo, GA 1987, 71; ähnlich auch OLG Celle NJW 1961, 1939, 1940. 333 Die Darstellung dieser Frage ist in der Literatur nicht ganz einheitlich. Zum Teil wird sie auch im Zusammenhang mit dem Problem behandelt, wann ein Vertrauen als berechtigt angesehen werden kann; s. NK-Seelmann, § 13, Rn. 44 („Vertrauensinvestition“). 334 Speziell für die Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme S/S/Stree, § 13, Rn. 27; ders., H. Mayer-FS, S. 151, 154 f.; Haft, AT, S. 186; Wessels/Beulke, Rn. 720; diff. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 85 sowie Bringewat, Tod eines Kindes, S. 52 ff.; ders., Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 53 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch Jakobs, 29/48. Er stellt spiegelbildlich i.R. d. tatsächlichen Übernahme auf die Annahme ab, anderweitige Schutzmaßnahmen seien durch das Opfer dem Täter gegenüber preisgegeben worden. 335 Vertreten von Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 138 ff.; ders., JuS 1985, 271 sowie Arzt, JuS 1980, 560, 713, 715, 717; krit. hierzu D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 41 und Sangenstedt, Garantenstellung, S. 262 ff.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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Schultz meint, in der Schaffung oder Aufrechterhaltung einer dem Täter zurechenbaren Gefahr liege das gleichstellende Element zwischen Handlung und Unterlassen.336 Er entwickelt die von Armin Kaufmann herausgearbeitete Kategorisierung von Beschützer- und Überwachergarantenstellungen weiter und will zwischen Innengefahren, die durch den Verzicht auf bestimmte Sicherungsmaßnahmen hervorgerufen wurden, und von außen herrührenden Gefahren unterscheiden. Maßgebend für die Zurechenbarkeit sei die Verbindung einer Innen- mit einer Außengefahr, wobei der Täter entweder die Innengefahr erzeugt oder die Außengefahr bei bereits existenter Innengefahr beherrscht haben könne.337 (d) Handlungsverantwortung und soziale Zuordnung338 Eine Kombination zwischen dem Vertrauens- und dem Gefährdungsgedanken strebt Seelmann an. Seiner Ansicht nach ist ein Handlungsgebot nur dann als Rechtspflicht und nicht lediglich als moralische Maxime anzusehen, wenn es auf den Grundsatz des „neminem laedere“, also auf das Verletzungsverbot zurückgeführt werden kann.339 Dies soll der Fall sein, wenn entweder dem anderen durch die Untätigkeit die Abwehrbereitschaft gegenüber einer Gefahr entzogen wurde, oder wenn durch die Passivität selbst eine Gefahr geschaffen oder erhöht wurde.340 Gegenüber der erstgenannten Fallgruppe setzt Seelmann überdies voraus, dass das Verhalten des Unterlassenden geeignet war, Vertrauen in die Übernahme der Abwehrbereitschaft entstehen zu lassen, und dass tatsächlich ein derartiges Vertrauen existiert hat. Von dem Vertrauensprinzip unterscheide sich seine Meinung dadurch, dass Vertrauensinvestitionen lediglich Indizien für das faktische Vertrauen darstellten.341 Bezüglich des Gefahrschaffungsgedankens führt er an, dass ein solches 336 Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 145; ders., JuS 1985, 272; Schultz selbst allerdings sieht sich in dogmatischer Nähe zu Jakobs, der vorliegend in einem anderen Zusammenhang behandelt wird. 337 Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 142, 145 ff. 338 So die Bezeichnung von Grünewald, Garantenpflichten, S. 28. 339 NK-Seelmann, § 13, Rn. 48 f.; ihm folgend Grünewald, Garantenpflichten, S. 133 ff. Seelmann argumentiert auf der Basis der von Philipps (Handlungsspielraum) herausgearbeiteten Grundlagen, dass die unechten Unterlassungsdelikte einen Verstoß gegen ein Handlungsgebot voraussetzen (s. dazu bereits oben unter Teil 2 A. I. 1.). Krit. zum Begründungsansatz Seelmanns D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 56. Sie meint, die Differenzierung sei unbestimmt und könne die möglichen Garantenstellungen nicht begrenzen. 340 Mit der letztgenannten Variante knüpft er an die Äußerungen von Arzt und Schultz an. 341 NK-Seelmann, § 13, Rn. 48.

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Verhalten nur dann garantenerzeugende Kraft besitze, sofern nicht normalerweise der Betroffene selbst Vorsorge gegen bestimmte Gefahren treffe. Neben dem Gedanken der garantenschaffenden Kraft eines bestimmten Vorverhaltens erkennt Seelmann die davon unabhängige soziale Zuordnung als Garantenquelle an.342 (e) Kasuistische Herangehensweise Manche Autoren verfolgen nicht vorrangig das Anliegen, ein allen Garantenstellungen verbindendes Element nachzuweisen. Sie meinen, ein dem Bestimmtheitsgebot entsprechendes Garantiekonzept sei durch die Schaffung eines Katalogs von Handlungspflichten zu erzielen. Pfleiderer geht in diesem Zusammenhang von zweifelsfreien Grundfällen aus, bei denen eine Garantenstellung nicht in Frage steht. Als Beispiel nennt er unter anderem die Mutter, die ihr Kind verhungern lässt.343 Anhand eines Ähnlichkeitsvergleichs versucht er, auch nicht ganz so eindeutige Fälle unter den Garantenterminus zu subsumieren.344 Der Grundfall soll dabei eine ordnende Funktion ausüben und dem Garantenbegriff die notwendige Stütze verleihen. Henkel folgt der grundsätzlichen Zweiteilung Armin Kaufmanns und formt zwei Sammelgruppen, die er weiter unterteilt.345 Beschützergaranten seien „auf Posten gestellt“, um das gefährdete Rechtsgut zu schützen. Beispiele hierfür bilden seiner Ansicht nach Fürsorge- und Obhuts- sowie Gemeinschaftsverhältnisse. Überwachergarantenstellungen, also Pflichten zur Überwachung einer Gefahrenquelle, sollen beispielsweise im Fall der Ingerenz oder bei Verkehrssicherungspflichten folgen. Seine Ansicht weicht jedoch insofern von den Meinungen anderer Autoren ab, als er in einem zweiten Schritt, nach der Prüfung, ob eine

342

NK-Seelmann, § 13, Rn. 135. Pfleiderer, Garantenstellung, S. 127 (vgl. auch S. 126 a. a. O.: „In der Tat handelt es sich bei der Gleichwertigkeitsprüfung von Tun und Unterlassen um ein analogistisches Verfahren. Die Analogie ist aber um so berechtigter, je näher der Vergleichsfall liegt.“). 344 Pfleiderer, Garantenstellung, S. 120 ff.; ähnlich Schmidhäuser, 16/40 ff. und Arzt, JA 1980 553 ff. und jüngst Bohnert, ZStW 117 (2005), 303 („Zur Bestimmung des Grundes einer Garantie ist die Dogmatik nicht über die Fallgruppenmethode hinausgekommen. (. . .) Die Fallgruppenmethode basiert (. . .) auf dem gewichtenden Rechtsgefühl (. . .), es ist ein Wägen, ob die Handlungspflicht so stark ist, dass ihre Verletzung strafwürdig ist.“ (Hervorhebung im Original)); krit. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 52; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 161 ff.; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 81 ff.; ders., ZStW 96 (1984), 296 f., Fn. 32 (speziell zu Arzt). 345 Henkel, MschKrim 1961, 189 ff.; krit. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 46; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 155 ff. und Schünemann, Grund und Grenzen, S. 174 ff. 343

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bestimmte Fallgruppe einschlägig ist, wie Androulakis einen individuellen Wertungsakt des Richters für notwendig erachtet.346 (z) Organisations- und Institutionszuständigkeit Jakobs hält die von Armin Kaufmann entwickelte Zweiteilung der Handlungspflichten in solche kraft Beschützer- bzw. Überwachergarantenstellung für unsystematisch und beliebig.347 Er zieht diesem Vorgehen eine Einteilung in Pflichten kraft Organisationszuständigkeit und Pflichten aufgrund institutioneller Zuständigkeit vor.348 Die von ihm favorisierte Zweiteilung beruht auf dem Ansatz, dass sowohl die Unterlassungspflichten im Hinblick auf die Begehungsdelikte als auch die Handlungsgebote bei den Unterlassungsdelikten auf denselben Prämissen beruhen.349 Die Handlungspflichten kraft Organisationszuständigkeit leitet Jakobs aus einer Parallele zu den Begehungs-Herrschaftsdelikten her. Dort gehe es grundsätzlich darum, dass mit Rücksicht auf die allgemeine Entfaltungsfreiheit niemand den eigenen Organisationskreis ohne Rücksicht auf denjenigen einer anderen Person ausdehnen dürfe. Eine Überschreitung könne gebotswidrig durch Unterlassen wie auch verbotswidrig durch aktives Tun erfüllt werden. Oft sei eine Entscheidung zwischen diesen beiden Handlungsformen eher zufällig. Unter dem Topos „Organisationsbereich“ versteht Jakobs dabei Verantwortungsbereiche für Gefahren.350 Diese sollen sowohl aus der Herrschaft über (bereits vollzogene) Handlungen als auch aus derjenigen über Sachmittel erwachsen können. Parallel zu den Begehungs-Pflichtdelikten folgert er Handlungspflichten kraft institutioneller Zuständigkeit, das heißt die an Institutionen351 gebundene Zuständigkeit zur Aufopferung.352 Beispiele für derartige Institutionen sollen das 346

Henkel, MschKrim 1961, 192. Jakobs, 29/27. 348 Jakobs, 29/28 ff.; zust. Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 80 ff. und Pawlik, ZStW 111 (1999), 337 ff.; krit. D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 50; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 141 ff.; Grünewald, Garantenpflichten, S. 28; Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 46, Rn. 63; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 347 ff.; Schünemann, Spanisch-Deutsches Symposium, S. 50 ff.; vgl. aber auch Roxin, AT II, § 32, Rn. 23 f., der eine Ähnlichkeit zwischen der Organisationszuständigkeit und der Theorie der „Herrschaft über den Erfolgsgrund“ bei Schünemann zu erkennen meint. 349 Jakobs, 7/58, 28/13 ff. 350 Jakobs, 28/13, 29/29 ff. 351 Jakobs, 29/57, Fn. 114, versteht unter diesem Begriff die dauerhafte und rechtlich anerkannte Beziehungsform einer Gesellschaft, die der Disposition des einzelnen Menschen entzogen ist und ihn mit konstituiert. 347

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Eltern-Kind-Verhältnis, die Ehe sowie das „besondere Vertrauen“353 darstellen. Formelle Rechtspflichten haben seiner Ansicht nach keine konstitutive Wirkung; sie sollen aber bei der rechtlichen Anerkennung der Institutionen zu berücksichtigen sein.354 Auf das Kriterium der Sonderverantwortlichkeit möchte auch der ebenfalls einen einheitlichen Handlungsbegriff propagierende Freund abstellen.355 Er ist der Ansicht, eine Gleichwertigkeit zwischen Tun und Unterlassen könne nicht erreicht werden, wenn man für das unechte Unterlassungsdelikt die Voraussetzungen des Begehungsdelikts und zusätzlich eine Garantenstellung fordere, da letztere dann stets ein unterscheidendes Moment darstelle. Vielmehr sei auch beim aktiven Tun eine Sonderverantwortung nachzuweisen.356 Auf den ersten Blick gleicht diese Ansicht derjenigen Herzbergs. Eine Sonderverantwortlichkeit – und hiermit nähert er sich mehr der Ansicht von Jakobs an – sei vor allem dann anzunehmen, wenn die Gefahr aus dem Organisationskreis des Täters stammt.357 (h) Herrschaftsverhältnis über den Erfolgsgrund Schünemann zieht – wie auch Freund, der ihm insoweit zustimmt358 und methodisch ähnlich dem Ansatz Herzbergs – eine Analogie zur aktiven Handlung bei den Erfolgsdelikten zu Rate, um die Garantenstellung beschreiben zu können. Ihm zufolge ist es vonnöten, die Besonderheit des aktiven Tuns zu eruieren, die den „sachlogischen Grund“ für die Bestrafung bildet. Das entscheidende Zurechnungselement auf dem Gebiet der Erfolgsdelikte liege in der Herrschaft des Handelnden über seinen Körper.359 Es sei daher herauszufinden, ob der Unterlassende eine Herrschaft über den Grund des Erfolgs, also die aktuelle Kontrolle über das Geschehen besessen habe.360 Schünemann knüpft hierbei ausdrücklich361 an die von Roxin entwickelte Tatherrschaftslehre an.362 352

Jakobs, 28/15, 29/57 ff. Hiermit spricht Jakobs (29/67 ff.) den u. a. von E. A. Wolff (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (b)) betonten Aspekt an. 354 Jakobs, 29/28. Grünewald, Garantenpflichten, S. 28, folgert daraus einen „. . . im Grunde positivistischen Ansatz.“ 355 Freund, Erfolgsdelikt, S. 116 ff., 139 ff.; abl. Roxin, AT II, § 32, Rn. 31 („. . . beschreibt im Grunde nur, was schon durch den Begriff der Garantenstellung ausgedrückt wird . . .“); Schünemann, Spanisch-Deutsches Symposium, S. 52 ff. („Sonderverantwortung (. . .) nutzlose Tautologie . . .“). 356 MüKo-Freund, StGB, Bd. I, § 13, Rn. 46. 357 Freund, Erfolgsdelikt, S. 161 ff. 358 Freund, Erfolgsdelikt, S. 139 ff. 359 Schünemann, Grund und Grenzen, S. 235 f.; ders., GA 1973, 234 f. 360 Schünemann, Grund und Grenzen, S. 229 ff.; ders., Spanisch-Deutsches Symposium, S. 72; ders., ZStW 96 (1984), 312 ff.; ihm folgend Roxin, AT II, § 32, 353

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Die bloße Abwendungsmöglichkeit im Hinblick auf den Erfolg soll für die Beherrschung des Geschehens nicht genügen, vielmehr müsse sich dieser als Werk des Willens des Unterlassenden darstellen. Diese Herrschaft könne einerseits auf der Hilflosigkeit des Opfers beruhen, denkbar sei jedoch auch eine solche über den Gefahrenherd.363 Schünemann entwickelt damit eine von Armin Kaufmanns Lehre abweichende Zweiteilung der Garantenstellungen. Ähnlich364 wie Schünemann argumentiert Rudolphi.365 Er meint, konstitutiv für einen Garanten sei es, dass dieser eine soziale Schutzfunktion ausübe, aufgrund welcher ihm die Abwehr einer bestimmten Gefahr obliege.366 Zur Konkretisierung dieser Schutzfunktion zieht Rudolphi eine Parallele zu den Begehungsdelikten. Auf der Grundlage der finalen Handlungslehre367 kommt er nach einem Analogieschluss zum Begehungsdelikt zu dem Ergebnis, dass dem Unterlassenden die maßgebliche Entscheidung darüber obliegen müsse, ob der Unrechtserfolg eintritt. Der Täter müsse kurzgefasst die „Zentralgestalt des zu der Rechtsgutsverletzung hindrängenden Geschehens“368 sein.369 Rn. 19 ff.; ähnlich Sangenstedt, Garantenstellung, S. 291 ff. (s. hierzu Freund, Erfolgsdelikt, S. 149: „originelle Variante des Schünemann’schen Gleichstellungsansatzes“); krit. NK-Seelmann, § 13, Rn. 46, der meint, die Kennzeichnung, wer einen Erfolg abwenden kann, müsse nicht mit derjenigen übereinstimmen, der ihn abwenden muss; S/ S/Stree, § 13, Rn. 15, der an der Tauglichkeit der Theorie zur Grenzziehung zweifelt; D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 55, die den Begriff der Herrschaft für „mehrdeutig“ hält und Schünemann überdies eine unterschiedliche Anwendung desselben vorwirft und den konkreten Begründungsansatz vermisst; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 183, der das Herrschaftskriterium lediglich als „wesentliches Indiz“ im Rahmen der Überwachergarantenstellung anerkennen will, sowie Otto/Brammsen, Jura 1985, 534, die anmerken, dass auch eine Zurechnung nach Herrschaftsgesichtspunkten eine Wertung voraussetzt; vgl. auch Grünewald, Garantenpflichten, S. 23 f.; Maiwald, JuS 1981, 480 (s. die Antikritik hieran bei Schünemann, ZStW 96 (1984), 294, Fn. 26; ders., Spanisch-Deutsches Symposium, S. 76 f.); LK-Jescheck, § 13, Rn. 19, Fn. 27 sowie Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3, Fn. 34: „. . . erzielt damit (. . .) keinen Gewinn an Rechtssicherheit.“; Herzberg, Garantenprinzip, S. 189 ff. (hierzu wiederum eine Antikritik von Schünemann in GA 1973, 236 ff.); Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 46, Rn. 61. 361 Schünemann, Spanisch-Deutsches Symposium, S. 81 f. 362 Vgl. dazu Roxin, AT II, § 25, Rn. 17. 363 Roxin, AT II, § 32, Rn. 19, will in diesem Zusammenhang von „Kontrollherrschaft“ sprechen, die sowohl in Form der Schutz- als auch in der der Sicherungsherrschaft vorkommen können soll. 364 Diese Ähnlichkeit stellt Schünemann in wistra 1986, 242 selbst fest. Zum wesentlichen Unterschied – der Behandlung der Ingerenz – vgl. Fn. 73 a. a. O. 365 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 21 ff.; ders., Gleichstellungsproblematik, S. 96 ff.; ihm folgend H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 203. Sympathie für diese Ansicht äußern auch Beulke/Bachmann, JuS 1992, 740 im Hinblick auf eine Garantenstellung des Herstellers wegen Ingerenz im „Ledersprayfall“ (BGHSt 37, 106 ff.); grundsätzlich lobend auch D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 54. 366 Hiermit ähnelt er zugleich den soziologischen Theorien (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (a)). 367 Siehe dazu bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (2).

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Nachdem Rudolphi versucht hat, die sozialen Erscheinungsformen der Garantenstellungen – ausgehend von der Zweiteilung der Garantenstellungen im Sinne Armin Kaufmanns – zu eruieren370, ermittelt er die maßgebenden Wertvorstellungen und Ordnungsprinzipien, von denen abhängen soll, ob jemand als „Zentralgestalt“ anzusehen ist.371 Diese Kategorisierung anhand sozialer Kriterien ergänzt Rudolphi um die Frage nach den gesetzlichen Wertvorstellungen, die die Garantenstellung prägen. Als Fazit seiner zweistufigen Prüfung folgert er eine – neben der Systematisierung Armin Kaufmanns – notwendige weitere Unterteilung der Garantenstellung. Einerseits existierten die sogenannten primären Garantenstellungen, welche sich unmittelbar aus den Gegebenheiten des Gemeinschaftslebens ergäben.372 Andererseits seien sogenannte sekundäre Garantenstellungen existent, die aus vom Garanten selbst herbeigeführten Störungen des sozialen Gleichgewichts erwüchsen.373 Gimbernat schließlich konzentriert sich wie Schünemann und Rudolphi auf einen Ähnlichkeitsschluss zu den Begehungsdelikten.374 Er sieht eine Begehungsgleichheit zwischen diesen und den unechten Unterlassungsdelikten dann als gegeben an, wenn jemand die ihm zugewiesene Aufgabe, einen bestimmten Gefahrenherd zu überwachen, durch seine Untätigkeit destabilisiert, oder wenn er die bereits eingetretene Destabilisierung nicht wieder auf das normale Maß zurückführt.375 Gimbernat orientiert sich damit auch an einer Art Herrschaft, lässt jedoch aufgrund seiner enger gefassten Definition vor allem die – nach der Einteilung von Armin Kaufmann herausgearbeitete – Überwachergarantenstellung zu.376 Eine Handlungsverpflichtung als Beschützergarant soll dagegen nur dann in Betracht kommen, wenn das zu beschützende Rechtsgut selbst von vornherein einen Gefahrenherd darstellt, nicht jedoch, wenn die Hilfsbedürftigkeit erst im Lauf der Obhut eintritt.377

368 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 21; ders., Gleichstellungsproblematik, S. 99 (unter ausdrücklichem Verweis auf die Begriffsbildung bei Roxin in Fn. 18); ähnlich auch S. 101 a. a. O. 369 Krit. Schünemann, Grund und Grenzen, S. 163: „erscheint (. . .) nicht so glücklich.“; krit. zur Prägnanz dieses Terminus auch D. Albrecht, Garantenstellungen, S. 54. Sie meint zudem, Rudolphi vernachlässige die „formelle Begründungsquelle“ der Garantenstellungen. 370 Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 101 ff. 371 Vgl. SK-Rudolphi, § 13, Rn. 24 ff. 372 Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 106 f. 373 Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 108 f. 374 Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 307 ff.; krit. Roxin, AT II, § 32, Rn. 28, der jedoch in der folgenden Randnummer meint, in dieser Ansicht Anklänge an eigene frühere Aussagen zu erkennen. 375 Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 328. 376 Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 333. 377 Siehe Roxin, AT II, § 32, Rn. 26 f.

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(c) Fazit Ziel der vorliegenden Untersuchung kann es nicht sein, sämtliche vorstehend genannten Ansätze einer Detailkritik zu unterziehen. Insoweit muss weiterführend auf die in den Fußnoten angegebene Literatur verwiesen werden. Klar geworden ist jedoch, dass keine Ansicht ohne Gegenargumente geblieben ist. (aa) Gemeinsamkeiten Trotz der Vielzahl der Meinungen und der jeweils für ausschlaggebend erachteten Ansatzpunkte sowie der zum Teil vehementen Beanstandungen378 an den Lösungsversuchen ist häufig eine Übereinstimmung im Endresultat zu konstatieren.379 Bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass die gleichen Aspekte z. T. lediglich aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet werden. So wird aus den von Otto und Brammsen geforderten „Erwartungserwartungen“ in der Regel ein „objektiviertes Vertrauen“ im Sinne von Blei folgen. Dieses wiederum wird oft zu einer gesteigerten Gefährdung des auf die Vornahme der Handlung vertrauenden Opfers und damit zur Ansicht von Arzt führen. Und wenn Jakobs eine Herrschaft über einen Organisationsbereich für einschlägig erachtet, wird der Täter wohl zugleich – wie von Rudolphi vorausgesetzt – „Zentralgestalt“ des Geschehens sein und häufig auch nach Schünemann die „Herrschaft über den Erfolgsgrund“ besitzen. (bb) Unterschiede (a) Bedeutung von Normen Ein gewichtiges Unterscheidungsmoment besteht allerdings zum einen bezüglich der Bedeutung einer außerstrafrechtlichen Norm für die Herleitung einer Garantenstellung. Während ein Teil der Literatur diesen Umstand für entbehrlich hält, misst der andere ihm große Bedeutung zu. Im Kontext der strafrechtlichen Verantwortung von mit „Problemfamilien“ befassten Sozialarbeitern spielt dieser Umstand indes keine entscheidende Rolle, da – wie nachfolgend bei der Diskussion der Ansichten zu zeigen sein wird – jedenfalls einige Normen exis-

378 Siehe insbesondere die Äußerungen Schünemanns in Spanisch-Deutsches Symposium, S. 50 ff. gegenüber den Ansätzen von Jakobs und Freund (vgl. aber noch seine beschwichtigende Sichtweise gegenüber Jakobs in ZStW 96 (1984), 304: „Ob man dann zur inhaltlichen Ausfüllung dieses Prinzips auf den Herrschaftsaspekt oder auf soziale Organisations- und Institutionszuständigkeit abhebt, ist vergleichsweise zweitrangig . . .“). 379 Schünemann, Spanisch-Deutsches Symposium, S. 73; Roxin, AT II, § 32, Rn. 17 („. . . Ähnlichkeit der zentralen Ergebnisse“).

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tieren, aus denen eine Garantenstellung abzuleiten sein könnte, sodass damit der engeren Auffassung Genüge getan ist. (b) Ingerenz Ein wesentlich unterschiedliches Ergebnis erzielen die vorgestellten Ansichten zum anderen im Hinblick auf die Rechtsfigur der Ingerenz.380 Zwar mögen einige überzeugende Argumente gegen deren dogmatische Anerkennung sprechen. Indes rekurriert die Rechtsprechung auf die Ingerenz, sodass ihr eine praktische Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Aus diesem Grund soll diese – ungeachtet der zum Teil harschen Kritik – als mögliche Garantenquelle anerkannt werden. (g) Herrschaftsmoment Schließlich spielt im Rahmen der vorliegend relevanten Fälle die Frage eine Rolle, ob eine Herrschaft des Unterlassenden über den Geschehensablauf zu verlangen ist. Wie bereits erläutert wurde, besitzen die Jugendamtsmitarbeiter lediglich einen begrenzten Einblick in den privaten Bereich der Familie. Zudem dürfen Jugendamtsmitarbeiter nicht längerfristig die Beziehung zwischen Eltern und Kind beeinträchtigen. Dauerhafte Eingriffe in das Elternrecht sind vielmehr dem Familiengericht vorbehalten. Es ist daher zweifelhaft, ob die von Rudolphi, Schünemann und Gimbernat favorisierten Herrschaftsmodelle eine Garantenstellung der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter begründen können. Wenn Schünemann gerade nicht die bloße Möglichkeit, den Erfolg abwenden zu können, genügen lassen möchte, so änderte vor dem Inkrafttreten des KICK auch die Benachrichtigungspflicht nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a.F nichts daran, dass der Jugendamtsmitarbeiter hierdurch keine eigenständige Gefahrenabwehr vorzunehmen vermochte. Er hatte nicht aktuelle Kontrolle über das Geschehen, weder über die Hilflosigkeit des Opfers noch über den Gefahrenherd.

380 Deren Tauglichkeit zur Kreierung einer Garantenstellung leugnen Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 418 ff. (er qualifiziert das Verhalten des Täters als Begehungsdelikt); Schünemann, Grund und Grenzen, S. 231 ff., 313 ff.; ders., ZStW 96 (1984), 308 f.; ders., GA 1973, 233 (vgl. aber Roxin, AT II, § 32, Rn. 151, der die Ingerenz als mit dem Herrschaftskriterium für vereinbar hält) sowie Sangenstedt, Garantenstellung, S. 318 ff., während die übrigen Autoren sie für möglich halten (stark einschränkend jedoch Pfleiderer, Garantenstellung, S. 128 ff.). Siehe zu den Argumenten der „Antiingerenztheorie“ Hillenkamp, 32 Probleme, S. 202 f. Umfassend zu dieser Garantenquelle in der Rechtsprechung des BGH Jakobs, BGH-Wiss-FS, S. 29 ff.

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Daran hat auch das Inkrafttreten des KICK nichts geändert. Zwar wurde durch §§ 8a Abs. 3 S. 2, 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII eine kurzfristige Eingriffsmöglichkeit für den Jugendamtsmitarbeiter geschaffen. Indes ändert dies nichts daran, dass der Bereich „Familie“ für ihn grundsätzlich uneinsehbar bleibt. Legt man Rudolphis Ansatz zugrunde, so ist fraglich, ob der Jugendamtsmitarbeiter als „Zentralgestalt“ des Geschehens anzusehen ist. Dieser Begriff scheint eher den Eltern und – vor allem – dem Familienrichter vorbehalten zu sein. Auch hieran hat sich nach dem Inkrafttreten des KICK nichts geändert, wie die Beschränkung der neugeschaffenen Inobhutnahmebefugnis auf Fälle, in denen familiengerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII), zeigt. Gimbernat schließlich steht der Beschützergarantenstellung generell skeptisch gegenüber. Die von ihm vorausgesetzte Eigenschaft des zu schützenden Rechtsguts als originäre Garantenquelle ist in den Fällen der vorliegenden Art stets zu verneinen. Nicht das Kind stellt eine Gefahr dar, sondern eine solche tritt – ausgelöst durch die Eltern – regelmäßig erst im Lauf der Obhut ein. (cc) Stellungnahme Damit wird – nicht zuletzt auch als Beitrag zu einem besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen – einer der vorgestellten Ansichten der Vorzug gegeben werden müssen. Hierbei wird entscheidend auf die Vereinbarkeit des jeweiligen Ansatzes mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz abgestellt werden. Unstreitig ist, dass im Schrifttum wie auch in der Literatur bislang keine Theorie entwickelt wurde, die gleichsam als „Bedienungsanleitung“ den Rechtsanwender in die Lage versetzt, jede denkbare Fallkonstellation mühelos mit Blick auf die Garantenfrage zu lösen. Ziel jedes Lösungsansatzes kann daher nur eine möglichst große Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG sein. Als Vergleichsmaßstab wird die wohl herrschende Ansicht gewählt, die eingeschränkte Rechtspflichttheorie, welche die von Armin Kaufmann entwickelte Zweiteilung der Garantenpositionen mit den tradierten Entstehungsgründen kombiniert. (a) Allgemeines Offensichtlich ist zunächst, dass die kasuistischen Theorien keinen Zuwachs an Handlungssicherheit für sich verbuchen können.381 Sie wären nur dann vor-

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zugswürdig, wenn sämtliche Systematisierungsbemühungen für gescheitert erklärt werden müssten.382 Das von Herzberg und Freund für maßgebend erklärte Kriterium der „Sonderverantwortlichkeit“ verheißt ebenfalls keinen Zuwachs an Anwendungssicherheit gegenüber der herrschenden Lehre, da dieses selbst der inhaltlichen Konkretisierung bedarf. Außerdem bestehen bezüglich der Prämisse beider Autoren, welche die Garantenstellung auch auf dem Gebiet der Begehungsdelikte für notwendig erachten, insofern Zweifel, als der Gesetzgeber mit dem § 13 StGB gerade den besonderen Charakter der unechten Unterlassungs- gegenüber den Begehungsdelikten zum Ausdruck gebracht hat.383 Die Topoi „berechtigtes Vertrauen“, „Abhängigkeitsbeziehung“, „Gefahrschaffung“ sowie „Näheverhältnis“ mögen – vor allem im Hinblick auf die Garantenstellung der tatsächlichen Übernahme – zu Ergebnissen führen, die mit dem Rechtsgefühl vereinbar sind. Indes tragen sie, isoliert betrachtet, nichts zur Rechtssicherheit bei, da sie ihrerseits der Definition bedürfen. Ihr Nutzen im Rahmen eines Systementwurfs der Garantenstellungen darf jedoch nicht verkannt werden. (b) Herrschaftssystementwürfe Damit stellt sich die Frage, welchem Systementwurf unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten der Vorrang gebührt. Wie bereits die Erläuterungen der Unterschiede der einzelnen Materialisierungsansätze gezeigt haben, ist es notwendig, sich zwischen den Meinungen, die eine Herrschaftsbeziehung fordern und der Zweiteilung Armin Kaufmanns zu entscheiden. Hierfür ist im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben einerseits zu untersuchen, welchem Entwurf die größere Bildhaftigkeit zukommt, welcher also die geringste Notwendigkeit begründet, unklare Begriffe auszulegen. Andererseits ist von den Herrschaftsmodellen zu fordern, dass sie sämtliche Erscheinungsformen strafrechtlichen Verhaltens zu erfassen vermögen. Wenn Jakobs mit den Begriffen „Organisationskreis“ und „Institution“ argumentiert, kategorisiert er den klärungsbedürftigen Garantenterminus mittels ebenfalls definitionsbedürftiger Topoi. Problematisch insbesondere am Begriff des „Organisationskreises“ ist, dass dieser keine Entsprechung im übrigen Strafrecht findet. Auch im Hinblick auf Gimbernats Ansatz bleibt unklar, wann ge381 Ein Beispiel dafür bietet die Äußerung von Bohnert, ZStW 117 (2005), 314: „Für die Rechtsstellung des Sozialarbeiters fällt das Wägen so schwer, weil blindes Wohlmeinen den Sozialrechtsbereich mit gutem Reden zuschüttet.“ 382 Vgl. auch bereits die Kritik im Rahmen der Erläuterung der Anforderungen des Verfassungsrechts an § 13 StGB, Teil 2 A. II. 2. d) (1) (a) (cc). 383 Vgl. zu dieser Kritik bereits unter Teil 2 A. II. 1. a) (4).

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nau ein zu beschützendes Rechtsgut einen „ursprünglichen Gefahrenherd“ darstellt. Aus den Ausführungen Rudolphis wiederum folgt die Frage, in welchen Konstellationen eine Person die „Zentralgestalt des Geschehens“ darstellt. Soll dies in Drei- oder Mehrpersonenverhältnissen dann der Fall sein, wenn ihr die Rechtsordnung die umfassendsten Befugnisse einräumt oder wenn sie die engste (rechtliche oder tatsächliche?) Beziehung zu dem Opfer aufweist? Schließlich bedarf auch der vermeintlich „griffige“, weil primär strafrechtlich zu verortende Begriff der „Herrschaft über den Erfolgsgrund“, welchen Schünemann nutzbar machen möchte, der weiteren Konkretisierung. Er führt damit zu Unsicherheiten.384 Zwar könnte man meinen, wenn man die Prämissen des Tatherrschaftsbegriffs von Roxin mit den darauf ausdrücklich bezugnehmenden Aussagen Schünemanns kombinierte, könnte man eine größere Konturenschärfe erlangen – indes zeigen gerade Fälle des fahrlässigen Unterlassens, dass man damit bei bestimmten Formen strafrechtlichen Verhaltens nicht weiterkommt. Hier passen die Herrschaftsüberlegungen aufgrund der fehlenden Trennung von Täterschaft und Teilnahme nicht. Daher scheitert Schünemanns Lehre nicht an der Auslegungsbedürftigkeit der verwendeten Begriffe, sondern daran, dass sie im Rahmen der Fahrlässigkeit keine klaren Vorgaben zu liefern vermag. (g) Zweiteilung Armin Kaufmanns Demgegenüber verstand es Armin Kaufmann bereits relativ früh, ein aus sich heraus verständliches System mit der Dichotomie von Beschützer- und Überwachergarant zu entwickeln, das sämtliche Formen strafrechtlichen Verhaltens ohne weiteres erfasst. Zwar enthält dieses, isoliert betrachtet, noch keine materielle Begründung für die rechtliche Forderung nach mitmenschlicher Solidarität. Reichert man es jedoch mit den aus materiellen Überlegungen resultierenden Garantenquellen, wie zum Beispiel der tatsächlichen Übernahme oder der engen natürlichen Verbundenheit385 um die Kriterien „Vertrauendürfen“, „Abhängigkeit“, „Gefährdung“ sowie „Nähe“ an, so potenziert sich seine Aussagekraft, sodass sich im Ergebnis eine verfassungskompatible Garantenlehre ergibt.386 384 Schünemann selbst konstatierte diesen Umstand bei der Entwicklung seiner Garantenlehre, meinte aber, diese würde sich im Lauf der Zeit stärker konturieren (vgl. ders., Grund und Grenzen, S. 243 f.). Eine derartige Konturierung ist aber bislang nicht erkennbar. 385 Zu weiteren möglichen Garantenquellen siehe statt aller Wessels/Beulke, Rn. 716. 386 Diese Verfahrensweise wenden z. T. auch die Vertreter weitergehender Materialisierungsansätze an, s. z. B. Otto, GK AT, § 9, Rn. 48 ff. und Roxin, AT II, § 32, Rn. 33 ff. (der in erster Linie der Zweiteilung Schünemanns folgt und nur in zweiter Linie die Terminologie von Armin Kaufmann berücksichtigt). Zu stark vereinfachend

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Kaufmanns Ansatz mag nicht in der Lage sein, ein einheitliches Moment zu präsentieren, das sämtlichen Garantenstellungen immanent ist; jedoch haben diese Leistung – wie aufgezeigt – auch die hier als Herrschaftslehren bezeichneten Ansichten nicht erbracht. (2) Diskussionsstand zur Garantenstellung zuständiger Jugendamtsmitarbeiter in Rechtsprechung und Literatur Nachdem die wesentlichen Entwicklungstendenzen zur Garantenstellung aufgezeigt wurden, sollen im folgenden die Hauptaussagen der Gerichte in den eingangs dargestellten Fällen sowie die entsprechenden Stellungnahmen hierzu in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur wiedergegeben und bewertet werden. Einige Gerichte haben auf der Grundlage der streng formalen Rechtspflichtlehre entschieden, ohne einem Systematisierungsansatz zu folgen. Trotzdem können deren Aussagen in den in der vorliegenden Arbeit vertretenen Ansatz integriert werden, da dieser die Garantenstellung aus einer Verbindung von genereller Systematisierung und formeller Rechtspflichtlehre herleitet. (a) Beschützergarantenstellung Grundsätzlich sind die Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.V. m. § 1626 Abs. 1 BGB dazu berufen, für ihr Kind zu sorgen und es vor einer Vielzahl von Gefahren zu beschützen. Über die Einhaltung dieser Grundpflicht wacht nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG die staatliche Gemeinschaft. Bei diesem Wächteramt handelt es sich um die Verdichtung von Schutzansprüchen des Kindes gegenüber dem Staat, die dadurch begründet werden, dass der Heranwachsende in seiner Abwehrfähigkeit gegenüber seinen Eltern in aller Regel eingeschränkt ist. Der Gesetzgeber hat die aus dieser Schutzpflicht resultierenden Konsequenzen einfachgesetzlich im SGB VIII geregelt, was auch aus der Wiedergabe des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII deutlich wird. Unterhalb der Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB387 hat der Gesetzgeber einen mittelbaren Kinderschutz unter Wahrung des Vorrangs des Elternrechts die Aussage Kunkels in ZFSH/SGB 2001, 132, Fn. 11, es werde dogmatisch unterschieden zwischen der Ableitung einer Garantenstellung aus Gesetz und einer solchen aus Funktionen als Beschützer- oder Überwachergarant, wobei die Unterscheidung für die Jugendhilfe nicht zwingend erscheine, da auch die Beschützer- und Überwacherfunktionen auf dem Gesetz beruhten. 387 Vgl. dazu oben Teil 1 D. II. 1.

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statuiert. Wird diese Grenze überschritten, so tritt der Staat an die Stelle der Eltern und leistet einen unmittelbaren Kinderschutz. Zum Ausgleich des „Schutzmankos“ des Kindes ist der zuständige Jugendamtsmitarbeiter dazu berufen, im Bedarfsfall dessen Wohl zu wahren bzw. auf dessen Wiederherstellung hinzuwirken. Das Tätigkeitsfeld der Beschäftigten in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe stellt sich also stets als Realisierung des staatlichen Wächteramts durch die Exekutive dar. Hiermit ist zugleich die „klassische“ Situation einer Beschützergarantenstellung beschrieben: Ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz jemandem aufgegeben ist, wird durch eine Vielzahl von Gefahren bedroht.388 (aa) Garantenstellung aus besonderem Rechtssatz389 (a) Ansicht des LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“)390 Nachdem das Amtsgericht Osnabrück nicht zwischen Tun und Unterlassen unterschieden und die Sozialarbeiterin im Fall „Laura Jane“ pauschal wegen fahrlässiger Tötung verurteilt hatte391, hinterfragte das Berufungsgericht eine Garantenstellung der Angeklagten auf der Grundlage der streng formellen Rechtspflichttheorie. Es konzentrierte sich in seiner Entscheidung im wesentlichen auf § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII, nachdem es festgestellt hatte, dass keine Norm des SGB VIII den in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten „immanent“ eine Garantenstellung aufbürdet, und lehnte es ab, hieraus eine Garantenstellung herzuleiten. Zur Begründung führte es drei rechtliche Aspekte an: Die Unverbindlichkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII, die Unverbindlichkeit des SGB VIII im Ganzen sowie Widersprüchlichkeiten zwischen dem Strafgesetzbuch und dem SGB VIII.392

388 Im Ergebnis ebenso u. a. LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13c; Tröndle/Fischer, § 13, Rn. 6g (die jedoch offensichtlich die Unterteilung in Beschützer- und Überwachergarantenstellungen nicht mit den „klassischen“ Garantenquellen kombinieren wollen) sowie Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 45 ff., 60; ders., BldW 2002, 26; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 14. 389 Terminologie nach Wessels/Beulke, Rn. 718, die damit offensichtlich eine Distanz zur strengen formellen Rechtspflichttheorie schaffen und zum Ausdruck bringen wollen, dass die bloße Existenz einer Rechtsnorm nicht automatisch zu einer Garantenstellung führt. 390 Abgedruckt in ZfJ 1996, 524 ff. = NStZ 1996, 437 ff. mit abl. Anm. Bringewat = NStZ 1997, 238 f. m. i. E. zust. Anm. St. Cramer. 391 Abgedruckt bei Bringewat, Tod eines Kindes, S. 116 ff. = Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 54 ff.

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Unverbindlichkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII Das Landgericht Osnabrück erachtete § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII als rein deklaratorische Zielbeschreibung, die keine Verpflichtung des einzelnen Sozialarbeiters begründe.393 Die Existenz der Norm erkläre sich allein aus der Vielfalt der möglichen Träger sowie aus den mannigfaltigen Strategien zur Realisierung der Jugendhilfe. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII lasse sowohl im Dunkeln, wer konkret zum Schutz des Kindeswohls berufen sei als auch, welche Rechtsgüter der Verpflichtete genau zu schützen habe. Die Regelung sei daher zu unbestimmt gefasst, um eine Garantenstellung begründen zu können. Unverbindlichkeit des SGB VIII in toto Das Gericht beschränkte seine Bedenken indes nicht auf die einzelne Norm, sondern bezog auch das gesamte SGB VIII in seine Betrachtung mit ein. Dieses sei primär als Leistungsgesetz zu charakterisieren394 und enthalte keine unmittelbaren Eingriffsbefugnisse, mit Ausnahme von auf einen kurzen Zeitraum beschränkten Ermächtigungsgrundlagen in Krisensituationen. Es baue vielmehr grundsätzlich auf die Mitwirkungsbereitschaft der Eltern oder sehe – allerdings nur als ultima ratio – die Anrufung des Vormundschaftsgerichts395 vor. Aber selbst für diesen Fall seien keinerlei klare Handlungsvorgaben ersichtlich. Hätte der Gesetzgeber eine Garantenpflicht begründen wollen, dann hätte es dem Garanten auch die nötigen Mittel zur Gefahrbeseitigung an die Hand geben müssen. Widersprüche zwischen StGB und SGB VIII Überdies meinte das Landgericht Osnabrück Gegensätze zwischen dem Strafgesetzbuch und dem SGB VIII auszumachen, die gegen eine Garantenstellung der in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten sprächen. Zunächst bezog es sich auf den sachlichen Regelungsbereich des SGB VIII – die Erziehung. Diese sei notwendigerweise mit Risikoabwägungen seitens der Eltern verbunden. Indem grundsätzlich der Vorrang des Elternwillens gelte, sei 392 Außerdem ließ das Gericht Praktikabilitätserwägungen anklingen, indem es eine Lähmung der Jugendhilfe im Fall der Verurteilung befürchtete (LG Osnabrück NStZ 1996, 439). 393 Ebenso die Ansicht des OLG Stuttgart im Fall „Jenny“, abgedruckt in NJW 1998, 3132. 394 Selbst § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. erachtete es als „. . . erkennbar als Hilfeleistung, nämlich zugunsten des bedrohten Kindes bzw. Jugendlichen“ (LG Osnabrück NStZ 1996, 438). 395 Seit dem Jahr 1998 ist das Familiengericht zur Entscheidung berufen.

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der Staat in aller Regel an diese Abwägung gebunden, unter Umständen müssten sogar höhere Risiken in Kauf genommen werden. Auch im Hinblick auf den generellen Charakter der beiden Gesetze meinte das Gericht Gegensätze festzustellen: Während die strafrechtliche Garantenstellung auf die schnellstmögliche, effektive Gefahrenabwehr ausgerichtet sei, weise das SGB VIII ein ausdifferenziertes System auf, das primär durch eine Fülle von Hilfsangeboten den Zerfall der Familie verhindern wolle und, wie auch §§ 1666, 1666a BGB zeigten, die Trennung von Eltern und Kind als ultima ratio ansehe.396 Schließlich bemühte das Landgericht Osnabrück das verfassungsrechtliche Rückwirkungsgebot. Aus diesem sei zu folgern, dass der Garant in dem Augenblick, in dem er handlungspflichtig werde, wissen müsse, was zu tun sei. Die Entscheidungsgrundlage müsse abgeschlossen in der Vergangenheit liegen und dürfe nicht von zukünftigen Faktoren abhängen. Mit solchen Unsicherheiten sei jedoch jegliche Erziehung konfrontiert. Es sei nicht zumutbar, die Entscheidung über ein Eingreifen von derartigen Spekulationen abhängig zu machen. Eine Garantenstellung aus § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. und § 42 SGB VIII a. F. lehnte das Gericht mit dem Hinweis darauf ab, dass die erstgenannte Vorschrift vorrangig als Hilfeleistung gegenüber dem Kind konzipiert sei und, wie die letztgenannte Norm auch, keine unmittelbaren Weisungsbefugnisse gegenüber den Eltern eröffne. (b) Urteil des OLG Oldenburg397 Das Oberlandesgericht Oldenburg argumentierte ebenso wie das Landgericht Osnabrück auf der Grundlage der streng formellen Rechtspflichtlehre, schloss sich jedoch dessen Ansicht nicht an, und leitete eine Garantenstellung ohne eine eingehende Begründung aus „dem KJHG“ her.398 Es führte lediglich aus, dass es für die Ermittlung einer strafrechtlichen Einstandspflicht irrelevant sei, ob dem maßgeblichen Gesetz Eingriffs- oder Leistungscharakter zukomme. Auch hindere das sozialrechtliche Wesen der Norm ein solches Einstehenmüssen nicht. Das Gesetz betone zwar den Hilfegedanken,

396 In diesem Sinne auch Mörsberger in dem Interview von Jäger in Jugendhilfe 2000, 230, der meint, ob „. . . der Versuch einer Stabilisierung der familiären Situation im Vordergrund stehen sollte oder die Sicherung des Kindes gegen akut drohende Schädigung“, müsse „. . . im Einzelfall beurteilt werden“. 397 Abgedruckt in StV 1997, 133 ff. mit i. E. zust. Anm. Bringewat. 398 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 42; ders., StV 1997, 135 interpretiert die Aussagen des OLG Oldenburg so, dass aus § 1 SGB VIII eine Garantenstellung folge. Indes spricht das Gericht dies nicht explizit aus.

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weise mit § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII jedoch auch auf die Schutzpflicht des Staats hin. (g) Urteile des OLG Düsseldorf (Fall „Tanja“)399, LG Stuttgart (Fall „Jenny“)400 sowie des AG Mönchengladbach (Fall „Vanessa“)401 Das OLG Düsseldorf folgte im Fall „Tanja“ der Argumentation des OLG Oldenburg und versäumte es, weitere denkbare Garantenquellen zu diskutieren. Es führte aus, beim Vollzug des staatlichen Wächteramts durch die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe erwachse aus § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII ein Hilfsanspruch. Die allgemeine Schutzaufgabe habe sich durch den Anruf der Vertrauenslehrerin und aufgrund der in diesem Gespräch mitgeteilten Tatsachen in hinreichendem Maß zu einer Einstandspflicht konkretisiert. Dem Angeklagten sei zu diesem Zeitpunkt der gefahrbegründende Sachverhalt bekannt gewesen.402 Das Landgericht Stuttgart sowie das Amtsgericht Mönchengladbach schließlich bejahten in den Fällen „Jenny“ beziehungsweise „Vanessa“ eine Garantenstellung der zuständigen Sozialarbeiter und ließen es dahingestellt, ob diese aus Gesetz oder Vertrag folge. (d) Resonanz in der Literatur Als Reaktion auf die Urteile, vor allem im Fall „Laura Jane“, erging eine wahre Flut von Publikationen. Viele von ihnen beschränkten sich freilich im wesentlichen auf eine Kritik am methodischen Vorgehen der Richter, welche materielle Aspekte kaum berücksichtigten und formal die tradierten Garantenquellen abprüften. Überdies äußerten einige Autoren lediglich eine bestimmte Meinung, ohne diese dann näher zu begründen. So führt beispielsweise Strick in ihrer Kommentierung aus, dem § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII sei keine strafrechtliche Einstandspflicht des einzelnen Jugendamtsmitarbeiters zu entnehmen.403 Sie bleibt jedoch eine Auskunft schuldig, warum dies so sein soll. Auch Mrozynski 404 be399

OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 199 ff. Urteil des LG Stuttgart vom 17.9.1999, Az. 1 (15) KLs 114 Js 26273/96; vgl. die Zusammenfassung des Urteils bei Lehmann, EJ 2000, 48 ff.; krit. zum methodischen Vorgehen des Gerichts Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 45. 401 Urteil des AG Mönchengladbach vom 9.3.2004 (Az. 13 Cs 343/03), abrufbar im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen unter http://www.justiz.nrw.de. 402 OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 200. 403 MüKo-Strick, SGB VIII, § 1, Rn. 15. 404 Mrozynski, SGB VIII, § 50, Rn. 16, 18; ähnlich Wabnitz in Handbuch SGB VIII, Stichwort Garantenstellung, S. 104. 400

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nennt mit den §§ 1 Abs. 2, 3, 42 a. F., 43 a. F., 50 Abs. 3 a. F. SGB VIII nur die seiner Ansicht nach die Garantenstellung begründenden Normen, ohne seine Ansicht weiter zu untermauern. Die Autoren des Frankfurter Kommentars wiederholen in der 3. Auflage im Jahr 1998 nahezu wörtlich die Ausführungen des Landgerichts Osnabrück. Das Revisionsurteil des Oberlandesgerichts Oldenburg meinen sie nur in dem Sinne interpretieren zu können, dass eine Garantenstellung „aus vorangegangenem Tun“ lediglich bei vorwerfbar schuldhaftem Unterlassen trotz positiver Kenntnis der Fachkraft von ihrer konkreten Handlungspflicht folge.405 In der 4. Auflage des Kommentars lautet es hingegen lapidar, „aufgrund der etablierten Rechtsprechung und -literatur“ sei von einer „Garantenpflicht“ der Mitarbeiter des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe für die von ihnen betreuten Kinder auszugehen. Die Autoren enthalten sich einer konkreten Stellungnahme zur Quelle der Garantenstellung und begnügen sich mit dem Hinweis, dass „. . . in der strafrechtlichen Rechtsdogmatik (. . .) die Garantenstellungen und die hieraus fließenden Garantenpflichten im wesentlichen übereinstimmend aus ausdrücklichen gesetzlichen Pflichten, vertraglichen Abmachungen, einem vorausgegangenem Tun oder einer engen Lebensbeziehung zwischen Garant und geschützter Person hergeleitet“ werden. Nähere Ausführungen zur Garantenstellung „aus Gesetz“ erfolgen nicht. Es findet sich lediglich die Aussage, Garantenstellungen erwüchsen „. . . meist aus (. . .) Betreuungsvereinbarungen oder (. . .) tatsächlicher, faktischer Übernahme besonderer Schutzpflichten“.406 Eine Gegenposition hierzu nimmt Mörsberger ein. Er meint zwar, es sei selbstverständlich, dass der einzelne Sozialarbeiter bei seiner Arbeit die anerkannten Sorgfaltsregeln zu beachten habe, und dass er bei deren pflichtwidriger und schuldhafter Nichtbeachtung gegebenenfalls strafrechtlich zu belangen sei; indes äußert er sich nicht zu der Frage, aus welchem Rechtsgrund eine solche Pflicht folgt. Er bezieht sich lediglich auf die methodische Vorgehensweise des OLG Stuttgart im Fall „Jenny“, das seiner Ansicht nach aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG und dessen einfachgesetzlicher Wiederholung in § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII eine Garantenstellung des einzelnen Sozialarbeiters ableitet, und meint, es sei „fragwürdig, ob die jeweiligen hierarchischen Ableitungen der Pflichtenstellung von oben nach unten als juristisch stringent angesehen werden können“.407 Auch Bohnert kritisiert die Entscheidung des OLG Stuttgart im Fall „Jenny“. Das Gericht habe „unzutreffend“ argumentiert, dass aus einer Sollvorschrift keine Garantenpflicht folgen könne. § 1 SGB VIII stelle eine Generalklausel 405 406 407

Münder u. a., FK-KJHG (3. Aufl.), § 50, Rn. 17. Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 41. Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 104.

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dar und keine Sollvorschrift, und überdies könnten Einstandspflichten auch durch Gewohnheitsrecht begründet werden.408 Einzig Bringewat, auf den Strick verweist, leistet im Zusammenhang mit der Garantenstellung aus Gesetz profunde Argumentationsarbeit. Er erachtet – insoweit gleich dem Landgericht Osnabrück – § 1 Abs. 3 SGB VIII grundsätzlich als allgemeine Aufgabenbeschreibung der Kinder- und Jugendhilfe.409 In Verbindung mit der in § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII verankerten Schutzpflicht erwachse im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramts410 ein subjektiv-öffentliches Recht des gefährdeten Kindes auf ein sein Wohl schützendes Tätigwerden.411 Diesem Anspruch korrespondiere eine staatliche Verpflichtung zum Schutz von Leib und Leben des Kindes und damit eine Garantenstellung des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters.412 Die Garantenstellung „aus Gesetz“ setze bei längerfristigem Betreuungszusammenhang spätestens dann ein, wenn die Situation eine Krisenintervention nach § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII erfordere, aber auch ohne diesen Zusammenhang dann, wenn der fallzuständige Sachbearbeiter aufgrund konkreter Anhaltspunkte bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung erstmals mit der Familie Kontakt aufnehme.413 Auf den ersten Blick scheint Kunkel mit Bringewat übereinzustimmen, denn auch er geht bei der Überschreitung der Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB von einer Garantenstellung aus Gesetz aus, die er unter anderem aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII, § 69 Abs. 1 SGB VIII bzw. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII herleitet.414 Er verfolgt jedoch insofern eine gegenüber 408 Bohnert, ZStW 117 (2005), 303, Fn. 50. Vgl. auch S. 313 a. a. O. – hier meint er, die konkrete rechtliche Grundlage der Pflichten des Sozialarbeiters sei „. . . weder ergiebig noch interessant.“ 409 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 49 ff.; ders., NJW 1998, 945 f.; ders., UJ 2001, 426 (in diesem Aufsatz führt er § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII als maßgebende Norm an). Vgl. auch Bringewat, KJ 2006, 236. Siehe zudem Kühl, AT, § 18, Rn. 78: „Von der Rspr. werden diese Übernahmefälle häufig auf gesetzliche Vorschriften wie (. . .) § 1 II 2 SGB VIII zurückgeführt, doch ergeben sich aus diesen Vorschriften allein noch keine strafrechtlichen Garantenpflichten.“ 410 Krit. zu diesem Terminus Wiesner, „. . . und schuld ist“, S. 19. 411 Siehe LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13a. In Rn. 13d weist er darauf hin, dass diese Garantenstellung aber nicht unterhalb dieser Eingriffsschwelle existiert; vgl. auch ders., Wächteramt und Jugendhilfe, S. 123; Strafrechtliche Risiken, S. 16 f. sowie BldW, 2002, 26 f.; ähnlich Busch, UJ 2002, 83, wenn auch ohne Differenzierung zwischen Präventions- und Interventionsbereich; krit. zu dieser Ansicht hingegen – ohne nähere Ausführungen – St. Cramer, NStZ 1997, 239. 412 Ebenso Wiesner, SGB VIII, § 1, Rn. 23 f.; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 86 f.; Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 133. 413 LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13b. 414 Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 170; ders., ZFSH/SGB 2001, 132, 134; ders., Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 8; auf den ersten Blick ähnlich Bohnert, ZStW 117 (2005), 314 („. . . Pflichtenstellung des Amtes bzw. von dessen Amtsleiter“), der sich jedoch auf die Herleitung der Pflichtenstellung als Amts-

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Bringewat wesentlich abweichende Meinung, als er die Einstandspflicht dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe aufbürdet, das heißt der Gebietskörperschaft selbst. Dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit im Strafrecht meint er hinreichend Rechnung zu tragen, indem er die aus der Garantenstellung folgenden Handlungspflichten den einzelnen Beschäftigten der Gebietskörperschaft auferlegt.415 (e) Stellungnahme Zunächst ist bei der Herleitung einer Garantenstellung aus Gesetz der Kritik Meysens416 an der Vorgehensweise Kunkels zuzustimmen. Zwar meint letzterer mit der Trennung zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit des Strafrechts hinreichend Rechnung zu tragen.417 Indes steht dem bereits der Wortlaut des § 13 Abs. 1 StGB entgegen, der mit „wer“ einen tauglichen Täter des StGB voraussetzt. Handlungsfähig im Sinne des Strafrechts ist – wie ein Rückschluss aus § 14 StGB zeigt – nur eine natürliche Person.418 Im Hinblick auf die Entscheidung des Landgerichts Osnabrück im Fall „Laura Jane“ ist der einleitenden Bemerkung des Gerichts, dem SGB VIII sei „keine Vorschrift zu entnehmen, die immanent dem Beruf des Sozialarbeiters in der Jugendhilfe Garantenpflichten aufbürdet“419, entgegenzuhalten, dass Gesetze nahezu niemals explizit Garantenpflichten statuieren420 – ein Umstand, aus dem die vorstehend geschilderte Grundsatzdiskussion um die Herleitung strafrechtlicher Einstandspflichten gerade erwächst.421

träger generell, nicht jedoch auf die einer strafrechtlichen Einstandspflicht bezieht (s. a. a. O.: „Aus Übernahme und Antritt von Pflichten entstehen nicht notwendig strafrechtliche Garantien“). 415 Anders jedoch die Ausführungen hierzu in seinem Lehrbuch (Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 38). Hier nennt er zwar zunächst in der Überschrift ebenso wie in dem Aufsatz in der ZFSH/SGB als Adressaten des Wächteramts den öffentlichen Träger der Jugendhilfe. Er zieht jedoch aus dem in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG geregelten staatlichen Wächteramt die Konsequenz, dass „der Mitarbeiter des Jugendamts eine strafrechtliche Garantenstellung i. S. v. § 13 StGB“ innehabe. 416 Meysen, ZfJ 2001, 413, Fn. 85. 417 So Kunkel ausdrücklich in ZFSH/SGB 2001, 134. 418 Siehe Wessels/Beulke, Rn. 94. 419 Vgl. LG Osnabrück NStZ 1996, 438. 420 So zutreffend Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 84; Bringewat, NStZ 1996, 441. 421 Missverständlich daher auch Bohnert, ZStW 117 (2005), 316: „Gäbe es strafrechtliche Garantien, würden sie zur Dienstpflicht gehören. Den Umfang der Dienstpflichten bestimmt jedoch das Dienstrecht in Verbindung mit den sozialrechtlichen Regelungen.“

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Doch wie steht es mit den drei wesentlichen Argumenten des Landgerichts, die es gegen die garantenbegründende Kraft des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII anführt? Grundsätzliche Argumente Unverbindlichkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII Die für die Berufung im Fall „Laura Jane“ zuständigen Richter gehen in ihrer Entscheidung zunächst von der zutreffenden Prämisse aus, dass zwar nicht jede außerstrafrechtliche Handlungspflicht ein strafrechtliches Einstehenmüssen begründet, eine solche allerdings die unabdingbare Mindestbedingung für eine Garantenstellung darstellt. Mit anderen Worten kann also nur die Norm als möglicherweise garantenpflichtbegründend angesehen werden, die überhaupt eine Pflicht statuiert.422 Hiermit stellt sich die Frage, ob § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII eine derartige Verpflichtung des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters beinhaltet. Das Landgericht Osnabrück hat dies verneint. Zugunsten der Auffassung, dass dem § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII kein Anspruchscharakter zukommt, spricht zwar in der Tat eine entsprechende Äußerung des Gesetzgebers und damit ein historisches Argument423 sowie die systematische Stellung der Norm am Beginn des SGB VIII bei den allgemeinen Vorschriften. Gegen die Unverbindlichkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII ist jedoch entscheidend anzuführen, dass eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen ist, was Bringewat im Verlauf seiner Argumentation auch berücksichtigt.424 Der Gehalt des staatlichen Wächteramts und seine Rolle in der Beziehung von Kindeswohl und Elternrecht wurde bereits im ersten Teil der Arbeit ausführlich erläutert, sodass insoweit darauf verwiesen werden kann.425 Zusam422

Anderer Ansicht Bohnert, ZStW 117 (2005), 303, Fn. 50. Vgl. BT-DrS 11/5948, S. 47. Die Frage des Anspruchscharakters ist freilich in der sozialwissenschaftlichen Literatur nicht unbestritten; einen solchen bejahen z. B. GK-SGB VIII-Fieseler, § 1, Rn. 6 ff., 11 f.; Mrozynski, SGB VIII, § 1, Rn. 2 ff. und wohl auch Busch, UJ 2002, 84; in diese Richtung auch Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 7 in der 3. Auflage (freilich relativiert in der 4. Aufl.); abl. hingegen die h. M., siehe z. B. Wiesner, SGB VIII, § 1, Rn. 12 und Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 34. 424 So auch GK-SGB VIII-Fieseler, § 1, Rn. 5 ff.; ders. in: öffentliche Verantwortung, S. 175; MüKo-Strick, SGB VIII, § 1, Rn. 5 zu § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII (die jedoch hieraus – wie erwähnt – keine strafrechtliche Einstandspflicht aus Gesetz ableitet); Busch, UJ 2002, 83; Coester, FamRZ 1991, 256. Generell zur Notwendigkeit der verfassungskonformen Auslegung verwaltungsrechtlicher Normen bei Unklarheiten darüber, ob diese subjektiv-öffentliche Rechte gewähren, Maurer, AT, § 8, Rn. 11. 425 Siehe oben Teil 1 B. III. 423

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menfassend sei darauf hingewiesen, dass Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG – verstärkt durch Schutzpflichten aus den Grundrechten des Kindes426 – dem Kind ein subjektiv-öffentliches Recht auf Wahrnehmung des Wächteramts durch den Staat zuerkennt, dem Staat aber einen gewissen Handlungsspielraum belässt. Wird jedoch die Schwelle des § 1666 BGB überschritten, so erfährt der Anspruch des Kindes eine Art „Qualitätssprung“. Er richtet sich dann ohne weiteren Spielraum auf eine staatliche Intervention gegenüber den Eltern.427 Zumindest im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramts ist daher § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII als Rechtsanspruch auf Intervention und damit als handlungspflichtbegründende Norm anzusehen.428 Unverbindlichkeit des SGB VIII in toto Dass das SGB VIII trotz des „Perspektivenwechsels“ keinen reinen Leistungscharakter besitzt, wurde bereits im ersten Teil der Arbeit mit Verweis auf die Struktur des § 2 SGB VIII und die verfassungsrechtlichen Prämissen dargelegt.429 Das Landgericht Osnabrück muss daher eine Erklärung dafür schuldig bleiben, warum der sozialrechtliche Charakter einer Garantenstellung zuwiderlaufen soll.430 Auch geht die Behauptung fehl, wenn der Gesetzgeber Garantenpflichten hätte begründen wollen, so hätte er dem Garanten die zur Gefahrenabwehr nötigen Mittel in die Hand geben müssen. Aus dieser Aussage wird ersichtlich, dass das Landgericht Osnabrück eine fehlerhafte Prüfungsreihenfolge zugrunde legt, indem es vom (vermeintlichen) Fehlen der (aus der Garantenstellung erwachsenden) Garantenpflichten auf die fehlende Garantenstellung schließt. Es geht vielmehr zunächst um die Frage nach der strafrechtlichen Einstandspflicht und nicht um die daraus konkret erwachsenden Handlungserwartungen.431 426 Zutreffend weisen Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 87, Fn. 43 darauf hin, dass das Schutzpflichtkonzept in erster Linie an den Gesetzgeber, nicht jedoch an die Exekutive gerichtet ist. 427 Im Fall der Gefährdung des Kindeswohls durch die Pflegeeltern resultieren staatliche Schutzpflichten gegenüber dem Kind direkt aus Art. 2 Abs. 1 und 2 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (siehe dazu oben Teil 1 B. III. 1. b) (b)). 428 Wobei freilich – wie i. R. d. einfachgesetzlichen Grundlagen dargelegt (s. o. Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (aa)) – aufgrund ihrer Unbestimmtheit aus dieser Norm keine Ermächtigungsgrundlage abgeleitet werden kann. 429 s. o. Teil 1 D. I. 2. a). 430 So auch Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 84; Bringewat, BldW 2002, 27; ders., NStZ 1996, 440. 431 Das mag auch folgendes Gedankenexperiment verdeutlichen: Würde man in dem „Urfall“ der Beschützergarantenstellung – dem der Mutter, die ihren Säugling verhungern lässt – § 1626 BGB als nicht existent betrachten, so spräche das Rechtsgefühl nichtsdestotrotz eindeutig für eine Bestrafung nach §§ 212, 13 StGB.

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Widersprüche zwischen StGB und SGB VIII Schließlich bleibt zu untersuchen, ob Gegensätze zwischen dem SGB VIII und dem StGB die Annahme strafrechtlicher Einstandspflichten hindern. Es stimmt zwar, dass die Eltern sich staatliche Eingriffe verbitten dürfen, sofern der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in sachlicher Hinsicht eröffnet ist, und dass der Staat nicht auf die optimale Erziehung des Kindes zu drängen vermag, sondern den Grundsatz der Subsidiarität staatlicher Eingriffe432 beachten muss. Indes vernachlässigt das Landgericht bei der – an sich zutreffenden – Annahme, die Jugendhilfe sei von der elterlichen Risikoabwägung abhängig,433 dass das Elternrecht stets unter der Prämisse fehlender Kindeswohlbeeinträchtigung steht. Das Kindeswohl ist als Beschränkung des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG anzusehen.434 Daher ist auch der behauptete Konflikt zwischen dem SGB VIII, das auf längerfristige Hilfe ausgerichtet ist, und dem Strafrecht mithilfe einer verfassungskonformen Auslegung des SGB VIII abzulehnen.435 Ein solcher besteht nur im Hinblick auf eine längerfristige Trennung der Familie, weil die Eltern durch ihr Fehlverhalten ihr Recht nicht auch automatisch für die Zukunft verwirken. Es bleibt damit der diffuse Hinweis auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot, das der Strafbarkeit entgegenstehe. Dieser Aussage des Landgerichts ist entgegenzuhalten, dass Art. 103 Abs. 2 GG sich bereits seinem eindeutigen Wortlaut nach nur auf strafrechtliche Normen, nicht jedoch auf zukünftige Entwicklungen in der Wirklichkeit bezieht. Der prognostische Charakter bestimmter Entscheidungen des Jugendamts ist lediglich immanenter Bestandteil des Berufsbilds der in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten. Ob es zumutbar erscheint, Fehleinschätzungen im Zuge derartiger Entscheidungen strafrechtlich zu ahnden, ist jedoch kein Aspekt der Garantenproblematik. Dieser Umstand gewinnt vielmehr bei der Frage Bedeutung, inwieweit solche Prognosen von Strafrichtern ex post begutachtet werden dürfen. Zusammenfassend sind damit sämtliche Argumente abzulehnen, die gegen die Herleitung einer Garantenstellung aus § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII angeführt wurden. Den Ausführungen Bringewats, dass eine verfassungskonforme Interpretation des SGB VIII vorgenommen werden müsse und hieraus eine Garantenstellung im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramts erwachse, ist 432

Siehe dazu oben Teil 1 B. III. 4. a) (1). Vgl. zu dieser Akzessorietät des staatlichen Wächteramts oben Teil 1 B. III. 1. b) (1). 434 Siehe hierzu die Ausführungen oben Teil 1 B. I. 3. c). 435 Davon zu trennen ist das bereits angesprochene Dilemma in der Kinder- und Jugendhilfe, s. o. Teil 1 F. 433

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uneingeschränkt beizupflichten. Ergänzend ist noch eine Überlegung anzufügen, die methodisch der Vorgehensweise Pfleiderers436 entspricht. Sofern das Kindeswohl in keiner Weise gefährdet ist, stellt § 1626 BGB einen einfachgesetzlichen Ausdruck des in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG normierten verfassungsrechtlichen Elternrechts dar. Aus der in § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB geregelten sogenannten elterlichen Sorge wird – ungeachtet der dogmatischen Kontroversen um die Herleitung von Garantenstellungen – eine strafrechtliche Einstandspflicht der Eltern zum Schutz ihres leiblichen minderjährigen Kindes gefolgert. An die Stelle der Eltern rückt im Fall der Gefährdung des Kindeswohls der Staat, indem er das ihm übertragene Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ausübt. Bildlich gesehen, ersetzt § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII bei einer konkreten Gefahr für das Wohl des Kindes den § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB.437 Sofern die Schädigungen durch Pflegeeltern ergehen, ergibt sich das gleiche Ergebnis durch eine Auslegung des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII im Lichte des Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Situation nach den Reformen Nach dem Inkrafttreten des KICK am 1.10.2005 sind darüber hinaus weitere gesetzliche Garantenquellen denkbar. Es handelt sich dabei um § 8a SGB VIII, der mit der amtlichen Überschrift „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ versehen ist und unter anderem erstmals klare Handlungsvorgaben für Fälle der Kindeswohlgefährdung enthält. Ausweislich der Gesetzesbegründung wurde hierdurch beabsichtigt, den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Jugendamts bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung zu konkretisieren.438 Der Gesetzgeber wollte durch das KICK nach eigener Aussage unter anderem dem Missverständnis entgegentreten, das Jugendamt agiere ausschließlich als Dienstleister und unterstütze bzw. ergänze die Eltern lediglich im Rahmen 436

Siehe oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (e). Hierfür sprechen auch die Ausführungen zur Garantenstellung von Jugendamtsmitarbeitern bei SK-Rudolphi, § 13, Rn. 48, der sich innerhalb des Gliederungspunkts „Garantenstellungen aufgrund familiärer Obhutsverhältnisse“ bewegt (vgl. aber auch seine Ausführungen zur Garantenstellung auf Grund von Organstellungen in Rn. 54d a. a. O.). Zu beachten ist allerdings – worauf Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 85 f. hinweisen –, dass das „Ersetzen“ nicht im Sinne einer Entlassung der Eltern aus der ihnen obliegenden Garantenstellung zu verstehen ist. Unzutreffend daher die Aussage Wiesners in „. . . und schuld ist“, S. 19: „Die Verantwortung für das Schicksal von Kindern und Jugendlichen ist aber nicht angemessen verteilt, wenn Eltern, Ärzte und Gerichte ihre Aufgaben delegieren können und im Ernstfall immer nur „das Jugendamt“ schuld ist.“ 438 BT-DrS 15/3676, S. 26. 437

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ihrer Verantwortung.439 Einem solchen Verständnis seien aufgrund des Schutzauftrags der Kinder- und Jugendhilfe zur Abwendung von Gefahren für das Kindeswohl „strukturelle Grenzen gesetzt“.440 Der Gesetzgeber hat damit implizit die hier favorisierte verfassungskonforme Auslegung des SGB VIII vorgenommen.441 Fazit Mit der Feststellung, dass eine Garantenstellung aus Gesetz denkbar erscheint, sind indes weder die davon betroffenen Personengruppen noch die Voraussetzungen herausgearbeitet, die konkret notwendig sind, um eine Einstandspflicht bejahen zu können. „Das Jugendamt“ bzw. der Träger der öffentlichen Jugendhilfe avanciert nicht zum Garanten. Es muss nach einer Person Ausschau gehalten werden, die in diesem Zusammenhang „das Jugendamt“ repräsentiert – und das ist im Rahmen der Betreuung einer „Problemfamilie“ gerade der zuständige Sozialarbeiter. Eine Repräsentation ist dann anzunehmen, wenn sich die Schutzpflicht in hinreichender Weise gerade in der Person dieses Sozialarbeiters verdichtet hat. Dies zeigt bereits die Formulierung des § 13 Abs. 1 StGB („. . . er (. . .) dafür einzustehen hat“). Folglich kommt es darauf an, dass der Jugendamtsmitarbeiter die Arbeit mit der Familie tatsächlich aufgenommen hat (tatsächliche Fallübernahme). Auf diesen Umstand wird noch näher einzugehen sein. (bb) Aus Vertrag (a) LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) Das Landgericht Osnabrück begnügte sich in seinem Urteil im Fall „Laura Jane“ nicht mit der Prüfung einer Garantenstellung aus Gesetz, sondern hinterfragte darüber hinaus eine „durch Vertrag oder tatsächliche Übernahme“ begründete Einstandspflicht.

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BT-DrS 15/3676, S. 25. Siehe BT-DrS 15/3676, S. 25, in der u. a. auf § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII (gemeint ist wohl § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII) verwiesen wird. 441 In diesem Sinne auch Bringewat, KJ 2006, 238 („Mit § 8a SGB VIII n. F. ist (. . .) auch hier Klarheit geschaffen.“). Im Fall der Realisierung des § 50a SGB VIIIKEG hätte sich nichts anderes ergeben, da neben der Überschrift „Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung“ in der Begründung auf die Janusköpfigkeit der Sozialarbeit hingewiesen wird (BR-DrS 712/04, S. 28), sodass auch insoweit eine garantenbegründende Kraft der Norm plausibel ist. 440

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Indes betrachtete es letztlich doch nur die Garantenstellung aus Vertrag. Diese ist nach der überwiegenden Meinung in der Strafrechtsliteratur und Judikatur durch die Kategorie der tatsächlichen Übernahme ersetzt.442 Zunächst untersuchten die Richter, ob die Sozialarbeiterin durch einen (konkludent geschlossenen) Vertrag mit dem Arzt, der die Windeldermatitis behandelt hatte, die diesem obliegenden Garantenpflichten übernommen haben könnte. Das Gericht verneinte dies jedoch mangels eines entsprechenden Erklärungsbewusstseins, nachdem es das Verhalten der beiden Personen ausgelegt hatte. Anschließend prüfte es, ob aus dem zwischen der Stadt und dem Sozialarbeiter geschlossenen Anstellungsvertrag eine Garantenstellung erwuchs.443 Inhalt dieses Arbeitsvertrags sei nach der von der Angeklagten selbst erstellten Arbeitsplatzbeschreibung die Erfüllung von Aufgaben der Jugendhilfe gewesen, „. . . also die Umsetzung dessen, was das Gesetz den Jugendhilfeträgern auferlegte“.444 Dies beinhalte unter anderem den Schutz von Kindern in ihrem Wohlergehen. Das Landgericht ließ es jedoch im Ergebnis dahingestellt, ob eine Garantenstellung bestanden hatte, da die Angeklagte jedenfalls die ihr obliegenden Aufgaben erfüllt habe.445 In einem obiter dictum äußerten die Richter, sie würden zur Annahme einer Einstandspflicht neigen, „. . . jedenfalls für den Fall (. . .), dass Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen in der Jugendhilfe untätig bleiben, obwohl sie dem Wohl von Kindern abträgliche Entwicklungen erkennen, ohne in irgend einer Weise einzugreifen“.446 (b) Stellungnahme Nachdem die Richter im Fall „Laura Jane“ dem § 1 Abs. 3 S. 3 SGB VIII allein Unverbindlichkeit attestiert hatten, meinten sie, derselben Norm durch die „Hintertür Arbeitsvertrag“ doch noch garantenpflichtbegründende Wirkung beimessen zu können. 442 Vgl. OLG Celle NJW 1961, 1939; SK-Rudolphi, § 13, Rn. 62; Roxin, AT II, § 32, Rn. 53. In der Gegenwart wollen in der allgemeinen strafrechtlichen Literatur lediglich Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 60 f. sowie Seebode, Spendel-FS, S. 342 f. an diesem Erfordernis festhalten. 443 Vgl. in diesem Zusammenhang das in dem von der Verteidigung im Fall „Laura Jane“ in Auftrag gegebene Gutachten des Sachverständigen Dr. Schrapper, abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 40 f. Laut Gutachter war diese Beschreibung aber dem Arbeitsvertrag der Angeklagten nicht beigefügt. 444 LG Osnabrück NStZ 1996, 439. 445 Die bisweilen (z. B. bei Zaczyk, Rudolphi-FS, S. 362, Fn. 11) zu lesende Aussage, das Gericht habe „eine Garantenstellung abgelehnt“, ist daher nicht ganz zutreffend (in diesem Sinne auch Oehlmann-Austermann, ZfJ 1997, 57). 446 LG Osnabrück NStZ 1996, 439.

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Das wesentliche Argument für dieses Vorgehen, das heißt eine Erklärung dafür, warum ein inter partes abgeschlossenes zivilrechtliches Rechtsinstitut strafrechtliche Wirkungen zeitigen sollte, blieben sie jedoch schuldig. Eine solche Erklärung hätten sie aufgrund der aktuellen dogmatischen Entwicklungen in der Garantenfrage auch gar nicht präsentieren können. Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts wurde nämlich nachgewiesen, dass der zivilrechtliche Vertragsschluss als solcher keine Garantenstellung bewirkt.447 Vielmehr bildet er lediglich die Grundlage für die tatsächliche Übernahme einer Pflicht, die – beim Vorliegen bestimmter zusätzlicher Momente – ein strafrechtliches Einstehenmüssen zu begründen vermag. Der Vertrag als solcher ist keine hinreichende Voraussetzung für die Existenz der Garantenstellung.448 Seine Bedeutung beschränkt sich auf die inhaltliche Ausgestaltung möglicher Garantenpflichten.449 Ähnlich wie das Landgericht Osnabrück äußern sich die Autoren des Frankfurter Kommentars. Sie nehmen eine Garantenstellung „. . . aus (zumindest stillschweigend) geschlossener Betreuungsvereinbarung“ an.450 Unklar bleibt jedoch, welchen Vertragspartnern die Garantenstellung zukommen soll. Einerseits könnte ein Vertrag zwischen dem Sozialarbeiter und der Anstellungskörperschaft gemeint sein. Dies wirkt aber gekünstelt, weil man dann das Dauerschuldverhältnis Arbeitsvertrag ignorieren und die daraus erwachsenden Pflichten künstlich in einzelne Vertragsgegenstände aufspalten würde. Andererseits ist es denkbar, einen Kontrakt zwischen dem betreuenden Sozialarbeiter und den Eltern zu fordern. Auch dies mutet jedoch realitätsfremd an, da bereits zweifelhaft ist, ob auf beiden Seiten überhaupt eine Willenserklärung abgegeben wurde. Zwar besteht die Möglichkeit, eine entsprechende Erklärung stillschweigend durch ein schlüssiges Verhalten zu äußern; indes muss dieses einen mittelbaren Schluss auf den Rechtsfolgewillen der betreffenden Person zulassen.451 Das Verhalten der Eltern ist aber so zu deuten, dass sie das ihnen kraft Gesetz zustehende Betreuungsangebot zu erhalten meinen. Das Verhalten der Sozialarbeiter wiederum ist nur als Erfüllung der ihnen arbeitsvertraglich auferlegten Pflichten auszulegen.

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Siehe hierzu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (aa) (a). So auch BGH NJW 2001, 454; BGHSt 47, 214, 229 („Wuppertaler Schwebebahnfall“) sowie S/S/Stree, § 13, Rn. 26; selbst Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 57 ff. bestreiten dies nicht, sondern wenden sich in Rn. 60 a. a. O. lediglich gegen die völlige Aufgabe des „rechtlichen“ Moments. 449 So auch LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13e; ders., Tod eines Kindes, S. 51. Zur generellen Beachtlichkeit vertraglicher Abreden für die Garantenstellung vgl. Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c. 450 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 41. 451 Palandt-Heinrichs, Vor § 116, Rn. 6. 448

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Es ist damit bereits kein Vertrag zwischen dem Sozialarbeiter und dem in seinem Wohl bedrohten Kind (bzw. dessen Eltern als gesetzlichen Vertretern) zustande gekommen. (cc) Aus tatsächlicher Übernahme452 (a) Beschluss des OLG Stuttgart (Fall „Jenny“)453 Das OLG Stuttgart folgte in seiner Entscheidung im Fall „Jenny“, nachdem es mit wenigen Worten eine Garantenstellung aus Gesetz abgelehnt hatte, der eingeschränkten formellen Rechtspflichtlehre und bejahte eine Beschützergarantenstellung des zuständigen Sozialarbeiters aus tatsächlicher Schutzübernahme. Es begründete seine Auffassung mit dem Argument, die strafrechtliche Einstandspflicht stelle die Kehrseite des in § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII statuierten Schutzauftrags dar. Aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG i.V. m. § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII folge dabei die Überwindung des Elternrechts. (b) Reaktionen in der Literatur Bringewat, auf dessen Reaktion zum Fall „Laura Jane“ das OLG Stuttgart explizit Bezug genommen hat454, argumentiert in zahlreichen Publikationen zur Garantenfrage in der Kinder- und Jugendhilfe zugunsten einer Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme. Er meint, maßgebend hierfür sei ein „. . . mit normativer Qualität ausgestatteter Realakt“.455 Realakt Zunächst führt er zum Terminus der „tatsächlichen Übernahme“ aus, dass eine solche jedenfalls immer dann zu bejahen sei, wenn konkrete Schutzvorkehrungen für das Kind getroffen wurden.456 Entgegen Mörsberger, der in seinen Stellungnahmen häufig betont, dass zwischen bloßem Beratungskontakt und einer Betreuung zu differenzieren sei, und der Sozialarbeitern insoweit eine exakte Sprache ans Herz legt457, meint er, „in der Regel aller Fälle“ genüge be452 Zum Teil wird diese Garantenquelle auch als „freiwillige Übernahme“ bezeichnet (s. z. B. LK-Jescheck, § 13, Rn. 27; Blei, H. Mayer-FS, S. 121; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c; Maiwald, JuS 1981, 481; Otto, JK 97, StGB, 13/26); krit. demgegenüber Bringewat, Tod eines Kindes, S. 48 („irreführend“). 453 Abgedruckt in NJW 1998, 3131 ff. = ZfJ 1998, 382 ff. 454 OLG Stuttgart NJW 1998, 3132 = ZfJ 1998, 383 f. 455 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 53; ders., Tod eines Kindes, S. 51; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 18; ders., UJ 2001, 427; ders., NJW 1998, 946; ders., KJ 2006, 236; zust. Kreutz, ZfF 2000, 203. 456 Bringewat, UJ 2001, 427.

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reits der „. . . (auch: telefonische) Erstkontakt“458, um eine solche bejahen zu können, „. . . insbesondere, wenn tätige Hilfe oder sonstiger Schutz angeboten wird“.459 Normatives Element Zusätzlich zum faktischen Moment der tatsächlichen Übernahme sei vonnöten, dass dieser durch einen (sozial-)normativ geprägten Übernahmeakt „materialisiert“ werde.460 Dies geschehe, indem dem Übernehmer ein unreflektiertes Vertrauen entgegengebracht werde461, das heißt der Rechtsgutsträger müsse erwarten, dass der Übernehmende die zum Schutz des in Gefahr geratenen Rechtsguts erforderlichen Maßnahmen ausführe, wobei diese Erwartung „in den sozialnormativen Grundstrukturen begründet“ und an den Übernehmer adressiert sein soll. Bringewat orientiert sich bei dieser Argumentation ausdrücklich an den soziologisch ausgerichteten Theorien462, das heißt an den Ausführungen von Otto und Brammsen.463 Mit dem Rekurs auf den Vertrauensaspekt knüpft er überdies an die Überlegungen von E. A. Wolff und Blei 464 an, d.h. er greift auf das in der Rechtsordnung verortete sogenannte Normvertrauen zurück. Das Vertrauen kann seiner Ansicht nach entweder bei dem Rechtsgutsträger selbst zu suchen sein, also bei dem gefährdeten Kind, oder bei den Eltern, die als Dritte zugunsten des eigentlichen „Rechtsgutsträgers Kind“ fungieren.465 Beim Kind bestehe der untrügliche Vertrauensbeweis in der eigenen Hilflosigkeit während der Gefahrensituation.466 Nicht notwendig sei, dass das Kind 457 Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 102; Mörsberger in dem Interview von Jäger, Jugendhilfe 2000, 233; ders., „..und schuld ist“, S. 93; in diese Richtung wohl auch Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 41, die auf einen „längerfristigen Arbeits- und Betreuungszusammenhang“ abstellen. 458 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 53 f., 57; ders., UJ 2001, 428; ähnlich ders., BldW 2002, 27. 459 LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13f; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 17; in diesem Sinne auch die teleologische Interpretation der Äußerungen des OLG Düsseldorf bei Wiesner, spektrum 2000, 13. Vgl. auch Bringewat, KJ 2006, 236: „Die neu geschaffene Vorschrift des § 8a SGB VIII n. F. liest sich insoweit wie eine Bestätigung der schon zuvor bestehenden (Straf-)Rechtslage.“ 460 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 54 f.; ders., Tod eines Kindes, S. 51. 461 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 51 ff.; ders., Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 54; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 18; ders., UJ 2001, 428. 462 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (a). 463 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 51, Fn. 129. Noch mehr an der Ansicht von Brammsen und Otto orientiert sich Kreutz, ZfF 2000, 204, der näher auf die Prämissen von Luhmann eingeht. 464 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (b). 465 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 57.

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diese Hilflosigkeit auch in irgendeiner Form nach außen artikuliere, sodass selbst Kleinkinder und Säuglinge ein unreflektiertes Vertrauen aufweisen könnten. Stelle man auf die Eltern ab, zeigten sich Indizien für ein unreflektiertes Vertrauen einerseits darin, dass diese in der Gefahrensituation untätig blieben und resignierten, andererseits aber auch im Formulieren bzw. Signalisieren der Forderung nach Fremdunterstützung.467 Nicht notwendig sei, dass sich der Rechtsgutsträger selbst oder ein Dritter zu Lasten des Rechtsgutsträgers einer Gefahr aussetze oder dass ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Übernehmer und dem Rechtsgutsträger bestehe.468 Auch sei nicht notwendig, dass sich die Gefahr durch die Nichtintervention Dritter vergrößere, da der Gefährdungsgedanke eher dem Bereich der Überwachergaranten (und hierbei insbesondere der Ingerenz) zuzuordnen sei.469 Bei den Beschützergaranten habe der Gefährdungsgedanke eine andere Bedeutung: Namentlich den einer „Vertrauensinvestition“ als bloßes Indiz für das unreflektierte Vertrauen in die tatsächliche Schutzübernahme. Die Bedeutung der Garantenstellung neben derjenigen aus dem einfachgesetzlich normierten staatlichen Wächteramt liege darin, dass eine Einstandspflicht aus tatsächlicher Übernahme bereits in dem Zeitraum bestehe, in welchem die Gefährdungsschwelle der §§ 1666, 1666a BGB noch nicht überschritten sei, der staatliche Wächter sich also noch auf das Anbieten von Hilfen zu beschränken habe.470 Demgegenüber äußert sich Wiesner kritisch. Er bezweifelt, dass eine Garantenposition aus tatsächlicher Schutzübernahme angenommen werden könne, weil neben der Elternverantwortung „. . . ein konkurrierender Schutzauftrag des Staates gar nicht bestehen“ könne, solange nicht die Interventionsschwelle des staatlichen Wächteramts erreicht sei.471

466 LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13 f.; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 19; ebenso Kreutz, ZfF 2000, 204. 467 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 56. Zur Verdeutlichung der letztgenannten Fallkonstellation kann auf den Fall „Laura Jane“ verwiesen werden. Nach den Angaben im Urteil des AG Osnabrück (abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 59) hatte die Mutter in einem Gespräch mit der (später angeklagten) Sozialarbeiterin gemeint, „. . . um ihrer Faulheit entgegenzuwirken, brauche sie Druck und einen ,Tritt in den Hintern‘.“ 468 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 55, 57 f. 469 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 54 f. (auch dies sieht er aber als gegeben an, siehe S. 58 a. a. O.); ders., Tod eines Kindes, S. 52. 470 Bringewat, KJ 2006, 237. 471 Wiesner, ZfJ 2004, 168, Fn. 29.

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In weiten Teilen übereinstimmend mit Bringewat argumentieren wiederum Beulke/Swoboda. Sie pflichten ihm in seiner Kritik am grundsätzlichen dogmatischen Vorgehen der mit dem Fall „Laura Jane“ befassten Gerichte bei und meinen wie er, dass die Figur des Beschützergaranten zu hinterfragen gewesen wäre.472 Anknüpfend an die Ausführungen des OLG Oldenburg und damit an die Frage, ob aus § 1 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 3 und § 2 SGB VIII eine Garantenstellung zu folgern sei, konzentrieren sie sich jedoch zunächst nicht darauf, ob die Normen dem Kind subjektiv-öffentliche Rechte einräumen, sondern werfen die eine Ableitung von Garantenstellungen „aus Gesetz“ generell betreffende Frage auf, an wen sich daraus resultierende Pflichten wann richten.473 Das Strafrecht setze für die Garantenstellung stets den personalen Bezug voraus. Für die Garantenstellung bei der Wahrnehmung behördlicher Aufgaben folge daraus, dass sich die Pflichten in einer Person bzw. in mehreren Personen verdichtet haben müssten. Das sei dann der Fall, wenn diese auch tatsächlich Schutzaufgaben für ein bestimmtes Rechtsgut übernommen hätten.474 Abgestellt werden müsse auf den Vertrauensgesichtspunkt. Entscheidend sei, dass andere auf das Tätigwerden des Übernehmenden vertrauten oder zumindest berechtigte Erwartungen darin setzen dürften. Der konkrete Beweggrund des Übernehmenden, die gesetzliche oder vertragliche Verpflichtung bzw. freiwillige Übernahme, sei von untergeordneter Bedeutung. Doch allein die Gefahrerhöhung beziehungsweise Gefahrschaffung stelle kein konstituierendes Moment für die tatsächliche Übernahme auf dem Gebiet der Beschützergaranten dar. Folglich müsse geklärt werden, wessen Vertrauen konkret durch die tatsächliche Übernahme berührt werde. Zunächst thematisieren sie das Vertrauen der Eltern in die Tätigkeit des Sozialarbeiters. Dabei steht die Konstellation im Mittelpunkt, bei der die Eltern sich dem jugendamtlichen Tätigwerden widersetzen.475 In diesem Fall könne es kein Vertrauen der Eltern in die Jugendamtsmitarbeiter geben, dass diese die nötigen Schritte zum Schutz des Kindeswohls durchführen werden. Im Anschluss daran sprechen sie die von Bringewat unbeantwortete Frage an, ob auf das Vertrauen von Nachbarn, Bekannten oder Verwandten der Familie abzustellen sei und verneinen dies aufgrund mangelnder Handlungspflichten und -möglichkeiten jener Personengruppen.476 Schließlich wenden sich Beulke/ 472

Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 83. Siehe zu diesen Fragen bereits die Stellungnahme zur Garantenstellung aufgrund Gesetz Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (aa) (e). 474 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 84. 475 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 85. 476 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 86. 473

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Swoboda dem Vertrauen des gefährdeten Kindes selbst zu.477 Sie rekurrieren zunächst auf den von Bringewat geprägten Begriff des „unreflektierten Vertrauens“. Diesem entspreche die in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG normierte verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staats. Sie führe im Interventionsbereich des Staats zu einem Rechtsanspruch und damit zu einem berechtigten Vertrauen auf Hilfe durch das Jugendamt. Der zuständige Sozialarbeiter wachse mit der Übernahme der Betreuung der Familie „quasi von Gesetzes wegen“ in die Garantenstellung hinein.478 Die Autoren verbinden damit Gesichtspunkte der tatsächlichen Übernahme mit der Garantenstellung aus Gesetz. Wiesner hingegen steht der Möglichkeit des von Bringewat und Beulke/Swoboda zugrunde gelegten Vertrauensakts des Kindes skeptisch gegenüber. Einen solchen hält er v. a. bei Säuglingen oder Kleinkindern für ausgeschlossen.479 (g) Stellungnahme Übereinstimmung herrscht in Literatur und Rechtsprechung zur Garantenstellung aufgrund tatsächlicher Übernahme zumindest insoweit, als neben dem faktischen Element der tatsächlichen Übernahme der Schutzpflicht grundsätzlich auch ein gewisser normativer Aspekt gefordert wird.480 Für diese Zweigliedrigkeit der Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme spricht wesentlich die Überlegung, dass ansonsten zum Beispiel derjenige, der als völlig Unbeteiligter an einer Unfallstelle vorbeikommt und beginnt, dem Verletzten zu helfen, diese Hilfe jedoch im Ergebnis nicht zu Ende führt, unter Umständen strenger bestraft würde als derjenige, der von Anfang an untätig bliebe und sich damit lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) schuldig machen würde.481 Zu fordern ist daher, dass zu dem

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Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 86. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 86. 479 Wiesner, ZfJ 2004, 168, Fn. 29. In diese Richtung auch Schünemann, Grund und Grenzen, S. 343 im Rahmen eines Beispielsfalls zur „Herrschaft über die konstitutionelle Hilflosigkeit“; nicht ganz eindeutig NK-Seelmann, § 13, Rn. 108, der lediglich auf ein schlafendes Baby eingeht und für diesen Fall ein Vertrauen verneint. 480 Siehe jedoch Blei, H. Mayer-FS, S. 122, der die Notwendigkeit des tatsächlichen Antritts der Übernahme für bestimmte Fallkonstellationen bestreitet und ausschließlich auf das normative Moment abstellen will. Ihm zustimmend u. a. S/S/Stree, § 13, Rn. 28 sowie Krey, AT 2, Rn. 345. 481 Dieses Beispiel stellt den „klassischen“ Fall dar, der im Zusammenhang mit der Garantenstellung aus tatsächlicher Schutzübernahme zitiert wird, s. z. B. SK-Rudolphi, § 13, Rn. 60; Herzberg, Garantieprinzip, S. 350 f.; Stree, H. Mayer-FS, S. 152 ff.; aA 478

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tatsächlichen Moment ein „Mehr“ hinzukommt, welches eine gewisse Bindungswirkung für den Übernehmenden erzeugt.482 Tatsächliches Moment Dauer der Betreuung Zunächst muss jedoch geklärt werden, wann bei der Betreuung einer „Problemfamilie“ durch einen Sozialarbeiter von der tatsächlichen Übernahme einer Beschützergarantenstellung auszugehen ist. Diejenigen Stimmen, die den Ausführungen des OLG Stuttgart im Fall „Jenny“ das Erfordernis eines „längerfristigen Arbeits- und Betreuungszusammenhangs“483 entnehmen wollen, missverstehen die Entscheidung. Wörtlich führt das Gericht aus: „Für die soziale Arbeit im Aufgabenbereich des Jugendamtes ist kennzeichnend, dass der für eine – auch unvollständige – Problemfamilie zuständige Sozialarbeiter im Rahmen eines längerfristigen Arbeits- und Betreuungszusammenhangs tatsächlich den Schutz der (mit-)betreuten Kinder übernimmt.“484 Das OLG Stuttgart meint also zutreffend485, dass der Zuspitzung des Geschehens in der Regel eine „längere Vorgeschichte“ mit dem Jugendamt vorausgeht. Den Äußerungen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass eine solche auch konstitutiv für die Annahme einer strafrechtlichen Einstandspflicht sei. Überdies ist für das Erfordernis einer längerfristigen Betreuung auch kein sachlicher Grund ersichtlich. Vielmehr zeigten die §§ 42 a. F., 43 a. F. und 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. zeigen die §§ 8a Abs. 3 S. 1, 42 n. F. SGB VIII bereits aus sozialrechtlicher Sicht, dass zum Zweck des Kinderschutzes nicht vorausgesetzt wird, dass der Krise ein Vorverhältnis zwischen Sozialarbeiter und „Problemfamilie“ vorangegangen war. Ebenso wenig ist es aus strafrechtlicher Perspektive einleuchtend, ein längerfristiges Betreuungsverhältnis zu verlangen, auch wenn dieser Umstand möglicherweise die Antwort auf die Frage beeinflusst, wann ein hinreichend gefestigtes Vertrauensverhältnis zwischen dem Übernehmer und dem Schutzbedürftigen angenommen werden kann.

Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 60, die aus der Konstellation folgern, dass beide Personengruppen nur wegen § 323c StGB zu bestrafen seien. 482 OLG Celle NJW 1961, 1940. 483 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 41. 484 OLG Stuttgart NJW 1998, 3132 = ZfJ 1998, 383 (Hervorhebung nicht im Original). 485 So auch das Fazit der Fälle Teil 1 A. IX 2.

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Letztlich ist Bringewat daher zuzustimmen, wenn er meint, auch der (telefonische) Erstkontakt mit der Familie sei zur Begründung einer Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme ausreichend, sofern in diesem Zusammenhang Schutz und Hilfe angeboten wurde. Ablehnung der Fallübernahme? Zu klären bleibt aber, wie es sich auswirkt, wenn der Jugendamtsmitarbeiter konkludent oder expressis verbis die Betreuung des Falls abgelehnt hat.486 Hierfür ist der Begriff der Fallübernahme zu konkretisieren. Hat der Sozialarbeiter, nachdem er Informationen über den Sachverhalt erlangt hat, entschieden, dass ein Eingreifen nicht notwendig sei, dann ist eine Übernahme zu bejahen Dass er es ablehnt, konkrete Schutzmaßnahmen vorzunehmen, ist lediglich als Entscheidung im Rahmen der Betreuung anzusehen.487 Hat der Sozialarbeiter hingegen gar keine Faktenkenntnis erlangt – z. B. weil er im Rahmen eines Streiks die Arbeit verweigert – so ist das tatsächliche Moment der Schutzübernahme wegen völlig fehlenden personalen Bezugs abzulehnen.488 Normatives Moment Doch welches normative Element muss zu dem Umstand der tatsächlichen Übernahme hinzutreten, um mit Bringewats Worten eine „Materialisierung“489 der Schutzübernahme bejahen zu können, sodass eine strafrechtliche Pflicht zum Tätigwerden anzunehmen ist?

486 Siehe hierzu Fieseler in: Öffentliche Verantwortung, S. 185, Fn. 22: „. . . Frage, ob gleichwohl eine strafrechtliche Verantwortlichkeit überhaupt in Betracht kommt, wenn – etwa nach einem anonymen Anruf – gar nichts unternommen wird, sich mit der Sache zu befassen.“ 487 Im Ergebnis ebenso OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 199 ff. (Fall „Tanja“); vgl. in diesem Zusammenhang auch den in BGHSt 7, 211 entschiedenen Fall. Hierbei ging es um einen Bereitschaftsarzt, der im Zuge einer – im Ergebnis zum Tod der Patientin führenden – fehlerhaften Ferndiagnose eine Eileiterschwangerschaft mit einem Magen-Darm-Katarrh verwechselte und sich gegenüber dem um Hilfe bittenden Ehemann weigerte, einen nächtlichen Hausbesuch vorzunehmen. Der BGH verurteilte hier wegen fahrlässiger Tötung wegen Unterlassens ohne nähere Untersuchung, ob eine tatsächliche Übernahme vorlag – in der Literatur wird dieses Ergebnis z. T. jedoch abgelehnt, s. dazu Roxin, AT II, § 32, Rn. 73 ff. m.w. N. 488 Im Ergebnis ebenso Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 87 f. 489 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 51.

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Vertrauen Häufig wird in der Literatur und Rechtsprechung hier ein Vertrauensmoment auf Seiten des Opfers bzw. eines Dritten zu dessen Gunsten diskutiert.490 Ungeklärt ist jedoch neben der Frage, welche Merkmale dieses Vertrauen aufweisen muss auch, in welcher Person es vorliegen muss, und ob ein konkreter Nachweis des Vertrauens gerade in dieser Person vonnöten ist. Einigkeit herrscht darüber, dass nicht der bloße Umstand des Vertrauens in die Vornahme einer Handlung strafrechtlich relevant ist, sondern lediglich ein berechtigtes Vertrauen den Ausschlag gibt.491 Doch besteht keine Einigkeit darüber, nach welchen Kriterien die Berechtigung konkret zu bestimmen ist. Hierbei ist notwendigerweise zwischen den einzelnen in Betracht kommenden Personen zu differenzieren. Kind Zunächst soll untersucht werden, ob ein berechtigtes Vertrauen auf Seiten des Kindes anzunehmen ist. Die Frage nach der Berechtigung selbst ist in diesem Zusammenhang nicht schwer zu beantworten. Die Vertreter der Ansicht, dass – um mit Sangenstedt zu sprechen – „Sozialnormen“492 die Vertrauensgrundlage bilden, müssen konstatieren, dass „das Jugendamt“ in der Gesellschaft allgemein als für den Schutz in Not geratener Kinder zuständig erachtet wird493 – nicht zuletzt deshalb ist auch der Aufschrei im Fall spektakulärer Kindeswohlschädigungen trotz jugendamtlicher Betreuung der „Problemfamilie“ so groß. Hält man mit der Gegenansicht die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit für den entscheidenden Maßstab der Vertrauensberechtigung, dann gelangt man zum gleichen Ergebnis. Wie bereits im Rahmen des ersten Teils der Arbeit dargelegt, steht aufgrund der verfassungsrechtlichen Regelung des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG und deren einfachgesetzlicher Ausformung im SGB VIII außer Zweifel, dass ein Vertrauen auf das Tätigwerden „des Jugendamts“ in Fällen von

490 Vgl. die Nachweise bei Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (b). Zudem rekurrieren z. B. auch Schünemann (Grund und Grenzen, S. 343) sowie Seelmann (in NK, § 13, Rn. 49) – freilich jeweils im Rahmen des von ihnen vertretenen Materialisierungsansatzes (s. dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (h) bzw. (z) – auf das Vertrauensmoment. 491 Siehe oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (b). 492 Sangenstedt, Garantenstellung, S. 225. 493 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überschrift des § 50a SGB VII-KEG (BR-DrS 712/04, S. 5): „Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung“ (Hervorhebungen nicht im Original).

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Kindeswohlgefährdung dem geltenden Recht entspricht und damit auch berechtigt ist. Uneinigkeit herrscht jedoch in der Literatur darüber, ob neben der Vertrauensberechtigung zusätzlich der Nachweis erbracht werden muss, dass der Rechtsgutsträger bzw. ein Dritter zu dessen Gunsten auch tatsächlich auf ein Tätigwerden vertraut hat.494 Bejaht man letzteres, dann stellt sich die Folgefrage, ob bei kleinen Kindern (insbesondere bei Säuglingen) ein derartiger Nachweis überhaupt denkbar erscheint. Die dem Vertrauensbegriff im täglichen Sprachgebrauch zugrunde gelegte Bedeutung eines festen Überzeugtseins von der Verlässlichkeit oder Zuverlässigkeit einer Person oder Sache495 spricht eher dagegen. Auch Bringewat scheint den herkömmlichen Vertrauensbegriff in den besprochenen Fallkonstellationen als nicht passend zu erachten, denn er greift auf den Terminus des „unreflektierten Vertrauens“ zurück, der in der Strafrechtsliteratur an anderer Stelle nicht zu finden ist. Im Ergebnis ist ihm zwar zuzustimmen; denn würde man die Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme wegen des fehlenden Vertrauens (nachweises) bei einem besonders jungen Kind verneinen, so würde dies zu dem grotesken Ergebnis führen, dass gerade die besonders Schützwürdigen (z. B. Komapatienten, Schwerverletzte, Volltrunkene etc.) gegenüber erwachsenen, im Stadium des Bewusstseins befindlichen Personen schlechter gestellt wären. Soweit jedoch Bringewat als ein „untrügliches äußeres Anzeichen“ des „unreflektierten Vertrauens“ des gefährdeten Kindes in das jugendamtliche Tätigwerden „die eigene Hilflosigkeit in der Gefährdungssituation, die fehlende eigene Fähigkeit zur wirksamen Schutzwehr und das – auch geistig-seelische – Ausgeliefertsein an die Gefährdungen für das eigene Wohl“496 ansieht, vermag das nicht zu überzeugen. Damit führt er lediglich den Nachweis der Schutzbedürftigkeit und daraus folgender Abhängigkeit des Kindes von Rettungsmaßnahmen des Jugendamtsmitarbeiters. Überzeugender erscheint es, ein „Vertrauendürfen“ für erforderlich, aber auch ausreichend zu erachten, wie dies zum Beispiel Beulke/Swoboda tun, die ein Recht des bedrohten Kindes auf Vertrauen aus den bereits im Rahmen der Ga494 In diesem Sinne die bereits vorstehend genannten Autoren NK-Seelmann, § 13, Rn. 108; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 343 (auf der Basis seiner Herrschaftslehre als eine Möglichkeit der Herrschaftserlangung im Rahmen der Herrschaft über die konstitutionelle Hilflosigkeit einer anderen Person) sowie offensichtlich auch Wiesner, ZfJ 2004, 168, Fn. 29. 495 So die im Duden zu lesende Definition. 496 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 57; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 19; ebenso Kreutz, ZfF 2000, 204.

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rantenstellung „aus Gesetz“ angesprochenen Normen herleiten.497 Für diese Vorgehensweise spricht, dass Nachweisschwierigkeiten sowie gekünstelt anmutende Konstrukte zur Vertrauensbegründung vermieden werden.498 Doch gibt es über die Person des Kindes als Träger der bedrohten Rechtsgüter hinaus Personen, bei denen ein Vertrauendürfen in Betracht kommt? Insofern sind vor allem zwei weitere Personengruppen in Betracht zu ziehen. Dritte Beulke/Swoboda sprechen das Vertrauen Außenstehender an, wie zum Beispiel von Nachbarn, Bekannten sowie Verwandten der Familie.499 Mit ihrer Argumentation, deren Vertrauen sei mangels entsprechender Handlungspflichten und Handlungsmöglichkeiten irrelevant, greifen sie jedoch der der Garantenproblematik erst nachgelagerten Frage nach möglichen Garantenpflichten vor. Wesentlich gegen die Beachtlichkeit eines Vertrauensmoments dritter Personen spricht vielmehr, dass deren Vertrauen nicht als berechtigt bewertet werden kann. Hält man für die Relevanz des Vertrauens die Rechtsordnung für ausschlaggebend,500 so ergibt sich, dass diese lediglich dem gefährdeten Kind ein subjektiv-öffentliches Recht auf Vertrauen auf die Gewährleistung staatlicher Schutzmaßnahmen einräumt. Wenn dadurch zugleich die restliche Gesellschaft davor bewahrt wird, fremde Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, so stellt dies lediglich einen Rechtsreflex dar. Erachtet man demgegenüber die soziale Berechtigung zu vertrauen als maßgebend, dann ändert sich an diesem Ergebnis nichts: Die Gesellschaft misst 497 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 86. Sie schließen sich zwar zunächst Bringewat in seiner Forderung nach einem unreflektierten Vertrauen an, fordern aber im folgenden ein Recht auf Vertrauen. In diesem Sinne auch Gropp, AT, § 11, Rn. 27 sowie wohl auch Stree, H. Mayer-FS, S. 161 und Maiwald, JuS 1981, 481 f. 498 Auch in diesem Zusammenhang ist auf die Ausführungen Bringewats (Tod eines Kindes, S. 57; ebenso Kreutz, ZfF 2000, 204) zu verweisen. Im Rahmen des „unreflektierten Vertrauens“ der Eltern meint er, ein solches sei erkennbar „. . . insbesondere daran, dass – wie regelmäßig in derartigen Krisensituationen – die überforderten Eltern etc. entweder trotz (nicht selten drängender und nachhaltiger) Aufforderung selbst nichts hinreichend Gefahrabwendendes oder -verringerndes unternehmen, gleichgültig oder resignativ in allgemeine Untätigkeit verfallen (bildlich: in Kenntnis und Erwartung sozialarbeiterischer Unterstützung ,die Hände in den Schoß legen‘ und zuwarten) oder gar im diffusen Bewusstsein sozialstaatlicher Pflichtenstellungen und auf Grund latent vorhandener, erworbener oder erlernter Anspruchshaltungen Forderungen nach Fremdunterstützung signalisieren und/oder ausdrucksstark formulieren.“ 499 Als Beispiel mag auch die Vertrauenslehrerin im Fall „Tanja“ dienen (s. o. Teil 1 A. III.). 500 Und hierbei vor allem Art. 6 Abs. 2 S. 2 i.V. m. Art. 1 Abs. 3 GG.

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dem Vertrauen Dritter außerhalb des Kerns der „Problemfamilie“ keine rechtliche Bedeutung bei, was sich z. B. an der von der damaligen Bundesregierung im Jahr 2003 beabsichtigten Normierung einer strafbewehrten Anzeigepflicht bei sexuellem Missbrauch von Kindern zeigt, die vor allem auf das in der Praxis typische Untätigbleiben der Nachbarn und der sonstigen Umgebung der Familie zielte.501 Aus diesem – im Ergebnis freilich gescheiterten – Vorhaben wird deutlich, dass in der Gesellschaft gerade keine Einigkeit darüber herrscht, dass das Umfeld der „Problemfamilie“ auf das Tätigwerden des Jugendamts vertrauen darf. Dass die Erwartungshaltungen Dritter nicht relevant sind, liegt also nicht an fehlenden Handlungspflichten oder -möglichkeiten, sondern schlicht an der mangelnden rechtlichen Anerkennung ihres Vertrauens in das Tätigwerden des Jugendamts. Eltern Schließlich ist es mit Bringewat denkbar, auf das Vertrauen der Eltern als Dritte zugunsten des Rechtsgutsträgers Kind abzustellen. Dafür, dass die Rechtsordnung diesen im Gegensatz zu Bekannten oder Verwandten der Familie ein relevantes „Vertrauendürfen“ zuschreibt, spricht wesentlich die Konstruktion des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als fremdnütziges Grundrecht der Eltern.502 Doch wie wirkt es sich auf die Lösung der vorliegend relevanten Fallkonstellationen aus, wenn die Kindeseltern zugleich selbst die Gefährdungslage hervorgerufen haben? Die Annahme eines Vertrauendürfens der Eltern erscheint in diesem Zusammenhang zunächst widersprüchlich.503 Zudem ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht eröffnet.504 Für die Beachtlichkeit ihres Vertrauens spricht jedoch, dass die Eltern insoweit nicht als eigene Grundrechtsträger fungieren, sondern lediglich als „Projektionsflächen des Vertrauens“ im Hinblick auf das Wohl ihres Kindes. Andernfalls käme man zu dem seltsamen Ergebnis, dass die Eltern durch ihr Fehl501 Vgl. die Forderungen von Bundesjustizministerin Zypries in dem Bulletin der Bundesregierung Nr. 10-1 vom 10.1.2003 (abrufbar unter http://www.bundes regierung.de/Anlage465504/Nr.-10-1.pdf, S. 2 (Stand: 20.6.2005): „Wir erweitern Paragraph 138 Strafgesetzbuch um den sexuellen Missbrauch von Kindern, die sexuelle Nötigung . . .“) sowie das „Gesetz zur Änderung der Vorschriften über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 27.12. 2003 (BGBl. I 2003, S. 3007 ff.), das diese Erweiterungen nicht enthält. 502 Vgl. dazu oben Teil 1 B. I. 3. c). 503 Zu denken ist an eine Art venire contra factum proprium, wie es im Zivilrecht anerkannt ist (siehe dazu Palandt/Heinrichs, § 242, Rn. 55 ff.). 504 Siehe hierzu oben Teil 1 B. I. 2. a) (1).

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verhalten die Garantenstellung des zum Schutz der Kindes eingesetzten Sozialarbeiters zu verhindern vermochten und damit den strafrechtlichen Schutz ihres Kindes beeinflussen könnten. Diesen Umstand übersehen Beulke/Swoboda. Zwar überzeugt ihr Einwand gegen die von Bringewat für die tatsächliche Annahme eines unreflektierten Vertrauens der Eltern angeführten Indizien im Fall einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Jugendamt. Im Gegensatz zu ihrer späteren Aussage, auf Seiten des Kindes genüge bereits ein Recht auf Vertrauen, suchen sie jedoch bei den Eltern nach einem tatsächlichen Vertrauensmoment, anstatt auf deren Vertrauensberechtigung zurückzugreifen. Um das „Vertrauendürfen“ einheitlich zu gewährleisten, ist daher auch im Fall der Gefährdung des Kindes durch die eigenen Eltern eine Vertrauensberechtigung im Hinblick auf ein jugendamtliches Tätigwerden anzunehmen. Gefährdungsmoment als notwendiges Korrelat des berechtigten Vertrauens? Fraglich ist, ob dem Vertrauen des Kindes bzw. der Eltern auf der Opferseite ein Gefahrschaffungsmoment bzw. auf der Übernehmerseite ein Gefahrerhöhungsmoment korrespondieren muss. Argumente dafür In zahlreichen Abhandlungen wird auf den sogenannten Babysitterfall eingegangen, bei dem die Eltern für die Zeit ihres Theaterbesuchs eine Schülerin als Aufsicht für ihren Säugling engagieren. Hier wird eine Garantenstellung der Babysitterin aufgrund tatsächlicher Schutzübernahme damit begründet, dass deren Zusage, verbunden mit hieraus resultierenden Vertrauen der Eltern, das diese von anderweitigen Schutzvorkehrungen abhält, eine erhöhte Gefahr für das Kind begründet hat.505 Außerdem wird häufig der bereits eingangs erwähnte Beispielsfall506 gebildet, dass jemand als zunächst nicht über § 323c StGB hinaus Handlungsver505 Siehe hierzu SK-Rudolphi, § 13, Rn. 61; Blei, H. Mayer-FS, S. 122; Krey, AT 2, Rn. 345; Stree, H. Mayer-FS, S. 152 f. sowie Arzt, JA 1980, 652. 506 Einen ähnlichen Fall hatte der BGH 1994 zu entscheiden (vgl. NStZ 1994, 84 f. m. krit. Anm. Hoyer; krit. auch Mitsch, JuS 1994, 556; s. a. die den vorstehend genannten Rezensenten zustimmende Falllösung bei Jäger, Rn. 350): Hierin traf ein Diskobesucher im Winter nachts auf dem Heimweg eine stark berauschte Bekannte. Er nahm sie in seinem Pkw mit zu sich nach Hause und wollte sie dort übernachten lassen. Da die Frau jedoch während der Fahrt eingeschlafen und nicht zu wecken war, ließ der spätere Angeklagte sie in dem Auto und umhüllte die leichtbekleidete Frau lediglich mit einer Decke. Als er am nächsten Tag nach ihr sah, war sie aus nicht mehr eindeutig festzustellenden Gründen verstorben.

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pflichteter beginnt, einem Verletzten Hilfe zu leisten. Führt er diese Handlung nicht zu Ende, dann steht dieser „inkonsequente Samariter“ bei Annahme einer Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme im Ergebnis schlechter da, als derjenige, der von Anfang an gewissenlos vorbeigegangen ist und an eine Hilfeleistung überhaupt keinen Gedanken verschwendet hat. Daher soll eine Bestrafung wegen unechter Unterlassung nur dann in Betracht kommen, wenn der Hilfeleistende der verletzten Person durch sein anfängliches Rettungsbemühen weitere Rettungsmöglichkeiten entzogen hat, zum Beispiel weil andere Passanten im Vertrauen auf die Versorgung des Opfers weitergegangen waren. Die Lösung dieser Fälle scheint eine klare Abgrenzung der aufgrund tatsächlicher Schutzübernahme Handlungsverpflichteten zu den nur nach § 323c StGB zur Hilfeleistung Verpflichteten zu ermöglichen. Fraglich bleibt indes, ob das Gefahrschaffungselement lediglich ein Indiz für ein Vertrauen oder ein konstitutives Moment 507 der Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme darstellt. Indizcharakter? Gegen letztere Ansicht haben Beulke/Swoboda wie auch Bringewat ausgeführt, das Gefahrenmoment sei nur bei der Überwachergarantenstellung passend und hierbei insbesondere im Rahmen der Ingerenz508. Dieses Argument wird jedoch insofern relativiert, als diejenigen, die zur Begründung der Garantenstellung durch tatsächliche Schutzübernahme ein Gefahrenmoment für nötig erachten, diese Garantenposition mit derjenigen kraft Ingerenz auf denselben Rechtsgedanken zurückführen – auf den der Gefahrschaffung.509

507 In diesem Sinne Stree, H. Mayer-FS, S. 155 ff. (der zugleich voraussetzt, dass die tatsächliche Übernahme auch auf dem Gebiet der Überwachergarantenstellungen denkbar ist (s. S. 148 a. a. O.)); S/S/Stree, § 13, Rn. 27; ihm folgend NK-Seelmann, § 13, Rn. 98; Jakobs, 29/46; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c; (vgl. jedoch LK-Jescheck, § 13, Rn. 27, wo die Gefahrerhöhung kraft Vertrauen lediglich als „starkes Indiz“ für die Begründung einer Garantenstellung wegen tatsächlicher Schutzübernahme bezeichnet wird); Otto, GK AT, § 9, Rn. 64 (der allerdings bei der Garantenstellung der Jugendamtsmitarbeiter in Rn. 68 auf diesen Umstand nicht zu sprechen kommt); Roxin, AT II, § 32, Rn. 55; Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 138 ff.; ders., JuS 1985, 271 f.; Arzt, JA 1980, 652 f.; wohl auch Blei, H. Mayer-FS, S. 120 ff. (s. aber auch S. 137 f.); offen gelassen durch Schünemann, Grund und Grenzen, S. 335 (vgl. aber auch S. 343, wo er das Gefahrerhöhungsprinzip für die von ihm selbst entwickelte Garantenlehre für entbehrlich erachtet); Mitsch, JuS 1994, 556; krit. Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 184 ff. (speziell gegen die Ansicht von Jakobs; zur Kritik an Schultz s. S. 187, Fn. 214); Herzberg, Garantenprinzip, S. 348 ff., 353; ders., JZ 1986, 991; Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 25; Maiwald, JuS 1981, 481 f. 508 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 85; Bringewat, Tod eines Kindes, S. 52.

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Dass mit Bringewat 510 das Gefahrschaffungs- bzw. -erhöhungsmoment bei der Überwachergarantenstellung, nicht jedoch bei der Beschützergarantenstellung zu verorten sei, stellt mehr eine Behauptung, denn eine überzeugende Begründung dar. Auch Herzberg lehnt die Gefahrschaffung bzw. -erhöhung im Rahmen der tatsächlichen Übernahme ab. Er meint, derartige Fallkonstellationen könnten auch auf anderem Weg – zum Beispiel durch ein besonderes soziales Näheverhältnis zwischen dem Übernehmer und der in Gefahr geratenen Person – gelöst werden.511 Damit unterbreitet Herzberg jedoch einen Vorschlag zu einer alternativen Vorgehensweise und noch kein überzeugendes Argument gegen das Gefahrschaffungsmoment. Ein solches Argument vermag aber Brammsen zu liefern, der anführt, es bleibe dem Unterlassenden zumeist unklar, ob ein Dritter (im Vertrauen auf dessen Tätigwerden) den Schutz des Rechtsgutes unterlassen habe, und ob nun für ihn eine strafrechtliche Handlungspflicht entstanden sei.512 Dass dann aber von dem Umstand, dass andere vom Tätigwerden abgehalten werden, die strafrechtliche Pflicht zu handeln abhängen soll, erscheint in der Tat nicht einleuchtend und würde zu bloßen Spekulationen führen. Damit setzt Brammsen jedoch voraus, dass ein konkreter Nachweis der Gefahrerhöhung durch das Vertrauen Dritter auf das (Weiter)handeln des Tätigwerdenden vonnöten ist. Eigener Lösungsansatz Doch reicht nicht bereits die Möglichkeit aus, dass durch das Vertrauen eine Gefahr für das letztlich geschädigte Rechtsgut erhöht wurde? Bejahte man diese Frage,513 so wären auch die in der vorliegenden Arbeit relevanten Fallkonstellationen zumeist ohne Schwierigkeiten zu lösen, denn 509 Dogmatische Konsequenz dieser Ansicht ist, dass die tatsächliche Schutzübernahme auf Seiten der Beschützergarantenstellung die üblicherweise der Überwachergarantenstellung zugerechnete Ingerenz „spiegelt“. Sieht man die Ingerenz auch auf Seiten der Beschützergarantenstellung für möglich an, dann unterscheiden sich beide (nach herrschender Meinung) lediglich durch das Erfordernis des pflichtwidrigen Vorverhaltens bei der Ingerenz; abl. demgegenüber Sangenstedt, Garantenstellung, S. 269 f. 510 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (aa) (d). 511 Herzberg, Garantenprinzip, S. 353 f. 512 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 185 f.; s. a. Schünemann, Grund und Grenzen, S. 359, der darauf hinweist, dass sich die Suche nach Ersatzhelfern oft schwierig gestaltet. 513 So offensichtlich BGH NStZ 1994, 85, wenn er meint, eine Garantenstellung kraft Schutzübernahme erwachse „. . . erst dann (. . .), wenn der Helfende die Situation wesentlich für den Hilfebedürftigen verändert, insbesondere andere Rettungsmöglich-

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häufig bleiben Nachbarn, Verwandte oder Bekannte der Eltern im Wissen um das bestehende Betreuungsverhältnis untätig. Ein Indiz hierfür stellt auch der Umstand dar, dass sie dem Sozialarbeiter oftmals Informationen zukommen lassen und damit offensichtlich „das Jugendamt“ als die zur Gefahrenabwehr zuständige Stelle ansehen.514 Jedoch wird sich kaum jemals im Sinne einer (Quasi-)Kausalitätsprüfung eindeutig nachweisen lassen, dass eine Person im Vertrauen auf das Tätigwerden des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters von konkreten Rettungsmaßnahmen abgehalten wurde. Lässt man die bloß abstrakte Möglichkeit der Gefahrerhöhung genügen, kann hiergegen jedenfalls nicht geltend gemacht werden, eine Bestrafung widerspreche dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz.515 Anders als der am Geschehen völlig Unbeteiligte hat der im Ergebnis erfolglose Retter nämlich zumindest die Möglichkeit einer anderweitigen Rettung verhindert, sodass ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung existiert. Schließlich spricht gegen die Bedeutung des Gefahrenmoments insgesamt, dass es zwar in den Fällen der Babysitter bzw. der „inkonsequenten Samariter“ sinnvoll erscheint, jedoch nicht durchgängig bei sämtlichen Konstellationen der tatsächlichen Schutzübernahme hinterfragt wird.516 Folglich genügt die bloß abstrakt bestehende Möglichkeit einer Gefahrschaffung, um die Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme bejahen zu können. Zwischenergebnis Die Garantenstellung aufgrund tatsächlicher Schutzübernahme verlangt neben dem tatsächlichen Übernahmemoment ein normatives Element. Letzteres besteht in einem Vertrauendürfen des Kindes und der Eltern auf die Schutzübernahme durch den Sozialarbeiter, das sich sowohl auf die Rechtsordnung als auch auf gesellschaftliche Normen stützen lässt. Eine mit diesem Vertrauen kor-

keiten ausschließt oder neue Gefahren begründet . . .“ (Hervorhebung nicht im Original); so auch Arzt, JA 1980, 717, Fn. 28. 514 Vgl. z. B. die Konstellationen in den Fällen „Laura Jane“ (Informationen an die Sozialarbeiterin durch die Nachbarn, den Onkel und dessen Lebensgefährtin sowie durch die Großmutter), „Vanessa“ (Benachrichtigung durch den Vater des Kindes) sowie „Dominic“ (Meldung an das Jugendamt durch den Nachbarn und die Tante des Jungen). 515 So aber Hoyer in seiner Anm. zu BGH NStZ 1994, 85. 516 Siehe z. B. Roxin, AT II, § 32. Dieser verlangt zwar in Rn. 55 grundsätzlich, dass bei der Schutzübernahme ein das Abhängigkeits- und Obhutverhältnis begründendes Gefahrschaffungs- bzw. -erhöhungsmoment existiert. Er geht jedoch in Rn. 64, ohne dieses Merkmal bei der Garantenstellung von Jugendamtsmitarbeitern zu problematisieren, bei diesen von einer Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme aus.

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respondierende konkrete Gefahrerhöhung durch das Ausbleiben der Hilfe Dritter ist für das Entstehen der Garantenstellung nicht konstitutiv. (dd) Aus Amtsträgerschaft517 Nicht näher behandelt, wenngleich offensichtlich berücksichtigt518, wurde bislang die Besonderheit, dass es sich bei den die Betreuung der „Problemfamilie“ übernehmenden Sozialarbeitern um Vertreter des Staats handelt, die im Rahmen des ihnen übertragenen Amts agieren. (a) Dogmatische Grundlagen der Garantenstellung kraft Amtsträgerpflicht Zwar existieren im 30. Abschnitt des StGB ausdrückliche Regelungen zur Strafbarkeit staatlicher Repräsentanten wegen Untätigkeit519; indes ist im Gegensatz zu den „klassischen“ Garantenquellen des Gesetzes sowie derjenigen aus tatsächlicher Schutzübernahme bis zum heutigen Tag noch nicht vollends geklärt, ob eine strafrechtliche Einstandspflicht aus einer verwaltungsrechtlichen Pflicht als Amtsträger erwachsen kann.520 Die Ansichten in der Literatur divergieren überdies im Hinblick auf die Frage, ob eine solche bejahendenfalls einen Unterfall der tatsächlichen Obhutübernahme521 oder eine davon zu trennende eigenständige Garantenquelle dar517 Arzt, JA 1980, 651 betitelt diese Garantenquelle als „Amtliche Retter“; Herzberg, Garantenprinzip, S. 355 wählt die Bezeichnung „Garantenpflichten aus beruflicher Sonderstellung“. (Er versteht den Begriff jedoch weiter als hier und fasst darunter z. B. auch die Verantwortlichkeit von Gastwirten.) Für die hier gewählte Terminologie spricht der Umstand, dass es sich bei Jugendamtsmitarbeitern um Amtsträger i. S. d. Legaldefinition des § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) 1. Var. StGB (bei Beamten) bzw. – sofern sie im öffentlichen Dienst angestellt sind – des § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) 1. Var. StGB handelt. 518 Siehe das OLG Oldenburg im Fall „Laura Jane“ (abgedruckt in StV 1997, 134), welches eine wegweisende Entscheidung zur Amtsträgergarantenstellung von Polizisten (BGHSt 38, 388) im Zusammenhang mit der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von „. . . mit der Sache dienstlich befassten Mitarbeiter des ASD“ zitiert. 519 Ein Beispiel bietet § 340 Abs. 1 S. 1 2. Var. StGB (Körperverletzung im Amt durch Begehenlassen. Zum Streit, ob im StGB geregelte Delikte unechte Unterlassungsdelikte darstellen können, s. o. Teil 2 A. I. 1.). Weitere, z. T. rechtshistorische Exempel bei Wagner, Amtsverbrechen, S. 242. 520 Zur historischen Entwicklung bis zum Jahr 1983 siehe Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 102 ff.; eine Übersicht zu den bis dato ergangenen Judikaten findet sich bei ihm auf S. 127 ff.; s. a. Wagner, Amtsverbrechen, S. 243 ff. zum Stand bis 1975. 521 LK-Jescheck, § 13, Rn. 29; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 190 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c; Otto, GK AT, § 9, Rn. 67; ders., JK 97, StGB § 13/26; wohl auch SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54d; Herzberg, Garantenprinzip, S. 355 („In der Nachbarschaft des Prinzips der Obhutübernahme“); nicht ganz eindeutig

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stellt522, ob sie eine Sonderform der Garantenstellung aus Gesetz523 bildet oder welche Merkmale sie bei Zugrundelegung der bereits allgemein skizzierten Materialisierungsansätze aufweisen muss.524 Auch die Äußerungen der Judikatur zur Bedeutung von Amtsträgerpflichten speziell im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Sozialarbeitern sind bislang nicht ganz eindeutig.525 Überwiegend anerkannt ist lediglich, dass bei der Beurteilung des Verhaltens von Amtsträgern zwei Hauptfälle systematisch zu unterscheiden sind: Dies sind Bringewat, Tod eines Kindes, S. 50, der es dahingestellt lassen will, ob es sich bei Amtsträgergarantenstellungen um eine Anwendungsmodalität der tatsächlichen Schutzübernahme oder um eine originäre Garantenquelle handelt, und meint, die Übernahme von Schutzfunktionen durch Amtsträger unterliege „grundsätzlich“ den Voraussetzungen der tatsächlichen Schutzübernahme. Er geht aber trotzdem in Sozialpädagogische Familienhilfe auf S. 58 von der Garantenstellung aufgrund Amtsträgereigenschaft als eigenständiger Kategorie aus, wenngleich er auf S. 59 a. a. O. (wie auch in Strafrechtliche Risiken, S. 24, Fn. 21) von einem Sonderfall der Garantenstellung aus tatsächlicher Übernahme spricht. 522 In diesem Sinne zumindest auf den ersten Blick Wessels/Beulke, Rn. 720 f., die die Amtsträgergarantenstellung nicht mit dem Aspekt der tatsächlichen Schutzübernahme verknüpfen. Die von ihnen gewählte Terminologie „freiwillige Übernahme von Schutz- und Beistandspflichten“ wird zugleich von der „mit einem besonderen Pflichtenkreis verbundenen Stellung als Amtsträger oder als Organ juristischer Personen“ unterschieden. In Rn. 716 a. a. O. weisen sie jedoch darauf hin, dass die verschiedenen Einstandspflichten im Einzelfall ineinander übergehen können. Die getrennte Behandlung der Amtsträgerproblematik ist auch bei Roxin, AT II, § 32, Rn. 77 ff. insofern relativiert, als er dem Systematisierungsansatz Schünemanns folgt, den einzelnen „klassischen“ Entstehungskategorien also ein eher untergeordnetes Gewicht beimisst und wesentlich auf den Herrschaftsgedanken abstellt (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (h)). Von der tatsächlichen Übernahme trennen will die Amtsträgergarantenstellung jedoch offenkundig S/S/Stree, § 13, Rn. 31. Zugunsten einer eigenständigen Kategorie wohl auch St. Cramer, Anm. NStZ 1997, 239. („. . . kraft Amtes ausdrücklich (. . .) auf den Posten gestellt.“) 523 So MüKo-Freund, StGB, Bd. I, § 13, Rn. 169 ff. (speziell zum Fall „Laura Jane“ s. Fn. 243 a. a. O.), der auf der Grundlage seines Modells der „Sonderverantwortlichkeit“ argumentiert (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (z) sowie Tröndle/Fischer, § 13, Rn. 6; Krey, AT 2, Rn. 335 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 17 und Arzt, 1980, 651. 524 Vgl. statt aller SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54 ff. (Er argumentiert auf der Grundlage des von ihm favorisierten Modells (s. dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (h), bei dem er nach der Abhängigkeit zwischen dem Garanten und dem Schutzbedürftigen fragt, um eine Garantenstellung zu ermitteln.) 525 So lässt das OLG Osnabrück (StV 1997, 134) in seinem Beschluss zum Fall „Jenny“ verlauten: „Wesentliches Merkmal der sozialpädagogischen Familienhilfe (. . .) ist mithin auch die Verpflichtung zur Schutzgewährung. Daraus kann eine strafrechtliche Garantenpflicht der zu diesem Zweck unmittelbar tätigen staatlichen Gewährsträger resultieren, hier die mit der Sache dienstlich befassten Mitarbeiter des ASD (vgl. zur Garantenpflicht BGHSt 38, 388 ff. . . .).“ (Hervorhebungen nicht im Original). Gropp, AT, § 11, Rn. 30a interpretiert die Entscheidung des Gerichts in dem Sinne, dass eine Garantenstellung kraft „Pflichtübernahme“ angenommen wurde, führt sie jedoch nicht in diesem Zusammenhang an.

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einerseits Konstellationen, in denen es um die Schädigung von Rechtsgütern des Staats bzw. der Allgemeinheit geht526, und andererseits solche, bei denen Individualrechtsgüter beeinträchtigt werden.527 Lediglich letzterer Fall ist für die Frage der strafrechtlichen Verantwortung von Jugendamtsmitarbeitern für Leib und Leben der von ihnen betreuten Kinder relevant. Während bei der tatsächlichen Übernahme die wesentliche Aufgabe darin bestand, zwischen Fällen wie dem bloß „inkonsequenten Samariter“ und Konstellationen wie der Babysitterin, die das Kind während des Opernbesuchs der Eltern entgegen der Absprache nicht versorgt, abzugrenzen, um auf diesem Weg eine uferlose Ausdehnung dieser Garantenquelle zu verhindern, stellt sich bei der Untätigkeit von Amtsträgern das Problem in anderer Gestalt: Hier geht es darum, die Fälle abzuschichten, in denen eine Pflichtwidrigkeit begangen wurde, die lediglich eine Amtspflichtverletzung (§ 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V. m. Art. 34 GG) darstellt528, ohne zugleich automatisch zu strafrechtlichen Einstandspflichten zu führen. Zu verweisen ist insoweit auf die streng formelle Rechtspflichttheorie, die abgelehnt wird, weil einerseits Einigkeit darüber besteht, dass nicht jedes Gesetz eine Garantenstellung zu erzeugen vermag, und weil andernfalls der Grundsatz des Strafrechts als ultima ratio konterkariert werden würde. Auf welche Weise ist nun zu ermitteln, ob (und bejahendenfalls wann) staatliche Repräsentanten auch strafrechtlich zum Einschreiten gegenüber drohenden Rechtsgutsverletzungen berufen sind? An dieser Stelle stößt man einerseits auf das rechtsphilosophische Grundproblem, inwieweit „der Staat“, repräsentiert durch die Amtsträger, zum Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen verpflichtet ist. Bejaht man dies im Grundsatz, dann geht es darum, wann genau sich diese Pflicht in der Person des konkreten Amtswalters verdichtet – eine Frage, die bereits bei der Garantenstellung aus besonderem Rechtssatz angesprochen wurde und für deren Beantwortung auf verwandte Sachverhalte zurückgegriffen werden soll.

526

Zum Beispiel bei der Verunreinigung von Gewässern. Siehe nur den systematischen Aufbau bei Roxin, AT II, § 32, Rn. 77 ff. 528 Vgl. in diesem Zusammenhang das Urteil des BGH v. 21.10.2004 wegen Amtspflichtverletzung, abgedruckt in NJW 2005, 68 ff. Nach Information des Urteils des für die Berufung zuständigen OLG Stuttgart (abgedruckt in ZfJ 2004, 193 ff.) wurden in diesem Fall die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen im Jugendamt durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. 527

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(b) Grundsätzliche Zulässigkeit von Amtsträgergarantenstellungen Ablehnende Stimmen Einige Autoren stehen der Garantenstellung von Amtsträgern grundsätzlich ablehnend gegenüber. So vertritt beispielsweise Rudolphi die Auffassung, dass für eine strafrechtliche Einstandspflicht zwei Wertungen maßgebend seien: Zum einen müsse die verletzte Amtspflicht den Zweck besessen haben, zumindest auch dem durch den Straftatbestand geschützten Rechtsgut Schutz zu gewährleisten. Um zu verhindern, dass aus einer gesetzlichen Schutzpflicht automatisch eine Garantenstellung abgeleitet werde,529 müsse zum anderen noch eine spezifische Abhängigkeit zwischen Amtsträger und Rechtsgutsträger existiert haben. Letzteres sei nur dann der Fall, wenn der gefährdete Bürger (partiell) unfähig sei, die vorrangig ihm selbst obliegende Aufgabe zur Abwehr von Gefahren allein vorzunehmen, und deshalb auf die Hilfe des Staats angewiesen sei.530 Wie die Existenz der allgemeinen Notwehr- und Notstandsregeln zeige, sei eine solche Abhängigkeit grundsätzlich abzulehnen.531 Zaczyk schließt sich dieser Ansicht an und arbeitet deren staatsphilosophische Grundlagen heraus.532 Er interpretiert Rudolphis Aussagen als Konsequenz eines liberalen Staatsverständnisses und leitet unter Rückgriff auf Kant her, dass die allgemeinen Gesetze, und damit auch die Strafgesetze, sich als die Realisierung der Freiheit des Einzelnen im gesellschaftlichen Zusammenleben darstellen.533 Könnte nun der Einzelne von einem Amtsträger als Vertreter des Staats die Verhinderung der Verletzung seiner Freiheit verlangen, so würde die Staatstätigkeit fälschlicherweise re-individualisiert.534 Der Bürger könnte dann die Tätigkeit des Staats bestimmen, und dies würde in letzter Instanz eine Schutzaufgabe nicht nur der Exekutive, sondern des gesamten Staats nach sich ziehen, sodass letztlich sogar ein Anspruch des einzelnen auf eine entsprechende Budgetierung sowie auf eine richterliche Entscheidung im Eilverfahren anzunehmen wäre.535

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SK-Rudolphi, § 13, Rn. 36. SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54c; ders., JR 1987, 339; krit. demgegenüber Pawlik, ZStW 111 (1999), 340. 531 Im Ergebnis ebenso (zur Garantenstellung von Polizeibeamten im Hinblick auf Leib und Leben von Straftaten bedrohter Bürger) z. B. Herzberg, Garantenprinzip, S. 356; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c und Schünemann, Grund und Grenzen, S. 363; ders., ZStW 96 (1984), 311. 532 Zaczyk, Rudolphi-FS, S. 361 ff. 533 Zaczyk, Rudolphi-FS, S. 363 ff. 534 So auch Rudolphi, Dünnebier-FS, S. 580. 535 Die Konsequenz stellt für ihn eine Bestrafung des Amtsträgers aufgrund eines besonderen echten Unterlassungsdelikts de lege ferenda dar (s. Zaczyk, Rudolphi-FS, 530

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Befürworter Von einigen Autoren wird die strafrechtliche Handlungspflichtigkeit von Amtsträgern als Beschützergaranten hingegen relativ weit gefasst. So bejaht Jakobs die generelle Garantenstellung von staatlichen Repräsentanten und begründet dies mit der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes, wonach bürgerlicher Gehorsam und staatlicher Schutz des Einzelnen in einer Art Synallagma stehen. Die Pflicht des Staats zum Schutz seiner Bürger stelle mit anderen Worten das Korrelat dazu dar, dass der Einzelne in den ihm zustehenden Selbstverteidigungsrechten eingeschränkt werde.536 Auf dieser dogmatischen Basis sei mit dem Eintritt in den bürgerlichen Zustand die von Rudolphi geforderte „besondere Abhängigkeitsbeziehung“ automatisch entstanden.537 (g) Argumente im Zusammenhang mit der Beschützergarantenstellung einzelner Amtsträger Neben dieser grundlegenden, auf staatsphilosophischen Überlegungen fußenden Diskussion, wird zudem speziell im Hinblick auf die Garantenstellung einzelner Amtsträgergruppen die Existenz bzw. Reichweite strafrechtlicher Einstandspflichten diskutiert. Bei der Untersuchung der Garantenposition von Jugendamtsmitarbeitern scheinen vor allem Parallelen zur Situation von Polizeibeamten sowie zu der von Beschäftigten bei Umweltbehörden zu bestehen: In beiden Konstellationen geht es um Amtswalter, die zum Schutz bestimmter Rechtsgüter berufen, denen diese aber nicht im Sinne einer tatsächlichen Herrschaft anvertraut sind.538

S. 369); i. E. ebenso Schünemann, Grund und Grenzen, S. 363 sowie Grünwald, ZStW 70 (1958), 428. 536 Jakobs, 29/77d; ähnlich Pawlik, ZStW 111 (1999), 351 f.; zweifelnd gegenüber dieser Ansicht Zaczyk, Rudolphi-FS, S. 364. Er stellt in Frage, ob Hobbes Prämissen mit einem freiheitlichen Rechtsverständnis kompatibel sind; im Ergebnis wie Jakobs hingegen NK-Seelmann, § 13, Rn. 139; S/S/Stree, § 13, Rn. 31; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 193 ff. (der auf der Basis der von ihm propagierten „Handlungserwartungen“ argumentiert); Freund, Erfolgsdelikt, S. 291 ff.; Jäger, Rn. 349; Otto, GK AT, § 9, Rn. 68 (der explizit auf die Situation von Sozialdiensten eingeht); ders., JK 97, StGB § 13/26. 537 Jakobs, 29/77d, Fn. 156a; zust. Roxin, AT II, § 32, Rn. 93 f. 538 Freilich ist den bei den Wasserwirtschaftsämtern Beschäftigten mit der Sorge für die Reinheit der Gewässer kein Individual-, sondern ein Allgemeingut anvertraut.

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Polizeibeamte Zur Frage, ob Polizeibeamten eine Beschützergarantenstellung für die Rechtsgüter der in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Bürger zukommt, existieren unterschiedliche Ansichten. Bejahende Stimmen Der BGH bejahte im Jahr 1992 eine Garantenstellung von Polizisten zum Schutz der Bürger vor Straftaten, sofern diese sachlich und örtlich für das betreffende Rechtsgut zuständig sind und die Gefährdungslage während der Dienstzeit auftritt.539 Dies ergebe sich einerseits aus dem Umstand, dass die Bürger selbst Träger von Grundrechten seien, aus denen Schutzpflichten resultierten, und andererseits daraus, dass dem Staat effektivere Abwehrmaßnahmen als dem Bürger zustünden.540 Eine außerdienstliche Kenntniserlangung könne ausnahmsweise dann ausreichen, wenn das beobachtete Delikt während der Dienstausübung fortwirke541, und wenn eine Abwägung, insbesondere unter Berücksichtigung des Gewichts der Tat ergebe, dass ein Einschreiten den Polizeibeamten nicht unzumutbar in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beschränke.542

539 BGHSt 38, 388, 390 f. (Polizeibeamte als grundsätzliche Garanten bei Kenntnis der Förderung der Prostitution – der Freispruch wurde jedoch bestätigt, da es sich hier um eine außerdienstliche Kenntniserlangung handelte und kein besonders schwerwiegendes Delikt (§ 180a StGB) vorlag, das eine Ausdehnung der Anzeigepflicht auch auf die Freizeit der Beamten gerechtfertigt hätte) m. krit. Anm. Rudolphi, JR 1987, 336 ff.; im wesentlichen zustimmend hingegen Laubenthal, JuS 1993, 909 ff.; s. a. BGHSt 43, 82, 85 – in der Entscheidung ging es um eine Beschützergarantenstellung der Strafvollzugsbeamten für die Rechtsgüter der Häftlinge („Außerhalb des Bereichs, der den Amtsträgern der Strafverfolgung zugewiesen ist, besteht für Beamte keine allgemeine Pflicht, ihnen bekannte Straftaten anzuzeigen.“). BGH NStZ 2000, 147, wo es um die außerdienstliche Kenntniserlangung und ihre Bedeutung im Rahmen von Vermögensstraftaten mit hohem wirtschaftlichen Schaden und besonderem Unrechtsgehalt ging, sowie OLG Rostock NStZ 2001, 199 f. (Brand im Asylbewerberheim Rostock-Lichtenhagen und Verantwortlichkeit des zuständigen leitenden Polizeivollzugsbeamten – hierzu Puppe, AT2, § 47, Rn. 30 ff.); s. a. BGH JR 1986, 335 f. (Verantwortlichkeit des Leiters eines Ordnungsamts wegen Nichteinschreitens gegenüber dem Inhaber eines Bordells wegen § 180a StGB). 540 BGHSt 38, 388, 390. Schünemann, ZStW 96 (1984), 311 sieht in dem Rückgriff auf die öffentlich-rechtliche Einschreitenspflicht einen „atavistischen Rückfall in die formelle Rechtspflichttheorie“. 541 Beispielsweise bei einem Dauerdelikt. 542 BGHSt 38, 388, 391 f.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Trotz Kritik im Detail stimmt eine Vielzahl von Autoren diesem Urteil im Ergebnis zu.543 Die Argumentationsweise ist hierbei jeweils recht unterschiedlich. Brammsen meint auf der Grundlage des von ihm für wesentlich erachteten Vertrauensmoments544, gegenüber Polizeibeamten bestünde in der Bevölkerung die verbreitete Erwartung, dass diese im Notfall zugunsten des von einer Straftat bedrohten Bürgers tätig würden.545 Um jedoch zu verhindern, dass „jedem Menschen ein Polizist als ,dauernder Rettungsdienst‘ zugeordnet“ werden muss, soll eine Pflicht zum Tätigwerden nur bei Gefahren gegenüber Leib, Leben oder anderen wertvollen Rechtsgütern zu bejahen sein.546 Wagner argumentiert ausgehend von der in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG statuierten staatlichen Schutzpflicht.547 Da diese auf die Menschenwürde beschränkt sei, könne es keine unbegrenzten staatlichen Garantenpflichten geben. Vielmehr seien diese lediglich in besonders schweren Gefahrenfällen anzunehmen. Auch er nimmt also – wie Brammsen – eine gegenständlich beschränkte Amtswaltergarantenstellung an. Schultz orientiert seine Argumentation an der tatsächlichen Schutzübernahme unter Privatleuten und verlangt, dass das potentielle Opfer im Vertrauen auf das Tätigwerden der Polizei eigene Sicherungsmaßnahmen unterlassen hat.548 Dem hält Pawlik – unter Rückgriff auf die von Jakobs in den Mittelpunkt gestellten philosophischen Aussagen – entgegen549, dass der Verzicht auf Selbsthilfe bereits im Gesellschaftsvertrag erfolgt sei. Eine institutionelle Verantwortlichkeit des Staats zum Schutz seiner Bürger sei daher stets zu bejahen. Eine personale Zurechnung gegenüber dem einzelnen Amtswalter könne jedoch nur dann erfolgen, wenn der einzelne Polizist in seiner Rolle als örtlich und sachlich zuständiger staatlicher Repräsentant agiere und sein im Verwaltungsrecht bestehendes Ermessen im konkreten Fall „auf Null reduziert“ sei.550 Paw543 Vgl. S/S/Stree, § 13, Rn. 52; Tröndle/Fischer, § 13, Rn. 6a; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 195 sowie die umfangreichen Nachweise bei Pawlik, ZStW 111 (1999), 341, Fn. 18. 544 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (b). 545 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 193 f. (S. 194 a. a. O.: „Die Polizei – Dein Freund und Helfer“; krit. demgegenüber Sangenstedt, Garantenstellung, S. 148 f.); Laubenthal, JuS 1993, 909; Otto/Brammsen, Jura 1985, 597; ähnlich auch NK-Seelmann, § 13, Rn. 139 und Jäger, Rn. 349; krit. Pawlik, ZStW 111 (1999), 344. 546 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 194. 547 Wagner, Amtsverbrechen, S. 253. 548 Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 161; krit. Schünemann, wistra 1986, 243 f.; Pawlik, ZStW 111 (1999), 345. 549 Siehe oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (dd) (b). 550 Pawlik, ZStW 111 (1999), 335 ff.; zust. Roxin, AT II, § 32, Rn. 98; ähnlich Kühl, AT, § 18, Rn. 87 (Er verlangt neben der Ermessensreduzierung die Geltendmachung des hieraus resultierenden Anspruchs durch den Rechtsgutinhaber, nimmt aber

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lik argumentiert daher in Bezug auf die außerdienstliche Kenntniserlangung sowie die Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts restriktiver als der BGH.551 Ablehnende Ansicht Einige Autoren verneinen die Garantenstellung von Polizeibeamten zum Schutz der Bürger kraft Organstellung vollends, so zum Beispiel Herzberg.552 Er begründet dies damit, dass die polizeiliche Generalklausel nur als Rechtsreflex den Schutz der Rechtsgüter des einzelnen bewirke. Das Gesetz intendiere hingegen lediglich den Schutz der allgemeinen Rechtsgüter Ordnung und Sicherheit.553 Auch Rudolphi 554 und Schünemann555 stehen einer strafrechtlichen Einstandspflicht von Polizisten skeptisch gegenüber. Für Rudolphi ergibt sich diese Verneinung bereits aus der mangelnden Abhängigkeitsbeziehung zwischen Bürger und Polizist. Argumentativ ähnlich verfährt Schünemann, indem er die von ihm geforderte Herrschaft des Garanten über den Grund des Erfolgs556 ablehnt. Amtswalter von Umweltbehörden Im Zusammenhang mit den Beschäftigten von Umweltbehörden wird insbesondere die Verantwortlichkeit für Wasserverunreinigungen diskutiert.557 Der BGH hat sich zu diesem Themenkomplex bislang nicht eindeutig geäußert.

eine Ausnahme an, wenn dies unmöglich ist (Rn. 88 a. a. O.) bzw. wenn es sich um ein bedeutendes Rechtsgut handelt und eine besondere Gefahrenlage besteht (Rn. 89 a. a. O.)). 551 Bzgl. der außerdienstlichen Kenntniserlangung im Ergebnis ebenso Jakobs, 29/ 77e, Fn. 156e; Wagner, Amtsverbrechen, S. 254; Laubenthal, JuS 1993, 912. 552 Herzberg, Garantieprinzip, S. 356. Zum Erfordernis des Eingreifens des Schutzzwecks der Norm generell auch BGHSt 43, 82, 86 f. (Verantwortung von Strafvollzugsbeamten für von Kollegen begangene Straftaten gegenüber Häftlingen) – dem zust. Wessels/Beulke, Rn. 721. 553 Dagegen u. a. Freund, Erfolgsdelikt, S. 293; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 609 f.; Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 119; Wagner, Amtsverbrechen, S. 250 f.; Laubenthal, JuS 1993, 908; Pawlik, ZStW 111 (1999), 352. 554 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54c; ders., JR 1987, 336 ff.; ebenso Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 3c. 555 Schünemann, Grund und Grenzen, S. 363; ders., GA 1985, 380. 556 Siehe bereits oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (h). 557 Siehe dazu LG Bremen NStZ 1982, 164 f.; GenStA Hamm NStZ 1984, 219 f.; Rudolphi, Dünnebier-FS, S. 563 ff.; ders., NStZ 1984, 198 ff.; Horn, NJW 1981, 1 ff.; Winkelbauer, NStZ 1986, 149 ff. Guter Überblick zum Ganzen bei Sangenstedt, Garantenstellung, S. 633 ff.

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Bejahende Stimmen Die mit der Thematik befasste Rechtsprechung hat stets ohne besonders eingehende Begründung eine Beschützergarantenstellung der Beschäftigten von Wasserwirtschaftsämtern für die Reinheit der Gewässer angenommen.558 Dem hat sich die Mehrheit der Stimmen in der Literatur angeschlossen – überwiegend aber ohne eingehende dogmatische Begründung.559 Brammsen meint, in der Rechtswirklichkeit sei der durch die Allgemeinheit gewährleistete Schutz „illusorisch“.560 Die Allgemeinheit habe gerade aus diesem Grund die Überwachung der Gewässer auf spezielle Wasserschutzbehörden übertragen, die nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Abwägung der widerstreitenden Interessen über Schutzmaßnahmen entschieden. Die Wasserschutzbehörden agierten daher als Beschützergaranten.561 Schultz argumentiert auf der Grundlage der von ihm vertretenen Theorie des gefahrensteigernden Vertrauens.562 Seiner Ansicht nach besteht die gefahrschaffende Vertrauensdisposition der Allgemeinheit in deren Verzicht auf anderweitige Maßnahmen zum Schutz der Reinheit der Gewässer. Die dadurch geschaffene Sonderverantwortlichkeit der Amtswalter stelle ein Indiz für die Gefahrschaffung und damit für eine Garantenstellung dar.563 Roxin schließlich stellt auf die umfassenden Einflussmöglichkeiten der Behörden ab und zieht einen Vergleich zu den Strafverfolgungsbehörden und deren Verantwortung für die Strafrechtspflege. Den Wasserwirtschaftsämtern sei das Rechtsgut Wasser anvertraut, sodass auch bei Zugrundelegung des Schünemannschen Ansatzes von einer Garantenstellung kraft Kontrollherrschaft auszugehen sei.564 Zur Verhinderung einer uferlosen Ausdehnung strafrechtlicher Einstandspflichten fordert er jedoch eine Ermessensreduzierung auf Null.565

558 Offen gelassen durch BGHSt 38, 325, 331 (in dem Fall ging es um die Verantwortlichkeit eines Bürgermeisters für die Einleitung von Abwässern; vgl. hierzu Puppe, AT2, § 47, Rn. 43 f., die klarstellt, dass es hierbei um die Überwachergarantenstellung bezüglich der gemeindlich betriebenen Anlage, nicht aber im Hinblick auf das Fehlverhalten der Bürger ging). 559 Siehe z. B. S/S/Stree, § 13, Rn. 52; Jakobs, 29/77c; Horn, NJW 1981, 5 ff. 560 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 197. 561 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 198; ebenso Kühl, AT, § 18, Rn. 79 ff. – Ermessensreduzierung auf Null – ähnlich Schall, NStZ 1992, 268. 562 Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 166 ff. 563 Schultz (Amtswalterunterlassen, S. 169 f.) betont jedoch, dass das Vertrauen sich nicht auf den Schutz der Individualrechtsgüter Leib und Leben beziehe. Insoweit vertraue die Allgemeinheit in erster Linie auf die Polizei- und Sicherheitsbehörden. 564 Roxin, AT II, § 32, Rn. 102. 565 Roxin, AT II, § 32, Rn. 105 ff.

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Ablehnende Ansicht Hervorzuheben sind im Zusammenhang mit der Ablehnung einer Garantenstellung abermals die Äußerungen Rudolphis566 und Schünemanns.567 Rudolphi verneint eine Beschützergarantenstellung der Umweltbehörden mangels tatsächlicher Obhutsbeziehung zu dem geschützten Rechtsgut – der Reinheit der Gewässer – grundsätzlich.568 Schünemann meint, eine Garantenstellung der Amtswalter komme nur im Hinblick auf die Kontrolle, Modifizierung oder Einschränkung selbst erlassener Verwaltungsakte in Betracht, also im Hinblick auf in deren Herrschaftsbereich liegende Geschehnisse, nicht jedoch bezüglich sogenannter wilder Abwassereinleitungen als Beschützergarant.569 Es mangele hier sowohl an der internen Gefahrschaffung als auch an der Übernahme einer primär auf die Reinhaltung von Gewässern zielenden Schutzaufgabe, sodass den Bediensteten von Wasserwirtschaftsämtern „. . . noch weniger als den allgemeinen Polizisten“ eine Garantenstellung auferlegt sei.570 (d) Ansichten speziell zu Jugendamtsmitarbeitern Wie steht es speziell um die Meinungslandschaft im Hinblick auf die fallverantwortlichen Beschäftigten des Jugendamts? Stimmen zugunsten der Garantenstellung Rudolphi, der in seiner Kommentierung zunächst anführt, dass sich auf dem Gebiet der Amtsträger eine Garantenstellung nur aus der Übernahme einer bestimmten Schutzaufgabe kraft eines besonderen Vertrauensakts ergeben könne, konzediert im folgenden, es sei „erwägenswert“, der Übernahme von Gefahren,

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SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54d. Schünemann, wistra, 1986, 242 ff. Speziell zur Kritik an dem Vorgehen von Brammsen vgl. S. 242, Fn. 74, zu dem von Schultz siehe S. 243 f. (S. 244: „. . . in empirischer Hinsicht eine Fiktion“). 568 Rudolphi, Dünnebier-FS, S. 579 f. Er vertritt, es komme lediglich eine Überwachergarantenstellung wegen Ingerenz in Betracht, sofern das Ermessen im konkreten Fall „auf Null reduziert“ sei (a. a. O. S. 575 ff.; ders., NStZ 1984, 198 f.; Geisler, NJW 1982, 13). Krit. zu Rudolphi und Schünemann Sangenstedt, Garantenstellung, S. 638 ff. sowie Roxin, AT II, § 32, Rn. 104. 569 Schünemann, wistra 1986, 243; auf S. 244 fasst er die Ursache der ausnahmsweise anzunehmenden Garantenstellung mit den Worten zusammen, es handele sich um „. . . eine Art Verkehrspflicht in bezug auf eine rechtliche Gefahrenquelle“. Anders als Rudolphi stützt er diese also nicht auf die Ingerenz. 570 Schünemann, wistra 1986, 244. 567

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denen der einzelne Bürger prinzipiell hilflos entgegenstehe, garantenschaffende Kraft beizumessen. Hierbei nennt er explizit die Betreuungsübernahme durch Jugendamtsmitarbeiter.571 Rudolphi modifiziert also die von ihm aufgestellten Grundsätze zur Garantenposition572 kraft Organstellung insoweit, als er nicht den individuellen Nachweis einer Abhängigkeitsbeziehung von Kind und Sozialarbeiter verlangt. Zudem scheint er offensichtlich stillschweigend ebenfalls den hier bereits im Rahmen der Garantenstellung kraft Gesetzes bejahten Charakter des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII als im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramts pflichtenbegründend anzusehen. Ablehnende Meinung H.-J. Albrecht, Bohnert und Zaczyk hingegen stellen eine Garantenstellung der für eine „Problemfamilie“ zuständigen Sozialarbeiter ausdrücklich in Abrede. H.-J. Albrecht, der dem Garantensystem Rudolphis folgt,573 vergleicht die fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter mit Ordnungsamtsleitern und Bürgermeistern, die gegen Abwässereinleitungen einschreiten sollen, also mit Amtsträgern, für die die Gerichte bereits in der Vergangenheit einen Garantenstatus angenommen haben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass mangels unmittelbarer Handlungsmöglichkeiten sowie entsprechender Weisungsbefugnisse gegenüber den Eltern eine Garantenstellung für Jugendamtsmitarbeiter nicht aus der übernommenen Tätigkeit folgen könne.574 Auf die fehlenden Eingriffsmöglichkeiten der Sozialarbeiter stützt auch Bohnert seine auf Abwägungen beruhende Ablehnung. Es genüge für die Annahme einer Garantenstellung nicht, dem Sozialarbeiter Pflichten zuzuweisen, wie sie andere Professionen auch träfen. Die geltenden Gesetze sprächen gegen eine Einstandspflicht.575

571 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 54d. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, wen er genau als „hilflos“ erachtet. Die ebenfalls aufgeführten Fallkonstellationen der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes sowie das ansonsten von ihm gegen die Existenz der Amtsträgergarantenpflichten angeführte Notwehrrecht sprechen dafür, das in seinem Wohl bedrohte Kind als insoweit maßgebend anzusehen. 572 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (h). 573 H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 203. Zu dem Garantensystem Rudolphis s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (h). 574 H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 204. 575 Bohnert, ZStW 117 (2005), 315 („Sozialarbeiter sollen viel und dürfen wenig. Der Gesetzgeber wünscht, will aber nicht und hofft aufs Gute.“). Zu der von ihm favorisierten Theorie, die Garantenstellung durch „Wägen“ zu ermitteln, siehe oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (e).

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Nach Ansicht Zaczyks fehlt es schon an der Übernahme einer besonderen Schutzaufgabe, da die Jugendamtsmitarbeiter „. . . nicht nur spezialisierten Schutzaufgaben nachkommen, sondern auch z. B. das familiäre Umfeld insgesamt berücksichtigen müssen“.576 Zaczyk spielt damit offenbar auf den mannigfaltigen Aufgabenkatalog des § 2 SGB VIII bzw. auf die Zielvorgaben des § 1 SGB VIII an. Stellungnahme Grundsätzliches Auf den ersten Blick besticht das kasuistische Vorgehen577 H.-J. Albrechts und Bohnerts, da dem Sozialarbeiter ein selbständiges Eingreifen in die Familie gegen den Willen der Eltern vor dem 1.10.2005 grundsätzlich verwehrt war.578 Er befand sich nicht in einer, etwa dem Leiter eines Ordnungsamts vergleichbaren Position, der selbständig und ohne sich auf die Benachrichtigung Dritter beschränken zu müssen, z. B. die Genehmigung einer Gaststätte widerrufen kann, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dort die Prostitution gefördert wird. Doch kommt es zur Herleitung der Garantenstellung kraft Amtsträgerschaft tatsächlich darauf an, dass dem Amtswalter die notwendigen Eingriffsbefugnisse in eigener Person zustehen? Und soll also durch die Realisierung der Vorgaben des KICK (§§ 8a Abs. 3 S. 2, 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII) eine Einstandspflicht des Jugendamtsmitarbeiters für die Kinder der von ihm betreuten „Problemfamilien“ entstanden sein? Dagegen spricht, dass der Sozialarbeiter bereits vor dem 1.10.2005 zwar nicht eigenhändig, aber mithilfe der Benachrichtigung von Polizei oder Familiengericht bestimmte kinderschützende Maßnahmen in Gang bringen konnte. Auch der Ordnungsamtsleiter wird sich nicht selbst an den Ort des Geschehens begeben, um die von ihm erlassenen Verfügungen zu realisieren, sondern sich gegebenenfalls polizeilicher Hilfe bedienen.579

576 Zaczyk, Rudolphi-FS, S. 370. Ähnlich Bohnert, ZStW 117 (2005), 317: „Materiellrechtlich steht die Sozialarbeit de lege lata in der Erwartung umfassender Abwägungen.“ 577 Zu den grundsätzlichen Einwänden gegenüber der isolierten Anwendung einer solchen Verfahrensweise s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (2). 578 Anderer Ansicht Bringewat, KJ 2006, 238. 579 Die Polizei wird in diesem Zusammenhang zur Durchsetzung des ordnungsbehördlichen Verwaltungsakts tätig. Im Rahmen einer Zuführung handelt sie hingegen auf primärrechtlicher Ebene, d.h. sie erlässt selbst einen Verwaltungsakt auf der Basis der polizeilichen Generalklausel (Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (dd) (g)).

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Die Situation ist nach Realisierung des KICK nicht anders, denn grundsätzlich besteht auch nach dem 1.10.2005 eine Anrufungspflicht für den Jugendamtsmitarbeiter. Diese entfällt lediglich bei einer besonderen Eilbedürftigkeit (vgl. §§ 8a Abs. 3 S. 2, 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII). Bei näherer Betrachtung beeinflussen die dem einzelnen Amtsträger übertragenen Befugnisse daher nicht die Entstehung einer strafrechtlichen Einstandspflicht, also einer Garantenstellung, sondern vielmehr lediglich die hieraus folgenden Garantenpflichten. Warum eine derartige „Zwischenlösung“ nicht denkbar sein soll, vermögen H.-J. Albrecht und Bohnert nicht zu begründen.580 Den Aussagen Zaczyks ist die bereits dargelegte verfassungskonforme Auslegung des § 2 SGB VIII im Lichte des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG entgegenzuhalten, wonach bei einer möglichen Gefährdung von Leib und Leben eines Kindes staatliche Schutzpflichten erwachsen. Der Sozialarbeiter hat in diesem Fall nicht mehr darauf zu achten, dass die Familie zusammenbleiben kann, sondern er hat das Leben des Kindes zu schützen. Folglich ist – zumindest im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramts – von einer Garantenstellung des sachlich und örtlich zuständigen Jugendamtsmitarbeiters auch aufgrund seiner Stellung als Amtsträger auszugehen.581 Überträgt man die Ansicht des Bundesgerichtshofs zur Garantenstellung von Schutzpolizisten für die Individualrechtsgüter der Bürger auf die vorliegend relevanten Fälle, dann kann bei drohenden Gefahren für Leib und Leben des Kindes auch eine außerdienstliche Kenntniserlangung eine Garantenstellung des Jugendamtsmitarbeiters begründen.582 Übertragung der Forderung nach Ermessensreduzierung? Zu bedenken bleibt jedoch, inwiefern die im Rahmen der Garantenstellung von Polizisten bzw. bei Wasserbehörden Beschäftigten häufig geforderte Be580 Bohnert, ZStW 117 (2005), 322 meint lediglich, eine solche Lösung sei „. . . auch nicht möglich“. Warum hieraus eine „Armierung der Dienstpflicht durch das Strafrecht (. . .) nicht aber (. . .) Rechtsgüterschutz“ folgen soll, erläutert er nicht. 581 So auch Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 60: „Alle aus der „Amtlichkeit“ der beruflichen Aufgabenerledigung einer fallzuständigen Fachkraft des Jugendamtes/ASD sich ergebenden, denkbaren Begrenzungen ihrer Pflichtenerfüllung sind in der kinder- und jugendhilferechtlichen Situationstypik einer zum jugendamtlichen Aufgabenbereich gehörenden Problemfamilie mit Kindern von vornherein schon enthalten und verwirklicht.“ s. a. ders., KJ 2006, 236. 582 Ähnlich Bohnert, ZStW 117 (2005), 316 in den von ihm angestellten Alternativüberlegungen. („Der Amtsträger ist nur innerhalb der Dienstzeit zum Handeln verpflichtet. (. . .) Für Fälle extremer Gefährdung und dringenden Handlungsbedarfs mögen Ausnahmen in Betracht kommen.“)

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schränkung auf Fälle der Ermessensreduktion „auf Null“ sinngemäß auf die Einstandspflichten von Jugendamtsmitarbeitern übertragen werden kann und soll – sinngemäß deshalb, weil sowohl dem § 27 als auch dem § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. dem § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII auf der Tatbestandsebene ein Beurteilungsspielraum zu entnehmen ist. Hierfür spricht die bei den Polizei- bzw. Umweltbehördenfällen häufig geäußerte Befürchtung, andernfalls würde dem Bürger de facto ein Anspruch auf eine ausreichende Budgetierung der Behörden zugestanden. Bei näherer Betrachtung trägt dieser Überlegung zumeist bereits die verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII mit der Beschränkung des Pflichtcharakters auf diejenigen Fälle, in denen der Interventionsbereich des § 1666 BGB eröffnet ist,583 hinreichend Rechnung. In der Regel ist dann der Beurteilungsspielraum des Jugendamtsmitarbeiters „auf Null reduziert“, und er hat nach § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII das Familiengericht zu benachrichtigen. Zum Teil passt jedoch die schematische Übertragung der Forderung nach einer Ermessensreduzierung nicht, weil im Kontext jugendamtlicher Arbeit nicht nur eine, sondern mehrere Normen (§§ 27, 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII) Relevanz gewinnen, die nicht in einem zwingenden Stufenverhältnis stehen: Konkret ist es daher zum Beispiel nicht ausgeschlossen, dass die Schwelle des § 1666 BGB überschritten ist und trotzdem eine Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII ohne Verstoß gegen die Lehre vom Beurteilungsspielraum angenommen werden kann, weil die Eltern kooperationsbereit sind und eine geeignete Hilfeart zur Verfügung steht.584 (ee) Aus Ingerenz (a) Urteil des LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) Das Landgericht Osnabrück führt in seiner Berufungsentscheidung im Fall „Laura Jane“585 aus, eine Garantenstellung „aus gefahrgeneigtem Handeln“ sei 583

Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (aa) (e). Vgl. hierzu oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b) (b). Siehe auch Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 106: „Zwar muss es eine Selbstverständlichkeit sein, dass in entsprechenden Fällen durch geeignete Hilfsansätze die Gefährdung bzw. die Gefahr der Fortsetzung von Gewaltanwendung (. . .) minimiert wird. Das muss aber nicht zwingend zu einer Anrufung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 führen, auch wenn die Voraussetzungen des § 1666 BGB als gegeben eingeschätzt werden.“ Siehe jedoch die ursprünglich durch das KEG geplante Einschränkung des Beurteilungsspielraums bei der Benachrichtigung des Familiengerichts sowie die hierdurch zugleich beabsichtigte Einführung eines Stufenverhältnisses zwischen § 27 und § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. (s. dazu Teil 1 D. 2. c) (3) (a)). 585 Abgedruckt in ZfJ 1996, 529. 584

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nicht herzuleiten. Zwar komme als gefahrschaffende Handlung die Herausgabe des Kindes nach dem durch die Windeldermatitis begründeten Krankenhausaufenthalt in Betracht. Indes habe diese Handlung die Gefahr für das Kind nicht vergrößert, da es sowieso an die Mutter hätte herausgegeben werden müssen. Zudem sei diese Handlung nicht rechtswidrig gewesen – zumindest habe sie keine Garantenstellung aus Gesetz begründet. (b) Aussagen Bringewats Die Einstandspflicht wegen eines bestimmten vorangegangen Verhaltens war ursprünglich als eine Art „Lückenbüßer“586 für Konstellationen konzipiert, die mit der Garantenstellung aus Gesetz oder Vertrag nicht gelöst werden konnten. Sie kann bis zum heutigen Tag als die rechtlich am wenigsten geklärte Einstandspflicht bezeichnet werden.587 Auf die Ingerenz wurde in den Veröffentlichungen zu dem Thema der vorliegenden Arbeit kaum eingegangen. Einzig588 Bringewat befasst sich mit ihr, wenn auch nur am Rande. Nachdem er ausgeführt hat, dass die für die Ingerenz vorausgesetzte Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens nicht mit einem Verstoß gegen fachliche Grundsätze gleichgesetzt werden könne, meint er im folgenden, die Ingerenz sei im Zusammenhang mit den denkbaren Fallkonstellationen jedenfalls nicht vollends ausgeschlossen. Insbesondere müsse an ein „. . . rechtswidriges gefährliches Vorverhalten in Form eines garantenpflichtwidrigen Unterlassens gedacht werden, etwa, wenn garantenpflichtwidrig elterliche Beeinträchtigungen des körperlichen Kindeswohls nicht verhindert werden, und als katastrophaler Schlusspunkt unmäßiger und eskalierender körperlicher Züchtigungen der Tod des (mitbetreuten) Kindes eintritt“.589 (g) Stellungnahme Um die Äußerungen Bringewats bewerten zu können, muss untersucht werden, ob im Rahmen der Beschützergarantenstellung überhaupt die Möglichkeit besteht, eine solche auf Ingerenz zu stützen. Überdies müsste ein Unterlassen als taugliche Vorhandlung in Betracht kommen. Schließlich hängt die Bedeutung der Ingerenz bei der Beurteilung von jugendamtlichem Verhalten maßgebend davon ab, welche Qualität dieses Vorverhalten aufweisen muss. 586

So Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 26. Zur Geschichte s. Pfleiderer, Garantenstellung, S. 48 ff.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 26 ff. 588 Abgesehen von Münder u. a., FK-KJHG (3. Aufl.), § 50, Rn. 17, die jedoch im wesentlichen die Aussagen des LG Osnabrück rezitieren. 589 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 48. 587

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Möglichkeit im Rahmen der Beschützergarantenstellung Die Pflicht, aufgrund eines in einer bestimmten Weise zu charakterisierenden Verhaltens gewisse Handlungen vornehmen zu müssen, wird zwar vorrangig im Rahmen der Überwachergarantenstellung diskutiert. Indes halten es einige Autoren590 sowie die Rechtsprechung durchaus für möglich, diese im Zusammenhang mit einer Beschützergarantenstellung herzuleiten. Unausgesprochene Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass man die Gefahrschaffung bzw. -erhöhung nicht bereits als notwendiges Element der Garantenstellung aufgrund tatsächlicher Übernahme einer Schutzpflicht erachtet591, da andernfalls die sachliche Begründung der Ingerenz insoweit bereits argumentativ „aufgebraucht“ wäre. Vorverhalten in Form von Unterlassen Ordnet man hingegen – wie hier – die Gefahrschaffung lediglich der Ingerenz zu, dann stellt sich die Frage, ob auch ein vorangegangenes Unterlassen dem Begriff der Ingerenz unterfällt. Dies wird zumeist bejaht. Doch das Verhalten muss eben auch pflichtwidrig gewesen sein.592 Wenn man, wie hier, der Kinder- und Jugendhilfe sowohl im Rahmen des § 27 SGB VIII als auch des § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. des § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII einen Beurteilungs- bzw. Ermessensspielraum gewährt, sodass das Verhalten der Jugendamtsmitarbeiter nur in begrenztem Maß verwaltungsrechtlich justitiabel ist, dann führt dieser Umstand häufig dazu, dass die Ingerenz nicht einschlägig ist. Notwendigkeit pflichtwidrigen Vorverhaltens Die für das Vorverhalten in Form aktiven Tuns aufgestellte Prämisse der Pflichtwidrigkeit ist nicht unbestritten geblieben. So argumentiert ein Teil der Literatur, es sei nicht notwendig, dass das Vorverhalten rechtswidrig gewesen sei593, weil sonst zum Beispiel bei durch Not-

590 Vgl. z. B. Jakobs, 29/38 ff.; Krey, AT 2, Rn. 348 ff. und Otto, GK AT, § 9, Rn. 74 f. 591 Zur Diskussion s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (cc) (g). 592 RGSt 68, 104 (Steuerhinterziehung durch Unterlassen der Abgabe einer Steuererklärung); SK-Rudolphi, § 13, Rn. 45; S/S/Stree, § 13, Rn. 32, 46; Tröndle/Fischer, § 13, Rn. 11; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 185; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 198 f.; aA Androulakis, Studien, S. 215 f., der bestreitet, dass ein vorangegangenes Unterlassen Grundlage der Ingerenzgarantenstellung sein könne; zurückhaltend auch Brammsen in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 110 f.

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wehr gerechtfertigtem Handeln der ursprüngliche Angreifer sein Recht auf Hilfe „verwirke“ – ein Gedanke, der dem deutschen Strafrecht fremd sei.594 Die Gegenansicht meint mit der Rechtsprechung595, nur durch das Erfordernis der Pflichtwidrigkeit einer uferlosen Ausdehnung der Garantenquelle Ingerenz Herr werden zu können.596 Sie hält der erstgenannten Meinung zutreffend entgegen, dass sie dem rechtswidrigen Angreifer, dem in Notwehr Verletzungen zugefügt wurden, mehr Schutz zugesteht als demjenigen, der unverschuldet verletzt aufgefunden wurde, denn letzterer hat nach der Rechtsordnung grundsätzlich nur den Schutz des § 323c StGB. Für die Ansicht, welche die Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens verlangt, spricht zudem, dass damit besser die für § 13 StGB notwendige Verdichtung der Handlungspflicht gerade in der Person des rechtswidrig Agierenden erklärt werden kann. Praktische Relevanz der Ingerenz bei Beschützergarantenstellungen Es ist also vonnöten, dass bereits das Vorverhalten in Form des Unterlassens als pflichtwidrig zu charakterisieren ist, dass also eine Garantenposition besteht und der Handlungsverpflichtete untätig bleibt. Wie Rudolphi zutreffend ausgeführt hat, erlangt die Garantenstellung aus Ingerenz daher nur dann praktische Relevanz, wenn die Vorhandlung von einer Garantenstellung erfasst war, die sich auf die Sicherung einer Gefahrenquelle richtete.597 Andernfalls bestand ja bereits eine Beschützergarantenstellung, auf der eine Verurteilung fußen kann. Da nun aber den Sozialarbeiter bereits die Beschützergarantenstellung aufgrund Gesetzes bzw. tatsächlicher Schutzübernahme und Amtsträgereigenschaft trifft, ist die Frage nach einer Garantenstellung wegen Ingerenz ohne entscheidende praktische Bedeutung für die Beurteilung der Strafbarkeit von Jugendamtsmitarbeitern wegen fahrlässigen unechten Unterlassens.

593 MüKo-Freund, StGB, Bd. I, § 13, Rn. 124 ff.; ders., Erfolgsdelikt, S. 180 ff.; NK-Seelmann, § 13, Rn. 117 f.; Herzberg, Garantenprinzip, S. 294 ff.; Jakobs, 29/ 38 ff., 42; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 209, 271 ff.; Arzt, JA 1980, 715 f., die z. T. stattdessen auf die Gefahrschaffung abstellen. 594 Weitere Argumente bei Hillenkamp, 32 Probleme, S. 200 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 595 BGHSt 19, 152, 154; 23, 327; 25, 218, 220 ff.; 37, 106, 115; BGH NStZ 2000, 414. 596 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 39; S/S/Stree, § 13, Rn. 34 ff.; Beulke, KLK I, Rn. 244; ders., KLK III, Rn. 576; Gropp, AT, § 11, Rn. 16, 33 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 4a; Wessels/Beulke, Rn. 725 ff.; weiter Otto, Gössel-FS, S. 107 ff. und Roxin, AT II, § 32, Rn. 155 ff., die auf die objektive Zurechenbarkeit des Verhaltens abstellen. 597 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 45.

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(ff) Fazit Eine Beschützergarantenstellung des für eine „Problemfamilie“ zuständigen Jugendamtsmitarbeiters kann sich aus Gesetz, tatsächlicher Schutzübernahme und Amtsträgerschaft ergeben. Eine solche aufgrund pflichtwidrigen vorangegangenen Unterlassens ist theoretisch denkbar, indes praktisch ohne Relevanz. (b) Überwachergarantenstellung Trifft den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter über die Beschützergarantenstellung hinaus eine strafrechtliche Überwachungspflicht für die „Gefahrenquelle“ Eltern? (aa) Ansicht Bringewats Bringewat untersucht, ob eine derartige Rechtsposition aus dem Gesichtspunkt der „Verantwortlichkeit für Fremdverhalten“ erwächst.598 Nachdem er typische Beispiele für diese Garantenstellung599 untersucht hat, konstatiert er, deren Mindestvoraussetzung bestehe in der Möglichkeit, das gefährliche Verhalten kraft einer von der Rechtsordnung eingeräumten Aufsichts- oder Autoritätsstellung zu beherrschen. Nur in diesem Fall weiche das Strafrecht von dem Grundsatz ab, dass jeder Mensch für sein Verhalten eigenverantwortlich sei. Die Garantenstellung bedinge einerseits, dass in tatsächlicher Hinsicht auf das Verhalten der „Gefahrenquelle“ eingewirkt werden könne, und andererseits, dass zu diesem Zweck eine entsprechende rechtliche Befugnis bestehe, über diese zu herrschen.600 Im Fall des betreuenden Jugendamtsmitarbeiters fehle es an der Beherrschungsmöglichkeit. Ihm sei von Rechts wegen keine Steuerungsmöglichkeit anheim gegeben, mit der er auf das Verhalten der Eltern unmittelbar einwirken könne. Dass in der Praxis häufig sehr wohl auf die Sorgeberechtigten eingewirkt werde, sei lediglich der Fachlichkeit geschuldet, gründe jedoch nicht auf einer rechtlichen Machtposition.601

598

Bringewat, Tod eines Kindes, S. 58 ff.; ders., NStZ 1996, 442. Zum Beispiel das Lehrer-Schüler-Verhältnis oder die Beziehung zwischen Justizvollzugsbeamten und Gefängnisinsassen. 600 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 59. Es besteht also seiner Ansicht nach eine Parallele zur Beschützergarantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme, die sich ebenfalls aus einem rechtlichen und einem tatsächlichen Moment zusammensetzt. 601 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 60. Er rekurriert damit implizit auf die u. a. von H.-J. Albrecht im Zusammenhang mit der Beschützergarantenstellung kraft Amtsträgerschaft vorgebrachten Argumente (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (dd) (d)). 599

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Das elterliche Fehlverhalten entstamme nicht dem Verantwortungsbereich des Jugendamtsmitarbeiters und sei diesem folglich auch nicht zuzurechnen. Daran ändere auch die mit der Überschreitung der Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB verbundene Verdichtung des Wächteramts nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zu einer Schutzpflicht nichts. Die Gefahr bleibe nicht zurechenbar, und „in der Regel aller Fälle“602 entfalle eine Überwachergarantenstellung. Indes findet man bei Bringewat – freilich an versteckter Stelle603 – eine Einschränkung: „Soweit allerdings – etwa aufgrund vormundschaftsgerichtlicher604 Maßnahmen oder Entscheidungen – dem(r) zuständigen Sozialarbeiter(in) des JA/ASD (beschränkte) rechtliche Aufsichts- und Kontrollpflichten gegenüber Eltern, Müttern, Vätern und sonst Sorgeberechtigten obliegen, ist eine Garantenposition ,aus Verantwortlichkeit für Fremdverhalten‘ nicht ausgeschlossen.“605 Doch welche Maßnahmen könnten dies sein? Eine zwangsweise Einweisung von Eltern und Kind in ein Heim, sodass eine vergleichbare Aufsichtsmöglichkeit wie für Justizvollzugsbeamte bestehen würde, ist nicht denkbar. Gleiches gilt für den ständigen Einsatz einer Aufsichtsperson in der elterlichen Wohnung. Indes erscheint es vorstellbar, dass das Familiengericht anordnet, das Kind in ein Heim einzuweisen606, und dass die Eltern Besuche unter sozialpädagogischer Aufsicht abstatten dürfen. Kommt es während eines solchen Ereignisses vor, dass die Eltern das Kind schlagen, dann wäre nach Ansicht Bringewats eine Überwachergarantenstellung auf der Grundlage der Verantwortlichkeit für fremdes Fehlverhalten begründet. (bb) Stellungnahme Bringewat konzentriert sich bei seinen Überlegungen auf den Unterfall der Überwachergarantenstellung für das Fehlverhalten Dritter. Indes versäumt er es, zu hinterfragen, ob im Hinblick auf Jugendamtsmitarbeiter, die eine Familie betreuen, überhaupt ein Fall der Überwachergarantenstellung angenommen werden kann, ob also bereits grundsätzlich ein dieser Kategorie zuzuordnender Tatbestand besteht. 602

Bringewat, Tod eines Kindes, S. 61. Bringewat, Tod eines Kindes, S. 61, Fn. 153. 604 Bringewat hat hier offensichtlich die Vorauflage aus dem Jahr 1997 unverändert übernommen. 605 Daher ist es zu kurz gegriffen, wenn H.-J. Albrecht im Saarbrücker Memorandum auf S. 202 meint, eine Überwachergarantenstellung „. . . dürfte nach Auffassung aller nicht in Betracht kommen“. 606 Vgl. § 34 SGB VIII. 603

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Zugunsten der Existenz einer Überwachergarantenposition spricht zunächst die Formulierung Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, wonach die staatliche Gemeinschaft über die elterliche Pflichterfüllung „wacht“. Konzentrierte man sich jedoch allein auf dieses Wort, so würde man dessen normativen Kontext vernachlässigen. Die Legitimationsgrundlage sowohl der elterlichen Sorge als auch des staatlichen Wächteramts stellt allein das Kindeswohl dar.607 Dieses zu gewährleisten, ist gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich Sache der Eltern. Sind letztere jedoch nicht in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen, dann hat der Staat – um der (Wieder)herstellung des Kindeswohls willen – die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Dies geschieht nicht zu dem Zweck, die „potentielle Gefahrenquelle“ Familie unschädlich zu machen, sondern um den bedrohten Rechtsgütern des Kindes zu Hilfe zu kommen. Aufgrund dieser teleologischen Erwägungen ist die Existenz einer Überwachergaranteneigenschaft der zuständigen Sozialarbeiter abzulehnen.608 (c) Fazit Dem fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter kommt, sofern die Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB überschritten ist, eine Beschützergarantenstellung zu, die sich auf die tatsächliche Übernahme einer gesetzlichen Pflicht sowie auf die Eigenschaft als Amtsträger gründet. Eine Überwachergarantenstellung ist in der Regel abzulehnen, sofern nicht eine explizit übernommene Aufsichtspflicht über die Eltern besteht. e) Garantenpflichten609 (1) Allgemeines Bei der Darstellung des Systematisierungsansatzes von Armin Kaufmann wurde als dessen wesentlicher Vorteil genannt, dass er es ermöglicht, die Richtung der Handlungspflichten aufzuzeigen. 607

Siehe oben Teil 1 B. I. 3. c) und III. 1. b). Indes ist der Ausnahme, die Bringewat im Rahmen der Überwachergarantenstellung kraft Verantwortlichkeit für das Fehlverhalten Dritter macht, zuzustimmen, sofern er die Aufsicht explizit dem Gericht gegenüber übernommen hat. In diesem speziellen Fall erwächst die Überwachergarantenstellung freilich aus dem besonderen Umstand, dass der Sozialarbeiter vom Gericht die Aufgabe übernommen hat, während der Besuchszeit auf das Wohl des Kindes Acht zu geben. 609 Die Garantenpflichten werden in der heutigen Zeit gemeinhin nicht der Tatbestandsmäßigkeit, sondern der Rechtswidrigkeit zugeordnet (siehe BGHGrS 16, 155, 157 f.). Aus Gründen des sachlichen Zusammenhangs sollen sie hier dennoch an dieser Stelle behandelt werden. Dies kann auch ohne Probleme im Hinblick auf die Frage 608

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Auf dem Gebiet der Beschützergarantenstellungen hat der Garant alle potentiellen Gefahren der Außenwelt von dem zu schützenden Rechtsgut abzuhalten.610 Doch welche Pflichten erwachsen konkret aus den einzelnen Garantenquellen? Hier ist wiederum auf die formalgesetzliche Grundlage der Beschützergarantenstellung zu rekurrieren. Zwar wurde dargelegt, dass nicht aus jedem außerstrafrechtlichen Gesetz eine Einstandspflicht zu resultieren vermag, und dass auch dann, wenn ein Gesetz derartige Pflichten auferlegt, eine Verdichtung derselben zu einer Schutzposition in einer bestimmten Person vonnöten ist.611 Indes gewinnen die Normen bei der Bestimmung der Reichweite anderweitig begründeter Garantenstellungen an Bedeutung.612 Dies ergibt sich aus der Überlegung, dass das Strafrecht kein Verhalten verlangen kann, das von der sonstigen Rechtsordnung nicht erlaubt wird.613 Daher muss bei der Frage, was genau der Garant zu unternehmen hat, zunächst geprüft werden, ob die betreffende Handlung überhaupt sozialrechtlich zulässig ist, bevor deren strafrechtliche Relevanz beleuchtet werden kann. Die Kontroversen um die einfachgesetzliche Ausformung des staatlichen Wächteramts gewinnen hier an Bedeutung, wie zum Beispiel die bis zum 1.10.2005 diskutierte Frage, ob und in welchem Umfang „Übergabegespräche“ bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit des Jugendamts zulässig sind. (2) Qualitative Steigerung? Diesen Detailproblemen ist jedoch die grundsätzliche Frage vorgelagert, ob aus dem Umstand, dass sich die Garantenstellung des fallzuständigen Sozialnach einem Tatbestandsirrtum beim Sozialarbeiter geschehen, da es sich um Fahrlässigkeitsdelikte handelt, bei denen dieser keine entlastende Wirkung zu entfalten vermag. Im Hinblick auf den Irrtum über die Garantenpflichten, also auf einen Gebotsirrtum, ist freilich darauf zu achten, dass diese Fehlvorstellung nach § 17, nicht aber nach § 16 Abs. 1 StGB behandelt wird. (Die Trennung zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht ist daher nicht – wie Bohnert, ZStW 117 (2005), 302 meint – „. . . nicht sinnvoll“.) 610 Siehe in diesem Zusammenhang das Schaubild auf der linken Seite bei Jäger, Rn. 337. 611 Auf die Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme muss hier nicht näher eingegangen werden, da dieser Umstand ebenfalls auf der Erfüllung gesetzlich niedergelegter Amtspflichten beruht. 612 So auch Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 18. 613 Vgl. Bohnert, ZStW 117 (2005), 304: „Was ein Unterlassungstäter nicht darf, muss er auch nicht tun, auch nicht als Sozialarbeiter.“ Vgl. aber auch seine Äußerung auf S. 313: „Besteht eine solche Garantie, treffen den Sozialarbeiter Pflichten, die in dem oben aufgeführten Katalog des Sozialrechts nicht aufgeführt sind“. Ähnlich missverständlich S. 319 a. a. O.: „Grundlage seines Tuns wäre der jeweilige Straftatbestand in Verbindung mit § 13 StGB, sonst nichts.“

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arbeiters zum Schutz des Kindes auf mehrere Ursachen stützen lässt, eine „qualitativ gesteigerte Garantenpflichtigkeit“614 folgt, wie Bringewat meint. Zwar können die Entstehungsursachen nicht isoliert voneinander begründet werden, wie auch die vorangegangenen Erörterungen gezeigt haben. Warum hieraus jedoch eine qualitative Steigerung folgen soll, leuchtet nicht ein. Vielmehr bewirkt die Tatsache, dass die Garantenstellung auf mehrere Ursachen gestützt werden kann, lediglich, dass sich die Garantenpflichten unter Umständen in quantitativer Hinsicht vergrößern.615 Aus dogmatischer Sicht stellen die Verbindungslinien zudem ein Indiz dafür dar, dass es ein allen Beschützergarantenstellungen gemeinsames materielles Moment gibt, namentlich den personalen Bezug zwischen Beschützer und Beschütztem sowie ein berechtigtes Vertrauen. (3) Einzelfragen Nachdem geklärt wurde, dass den mit der Betreuung einer „Problemfamilie“ befassten Jugendamtsmitarbeitern eine Beschützergarantenstellung obliegt, und auf welche Weise die hieraus erwachsenden Pflichten grundsätzlich zu bestimmen sind, ist zu untersuchen, welche Umstände dazu führen, dass sie hiervon befreit werden. Bei Rudolphi findet man die Aussage: „Die Garantenpflichten finden ihr Ende, wenn der Garant die von ihm übernommene Schutzaufgabe ordnungsgemäß erfüllt hat.“616 Dies ist bei den der Arbeit zugrunde liegenden Fällen naturgemäß stets zu verneinen. Eine ordnungsgemäße Erfüllung hat – zumindest im Ergebnis – gerade nicht stattgefunden. Es bleibt die Frage, ob sich der Garant auch vorzeitig der übernommenen Aufgabe zu entledigen vermag. Um dies beantworten zu können, muss erneut auf das Problem eingegangen werden, welches das garantenbegründende Moment bei der Übernahme einer (gesetzlichen) (Amts-)pflicht darstellt. Meint man, das Hervorrufen eines Gefahrenmoments sei ausschlaggebend, so muss dieses beseitigt werden.617 Sofern man jedoch, wie hier, davon ausgeht, dass der maßgebende Gesichtspunkt ausschließlich in der Erzeugung einer Si-

614 So LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13g; ders., UJ 2001, 429; ders., BldW 2002, 27. 615 In diesem Sinne zutreffend Bringewat, der in Strafrechtliche Risiken auf S. 20 von einem „entsprechend erhöhten Pflichtenumfang“ spricht. 616 SK-Rudolphi, § 13, Rn. 63 (Hervorhebung nicht im Original). 617 Siehe hierzu beispielhaft Stree, H. Mayer-FS, S. 158 ff.

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tuation besteht, die ein berechtigtes Vertrauen legitimiert, so muss dieses „Vertrauendürfen“ entsprechend rückgängig gemacht werden. (a) Delegation? In Betracht kommt zunächst, dass das berechtigte Vertrauen dann ein Ende findet, wenn der fallzuständige Jugendamtsmitarbeiter die Betreuung an einen Mitarbeiter eines freien Trägers delegiert.618 (aa) Möglichkeit der Delegation einer Garantenstellung Dass die Übertragung von Aufgaben öffentlicher Träger auf Mitarbeiter freier Träger sozialrechtlich vorgesehen und damit zulässig ist, wurde bereits dargelegt.619 Die strafrechtliche Einstandspflicht kann nach allgemeiner Ansicht in Literatur und Rechtsprechung dann auf eine andere Person übertragen werden, wenn es sich bei der Aufgabe nicht um eine höchstpersönliche handelt.620 Da dies bei den Aufgaben, welche die Jugendamtsmitarbeiter zu erfüllen haben, nicht der Fall ist, ist die Möglichkeit einer strafrechtlichen Delegation von Garantenpflichten zu bejahen.621 (bb) Auswirkungen auf den Pflichtenkreis Die entscheidende Frage lautet jedoch, welche Konsequenzen sich für die Handlungspflichten des ehemals allein verantwortlichen Jugendamtsmitarbeiters ergeben. (a) Bestehenbleiben der Garantenstellung? Zunächst muss geklärt werden, ob er seine Eigenschaft als Beschützergarant gegenüber dem gefährdeten Kind behält.

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So geschehen im Fall „Laura Jane“, s. o. Teil 1 A. I. Siehe dazu oben Teil 1 D. I. 3. a) (2). 620 LK-Jescheck, § 13, Rn. 28; S/S/Stree, § 13, Rn. 26; Otto, GK AT, § 9, Rn. 69; ders., JK 97, StGB § 13/26. 621 Ebenso Bringewat, Tod eines Kindes, S. 69 ff. 619

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Ansicht Bringewats Bringewat meint, die Delegation stelle sich rechtstechnisch als Übertragung von Garantenpflichten dar.622 Die strafrechtliche Garantenstellung als solche verbleibe beim Jugendamtsmitarbeiter.623 Stellungnahme Leider nennt er keinen Grund dafür, warum der Sozialarbeiter weiterhin als Garant anzusehen sein soll, das heißt, warum er seine Stellung als solche nicht mit überträgt. Maßgebend ist hierbei das eingangs erwähnte Moment des „Vertrauendürfens“, auf das er bei der Begründung der Einstandspflicht selbst rekurriert,624 sowie dessen Auswirkungen auf die Entstehung und Beendigung der Garantenstellung. Dafür, dass die Garantenstellung des Jugendamtsmitarbeiters mit der Übergabe eines Falls an einen Mitarbeiter eines freien Trägers endet, spricht auf den ersten Blick, dass der Familie nunmehr eine andere Identifikationsfigur zur Erbringung von Hilfen entgegentritt. Jedoch würde diese Sichtweise vernachlässigen, dass dem Jugendamtsmitarbeiter dessen ungeachtet noch immer der Schutz des Kindes vor Gefahren obliegt.625 Zudem bleibt der Jugendamtsmitarbeiter Ansprechpartner im Rahmen des § 36 SGB VIII. Damit besteht die Vertrauensberechtigung weiter fort. Die Delegation führt daher nicht dazu, dass die Beschützergarantenstellung des Jugendamtsmitarbeiters erlischt.626 622 Siehe Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 61 f.; ders., Tod eines Kindes, S. 69 f.; ders., NJW 1998, 947; ders., NStZ 1996, 441; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 24 (er differenziert im folgenden zwischen Primär- und Sekundärgaranten – aufgrund des Umstands, dass Rudolphi diese Termini bereits im Rahmen seines Materialisierungsansatzes verwendet, soll dem jedoch nicht gefolgt werden); ders., KJ 2006, 238; im Ergebnis wie Bringewat auch Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 90; Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 134 f.; Otto, JK 97, StGB § 13/26. 623 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 64, weist darauf hin, dass tauglicher Adressat der Delegation nur der Mitarbeiter des freien Trägers als natürliche Person, nicht aber „der freie Träger“ ist. Überdies sei die Übertragung der Garantenpflichten unabhängig vom Vertragsverhältnis zwischen dem Mitarbeiter und dem freien Träger bzw. letzterem und dem Jugendamt sowie zwischen der Jugendamtsfachkraft und der Fachkraft des freien Trägers (S. 65 a. a. O.). 624 Siehe dazu die Ausführungen oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (cc) (b). 625 Siehe § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII und – seit dem 1.10.2005 – § 8a SGB VIII, die keine Einschränkungen für den Fall der Delegation enthalten. 626 Ebenso die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 191 sowie im Anhang. Vgl. in diesem Zusammenhang auch BGHSt 47, 224 („Wuppertaler Schwebebahnfall“; s. hierzu auch Jäger, Rn. 347 f.). Hier hatten zwei Gleis-

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(b) Konsequenzen für die Garantenpflichten Hiermit ist jedoch noch nicht geklärt, inwiefern sich die Übertragung von Aufgaben auf den Pflichtenkreis des Mitarbeiters des Jugendamts auswirkt. In diesem Zusammenhang soll abermals an ein Zitat angeknüpft werden. So meint Jakobs: „Die Garantenpflicht endet, wenn das Übernommene geleistet worden ist.“627 Dies führt naturgemäß zu der Folgefrage, ob der Jugendamtsmitarbeiter für die Auswahl des Mitarbeiters des freien Trägers verantwortlich ist, und ob eine Kontrollpflicht gegenüber letzterem besteht. Informationspflicht Notwendige Voraussetzung für die Verantwortungsübertragung ist zunächst die Übermittlung der für die Fallbetreuung notwendigen Informationen. Unterrichtet der zuständige Jugendamtsmitarbeiter den Mitarbeiter des freien Trägers fehlerhaft oder unvollständig, dann bleibt er insoweit selbst für die Betreuung zuständig.628 Auswahl- und Kontrollpflicht LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“) Das Landgericht Osnabrück meint in seinem Urteil zum Fall „Laura Jane“, dass sich die Angeklagte „zutreffend“ aus der persönlichen Betreuung zurückgezogen habe, nachdem sie erkannte, dass die Hilfe angenommen wurde. Kontroll- und Weisungsrechte seien sowieso nicht existent gewesen, und der freie Träger habe sich aus seinem Selbstverständnis heraus jegliche Intervention verbitten dürfen.629

arbeiter zwei anfangs allein zuständige andere Arbeiter bei der Entfernung von Krallen an Schienen einer Schwebebahnanlage unterstützt. Die ursprünglich zuständigen Arbeiter gingen davon aus, die Hinzugekommenen würden eine der zwei verbleibenden Krallen abbauen, was sie jedoch nicht taten. Infolgedessen kam es zu einem tödlichen Unfall. Der BGH entschied, dass die Garantenstellung der beiden ursprünglich zuständigen Arbeiter zur Überwachung der Gefahrenquelle nicht mit dem Hinzutreten der beiden anderen erloschen sei, da angesichts der einheitlichen Gefahrenquelle nicht von einer Trennung der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche durch den Bauleiter ausgegangen werden könnte; krit. dazu Freund, NStZ 2002, 425. 627 Jakobs, 29/51. 628 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 65 ff.; ders., NJW 1998, 947. 629 LG Osnabrück NStZ 1996, 440.

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Ansicht Bringewats Bringewat hingegen führt aus, dass aus der fortbestehenden Garantenstellung inhaltlich modifizierte Garantenpflichten erwüchsen. Der Jugendamtsmitarbeiter sei stets dazu verpflichtet, den Mitarbeiter des freien Trägers auszuwählen, der seiner Ansicht nach zur Erfüllung der jeweiligen Aufgabe geeignet erscheint,630 und diesen bei der Erbringung der Leistung zu kontrollieren631, da er damit den eigenen Garantenpflichten Genüge tue. Dies gelte unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen der öffentlichen und der freien Jugendhilfe zu charakterisieren ist.632 Insoweit sei das Hilfeplanverfahren gut geeignet, um die Geeignetheit der Fachkraft zu eruieren und Absprachen zu treffen.633 Verwehre der freie Träger die Ausübung dieses Rechts, so müsse der Jugendamtsmitarbeiter die Aufgabe entweder selbst erfüllen oder einen anderen Anbieter ausfindig machen, der es ihm zubillige, den geeigneten Beschäftigten auszuwählen und zu kontrollieren. Ansicht Beulke/Swobodas Beulke/Swoboda stimmen dem im Ergebnis zu, leiten jedoch eine Kontrollpflicht gerade aus dem Umstand her, dass den freien Trägern eine eigenständige Rechtsposition zukommt.634

630 So auch das AG Osnabrück, abgedruckt bei Bringewat, Tod eines Kindes, S. 130 („Dass die Zeugin (gemeint ist die Familienhelferin, Anm. nicht im Original) hierfür die erforderliche Sensibilität zum Erahnen von Problemen, die notwendige Vorausschau und die notwendige Festigkeit im Durchsetzen bestimmter Forderungen hat, ist zu bezweifeln, sie erschien weich, nachgiebig und unerfahren.“). Gegen eine Auswahlpflicht in jedem Fall Otto, JK 97, StGB § 13/26 – er meint, wenn die frühere Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst erwiesen hätte, dass dieser über qualifizierte Fachkräfte verfügt, so sei eine persönliche Auswahl durch den delegierenden Sozialarbeiter nicht notwendig; abl. auch Wiesner, spektrum 2000, 11. 631 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 62, 66 f.; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 25 f.; ders., StV 1997, 136; ebenso Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 10; so offensichtlich auch das OLG Oldenburg im Fall „Laura Jane“ (StV 1997, 238), das den Feststellungen der Vorinstanzen nicht entnehmen konnte, ob die Jugendamtsmitarbeiterin klare Handlungsanweisungen gegeben hatte und daher die Sache zurückverwies. 632 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 65 f. 633 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 67: „Um es noch einmal zu verdeutlichen: Es geht bei alledem nicht um (hoheitliche) Aufsicht und Kontrolle der Familienhelferin durch die fallzuständige Fachkraft des Jugendamtes/ASD nach Art einer wie auch immer beschaffenen Dienst- und Fachaufsicht, sondern im Sinne eines wohlverstandenen ,Controlling‘ um die Absicherung von (Garanten-)Pflichterfüllung.“ 634 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 90.

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Stellungnahme Dass sich die Garantenpflichten im Fall einer Delegation ändern, ist zwangsläufig, schließlich kommt der Jugendamtsmitarbeiter nicht mehr direkt mit der „Problemfamilie“ in Berührung.635 Streitig ist jedoch, ob dem Beschäftigten des Jugendamts überhaupt ein Auswahl- und Kontrollrecht zusteht,636 und ob ein Kontrollrecht bejahendenfalls stets oder nur bei entsprechenden Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten bei der Hilfeleistung ausgeübt werden muss. Hier kommt es nach dem bereits Gesagten zunächst darauf an, ob ein solches Vorgehen sozialrechtlich zulässig ist. Das vernachlässigt Bringewat. Dem öffentlichen Träger ist gegenüber dem freien Träger aus verfassungsrechtlichen Gründen und zur effektiven Ausübung des staatlichen Wächteramts ein Recht zuzubilligen, die betreffende Fachkraft des freien Trägers auszuwählen und zu kontrollieren.637 Dieses Recht verdichtet sich aufgrund der Schutzpflichten des Staats dem Kind gegenüber bei Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten zu einer Auswahl- und Kontrollverpflichtung. Da eine Garantenpflicht nicht contra legem entstehen kann, sind die Forderungen Bringewats insofern einzuschränken, als erst bei einem begründeten Verdacht dafür, dass das Wohl des Kindes in Gefahr ist, eine Kontrollpflicht erwächst. Indes ist dem fallzuständigen Sozialarbeiter – um die Erlangung der Kenntnis der Verdachtsmomente überhaupt gewährleisten zu können – bereits bei dem weichenstellenden Vorgang der Auswahl der Fachkraft stets ein Mitspracherecht zuzubilligen.638 Fazit Den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern steht also ein Recht zu, den Mitarbeiter des freien Trägers auszuwählen, der die Fallbetreuung übernehmen soll. Überdies darf er bei einem begründeten Verdacht für eine Kindeswohlgefährdung kontrollierend tätig werden. Die Umwandlung der Garantenpflichten von 635 Im Ergebnis ebenso OLG Oldenburg StV 1997, 238; LPK-SGB VIII-Bringewat, § 1, Rn. 13h; ders., Tod eines Kindes, S. 65 f.; ders., Wächteramt und Jugendhilfe, S. 125 f.; Mrozynski, SGB VIII, § 50, Rn. 18; Wiesner, „. . . und schuld ist“, S. 17; Busch, UJ 2002, 87; Fieseler, UJ 2001, 437; ders., ZfJ 2004, 178; Merchel, ZfJ 2003, 255; so schließlich auch die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 191 sowie im Anhang. 636 Ablehnend Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 9; bezüglich der Weisungsbefugnisse auch Wiesner, „. . . und schuld ist“, S. 18 – er hält ein Weisungsrecht nicht für erforderlich, weil dem Mitarbeiter des freien Trägers eine eigene Garantenstellung zukomme. 637 Ähnlich Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 90. 638 Dies wiederum kann im Lichte des § 31 Abs. 1 SGB I mit einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs begründet werden.

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der alleinigen Verantwortung zu einer Auswahl- und Kontrollpflicht steht allerdings unter der Prämisse, dass der bei dem freien Träger Tätige umfassend über die zu betreuende Familie informiert wurde. (g) Effekt von „Freizeichnungsklauseln“? Wie wirkt es sich aus, wenn in dem Vertrag, der die Aufgabe von dem öffentlichen auf den freien Träger überträgt, eine Haftungsfreistellung für die Kommune enthalten ist? Wird der Mitarbeiter des Jugendamts hierdurch seiner Pflichten enthoben? Ansicht des OLG Oldenburg639 Das Oberlandesgericht Oldenburg spricht in seinem Urteil zum Fall „Laura Jane“ derartigen Klauseln640 jegliche Bedeutung ab.641 Die Freizeichnung beeinflusse grundsätzlich nicht die fortbestehenden Schutzpflichten des Sozialarbeiters für das Kind.642 Meinungen in der Literatur Mörsberger hingegen meint, der Aufgabenbereich des Jugendamtsmitarbeiters bemesse sich danach, was vertraglich vereinbart worden sei. Wenn mit dem freien Träger eine entsprechende Abrede getroffen worden sei, dann könne nicht gesagt werden, dass man „direkt“ hafte, obwohl zu der Familie kein direkter Kontakt mehr bestand.643 Hiergegen wendet sich Bringewat. Seiner Ansicht nach existiert für Träger der öffentlichen Jugendhilfe keine Möglichkeit, sich von der strafrechtlichen Verantwortung loszusagen.644 Dem entspricht auch das Ergebnis Kunkels. Er meint, die Gewährleistungspflicht nach § 79 Abs. 2 SGB VIII gerate im Gefährdungsfall zu einer Pflicht, die Fachkraft des freien Trägers zu überwachen.645 639

OLG Oldenburg ZfJ 1997, 56 f. Die Vereinbarungen zwischen der Stadt Osnabrück, dem Sozialdienst Katholischer Frauen und der Arbeiterwohlfahrt sind in Auszügen im Sachverständigengutachten von Schrapper zitiert (abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 44). 641 Im konkreten Fall führte der Umstand, dass im Urteil des LG Osnabrück keinerlei Feststellungen dazu getroffen wurden, ob eine völlige Haftungsfreistellung vereinbart worden war – neben anderen Unvollständigkeiten – zur Zurückverweisung. 642 Ebenso Münder u. a., FK-SGB VIII, § 50, Rn. 43. 643 Mörsberger, „. . . und schuld ist“, S. 96. 644 Bringewat, StV 1997, 136. 640

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Stellungnahme Wenn Mörsberger den Absprachen zwischen dem freien und dem öffentlichen Träger maßgebende Wirkung beimessen will, so setzt dies voraus, dass der öffentlich-rechtliche Vertrag auf die strafrechtlichen Pflichten Einfluss zu nehmen vermag. Zwar können Verträge durchaus den Inhalt von Garantenpflichten modifizieren.646 Indes widerspricht eine vertragliche „Freizeichnung“ der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe den einfachgesetzlichen Grundlagen. Seit dem 1.10. 2005 sieht § 8a Abs. 2 SGB VIII für Delegationsverträge notwendig eine Informationspflicht der Mitarbeiter freier Träger gegenüber den Jugendamtsmitarbeitern vor und setzt damit implizit das Bestehenbleiben der Garantenstellung der Jugendamtsmitarbeiter voraus.647 Ein in einer Freizeichnungsklausel liegender Verstoß hiergegen ist als erheblich648 und der öffentlich-rechtliche Vertrag nach § 59 Abs. 1 VwVfG in Verbindung mit § 134 BGB als nichtig anzusehen. Auch abgesehen hiervon steht einer Beeinflussung der Garantenstellung entgegen, dass die Außenstehenden, das heißt die betroffenen Kinder und ihre Eltern, in der Regel keine Kenntnis von der „Freizeichnungsklausel“ erlangen werden. Folglich kann diese auch keine Auswirkungen auf deren Vertrauendürfen zeitigen. Der Ansicht Bringewats ist daher im Ergebnis zuzustimmen. (cc) Fazit Die Delegation der Betreuung einer „Problemfamilie“ an einen Mitarbeiter eines freien Trägers befreit den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter nicht von seiner Garantenstellung aus der Übernahme einer Amtspflicht. Vielmehr ändern sich durch den Umstand lediglich die hieraus resultierenden Garantenpflichten, wobei der Umfang der delegierten Pflichten vom Umfang der Information über die Familie abhängt. Dem Jugendamtsmitarbeiter ist ein Recht zur Auswahl des Mitarbeiters zuzubilligen. Sofern Anhaltspunkte für eine konkrete Kindeswohlgefährdung offen645 Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 12. Zum Umfang dieser Kontrollpflicht und der hierfür gezogenen Parallele zum kommunalen Selbstverwaltungsrecht s. o. Teil 1 D. I. 3. a) (4). 646 Dazu, dass sie keine garantenbegründende Wirkung zu entfalten vermögen, siehe oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (aa) (a). 647 So auch Bringewat, KJ 2006, 235. 648 Diese Ansicht ist die wohl herrschende in der Verwaltungsrechtsliteratur, innerhalb derer umstritten ist, inwieweit § 134 BGB angesichts der ausdifferenzierten Nichtigkeitsregeln des § 59 Abs. 2 VwVfG im Rahmen des § 59 Abs. 1 VwVfG Anwendung finden kann; vgl. zum Ganzen Maurer, AT, § 14, Rn. 41 f. m.w. N. sowie BVerwGE 89, 7, 10; 98, 58, 63, in denen jeweils ein „qualifizierter Fall der Rechtswidrigkeit“ gefordert wird.

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kundig werden, ist er überdies als berechtigt anzusehen, den bei dem freien Träger Beschäftigten zu kontrollieren. (b) Nachträgliche Unzuständigkeit Weiterhin ist die Konstellation zu betrachten, bei der sich im nachhinein649 die sachliche oder örtliche Zuständigkeit des ursprünglich fallbetreuenden Sozialarbeiters ändert.650 (aa) Bestehenbleiben der Garantenstellung? Auch in diesem Zusammenhang muss untersucht werden, ob die Garantenstellung kraft Übernahme einer (gesetzlichen) (Amts-)pflicht bewirkt, dass der ursprünglich Fallzuständige aus seiner strafrechtlichen Verantwortung entlassen wird. Zu dieser Frage existieren divergierende Ansichten. (a) Oberlandesgericht Stuttgart (Fall „Jenny“) Das Oberlandesgericht Stuttgart führt in seiner Beschwerdeentscheidung zum Fall „Jenny“ aus, dass es im Hinblick auf den Lüneburger Sozialarbeiter für die Strafbarkeit nicht mehr auf die Aktenübersendung bzw. die vollständige Berichterstattung angekommen sei. Das Gericht stellt bereits auf das fahrlässige Verkennen der Handlungsmöglichkeiten ab und geht auf den Zuständigkeitswechsel nicht mehr ein. Anders sind dagegen seine Ausführungen zum Verhalten des Sozialarbeiters des Stuttgarter Weraheims. Dieser hätte die infolge des Auszugs der Familie zuständig gewordene Jugendamtsmitarbeiterin der Stadt Stuttgart vollständig über den Betreuungsverlauf informieren müssen.651 (b) Landgericht Stuttgart (Fall „Jenny“)652 Das Landgericht Stuttgart vertrat im Fall „Jenny“ hingegen die Auffassung, dass mit dem Wegzug von Mutter und Kind aus dem Zuständigkeitsbereich des 649 Hiervon abzugrenzen ist der Fall „Dominic“ (s. o. Teil 1 A. IV.), in dem eine von Anfang an nicht zuständige Sozialarbeiterin von der Großmutter Hinweise auf die Gefährdung des Kindeswohls erhielt. 650 Als Beispiel mag der Fall „Jenny“ dienen (s. o. Teil 1 A. II.). 651 OLG Stuttgart NJW 1998, 3134. 652 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass der Stuttgarter Sozialarbeiter des Heims, in das die Familie gezogen war, vom LG Stuttgart aus tatsächlichen Gründen freigesprochen wurde, da nicht mehr festgestellt werden konnte, dass dieser während

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angeklagten Lüneburger Sozialarbeiters die Verpflichtung, Gefahren von dem Kind abzuwenden „nicht ohne weiteres“ geendet habe.653 Vielmehr habe die Garantenstellung auch umfasst, zu gewährleisten, dass die Betreuung am neuen Wohnort lückenlos und sachgerecht hätte weitergeführt werden können. Zu diesem Zweck hätte der nunmehr zuständige Jugendamtsmitarbeiter unmittelbar und umfassend über die Familie informiert werden müssen, sei es durch ein persönliches Gespräch oder durch die Übersendung der Akten. Nicht ausreichend sei es gewesen, dass lediglich die Mitarbeiterin des Wohnheims, in das die Mutter mit dem Kind gezogen war, über die Vorfälle in Lüneburg in Kenntnis gesetzt wurde, weil insoweit das Risiko bestand, dass bei der erneuten Übermittlung Fehleinschätzungen erwuchsen, ganz zu schweigen davon, dass auch die Mitteilungen an das Wohnheim unvollständig gewesen seien.654 Vor einer Einstellung der Betreuung hätte der zuständige Jugendamtsmitarbeiter vielmehr selbst umfassend informiert werden müssen. (g) Literatur Die überwiegende Literatur zur strafrechtlichen Situation in der Kinder- und Jugendhilfe stimmt diesem Urteil zu. Mit dem Ende der Zuständigkeit ende auch die Garantenstellung des bis dahin verantwortlichen Jugendamtsmitarbeiters.655 Keine Einigkeit besteht jedoch im Hinblick auf die Frage, ob der ehemals zuständige Sozialarbeiter im Ergebnis nur dann entlastet wird, wenn er umfassend und direkt Meldung gegenüber der nunmehr zuständigen Fachkraft erstattet, oder ob eine derartige „weiterwirkende“ Pflicht nicht besteht. Ansicht Wiesners Wiesner meinte vor dem Inkrafttreten des KICK, für die Forderung nach einer umfassenden Information habe – zumindest im Hinblick auf die anvertrauten Daten – keine rechtliche Grundlage bestanden.656 des Aufenthalts in der Einrichtung Kenntnis von den Vorfällen in Lüneburg erlangte (s. dazu die Ausführungen bei Lehmann, EJ 2000, 52). 653 Vgl. den teilweisen Entscheidungsabdruck bei Lehmann, EJ 2000, 49. 654 LG Stuttgart bei Lehmann, EJ 2000, 50. 655 Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 24. 656 Zwar forderte er in „. . . und schuld ist“ auf S. 15 noch pauschal, „beim Wechsel der örtlichen Zuständigkeit das neu zuständig gewordene Jugendamt umfassend über gewährte Hilfen und zugrundeliegende Sachverhalte zu informieren“. In ZfJ 2004, 444 sprach er jedoch von der „Ausdehnung“ der Befugnis zur Weitergabe von Daten im Rahmen eines Zuständigkeitswechsels infolge des TAG in seiner ursprünglich geplan-

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Gegenansicht Die überwiegende Literatur hingegen nimmt in Übereinstimmung mit dem Landgericht Stuttgart an, die Einstandspflicht habe insoweit fortgewirkt, als hieraus eine Verpflichtung resultierte, den Nachfolger umfassend und detailliert über die familiäre Situation, den Betreuungsverlauf und eventuelle Gefährdungsmomente hinzuweisen.657 Dass dies rechtlich möglich sei, habe sich bereits aus den vor dem KICK geltenden datenschutzrechtlichen Regelungen ergeben.658 (d) Stellungnahme Bestehenbleiben der Garantenstellung? Auf den ersten Blick scheint bei einer nachträglich eintretenden Unzuständigkeit des ehemals zuständigen Jugendamtsmitarbeiters eine Situation zu bestehen, die mit der Delegation des Falls an einen Mitarbeiter eines freien Trägers vergleichbar ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass zwischen den beiden Konstellationen wesentliche Unterschiede existieren. Während bei der Delegation der Beschäftigte des freien Trägers neben den Jugendamtsmitarbeiter tritt, ersetzt im Fall der nachträglichen Unzuständigkeit der nunmehr zuständige den unzuständigen Sozialarbeiter in seiner Position. Der „neue“ Jugendamtsmitarbeiter ist die Person, in die ein berechtigtes Vertrauen auf Hilfe im Bedarfsfall gesetzt werden kann. Für die Amtsträgergarantenstellung folgt das Ende der Garantenstellung bei nachträglicher Unzuständigkeit bereits daraus, dass schon deren Entstehung von der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit des Amtswalters abhängig gemacht wird.659 Daher ist dem Landgericht Stuttgart und der herrschenden Meinung in der Literatur zuzustimmen, wenn sie annehmen, dass die Garantenstellung in der Folge endet.

ten Form (s. auch dens. in ZfJ 2004, 169, in dem er eine Informationsweitergabe „nach Maßgabe der datenschutzrechtlichen Vorschriften“ für zulässig hielt, jedoch auf S. 172 eine solche Weitergabe anvertrauter Daten für zu diesem Zeitpunkt für nicht möglich erachtete). 657 So Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 89; ebenso Bringewat, NJW 1998, 947; Fieseler, Sozialextra 2000, 19; Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 11 (er rekurrierte insoweit auf § 86c S. 2 SGB VIII). 658 Siehe hierzu Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 89 f.; Fieseler, Sozialextra 2000, S. 19 ff. 659 Vgl. dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (dd) (d).

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Informationspflichten Aus dem Umstand, dass ein berechtigtes Vertrauen jedoch erst dann erwachsen kann, wenn der nunmehr zuständige Sozialarbeiter mit dem notwendigen „Rüstzeug“ ausgestattet ist, namentlich den erforderlichen Informationen über Vorgänge in der Vergangenheit und Gegenwart, resultiert eine fortwirkende Pflicht des ehemals zuständigen Jugendamtsmitarbeiters, sofern er dem neu hinzugetretenen Sozialarbeiter diese Informationen nicht verschafft.660 (bb) Fazit Die nach der Fallübernahme eintretende Unzuständigkeit bewirkt, dass die Garantenstellung des ursprünglichen Betreuers endet. Dieses Ende steht jedoch unter der Prämisse, dass der ab sofort zuständige Sozialarbeiter umfassend und vollständig über die bislang erfolgte Betreuung informiert wird. (c) Überlastung des einzelnen Sozialarbeiters661 Von dem für die Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme erforderlichen Übernahmemoment ist nur dann auszugehen, wenn ein persönlicher Bezug zwischen dem Sozialarbeiter und der „Problemfamilie“ hergestellt wurde.662 Es kann daher bei der Frage nach einer möglichen Entpflichtung wegen Überlastung des Sozialarbeiters nur um solche Konstellationen gehen, in denen der Jugendamtsmitarbeiter zunächst zwar ein Betreuungsverhältnis aufgebaut hat, dieses aber in der Folge vernachlässigt. Dass die Überlastung an sich nichts an der Garantenstellung ändert, zeigt bereits die Überlegung, dass sich sowohl unter dem gesellschaftlichen wie auch unter dem rechtlichen Aspekt nichts an dem abstrakten „Vertrauendürfen“ ändert. Der einzelne Bürger hat in der Regel keinen Einblick in die behördlichen Strukturen und in die Budgetierung des einzelnen Jugendamts, sodass es sich

660 Dies war, wie bereits im Rahmen der Erläuterungen zum SGB VIII ausgeführt (vgl. Teil 1 D. I. 2. c) (1)), schon vor dem Inkrafttreten des KICK möglich. Zu der nunmehr geltenden, klarstellenden Regelung des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII s. o. Teil 1 D. I. 2. c) (2). 661 Vgl. hierzu die bereits im Rahmen der Untersuchung der physisch-realen Handlungsmöglichkeit angeführte Situation der Jugendamtsmitarbeiterin im Fall „Laura Jane“; oben Teil 2 A. II. 2. a) (3) (a) (aa). 662 Siehe oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (cc) (g).

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bei der Überlastung um ein bloßes Verwaltungsinternum handelt, das die Existenz der Handlungsverpflichtung nicht berührt. (aa) Überlastungsanzeige663 Wie wirkt es sich aus, wenn der Sozialarbeiter gegenüber seinem Vorgesetzten förmlich664 meldet, dass er den ihm obliegenden Aufgaben aufgrund zu vieler Fälle in seinem Zuständigkeitsbereich nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt nachzukommen vermag? Fieseler meint in diesem Zusammenhang, die Überlastungsanzeige entfalte zwar arbeitsrechtliche Wirkung, für die strafrechtliche Beurteilung des Falls habe sie jedoch nur im Rahmen der Fahrlässigkeit Relevanz.665 (bb) Stellungnahme Zugunsten dieser Ansicht spricht, dass sich auch durch die Anzeige die Erwartungshaltung des Kindes bzw. der Eltern gegenüber dem fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter nicht ändert. Die Überlastungsanzeige stellt lediglich ein rein verwaltungsrechtliches Internum dar. Daher ist Fieseler im Hinblick auf das Bestehenbleiben der Garantenstellung zuzustimmen. An diesem Ergebnis würde auch ein Gang der überlasteten Sozialarbeiter an die Öffentlichkeit nichts ändern, da die Verfassung gerade eine Verpflichtung des Staats enthält, für einen entsprechenden Schutz des Kindes zu sorgen, sodass das Vertrauen nichtsdestotrotz berechtigt bliebe. (d) Vertretungsfälle Weiterhin ist zu untersuchen, wie sich es sich auswirkt, wenn ein Sozialarbeiter im Verlauf der Betreuung für einen bestimmten Zeitraum nicht für die Familie erreichbar ist, sei es, weil er krank oder infolge einer Fortbildung beziehungsweise eines Urlaubs verreist ist.

663 Vgl. hierzu die bei Heek in Sozialmagazin 2001, 34 ff. und Sozialmagazin 2004, 33 angeführten Beispiele. 664 Abzugrenzen davon sind Konstellationen, in denen mündlich im Rahmen von Teambesprechungen die Arbeitsbelastung moniert wird. Dieses Verhalten zeitigt keine Konsequenzen. So auch Frings, JWohl 1997, 184. 665 Fieseler, UJ 2001, 433; Frings, JWohl 1997, 183. Zur Beurteilung der Überforderung generell ebenso Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 88.

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(aa) Ansicht Bringewats Nach Meinung von Bringewat ist insoweit zu differenzieren666: Obliege es dem Jugendamtsmitarbeiter selbst, für die Vertretung zu sorgen, so beinhalte die Garantenpflicht auch, für den richtigen Ersatz zu sorgen. Sei er dieser Forderung nachgekommen, so sei er entlastet.667 Existiere jedoch ein Vertretungs- oder Geschäftsverteilungsplan, dann bestehe keine Auswahl- und Kontrollpflicht. In dieser Konstellation sei der Sozialarbeiter lediglich verpflichtet, die Fallakten angemessen zu führen und den Vertreter im erforderlichen Maß zu informieren. (bb) Stellungnahme Dafür, dass der zuständige Jugendamtsmitarbeiter für die Zeit seiner Abwesenheit aus der Garantenstellung ausscheidet, spricht bereits der Vergleich mit der dauerhaften Aufgabe der Garantenstellung infolge nachträglicher Unzuständigkeit. Ähnlich wie in dieser Konstellation besteht aber auch bei urlaubs- oder krankheitsbedingter Abwesenheit die maßgebende Frage darin, ob der fallzuständige Sozialarbeiter vor seinem Ausscheiden umfassend über die Betreuung zu berichten hat. Dies ist wiederum unter Verweis auf die bei der dauernden Unzuständigkeit angeführten Argumente zu bejahen. Die Kenntnis ist und war bereits vor dem 1.10.2005 datenschutzrechtlich auch zulässig.668 Da das Kind/ das Elternpaar darauf vertrauen darf, dass der Vertretungsfall der Schutzintensität keinen Abbruch tut, lässt sich zudem begründen, dass ein Übergabegespräch und eine vorausgehende umfassende Aktendokumentation erfolgen müssen. Wenn Bringewat zwischen der eigenständig arrangierten und der behördlich festgelegten Vertretung unterscheiden will, so leuchtet dies ein. Im erstgenannten Fall gestaltet sich die Pflicht, die geeignete Vertretung auszuwählen, nach den Grundsätzen, die auch für die Auswahl einer Fachkraft bei einem freien Träger gelten.669

666

Bringewat, Tod eines Kindes, S. 67 f. So Bringewat, Tod eines Kindes, S. 67 f. unter Verweis auf NK-Seelmann, § 13, Rn. 126 sowie Jakobs, 29/52. 668 Vgl. hierzu die Ausführungen unter Teil 1 D. I. 2. c) (1) (a) (bb). Missverständlich daher Bohnert, ZStW 117 (2005), 316, Fn. 94: „Wieviel an Kenntnissen dem Urlaubsvertreter mitzuteilen ist, muss mit den rigiden Regelungen über den Sozialdatenschutz abgeglichen werden.“ 669 Insoweit kann auf die Delegation an einen Mitarbeiter eines freien Trägers verwiesen werden; s. o. Teil 2 A. II. 2. e) (a) (cc). 667

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In der zweiten Konstellation lässt sich die Verlagerung der Garantenpflicht auf den Vorgesetzten rechtsdogmatisch damit erklären, dass letzterer mit der Aufstellung des Vertretungsplans die Garantenpflicht zur Auswahl im Vertretungsfall übernommen hat. Da der fallzuständige Jugendamtsmitarbeiter regelmäßig davon ausgehen kann, dass der Behördenleiter die Fähigkeiten seiner Untergebenen objektiv einzuschätzen vermag, besteht für ihn in dieser Konstellation keine Kontrollpflicht. Sofern er hingegen konkrete Zweifel daran hat, dass der Vorgesetzte den „richtigen“ Vertreter ausgewählt hat, stellt sich die Frage, ob er dieses Vorgehen zu beanstanden hat und gegebenenfalls den Dienstweg beschreiten muss. Inhaltlich werden dann die gleichen Fragen relevant wie im Fall einer rechtswidrigen Dienstweisung, sodass auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen werden kann. (e) Teambesprechungen670 Zudem muss – vor allem mit Blick auf den neugeschaffenen § 8a SGB VIII – hinterfragt werden, wie es sich auswirkt, dass ein Fall mit anderen Fachkräften diskutiert wurde. Die bislang ergangene Rechtsprechung hat derartigen Beratungen keinen entlastenden Effekt beigemessen. (aa) Ansicht der Literatur Auch Fieseler verneint eine derartige Wirkung von Teambesprechungen und stützt sich dabei auf den Grundsatz der individuellen Verantwortlichkeit.671 Ihm schließt sich Bringewat im Ergebnis an.672 Er meint, ganz gleich wie man das nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB VIII vorgesehene Zusammenwirken von Fachkräften verstehe – jedenfalls sei damit keine Verlagerung oder Verteilung der strafrechtlichen Haftungsrisiken verbunden. (bb) Stellungnahme Beiden Autoren ist zuzustimmen. Ähnlich wie bei der Überlastungsanzeige handelt es sich sowohl bei der Besprechung im Team als auch bei der Entschei-

670 Vgl. dazu den Fall „Laura Jane“ (s. o. Teil 1 A. I. 1.) sowie den Fall „Vanessa“ (s. o. Teil 1 A. I. V. 1.). 671 Fieseler, UJ 2001, 435; ders., ZfJ 2004, 176; ebenso Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 41 sowie Trenczek, ZfJ 2002, 385. 672 Bringewat, ZfJ 2000, 408 f.

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dung darüber, ob eine Hilfe zur Erziehung geeignet erscheint673, um ein reines Verwaltungsinternum. Außenstehende sind hieran nicht beteiligt, sodass auch das Vertrauendürfen in das Tätigwerden des individuell zuständigen Sozialarbeiters keine Einschränkung erfährt. (f) Weisungen des Vorgesetzten In Betracht kommt indes, dass sich an der strafrechtlichen Handlungspflicht des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters etwas ändert, weil dieser bestimmte Weisungen von seinem Vorgesetzten empfangen hat. (aa) Ansicht Fieselers Fieseler spricht diesem Umstand grundsätzlich eine entlastende Wirkung im strafrechtlichen Sinne ab.674 Bestünden Bedenken bezüglich des Inhalts der Weisung, so seien diese bei dem nächsthöheren Vorgesetzten geltend zu machen.675 Sofern dieser die Weisung bestätige, sei der Jugendamtsmitarbeiter grundsätzlich dazu verpflichtet, Folge zu leisten. Die Verantwortlichkeit treffe dann den Vorgesetzten. Eine Ausnahme gelte, wenn bei zumutbarer Sorgfalt erkennbar sei, dass die Weisung Strafgesetzen zuwiderlaufe. In diesem speziellen Fall bleibe der Sozialarbeiter strafrechtlich verantwortlich, wenn er entsprechend der Weisung handele. (bb) Ansicht Münders u. a. Die Autoren des Frankfurter Kommentars hingegen verneinen eine entlastende Wirkung von Weisungen Vorgesetzter pauschal und ohne eine Differenzierung, wie Fieseler sie trifft.676

673 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Zweistufigkeit des Hilfeplanungsverfahrens unter Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b) (cc). 674 Er bezieht sich dabei nicht explizit auf die Garantenstellung. Seine Aussagen sind aber in diesem Sinne zu interpretieren. 675 Fieseler, ZfJ 2004, 176. Der Verweis auf BGHZ 63, 234 (in Fn. 14 a. a. O.) leuchtet jedoch nicht ein, da der Fall nichts mit einer Überlastungsanzeige zu tun hat. 676 Münder u. a., FK-SGB VIII, § 1, Rn. 41, § 36, Rn. 23; ebenso Trenczek, ZfJ 2002, 385.

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(cc) Stellungnahme Fieseler wiederholt in seinen Publikationen, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch der Sache nach, im wesentlichen die Aussagen des Beamtenrechts bzw. des § 8 BAT.677 Gegen die Anwendung der Norm spricht jedoch, dass in diesem Bereich gerade anerkannt ist, dass zwischen der Unverbindlichkeit der dienstlichen Weisung im beamtenrechtlichen bzw. dienstrechtlichen Sinne und der persönlichen strafrechtlichen Verantwortung im Außenverhältnis unterschieden werden muss.678 Es stellt daher einen Zirkelschluss dar, aus der beamtenrechtlichen Regelung unbesehen Folgerungen für die strafrechtliche Verantwortung ziehen zu wollen. Auf den ersten Blick ist ein gewisser Widerspruch zu der eingangs getroffenen Aussage zu konzedieren, dass Garantenpflichten nicht contra legem erwachsen können. Widerrechtliche Weisungen im Innenverhältnis vermögen jedoch nichts an der im Gefährdungsfall aus der Verfassung herzuleitenden Schutzpflicht der Exekutive zu ändern, die sich mit der Fallübernahme in der Person des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters verdichtet. Inwiefern die Weisung Auswirkungen auf die Strafbarkeit des Sozialarbeiters entfaltet, ist sachgerechter im Rahmen der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung, der Rechtswidrigkeit und der Schuld bzw. beim Gebotsirrtum abzuhandeln. Ähnlich wie bei der Überlastungsanzeige und der Teambesprechung handelt es sich auch bei Weisungen des Vorgesetzten um reine Verwaltungsinterna. Das Vertrauendürfen des Kindes/der Eltern wird hierdurch nicht tangiert, sodass keine entlastende Wirkung im Hinblick auf die Garantenstellung des Jugendamtsmitarbeiters folgt. (g) (Erfolglose) Meldung gegenüber dem Gericht Schließlich bleibt zu prüfen, inwiefern eine Benachrichtigung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII die Garantenstellung und die daraus resultierenden Garantenpflichten zu beeinflussen vermag. In der Jugendhilfe wurde vor dem 1.10.2005 die Ansicht vertreten, mehr als eine Mitteilung der Tatsachen an das Familiengericht verlange das Strafrecht nicht.679

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Vgl. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. a) (3) (b) (aa). Siehe Felix, Remonstrationsrecht, S. 122. 679 Siehe hierzu Ruffing, „. . . und schuld ist“, S. 25 f.: „Eine weitergehende Verantwortung über eine gerichtliche Entscheidung hinaus können die Jugendämter nicht übernehmen.“; ebenso Wiesner, a. a. O., S. 26; vgl. auch Schone, a. a. O., S. 26 f.: „Was wäre gewesen, hätte man in Osnabrück das Gericht eingeschaltet und sich ganz schnell Rat geholt, wäre dann im Fall des Todes des Kindes der strafrechtliche Ver678

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(aa) Ansicht Kunkels Kunkel hingegen meinte, sofern der Familienrichter der Gefahrenlage nicht abhelfe, sei der Sozialarbeiter zum „Nachsetzen“ im Beschwerdeweg verpflichtet.680 (bb) Stellungnahme Zwar ist der Familienrichter möglicherweise als Beschützergarant für das Wohl des Kindes anzusehen, nachdem ihm eine Kindeswohlgefährdung durch eine Benachrichtigung des Jugendamts zu Ohren gekommen ist.681 Im Gegensatz zur Unzuständigkeit oder einer temporären Abwesenheit bleibt der Sozialarbeiter jedoch die maßgebende Identifikationsfigur und damit die Person, in welche das berechtigte Vertrauen gesetzt wird.682 Die Konstellation ist mit derjenigen bei der (widerrechtlichen) Weisung des Vorgesetzten vergleichbar: Obwohl einer anderen Person möglicherweise ein Sorgfaltsverstoß anzulasten ist, bleibt der zuständige Mitarbeiter des Jugendamts für das Kind beziehungsweise die Eltern die Figur, in die das berechtigte Vertrauen gesetzt werden darf, dahingehend dass ein adäquater Schutz geleistet werden wird. Man kann sogar im Weg eines Erst-Recht-Schlusses annehmen, dass gerade dann, wenn der von Gesetzes wegen vorgesehene „Fahrplan“ zum Schutz eines Kindes vor Gefahren für sein Wohl nicht eingehalten wird, der Sozialarbeiter683 dazu berufen ist, gleichsam als „letzte Bastion“ des Jugendschutzes Schlimmeres zu verhindern. Nach dem 1.10.2005 ist im Fall der ablehnenden Entscheidung durch das Familiengericht der neu geschaffene § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII einschlägig, weil dann familiengerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt werden kann, so dass eine vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt zu erfolgen hat.

fahrensablauf gegen die Sozialarbeiterin bei gleichem Geschehensverlauf ebenso gewesen, wie er sich de facto darstellte?“ 680 Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 135. 681 Was – wie bereits ausgeführt – wegen des in § 339 StGB statuierten Richterprivilegs hier nicht eingehender untersucht werden soll. 682 Anders stellt sich die Situation im Hinblick auf psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren dar. Krauß (StV 1985, 517) meint in diesem Zusammenhang zu Recht, dass Sachverständige nicht für Verstöße verantwortlich sind, die dem Richter bei der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung unterlaufen. 683 Natürlich nur im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten.

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(h) Fazit Die vorangegangenen Untersuchungen haben gezeigt, dass im Fall nachträglich eintretender (temporärer) Unzuständigkeit die Beschützergarantenstellung des Jugendamtsmitarbeiters entfällt. Allerdings wirkt dessen Rechtsposition insoweit fort, als er den Vertreter bzw. Nachfolger umfassend und detailliert über den bisherigen Betreuungsverlauf informieren muss. Hingegen lassen die Delegation von Aufgaben an die Mitarbeiter freier Träger, die (widerrechtliche) Weisung von Vorgesetzten, die erfolglose Anregung eines sorgerechtlichen Verfahrens beim Familiengericht, Überlastungen sowie Teambesprechungen die Garantenstellung unberührt. Sie modifizieren lediglich die Garantenpflichten. f) Fahrlässigkeitsprüfung684 Als Fazit der Abgrenzung von vorsätzlichem und fahrlässigem Verhalten wurde bereits an früherer Stelle die Feststellung getroffen, dass in den für die vorliegende Arbeit relevanten Konstellationen in aller Regel Fahrlässigkeit zu konstatieren ist.685 Indes ist mit der Verneinung des Vorsatzes nicht zugleich gesagt, dass dem Angeklagten Fahrlässigkeit zur Last zu legen ist.686 Vielmehr ist es notwendig zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Sorgfaltspflichtverletzung im konkreten Fall auch tatsächlich erfüllt sind. Was genau muss insoweit nachgewiesen werden? Weder in § 15 StGB noch in speziellen Tatbeständen wie §§ 222, 229 StGB findet sich eine Definition der Fahrlässigkeit. Diese wird vielmehr – vergleichbar dem Vorsatz und der Kausalität – vom Gesetz vorausgesetzt. Wie auch im Rahmen der Frage, auf welche Weise die Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt zu bestimmen ist, existieren zur Konkretisierung des Terminus unterschiedliche Ansätze. Es sollen daher erneut zunächst die ver684 Wo genau die Fahrlässigkeit im Prüfungsaufbau zu verorten ist, ist bis zum heutigen Tag nicht abschließend geklärt. Die Ursache hierfür liegt in den unterschiedlichen Herangehensweisen der einzelnen Handlungslehren (siehe dazu oben Teil 2 A. II. 1. a)). Vgl. hierzu den Überblick bei Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 52 ff. sowie bei Wessels/Beulke, Rn. 657. Vorliegend wird der heute herrschenden Ansicht gefolgt, welche die Fahrlässigkeit als besonderen Typus strafbaren Verhaltens, der sowohl Unrechts- als auch Schuldelemente vereint, sowohl im Rahmen des Tatbestands, als auch der Schuld anführt. 685 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. b) (3). 686 SK-Hoyer, Anh. zu § 16, Rn. 2; Wessels/Beulke, Rn. 657. Zur Frage, ob trotzdem bei Nichterweislichkeit vorsätzlichen Handelns auf die Fahrlässigkeit im Wege des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes angeknüpft werden kann, siehe RGSt 59, 83; BGHSt 17, 210.

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fassungsrechtlichen Vorgaben verdeutlicht werden, um anschließend die vorzustellenden Ansichten einer Bewertung unterziehen zu können. Auch hierbei wird sich die Darstellung auf die Diskussion de lege lata beschränken. Die Frage, ob bezüglich der leichtesten Fahrlässigkeit eine Entkriminalisierung vorgenommen werden sollte, wird vorliegend nicht näher behandelt.687 (1) Verfassungsrechtliche Grundlagen/Bestimmung der Fahrlässigkeit (a) Verfassungsrechtliche Grundlagen Betrachtet man die Regelungen zur Fahrlässigkeit im Strafgesetzbuch, so ist angesichts der „äußerste(n) Kargheit der gesetzgeberischen Vorgaben“688 Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgebot zu bedenken.689 Dieser Grundsatz verlangt, dass der Rechtsanwender die ihm drohenden strafrechtlichen Risiken zu erkennen vermag.690 Nicht ganz zu Unrecht bezweifeln einige Stimmen in der Literatur die Verfassungsmäßigkeit der fahrlässigen Straftatbestände.691 Indes geht diesem Urteil das hier bereits mehrfach herangezogene Primat der verfassungskonformen Auslegung vor.692 Zu fragen ist, ob es Rechtsprechung und Literatur gelungen ist, die gesetzlichen Vorgaben derart zu konkretisieren, dass bei der Rechtsanwendung voraussehbare Ergebnisse erzielt werden können.

687 Siehe hierzu ausführlich S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 203a; Dannecker in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortlichkeit, S. 227 f. sowie Duttge, Handlungsunwert, S. 40 ff. – er unterscheidet zwischen den „klassischen Lehren“, die die Fahrlässigkeit i. S. einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung begreifen (S. 41 ff.), den Lehren, die auf das Kriterium der Sorgfaltspflichtverletzung verzichten wollen (S. 91 ff.) und denjenigen, die an die Lehre von der objektiven Zurechnung anknüpfen (S. 108 ff.). 688 So Weigend, Gössel-FS, S. 129. Siehe auch Gössel, Bengl-FS, S. 23: „. . . die Fahrlässigkeitstat, das unbekannte Wesen.“ 689 Siehe dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (a). 690 Vgl. hierzu Teil 2 A. II. 2. d) (1) (a) (aa). 691 Donatsch, Sorgfaltsbemessung, S. 70 ff. (S. 91: „. . . hinsichtlich des Bestimmtheitsgebotes im Grenzbereich der Zulässigkeit angesiedelt . . .“); MüKo-Duttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 33 („. . . mit Recht bezweifelt.“). Kritik auch bei LK-Schroeder, § 15, Rn. 4 und Walther, Anm. JZ 2005, 687 („. . . die gegenwärtige Gesetzeslage widerspricht dem Bestimmtheitsgebot der Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB“). 692 Duttge, Kohlmann-FS, S. 29. Umfassend zu dem Thema ders., Handlungsunwert, S. 135 ff. m.w. N.

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(b) Definitionsansätze Auch zur Fahrlässigkeit existieren mannigfaltige Ansätze. Nachfolgend können nur die wesentlichen Hauptgruppen vorgestellt werden.693 (aa) Sorgfaltspflichtverletzung Die wohl herrschende Ansicht in der Literatur sowie die Rechtsprechung verstehen die Fahrlässigkeitsnormen als „offene Tatbestände“.694 Sie meinen, diese seien dahingehend zu ergänzen, dass stets die Verletzung einer Sorgfaltspflicht vonnöten sei, die vorrangig einzelnen Normen und andernfalls dem Verhalten des „sorgfältigen“ Vertreters eines bestimmten Verkehrskreises entnommen werden müsse.695 Der Bundesgerichtshof hat jüngst die fahrlässige Begehung einer Tat im sogenannten Freigängerfall folgendermaßen definiert: „Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat.“696 (bb) Objektive Zurechenbarkeit/unerlaubtes Risiko Gegen das Erfordernis der Sorgfaltspflichtverletzung wird vorgebracht, dieser Ansatz sei angesichts der zum Teil geringen Regelungsdichte der Sorgfaltsnormen zu unbestimmt.697 Zudem stelle ein normgemäßes Verhalten lediglich ein Indiz gegen die Fahrlässigkeit dar, das jedoch im Einzelfall entkräftet werden könne.698 693 Vgl. weiterführend S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 116 ff. sowie Duttge, Handlungsunwert, S. 40 ff. 694 Vgl. hierzu Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 31 m.w. N. sowie Welzel, Strafrecht, S. 131. 695 Vgl. z. B. MüKo-Hardtung, StGB, Bd. III, § 222, Rn. 9; SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 28a; S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 121; Jescheck/Weigend, AT, § 54 I 3; Kühl, AT, § 17, Rn. 14 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 656; auch Schünemann, JA 1975, 577 meint, auf gewisse „Fixpunkte“ nicht verzichten zu können. Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 6 Abs. 1 öStGB (abgedruckt bei Gropp, AT, § 12, Rn. 68; näher hierzu Kienapfel/Höpfel, Z 25, Rn. 7 ff.), wonach „Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist (. . .)“. 696 BGHSt 49, 1, 5; ähnlich BGHSt 49, 166, 174 („Sado-Maso-Fall“) sowie BGH NStZ 2005, 447. 697 Siehe Donatsch, Sorgfaltsbemessung, S. 222; Kremer-Bax, Verhaltensunrecht, S. 47 ff.; Duttge, Kohlmann-FS, S. 30 f.; Gössel, Bengl-FS, S. 30; Weigend, GösselFS, S. 132 f. (der freilich auf S. 138 konzediert, dass es sich bei Sorgfaltsnormen um „geronnene Vorhersehbarkeit“ handelt); Walther, JZ 2005, 687.

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Weiterhin wird der herrschenden Ansicht entgegengehalten, sie impliziere mit der Formulierung der „unterlassenen Sorgfalt“ unzutreffenderweise699, dass im Rahmen der Fahrlässigkeit die Pflicht bestehe, eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Ein Teil der Kritiker erachtet aus diesen Gründen nicht die Verletzung einer bestimmten Sorgfaltspflicht, sondern das Eingehen eines unerlaubten Risikos für das Rechtsgut700, beziehungsweise die Zurechenbarkeit des Erfolgs701 für ausschlaggebend.702 Andere Autoren rekurrieren auf das Kriterium der Erkennbarkeit eines möglichen Schadenseintritts bei konkretem Anlass.703 (c) Stellungnahme Zuzugeben ist den Kritikern der geltenden Rechtslage, dass es weder genügt, auf das allgemeine Gebot des „neminem laedere“ noch darauf zu verweisen, dass die Fahrlässigkeitstatbestände ex post durch die Judikatur konkretisiert werden.704 Vielmehr ist aus verfassungsrechtlicher Sicht zu fordern, dass allgemeingültige Regeln bereits im vorhinein einen Schluss auf das (Nicht)vorliegen einer Sorgfaltswidrigkeit zulassen. Wie steht es mit Versuchen der Literatur und Rechtsprechung, derartige Kriterien aufzustellen? Auf den ersten Blick scheinen beide vorgenannten Gruppen von Auffassungen zur Konkretisierung der kargen Regelungen einander entgegengesetzt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie nicht zu widersprechenden Ergebnissen führen, sondern einzelne Probleme nur auf unterschiedlichen Ebenen der Prüfung abhandeln.705 Während die Kritiker der herrschenden 698 Siehe dazu näher Roxin, AT I, § 24 Rn. 16 sowie Wessels/Beulke, Rn. 672. Aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei beispielhaft der sogenannte Gaststättenfall (BGH NStZ-RR 1996, 316) herausgegriffen, in dem der BGH trotz des Vorliegens einer gaststättenrechtlichen Genehmigung dem Wirt eine Sorgfaltspflichtverletzung attestierte. 699 Vgl. dazu bereits die Ausführungen bei Teil 2 A. II. 1. c) (1). 700 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 39 („sozialinadäquate Gefährlichkeit“); Gropp, AT, § 12, Rn. 71, 75; Stratenwerth, Jescheck-FS, S. 285 ff.; Weigend, GösselFS, S. 134 und wohl auch Herzberg, Garantenprinzip, S. 243 („. . . Maßstäbe der objektiven Sorgfalt, die m. E. immer das eine besagen: wo die Grenze des erlaubten Risikos verläuft.“); krit. gegen diese Ansicht Duttge, Kohlmann-FS, S. 31 f. 701 Roxin, AT I, § 24, Rn. 10; ders., Anm. StV 2004, 487 f.; Schünemann, JA 1975, 516, 575 ff. 702 Vgl. auch Struensee, JZ 1987, 58. 703 LK-Schroeder, § 16, Rn. 132 ff.; MüKo-Duttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 106; ders., Kohlmann-FS, S. 34 f.; Jakobs, 9/6; Walther, Anm. JZ 2005, 688. 704 So auch Weigend, Gössel-FS, S. 131 m.w. N. zur Gegenauffassung in Fn. 16 sowie Walther, Anm. JZ 2005, 687.

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Ansicht bereits eingangs untersuchen, ob ein unerlaubtes Risiko überschritten wurde, schränkt die herrschende Meinung hierdurch lediglich die von ihr vorausgesetzte Sorgfaltspflicht ein. Außerdem vermeiden die Ansichten, die das Erfordernis von Sorgfaltsregeln grundsätzlich verneinen, die Frage, ob ein normgemäßes Verhalten im Einzelfall doch als fahrlässig angesehen werden kann. Auf den ersten Blick erscheinen diese Auffassungen merklich klarer zu sein als die herrschende Meinung, die eine – gegebenenfalls zu entwickelnde – Sorgfaltsnorm verlangt. Indes erfordert auch die Bestimmung des unerlaubten Risikos beziehungsweise die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Erfolg voraussehbar war, eine Wertungsentscheidung, sodass diese Ansichten bei näherer Betrachtung keinen Gewinn an Bestimmtheit gegenüber der herkömmlichen Ansicht zu verbuchen vermögen.706 Da mit den einzelnen Ansichten keine Unterschiede in der Sache verbunden sind, soll der herrschenden Auffassung gefolgt werden – nicht zuletzt, um die Rechtsprechung zu den hier interessierenden Konstellationen besser beurteilen zu können.707 (2) Besonderheiten des fahrlässigen Unterlassens Doch ehe näher auf das Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung eingegangen werden kann, muss hinterfragt werden, welche Besonderheiten sich aus dem Umstand ergeben, dass die mögliche Fahrlässigkeit auf einem Unterlassen gründet. Wie bereits im Rahmen der Vorbemerkung geäußert wurde, handelt es sich sowohl beim Unterlassen als auch bei der Fahrlässigkeit jeweils um relativ junge Gegenstände der Strafrechtswissenschaft, die trotz einer auf den ersten Blick anzunehmenden Verwandtschaft klar voneinander getrennt werden können.708 705 Siehe Roxin, AT I, § 24, Rn. 14: „Gleichwohl kann und muss bei der Bestimmung dessen, was als „Schaffung einer unerlaubten Gefahr“ anzusehen ist, alles berücksichtigt werden, was Rechtsprechung und Schrifttum zur Feststellung der Sorgfaltspflichtverletzung erarbeitet haben.“ (zu dem von ihm entwickelten dogmatischen Hintergrund siehe oben Teil 2 A. II. 1. a) (5)); vgl. auch Laue, JA 2000, 669, der meint, Roxin vermeide nur den Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung. 706 In diesem Sinne auch Duttge, Handlungsunwert, S. 127 ff. Duttge selbst hält das „Veranlassungsmoment“ für den maßgebenden Pflichtverstoß, der jeder Fahrlässigkeit immanent sei (S. 387 a. a. O.) – um dieses Moment besser konkretisieren zu können, stellt er auf die Erkenntnisse der Psychologie ab (S. 389 ff., 427 f.; zur Klassifizierung der dabei maßgebenden Gefahrenindikatoren siehe die Tabelle auf S. 421). Es ist jedoch zweifelhaft, ob mittels dieser Kriterien ein größeres Maß an Bestimmtheit gegenüber den sonst vertretenen Ansichten erzielt werden kann. 707 So auch Kretschmer, Jura 2000, 269, der Roxin zwar insoweit zustimmt, als die Fahrlässigkeitsbetrachtungen nicht über die objektive Zurechnung hinausführen, der jedoch „aus Gründen der strukturellen und gedanklichen Übersichtlichkeit“ eine getrennte Prüfung propagiert.

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Allerdings verwundert es nicht, dass es im Zuge der dogmatischen Entwicklung bei einigen Gesichtspunkten zu Friktionen gekommen ist. Geschuldet sind diese den unterschiedlichen Prämissen der mannigfaltigen bis heute fortwirkenden Handlungslehren.709 (a) Varianten fahrlässiger Unterlassung Zunächst ist darauf hinzuweisen, in welchen Erscheinungsformen die Fahrlässigkeit beim Unterlassen überhaupt auftreten kann. (aa) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung beim aktiven Tun Im Bereich der Begehungsdelikte kann den Täter sowohl der Vorwurf eines unbewussten als auch der eines bewussten Sorgfaltspflichtverstoßes treffen. In Betracht kommt also, dass der Täter die Sorgfaltspflichten bewusst außer Acht lässt und lediglich auf das Ausbleiben des Erfolgseintritts vertraut oder dass er sich bereits über die tatbestandliche Situation irrt, zum Beispiel darüber, dass durch sein Tun eine Gefahrenlage für das Leben eines Kindes begründet wird, sodass schon auf der Wissensseite ein Defizit zu verzeichnen ist. (bb) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung beim Unterlassen Bei den Unterlassungsdelikten hängt die Frage, welche Formen sorgfaltswidrigen Verhaltens denkbar sind, von dem bereits angesprochenen Problem ab, welche Anforderungen man an die Handlungsfähigkeit beim Unterlassen stellt.710 Einigkeit über die mögliche Strafbarkeit von Omissionen besteht in der Literatur lediglich dann, wenn ein Angeklagter unzureichende Rettungsmaßnahmen vorgenommen hat, da dem Untätigbleibenden dann die gesamte tatbestandsmäßige Situation bekannt war. Kontrovers diskutiert wird hingegen, ob es auch genügt, wenn der Untätige keinerlei Kenntnis von dem bevorstehenden Erfolgseintritt, von den Rettungsmöglichkeiten, von der Existenz seiner Garantenstellung sowie von sonstigen Tatbestandsmerkmalen besaß, diese Kenntnis jedoch hätte erlangen können. Angesprochen ist damit die generelle Frage, ob ein unbewusstes fahrlässiges Unterlassen711 sowie ein Irrtum über die tatbestandsmäßige Situation (z. B. über

708 Siehe zur Frage des „Unterlassungsmoments der Fahrlässigkeit“ bereits die Ausführungen oben Teil 2 A. II. 1. c) (a). 709 Vgl. zu diesen Teil 2 A. II. 1. a). 710 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. a) (3) (a) (cc).

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die tatsächlichen Voraussetzungen der Garantenstellung) begrifflich denkbar sind. (cc) „Umkehrprinzip“ Armin Kaufmanns Armin Kaufmann meinte auf der Grundlage des von ihm entwickelten „Umkehrprinzips“712, das fahrlässige unechte Unterlassen könne lediglich in Form des fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuchs in Betracht kommen.713 Dies folgt für ihn aus dem von ihm selbst entwickelten Handlungsbegriff beim Unterlassen, der die Kenntnis des Handlungsziels voraussetzt, also der Gefahrenlage für das zu schützende Rechtsgut.714 (dd) Kritik Die herrschende Lehre hält hingegen ohne weiteres auch jenseits des fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuchs eine fahrlässige Deliktsverwirklichung für denkbar.715 Sie argumentiert zum einen mit sonst drohenden, mit dem Rechtsgefühl kaum zu vereinbarenden Strafbarkeitslücken. In dogmatischer Hinsicht vertreten ihre Verfechter zudem die Ansicht, dass die Fähigkeit zur Vornahme einer Handlung auch dann anzunehmen sei, wenn die Gefahrenlage zwar nicht erkannt wurde, aber zumindest erkannt werden konnte.716 Dem letztgenannten Argument ist unter Verweis auf die bereits im Rahmen der Handlungsfähigkeit getätigten Ausführungen beizupflichten. Zwar verfolgt Armin Kaufmann von seinem dogmatischen Standpunkt her konsequent die von ihm geprägte finalistische Idee. Indes nimmt die vorliegende Arbeit, wie bereits 711 Relevanz entfaltet dieser Umstand vor allem dann, wenn der Sozialarbeiter einer Meldung nicht weiter nachgeht und ihm dadurch Informationen verborgen bleiben, welche ihn zu einem kindesschützenden Verhalten veranlasst hätten (vgl. dazu den Fall „Dominic“, oben Teil 1 A. IV. 1.). 712 Vgl. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 1. a) (2) (b). 713 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 170 ff. (freilich konzediert er auf S. 166 ausdrücklich, seine Ansicht könne lediglich auf dem damaligen „höchst umstritten(en)“ Stand der Fahrlässigkeitsdogmatik gründen). 714 Siehe dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. a) (3) (cc). 715 Siehe SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 28a; Jakobs, 29/94; Jescheck/Weigend, AT, § 59 VII 2; Roxin, AT II, § 31, Rn. 196 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 877; Struensee, JZ 1977, 221. Schöne (JZ 1977, 157) stimmt Struensee zu, der nachgewiesen hat, dass auch außerhalb der Fälle des fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuchs das „Umkehrprinzip“ zur Bestrafung führen kann. Kaufmanns Thesen beruhten auf einem früheren Verständnis von Fahrlässigkeit („Erforderlich ist nur, dass der Untätige das Ziel der Handlung kennt, die ihm die Sorgfaltsnorm gebietet, und dass in bezug auf diese Handlung auch die anderen Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit gegeben sind.“ (Hervorhebungen im Original)). 716 Vgl. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. a) (3) (cc) (g).

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eingangs angekündigt717, einen normativen Standpunkt ein, wonach auch aus der Erkennbarkeit der Gefahrensituation auf die Handlungsfähigkeit geschlossen und damit auch im Bereich der unbewussten Fahrlässigkeit sowie im Fall eines Irrtums über die tatbestandsmäßige Situation durchaus ein fahrlässiges Unterlassen angenommen werden kann.718 (b) Indizierung der Sorgfaltspflichtverletzung durch die Verletzung der Garantenpflicht? Des Weiteren ist im Rahmen des Spezialfalls der fahrlässigen unechten Unterlassung nicht vollständig geklärt, ob die Verletzung der Garantenpflicht die Sorgfaltspflichtverletzung zwangsläufig einschließt.719 Wäre dies zu bejahen, dann erübrigte sich eine weitere Prüfung des Verhaltens der Sozialarbeiter. Es könnte insoweit auf die Ausführungen zur Garantenpflicht verwiesen werden. (aa) Identität von Sorgfaltspflicht und Garantenpflicht Einige Autoren vertraten in der Vergangenheit in der Tat, Garantenpflichtverletzung und Sorgfaltspflichtverletzung seien im Ergebnis identisch.720 Den dogmatischen Hintergrund hierfür bildete die Annahme, bei der Fahrlässigkeit und dem Unterlassen handele es sich um an gleiche Gesichtspunkte anknüpfende Rechtsinstitute.721 (bb) Strenge Trennung Herzberg hingegen propagiert eine strikte Trennung der beiden Rechtsinstitute. Diese fallen seiner Ansicht nach auch beim fahrlässigen Unterlassen nicht zusammen.722 717

Siehe oben Teil 2 A. II. 1. d). Hierfür spricht auch der Umstand, dass in manchen Fällen nur schwer herauszufinden ist, welcher Vorwurf dem Täter konkret gemacht wird. So meint z. B. Bringewat in Strafrechtliche Risiken auf S. 28, dass der zuständigen Sozialarbeiterin im Fall „Laura Jane“ möglicherweise vorzuwerfen war, sie habe ihre Garantenstellung verkannt (Dann wäre nach Kaufmanns Lehre kein fahrlässiges Unterlassen möglich.). Denkbar erscheint es jedoch auch, dass man ihr den im Ergebnis fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuch vorwirft. 719 Am ausführlichsten hierzu Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 98 ff. 720 Vgl. Niese, Finalität, S. 62 und wohl auch Welzel, Strafrecht, S. 223; aus neuerer Zeit Haft, AT, S. 192. Eine explizite Trennung dieser beiden Gesichtspunkte sucht man auch im Urteil des OLG Oldenburg im Fall „Laura Jane“ (abgedruckt in StV 1997, 133 ff.) vergeblich. 721 Siehe zur auf den ersten Blick plausiblen Verwandtschaft bereits oben Teil 2 A. II. 1. c) (1). 718

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Er führt exemplarisch den Fall an, dass eine Mutter und eine Nachbarin sich in der Küche unterhalten, während das im Nebenzimmer spielende Kind aus dem Fenster fällt und verstirbt. Hier soll die Nachbarin „mangels Garantenpflicht“ als taugliche Täterin sogleich ausscheiden, während Herzberg bei der Mutter die Sorgfaltspflichtverletzung hinterfragt.723 (cc) Teilweise Übereinstimmung Die überwiegende Ansicht in der Literatur nimmt in diesem Zusammenhang eine vermittelnde Position ein.724 Zwar seien beide Aspekte begrifflich zu trennen, indes könne im Einzelfall eine Überschneidung festzustellen sein. (dd) Stellungnahme Für die erstgenannte Ansicht spricht zwar, dass es sich sowohl bei der Garanten- als auch bei der Sorgfaltspflicht um ähnliche Aspekte handelt, und dass – wie das von Herzberg angeführte Beispiel zeigt – beide zum Teil nur künstlich getrennt werden können.725 Indes kann von einer Identität beider Termini im Sinne einer Austauschbarkeit nicht gesprochen werden. Hiergegen streitet bereits die im Rahmen der einleitenden Bemerkungen angeführte Klarstellung von Jakobs, dass zwischen Fahrlässigkeit und Unterlassung nicht etwa eine verwandtschaftliche Beziehung besteht.726 Man wird lediglich annehmen können, die Sorgfaltspflichtverletzung indiziere die Garantenpflichtverletzung. Umkehrt ist dies jedoch nicht der Fall727, da – wie noch auszuführen sein wird – selbst dann, wenn ein Gesetz verletzt wurde (aus dem eine Garantenstellung resultiert), hieraus noch nicht zwingend das Fahrlässigkeitsurteil folgt. Zuzustimmen ist deshalb der letztgenannten Ansicht.

722 Herzberg, Garantenprinzip, S. 242 f. Diese Ansicht basiert offensichtlich auf dem auch hier bereits angeführten besonderen Verständnis des Autors von der Garantenstellung als „sozialer Sonderverantwortlichkeit“ (s. dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (a)). 723 Herzberg, Garantenprinzip, S. 243. 724 LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 97 („. . . Garantenpflichten und Sorgfaltspflichten zusammenfallen, aber doch unterschieden werden müssen, damit ihr Inhalt und Ausmaß richtig bestimmt werden können“); Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 102; ders., Tod eines Kindes, S. 93; ders., ZfJ 2000, 404; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 98 f.; Kühl, AT, § 19, Rn. 4; Stratenwerth/Kuhlen, § 16, Rn. 2. 725 So auch Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 98 f. 726 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 1. c) (1). 727 So Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 58, 100 f.; ebenso Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 111 f.; Stratenwerth/Kuhlen, § 16, Rn. 2.

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(3) Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht Folglich bleibt zu prüfen, wann Jugendamtsmitarbeitern ein Verhaltensfehler vorgeworfen werden kann dahingehend, dass im Rahmen der Betreuung der „Problemfamilie“ die im Verkehr gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen wurde und der eingetretene Erfolg zudem voraussehbar war. Zunächst sollen die Aussagen der Judikatur in den im ersten Teil der Arbeit vorgestellten Fällen dargelegt werden.728 (a) Ansichten der Rechtsprechung (aa) AG Osnabrück (Fall „Laura Jane“)729 Das Amtsgericht Osnabrück warf der angeklagten Sozialarbeiterin im Fall „Laura Jane“ vor, dass diese die zahlreichen Hinweise von verschiedensten Seiten ab dem Juni 1993 nicht ernst genommen habe.730 Spätestens ab dem 17.3.1994, als der Arzt sie über die Ursachen der großflächigen Windeldermatitis aufklärte, weitere anonyme Hinweise eingingen, die Großmutter der beiden Kinder über eine nicht angemessene Ernährung berichtete und die Sozialarbeiterin sich zudem über den katastrophalen Zustand der Wohnung mit eigenen Augen überzeugen konnte, hätte sie gefahrabwehrend tätig werden müssen.731 In der Folge knüpfte das Gericht wesentlich an das Geschehen im Krankenhaus an. Wie ernst es dem behandelnden Arzt gewesen sei, habe sich einerseits an dem ärztlichen Verlangen nach einem Gespräch mit der Mutter und der Sozialarbeiterin deutlich gezeigt sowie andererseits an dessen Forderung, dem Baby müsse pro Tag eine mindestens zweistündige Körperpflege zuteil werden. Für nicht maßgeblich hielt es das Gericht, dass zwischen dem Mediziner und der Jugendamtsmitarbeiterin kein Weisungsverhältnis im rechtlichen Sinne bestanden hatte. Ihr Urteil stützte die Strafrichterin auf die von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift732 geäußerte Einschätzung, die eingeleitete Hilfe zur Erziehung 728 Nicht angeführt werden freilich die Aussagen des OLG Düsseldorf im Fall „Tanja“ (s. o. Teil 1 A. III. 2.), da die Jugendamtsmitarbeiterin hier wegen eines vorsätzlichen Delikts, namentlich wegen § 170d StGB a. F. (= § 171 StGB n. F.), angeklagt wurde. 729 Abgedruckt bei Bringewat, Tod eines Kindes, S. 116 ff. sowie bei Mörsberger/ Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 54 ff. 730 Vgl. Urteilsabdruck bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 63. 731 Vgl. Urteilsabdruck bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 63 f.

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in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe sei in dem konkreten Fall aufgrund Gefahr in Verzug ungeeignet gewesen.733 Sie meinte, wenn sich die Mitarbeiterin des Jugendamts eine andere Ausgestaltung der Hilfegewährung vorstellte, als es dem gerichtlichen Leitbild des § 31 SGB VIII entspricht, dann hätte sie der Familienhelferin dies durch entsprechende Vorgaben deutlich machen müssen. Im Ergebnis warf das Gericht der Angeklagten also vor, dass die im konkreten Fall verfolgte Verhaltensstrategie nicht – wie von 27 Abs. 1 SGB VIII vorausgesetzt – „geeignet“ war, um adäquat auf die Gefahrenlage zu reagieren. (bb) LG Osnabrück (Fall „Laura Jane“)734 Das Landgericht attestierte der Angeklagten im Fall „Laura Jane“, dass sie – sofern man überhaupt von einer Garantenstellung ausgehen konnte – in jedem Fall etwaigen Garantenpflichten nachgekommen sei. Hilfsweise führte es aus, dass die Strafgerichte, vergleichbar den Verwaltungsgerichten, bei derartig prognostischen Entscheidungen, wie Sozialarbeiter sie zu treffen hätten, aufgrund eines diesen zustehenden Beurteilungs- beziehungsweise Ermessensspielraums die gewählte Strategie zu respektieren hätten. Dies gebiete „das Prinzip der Einheitlichkeit des Rechtes“.735 Erst wenn diese Entscheidungsspielräume überschritten seien, sei die Justiz dazu befugt, die Jugendamtsmitarbeiter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.736 (cc) Standpunkt des OLG Oldenburg (Fall „Laura Jane“)737 Das OLG Oldenburg widersprach den Aussagen des Berufungsurteils insoweit nicht. Es führte explizit aus, dass es an der Sachgerechtigkeit der Einleitung der sozialpädagogischen Familienhilfe an sich nichts auszusetzen habe. Weiterführend befasste es sich jedoch nicht mit der Frage, inwiefern Entscheidungen der Verwaltung von den Strafgerichten zu überprüfen sind. 732 733

Abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 19. Vgl. Urteilsabdruck bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko,

S. 66. 734

Abgedruckt in NStZ 1996, 437 ff. LG Osnabrück NStZ 1996, 440. 736 Im konkreten Fall wurde eine Überschreitung dieses Beurteilungsspielraums unter Bezug auf die Aussagen des Sachverständigen Schrapper verneint (siehe den Abdruck des Sachverständigengutachtens in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 22 ff.). 737 Abgedruckt in StV 1997, 133 ff. 735

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Die Verurteilung der Sozialarbeiterin stützte sich wesentlich auf die unzutreffende Annahme der Jugendamtsmitarbeiterin, dass mit der Delegation des Falls an die Mitarbeiterin des freien Trägers ihre Garantenstellung entfallen sei.738 Das Gericht lastete der Angeklagten also den Irrtum über die fortdauernde Garantenstellung an. (dd) Aussagen des OLG Stuttgart (Fall „Jenny“)739 Das Oberlandesgericht Stuttgart warf dem Lüneburger Sozialarbeiter im Fall „Jenny“ vor, dass er weder eine Entziehung des Personensorgerechts noch des Aufenthaltsbestimmungsrechts angeregt habe.740 Statt dessen habe er erklärt, ohne die Einwilligung der Mutter sei keine Sorgerechtsentziehung möglich. Er unterlag also einem Irrtum über den Umfang der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf den Sozialarbeiter des Stuttgarter Weraheims äußerte das Gericht, es sei für dessen Fahrlässigkeitsstrafbarkeit entscheidend darauf abzustellen, dass er die Jugendamtsmitarbeiterin der Stadt Stuttgart nach dem Auszug der Familie aus dem Heim nicht vollständig informiert habe.741 (ee) Urteil des LG Stuttgart (Fall „Jenny“)742 Das Landgericht Stuttgart legte dem Lüneburger Sozialarbeiter im Gegensatz zum OLG Stuttgart743 zur Last, dass dieser in dem Übergabegespräch infolge des Umzugs der Familie nach Stuttgart dem dortigen Jugendamt nicht vollständig die Vorgeschichte (insbesondere die bereits erfolgten Gewaltausbrüche der Mutter) berichtet habe.744 (ff) Urteil des AG Mönchengladbach (Fall „Vanessa“) Im Fall „Vanessa“ bestand nach Ansicht des Amtsgerichts Mönchengladbach der maßgebende Vorwurf, der dem fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter zu machen war, in der fehlenden Nachfrage bei den Mitarbeiterinnen des Frau738

Vgl. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. e) (3) (a) (bb) (a). Abgedruckt in NJW 1998, 3131 ff. 740 OLG Stuttgart NJW 1998, 3133. 741 OLG Stuttgart NJW 1998, 3134. 742 LG Stuttgart bei Lehmann, EJ 2000, 49 f. 743 Das OLG Stuttgart (NJW 1998, 3133) meinte, dass es auf die Akteneinsicht gerade nicht mehr angekommen sei. 744 Auf die Verfahrenseinstellung gegenüber dem Mitarbeiter des Stuttgarter Heims wurde bereits hingewiesen. 739

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enhauses, in das die Mutter aufgrund ihrer fehlerhaften Angaben über die Ursache des desolaten Zustands ihrer Tochter und ihrer eigenen Person gebracht worden war.745 Wären die Ereignisse, die damit zusammenhingen (vorangegangene Schläge gegenüber dem Kind, Suizidversuch auf dem Balkon des Hotels), geklärt worden, dann hätten die Ereignisse einen anderen Verlauf genommen. Das Gericht stellte also im Ergebnis auf einen Verstoß gegen Ermittlungspflichten ab. (gg) Urteil des AG Leipzig (Fall „Dominic“) In seiner Entscheidung zum Fall „Dominic“ lastete das Amtsgericht Leipzig der Angeklagten an, dass sie das Informationsdefizit nicht abgestellt hatte, welches trotz der ihr zugeleiteten Hinweise über Kindeswohlgefährdungen bestand.746 (b) Außer-Acht-Lassen der im Verkehr gebotenen Sorgfalt Die Rechtsprechung und die herrschende Lehre definieren – wie bereits erwähnt – die Sorgfaltspflichtverletzung als das Außer-Acht-Lassen der im Verkehr gebotenen Sorgfalt trotz objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts. Haben die Gerichte in den vorliegend zu untersuchenden Fällen die Sorgfaltspflichten nach dieser Maßgabe korrekt bestimmt? (aa) Individueller oder generalisierender Sorgfaltsmaßstab? Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst ermittelt werden, aus wessen Perspektive sich bemisst, was konkret als sorgfaltswidrig zu erachten ist.747 Hiermit ist die Frage nach dem vom Strafrichter anzusetzenden Sorgfaltsmaßstab aufgeworfen. In der Wissenschaft besteht darüber bis zum heutigen Tag keine Einigkeit.748

745 Urteil des AG Mönchengladbach vom 9.3.2004 (Az. 13 Cs 343/03), abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de. 746 Urteil des AG Leipzig vom 21.6.2001 (Az. 64 Cs 301 Js 70846/00) (zitiert nach Hannemann, S. 232). 747 Zu den rechtsdogmatischen Wurzeln dieses Streits – der Frage, ob die Fahrlässigkeit ein Bestandteil der Schuld oder bereits der Fahrlässigkeit darstellt – siehe oben Teil 2 A. II. 1. b). 748 Diese Kontroverse wird auch von den Vertretern geführt, die das Erfordernis der Sorgfaltspflichtverletzung für die Bestimmung der Fahrlässigkeit verneinen. Siehe dazu Duttge, Handlungsunwert, S. 91 ff.

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(a) (Wohl) herrschende Meinung Die wohl überwiegende Ansicht in der Literatur wie auch die Rechtsprechung orientieren sich an der Wertung des § 276 Abs. 2 BGB und rekurrieren auf einen generalisierenden Maßstab.749 Sie untersuchen im Unrechtstatbestand objektiv, ob ein derartiges Verhalten sorgfaltswidrig war, das heißt, ob kein umsichtiger Dritter in der konkreten Lage des Täters so gehandelt hätte, und wollen erst im Rahmen der Schuld auf dessen individuelle Eigenschaften zurückgreifen.750 (b) Abweichende Ansicht Die Gegenansicht favorisiert demgegenüber bereits im Bereich des Unrechts eine individuelle Betrachtungsweise.751 Sie begründet dies mit dem Argument, das Strafrecht entscheide auch sonst stets täterbezogen – so werde zum Beispiel auch bei der Untersuchung, ob ein vorsätzliches Handeln vorliege, auf das Wissen und Wollen des Täters abgestellt.752 (g) Meinung Roxins Roxin schließlich propagiert eine vermittelnde Lösung.753 Danach ist mit der herrschenden Ansicht im Unrechtstatbestand grundsätzlich generalisierend zu entscheiden. Eine Ausnahme müsse aus rechtspolitischen Gründen jedoch dann gemacht werden, wenn der Täter über besondere Fähigkeiten verfüge. In diesem Fall dürfe besonders fähigen Personen kein Schlendrian auf Kosten der Rechtsgüter anderer gewährt werden. 749 BGH NJW 2000, 2758; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 93; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 101, 103 f.; ders., Tod eines Kindes, S. 93 f.; Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 54 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 54 I 3; Kudlich, PdW, S. 137; Schünemann, Schaffstein-FS, S. 164 ff.; ders., JA 1975, 512 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 669; Bringewat, ZfJ 2000, 405. 750 Roxin, AT I, § 24, Rn. 47 meint daher, diese Ansicht wende einen „doppelten Maßstab“ an. 751 MüKo-Duttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 116 f. (er hält die Ansicht der herrschenden Meinung für eine „völlig nichtssagende Kunstfigur“); MüKo-Freund, StGB, Bd. I, Vor §§ 13 ff., Rn. 165; SK-Hoyer, Anh. zu § 16, Rn. 18; Gropp, AT, § 12, Rn. 87; Jakobs, 9/1 ff.; Kremer-Bax, Verhaltensunrecht, S. 85 ff., 129 ff.; Otto, GK AT, § 10, Rn. 14; Stratenwerth, Jescheck-FS, S. 285 ff. 752 So Gropp, AT, § 12, Rn. 86. Vgl. auch den Ansatz von Stratenwerth/Kuhlen, § 15, Rn. 12 f. – sie argumentieren mit der von ihnen angenommenen Parallele zur Handlungsmöglichkeit beim Unterlassen – auch dort werde auf die individuelle Betrachtungsweise abgestellt. 753 Roxin, AT I, § 24, Rn. 50: „Es ist also nach „unten“ zu generalisieren, nach „oben“ zu individualisieren.“; ebenso S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 118 f.; krit. dazu u. a. Kremer-Bax, Verhaltensunrecht, S. 118 ff.

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(d) Stellungnahme Relevanz entfaltet diese Kontroverse im Ergebnis nur dann, wenn es um ein Verhalten geht, das als mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten vorgenommen zu charakterisieren ist.754 Sofern es sich um ein sogenanntes Sonderwissen des Täters handelt, besteht in der gesamten Meinungslandschaft im Ergebnis Einigkeit darüber, dass ein solches zuzurechnen ist.755 Ob dies nun, wie von Roxin und der Mindermeinung gefordert, grundsätzlich bereits im Unrechtstatbestand zu geschehen hat, oder ob mit der überwiegenden Ansicht eine Ausnahme vom generalisierenden Maßstab zu machen ist, spielt für das Ergebnis keine entscheidende Rolle und soll daher dahingestellt bleiben. (bb) Bedeutung sogenannter Sondernormen Anhaltspunkte dafür, ob eine Sorgfaltspflicht verletzt wurde, ergeben sich vorrangig aus sogenannten Sondernormen756, das heißt aus Normen, die erkennen lassen, auf welche Weise man sich in einer speziellen Situation zu verhalten hat, um eine Rechtsgutsverletzung zu vermeiden. (a) Existenz im Kinder- und Jugendhilferecht Wie bereits im Rahmen der einleitenden Ausführungen zum SGB VIII deutlich wurde, gab es bis zum 30.9.2005 nahezu keinerlei757 Aussagen des Gesetzgebers darüber, wie in Fällen vermeintlicher Kindeswohlgefährdung durch die Jugendamtsmitarbeiter verfahren werden soll, wie also die „richtige“ Lösung zu ermitteln ist. Vielmehr hatte die Legislative sich im wesentlichen darauf beschränkt, die möglichen Konsequenzen einer erkannten Gefährdung des Kindeswohls in 754 Gropp, AT, § 12, Rn. 85. In diesem Zusammenhang rekurriert die herrschende Ansicht jedoch auf die Rechtsfigur des sogenannten Übernahmeverschuldens, sodass auch insoweit im Ergebnis keine Abweichungen entstehen. 755 Vgl. z. B. BGHSt 16, 309; 20, 315, 319; S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 149 ff.; Gropp, AT, § 12, Rn. 84 f.; Roxin, AT I, § 24, Rn. 49. Freilich vermag die Mindermeinung dieses dogmatisch „eleganter“ zu integrieren (siehe z. B. Weigend, Gössel-FS, S. 143), während die herrschende Meinung eine Ausnahme konstruieren muss. 756 So Wessels/Beulke, Rn. 672. 757 Eine Ausnahme stellt § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X dar, der eine Pflicht zur Informationssammlung statuiert. Siehe hierzu bereits oben (Teil 1 D. I. 2. c) (1) (a) (aa)). Einen Verstoß hiergegen nahmen wohl das AG Mönchengladbach im Fall „Vanessa“ (s. o. Teil 1 A. V.) sowie das AG Leipzig im Fall „Dominic“ (s. o. Teil 1 A. IV.) an.

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§§ 42 a. F., 43 a. F., 50 Abs. 3 a. F. sowie in §§ 27 ff. SGB VIII aufzuzählen, sodass die meisten „Sondernormen“ in diesem Zusammenhang bereits ein bestimmtes Vorgehen implizit voraussetzten.758 Dieser Zustand hat sich mit dem Inkrafttreten des KICK geändert. Der nunmehr im SGB VIII enthaltene § 8a statuiert – bereits weithin praktizierte – Handlungsvorgaben, so z. B. den Grundsatz des Zusammenwirkens von Fachkräften, die grundsätzliche Einbeziehung der Eltern bei der Gefahreneinschätzung, eine spezielle Pflicht zur Informationssammlung sowie nötigenfalls den Einsatz des Familiengerichts als „Blockadebrecher“. (b) Bedeutung Verletzungen von „Sondernormen“ stellen nach herrschender Ansicht ein Indiz für eine Sorgfaltspflichtverletzung dar.759 Zu beachten ist, dass diese Indizwirkung im Einzelfall widerlegt werden kann.760 Als Beispiel für die bloße Indizwirkung mag insoweit § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X dienen, der zwar von einer Pflicht der Sozialarbeiter zur Informationssammlung ausgeht, der jedoch im Fall seiner Nichtbeachtung nur insoweit eine Sorgfaltspflichtwidrigkeit indiziert, als nicht eine besondere Eile geboten ist. Bleibt keine Zeit für eine umfassende Ermittlung, so ist die Prognose auf der Basis der bekannten Tatsachen zu treffen.761 (g) Prognoseentscheidungen im Verwaltungsrecht – Auswirkungen des Beurteilungsspielraums auf das Strafrecht Wie wirkt es sich aus, dass §§ 27 und 50 Abs. 3 a. F. bzw. 8a Abs. 3 SGB VIII den Sozialarbeitern einen Beurteilungsspielraum zur Verfügung stellten bzw. stellen? Die Antwort darauf, was in diesem Zusammenhang konkret justitiabel ist, ist deshalb so wichtig, weil die Strategie fallzuständiger Jugendamtsmitarbeiter we758 Zu pauschal zur Rechtslage vor dem 1.10.2005 daher die Aussage Fieselers in ZfJ 2004, 178: „Die strafrechtlichen Anforderungen ergeben sich für die Profession aus dem SGB VIII.“ 759 Roxin, AT I, § 24, Rn. 16; Wessels/Beulke, Rn. 672; Schünemann, JA 1975, 577. 760 Die Rechtsprechung rekurriert im Bedarfsfall dagegen auf die fehlende Voraussehbarkeit des Erfolgseintritts (vgl. BGHSt 4, 182, 185 – in dem Fall verstieß ein Autofahrer gegen das Überholverbot an Kreuzungen. Der BGH meinte hier jedoch, er habe nicht voraussehen können, dass ein alkoholisierter Fahrradfahrer plötzlich nach links abbiegen würde.). Zur Strafbarkeit trotz Einhaltung der „Sondernorm“ siehe BayObLGSt 59, 13. 761 Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 92.

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sentlich davon abhängt, wie diese das künftige Verhalten der Eltern ihrem Kind gegenüber einschätzen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass aus diesem Umstand mangels konkreter Ursache-Folge-Schemata ein Dilemma der Sozialarbeit resultiert.762 Nicht zuletzt aus diesem Grund, also angesichts des prognostischen Charakters der Tätigkeit und der Unwägbarkeiten zukünftigen menschlichen Verhaltens, ist den Jugendamtsmitarbeitern sowohl bei der Entscheidung darüber, ob eine Hilfe zur Erziehung geeignet und notwendig erscheint als auch bei der Beantwortung der Frage, ob eine Benachrichtigung des Familiengerichts erforderlich ist, ein verwaltungsrechtlicher Beurteilungsspielraum zuzugestehen.763 An dieser Stelle ist nun zu prüfen, wie sich dieser Umstand auf die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens auswirkt. Allgemein formuliert ist hiermit die Frage aufgeworfen, inwieweit der Strafrichter bei seinen Erwägungen an die Wertungen des Verwaltungsrechts gebunden ist. Zwar ist im Strafprozessrecht anerkannt, dass sich die Kompetenz des Strafrichters zur Entscheidung sogenannter Vorfragen in Ausdehnung des Wortlauts des § 262 StPO auch auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse erstreckt.764 Indes ist damit noch nicht geklärt, inwiefern er dabei die von dem angeklagten Amtswalter getroffenen Abwägungsprozesse zu überprüfen vermag. „Einschränkende Auslegung“ der Sorgfaltspflichten? Äußerungen des OLG Stuttgart (Fall „Jenny“) Das OLG Stuttgart bezog sich in seiner Beschwerdeentscheidung im Fall „Jenny“ nicht explizit auf das verwaltungsrechtliche Rechtsinstitut des Beurteilungsspielraums. Es meinte jedoch am Ende seiner Ausführungen, dass den „. . . aus der Natur der Betreuungstätigkeit erwachsenden erhöhten Gefahren strafrechtlicher Belangung“ von Jugendamtsmitarbeitern dadurch begegnet werden könnte, dass die Strafverfolgungsbehörden „. . . den Umfang der Sorgfaltspflichten von Beschützergaranten einengend auslegen, sodass nur die Fälle schweren Versagens strafrechtlich erfasst werden.“765

762

Vgl. hierzu oben Teil 1 F. Siehe dazu oben Teil 1 D. 2. c) (1) (b) (aa) sowie (c) (ff) (a). 764 RGSt 39, 62, 64; 43, 373, 377; Beulke, StPO, Rn. 497. Siehe auch Schünemann, wistra 1986, 239, der zusätzlich auf § 154d StPO rekurriert. 765 OLG Stuttgart NJW 1998, 3134. 763

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Kritik Dieser Auffassung ist zwar zugute zu halten, dass auf der Grundlage eines „Bonussystems für gefahrgeneigte Tätigkeiten“ im Einzelfall durchaus „billige“ Ergebnisse erzielt werden könnten. Indes spricht gegen das Konzept, dass dem Strafrichter damit die Macht gegeben würde, über die Reichweite der Strafbarkeit von Jugendamtsmitarbeitern nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Ein solcher Rechtszustand ist wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung766 abzulehnen. Genauso wenig wie dem Strafrecht gegenüber dem Kinder- und Jugendhilferecht generell, ist den Strafrichtern eine Vormachtstellung gegenüber der Exekutive zuzubilligen. Vielmehr haben sich diese ihrerseits an die Vorgaben der Legislative zu halten. Die Lösung der Frage, inwieweit die Strafgerichtsbarkeit verwaltungsrechtliches Verhalten auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen vermag, ist daher ohne „Flucht in die Billigkeit“ auf dem Gebiet des geltenden Rechts zu suchen.767 Strenge Verwaltungsaktsakzessorietät? Als dem Vorschlag des OLG Stuttgart gleichsam entgegengesetzte Lösungsstrategie erscheint es zunächst denkbar, dass Verwaltungsakte der Exekutive, welche die Ausübung eines Beurteilungsspielraums bedingen, von den Strafrichtern grundsätzlich, das heißt sofern sie im Sinne der §§ 43 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3, 44 VwVfG wirksam sind,768 für rechtmäßig zu erachten sind.769 Einer derartigen „strengen“ Verwaltungsakzessorietät stehen indes entscheidende Gründe entgegen. Rühl zufolge spricht gegen eine derartig weit gefasste Tatbestandswirkung eines Verwaltungsakts zunächst der verwaltungsprozessuale Streitgegenstandsbegriff des § 121 VwGO.770 Es sei nicht zu erklären, warum einem Verwaltungsakt bedeutendere Wirkung zukommen solle als einem Urteil. Auch zeige der Vergleich mit rechtswidrigen Normen, die die Richter dem Bundesverfassungsgericht, sofern entscheidungserheblich, vorlegen müssten (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG), dass keine absolute Bindungswirkung bestehen könne.771 766

Vgl. hierzu Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rn. 243 ff. In diesem Sinne auch Neubacher, Jura 2005, 860 im Hinblick auf den – im Anschluss zu besprechenden – „Freigängerfall“. 768 Das heißt bekannt gegeben und nicht wegen offenkundigem, schwerwiegendem Rechtsverstoß nichtig sind. Zur Fehlerlehre im Verwaltungsrecht siehe Maurer, AT, § 10, Rn. 20 ff. 769 So z. B. Dolde, NJW 1988, 2330 im Zusammenhang mit der erforderlichen Genehmigung i. S. d. § 327 Abs. 1 StGB. 770 Rühl, JuS 1999, 524. 767

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Schließlich ergebe sich diese weder aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung, da dieser im Sinne eines „checks and balances“ und damit im Sinne einer Gewaltenverschränkung zu verstehen sei772, noch aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung, da dieses nichts darüber aussage, wem das Letztentscheidungsrecht zukomme.773 Eine strafrechtliche Unverbrüchlichkeit sozialrechtlicher Verwaltungsakte ist also nicht haltbar. Vielmehr spricht einiges für ein gewisses Maß an Überprüfbarkeit. Doch wie ist dieses genau zu ermitteln? Bei dieser Frage fühlt man sich an die Parallelen erinnert, die im Rahmen der Darstellung des Dilemmas in der Kinder- und Jugendhilfe zu Berufsgruppen gezogen wurden, denen ähnliche Abwägungsprozesse abverlangt werden.774 Situation im Umweltrecht Zunächst sind die bereits bei der Herleitung der Garantenstellung herangezogenen Verhältnisse im Umweltrecht vergleichend zu beleuchten. Meinungsstand Im Umweltrecht ist allgemein anerkannt, dass nicht ohne weiteres seitens der Strafjustiz in die Beurteilungs- bzw. Ermessensspielräume der Amtswalter eingegriffen werden darf.775 Noch nicht völlig geklärt ist hingegen, ob sich die Möglichkeit strafrechtlicher Ahndung lediglich auf Konstellationen beschränkt, in denen das Ermessen „auf Null reduziert“ ist, oder ob bereits Fehler im Rahmen der Ausübung des Beurteilungs- bzw. Ermessensspielraums einen Unrechtsvorwurf zu begründen vermögen, wie zum Beispiel ein Ermessensausfall.776 771

Rühl, JuS 1999, 524. Rühl, JuS 1999, 523. 773 Rühl, JuS 1999, 524. 774 Siehe hierzu Teil 1 F. 775 Vgl. S/S/Cramer/Heine, Vorbem. §§ 324 ff., Rn. 29 m.w. N. 776 Für eine Beschränkung GenStA Hamm NStZ 1984, 219 f. m. insoweit zust. Anm. Zeitler; GenStA Zweibrücken MDR 1984, 1042; Winkelbauer, NStZ 1986, 152. Vgl. auch BGHSt 38, 335 f. (In dem Fall ging es jedoch nicht um den Amtswalter einer Umweltbehörde, sondern um den Bürgermeister einer Gemeinde); wohl auch Rudolphi, Dünnebier-FS, S. 581; ders., NStZ 1984, 199; aA Horn, NJW 1981, 7. Zurückhaltend auch das LG Bremen NStZ 1982, 164 f.: „Wenn mithin ein Amtsträger in Gestalt eines Unterlassungsdelikts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden soll, muss er in seiner Amtsträgerschaft zumindest die Grenzen ordnungsgemäßer Verwaltungstätigkeit überschritten haben, d. h. aus unsachlichen und willkürlichen Gründen untätig geblieben sein.“ (Hervorhebungen nicht im Original) m. insoweit krit. Anm. Möhrenschlager. Krit. gegenüber einer Beschränkung auf bestimmte Ermessensfehler 772

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen Sangenstedts. Er wirft als Anhänger der wohl herrschenden Ansicht, die eine Strafbarkeit nur bei einer Ermessensreduzierung „auf Null“ in Betracht zieht, die Frage auf, inwiefern Weisungen von Vorgesetzten das Ermessen auch in strafrechtlicher Hinsicht zu begrenzen vermögen.777 Seiner Ansicht nach haben diese bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Amtswalters als reine Verwaltungsinterna778 außer Acht zu bleiben.779 Stellungnahme Auf den ersten Blick scheint insbesondere die Ansicht, die eine Strafbarkeit nur im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null annimmt, ohne weiteres sinngemäß auf die Lage von Sozialarbeitern in der Kinder- und Jugendhilfe übertragbar.780 Indes erklärt sich der besonders restriktive Standpunkt vor allem damit, dass bereits die Entstehung einer Garantenposition der Amtswalter von einer solchen Einschränkung der Entscheidungsmöglichkeiten abhängig gemacht wird und in diesem Zusammenhang nicht eindeutig zwischen den Voraussetzungen der strafrechtlichen Einstandspflicht und den besonderen Anforderungen an die vorzunehmende Handlung getrennt wird.781 Da bei der Beurteilung des Verhaltens von Jugendamtsmitarbeitern eine solche Ermessensreduzierung jedoch – wie bereits ausgeführt – nicht notwendig ist, um eine Beschützergarantenstellung zu begründen,782 können diese Aussagen nicht unmittelbar zur Ermittlung der Reichweite strafrichterlicher Prüfungskompetenz herangezogen werden. auch Schünemann, wistra 1986, 239: „dogmatisch indiskutabel“. Seine Kritik resultiert daraus, dass er bereits im Rahmen der Entstehung von Garantenstellungen sehr restriktiv verfährt; s. dazu S. 244 a. a. O. („. . . dogmatisch unsaubere(n) Vermengung von Handlungspflicht und Schuldausmaß“). 777 Sangenstedt, Garantenstellung, S. 685 f. 778 Zu diesem Argumentationstopos im Rahmen der Frage nach dem möglichen Ende der Garantenstellung des Jugendamtsarbeiters bei bestimmten Weisungen des Vorgesetzten, oben Teil 2 A. II. 2. e) (3) (f). 779 Sangenstedt, Garantenstellung, S. 690. In verwaltungsrechtlicher Hinsicht hat der BayVGH jedoch kürzlich entschieden, dass die Befolgung einer Weisung dann keinen Ermessensausfall begründet, wenn die Weisung auf einer sachgerechten Ermessensausübung beruht (BayVBl. 2005, 50). 780 Dies tut offensichtlich H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 211 f. (Hierfür spricht insbesondere der Umstand, dass er in Fn. 98 auf S. 212 den hier im Rahmen der Garantenstellung angeführten Aufsatz von Pawlik (ZStW 111 (1999), 355) zur Garantenstellung von Polizisten zitiert.). 781 Siehe bereits die Ausführungen oben Teil 2 A. II. 2. d) (dd) (g). 782 Vielmehr genügt bereits, wie oben Teil 2 A. II. 2. d) (cc) ausgeführt, die tatsächliche Übernahme der professionell übernommenen Schutzpflicht.

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Es kann daher lediglich die Grundaussage, dass Ermessens- und Beurteilungsspielräume der Behörden nicht durch das Strafrecht unterlaufen werden dürfen, für die Frage nach dem Umfang der Justitiabilität jugendamtlichen Verhaltens als bestätigt angesehen werden. Meinungsbild im Unterbringungsrecht Wie steht es mit der weiteren „Paralleldisziplin“ verwaltungsrechtlicher Tätigkeit, dem Unterbringungsrecht, bei dem zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und der Sicherheit der restlichen Bevölkerung abgewogen werden muss? Aussagen des BGH im „Freigängerfall“ Sachverhalt783 Sichtet man die neueste Judikatur zu diesem Themenkomplex, dann stößt man auf den bereits an mehrfach angeführten „Freigängerfall“, den der BGH im Jahr 2003 zu entscheiden hatte. Hier wurde der Straftäter S, der bereits vor der Wiedervereinigung untergebracht worden war, nachdem er u. a. schwere Sexualdelikte, Körperverletzungen und Diebstähle begangen hatte, seit dem 3.10.1990 auf der Grundlage des BbgPsychKG784 in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik behandelt. Am 15.11.1997 und am 20.12.1997 flüchtete er jeweils aus der Klinik, indem er die maroden Gitterstäbe des unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes auseinanderbrach und sich mithilfe verknoteter Bettwäsche abseilte. Beide Male wurde erfolgreich nach ihm gefahndet. Am 7.2.1998 kehrte S von einem unbeaufsichtigten Ausgang nicht in die Klinik zurück und beging im Verlauf seines verbotenen Aufenthalts Wohnungsdiebstähle zum Nachteil betagter Frauen. Die behandelnden Ärzte sahen hierin keinen Zusammenhang zu den Taten, welche die Unterbringung begründet hatten, hegten aber Zweifel an der Therapiefähigkeit ihres Patienten und regten gegenüber dem Vormundschaftsgericht die Aufhebung des Unterbringungsbefehls an. Dazu kam es aber nicht mehr.

783

Vgl. BGHSt, 49, 1 ff. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch Kranke des Landes Brandenburg vom 8.2. 1996. 784

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Obwohl eine Ärztin des Krankenhauses am 1.10.1998 die behandelnden Ärzte gewarnt hatte, es bestehe bei dem S Fluchtgefahr, gewährten diese ihm trotzdem am 4.10.1998 unbeaufsichtigten Ausgang, von dem er nicht mehr in die Klinik zurückkehrte. Zwischen dem 28.12.1998 und dem 7.6.1999 beging S u. a. acht gefährliche Körperverletzungen und zwei Morde an hochbetagten Frauen. Entscheidung des BGH Der BGH verneinte die vom erstinstanzlich zuständigen LG Potsdam angenommene Unterbrechung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs und verwies die Sache deshalb zurück.785 In einem obiter dictum äußerte er sich jedoch zur Beurteilung der Pflichtwidrigkeit. Unter der Prämisse, dass der untergebrachte Straftäter tatsächlich – wie von § 15 Abs. 3 BbgPsychKG vorausgesetzt – therapierbar gewesen sei, der Ausgang also den Regeln der psychiatrischen Kunst entsprochen hätte, sei den Ärzten bezüglich der Beurteilung der Missbrauchsgefahr ein prognostischer Beurteilungsspielraum eröffnet gewesen.786 Innerhalb dieses Rahmens hätten mehrere vertretbare Entscheidungen getroffen werden können. Als pflichtwidrig im strafrechtlichen Sinne sei eine im Ergebnis falsche Prognose nur dann zu deklarieren, „. . . falls auf relevant unvollständiger Tatsachengrundlage oder unter unrichtiger Bewertung der festgestellten Tatsachen die Missbrauchsgefahr verneint“787 worden sei. Reaktionen auf den „Freigängerfall“ in der Literatur Ansicht von Pollähne Pollähne zufolge hat der BGH mit diesem Urteil „. . . erste – wenn auch noch vage – Regeln der kriminalprognostischen Kunst benannt“.788 Maßgebend sei konkret, dass alle zur Erstellung der Prognose erforderlichen Daten erhoben und dokumentiert würden, wobei ein – freilich nicht schemati-

785

BGHSt 49, 1, 5. BGHSt 49, 1, 6. Vgl. auch bereits die – allerdings auf das Strafvollzugsrecht bezogene – Entscheidung BGHSt 30, 320, 324 ff. Hierin wird ein Beurteilungsspielraum der Strafvollstreckungsbehörden angenommen. 787 BGHSt 49, 1, 6; insoweit zustimmend Roxin, Anm. StV 2004, 487. (Roxin meint jedoch auf S. 488 a. a. O., dem Urteil seien keine Anhaltspunkte für ein berufsgerechtes Verhalten der Ärzte zu entnehmen.) 788 Pollähne, JR 2004, 436. 786

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scher, sondern an den Besonderheiten des Einzelfalls orientierter – Rückgriff auf wissenschaftlich fundierte Beurteilungsinstrumente zulässig sei.789 Auf der Basis der hierdurch gewonnenen Erkenntnisse müssten dann die richtigen Schlüsse gezogen werden, wobei Pollähne darauf hinweist, „. . . dass sich deren ,Richtigkeit‘ nicht ex post aus dem Eintreffen resp. Nichteintreffen des Vorhergesagten ergibt (. . .), sondern danach (. . .), ob der Schluss von der Anamnese auf die Prognose ex ante dem fachlichen und erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisstand gemäß zumindest vertretbar war (evidence based prognosis).“790 Ansicht von Saliger Saliger versucht in seiner grundsätzlich zustimmenden Anmerkung zu dem Urteil des BGH dessen Aussagen zum Beurteilungsspielraum in seinem Sinne zu präzisieren.791 Der Konflikt zwischen den beiden Zielen des Maßregel- und Unterbringungsvollzugs – Schutz der Allgemeinheit und Wiedereingliederung des Straftäters – dürfe nicht auf dem Rücken der Ärzte ausgetragen werden. Aus diesem Grund sei der Beurteilungsspielraum weit zu fassen, eine Strafbarkeit für rückblickend fehlerhafte Entscheidungen werde daher erst „. . . durch erhebliche Pflichtverletzungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet.“792 Speziell im Hinblick auf die vom BGH angeführte „relevant unvollständige Tatsachengrundlage“ meint er, diese sei klarer mit dem Begriff der „erheblichen Unvollständigkeit“ zu kennzeichnen.793 Bezüglich der zweiten vom BGH angesprochenen Fallgruppe, der unrichtigen Bewertung der festgestellten Tatsachen, moniert er, dass das Gericht sich nicht auf spezifische Bewertungsfehler beschränkt habe. Damit jedoch die ursprünglich angenommene Existenz des prognostischen Beurteilungsspielraums im Ergebnis nicht konterkariert werde, sei es vonnöten, die Strafbarkeit auf „erhebliche unrichtige Bewertungen der festgestellten Tatsachen“ zu begrenzen.794

789 Pollähne, JR 2004, 436. Er weist in Fn. 105 u. a. auf die Ausführungen des Westfälischen Arbeitskreises „Maßregelvollzug“ (NStZ 1991, 64 ff.) hin. 790 Pollähne, JR 2004, 436. Ähnlich Neubacher, Jura 2005, 860 f. 791 Vgl. Saliger, JZ 2004, 978 im Hinblick auf die vom BGH vorgegebenen Leitlinien: „. . . sachgerecht, aber präzisierungsbedürftig“. 792 Saliger, JZ 2004, 978 (Hervorhebungen im Original). 793 Saliger, JZ 2004, 978. 794 Saliger, JZ 2004, 978.

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Stellungnahme Die Parallele zwischen der Situation von Anstaltsärzten, Umweltbeamten und Sozialarbeitern ist vorliegend nicht zum ersten Mal herausgearbeitet worden. Vielmehr haben dies H.-J. Albrecht 795 und Wessels/Beulke796 schon vor der Entscheidung des BGH im „Freigängerfall“ getan. So meinen Wessels/Beulke, Prognoseentscheidungen könnten, „. . . selbst wenn sie sich im Ergebnis als falsch erweisen, sorgfaltspflichtgemäß sein, wenn sie fehlerfrei zustande gekommen sind, insbes. wenn die Tatsachen richtig ermittelt und allgemeingültige Wertungsmaßstäbe beachtet werden . . .“.797 H.-J. Albrecht kommt nach einer Darstellung der Dilemmata im Umwelt- und Unterbringungsrecht zu dem Ergebnis, wende man die bisherige Rechtsprechung zu den Vollzugslockerungen an, dann gelange man zu einer Prüfung, „. . . die der Kontrolle von Verwaltungsermessen entspricht“.798 Zu beachten ist jedoch, dass die letztgenannte Aussage im Ergebnis zu pauschal ist. Wie gezeigt wurde, übertragen der BGH wie auch der überwiegende Teil der Literatur sowohl zum Unterbringungs- wie auch zum Umweltrecht die verwaltungsrechtlichen Lehren zum Beurteilungsspielraum nicht unbesehen auf das Strafrecht, sondern verengen den Prüfungsspielraum nochmals – eine Strategie, die uneingeschränkte Zustimmung verdient, weil sie der unterschiedlichen Rolle dieses Rechtsinstituts innerhalb des StGB und des SGB VIII Tribut zollt. Die Verwaltungsrechtswissenschaft trägt dem in Art. 19 Abs. 4 GG angeordneten Prinzip der grundsätzlichen Justitiabilität exekutivischer Entscheidungen Rechnung, wenn sie die Fälle möglichst gering zu halten sucht, in denen ein Verhalten der Exekutive nicht vollständig gerichtlich überprüft werden kann.799 Grundsätzlich soll ein verwaltungsrechtliches Handeln revidiert werden können, sofern es Grundrechte beeinträchtigt. Würde man dieses Bestreben gleichsam in das Strafrecht projizieren, so bedeutete dies gerade einen Verstoß gegen diese Maxime: namentlich gegen das ebenfalls auf dem Rechtsstaatsgrundsatz in seiner Ausprägung als Verhältnismäßigkeitsgebot fußende ultima-ratio-Prinzip800. Folglich darf nicht bei jedwedem verwaltungsrechtlichen Beurteilungsfehler zugleich das Urteil strafrechtlicher Sorgfaltswidrigkeit gefällt werden.

795

H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 187 ff. Wessels/Beulke, 33. Aufl., Rn. 670. 797 Wessels/Beulke, 33. Aufl., Rn. 670; zust. Bringewat, KJ 2006, 242. 798 H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 211. In den darauffolgenden Ausführungen konzentriert er sich freilich auf die Ermessensreduzierung „auf Null“. 799 Vgl. dazu Maurer, AT, § 7, Rn. 34 ff., 62. 800 Siehe hierzu Roxin, AT I, § 2, Rn. 28 f. sowie Wessels/Beulke, Rn. 9. 796

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Vielmehr ist, anders im Verwaltungsrecht, von einer im Grundsatz großzügigen Auslegung von Beurteilungsspielräumen und von einer Beschränkung auf die Justitiabilität bestimmter Beurteilungsfehler auszugehen.801 Folgerungen Welche praktischen Konsequenzen zeitigen diese theoretischen Aussagen nun konkret? Angesichts der bereits in § 1 SGB VIII dem Sozialarbeiter ausdrücklich aufgegebenen Abwägungsentscheidung ist es als wesentlicher Verstoß gegen die Rechtsordnung anzusehen, wenn dieser sich des Erfordernisses einer Abwägung überhaupt nicht bewusst geworden, wenn also – in der verwaltungsrechtlichen Terminologie gesprochen – ein sogenannter „Beurteilungsausfall“ anzunehmen ist.802 Ein maßgebendes Indiz gegen einen derartigen Ausfall stellt es dar, wenn der Jugendamtsmitarbeiter den konkreten Sachverhalt mit seinen Kollegen im Team bespricht und dabei das Für und Wider bestimmter Strategien erörtert.803 Wegen der gefährdeten Rechtsgüter von Leib und Leben des Kindes ist es überdies als ein wesentlicher, strafrechtliche Sanktionen legitimierender Beurteilungsfehler anzusehen, wenn der Sozialarbeiter aus willkürlichen Gründen (z. B. weil finanzielle Mittel knapp waren) nicht gefahrabwehrend tätig wird, oder wenn eine wesentliche Fehlgewichtung der widerstreitenden Interessen stattfindet. Schließlich erscheint es dann unabdingbar, strafrechtliche Sanktionen zuzulassen, wenn in einer Konstellation die Beurteilungsspanne „auf Null reduziert“ ist, wenn also erkennbar nur eine mögliche Maßnahme zur Verbesserung der Situation des Kindes geeignet ist und diese nicht genutzt wird.804 Nicht richtig erscheint es hingegen, jedwede (ex post häufig anzutreffende) Beurteilungsfehleinstellung als justitiabel einzustufen, weil damit im Ergebnis der verwaltungsrechtliche Beurteilungsspielraum konterkariert und das Abwägungsgebot de facto beseitigt würde.

801 Abzulehnen sind demnach die „Alternativüberlegungen“ zum Fall „Laura Jane“ von Frings, JWohl 1997, 182 f. 802 Vgl. dazu auch Horn, NJW 1981, 7. 803 Insofern hat Bringewat, ZfJ 2000, 408, Recht, wenn er von der strafbarkeitseinschränkenden Wirkung des Hilfeplanverfahrens spricht. 804 In diesem Sinne wohl auch Mörsberger in: Saarbrücker Memorandum, S. 108: „Ein wirklicher Vorwurf darf fairerweise aber nur erhoben werden, wenn ein anderes als das gewählte Vorgehen verpflichtend gewesen wäre.“

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(cc) Sogenannte Verkehrsnormen805 Ein weiteres Orientierungsmoment bei der Ermittlung einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung bilden neben den Sondernormen die sogenannten Verkehrsnormen. (a) Existenz Die „Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls“ des Deutschen Städtetages im April 2003806, also vor dem Inkrafttreten des KICK, stellen ein Regelwerk dar, das zwar mangels entsprechender Gesetzgebungskompetenz des Deutschen Städtetages807 nicht die Rechtsverbindlichkeit einer Norm besitzt,808 das jedoch ebenfalls ein fachlichen Anforderungen genügendes Handeln bei Kindeswohlgefährdungen indiziert.809 Zwar sind nunmehr seit dem 1.10.2005 entsprechende Handlungsvorgaben durch § 8a SGB VIII im Gesetz verankert. Indes bewogen den Gesetzgeber hierzu nach eigener Aussage810 die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, so dass diese – im Vergleich zu den gesetzlichen Neuerungen viel umfangreicheren – Regelungen auch künftig zur Ermittlung sorgfältigen Handelns herangezogen werden können. Zwar hat auch der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e. V. (DBSH) ein „Berufsbild für Diplom-Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter“ veröffentlicht811 – jedoch enthält dieses keine konkreten Handlungsvorgaben.

805 Vgl. dazu allgemein Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 50 ff.: Er versteht unter diesem Terminus schriftlich fixierte Verhaltensregeln und führt in diesem Zusammenhang unter anderem exemplarisch „Skiregeln“ an. Weitere Beispiele bei Roxin, AT I, § 24, Rn. 18. 806 Abgedruckt in ZfJ 2004, 187 ff. sowie im Anhang. 807 Der Deutsche Städtetag ist ein kommunaler Spitzenverband, der die Interessen seiner Mitgliedsstädte vertritt. 808 Vgl. insoweit bereits den Titel „Empfehlungen“. 809 Zu weiteren, regional begrenzten Ansätzen, Standards im Zusammenhang mit dem Verhalten bei Kindeswohlgefährdungen festzusetzen, sowie zu den „Waldliesborner Thesen“ auf dem Gebiet der Haftung von Psychiatern bei Lockerungsentscheidungen, siehe die Ausführungen bei Teil 1 A. IX sowie bei F. 810 Vgl. dazu Wiesner/Schindler/Schmid, Einführung, S. 69, Rn. 2. 811 Abrufbar unter http://www.dbsh.de/Berufsbild.pdf (Stand: 20.6.2005).

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(b) Strafrechtliche Relevanz Zu beachten ist, dass der Indizcharakter derartiger „Verkehrsnormen“ gegenüber dem der sogenannten Sondernormen nochmals herabgesetzt ist812, da die erlassenden Stellen nicht die Autorität des Gesetzgebers genießen.813 Die Verkehrsnormen sind deshalb an den durch den Gesetzgeber erlassenen Normen zu messen und, sofern ein Verstoß festzustellen ist, als unbeachtlich anzusehen. (g) Inhalt der Empfehlungen des Deutschen Städtetages Sind nun die hier untersuchten Fälle, die vor dem Bekanntwerden der Empfehlungen des Deutschen Städtetages stattfanden, an deren Vorgaben gemessen als sorgfaltspflichtwidrig zu charakterisieren? Die Empfehlungen konnten bei den Gerichten – da die untersuchten Fälle überwiegend vor deren Veröffentlichung im April 2003 stattfanden – naturgemäß keine Berücksichtigung finden. Da sie jedoch einen Ausdruck sorgfaltsgemäßen sozialarbeiterischen Handelns darstellen, können sie der Sache nach nichtsdestotrotz auf die vorgestellten Fälle angewendet werden. Bezüglich der unterbliebenen Unterrichtung des Stuttgarter Jugendamts nach dem Umzug der Familie im Fall „Jenny“ ist auf Nr. 3.6814 der Empfehlungen zu verweisen.815 Legt man die hierin statuierte Verpflichtung zur umfassenden Information der in die Betreuung eintretenden Fachkraft zugrunde, so spricht dies für eine Pflichtwidrigkeit des Lüneburger Sozialarbeiters.

812 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 52, Fn. 38 moniert, dass in der Bundesrepublik häufig nicht zwischen Normen und bloßen „Verkehrsnormen“ unterschieden wird. 813 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 51 („Beiweisanzeichen“); Roxin, AT I, § 24, Rn. 19. Im Fall „Laura Jane“, bei dem nach Angaben des Sachverständigen Schrapper (abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 42) sowie des Urteils des LG Osnabrück (NStZ 1996, 439) sogenannte Arbeitshilfen existierten, wurden diese denn auch weder vom AG Osnabrück noch vom OLG Oldenburg explizit herangezogen. Sie fanden lediglich mittelbar als Bestandteil des Sachverständigengutachtens Berücksichtigung. 814 Diese lautet: „Die abgebende Fachkraft hat die Fallübergabe an die übernehmende Fachkraft so zu gestalten, dass sich die übernehmende Fachkraft darauf verlassen kann, alle relevanten Informationen, insbesondere solche zu erhalten zu haben, die die Möglichkeit einer zukünftigen Kindeswohlgefährdung nahe legen . . .“ (ZfJ 2004, 190 f., vgl. auch den Abdruck im Anhang). 815 So auch Fieseler, ZfJ 2004, 179, der dies jedoch im Rahmen der Frage diskutiert, ob die Fälle auch bei Einhaltung der Empfehlungen so abgelaufen wären, der also nicht auf die Sorgfaltspflichtwidrigkeit, sondern eher auf die Vermeidbarkeit und damit den Pflichtwidrigkeitszusammenhang rekurriert.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Mit Blick auf die im Fall „Laura Jane“ relevant gewordenen Pflichten bei der Delegation der Betreuung einer Familie erscheint Nr. 3.7816 des Katalogs einschlägig. Diese Pflichtverletzung ist nicht eindeutig festzustellen. Zwar waren in den Leistungsvereinbarungen keine Regelungen zum Schutz des Kindes enthalten, indes hatte die Sozialarbeiterin auf den Abschluss der Vereinbarung kaum einen Einfluss. Im Zusammenhang mit dem Fall „Dominic“ ist schließlich darauf zu verweisen, dass nach Nr. 3.12817 für gewöhnlich ein Hausbesuch vorgenommen werden soll, um die Gefährdungslage des Kindes zu klären. Hier könnte eine Pflichtverletzung darin zu erblicken sein, dass die Sozialarbeiterin trotz Anzeichen für eine akute Kindeswohlgefährdung infolge der Drogensucht der Mutter nicht unverzüglich einen Hausbesuch vornahm. (dd) „Differenzierte Maßfigur“818 (a) Allgemeines Aufgrund des bloßen Indizcharakters von Sonder- und Verkehrsnormen ist zusätzlich zu deren Prüfung danach zu fragen, wie sich ein gewissenhafter und besonnener Mensch, der dem Verkehrskreis des Täters angehört, in der konkreten Situation verhalten hätte.819 In diesem Zusammenhang werden häufig die Regeln bestimmter Berufsgruppen relevant, wie zum Beispiel die Regeln der ärztlichen Kunst.820

816 Deren Wortlaut ist: „Wird (. . .) die Leistung durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht, setzt dies eine Leistungsvereinbarung voraus, die stets auch Vereinbarungen über Handlungspflichten des freien Trägers zum Schutz des Kindes beinhaltet (. . .). Die einzelfallzuständige Fachkraft des leistungsgewährenden Trägers hat nunmehr die Kontrollpflicht, dass die Fachkraft des freien Trägers die zu erbringende Leistung an den im Hilfeplan festgelegten fachlichen Anforderungen und Zielrichtungen ausrichtet.“ (ZfJ 2004, 191, vgl. auch den Abdruck im Anhang). 817 Diese lautet: „Um die Bedeutung der Mitteilung einschätzen und bewerten zu können, ist in der Regel ein Hausbesuch zur Kontaktaufnahme zur Familie notwendig. (. . .) Gibt es Anhaltspunkte für eine gegenwärtige oder akut drohende Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung, so ist der Hausbesuch unverzüglich durchzuführen . . .“ (ZfJ 2004, 188, vgl. auch den Abdruck im Anhang). 818 Dieser Begriff wurde von Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 54 ff. geprägt. Siehe hierzu auch Roxin, AT I, § 24, Rn. 32 f. 819 Kudlich, PdW, S. 139 f.; Wessels/Beulke, Rn. 672. 820 Siehe dazu umfassend S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 219.

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(b) Rolle der „Fachlichkeit“821 Daher verwundert es nicht, dass in den hier untersuchten Strafverfahren die Frage eine große Rolle spielte, ob der/die beschuldigte Sozialarbeiter/-in die „Regeln der sozialarbeiterischen Kunst“822 eingehalten hatte.823 Doch was genau ist unter einem Verhalten zu verstehen, das den Regeln einer bestimmten Profession entspricht? Und welche Bedeutung kommt diesem bei der Fahrlässigkeitsfrage zu? (g) Meinungsbild in der Fachwelt Hiermit ist ein Thema angesprochen, das auch in den Publikationen, die sich mit den eingangs vorstellten Urteilen befassen, eine wesentliche Position einnimmt. Ansicht von Bringewat Bringewat schließt sich der herrschenden Ansicht an, welche die Sorgfaltspflichten grundsätzlich objektiv bestimmen will. Wie Roxin meint er jedoch, Sonderwissen beeinflusse bereits die Definition des Sorgfaltsmaßstabs. Für ihn folgt daraus, dass von den Jugendamtsmitarbeitern „standardisierte Sonderfähigkeiten“ zu fordern sind.824 821 Nach Kreft, UJ 2004, 363 zu definieren als „Gebot, das Handeln in den vielen unterschiedlichen Arbeitsfeldern nach den jeweiligen aktuellen fachlichen Standards auszurichten und (idealtypisch) immer nach den neuesten „Regeln der sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Kunst“ zu handeln“. Vgl. auch Wabnitz, Handbuch SGB VIII-KJHG, S. 7, der im Vorwort das SGB VIII als „geronnene Fachlichkeit“ bezeichnet. 822 Sofern man nicht – wie Bringewat dies in Sozialpädagogische Familienhilfe auf S. 100 in Fn. 31 tut – bereits die Existenz einer „sozialarbeiterischen Kunst“ leugnet („. . . haben die dafür zuständigen Professionen m. E. bislang nicht bzw. allenfalls in Ansätzen entwickelt“; krit. dazu Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 4); zurückhaltend auch Fieseler, UJ 2001, 435 und Wiesner, ZfJ 2004, 169: „. . . zu konzedieren, dass in der Sozialarbeit anders als etwa in der Medizin die Entwicklung (. . .) fachlicher Standards noch in den Kinderschuhen (steckt)“. Eine Parallele wird in diesem Zusammenhang zu den Lockerungsentscheidungen im Maßregelvollzug ersichtlich, siehe hierzu Grünebaum, Strafbarkeit, S. 93 („Die unterentwickelte lex artis in der forensischen Psychiatrie“. Grünebaum konstatiert jedoch Minimalstandards S. 57 a. a. O.). Interessant auch der Titel der Publikation des Deutschen Städtetages (in ZfJ 2004, 187 ff. sowie im Anhang abgedruckt): „Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Standards . . .“ (Hervorhebungen nicht im Original). 823 So wurde der Einwand in den Verfahren „Laura Jane“, „Jenny“ und „Tanja“ von der Verteidigung stets erhoben; vgl. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 81. 824 Bringewat, ZfJ 2000, 405 (in Anlehnung an Jescheck/Weigend, AT, § 54 I 3); ders., Strafrechtliche Risiken, S. 28 f.; ders., Tod eines Kindes, S. 97; ders., KJ 2006, 240.

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Diese seien weder mit dem Terminus „Fachlichkeit“ noch mit „fachlichen Standards“ gleichzusetzen, da die strafrechtliche Sichtweise rechtsguts- und situationsbezogen sei. Zwar enthielten zahlreiche Verhaltensstandards anderer Professionen wie zum Beispiel die Regeln der ärztlichen Kunst und Installationsnormen bei technischen Berufen bereits die strafrechtliche Zielstellung der Verhinderung von Rechtsgutsverletzungen. Zweifelhaft sei jedoch, ob dies auch hinsichtlich der Standards auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts der Fall sei.825 Bringewats Fazit lautet, dass im Einzelfall das Strafrecht mehr als die Einhaltung der Standards verlangen könne – „. . . jedenfalls überall dort, wo die Verhinderung von Rechtsgutsverletzungen bzw. die Abwehr von Gefahren für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter nicht selbst zur ,Fachlichkeit‘ der beruflichen Arbeit gehört.“826 Speziell im Grenzbereich der Eingriffsschwelle des Staats im Zusammenhang mit der Gewährung von Hilfen zur Erziehung sei fachlich vertretbar sei nur das, was die Gefährdung des Kindeswohls in Gestalt von Verletzungsgefahren für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter der betroffenen Kinder und Jugendlichen verhindere bzw. beseitige.827 Standardisierte Sonderfähigkeiten könnten den Maßstab lediglich schärfen, nicht aber relativieren.828 Ansicht von Meysen Meysen interpretiert die Aussagen Bringewats in dem Sinne, dass „fachliche Standards sozialer Arbeit (. . .) für die konkrete Strafbarkeitsfrage keine Relevanz haben“, sodass „. . . in der logischen Konsequenz (. . .) damit die Strafjustiz die uneingeschränkte Letztentscheidungskompetenz über die Beurteilung von ,Richtig‘ und ,Falsch‘ in der Kinder- und Jugendhilfe“ besitzt.829 Er selbst – wie auch das im Fall „Laura Jane“ befasste Landgericht Osnabrück830 – steht auf dem Standpunkt, dass rechtmäßiges Verwaltungshandeln 825

Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 29. Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 100; ders., ZfJ 2000, 405; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 29. 827 Bringewat, ZfJ 2000, 407. 828 Bringewat, KJ 2006, 240 f. 829 Meysen, ZfJ 2001, 408 f. Hierin sieht er eine „ungesunde Verengung des Blickwinkels“ (S. 409 a. a. O.). Siehe auch Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 105: Seiner Ansicht nach haben die strafgerichtlichen Entscheidungen in den Fällen „Laura Jane“ und „Jenny“ den Eindruck erweckt, als ob die Strafjustiz eigene Vorstellungen im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen durchsetzen wolle. 830 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (a) (bb). 826

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nicht strafbar sein kann. Ein sekundäres Sanktionensystem könne keinen Einfluss auf die verwaltungsrechtliche Primärebene zeitigen.831 Ein „Einheitsgebot“, welches ein solches „Durchgreifen“ des Strafrechts auf das Sozialrecht bewirken könne, sei weder dem Grundgesetz noch der Rechtsordnung in toto zu entnehmen.832 Vielmehr folge aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit der Grundsatz der „Verwaltungsakzessorietät“, das heißt Wertungen des Verwaltungsrechts seien auch für den Strafrichter bindend.833 In der Strafrechtswissenschaft bestehe Einigkeit darüber, dass rechtmäßiges Verwaltungshandeln nicht strafbar sei. Daher stelle es eine „Vorfrage“ der Prüfung der Strafbarkeit von Jugendamtsmitarbeitern dar, ob deren Verhalten unter verwaltungsrechtlichem Gesichtspunkt als rechtmäßig zu qualifizieren ist. Meysen betont die Bedeutung der ex-ante-Perspektive und meint, auf dieser Grundlage könne dem Jugendamtsmitarbeiter allenfalls vorgeworfen werden, dass er die notwendigen Informationen nicht eingeholt, die Situation falsch eingeschätzt oder die falschen Konsequenzen aus seiner Diagnose gezogen habe.834 Entgegnung Bringewats Bringewat entgegnet auf die Aussagen Meysens, dessen Meinung „. . . mag bestimmtem „positionsträchtigen“ Wunschdenken in der Kinder- und Jugendhilfe entsprechen, gehe aber an der Realität notwendiger strafrechtlicher Kontrolle beruflich verursachter Rechtsgutsverletzungen (. . .) vorbei.“835 Indes habe dieser insoweit Recht, als ein Verhalten nicht verboten sein könne, das kinder- und jugendhilferechtlich geboten gewesen sei.836 Das sei aber auch nicht zu befürchten, denn zwischen dem Strafrecht und dem Kinder- und Jugendhilferecht bestehe „. . . zielperspektivisch kein Unterschied“.837 831 Meysen, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 37; ebenso Schrapper in: Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 53. 832 So aber Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 4 und Fieseler, UJ 2001, 435, die freilich umgekehrt die strafbarkeitsbegrenzende Wirkung der Rechtsfigur betonen. 833 Ebenso LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a; Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 105. Vgl. auch Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 5 a. a. O.: „Die Jugendhilfe steht (. . .) nach dem geltenden Gesetzes- und Verfassungsrecht nicht unter der Vormundschaft der Strafjustiz.“ 834 Meysen, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 37. 835 Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 27. 836 Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 29. 837 Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 30.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Sofern sich ein Jugendamtsmitarbeiter strafrechtlich für den Tod eines Kindes zu verantworten habe, habe er auch in verwaltungsrechtlicher Hinsicht nicht rechtmäßig agiert.838 Ansicht von Beulke/Swoboda Auf der Linie Bringewats argumentieren auch Beulke/Swoboda. Sie meinen, grundsätzlich habe sich das Strafrecht nicht an das Verwaltungsrecht bzw. an sozialpädagogische Standards anzupassen, jedoch müsse sein ultima-ratioCharakter gewahrt bleiben. Daher sei es zwar Sache des Sozialarbeiters zu entscheiden, was im Rahmen des Betreuungsverhältnisses zu unternehmen sei839 – letztlich bilde jedoch das Strafrecht den bindenden Maßstab.840 Allerdings würden fachliche und strafrechtliche Maßstäbe im Regelfall dieselben Sorgfaltsanforderungen bedingen, da wegen der verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Regelungen auch im Rahmen der Fachlichkeit das Kindeswohl eine zentrale Rolle spiele. Sofern eine fehlerfrei zustande gekommene Prognose sich letztlich als falsch erweise, könne hieraus niemals ein Fahrlässigkeitsvorwurf resultieren.841 Eine Strafbarkeit sei jedoch dann denkbar, wenn – wie im Fall „Laura Jane“ – der längerfristigen familiären Entwicklung der Vorzug vor dem unmittelbaren Schutz von Leib und Leben des Kindes gegeben worden sei.842 In dieser Konstellation hätte es zwar möglicherweise fachlichen Standards entsprochen, dass der eigenverantwortlichen Lebensführung der Mutter Respekt gezollt wurde – aus strafrechtlicher Sicht sei das Verhalten der zuständigen Sozialarbeiterin indes als „schlichtweg unzureichend“ zu bewerten.843 Ein pauschaler Hinweis auf die Einheit der Rechtsordnung verfange in diesem Zusammenhang nicht. Die „Sekundärebene“ könne sich sehr wohl auf die „Primärebene“ auswirken. Es bestehe diesbezüglich kein Nachrangverhältnis des Strafrechts. Fachliche Standards als Sonderfähigkeiten könnten strafrechtliche Sorgfaltsanforderungen lediglich erhöhen, nicht aber unterlaufen.844 Die Ursache für das Spannungsverhältnis zwischen dem Verwaltungs- und dem Strafrecht liege in der Existenz von Beurteilungsspielräumen im SGB VIII. 838 839 840 841 842 843 844

Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 30; ders., Tod eines Kindes, S. 19 ff. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 91. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 92. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 92; s. a. Wessels/Beulke, Rn. 670. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 92. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 92. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 93.

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(d) Stellungnahme Allgemeines Auf den ersten Blick scheinen die Ansichten in der Literatur in zwei feindliche Lager gespalten zu sein. Indes relativiert sich diese Sichtweise bei näherer Betrachtung der Aussagen. So meinen Bringewat und Beulke/Swoboda offensichtlich, dass es begrifflich Standards des Kinder- und Jugendhilferechts geben könne, die strafrechtlichen Wertungen zuwiderlaufen, da sozialarbeiterisches Verhalten grundsätzlich längerfristig angelegt sei. Standards könnten aber nur dann Relevanz im Rahmen der Beurteilung der Fahrlässigkeit erlangen, wenn sie mit den strafrechtlichen Wertungen übereinstimmten.845 Meysen und dessen Anhänger definieren die Fachlichkeit hingegen bereits im Hinblick auf die Übereinstimmung mit der sonstigen Rechtsordnung.846 Die Kontroverse entpuppt sich daher in erster Linie als Kommunikationsproblem zwischen dem Öffentlichen Recht und dem Strafrecht. Bezüglich des Ergebnisses sprechen die Vertreter beider Rechtsgebiete durchaus mit einer Stimme. Sie sind sich einerseits dahingehend einig, dass es keine autonome „Fachlichkeit“ geben kann, die abgekoppelt von den Vorgaben des SGB VIII existiert. Andererseits besteht ein Konsens darüber, dass das Strafrecht die Prämissen des Kinder- und Jugendhilferechts nicht zu übertrumpfen vermag. Dies kommt in dem allseits wiederholten Satz zum Ausdruck, dass ein Verhalten, welches mit dem SGB VIII zu vereinbaren ist, auch strafrechtlich nicht beanstandet werden kann. Harmonisierung Wie ist es nun rechtsdogmatisch zu erklären, dass „fachliche Standards“ bzw. die „Regeln der fachlichen Kunst“ nach allgemeiner Ansicht in der Strafrechtswissenschaft nur dann Platz greifen können, wenn sie rechtmäßig sind, bzw. dass aus sozialrechtlicher Perspektive ein als rechtmäßig zu deklarierendes Ver-

845 Siehe insoweit nochmals den zweiten Halbsatz des unter Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (dd) (g) widergegebenen Zitats von Bringewat. Freilich ist zu konzedieren, dass es zumindest missverständlich erscheint, wenn Bringewat in seinen früheren Publikationen den Eindruck erweckt, das StGB genieße eine Vorrangstellung gegenüber dem Kinder- und Jugendhilferecht. Vgl. jedoch die Relativierung in Strafrechtliche Risiken auf S. 29 sowie ders., KJ 2006, 241. 846 Vgl. insoweit Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 5, der meint, „selbstverständlich“ müssten fachliche Standards die verfassungsmäßigen Rechte des Kindes respektieren.

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halten die Besorgnis einer strafrechtlichen Verurteilung zu beseitigen vermag? Zur Beantwortung dieser Frage existieren verschiedene Konzepte. Vorrang des Strafrechts? Bringewats Aussagen wurden von einigen, vor allem sozialrechtlich spezialisierten Autoren, so verstanden, dass das Strafrecht die Vorraussetzungen festlege, die ein Sozialarbeiter bei dem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung zu befolgen habe.847 Ein derartiges „Rangverhältnis“ ist jedoch weder der Verfassung noch sonstigen Regelungen zu entnehmen. Vielmehr handelt es sich sowohl beim StGB als auch beim SGB VIII um einfache Bundesgesetze. Es kann daher nicht darum gehen, Kollisionsregeln im Sinne des Art. 31 GG aufzustellen. Dies würde eine „versteckte Gesetzesänderung“ bedeuten, durch die die Strafjustiz den ihr zugedachten Platz in der Rechtsordnung verlassen würde. Einheit der Rechtsordnung? Die von Papenheim und Fieseler favorisierte Lösung über die „Einheit der Rechtsordnung“848 erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Bildhaft gesprochen beinhaltet sie, dass der Gesetzgeber nicht mit der einen Hand ein Verhalten erlauben kann, das er mit der anderen sogleich bestraft. Gegen den Rekurs auf diese Rechtsfigur ist indes einzuwenden, dass bereits deren grundsätzliche Existenz umstritten ist.849 Selbst wenn man wesentlich auf die Argumente abstellt, die zu ihren Gunsten sprechen850, ist ihre Reichweite gerade im Strafrecht nicht geklärt851, sodass sie vorliegend nicht zu eindeutigen Ergebnissen zu verhelfen vermag.

847 Vgl. jedoch in diesem Zusammenhang Fieseler, ZfJ 2004, 178, wonach Bringewat „laut einer mündlichen Mitteilung“ inzwischen „durchaus“ einsieht, dass das SGB VIII den Strafrichter bindet; ähnlich Wiesner, ZfJ 2004, 169. 848 Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 4; Fieseler, UJ 2001, 435. 849 Siehe dazu nochmals die bereits angeführte Kritik von Meysen (oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (dd) (g). Er erachtet das „Einheitsgebot“ im Sinne eines „Durchgreifens“ des Strafrechts auf das Kinder- und Jugendhilferechts, nicht aber – wie die wohl herrschende Meinung – als Gebot, bestimmte Wertungen durch alle Rechtsbereiche hindurch in gleicher Weise zu berücksichtigen) sowie Felix, Einheit der Rechtsordnung. 850 Hierzu Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 9 ff. m. zahlreichen Nachweisen. 851 Vgl. z. B. die unterschiedliche Begriffsbildung im Strafrecht und Bürgerlichen Recht im Zusammenhang mit dem Begriff des Eigentums, dargestellt bei Wessels/ Beulke, Rn. 58.

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Verwaltungsakzessorietät Betrachtet man die Argumentation Meysens, so scheint auch diese auf den ersten Blick einleuchtend: Gestatte der Gesetzgeber der Exekutive im Verwaltungsrecht eine bestimmte Handlung, so sei diese Wertung abschließend und könne folglich auch nicht bestraft werden. Wenn Meysen die bislang vorrangig auf dem Gebiet des Umweltrechts diskutierte852 Akzessorietät auch auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts instrumentalisieren möchte, übersieht er jedoch einerseits, dass diese zum Teil auf das von ihm kritisierte „Gebot der Einheit der Rechtsordnung“ gestützt wird.853 Andererseits vernachlässigt er mit dem pauschalen Verweis auf das Rechtsinstitut, dass hiermit drei separate Teilaspekte – die begriffliche Akzessorietät, die Verwaltungsrechtsakzessorietät sowie die Verwaltungsaktsakzessorietät – gemeint sind854 und dass selbst auf dem Gebiet des Umweltrechts die Reichweite der haftungsbegründenden Wirkung für den zuständigen Amtsträger bislang nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, da der Gesetzgeber im 18. StÄG hierzu keine klarstellende Regelung getroffen hat.855 (e) Eigene Lösung – verfassungskonforme Interpretation Wie ist nun im Ergebnis dogmatisch zu begründen, dass ein Handeln nicht strafrechtlich geahndet werden darf, welches als verwaltungsrechtlich zulässig zu qualifizieren ist? Die Antwort auf diese Frage erschließt sich, wenn man sich vor Augen führt, auf welchen Pfeilern das Strafrecht gründet. Im Fall der Bedrohung von Leib und Leben sind dies die Grundrechte der potentiellen Opfer, insbesondere Art. 1 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG, die sich zu staatlichen Schutzpflichten verdichten.856 Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit ist man bei dieser Aussage zugleich daran erinnert, dass auch die Existenz des staatlichen Wächteramts wesentlich auf diesen Rechten des in seinem Wohl bedrohten Kindes beruht und dass der Schutzbereich des „Elternrechts“ des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nur dann 852 Siehe hierzu Rudolphi, Dünnebier-FS, S. 561 ff.; ders., NStZ 1984, 193 ff.; Horn, NJW 1981, 1 ff. 853 Vgl. insoweit die Aussagen des BT-DrS 12/376, S. 9. 854 Siehe hierzu instruktiv Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 19 ff. sowie Rühl, JuS 1999, 521 f. 855 S/S/Cramer/Heine, Vorbem. §§ 324 ff., Rn. 29; die einzig in Frage kommende Norm, § 324 StGB, ist nicht als Sondernorm, sondern als Allgemeindelikt formuliert. 856 Zur Entstehung von Schutzpflichten allgemein siehe Teil 1 B. III. 1. a).

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eröffnet bleibt, wenn gerade keine Gefährdung der Rechtsgüter des Kindes zu befürchten ist.857 Damit wird klar, dass das Strafrecht und das Kinder- und Jugendhilferecht nicht – wie man angesichts der in der Literatur und Rechtsprechung geführten Kontroverse annehmen könnte – „gegeneinander gerichtet“ sind.858 Vielmehr verfolgen beide Regelwerke den gleichen Zweck: Den Schutz von Leib und Leben des Kindes zu gewährleisten.859 Es ist daher nicht mehr als Gebot der Fachlichkeit anzusehen, wenn dem Familienzusammenhalt der Vorrang gegeben wird, obwohl diese Rechtsgüter des Kindes gefährdet sind860 – ganz gleich, ob man dies auf das Gebot der Einheit der Rechtsordnung oder auf deren spezielle Ausprägung in der Verwaltungsakzessorietät zurückführt. Andererseits würde das Strafrecht aber auch das verfassungsrechtliche Gefüge missachten, wenn es stets ein restriktives Eingreifen der Kinder- und Jugendhilfe forderte. Deshalb ist eine verfassungsrechtliche Harmonie anzustreben, an der sich auch die Strafverfolgungsbehörden orientieren müssen. Die Schwierigkeit besteht darin, im Rahmen einer kontinuierlichen Fallbetreuung festzustellen, wann die Situation als dermaßen gefährlich einzustufen ist, dass ein Kind von seinen Eltern getrennt werden muss.861 (ee) Überlastung – Übernahmefahrlässigkeit Wie steht es nun mit den der strafrechtlichen Bewertung der Prognose vorgelagerten Vorgängen, namentlich der Informationssammlung? Um eine den Voraussetzungen des Verwaltungsrechts entsprechende Beurteilung treffen zu können, sind grundsätzlich alle hierfür notwendigen Informationen einzuholen. Dies kann zum Beispiel durch die Vornahme eines Hausbesuchs862 geschehen.

857

Vgl. dazu oben Teil 1 B. I. 2. a) (1) sowie 3. c) und Teil 1 B. III. 1. b) (1). So auch GK-SGB VIII-Fieseler, § 1, Rn. 18d; Fieseler/Herboth, Recht der Familie, S. 53 f. und wohl auch Rotthaus, GA 2001, 615, der in seiner Rezension der Bringewatschen Monographie „Sozialpädagogische Familienhilfe“ anmerkt, dass der Verfasser sich mit dem vom LG Osnabrück angenommenen Beurteilungsspielraum nicht auseinandersetzt. 859 So der Sache nach auch die Argumentation bei Beulke/Swoboda sowie bei Bringewat. 860 Insoweit jedenfalls unzutreffend Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 5, wenn er annimmt, dass im Fall einer konkreten Gefahrenlage kein absoluter Vorrang kurzzeitiger vor längerfristiger Hilfe bestehe. 861 Vgl. dazu oben Teil 1 F. sowie Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (ff) (a). 862 Siehe hierzu die bereits erwähnte Empfehlung Nr. 3.12 des Deutschen Städtetages (abgedruckt im Anhang). 858

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Aber wie wirkt es sich aus, wenn der zuständige Sozialarbeiter infolge Arbeitsüberlastung nicht mehr in der Lage ist, sich über den Zustand der Familie zu informieren? Bei Roxin findet man die Aussage, „. . . wer etwas nicht weiß, muss sich informieren; wer etwas nicht kann, muss es lassen.“863 Zwar entspricht dieser Rat der Situation fahrlässigen Verhaltens generell,864 indes passt er im Zusammenhang mit professionell Handlungsverpflichteten gerade nicht.865 Bei der Untersuchung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Sozialarbeitern ist entscheidend darauf abzustellen, ob der zuständige Amtswalter Maßnahmen getroffen hat, um seine Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen, etwa durch eine Überlastungsanzeige. Hat der Jugendamtsmitarbeiter eine solche verfasst, dann kann es ihm – sofern er die Prioritäten zwischen den zahlreichen Fällen abgewogen hat – nicht angelastet werden, dass er bestimmte Sachverhalte nicht näher betrachten konnte. Anders stellt sich die Situation indes dar, wenn trotz Arbeitsüberlastung keine entsprechende Mitteilung an die Leitungsverantwortlichen im Jugendamt erging. In diesem Fall ist in entsprechender Anwendung der Aussage Roxins von einer sogenannten Übernahmefahrlässigkeit auszugehen.866 (ff) Erlaubtes Risiko (a) Allgemeines Eine Möglichkeit zur Begrenzung des Umfangs der Sorgfaltsanforderungen bietet die Rechtsfigur des erlaubten Risikos.867 Sie besagt, dass bestimmte Verhaltensweisen im Interesse der gesamten Gesellschaft von der Rechtsordnung gestattet werden, obwohl ihnen eine gewisse Gefährlichkeit innewohnt. Die Rechtsfigur wurde vorrangig im Bereich des Straßenverkehrs entwickelt.868

863 Roxin, AT I, § 24, Rn. 34; zust. Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 108. 864 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere nochmals die Ausführungen zur Erklärung des Fahrlässigkeitsmoments bei Jakobs in Teil 2 A. II. 1. c) (1). 865 Zu dieser besonderen Konstellation siehe auch Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 194 (freilich im Rahmen des Übernahmeverschuldens). 866 Siehe dazu Wessels/Beulke, Rn. 668. Roxin selbst (AT I, § 24, Rn. 34 ff.) spricht von „Übernahmeverschulden“. 867 Vgl. auch Schaffstein, Lackner-FS, S. 802, der darauf hinweist, dass durch die Existenz eines Beurteilungsspielraums die Reichweite des erlaubten Risikos erweitert ist. 868 Wessels/Beulke, Rn. 184.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

(b) Vertrauensgrundsatz Grundsätzliches Eine besondere Ausprägung des erlaubten Risikos stellt nach herrschender Auffassung der sogenannte Vertrauensgrundsatz dar.869 Dieser besagt, dass derjenige, der sich selbst verkehrsgerecht verhält, darauf vertrauen darf, dass dies auch andere tun, sofern nichts Gegenteiliges erkennbar ist.870 Der Grund hierfür liegt in der grundgesetzlich vorgegebenen Notwendigkeit, zwischen der Handlungsfreiheit des Einzelnen und dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen abzuwägen.871 Nicht völlig geklärt ist zum einen bislang, ob sich der Vertrauensgrundsatz ausschließlich auf verkehrsgerechtes Verhalten beschränkt872 oder ob in bestimmten Fällen selbst der Verstoß gegen eine Sorgfaltsnorm durch den Vertrauensgrundsatz „entschärft“ werden kann, wenn der Verstoß sich im Ergebnis nicht auf den Erfolgseintritt ausgewirkt hat.873 Für die letztgenannte Ansicht spricht entscheidend, dass der Täter andernfalls mangels Auswirkung seiner Sorgfaltspflichtwidrigkeit de facto aufgrund eines versari in re illicita bestraft werden würde.874 Zum anderen befindet sich die Diskussion zur Reichweite des Vertrauensgrundsatzes jenseits des Bereichs des Straßenverkehrs, in dem die Rechtsfigur vorrangig Anwendung findet, insgesamt im Fluss; die Fallgruppenbildung kann noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Vorsätzliche Straftat Dritter875 Eine Variante, in der sich die Frage nach dem Vertrauensprinzip häufig stellt und die zumeist unter dem Begriff „Regressverbot“ firmiert, bildet der Fall, dass jemand einem anderen ungewollt die vorsätzliche Begehung einer Straftat

869 Vgl. Roxin, AT I, § 24, Rn. 22; ders., Tröndle-FS, S. 186. Zu einer abweichenden Auffassung zur dogmatischen Kategorisierung dieser Rechtsfigur siehe LKSchroeder, § 16, Rn. 172. 870 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 58; Kudlich, PdW, S. 144 f.; Wessels/Beulke, Rn. 671. 871 Roxin, AT I, § 24, Rn. 26; ders., Tröndle-FS, S. 187. 872 So wohl Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 62. 873 S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 215; Gropp, AT, § 12, Rn. 38; Roxin, AT I, § 24, Rn. 24; Wessels/Beulke, Rn. 671a. 874 Roxin, AT I, § 24, Rn. 24. 875 Vgl. auch bereits die Ausführungen zur Existenz eines Regressverbots, oben Teil 2 A. II. 2. c) (1) (c).

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ermöglicht.876 Hier gilt der Grundsatz, dass man darauf vertrauen darf, dass andere keine Straftaten begehen.877 Bezogen auf die Situation von Jugendamtsmitarbeitern scheint demzufolge auf den ersten Blick oftmals eine Strafbarkeit ausgeschlossen zu sein. Indes ist bis zum heutigen Tag nicht vollständig geklärt worden, auf welche Weise genau die vom erlaubten Risiko umfassten Verhaltensweisen von solchen abgeschichtet werden können, die von der Rechtsordnung nicht mehr hinzunehmen sind. Hierzu existieren zahlreiche unterschiedliche Ansätze.878 Grundsätzlich vertretene Ansichten zur dogmatischen Einordnung879 Sie resultieren vor allem aus dem Umstand, dass nicht alle Autoren die Ursache des „Regressverbots“ im erlaubten Risiko sehen. „Regressverbot“ als eigenständige Rechtsfigur So meint Welp, die grundsätzliche Straflosigkeit des fahrlässigen Förderers einer vorsätzlichen Tat basiere darauf, dass der Verantwortungsbereich des Vorsatztäters den fahrlässig Handelnden ausschließe. Letzterer agiere in diesem Zusammenhang „sozialadäquat“.880 Otto hingegen leitet die Straflosigkeit aus der mangelnden Steuerbarkeit des Erfolgs durch den fahrlässigen Förderer her.881 Das gleiche Ergebnis erzielt Wehrle, indem er eine wertende Betrachtung vornimmt, dergestalt, dass, wenn bei einer vorsätzlichen Förderung einer Vorsatztat keine Täterschaft, sondern lediglich Teilnahme angenommen werden könne, die fahrlässige Förderung gänzlich unbestraft bleiben müsse.882 876

Roxin, AT I, § 24, Rn. 26. LK-Schroeder, § 16, Rn. 184 m.w. N.; vgl. auch Roxin, AT I, § 24, Rn. 27, der hierin den „. . . richtige(n) Kern der alten und noch mit verschiedenartigen Begründungen auch in der Gegenwart noch vertretenen Lehre vom Regressverbot . . .“ sieht. 878 Instruktiv dazu der Überblick bei Roxin, Tröndle-FS, S. 177 ff. 879 Umfassend hierzu Hillenkamp, 32 Probleme, S. 214 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 880 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 286; krit. Roxin, Tröndle-FS, S. 180: „. . . Behauptung, für die jeder Beweis fehlt.“ 881 Otto, GK AT, § 6, Rn. 53; ders., Maurach-FS, S. 99 f.; ähnlich OLG Rostock, NStZ 2001, 199 f. (krit. hierzu Puppe, AT2, § 47, Rn. 32 ff.); krit. Roxin, Tröndle-FS, S. 181 f., der u. a. die mangelnde Trennschärfe des Begriffs moniert. 882 Wehrle, Fahrlässige Beteiligung, S. 83; dagegen Roxin, Tröndle-FS, S. 183, der ein „Stufenverhältnis“ zwischen Anstiftung und Haupttat angesichts der gleichen Strafdrohung ablehnt; diesem in seiner Kritik zust. SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 72. 877

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„Regressverbot“ als Unterfall des erlaubten Risikos Die wohl herrschende Ansicht verortet das „Regressverbot“ im Kontext des erlaubten Risikos.883 Doch auch innerhalb dieser Meinungsgruppe existieren unterschiedliche Ansichten bezüglich der Abgrenzung der von der Rechtsordnung gestatteten zu den nicht mehr erlaubten Verhaltensweisen. Roxin sieht die Grenze des gesellschaftlich Hinnehmbaren dort erreicht, wo jemand ungewollt trotz erkennbarer Tatgeneigtheit des Vorsatztäters dessen Tat fördert.884 Andere Autoren meinen die Grenze auf andere Weise ziehen zu können. So postulieren etwa Jescheck/Weigend, dass es auf die der Förderungshandlung immanente Gefahr ankomme885, Jakobs will nur dann eine Überschreitung der Grenze des erlaubten Risikos annehmen, wenn das fahrlässige Verhalten nur den Sinn haben kann, die Vorsatztat zu fördern886 und Wessels/Beulke meinen, dass die Zurechenbarkeit nur dann bejaht werden könne, wenn gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen werde, die gerade die Verhinderung von Vorsatzoder Fahrlässigkeitstaten Dritter bezweckten, bzw. wenn das Verhalten des Dritten typischerweise in der Ausgangsgefahr begründet erscheine.887 Übertragen auf die in diesem Zusammenhang relevanten Fallkonstellationen würden Jakobs und Jescheck/Weigend die Strafbarkeit des fahrlässig handelnden Sozialarbeiters bei vorsätzlicher Tat der Eltern gegenüber ihrem Kind wohl ablehnen, Wessels/Beulke würden für eine Zurechenbarkeit plädieren und nach Roxin würde eine Zurechnung an der mangelnden „Förderung“ der Vorsatztat scheitern, da nichts aktiv zur Realisierung derselben beigetragen, sondern lediglich die Missstände in der Familie unverändert gelassen wurden. Besonderheiten aufgrund des Unterlassens Bevor eine abschließende Stellungnahme zu den vertretenen Ansichten erfolgen kann, ist zu beachten, dass zum Teil Einschränkungen im Hinblick auf Konstellationen vorgenommen werden, in denen der fahrlässige Förderer als Garant zu qualifizieren ist.

883 Roxin, AT I, § 24, Rn. 27; ders., Tröndle-FS, S. 186 f.; Schaffstein, Lackner-FS, S. 800 f. 884 Roxin, AT I, § 24, Rn. 28; ders., Tröndle-FS, S. 190 f.; ebenso LK-Schroeder, § 16, Rn. 184; SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 72; SK-Hoyer, Anh. zu § 16, Rn. 40. 885 Jescheck/Weigend, AT, § 54 IV 1; Roxin, Tröndle-FS, S. 188 zweifelt jedoch, ob dieser Umstand zu einer klaren Abgrenzung befähigt. 886 Jakobs, 24/15; Zweifel an der Praktikabilität dieses Moments bei Roxin, Tröndle-FS, S. 190. 887 Wessels/Beulke, Rn. 192 (vgl. auch Bsp. 2, Rn. 197 a. a. O.).

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So möchte Welp dann eine Fahrlässigkeitshaftung zulassen, wenn der ungewollt die Vorsatztat Fördernde Schutzvorkehrungen für das gefährdete Rechtsgut ausschaltet.888 Weitergehend vertritt Wehrle im Anschluss an Jakobs889 die Auffassung, dass das Regressverbot nicht eingreifen könne, wenn der Fahrlässigkeitstäter eine Garantenstellung innehat890, und auch Rudolphi strebt im Hinblick auf die fahrlässige Förderung einer Vorsatztat durch einen Garanten eine weitergehende Zurechnung an.891 Roxin meint zwar grundsätzlich, dass die Garantenstellung die Verantwortungszuschreibung nicht modifizieren könne,892 indes konzediert er, dass es in derartigen Fällen nicht darauf ankomme, dass der Garant die Tat im Wortsinn „gefördert“ habe. Es genüge in diesem speziellen Fall, dass der erkennbar Tatgeneigte sich das Verhalten des Fahrlässigen willkürlich zu eigen mache.893 Fazit Gegen die Ansichten, die das „Regressverbot“ als Rechtsfigur sui generis erachten, spricht entscheidend die daraus folgende mangelnde Flexibilität, das heißt die Notwendigkeit, nach dem „alles oder nichts“-Prinzip zu entscheiden. Bei denen, die das Regressverbot dem erlaubten Risiko zuordnen, führen sämtliche Ansichten in den vorliegenden Fällen dazu, dass aus der vorsätzlichen Haupttat der Eltern kein entlastendes Moment für die fallzuständigen Sozialarbeiter folgt, sodass zwischen den unterschiedlichen Ansichten insoweit keine Streitentscheidung vonnöten ist.894

888

Welp, Vorangegangenes Tun, S. 293 ff.; krit. Roxin, Tröndle-FS, S. 181. Jakobs, 24/19; zust. Schaffstein, Lackner-FS, S. 799. 890 Wehrle, Fahrlässige Beteiligung, S. 102 ff. (Er stellt sich auf den Standpunkt, dass ein Unterlassender bereits kraft seiner Garantenstellung stets als Täter einzustufen sei und kommt aufgrund der von ihm vertretenen Ansicht zur Begründung des Regressverbots wegen sonst auftretender Wertungswidersprüche zum aktiven Tun zu einer Straflosigkeit.), S. 107 ff. (Um das von ihm grundsätzlich bejahte Regressverbot hierdurch nicht de facto wegen der Ingerenzgarantenstellung außer Kraft zu setzen, spricht er dieser in dem Kontext die Bedeutung ab; S. 113 a. a. O.); krit. demgegenüber Roxin, Tröndle-FS, S. 184. Wie Wehrle wohl LK-Schroeder, § 16, Rn. 184, der meint: „. . . Freilich ist (. . .) zu berücksichtigen, dass es auch bei fahrlässigen Delikten eigenhändige und Sonderdelikte gibt.“ 891 SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 72. 892 Roxin, Tröndle-FS, S. 198. 893 Roxin, Tröndle-FS, S. 199. 894 Im Ergebnis gegen die Geltung des Vertrauensgrundsatzes i. R. d. Problemkreises der Strafbarkeit des Therapeuten bei der Gewährung von „Freigängen“ Grünebaum, Strafbarkeit, S. 50 f. 889

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Arbeitsteiliges Verhalten Doch wie verhält es sich mit der weiteren Variante des Vertrauensprinzips, wonach dann, wenn mehrere Personen arbeitsteilig einen bestimmten Erfolg erzielen wollen, anerkannt ist, dass der eine grundsätzlich auf die Kunstfertigkeit des anderen vertrauen darf?895 Delegation Hier erscheinen sich Konsequenzen vor allem für Fälle zu ergeben, in denen seitens des Jugendamts Aufgaben an Mitarbeiter freier Träger delegiert wurden. Zwar scheint diese Delegation auf den ersten Blick dem „Paradefall“ arbeitsteiligen Verhaltens, dem ärztlichen Operationsteam, vergleichbar – bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass ein wesentlicher Unterschied besteht. Trotz Delegation bleibt für den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter die Pflicht zur Auswahl, Kontrolle und Weisung erhalten.896 Er darf sich von Rechts wegen gerade nicht darauf verlassen, dass der Mitarbeiter des freien Trägers per se rechtmäßig agiert, sodass im Ergebnis auch insoweit der Vertrauensgrundsatz grundsätzlich nicht Platz zu greifen vermag. Zu beachten ist indes, dass der Jugendamtsmitarbeiter nicht unbegrenzt die Arbeit des bei dem freien Träger Beschäftigten nachprüfen kann. Soweit er das ihm Mögliche getan hat, um die Qualität der Hilfeerbringung zu gewährleisten, gilt dann doch das Vertrauensprinzip.897 Andere Kollegen im Team Einer Anwendung des Vertrauensgrundsatzes auf die sonstigen Kollegen, mit denen der Jugendamtsmitarbeiter im Rahmen des § 8a Abs. 1 SGB VIII bzw. des § 36 SGB VIII in einem Team zusammenarbeitet, ist bereits aus folgendem Grund kein Erfolg beschieden: Es fehlt an einem gemeinsamen Projekt, das bearbeitet wird. Vielmehr obliegen jedem Sozialarbeiter die ihm kraft Organisationsplan zugewiesenen Fälle selbst. Sollte sich jedoch ein nicht unmittelbar fallzuständiger Jugendamtsmitarbeiter mit Hinweisen zu einer Kindeswohlgefährdung befassen, die nicht in seinen Zu895

Vgl. hierzu allgemein Roxin, AT I, § 24, Rn. 25; Wessels/Beulke, Rn. 671. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Roxin, AT I, § 24, Rn. 25, der das Beispiel eines leitenden Chirurgen anführt und meint, dieser könne sich nicht darauf verlassen, dass der unerfahrene Assistenzarzt die Operation korrekt durchführt. (Hierdurch soll jedoch keinesfalls die Kompetenz der Beschäftigten freier Träger angezweifelt werden.) 897 Roxin, AT I, § 24, Rn. 25. 896

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ständigkeitsbereich fällt, so scheitert die Anwendung des Vertrauensprinzips zugunsten des eigentlich Zuständigen daran, dass dieser gerade nicht vorhersehen kann, welche Handlungen der Kollege vornehmen wird. Folglich fehlt es in diesen Konstellationen an einer gemeinsamen Basis für das zu knüpfende Vertrauen.898 Weisungen des Vorgesetzten Wie steht es mit einer Weisung der dem fallzuständigen Sozialarbeiter übergeordneten Person? Für ein berechtigtes Vertrauen und eine daraus resultierende Begrenzung der Sorgfaltspflicht spricht auf den ersten Blick die vermutete größere Sachkompetenz des Vorgesetzten.899 In den beamtenrechtlichen Regelungen bzw. im BAT sind bereits Regelungen dazu enthalten, wann einer Weisung Folge geleistet werden muss: Für Beamte folgt aus §§ 55 S. 2 HS 1 BBG, 37 S. 2 BRRG, Art. 64 Abs. 2 S. 2 HS 1 BayBG, dass eine Weisung eines Vorgesetzten grundsätzlich verbindlich ist, sofern dem Amtswalter nicht erkennbar ist, dass dadurch eine Straftat verwirklicht wird (siehe §§ 56 Abs. 2 S. 3 HS 2 BBG, 38 Abs. 2 S. 2 HS 2 BRRG, Art. 65 Abs. 2 S. 3 HS 2 BayBG). Bestehen Zweifel, so hat der Beamte grundsätzlich ein Remonstrationsverfahren durchzuführen (vgl. §§ 56 Abs. 2 BBG, 38 Abs. 2 BRRG, Art. 65 Abs. 2 BayBG). Im Hinblick auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gilt für die Verbindlichkeit nach § 8 Abs. 2 S. 1 und 3 BAT das Gleiche. Die Normen zeigen mit der Beschränkung der Verbindlichkeit auf die nicht erkennbare Straftatverwirklichung, dass es in diesem Bereich – und darauf kommt es hier an – gerade kein berechtigtes Vertrauen des Amtswalters in die Richtigkeit der Weisung geben kann. Folglich ist die Geltung des Vertrauensgrundsatzes im Hinblick auf derartig rechtswidrige Weisungen abzulehnen. Richter Schließlich erscheint es auf den ersten Blick denkbar, das Vertrauensprinzip in das Zusammenwirken von Jugendamtsmitarbeiter und Familienrichter hineinzulesen. 898 Vgl. auch die Aussagen des BGH im bereits mehrfach erwähnten „Wuppertaler Schwebebahnfall“ (BGHSt 47, 224, 228, 230), in dem ebenfalls bemängelt wurde, dass zwischen den ursprünglich für die Entfernung der Weichen Verantwortlichen und den später hinzugekommenen Personen keine klar abgrenzbaren Aufgabenbereiche existierten. 899 Vgl. Dannecker in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 225.

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Indes kann ein „Zusammenwirken“ hier nur im tatsächlichen, nicht jedoch im rechtlichen Sinne angenommen werden, da der Familienrichter strenggenommen nach § 12 FGG den Sachverhalt selbst zu untersuchen hat. Überdies hat der Sozialarbeiter im Rahmen des Verfahrens nach §§ 1666 f. BGB nicht etwa die Eigenschaft eines gerichtlichen Hilfsorgans, sondern die einer eigenständigen Institution inne.900 Der Jugendamtsmitarbeiter kann daher nicht einwenden, er habe sich darauf verlassen, dass die Ansicht des Familiengerichts zutreffend gewesen sei, es bestehe keine Kindeswohlgefährdung. (g) Fazit Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass sowohl aus der Rechtsfigur des erlaubten Risikos als auch aus ihrer besonderen Ausprägung, dem Vertrauensprinzip, grundsätzlich keine Entlastung des wegen fahrlässigen Unterlassens angeklagten Sozialarbeiters folgt. Indes muss der bereits angesprochene Grundsatz der Risikoabwägung beachtet werden.901 Kleinere Risiken (z. B. dass eine bestimmte Hilfeart nicht den gewünschten Effekt zu erzielen vermag) können durchaus in Kauf genommen werden, sofern nicht eine Gefährdung von Leib oder Leben des Kindes zu befürchten ist.902 (c) Objektive Voraussehbarkeit des Erfolgseintritts (aa) Allgemeines Untrennbar mit der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens ist die Frage verknüpft, ob der eingetretene Erfolg auch vorhergesehen werden konnte.903 Durch diese Komponente wird dem Erfordernis der ex-ante-Sicht Rechnung getragen, die der Strafrichter bei der Beurteilung des Geschehens einzunehmen hat, und es werden Situationen abgeschichtet, in denen der Eintritt des Erfolgs selbst von einem umsichtigen Dritten nicht hätte erkannt werden können.

900 So auch Münder u. a., FK SGB VIII, Vor§ 50, Rn. 6 m.w. N.: „. . . weder Ermittlungsbehörde oder Ermittlungshelfer noch ausführendes Organ oder Erfüllungsgehilfe der Gerichte.“ 901 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (ff) (b). 902 In diesem Sinne auch Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 104 f.; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 93 f. 903 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 105; ders., Tod eines Kindes, S. 97; ders., ZfJ 2000, 406; Wessels/Beulke, Rn. 667; Laue, JA 2000, 668. H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 205 ff. trennt denn auch nicht klar zwischen den beiden Aspekten.

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(bb) Äußerungen der Rechtsprechung (a) Allgemeines Die Rechtsprechung definiert den vorhersehbaren Erfolgseintritt in dem Sinne, dass dieser noch innerhalb dessen liegt, was nach allgemeiner Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge in Rechnung zu stellen ist.904 Dabei soll es nicht darauf ankommen, dass jedes Detail hätte vorausgesehen werden können. Vielmehr soll bereits genügen, dass das Endergebnis nicht völlig unvorhersehbar war.905 (b) Vorliegende Fälle Auch in den vorliegend relevanten Fallkonstellationen beschäftigten sich die Gerichte mit der Vorhersehbarkeit des Erfolgs. Für gewöhnlich wurde diese bejaht. So meinte das Amtsgericht Osnabrück im Fall „Laura Jane“: „Abgesehen davon, dass die Großmutter des Kindes (. . .) der Angeklagten mitgeteilt hatte, ihre Tochter gebe den Kindern kein entsprechendes Essen und koche nicht selbst, ist jedem Menschen bei kurzem Nachdenken auch klar, dass eine Mutter, die ihre Kinder bis zu einer hochgradigen Windeldermatitis verkommen lässt (. . .), ihren Kindern möglicherweise auch nicht das entsprechende Essen bietet.“906 Das Amtsgericht Mönchengladbach führte zum Fall „Vanessa“ aus: „Unter Berücksichtigung der dem Angeklagten bekannten Vorgeschichte war die Tat . . ., nämlich die Tötung ihres Kindes, als mögliche Folge des Nichteinschreitens des Angeklagten vorhersehbar, weil der Angeklagte nicht nur wusste, dass . . . sich um nichts in der Welt von ihrem Kind trennen wollte, sondern ihm auch zahlreiche Hinweise auf einen von ihr ins Kalkül gezogenen, auf Vanessa erweiterten Selbstmord, sogar stattgefundener Versuche eines solchen vorlagen.“907

904 RGSt 73, 372; BGHSt 3, 62 ff.; 12, 75, 77 ff.; 23, 156, 165 ff. Im „Freigängerfall“ äußerte der BGH, dass die im Zuge der Vollzugslockerungsgewährung begangenen Taten vorhersehbar gewesen seien – „. . . jedenfalls dann (. . .), wenn zwischen der bei S. festgestellten psychischen Störung und den von ihm begangenen Straftaten ein Zusammenhang besteht“. Er stellt auf den „Maßstab des gewöhnlichen Erfahrungsbereichs“ ab (BGHSt, 49, 1, 6 f.). Kritik zur Verwendung des Terminus „Vorhersehbarkeit“ bei Roxin, StV 2004, 486 (zu dessen Fahrlässigkeitsdogmatik siehe bereits oben Teil 2 A. II. 2. f) (1) (b) (bb)); krit. zum Maßstab Pollähne, JR 2004, 436 („. . . zu nebulös, als dass sich die Praxis daran orientieren könnte“). 905 BGHSt 31, 96, 101; Bringewat, Tod eines Kindes, S. 97. 906 Abgedruckt in: Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 70. 907 AG Mönchengladbach (Fall „Vanessa“, s. o. Teil 1 A. V. 2.), Urteil vom 9.3. 2004 (Az. 13 Cs 343/03), abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Einzig das Landgericht Stuttgart äußerte im Fall „Jenny“ abweichend zur Beschwerdeentscheidung des OLG Stuttgart908, dass dem Lüneburger Sozialarbeiter zwar die Misshandlungen durch die Mutter, nicht aber diejenigen durch die Babysitter und der hierdurch verursachte Tod vorhersehbar gewesen seien.909 Es verurteilte diesen daher lediglich wegen fahrlässiger Körperverletzung und nicht – wie angeklagt – wegen fahrlässiger Tötung.910 (cc) Reaktionen in der Literatur (a) Zum „Freigängerfall“ 911 Saliger wähnt im Zusammenhang mit dem „Freigängerfall“ angesichts des zwischen dem Freiheitsanspruch des Einzelnen und dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern im Unterbringungsrecht bestehenden Dilemmas eine „fahrlässigkeitsdogmatische Falle“912. Indem das Gesetz den Ärzten einerseits eine liberale Lockerungspolitik auferlege, hiermit jedoch zugleich das Risiko von Rückfällen steigere, könne im Ergebnis kaum jemals an der Vorhersehbarkeit einer „Rückfalltat“ gezweifelt werden. Er folgert aus den Aussagen des BGH, dass die Grenze der Vorhersehbarkeit bei „. . . Straftaten (eintrete), die in keinem Zusammenhang mit der Erkrankung (und/oder der Anlasstat) stehen und für die ex ante jegliche Anhaltspunkte gefehlt haben . . .“.913 (b) Zu den vorliegend relevanten Konstellationen Im Hinblick auf die Fallbetreuung durch Jugendamtsmitarbeiter meint Bringewat, dass „kaum jemals an der Voraussehbarkeit tatbestandlicher Erfolge (. . .) 908 OLG Stuttgart NJW 1998, 3133: „Vorhersehbar war, dass R ihr Kind auch dritten, zur Betreuung und Erziehung völlig ungeeigneten Personen überlassen werde und dass dieses dabei körperlich geschädigt oder durch Misshandlungen zu Tode kommen würde (. . .) Die zwischen dem pflichtwidrigen Unterlassen und dem Eintritt des tödlichen Erfolges liegende Zeit von zwei Jahren vermag daran nichts zu ändern, weil sich gerade die spezifische, von den Persönlichkeitsdefiziten der Mutter für das Kind ausgehende Gefahr verwirklicht hat.“ 909 Es entschied damit ebenso wie die Kammer des LG Stuttgart, die die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hatte (siehe hierzu die Aussagen des OLG Stuttgart NJW 1998, 3131). 910 LG Stuttgart bei Lehmann, EJ 2000, 50: „Dafür, dass die Mutter das Kind derart gewaltbereiten Personen außerhalb ihres eigentlichen Lebensbereichs überlassen würde, gab es während der Betreuung durch den Angeklagten B. keine greifbaren Anhaltspunkte.“ 911 BGHSt 49, 1 ff. 912 Saliger, JZ 2004, 978. 913 Saliger, JZ 2004, 978.

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zu zweifeln“ sei.914 Insbesondere sei dann von Fahrlässigkeit auszugehen, wenn typische Anzeichen für eine Verwahrlosung der Wohnung bzw. in Bezug auf die Versorgung der Kinder bestünden. Auch der Tod eines Kindes – insbesondere eines Kleinkindes – stelle in dem Fall keine außergewöhnliche und nicht vorherzusehende Folge dar. Eine Ausnahme will Bringewat dann machen, wenn es um die Delegation jugendamtlicher Aufgaben an Dritte geht. In diesem Kontext gebe die jeweilige Organisationsstruktur den Ausschlag. Mängel bei der Kontrolle der Mitarbeiter des freien Trägers, die die Kindeswohlschädigungen ermöglichen, stellten jedoch keine ungewöhnliche Folge dar und seien deshalb stets als vorhersehbar zu erachten.915 H.-J. Albrecht nimmt demgegenüber einen sozialarbeiterfreundlicheren Standpunkt ein und meint im Hinblick auf die bislang ergangenen Entscheidungen in den Fällen „Laura Jane“ und „Jenny“, diese stellten „. . . offensichtlich nichts anderes als das Ergebnis eines Erfolgsstrafrechts (dar), das den Grund der Haftung aus dem Vorliegen des Todes (und damit post factum) ableitet“.916 (dd) Stellungnahme Für die strenge Sichtweise Bringewats spricht auf den ersten Blick, dass die Jugendamtsmitarbeiter gerade aufgrund von Problemen der Familien zusammenkommen, sodass ihnen der mögliche Eintritt von Kindeswohlschädigungen eigentlich nicht ungewöhnlich vorkommen sollte. Indes ist zu beachten, dass sich die Gründe für die Einschaltung „des Jugendamts“ zum Teil erheblich von den später eingetretenen Problematiken unterscheiden – insbesondere dann, wenn der Allgemeine Soziale Dienst zunächst in einem völlig anderen Kontext917 eingeschaltet wurde, sodass nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass sich die Schädigung – gegebenenfalls sogar der Tod – des Kindes als unvoraussehbare Folge der familiären Probleme darstellt.918 Insoweit sind sozialwissenschaftliche Erkenntnisse maßgebend. 914 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 106 (im Hinblick auf die Familienhelferin – die Aussagen können aber ohne weiteres auf die Situation von Jugendamtsmitarbeitern übertragen werden); ähnlich ders., Tod eines Kindes, S. 98. 915 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 98 f. mit weiterführenden Folgerungen für den Strafprozess. 916 H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 212 (diesem zust. das DIJuFRechtsgutachten, JAmt 2005, 232). Ähnlich Mörsberger in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 93: „Ich wende mich aber gegen Tendenzen, dass wir nicht an den Regeln der Kunst, sondern am Erfolg gemessen werden.“ 917 Zum Beispiel wegen finanzieller Probleme der Familie. 918 Vgl. den Fall des Pflegekindes „Alexander“, bei dem das OLG Stuttgart (NJW 2003, 3420) in dem Prozess um Schadensersatz wegen Amtshaftung ausführte: „Die Staatsanwaltschaft hat mit Verfügung vom 3.3.2000 das Ermittlungsverfahren gegen

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Neben dieser Variabilität in der Sache ist zudem der Faktor Zeit zu berücksichtigen. So kann nicht jedwede spätere Krise, die die Eltern erleben, als für den betreuenden Sozialarbeiter vorhersehbar angesehen werden. Vielmehr ist eine Art „innerer Zusammenhang“ zwischen dem Grund der Betreuungsaufnahme und der späteren Krisensituation zu fordern.919 Insoweit ist keine nähere Konkretisierung möglich, sondern erforderlich ist eine Gesamtschau von zeitlichen und inhaltlichen Aspekten des Falls.920 (d) Objektive Vermeidbarkeit Schließlich ist es für die Feststellung der Fahrlässigkeit notwendig festzustellen, ob der Täter den eingetretenen Erfolg überhaupt vermeiden konnte, ob also ein Zusammenhang zwischen der festgestellten Pflichtwidrigkeit und dem eingetretenen Erfolg besteht, der den Fahrlässigkeitsvorwurf trägt. (aa) Pflichtwidrigkeitszusammenhang921 Doch ist es für die strafrechtliche Zurechnung wirklich nötig, dass die gebotene Handlung den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte, oder sollte auf die im Bereich der Begehungsdelikte von einem Teil922 des Schrifttums vertretene Risikoerhöhungslehre923 gleichsam in Form einer Risikoverringerungslehre924 rekurriert werden? Der Zusammenhang zwidie Verantwortlichen des Jugendamts in W. wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil die Mitarbeiter des Jugendamts in W. auf Grund der geschickten Vertuschungsmaßnahmen der Pflegeeltern keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein gravierendes Fehlverhalten der Pflegeeltern gehabt hätten.“ 919 In diesem Sinne sind wohl auch die Äußerungen des OLG Stuttgart (NJW 1998, 3133) im Fall „Jenny“ zu verstehen, bei dem zwischen dem Umzug der Familie und dem Eintritt des Todes eine zweijährige Zeitspanne verstrich. 920 Im Ergebnis ähnlich Grünebaum, Strafbarkeit, S. 57 bei der Untersuchung der Strafbarkeitsrisiken von Therapeuten wegen der Gewährung von „Freigängen“. 921 Das im folgenden geschilderte Rechtsproblem wird von den meisten Autoren im Zusammenhang mit der objektiven Zurechnung diskutiert. Da jedoch im Rahmen des Unterlassens schon die Kausalitätsfeststellung von normativen Erwägungen abhängt, verwischen an dieser Stelle die Grenzen der Zurechnungsebenen. Gropp, AT, § 11, Rn. 77, führt in seinem Lehrbuch instruktiv aus, dass es sich bei der Frage nach dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Grunde um die Feststellung der Quasikausalität handelt. Bejaht man nämlich, dass der Erfolg bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, wird damit zugleich gesagt, dass bei rechtmäßigem Verhalten der Erfolgseintritt höchstwahrscheinlich ausgeblieben wäre. Gropp (a. a. O., Rn. 76) hat daher Recht, wenn er meint, bei der Frage nach der Quasikausalität und dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang handele es sich „. . . nur (um) die zwei Seiten einer Medaille . . .“. Siehe auch Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 100: „. . . Merkmalskomplex von Unterlassungskausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang“.

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schen Unterlassen und Erfolg wäre dann bereits zu bejahen, wenn sich nicht klären ließe, ob die Vornahme der gebotenen Handlung den tatbestandlichen Erfolg verhindert, sie ihn aber möglicherweise abgewendet hätte.925 Hier erscheinen vor allem vier Konstellationen problematisch, die zwei Themenkomplexen zugeordnet werden können: Einerseits ist dies der Fall, bei dem das Rettungsverhalten von der Mitwirkung eines Dritten abhängt. So könnte der angeklagte Sozialarbeiter anführen, es sei nicht sicher gewesen, ob das Familiengericht einem – tatsächlich nicht gestellten – „Antrag“ nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII überhaupt stattgegeben hätte926, bzw. dass der Vorgesetzte wahrscheinlich auf die Benachrichtigung des Sozialarbeiters927 nicht adäquat reagiert hätte. Überdies fällt hierunter die Variante der Delegation jugendamtlicher Aufgaben an freie Träger, bei der der Sozialarbeiter dem strafrechtlichen Unterlassungsvorwurf entgegenhält, es sei nicht eindeutig festzustellen, ob der bei diesem Beschäftigte sich an die – in der Realität nicht erfolgten – Weisungen des Jugendamts gehalten hätte.

922 Vgl. aber auch Erb, Alternativverhalten, S. 293 ff., der bei der von ihm entwickelten „Theorie der normativen Korrespondenz“ zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht darauf abstellen möchte, ob „. . . aufgrund atypischer Umstände die Chancen des betreffenden Rechtsgutes ex ante, d.h. zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung, im Hinblick auf die jeweils drohende Gefahr bei der Realisierung rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht günstiger zu beurteilen sind als bei pflichtwidrigem Verhalten.“ (S. 293 a. a. O.). In dem Fall soll der Rechtswidrigkeitszusammenhang entfallen. Er führt in der Regel zu demselben Ergebnis wie die herrschende Vermeidbarkeitstheorie, indem er beim Scheitern einer sicheren Vorhersage auf den in-dubio-Grundsatz abstellt (S. 294 a. a. O.). 923 Begründet von Roxin, ZStW 74 (1962), 411, 422 ff.; ders., AT I, § 11, Rn. 76 ff. Ihm folgend u. a. Lackner/Kühl, § 15, Rn. 44; NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 205; SK-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 66; Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 129, 135; Jescheck/Weigend, AT, § 55 II 2b; Kudlich, PdW, S. 146 f.; Otto, GK AT, § 10, Rn. 17; Schaffstein, Honig-FS, S. 171; Stratenwerth/Kuhlen, § 8, Rn. 36 f.; Ebert, Jura 1979, 572; Kahlo, GA 1987, 75; Schünemann, StV 1985, 230 f.; ders., JA 1975, 649 ff. Nach Aussage von Schatz, NStZ 2003, 583 hat sich diese Ansicht in Österreich durchgesetzt. 924 So der Formulierungsvorschlag von Beulke/Bachmann, JuS 1992, 743, Fn. 90; ebenso Roxin, AT II, § 31, Rn. 49. 925 Diff. Roxin, AT II, § 31, Rn. 54 ff., der darauf abstellt, ob eine Risikoverringerung nur ex ante möglich erschien (dann keine Zurechnung), oder ob auch aus der expost-Perspektive eine Risikoverringerung eingetreten wäre. 926 Dieser Gesichtspunkt wurde – wie den Ausführungen des AG Mönchengladbach (Urt. v. 9.3.2004, Az. 13 Cs 343/03, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de) zu entnehmen ist – von der Verteidigung im Fall „Vanessa“ angeführt. Er war zudem Gegenstand im Fall „Laura Jane“ (siehe dazu die Ausführungen des AG Osnabrück, abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 68). 927 Denkbar ist hier z. B., dass amtsintern festgelegt wurde, dass die Benachrichtigung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII allein dem Jugendamtsleiter vorbehalten ist.

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Zum anderen ist zu untersuchen, wie es sich auswirkt, dass der Jugendamtsmitarbeiter einwendet, selbst wenn er rettend tätig geworden wäre, hätte die Schädigung des Kindes nach der Beendigung entsprechender Maßnahmen stattgefunden. Die Bewertung dieser Konstellation ist davon abhängig, wie man die Vergleichshypothese bei der Ermittlung des rechtmäßigen Alternativverhaltens zu bilden hat. (a) Ermittlung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei Abhängigkeit der Rettung vom Verhalten Dritter Einwand des spekulativen Ausgangs des Verfahrens nach §§ 1666 f. BGB Bis zum 30.9.2005 waren die Sozialarbeiter zum Schutz des Kindes in der Regel928 darauf beschränkt, beim Familiengericht einen Sorgerechtsentzug nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. i.V. m. § 1666 BGB anzuregen. Wegen Unterlassens angeklagt, machten einige von ihnen zu ihrer Verteidigung geltend, das Gericht hätte aufgrund der damaligen Informationslage einem „Antrag“ auf Sorgerechtsentzug nicht entsprochen. Auch wurde teilweise angeführt, dass die Benachrichtigung des Gerichts von diesem sowieso nicht hätte schnell genug bearbeitet werden können, um den Schaden abzuwenden.929 Hier ist zunächst nochmals auf den Umstand hinzuweisen, dass von den Strafgerichten grundsätzlich der Beurteilungsspielraum der Sozialarbeiter zu akzeptieren ist und dass nur ausnahmsweise, das heißt, sofern eine Reduzierung des Beurteilungsspielraums bzw. des Ermessens „auf Null“ anzunehmen ist, eine bestimmte Vorgehensweise, also die Benachrichtigung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII, als für zu diesem Zeitpunkt verpflichtend angesehen werden kann.930 Ist eine solche Reduktion des Beurteilungsspielraums bei § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII zu bejahen, dann stellt sich die 928 Abgesehen von der theoretisch bestehenden Möglichkeit einer Not(stands)hilfe sowie der Option, eine einstweilige gerichtliche Anordnung oder eine „Zuführung“ durch die Polizei zu erwirken; s. o. Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (dd). 929 Wobei abermals an die Möglichkeit der Anregung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gedacht werden muss. Zu beachten ist jedoch in diesem Zusammenhang der Fall „Vanessa“, in dem der angeklagte Sozialarbeiter angab, selbst ein Termin für eine einstweilige Anordnung wäre erst 8 Tage nach Antragstellung möglich gewesen. Siehe auch OLG Stuttgart NJW 1998, 3133 (Fall „Jenny“, s. o. Teil 1 A. II.), das in seinen Urteilsgründen selbst Ursachen für Verzögerungen anführt (Anhörungspflichten des Gerichts, häufig notwendige Einholung von Sachverständigengutachten, Möglichkeit der Beschwerdeeinlegung). 930 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (bb) (g).

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Frage, ob sich der eines fahrlässigen unechten Unterlassens Bezichtigte auf das potentielle Fehlverhalten Dritter berufen kann. Ansicht der herrschenden Meinung Herrschende Lehre Die herrschende Lehre, welche die sogenannte Vermeidbarkeitsthese vertritt, müsste hier – sofern der Geschehensverlauf vorstellbar931 und durch konkrete Anhaltspunkte belegbar ist – auf den ersten Blick in Anwendung des indubio-Grundsatzes eine Bestrafung ablehnen.932 Rechtsprechung In dem vom BGH im Jahr 2002 entschiedenen „Politbürofall“ machte ein wegen Tötung durch Unterlassen angeklagtes Politbüromitglied geltend, selbst wenn es eine Politbürositzung angeregt hätte, in der über die Schießbefehle an der innerdeutschen Grenze diskutiert und abgestimmt worden wäre, hätte sich wegen der sicher zu erwartenden entgegenstehenden Mehrheit nichts geändert. Die Richter wiesen diesen Einwand zurück und bezogen sich auf den „Ledersprayfall“ aus dem Jahr 1990, bei dem es sich ihrer Aussage zufolge um einen „Fall parallelen Unterlassens gleichrangiger Garanten“933 handelt. Hierin wurde der Einwand eines Gremiumsmitglieds, dem das Unterlassen des Beschlusses eines Rückrufs vorgeworfen wurde, mit dem Argument zurückgewiesen, dass „. . . sein Teilbeitrag (. . .) dafür (für das Unterlassen des zur Schadensverhinderung erforderlichen Rückrufbeschlusses)934 – im Zusammenwirken mit den Teilbeiträgen der anderen Geschäftsführer – ursächlich“ gewesen sei.935 Da er überhaupt keine Aktivitäten unternommen habe, um den tatbestandlichen Er931 Im Fall „Laura Jane“ hielten die Gerichte diesen Einwand aufgrund der eindeutigen Gefährdungslage und deren Belegbarkeit gegenüber dem Familiengericht für nicht durchgreifend. (Vgl. das AG Osnabrück in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 68). Siehe aber auch Meysen, ZfJ 2001, 414, der meint, angesichts der Unwägbarkeiten in familienrechtlichen Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB könne die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit „. . . in vielen Fällen nicht behauptet werden . . .“. Er hält die Einschätzung von Bringewat (Tod eines Kindes, S. 88 f.), dass eine Intervention des Jugendamts nach §§ 42 a. F., 43 a. F., 50 Abs. 3 a. F. SGB VIII fast immer zum Erfolg führen würde, für „anmaßend“. 932 Folgerichtig daher der Freispruch im Fall „Tanja“ (OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 201), bei dem mangels Vorsatz freilich nur hilfsweise auf den fehlenden Kausalzusammenhang eingegangen wurde. S. a. den zweitinstanzlichen Freispruch durch das LG Osnabrück im Fall „Laura Jane“, abgedruckt bei Bringewat, Tod eines Kindes, S. 133 ff. und in ZfJ 1996, 525. 933 BGHSt 48, 77, 94. 934 Anmerkung nicht im Original.

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folg zu verhindern, würden sich auch Überlegungen erübrigen, was ihm konkret zuzumuten gewesen sei.936 Im „Politbürofall“ konkretisierten die Richter diese Aussage dahingehend, dass die (Quasi-)Kausalität sich bei einem hypothetischen Unterlassen Dritter nach normativen Kriterien bemesse. Es sei ein „. . . rechtmäßiges Verhalten der parallelen Garanten zu unterstellen; denn das Recht hat von der Befolgung seiner Regeln auszugehen.“937 Risikoverringerungslehre Die Vertreter der Risikoverringerungslehre würden in diesen Fällen danach fragen, ob durch die Benachrichtigung des Gerichts eine Gefahrverringerung für das Kind eingetreten wäre.938 Dies wird man wohl – insbesondere angesichts der Amtsermittlungspflicht (§ 12 FGG) – in aller Regel bejahen müssen, sodass die eingetretene Schädigung dem Sozialarbeiter ebenfalls zuzurechnen wäre. Stellungnahme Legt man die Rechtsprechung zugrunde, so gelangt man zu dem gleichen Ergebnis wie die Risikoerhöhungslehre: Nämlich zur Unbeachtlichkeit des Einwands der hypothetischen Fehlentscheidung des Familienrichters. Die vom BGH im „Lederspray“- und „Politbürofall“ zugrunde gelegte gleichstufige Verantwortung der Garanten folgt dabei aus dem Umstand, dass der Jugendamtsmitar935 BGHSt 37, 106, 130. Der BGH nahm also eine Art Kollektivkausalität an; zust. z. B. Stratenwerth/Kuhlen, § 16, Rn. 7 m.w. N. sowie Beulke/Bachmann, JuS 1992, 743 („. . . parallel zu würdigende Sachverhaltskonstellation“). Die Literatur hat dies z. T. aber auch kritisiert. Vgl. z. B. Knauer, Kollegialentscheidung, S. 181 ff. – Er erzielt eine Zurechnung des Abstimmungsergebnisses über die str. Figur der fahrlässigen Mittäterschaft (krit. wiederum hierzu Puppe, AT2, § 48, Rn. 5; dies., GA 2004, 129 – „Jeder versagt für sich allein.“). Puppe, AT2, § 48, Rn. 8; dies., GA 2004, 137 ff. vertritt, es handele sich um einen Fall von „Mehrfachkausalität“. 936 BGHSt 48, 77, 131 f. 937 BGHSt 48, 77, 95, zust. Puppe, AT2, § 48, Rn. 12. Siehe auch den „Ledersprayfall“ (BGHSt 37, 106, 131 f.): „Von seiner strafrechtlichen Mitverantwortung wäre er nur befreit, wenn er alles ihm Mögliche und Zumutbare getan hätte, um den gebotenen Beschluss zu verhindern.“ Generell befürwortet auch Sofos, Mehrfachkausalität, S. 242 eine normative Bestimmung des hypothetischen Verhaltens Dritter: „Richtig ist das Argument, dass man von allseits normkonformen Verhalten ausgehen muss; das hat seinen Grund darin, dass das Recht von der Befolgung seiner eigenen Regeln ausgehen darf, solange dem die Tatsachen nicht entgegenstehen.“ 938 Kahlo, GA 1987, 75 ff. meint, zwar würden die Argumente gegen die Risikoerhöhungslehre beim Unterlassen grundsätzlich Gewicht besitzen, bei der Abhängigkeit eines Rettungsgeschehens vom Willen eines Dritten entziehe der Untätigbleibende dem Opfer jedoch immer eine echte Rettungsmöglichkeit – die vernünftige Entscheidung des Dritten.

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beiter bei der Benachrichtigung nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. nach § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII nicht als „Ermittlungsgehilfe des Gerichts“, sondern als eine Art Sachverständiger tätig wird.939 Die Vermeidbarkeitslehre hingegen müsste den Jugendamtsmitarbeiter bei konkreten Anhaltspunkten für eine pflichtwidrige Entscheidung des Familienrichters in dubio pro reo freisprechen. Geltung des Risikogedankens im Rahmen des Unterlassens? Für die Sichtweise der Risikoverringerungslehre spricht das kriminalpolitische Anliegen, den effektiven Rechtsgüterschutz in den Vordergrund zu stellen.940 Selbst wenn man jedoch auf dem Gebiet der Begehungsdelikte die gegen die Risikoerhöhungslehre gerichteten „klassischen“ Einwände, sie konterkariere den Grundsatz in dubio pro reo und definiere in gesetzeswidriger Weise Erfolgs- in Gefährdungsdelikte um941, nicht gelten lässt, müssen diese Bedenken doch auf dem Gebiet der Unterlassungsdelikte durchgreifen.942 So existiert nämlich beim Unterlassen kein reales Moment, auf das sich die Anwendung der Risikoverringerungslehre – und damit die nominale Wahrung des in-dubioGrundsatzes – beschränken lässt. Außerdem lässt sich gegen sie anführen, dass sie dem ursprünglichen Sinn der Entwicklung des Risikogedankens zuwiderläuft. Dieser besteht bei den Begehungsdelikten, anhand derer er entwickelt wurde, darin, nach der Feststellung der Kausalität zu prüfen, ob sich auch tatsächlich das unerlaubte Risiko realisiert hat. Damit schränkt er dort die Kausalität gegebenenfalls ein.943 Auf dem Gebiet der Unterlassungsdelikte kann jedoch nicht streng zwischen (Quasi-) Kausalität und Risikoverringerung getrennt werden, sodass letztere dann die

939

Mrozynski, SGB VIII, § 50, Rn. 6. So SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 16; ebenso Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 319 bzgl. der Risikoerhöhungslehre. 941 BGH StV 1985, 229; NJW 2000, 2757; Joecks, § 222, Rn. 20; MüKo-Duttge, StGB, Bd. I, § 15, Rn. 159 ff.; S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 179; Baumann/Weber/Mitsch, § 14, Rn. 86; Jäger, Rn. 37; Gropp, AT, § 11, Rn. 74 unter Verweis auf § 12, Rn. 52 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 676 ff.; Eisele, JA 2003, 47. Konsequent insoweit Schaffstein, Honig-FS, S. 173, der die Umdeutung von Erfolgs- in Gefährdungsdelikte in Kauf nimmt, damit jedoch – wie Roxin, AT II, § 31, Rn. 60 zutreffend ausführt – i. E. contra legem entscheidet. 942 Lackner/Kühl, Vor § 13, Rn. 14; Jescheck/Weigend, AT, § 59 III 4; Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 323; Schünemann, JA 1975, 654 f.; ders., StV 1985, 229, 231 ff. 943 Schünemann, GA 1985, 358; ders., StV 1985, 230. Vgl. aber auch Kühl, AT, § 17, Rn. 52, der die Risikoerhöhungslehre als ein die Strafbarkeit im Ergebnis ausdehnendes Moment begreift. 940

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Strafbarkeit auf Fälle ausdehnt, bei denen die Kausalität gerade noch zu klären ist.944 Anwendung der Theorien auf den Fall Im Ergebnis werden sich die Risikoverringerungslehre und die neueste Rechtsprechung von der Vermeidbarkeitslehre freilich nur in Einzelfällen unterscheiden, da die letztgenannte Meinung zu berücksichtigen hat, dass das Familiengericht nach § 12 FGG zur Amtsermittlung verpflichtet ist, und sich häufig bereits durch Zeugenaussagen etc. genügend Anhaltspunkte für eine konkrete Kindeswohlgefährdung finden lassen.945 Zudem existieren bei zahlreichen Familiengerichten in Deutschland Bereitschaftsdienste, sodass rund um die Uhr einstweilige Anordnungen erlassen werden können.946 Folglich wäre der tatbestandliche Erfolg bei einer Benachrichtigung des Familiengerichts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben, sodass die Anwendung des in-dubio- Grundsatzes nicht in Betracht kommt. Auswirkungen des KICK Durch das KICK wird den Sozialarbeitern dann, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Minderjährigen besteht und bei Widerspruch der Eltern eine familiengerichtliche Entscheidung nicht eingeholt werden kann, eine Inobhutnahme gegebenenfalls bis zur richterlichen Entscheidung ermöglicht (vgl. §§ 8a Abs. 3 S. 2, 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII). Somit kann der Einwand, sehr wahrscheinlich wäre eine Schädigung des Kindes zwischen der Anrufung des Familiengerichts und dessen Beschluss erfolgt, seit dem 1.10.2005 von vornherein nicht mehr Platz greifen.

944 Konsequent insoweit Hoyer, Rudolphi-FS, S. 103, der die Risikoerhöhungstheorie nicht neben, sondern anstelle des Kausalitätserfordernisses anwenden will. 945 So auch die Ansicht des Amtsgerichts Mönchengladbach im Fall „Vanessa“ (Urt. v. 9.3.2004, Az. 13 Cs 343/03, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de). Es rekurriert überdies zur Begründung der Unbeachtlichkeit des Verhaltens Dritter auf den „Freigängerfall“ (BGHSt 49, 1 ff.): „Die hypothetische Möglichkeit der Tötung Vanessas durch die Mutter wegen eines theoretisch anders ausgerichteten Verhaltens des Jugendamts Düsseldorf und der Polizei Düsseldorf (. . .) oder der Polizei Mönchengladbach (. . .) beseitigt nicht die Kausalität des vom Angeklagten zu verantwortenden Verhaltens; denn die Verantwortlichkeit Dritter in der Kausalkette hätte, sofern der Angeklagte pflichtgemäß gehandelt hätte, dazu geführt, dass diese statt des Angeklagten strafrechtlich zur Rechenschaft hätte gezogen werden müssen, sofern sie sich (. . .) einer Pflichtwidrigkeit schuldig gemacht und dies zu der Tat geführt hätte. (Vgl. BGH, Urteil vom 13. November, Seite 7 – 5 StR 327/03“.) 946 Zu dieser Möglichkeit bereits oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (dd).

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Einwand, der Vorgesetzte hätte nicht rechtmäßig gehandelt Wie steht es mit dem Einwand des Jugendamtsmitarbeiters, hätte er – wie vom Deutschen Städtetag empfohlen und im Grundsatz der Kollektivität (§ 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII) seit dem 1.1.2005 gesetzlich verankert – vor der Anrufung des Familiengerichts947 oder bei Problemen bei der Zusammenarbeit mit dem freien Träger948 den Vorgesetzten um Hilfe gebeten, hätte dieser wahrscheinlich ein „Abwarten“ angeordnet bzw. wäre untätig geblieben? Rechtsprechung Im sogenannten Blutbankfall949 machte die wegen Unterlassens der Einschaltung anderer Handlungspflichtiger angeklagte stellvertretende Institutsleiterin einer Blutbank geltend, selbst wenn sie die vorgesetzte Behörde informiert hätte, hätte diese ein bestimmtes Vorgehen beim Umgang mit Blutkonserven gebilligt. Der BGH arbeitete hier im Jahr 2000 insbesondere den Unterschied zum „Ledersprayfall“ heraus, bei dem er eine gemeinsame und gleichstufige Verantwortung der wegen Unterlassens des Beschlusses einer Rückrufaktion eines Produkts angenommen und den Einwand hypothetisch rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht hatte gelten lassen950: Beim „Blutbankfall“ fehle es hingegen an der Gleichstufigkeit der Verantwortlichen – die Amtswalter bei der vorgesetzten Behörde hätten allein entscheiden müssen, sodass die stellvertretende Institutsleiterin wegen der konkreten Anhaltspunkte für die Billigung des Umgangs mit den Blutkonserven durch die vorgesetzte Behörde nicht zur Verantwortung gezogen werden könne.951 Ansicht der Literatur In der Literatur ist diese Ansicht auf Ablehnung gestoßen. So meint Puppe, das richtige Ergebnis sei durch ein argumentum a maiore ad minus zu den Ausführungen des BGH im „Ledersprayfall“952 zu erzielen: Wenn schon das tatsächliche Fehlverhalten anderer das eigene nicht zu beseitigen vermöge, dann müsse dies erst recht dann gelten, wenn diesen gar nicht die Gelegenheit gegeben wurde, ihre Pflicht zu erfüllen und den Erfolgseintritt damit zu verhin947 948 949 950 951 952

Siehe ZfJ 2004, 190 (sowie Anhang), Punkt 3.4. Vgl. ZfJ 2004, 191 (sowie Anhang), Punkt 3.71. BGH NJW 2000, 2754; vgl. hierzu Puppe, AT2, § 48, Rn. 13 ff. BGHSt 37, 106, 131 f. BGH NJW 2000, 2757. BGHSt 37, 106 ff.

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dern.953 Zudem seien die Auffassung im „Blutbankfall“ durch die Aussagen im „Politbürofall“ überholt, da der BGH im letztgenannten herausgearbeitet habe, dass es sich bei der Unterstellung des hypothetischen Verhaltens Dritter nicht um eine faktische, sondern um eine normative Feststellung handele, sodass der Anwendungsbereich des in-dubio-Grundsatzes gar nicht eröffnet sei.954 Roxin argumentiert, sofern die gebotene Handlung nur durch das freie und verantwortliche Handeln eines Dritten zur Abwendung des tatbestandlichen Erfolges führen kann, bewirke das Einschalten dieses Dritten „. . . nach normativen Maßstäben (. . .) eine neue Situation“.955 Die Entscheidung des BGH im „Blutbankfall“ widerspreche diesem Grundsatz. Stellungnahme Der BGH wäre hier nach dem im „Blutbankfall“ Ausgeführten mangels Gleichstufigkeit des Jugendamtsmitarbeiters mit dem Vorgesetzten bei entsprechenden Anhaltspunkten für eine rechtswidrige Weisung bzw. für ein Unterlassen des Ergreifens der gebotenen Maßnahmen zu einem Freispruch gelangt. Indes hat er im „Politbürofall“ allgemein ausgeführt, dass sich das hypothetische Verhalten Dritter nach normativen Grundsätzen bemisst. Hierfür spricht, dass damit Spekulationen über das zu erwartende Verhalten des Vorgesetzten obsolet werden. Im übrigen ist der Ansicht Puppes und Roxins im Ergebnis zuzustimmen. Insbesondere leuchtet es unter dem kriminalpolitischen Gesichtspunkt nicht ein, warum die Anwendung des in-dubio-Grundsatzes von der Stellung des nicht eingeschalteten Handlungspflichtigen abhängen soll. Es ist daher im Ergebnis festzuhalten, dass es für die objektive Vermeidbarkeit eines Verhaltens unbeachtlich ist, wenn der zuständige Jugendamtsmitarbeiter geltend macht, wahrscheinlich hätte der Vorgesetzte selbst nicht pflichtgemäß agiert, und die Schädigung des Kindes sei daher gar nicht zu verhindern gewesen. Einwand des möglichen Fehlverhaltens Dritter im Rahmen einer Delegation Bei einer Delegation von Pflichten des Jugendamtsmitarbeiters auf einen Beschäftigten eines freien Trägers ist es denkbar, dass ersterem vorgeworfen wird, er habe letzteren nicht in ausreichendem Maß ausgewählt bzw. kontrolliert – sei 953 954 955

Puppe, AT2, § 48, Rn. 16. Puppe, AT2, § 48, Rn. 17. Roxin, AT II, § 31, Rn. 64.

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es, weil in dem Vertrag zwischen dem öffentlichen und freien Träger eine solche Auswahl- und Kontrollmöglichkeit nicht festgelegt war, sei es, weil den dortigen Festlegungen nicht Folge geleistet wurde. Gegenüber diesem Vorwurf wurde in Strafverfahren von den angeklagten Jugendamtsmitarbeitern eingewandt, der tatbestandliche Erfolg wäre auch dann eingetreten, wenn diese Auswahl- und Kontrollpflichten ordnungsgemäß erfüllt worden wären. Nach den Ausführungen des BGH im „Lederspray“- und im „Politbürofall“ kann dieser Einwand jedoch nicht durchgreifen – der Strafrichter hat vielmehr das pflichtgemäße Agieren des Familienhelfers zu unterstellen. Seit dem 1.10.2005 spricht überdies § 8a Abs. 2 SGB VIII gegen eine Beachtlichkeit dieses Einwands. (b) Einwand der möglichen Schädigung des Kindes zu einem späteren Zeitpunkt Zu beantworten bleibt, wie zu entscheiden ist, wenn der angeklagte Sozialarbeiter anführt, gegebenenfalls hätten die Eltern das Kind dann eben nach Beendigung der gerichtlich angeordneten Maßnahmen956, das heißt zu einem späteren Zeitpunkt geschädigt.957 Hierbei handelt es sich nicht um eine Konstellation drittvermittelten Rettungsgeschehens, sondern um die Frage, wie die Vergleichshypothese zwischen rechtmäßigem Alternativverhalten und real eingetretenem tatbestandlichen Erfolg konkret formuliert werden muss, um ermitteln zu können, ob das pflichtwidrige Verhalten sich im eingetretenen Erfolg niedergeschlagen hat. Auf den ersten Blick scheint dem Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bereits der allgemeine Rechtsgrundsatz entgegenzustehen, wonach Reserveursachen für die Kausalitätsfeststellung unbeachtlich sind.958 Da jedoch im Rahmen der Unterlassungsdelikte bereits auf dem Gebiet der Ursächlichkeitsprüfung hypothetische Überlegungen anzustellen sind und die Rechtsfigur des Pflichtwid956 Sei es, dass das Kind zwischenzeitlich von den Eltern getrennt wurde, sei es, dass das Sorgerecht bei diesen verblieb. 957 So offensichtlich geschehen im Fall „Vanessa“, s. hierzu die Ausführungen des AG Mönchengladbach im Urteil vom 9.3.2004 ((Az. 13 Cs 343/03), abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de). Verbreitet wird dieses Problem auch im Zusammenhang mit der objektiven Zurechnung unter dem Aspekt des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bzw. im Rahmen der objektiven Vermeidbarkeit bei der Sorgfaltspflichtverletzung diskutiert. Dies resultiert jedoch aus dem unterschiedlichen Gehalt, der der Fahrlässigkeit von den einzelnen Autoren beigemessen wird (s. dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (1) (b)). 958 Vgl. Wessels/Beulke, Rn. 161.

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rigkeitszusammenhangs überwiegend gerade als Ausnahme vom Grundsatz der Unbeachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe anerkannt wird959, mutet dieser Einwand – auch an dieser Stelle – nicht überzeugend an. Anerkannt ist aber, dass der Täter sich nicht auf jedwede beliebige Ersatzursache berufen kann.960 Ansicht des BGH im „Radfahrer-“ und im „Massenkarambolagefall“ Der BGH differenzierte in vorangegangenen Entscheidungen bislang vor allem zwischen einem Fehlverhalten des Opfers961 und dem eines Dritten. Während das rechtmäßige Alternativverhalten in der erstgenannten Konstellation seiner Ansicht nach beachtlich ist, soll sich der Täter in der letztgenannten Variante nicht auf einen fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhang berufen können. Hierfür spricht das kriminalpolitische Bedürfnis, dass die bloße Existenz eines potentiellen Ersatztäters nicht den Zusammenhang zwischen dem Verhalten und dem Erfolg beseitigt. Unklar bleibt jedoch, wie die unterschiedliche Behandlung von Opfer und Drittem rechtsdogmatisch zu erklären ist. Aussagen im „Höchstgeschwindigkeits-“ und „Freigängerfall“ „Höchstgeschwindigkeitsfall“ Im „Höchstgeschwindigkeitsfall“ präzisierte der BGH seine Aussagen zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang derart, dass in dem tatsächlich abgelaufenen Geschehen lediglich das pflichtwidrige durch das hypothetisch pflichtgemäße Verhalten zu ersetzen und im übrigen der tatsächliche Geschehensablauf zugrunde zu legen sei.962 „Freigängerfall“ 963 Sachverhalt Im „Freigängerfall“ verließ der untergebrachte Straftäter bereits vor der Gewährung des unbeaufsichtigten Ausgangs zweimal die psychiatrische Klinik, in959 Siehe S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 174; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 99a; Saliger, JZ 2004, 979; vert. Erb, Alternativverhalten, S. 72 ff. 960 Siehe Schatz, NStZ 2003, 584: „. . . kein(en) Freibrief für Spekulationen und beliebige Hypothesenbildung.“ 961 BGHSt 11, 1 („Radfahrerfall“). 962 BGHSt 33, 61, 64.

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dem er die maroden Gitterstäbe seiner Zelle auseinander bog und sich unter Zuhilfenahme verknoteter Bettwäsche abseilte, wobei die beschädigten Gitterstäbe nach den beiden Ausbrüchen jeweils nur provisorisch erneuert wurden. Die Stationsärztin hatte die behandelnden Ärzte zudem drei Tage vor Gewährung des Freigangs über die ihrer Ansicht nach bestehende Fluchtgefahr informiert. Das Urteil des LG Potsdam964 Das Landgericht Potsdam gründete auf die Tatsache der vorangegangenen Ausbrüche die Freisprüche der wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung (§§ 222, 229 StGB) angeklagten Ärzte, welche den Ausgang genehmigt hatten. Der untergebrachte Gewalttäter hätte zu jeder Zeit die Klinik verlassen können, ohne dass das für ihn schwierig gewesen wäre. Zudem hätten konkrete Anhaltspunkte für eine erneute Flucht bestanden, sodass in dubio pro reo die Ursächlichkeit zwischen dem Verhalten der Ärzte und dem eingetretenen Erfolg zu verneinen sei, weil nicht auszuschließen gewesen sei, dass der S auch bei Versagung des Ausgangs in dem besagten Zeitraum die tatsächlich begangenen Taten hätte begehen können.965 Die Entscheidung des BGH Der 5. Strafsenat verwarf diese Freisprüche und monierte, dass das Landgericht die Pflichtwidrigkeit außer Acht gelassen hatte. Die Kausalität zwischen der Gewährung des Ausgangs und dem eingetretenen Erfolg bestehe entgegen den Aussagen des LG Potsdam.966 Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass ein anderes Verhalten, das tatsächlich nicht stattgefunden hatte, den Erfolg ebenfalls nicht hätte abwenden können. Der BGH rekurrierte nicht ausdrücklich auf die objektive Zurechnung, sondern meinte, der „ursächliche Zusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Verhalten eines Angeklagten und dem Tötungs- und Verletzungserfolg“ entfalle bei Fahrlässigkeitsdelikten dann, wenn der Erfolg auch bei rechtmäßigem Ver-

963

Vgl. zum Sachverhalt BGHSt 49, 1 ff. sowie oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (bb)

(g). 964

Urt. v. 18.10.2002 (23 KLs 1/02). Siehe hierzu Schatz, NStZ 2003, 581 f. Konsequenterweise hat sich das LG Potsdam denn auch nicht näher mit der Frage auseinandergesetzt, ob das Verhalten der Ärzte als pflichtwidrig anzusehen war. 966 BGHSt 49, 1, 3 f. 965

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halten eingetreten wäre oder wenn sich dies unter Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo nicht ausschließen lasse.967 Maßgebend sei die konkrete Tatsituation, die unmittelbar zum schädigenden Ereignis geführt habe.968 Das pflichtwidrige sei durch das pflichtgemäße Verhalten zu ersetzen, im übrigen sei jedoch der tatsächliche Geschehensablauf zugrunde zu legen – „. . . darüber hinaus darf von der konkreten Tatsituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden“969. Demnach könnten die Ärzte der psychiatrischen Klinik sich nicht auf die Möglichkeit eines gewaltsamen Ausbruchs berufen. Vielmehr hätte es hierfür eines entsprechenden Willensentschlusses des Untergebrachten bedurft, für den – auch bei Berücksichtigung der länger zurückliegenden Ausbrüche – keine hinreichenden Anhaltspunkte bestanden hätten.970 Reaktionen auf den „Freigängerfall“ in der Literatur Ansicht von Schatz Schatz, auf den sich der BGH in seiner Entscheidung berufen hat, wendet sich in seiner Besprechung des Urteils des LG Potsdam sowohl gegen die Begründung als auch gegen das erzielte Ergebnis. Ausgehend von der Prämisse, dass das Gericht den Pflichtwidrigkeitszusammenhang verneint hat,971 meint er, die maßgebende Vergleichshypothese zwischen dem real eingetretenen und dem bei rechtmäßigem Verhalten zu erwartenden Geschehensablauf sei falsch gebildet worden. Er referiert die Ansicht des BGH im „Radfahrerfall“ und im „Massenkarambolagefall“, in denen zwischen dem Fehlverhalten des Täters und dem dritter Personen differenziert wurde, und argumentiert, diese Abgrenzung sei in der vorliegenden Konstellation nicht anwendbar, da es weder um ein Fehlverhalten des Opfers noch um einen „Ersatztäter“ gehe.972 Auch ein „isoliertes“ Ersetzen der pflichtwidrigen durch eine pflichtgemäße Handlung verfange nicht. Es sei gekünstelt, zunächst die Betrachtungsweise durch die Anerkennung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zu erweitern, um sie dann durch das Verbot zu verengen, das sonstige Geschehen zu modifizieren. Der Austausch eines Sachver967 968 969 970 971 972

BGHSt 49, 1, 4. BGHSt 49, 1, 4. BGHSt 49, 1, 4. BGHSt 49, 4 f. Schatz, NStZ 2003, 582. Schatz, NStZ 2003, 584.

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haltsaspekts führe zwangsläufig zu weiteren Veränderungen des Geschehensverlaufs.973 Richtigerweise müsse auf normative Auswahlkriterien abgestellt werden, um die Vergleichshypothese zwischen abgelaufenem und hypothetischem Verhalten zu bilden.974 Da die Aufgabe des Strafrechts in der Abwägung von Risiken bestehe, sei maßgebend, ob die Befolgung der betreffenden Norm in der konkreten Situation noch ihren Sinn behalten hätte. Der Normzweck entfalle nicht bereits, wenn das gefährdete Rechtsgut irgend einer sonstigen Gefährdung ausgesetzt gewesen sei – sofern eine andere hypothetische Bedingung ein völlig anderes Risiko begründet hätte, müsse der Pflichtwidrigkeitszusammenhang bejaht werden. Abzugrenzen sei also zwischen einer bloßen „,Verlaufsvariation‘ innerhalb eines identischen Risikos“ und der „Schaffung einer zusätzlichen Bedrohung“975. In der ersten Variante müsse der Pflichtwidrigkeitszusammenhang abgelehnt, in der letztgenannten hingegen angenommen werden. Bezogen auf den „Freigängerfall“ ergebe sich daher Folgendes: Zwar hätte für die im Ergebnis verletzten Rechtsgüter aufgrund der Ausbruchsneigung und der Fluchtmöglichkeiten bereits eine Gefahr auch dann bestanden, wenn der Antrag auf Freigang abgelehnt worden wäre976 – durch die Ausgangsgewährung sei jedoch „ein weiteres Risiko geschaffen (worden), das – gegenüber der bei hypothetisch-erlaubtem Verhalten anzunehmenden, eindimensionalen Risikolage – zu einer zusätzlichen Gefahr führte“.977 Der Sinn des an die Ärzte gerichteten Verhaltensgebots habe auch angesichts der Ausbruchsneigung des S weiter Bestand gehabt, zumindest sei noch eine Risikoreduzierung möglich gewesen978, sodass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen dem eingetretenen Erfolg und dem Verhalten der Ärzte nicht ausgeschlossen sei. Aus der Entscheidung des LG Potsdam werde zudem nicht ersichtlich, wann eine Erfolgskongruenz bejaht werden müsse, wann also „der“ Erfolg auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre. Im Hinblick auf den „Freigängerfall“ gewinne diese Frage Relevanz, weil nicht naheliegend gewesen sei, dass der S bei seiner Flucht „die gleichen Opfer zur gleichen Zeit in der gleichen Weise“ geschädigt hätte.979 Zwar sei anerkannt, dass unwesentliche Abweichungen zwi973 974 975

Schatz, NStZ 2003, 585. Schatz, NStZ 2003, 585, 588. Schatz, NStZ 2003, 585 (Hervorhebungen im Original); zust. Ogorek, JA 2004,

358. 976

Schatz, NStZ 2003, 586. Schatz, NStZ 2003, 586 (Hervorhebung im Original). 978 Schatz, NStZ 2003, 586. In Fn. 61 a. a. O. stellt er alternativ auf das Kriterium der Gefahrrealisierung ab. Er meint, zwischen der tatsächlich eingetretenen (Gefahr, im Verlauf des Ausgangs Rechtsgüter zu schädigen) und der bei der hypothetischen Alternative realisierten Gefahr (der Ausbruchsgefahr infolge des maroden Zustands der Klinik) habe keine Identität bestanden. 977

362

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schen real abgelaufenem und hypothetischem Kausalverlauf die Beurteilung der Erfolgskongruenz nicht hinderten, bei den von S verletzten Rechtsgütern habe es sich jedoch um höchstpersönliche gehandelt, sodass die Gleichartigkeit zwischen dem eingetretenen und dem hypothetischen Erfolg als „zumindest zweifelhaft“ bezeichnet werden müsse.980 Zudem sei eine Erfolgskongruenz dann abzulehnen, wenn ein rechtmäßiges Verhalten den Erfolgseintritt zeitlich erheblich hinausgezögert hätte.981 Ansicht von Pollähne Pollähne stimmt dem BGH zu, dass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang durch das mögliche gewaltsame Entweichen nicht unterbrochen worden sei; er kritisiert jedoch die Beschränkung der hypothetischen Betrachtung auf die „konkrete Tatsituation“. Ein solches Vorgehen gerate „zwangsläufig in die Nähe zur Willkür“.982 Es sei „äußerst zweifelhaft“, was genau „die konkrete Tatsituation“ bilde, besonders weil zwischen der Vollzugslockerung und der ersten Gewalttat nach dem Untertauchen mindestens 12 Wochen verstrichen waren.983 Nicht gelten lassen will er die Zusatzüberlegung von Schatz, dem zufolge die Erfolgskongruenz zwischen realem und hypothetischem Geschehensverlauf bereits deshalb zu verneinen ist, weil bei einem gewaltsamen Ausbruch andere Personen und damit andere höchstpersönliche Rechtsgüter geschädigt worden wären. Das Verhalten sei „so oder so ,opferneutral‘“ gewesen, „weil es ohnehin in den Händen des Patienten lag, sich ,seine Opfer auszusuchen‘.“984 Allerdings stimmt er der Sache nach der von Schatz aufgestellten Hauptbegründung zu, es komme entscheidend darauf an, ob aus materiellen Gründen ein Zusammenhang zwischen der vorgenommenen Handlung und dem eingetretenen Erfolg festzustellen sei. Er meint, maßgebend sei, „. . . dass die Pflichtwidrigkeit der Ärzte dem Patienten eine leichte Fluchtgelegenheit verschafft hat, die von ihm auch prompt genutzt wurde (individuelles Entweichungsrisiko), während die (Dauer)Pflichtwidrigkeit auf Seiten des Trägers985 eine vergleichsweise erschwerte Fluchtmöglichkeit bot (individuelles Entweichungsrisiko), die der Patient tatsächlich nicht genutzt hat und auch nur mit einer gewis-

979 980 981 982 983 984 985

Schatz, NStZ 2003, 586. Schatz, NStZ 2003, 587 (Hervorhebung im Original). Schatz, NStZ 2003, 588. Pollähne, JR 2004, 433. Pollähne, JR 2004, 433. Pollähne, JR 2004, 434, Fn. 77. Gemeint ist hier der Träger der Klinik (Anmerkung nicht im Original).

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sen Wahrscheinlichkeit genutzt hätte, wenn ihm der Ausgang als Entweichungsmöglichkeit nicht geboten worden wäre.“986 Ansicht Saligers Auch Saliger hält das Problem der Hypothesenbildung im „Freigängerfall“ für maßgebend. Seiner Ansicht nach hat der BGH hierin „ein allgemeines Reinheitsgebot für die Hypothesenbildung“ formuliert.987 Problematisch an dessen Prämissen sei jedoch – hierin stimmt er mit den bereits erwähnten Autoren überein –, dass ein Verhalten nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur zusammen mit den übrigen Umständen wirken könne. Ansicht Roxins Roxin meint, der Fall stelle „. . . ein schönes Beispiel für die Praktikabilität der Lehre von der objektiven Zurechnung“ dar.988 Er konzentriert sich bei seiner Besprechung allerdings weniger auf die Frage nach dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang, sondern meint, maßgebend sei die Realisierung eines unerlaubten Risikos im eingetretenen Erfolg, welches nicht dadurch beseitigt werde, dass ein möglicherweise rechtmäßiges Verhalten ein anderes Risiko verwirklicht hätte.989 Der Problemschwerpunkt liege bei der Frage, ob der eingetretene Erfolg den fahrlässig handelnden Ärzten bei einem freiverantwortlichen vorsätzlichen Verhalten des S zugerechnet werden könne. Der Fall zeige, dass ein schematisches Regressverbot abzulehnen sei. Die maßgebenden Gesetze würden u. a. das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit thematisieren, sodass es im Ergebnis vonnöten sei, dieses mit dem Freiheitsinteresse des Untergebrachten abzuwägen. Damit stehe man wieder vor der Frage, wann genau ein Risiko erlaubt sei. Zu deren Beantwortung seien neben den geltenden Rechtsnormen der allgemeine Vertrauensgrundsatz sowie die differenzierte Maßfigur, also das Verhalten des besonnenen und gewissenhaften Dritten in der konkreten Lage des Täters, heranzuziehen. Im Lichte dieser Kriterien lasse sich „. . . dem im Urteil mitgeteilten Sachverhalt nichts entnehmen, was ein berufsgerechtes Verhalten der Klinikärzte begründen könnte.“990 986

Pollähne, JR 2004, 435. Saliger, JZ 2004, 979 (Hervorhebungen im Original). Für ein Problem der Hypothesenbildung auch Wessels/Beulke, Rn. 197 (Bsp. 2) sowie Rn. 678a. 988 Roxin, StV 2004, 486. 989 Roxin, StV 2004, 486. Diese Aussage resultiert aus seinem Verständnis der Fahrlässigkeit als einem mit den Mitteln der objektiven Zurechnung zu lösenden Rechtsinstitut (s. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. f) (1) (b) (bb)). 987

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Ansicht Puppes Auch Puppe stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu. Sie meint, durch seine Entscheidung im „Freigängerfall“ und die darin betonte Konzentration auf die konkrete Tatsituation habe der BGH mit der conditio-sine-qua-non-Formel gebrochen, weil diese gerade hypothetische Erwägungen bedinge und nicht auszuschließen sei, dass der S „. . . die gleichen Taten, womöglich sogar zur gleichen Zeit begangen hätte, wenn ihm der Freigang nicht gewährt worden wäre“, weil für ihn die Möglichkeit zur Flucht bestanden habe.991 Zudem habe der BGH mit der Aussage, dass auch die Verantwortung Dritter für die Sicherheit des Klinikgebäudes nichts an der Zurechnung des Erfolgs ändere, „. . . die Vermeidbarkeitstheorie in ihrer bisher üblichen Form a limine verworfen“992, da nach dieser auch fremdes Fehlverhalten entlastend wirken könne. Fazit Das von Schatz, Pollähne und Puppe diskutierte Argument, im „Freigängerfall“ sei bereits zweifelhaft, ob von einer Erfolgskongruenz zwischen den Straftaten, die der S bei Gewährung des Freigangs im Vergleich zu dem gewaltsamen Ausbruch begangen hätte, ausgegangen werden könne, verfängt im Zusammenhang mit den vorliegend untersuchten Konstellationen nicht. Während für den „Freigängerfall“, in dem es um den Vorwurf einer fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung (§§ 222, 229 StGB) und damit um Begehungsdelikte ging, im Rahmen der Kausalität der Erfolg in seiner konkreten Gestalt maßgebend ist, ist beim Unterlassen der Erfolgseintritt allgemein relevant.993 Abgesehen davon müssen sowohl die formal auf die konkrete Tatsituation abstellende Rechtsprechung als auch die auf Wertungen rekurrierende Literatur zu dem gleichen Ergebnis kommen. Der Einwand eines fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs verfängt nicht im Hinblick darauf, dass das Kind möglicherweise auch bei Benachrichtigung des Familiengerichts (§ 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII) später zu Schaden gekommen wäre. Hinzudenken muss man sich nach der Beendigung der gerichtlich angeordneten Maßnahmen stets den Willensentschluss der Eltern – die Situation ist insoweit dem „Freigängerfall“ vergleichbar, bei dem zusätzlich zu dem maroden 990 991 992 993

Roxin, StV 2004, 487 f. Puppe, NStZ 2004, 555. Puppe, NStZ 2004, 556. Siehe dazu oben Teil 2 A II. 2. c) (1) (b) (dd) (g).

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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Bauzustand der Klinik ein autonomer Fluchtentschluss des S notwendig gewesen wäre, um auch ohne die Gewährung des Freigangs Gewalttaten herbeizuführen. Nach der Rechtsprechung ist der neuerliche Schädigungsentschluss der Eltern nicht mehr als der konkreten Tatsituation zugehörig anzusehen. Legt man die Aussagen der Literatur zugrunde, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich sowohl vor als auch nach der erfolglosen Inkenntnissetzung des Familiengerichts bei der Schädigung des Kindes durch die Eltern das Risiko realisiert, das zu beseitigen Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG den staatlichen Wächtern aufgibt. Es handelt sich – mit Schatz gesprochen – um eine bloße „Verlaufsvariante“ innerhalb des gleichen Risikos, nicht aber um ein völlig anderes Risiko, das sich im eingetretenen Erfolg realisiert hat. Dem Einwand, es hätten konkrete Anhaltspunkte dafür bestanden, dass das Kind auch beim Ergreifen der gebotenen Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt geschädigt worden wäre, ist daher keine entlastende Wirkung beizumessen. (bb) Fazit Bei den Fällen der Abhängigkeit des Rettungsgeschehens vom Verhalten Dritter ist sowohl nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung als auch der Risikoerhöhungslehre von der Unbeachtlichkeit des Einwands des hypothetischen Fehlverhaltens dieser Dritten auszugehen. Sofern der Jugendamtsmitarbeiter geltend macht, der Erfolg wäre auch bei einem pflichtgemäßen Verhalten eingetreten – nur eben später –, ist dem zu entgegnen, dass diese spätere Schädigung einen Willensentschluss der Eltern voraussetzt, der sowohl nach der Rechtsprechung als auch nach den in der Literatur vertretenen Ansätzen zur Ermittlung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs nicht mehr der tatbestandlichen Situation zuzurechnen ist.

3. Rechtswidrigkeit Es bleibt zu untersuchen, ob Konstellationen denkbar sind, in denen das fahrlässige Unterlassen des Jugendamtsmitarbeiters gerechtfertigt ist. Hierbei gerät vor allem der Rechtfertigungsgrund994 der Pflichtenkollision in den Fokus der Aufmerksamkeit – nicht zuletzt aufgrund der bereits mehrfach

994 Die Einordnung der Rechtsfigur als Rechtfertigungsgrund ist bislang nicht völlig geklärt. Zum Teil wird sie auch als Tatbestands- oder Schuldausschließungsgrund angesehen. Zusammenfassend hierzu S/S/Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff., Rn. 73 ff. Jüngst dazu Otto, Jura 2005, 471 f.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

angesprochenen und in diversen Urteilen berücksichtigten häufigen Überforderung fallzuständiger Sozialarbeiter.995 Überdies wird die Frage relevant, ob eine verbindliche rechtswidrige Anweisung eines Vorgesetzten eine rechtfertigende Wirkung für den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter zu entfalten vermag. a) Pflichtenkollision Zunächst soll untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen eine Rechtfertigung angenommen werden kann, wenn der Sozialarbeiter in einem „Ernstfall“ einem Kind zu Hilfe eilt, und deshalb ein anderer Fall unbearbeitet bleibt, in dem ebenfalls ein sofortiges Tätigwerden vonnöten ist. (1) Allgemeine Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes Von einer rechtfertigenden Pflichtenkollision wird heute dann ausgegangen, wenn sich zwei gleichwertige Handlungspflichten gegenüberstehen und die eine nur auf Kosten der Nichtvornahme der jeweils anderen erfüllt werden kann996 – getreu dem Grundsatz „impossibilium nulla est obligatio“997 – oder wenn eine höherrangige Handlungspflicht existiert und der Täter diese erfüllt, wobei das Rangverhältnis vom Wert der gefährdeten Rechtsgüter, dem Bezug des Täters zu diesen sowie von der Nähe der Gefahr abhängig ist.998 (2) Fahrlässige Rechtfertigung? Grundsätzlich ergeben sich aus dem Unterlassungsmoment keine Besonderheiten für die Rechtfertigung beim Begehungsdelikt.999 Wie wirkt es sich aber aus, dass es in diesem Zusammenhang um den Sonderfall des fahrlässigen Unterlassens geht? Auf den ersten Blick scheinen hier insoweit Bedenken gegenüber der Rechtfertigung angebracht, als die Rechtfertigungsgründe nach herrschender Ansicht stets spiegelbildlich zum Unrechtstatbe995 Auf den ersten Blick kommt in diesem Zusammenhang auch in Betracht, dass ein rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) vorliegt. Da dieser jedoch eine Abwägungsentscheidung verlangt, es bezüglich der Pflichtenkollision indes nur auf die Ranggleichheit der Güter ankommt, soll nur der letztgenannte Rechtfertigungsgrund geprüft werden; hierzu Cuerda Riezu in: Spanisch-Deutsches Symposium, S. 110. 996 Siehe dazu Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 135 f.; Kudlich, PdW, S. 170 f. 997 Vgl. aber Androulakis, Studien, S. 217 f., der herausarbeitet, dass genaugenommen nicht jeweils die einzelne Handlung, sondern lediglich die Lösung des Dilemmas unmöglich ist. 998 Wessels/Beulke, Rn. 736. 999 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 135.

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stand aufgebaut sind, also ein objektives und ein subjektives Moment aufweisen müssen, wobei das subjektive Moment die Kenntnis der die Rechtfertigung begründenden Tatsachen und einen Verteidigungswillen beinhaltet.1000 Da jedoch das Fahrlässigkeitsdelikt nach ganz herrschender Ansicht über keinen subjektiven Tatbestand verfügt, ist auch bei der fahrlässigen Rechtfertigung kein subjektives Rechtfertigungselement zu fordern.1001 b) „Rechtswidrige verbindliche Anweisung“? 1002 Zu prüfen bleibt, wie es sich auswirkt, wenn das Verhalten des Sozialarbeiters auf einer verbindlichen Anweisung des Vorgesetzten beruht. Weist ein Vorgesetzter seinen Untergebenen an, in einer bestimmten Hinsicht zu handeln oder untätig zu bleiben, dann kann auf den ersten Blick die Gehorsamspflicht des Untergebenen mit dessen allgemeiner Pflicht kollidieren, sich der Rechtsordnung entsprechend zu verhalten. Eine allgemeine rechtfertigende Pflichtenkollision kommt hier nicht in Betracht, da nicht zwei Handlungspflichten, sondern die Handlungspflicht, das gebotene Verhalten vorzunehmen, mit der Unterlassungspflicht bezüglich der in der rechtswidrigen Weisung aufgegebenen Handlung kollidieren. (1) Gesetzliche Regelungen (a) Allgemeines Der Gesetzgeber hat diesen Konflikt im Hinblick auf Beamte in §§ 55 f. BBG, §§ 37 f. BRRG sowie in entsprechenden landesrechtlichen Regelungen (z. B. in Art. 64 f. BayBG) behandelt.1003

1000 Vgl. in diesem Zusammenhang Hillenkamp, 32 Probleme, S. 25 ff. mit Nachweisen auch zur Gegenansicht. 1001 So Kudlich, PdW, S. 148 f. 1002 Nicht geklärt ist in der Literatur, ob eine rechtswidrige verbindliche Weisung einen Rechtfertigungs- oder lediglich einen Entschuldigungsgrund darstellt (für Rechtfertigung u. a. LK-Hirsch, Vor § 32, Rn. 177; S/S/Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff., Rn. 89; Jakobs, 16/13 f.; Lenckner, Stree/Wessels-FS, S. 224; Roxin, AT I, § 17, Rn. 18; diff. zwischen den allgemeinen Beamtengesetzen und neueren Gesetzen Wessels/Beulke, Rn. 450. Für eine bloße Entschuldigung hingegen z. B. Tröndle/Fischer, Vor § 32, Rn. 16; Baumann/Weber/Mitsch, § 17, Rn. 143, § 23, Rn. 50 ff.; Wagner, Amtsverbrechen, S. 338 ff.). Da die Frage lediglich Relevanz im Hinblick auf eine gegen die in Ausführung einer Weisung gerichtete Notwehrhandlung entfaltet, soll sie hier dahingestellt bleiben. 1003 Eine entsprechende Regelung für Soldaten findet sich in § 11 SoldatG.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Sofern der Jugendamtsmitarbeiter nicht verbeamtet wurde, findet sich eine Regelung in § 8 Abs. 2 BAT. Demnach sind Weisungen des Vorgesetzten grundsätzlich zu §§ 55 S. 2 HS 1 BBG, 37 S. 2 BRRG, Art. 64 Abs. 2 S. 2 HS Abs. 2 S. 1 BAT). Sofern ein verbeamteter Sozialarbeiter von angewiesen wird, sich in einem bestimmten Sinne zu verhalten, ihn also dieser Umstand.

befolgen (vgl. 1 BayBG, § 8 höherer Stelle dann entlastet

Eine Ausnahme gilt jedoch gemäß §§ 56 Abs. 2 S. 3 HS 2 BBG, 38 Abs. 2 S. 2 HS 2 BRRG, Art. 65 Abs. 2 S. 3 HS 2 BayBG dann, wenn deren Befolgung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit bewirken würde und dies für den Untergebenen auch erkennbar ist bzw. dann, wenn die Verwirklichung der Anweisung die Menschenwürde verletzen würde. In diesen beiden Fällen besteht kein Recht und keine Pflicht, der Weisung Folge zu leisten.1004 § 8 Abs. 2 S. 3 BAT sieht das Gleiche bei der erkennbaren Verwirklichung einer Straftat vor. (b) „Erkennbarkeit“ Es ist umstritten, ob das Erfordernis der Erkennbarkeit bereits die Verbindlichkeit der Weisung beeinflusst, oder ob die Normen dergestalt teleologisch reduziert werden müssen, dass dieses Tatbestandselement lediglich einen Hinweis auf einen möglichen Verbotsirrtum des Amtswalters darstellt. Zugunsten der letztgenannten Ansicht wird u. a. neben dem Argument, der objektive Umstand der Verbindlichkeit könne nur durch objektive Fakten bestimmt werden, vergleichend auf § 11 Abs. 2 S. 1 SoldatG rekurriert, der für den militärischen Befehl kein solches Erfordernis aufstellt.1005 Gegen eine derartige Auslegung der beamtenrechtlichen Normen spricht jedoch, dass der Gesetzgeber bei deren Schaffung bewusst auf die innere Einstellung des Angewiesenen rekurrieren wollte, sodass die Voraussetzung der teleologischen Reduktion1006 – der planwidrig zu weit geratene Anwendungsbereich einer Regelung – nicht gegeben, das Erfordernis der Erkennbarkeit de lege lata also hinzunehmen ist.1007 1004 1005

Roxin, AT I, § 17, Rn. 19, Fn. 26. Siehe z. B. Felix, Remonstrationsrecht, S. 129 f. m.w. N.; i. E. ebenso Jakobs,

16/12. 1006 Vgl. zu den Voraussetzungen der Rechtsfortbildung allgemein Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff. 1007 Für eine Respektierung der – freilich kritikwürdigen – Regelungen daher auch Roxin, AT I, § 17, Rn. 16. („Das ist sachwidrig, aber nach geltendem Recht hinzunehmen.“); Lenckner, Stree/Wessels-FS, S. 229 (zur Kritik vgl. S. 229 a. a. O.: „. . . Überbewertung des Gehorsamsprinzips“, S. 230: „. . . daraus sich ergebende(n) innerstraf-

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(2) Verbindlichkeit der Weisung auch bei Rechtswidrigkeit oder Zweifeln? Auf den ersten Blick scheint der Themenkomplex „rechtswidrige Weisung“ nahezu erschöpfend gesetzlich geregelt zu sein und eine Kollision von Pflichten nur dann denkbar, wenn dem Sozialarbeiter die strafbarkeitsauslösende Wirkung der verbindlichen Weisung nicht erkennbar war. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass keine Regelung für den – praktisch wohl häufigeren – Fall besteht, bei dem die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens nicht von vornherein deutlich zu Tage tritt – sei es, weil der Vorgesetzte und der Untergebene den Sachverhalt abweichend beurteilen, sei es weil eine bestimmte Rechtsfrage umstritten ist und der Beamte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Weisung hegt. Hier stellt sich die Frage, wie weit die Gehorsamspflicht konkret reicht. Die beamtenrechtlichen Regelungen sehen für diese Fälle grundsätzlich ein Remonstrationsverfahren vor (vgl. §§ 56 Abs. 2 BBG, 38 Abs. 2 BRRG, Art. 65 Abs. 2 BayBG).1008 Nicht geregelt ist hingegen, was der Amtswalter zu tun hat, wenn ein solches erfolglos durchlaufen wurde. Zur Lösung des Konflikts zwischen Gehorsamspflicht und der Verpflichtung zu rechtmäßigem Verhalten erscheint es hilfreich, sich auf den Zweck hierarchischer Strukturen zu besinnen. Dieser besteht in der Vermutung, dass der Vorgesetzte gegenüber dem Untergebenen über die umfassendere Sachkunde verfügt sowie in der Abhängigkeit der Funktionsfähigkeit der Verwaltung von bestimmten Handlungsketten. Aus diesem Grund sollte der Begriff der „Straftat“ bzw. der „Strafbarkeit“ restriktiv interpretiert werden, sodass einer Anweisung die Verbindlichkeit nur dann abzusprechen ist, wenn der hierdurch bewirkte Verstoß gegen Strafgesetze evident ist, d. h. wenn gewichtige Gründe in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Weisung begründen.1009 Als derartiger Grund kommt z. B. in Betracht, dass ein sofortiges Tätigwerden notwendig ist und der Vorgesetzte nicht vollständig über den Betreuungsrechtliche(n) Unstimmigkeiten (. . .), so, wenn die sonst erst im Rahmen der Schuld interessierende Frage des subjektiven (Nicht)Erkennenkönnens hier, weil davon die Verbindlichkeit der Weisung abhängt, bereits über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes entscheidet.“) 1008 Siehe hierzu umfassend Felix, Remonstrationsrecht, S. 62 ff. 1009 So Lenckner, Stree/Wessels-FS, S. 235; zust. Roxin, AT I, § 17, Rn. 16. Zu pauschal daher Bohnert, ZStW 117 (2005), 316: „Das Strafrecht verpflichtet den Amtsträger nicht zur Revolte gegen seine Aufgaben und Anweisungen.“ (vgl. aber auch S. 318 a. a. O.: „. . . dass ungeeignete (rechtswidrige?) Dienstanweisungen zur Einteilung der Reihenfolge seines Einsatzes ihn nicht rechtfertigen würden, sei nur angedeutet“).

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verlauf informiert ist bzw. dass die Weisung der aktuellen Rechtsprechung widerspricht.1010 c) Fazit Eine Rechtfertigung des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters ist zum einen bei einer rechtfertigenden Pflichtenkollision zu bejahen, wenn der Amtswalter mehrere Notfälle zu bearbeiten hat und nicht in der Lage ist, alle gleichzeitig zu versorgen. Zum anderen entfaltet eine Anweisung des Vorgesetzten, in dem übernommenen Fall in einer bestimmten Weise zu verfahren, eine rechtfertigende Wirkung, sofern die Rechtswidrigkeit der Weisung für den Sozialarbeiter nicht evident ist. 4. Schuld Wie bereits im Rahmen der allgemeinen Ausführungen zur Fahrlässigkeit erörtert, wird vorliegend der ganz herrschenden Ansicht gefolgt, die diese als Element sowohl des Tatbestands als auch der Schuld erachtet. a) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung Daher ist an dieser Stelle zu prüfen, wann dem Sozialarbeiter ein subjektiver Sorgfaltspflichtverstoß angelastet werden kann. Zu untersuchen ist insoweit, ob die objektiven Sorgfaltspflichten auch konkret für den Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten erfüllbar waren1011, ob ihm also auch persönlich ein Vorwurf dahingehend gemacht werden kann, dass er die ihm mögliche Sorgfalt außer Acht ließ, obgleich der Erfolgseintritt für ihn subjektiv vorhersehbar und vermeidbar war.1012 (1) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung (a) Allgemeines Der wegen fahrlässigen Unterlassens angeklagte Jugendamtsmitarbeiter könnte geltend machen, er habe für den Umgang mit derartigen „Problemfamilien“ keine adäquate Ausbildung genossen. Nach der vorstehenden Definition

1010 1011 1012

Hierzu Lenckner, Stree/Wessels-FS, S. 235. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 186; Otto, GK AT, § 10, Rn. 12. S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 190.

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der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung scheint der Sozialarbeiter entschuldigt zu sein. (b) Übernahmeverschulden Dann aber wäre weiter zu prüfen, ob der strafrechtliche Vorwurf dergestalt vorverlagert werden kann1013, dass sich der Sozialarbeiter auf eine bestimmte Tätigkeit einließ, obwohl ihm die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse fehlten.1014 Wie weit darf diese Vorverlagerung gehen? Roxin, der von einer strukturellen Vergleichbarkeit von fahrlässiger actio libera in causa und Übernahmeverschulden ausgeht, meint, zur Vermeidung der Konstruktion einer „Lebensführungsschuld“ sei es vonnöten, auf den Beginn der unerlaubten Tätigkeit abzustellen.1015 Überträgt man den gedanklichen Kern der Ausführungen Roxins sinngemäß, so erscheint es angezeigt, auf die Fallübernahme abzustellen. Bemerkt also der Sozialarbeiter zum Beispiel bei der Übernahme einer Betreuung, dass die Mutter an einem psychischen Defekt leidet, er jedoch keinerlei Kenntnisse im Umgang mit diesen Personen besitzt, so ist er gehalten, sich fachkundiger Hilfe zu versichern und gegebenenfalls die Betreuung des Falls an einen erfahrenen Kollegen abzugeben. Dem entspricht nunmehr auch der in § 8a Abs. 1 SGB VIII normierte Grundsatz kollektiven Zusammenwirkens. (2) Subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit Wie im Rahmen der Prüfung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung ist auch bei der Fahrlässigkeitsschuld vonnöten, dass der tatbestandsmäßige Erfolg voraussehbar und vermeidbar war, wobei in diesem Zusammenhang der Maßstab ein rein subjektiver ist, der sich an der Person des Täters orientiert.1016 Insoweit ist zu hinterfragen, ob der Sozialarbeiter Anhaltspunkte dafür besaß, dass es zu dem letztlich eingetretenen Erfolg kommen würde, und ob gerade er in der Lage war, diesem entgegenzutreten.1017 1013 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 107; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 214 f. 1014 So auch Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 94. 1015 Roxin, AT I, § 24, Rn. 111. Er führt u. a. den Fall an, dass ein Chirurg sein Studium nicht mit dem nötigen Einsatz betrieben hat. 1016 S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 201. Vgl. in diesem Zusammenhang BayObLG NJW 1998, 3580 (Fall „Jason“): „. . . ausführliche(r) Würdigung der Person, der Herkunft, der sozialen Stellung und Befähigung des Angekl.“

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

b) Entschuldigungsgründe – Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Schließlich bleibt zu prüfen, in welchen Konstellationen das Verhalten des Sozialarbeiters als entschuldigt anzusehen ist. Hierbei kommt vor allem in Betracht, dass dem fallzuständigen Sozialarbeiter ein normgemäßes Verhalten nicht zugemutet werden konnte.1018 (1) Existenz des Entschuldigungsgrundes der Unzumutbarkeit Bis zum heutigen Tag ist noch nicht vollständig geklärt, ob es sich bei der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens um einen eigenständigen Entschuldigungsgrund handelt, wie die wohl herrschende Ansicht annimmt1019, oder ob diese Situation lediglich zu einer Begrenzung der subjektiven Sorgfaltspflicht führt1020 – eine Frage, die im Rahmen der fahrlässigen Delikte nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führt und daher vorliegend dahingestellt bleiben kann.1021 (2) Rechtswidrige Dienstanweisungen Im Kontext der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens wird häufig der vom Reichsgericht entschiedene „Leinenfängerfall“1022 genannt, den man als Konstellation sorgfaltspflichtwidrigen Agierens aufgrund einer fehlerhaften 1017 Vgl. hierzu die Ausführungen des AG Mönchengladbach im Fall „Vanessa“: „Der Angeklagte war mit der ihm obliegenden Aufgabe nicht überfordert. Nach Darstellung seiner Vorgesetzten (. . .) war und ist er ein erfahrener Sozialarbeiter, der bereits in der Vergangenheit Inobhut- und Herausnahmen im Sinne des KJHG umsichtig und besonnen durchgeführt habe.“ (Urt. v. 9.3.2004, Az. 13 Cs 343/03, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de). 1018 Zu beachten ist, dass beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt die Frage der Zumutbarkeit von einigen Autoren bereits bei der Garantenstellung geprüft wird (vgl. Otto, GK AT, § 9, Rn. 103; Stratenwerth/Kuhlen, § 15, Rn. 51). Da jedoch inhaltlich stets dieselben Aspekte zu behandeln sind, wird die Frage vorliegend nur an dieser Stelle aufgeworfen. 1019 S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 204; Wessels/Beulke, Rn. 739; s. a. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 199, der aus § 6 öStGB (abgedruckt bei Gropp, AT, § 12, Rn. 68), wonach „Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist (. . .)“), eine getrennte Prüfung von subjektiver Sorgfaltswidrigkeit und Zumutbarkeit folgert. 1020 So Jescheck/Weigend, AT, § 57 IV. Wie Roxin, AT I, § 24, Rn. 121 zutreffend anführt, stehen beide Ansichten nicht unvereinbar nebeneinander. 1021 Siehe aber Wessels/Beulke, Rn. 739 zu Fällen, in denen die Frage praktische Relevanz besitzt. 1022 RGSt 30, 25; dazu Gropp, AT, § 12, Rn. 112; Jescheck/Weigend, AT, § 57 IV (m. w. Bsp.).

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Dienstvorschrift charakterisieren kann. Auf den ersten Blick scheinen hierzu auch die Fälle zu gehören, in denen Sozialarbeiter aufgrund von Weisungen ihres Vorgesetzten (z. B. keine teure Inobhutnahme o. ä. vorzunehmen) eine zur Rettung des Kindes erforderliche Maßnahme unterlassen. Allerdings werden derartige Konstellationen heutzutage bereits durch die Anwendung der beamtenrechtlichen Vorschriften bzw. des § 8 Abs. 2 S. 3 BAT erfasst und gerechtfertigt, sofern dem Sozialarbeiter die Verwirklichung eines Straftatbestands nicht erkennbar war.1023 Falls der Sozialarbeiter hingegen erkennen kann oder sogar erkennt, dass die Befolgung der Weisung eine Straftatbegehung bedeutet, so ist diese für ihn unverbindlich. Dann scheidet eine Entschuldigung bereits ihrem Wesen nach aus, da die persönliche Vorwerfbarkeit in dem Fall nicht durch die hierarchische Struktur und die hierdurch bewirkte persönliche Zwangslage des Amtswalters gemindert wird.1024 5. Irrtumsfragen Schließlich bleibt zu fragen, inwiefern sich Irrtümer des Sozialarbeiters auf dessen Strafbarkeit auswirken können. a) Tatbestandsirrtum Sofern der Jugendamtsmitarbeiter gegenüber dem Vorwurf fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung anführt, er habe die tatbestandliche Situation – also die Umstände, die zur Bejahung des normativen Tatbestandsmerkmals der Garantenstellung führen – nicht erkannt, ist § 16 Abs. 1 S. 2 StGB einschlägig. Zu untersuchen bleibt demgemäß, ob dem Sozialarbeiter bezüglich dieser Unkenntnis fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen ist. b) Gebotsirrtum Von größerer praktischer Relevanz ist es, wenn sich der Sozialarbeiter über den Umfang der aus der Garantenstellung resultierenden Pflichten irrt. Bei den Garantenpflichten handelt es sich nicht um normative Tatbestandsmerkmale, weil sie sich aus einer Gesamtbewertung aller tatsächlichen Umstände ergeben, sodass eine Fehlvorstellung in diesem Bereich das Unrechtsbe-

1023

Siehe oben Teil 2 A. II. 3. b) (1) (a). Im Ergebnis ebenso Fieseler, UJ 2001, 435. Allgemein gegen den Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens auch Bohnert, ZStW 117 (2005), 306. („. . . für die Problematik des strafbaren Amtswalters kaum Bedeutung, weil dessen persönliche Interessen von der Amtsstellung abgetrennt werden.“) 1024

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

wusstsein betrifft.1025 Ein derartiger Irrtum führt zur Verneinung der Schuld, sofern der Irrtum als unvermeidbar anzusehen ist.1026 § 17 S. 1 StGB ist entsprechend anzuwenden.1027 (1) Rechtsprechung (a) Fall „Laura Jane“ Das OLG Oldenburg warf im Fall „Laura Jane“ die Frage auf, inwiefern der Irrtum der fallzuständigen Sozialarbeiterin über den Inhalt der zwischen dem Jugendamt und dem freien Träger vereinbarten „Freizeichnungsklausel“ deren Strafbarkeit zu beeinflussen vermochte.1028 Letztlich nahm das Gericht an, dass die Sozialarbeiterin möglicherweise einem unvermeidbaren Gebotsirrtum unterlegen sei, aufgrund fehlender Angaben in dem zur Revision stehenden Urteil verwies es die Sache jedoch zurück. Die Einstellung des Verfahrens führte dazu, dass diese Frage nicht abschließend geklärt wurde. (b) Fall „Jenny“ Auch im Fall „Jenny“ konstatierte das OLG Stuttgart eine Irrtumslage. Die Richter meinten, der Lüneburger Sozialarbeiter habe die ihm von der Rechtsordnung zugebilligten Handlungsmöglichkeiten verkannt und sich damit über das Ausmaß seiner Garantenpflichten geirrt.1029 Indes sei dieser Gebotsirrtum vermeidbar gewesen, da ein ausgebildeter Jugendamtsmitarbeiter diese Fehlvorstellung durch Recherchen in einem Kommentar oder durch entsprechende Erkundigungen hätte revidieren können. (2) Reaktionen in der Literatur In der Literatur finden die Aussagen des OLG Oldenburg kaum Zustimmung. So meint Bringewat, einem Sozialarbeiter müsse einfach bekannt sein, dass eine Delegation nicht von der Pflicht zur Auswahl und Kontrolle entbinde.1030

1025

Vgl. Roxin, AT II, § 31, Rn. 191. BGHGrS 16, 155, 158. 1027 Gropp, AT, § 11, Rn. 98; Roxin, AT II, § 31, Rn. 189; Wessels/Beulke, Rn. 738. 1028 OLG Oldenburg StV 1997, 134 f. 1029 OLG Stuttgart NJW 1998, 3133. 1030 Bringewat, StV 1997, 136 („. . . eine mit der Professionalität sozialer Arbeit nicht zu vereinbarende Vorstellung“); zust. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 97. 1026

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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Dem OLG Stuttgart hingegen wird weitgehend beigepflichtet. Beulke/Swoboda vertreten die Auffassung, dass Fachkräfte sich ihrer rechtlichen Handlungsmöglichkeiten im Fall einer Kindeswohlgefährdung bewusst sein müssen.1031 (3) Stellungnahme Bevor diese Aussagen einer abschließenden Beurteilung unterzogen werden können, ist es notwendig, sich die Struktur des § 17 StGB vor Augen zu führen. (a) Unrechtsbewusstsein § 17 StGB bezieht sich auf das Unrechtsbewusstsein, welches auf dem Gebiet der Begehungsdelikte beinhaltet, dass der Täter weiß, dass sein Verhalten verboten ist.1032 Durch die Vorschrift wurde die sogenannte Schuldtheorie in das Gesetz inkorporiert.1033 (aa) Auf dem Gebiet des Unterlassens Auf dem Gebiet der Unterlassungsdelikte beinhaltet das Unrechtsbewusstsein dementsprechend, dass der Täter die Gebotenheit der vorzunehmenden Handlung erkennt, dass er also weiß, dass er von Rechts wegen tätig werden muss.1034 (bb) Auf dem Gebiet der Fahrlässigkeit Auch für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte sieht § 17 StGB keinerlei Ausnahmen vor. Die Norm findet auch in diesem Kontext Anwendung.1035 Uneinigkeit herrscht jedoch in der Literatur darüber, ob dies sowohl für die Variante der unbewussten wie auch für die der bewussten Fahrlässigkeit gilt. (a) Unbewusste Fahrlässigkeit Bei unbewusst fahrlässiger Deliktsverwirklichung ist stets davon auszugehen, dass der Täter sich über das Verbotensein seiner Handlung bzw. über die Gebo1031

Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 97. Bereits richterrechtlich entwickelt in BGHSt 2, 196. 1033 Arzt, ZStW 91 (1979), 857. 1034 Jescheck/Weigend, AT, § 60 I 1. 1035 LK-Schroeder, § 17, Rn. 2; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 218; Jescheck/Weigend, AT, § 57 I 2. 1032

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tenheit seiner Unterlassung irrt – er erkennt ja noch nicht einmal die tatsächlichen Voraussetzungen, die die Grundlage für das Unwerturteil bilden. Ein Verbots- oder Gebotsirrtum ist der unbewussten Fahrlässigkeit also geradezu immanent.1036 Unklarheit besteht jedoch darüber, ob dieser Irrtum bereits im Rahmen der Frage nach der objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit im Tatbestand zu verorten oder ob ihm eine eigenständige Bedeutung im Rahmen des Verbotsirrtums zuzubilligen ist.1037 Unbestritten ist lediglich, dass bei der unbewussten Fahrlässigkeit nicht per se § 17 StGB anzuwenden ist.1038 Doch muss der Norm die Anwendbarkeit im Rahmen dieser Fahrlässigkeitsvariante gänzlich versagt bleiben? Dagegen spricht, dass man dann den unbewusst fahrlässig Handelnden gegenüber bewusst fahrlässig bzw. vorsätzlich Agierenden benachteiligen würde.1039 Gegen eine Anwendung der Norm auf unbewusst fahrlässiges Unterlassen kann auch nicht eingewendet werden, dass die Rechtsfigur des Unrechtsbewusstsein auf dem Gebiet unbewusster Fahrlässigkeit nicht „passe“, da es sich hierbei um keinen statischen Begriff handelt. Man kann in diesem speziellen Bereich vielmehr die hypothetische Frage stellen, ob sich der Täter über das Verbotensein seiner Handlung bewusst geworden wäre, wenn er die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung hätte erkennen können.1040 Sofern dies zu bejahen ist, ist ein Unrechtsbewusstsein anzunehmen. Muss die Frage hingegen verneint werden, dann fehlte dem Täter ein solches und § 17 StGB findet Anwendung. Hat also z. B. ein Sozialarbeiter bei einem Hausbesuch die Vernachlässigung des Kindes nicht erkannt, weil die Mutter das Kind so dick angezogen hatte, 1036 Jakobs, 19/34; siehe auch Schünemann, JA 1975, 788: „. . . der Täter kennt das Gesetz, aber nicht seine eigene Tat, während der im Verbotsirrtum handelnde Vorsatztäter seine eigene Tat, aber nicht das Gesetz kennt“; aA hingegen Arzt, ZStW 91 (1979), 877 – er zweifelt die Priorität des Tatbestandsirrtums an. 1037 Roxin, AT I, § 24, Rn. 103, spricht in diesem Zusammenhang von „gewisse(n) Schwierigkeiten“. Für eine Verortung im Rahmen des Verbotsirrtums Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 52 (angesichts der Unsicherheiten bei der Bestimmung der Sorgfaltsnormen meint er: „Die Fahrlässigkeit ist die Domäne des Verbotsirrtums schlechthin!“); dagegen u. a. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 197 („. . . Probleme um Unrechtsbewusstsein und Verbotsirrtum im Fahrlässigkeitsstrafrecht nur sehr geringe praktische Bedeutung“) und Schünemann, JA 1975, 788. Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 221 plädiert dafür, beide „Irrtümer“ jeweils für sich gesehen zu berücksichtigen und bei der Frage nach der Erkennbarkeit stets den gleichen Maßstab anzulegen. 1038 LK-Schroeder, § 17, Rn. 2; Schünemann, JA 1975, 788. 1039 So auch Rudolphi, Verbotsirrtum, S. 177 f. 1040 So auch LK-Schroeder, § 17, Rn. 2; Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 197; Roxin, AT I, § 24, Rn. 105 im Anschluss an Rudolphi, Verbotsirrtum, S. 174 f. (Arzt, ZStW 91 (1979), 879 bezeichnet diese Ansicht als „vermittelnde Lösung“. Er selbst postuliert jedoch auf dem Gebiet der unbewussten Fahrlässigkeit die sogenannte Vorsatztheorie).

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dass das Abmagern nicht offenkundig wurde, so ist die Frage zu stellen, ob der Jugendamtsmitarbeiter den ihm obliegenden Garantenpflichten nachgekommen oder ob er auch dann untätig geblieben wäre, wenn ihm die Gefahrenlage bewusst geworden wäre. (b) Bewusste Fahrlässigkeit Sofern sich der Täter der tatbestandsmäßigen Situation bewusst ist, wird zum Teil angenommen, dass es ihm dann grundsätzlich niemals am Unrechtsbewusstsein mangeln könne.1041 Dagegen spricht jedoch, dass sehr wohl zwischen der Kenntnis von der tatbestandlichen Situation und dem darauf bezogenen Unrechtsbewusstsein unterschieden werden kann. Auf dem Gebiet des bewusst fahrlässigen Verhaltens ist die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein dahingehend zu formulieren, ob der Täter die Vorstellung vom Verbotensein/Gebotensein aktivieren konnte.1042 (b) Vermeidbarkeit § 17 StGB macht die Schuld des Täters davon abhängig, ob dieser die Fehlvorstellung über das Unrecht einer Verhaltensweise vermeiden konnte. Sofern ihm dies nicht möglich war, agierte er ohne Schuld. Falls hingegen ein vermeidbarer Irrtum vorliegt, sieht § 17 S. 2 StGB lediglich eine fakultative Strafmilderungsmöglichkeit vor. Maßgebend ist daher die Frage, in welchen Konstellationen davon auszugehen ist, dass der Irrtum für den Täter unvermeidbar war. Die Rechtsprechung stellt zu deren Beantwortung darauf ab, ob der Täter dem Irrtum durch „Nachdenken oder Erkundigung“ entgegenzuwirken vermochte.1043 Die Literatur hat diese Formel präzisiert. Sie erachtet eine Fehlvorstellung über die Gebotenheit einer Handlung dann als vermeidbar, wenn der Täter einen Anlass besitzt, hierüber nachzudenken, wenn er im Hinblick hierauf keine 1041 Dieses Ergebnis hält Arzt, ZStW 91 (1979), 868 bei Zugrundelegung der herrschenden Ansicht für unausweichlich. Er selbst geht jedoch im Rahmen der Fahrlässigkeit von einer Identität von Unrechtstatbestand und Rechtswidrigkeit aus und wendet daher auf Fälle des Verbotsirrtums stets die „Vorsatztheorie“ an (dazu krit. Roxin, AT I, § 24, Rn. 103, Fn. 119: „. . . ohne zwingenden Grund“). 1042 SK-Rudolphi, § 17, Rn. 19 f.; Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 196 f. 1043 BGHGrS, 2, 194, 201 – der BGH spricht überdies von einer „Anspannung des Gewissens“ – krit. dazu SK-Rudolphi, § 17, Rn. 32; ders., Verbotsirrtum, S. 224; Jakobs, 19/41; Roxin, AT I, § 21, Rn. 44, die meinen, dies beantworte nur die Frage, ob die Tat sittenwidrig war.

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oder lediglich unzureichende Bemühungen zeigt und wenn für ihn schließlich die Möglichkeit besteht, eine zutreffende Information über die Gebotenheit zu erlangen. (aa) Anlass Im Zusammenhang mit dem Irrtum nach § 17 StGB wird beim Unterlassungsdelikt häufig darauf hingewiesen, dass insoweit im Vergleich zu den Begehungsdelikten höhere Anforderungen an die Vermeidbarkeit zu stellen seien, sodass dem Täter öfter ein unvermeidbarer Gebotsirrtum zugebilligt werden müsse.1044 Einigkeit darüber, dass sich eine Person über die Gebotenheit einer Handlung zu informieren hat, besteht jedoch unter anderem dann, wenn jemand sich nicht um entsprechende Kenntnisse bemüht, obwohl er in einem spezialgesetzlich geregelten Rechtsgebiet tätig wird.1045 Der Jugendamtsmitarbeiter hat damit gerade Anlass, sich ausreichend zu informieren. (bb) Erkundigungen Konkret hat er sich daher nach den ihm obliegenden Handlungspflichten zu erkundigen. (a) Eigene Recherchen Grundsätzlich ist es dem Täter zwar möglich, selbst das betreffende Gesetz zu lesen und gegebenenfalls unter Heranziehung entsprechender Fachliteratur auszulegen. Speziell im Hinblick auf die zum Teil nicht ganz eindeutig gesetzlich niedergelegte Rechtslage1046 ist dies jedoch für einen juristischen Laien mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Sind mehrere Deutungen eines Gesetzes denkbar und legt der Täter die für ihn günstigste zugrunde, dann soll dies nach der wohl überwiegenden Ansicht in der Literatur grundsätzlich lediglich zur Annahme eines vermeidbaren Irrtums führen.1047

1044 Siehe z. B. BGHGrS 16, 155, 160; LK-Schroeder, § 17, Rn. 31; S/S/Cramer/ Sternberg-Lieben, § 17, Rn. 21a; Fünfsinn, Fahrlässiges Unterlassen, S. 223; Gropp, AT, § 11, Rn. 99; Jescheck/Weigend, AT, § 60 I 3; Roxin, AT II, § 31, Rn. 209 f.; Wessels/Beulke, Rn. 738; zurückhaltend Jakobs, 19/40 („. . . nicht generell richtig“) – er führt die wohl herrschende Meinung auf die seiner Ansicht nach zu weit geratene Garantensystematik zurück. 1045 Roxin, AT I, § 21, Rn. 55, 57. 1046 Siehe hierzu Teil 1 E. III. 1047 SK-Rudolphi, § 17, Rn. 13, 35.

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Sofern der Zweifelnde sich an Gerichtsentscheidungen orientiert, hat für ihn das höherrangige Urteil die ausschlaggebende Bedeutung.1048 Übertragen auf die vorliegend einschlägigen Fälle wäre also zum Beispiel nicht das freisprechende Urteil des Landgerichts Osnabrück, sondern die Entscheidung des Oberlandesgerichts Oldenburg maßgebend. Bestehen Diskrepanzen zwischen der Rechtsprechung und der Literatur, hat sich der Zweifelnde an der erstgenannten zu orientieren. Die Judikatur stellt bis zu einer Rechtsprechungsänderung die ausschlaggebende Institution dar, da nur ihr die Fähigkeit zur Rechtsfortbildung zuerkannt wird.1049 (b) Rat eines Rechtskundigen Ein sicheres Mittel zur Vermeidung eines Irrtums bietet der Rat eines zuverlässigen Rechtskundigen, der um Auskunft über die Gebotenheit einer Handlung gebeten wird.1050 Die Rechtsprechung erachtet den Rechtskundigen dann als zuverlässig, wenn er sachkundig und unvoreingenommen ist, im Zuge der Auskunftserteilung keine Eigeninteressen verfolgt und wenn er die Gewähr dafür bietet, dass er objektiv, sorgfältig, pflichtgemäß und verantwortungsbewusst informiert.1051 Daher genügt der Sozialarbeiter seiner Pflicht, wenn er – zum Beispiel im Rahmen einer Dienstbesprechung oder einer Fallkonferenz – eine Person um Rat fragt, die über entsprechende juristische Kenntnisse verfügt, z. B. weil sie an einer entsprechenden Schulung teilgenommen hat.1052 (g) Rat sonstiger Kollegen Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn sich der Ratsuchende an Kollegen und Vorgesetzte wendet, die keine Volljuristen sind bzw. bezüglich derer kein Vertrauen gerechtfertigt erscheint, dass sie über umfassende juristische Kenntnisse auf dem einschlägigen Gebiet verfügen. Ihre Auskünfte werden überwie1048 SK-Rudolphi, § 17, Rn. 39; S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 17, Rn. 21; Bringewat, Tod eines Kindes, S. 111; Puppe, Rudolphi-FS, S. 231; Roxin, AT I, § 21, Rn. 63. 1049 Puppe, Rudolphi-FS, S. 232. 1050 BGHSt 20, 372. 1051 BGHSt 40, 257, 264. Nach der überwiegenden Rechtsprechung (vgl. jedoch auch BGHSt 30, 270, 276 f.; OLG Stuttgart JR 1978, 294 f.) genügt es grundsätzlich auch, einen „Hausjuristen“ einer Behörde (z. B. des Jugendamts) heranzuziehen, sofern nicht Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass andere vertrauenswürdige Auskunftspersonen diese Rechtsfrage abweichend beurteilen. Siehe hierzu umfassend SK-Rudolphi, § 17, Rn. 40 m.w. N. 1052 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 114 f.

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gend als nicht hinreichend erachtet, um die Unvermeidbarkeit des Irrtums zu begründen.1053 Daher vermag es den Jugendamtsmitarbeiter – sofern man nicht bereits die objektive Sorgfaltswidrigkeit verneinen muss – nicht zu entlasten, wenn er lediglich innerhalb der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII bzw. der Risikoabschätzung nach § 8a Abs.1 SGB VIII im Fachkräfteteam die Frage aufwirft, ob ein bestimmtes Vorgehen von ihm gefordert werden kann und die Kollegen ihm in seiner Rechtsauffassung zustimmen. Entsprechendes gilt für ein Auskunftsersuchen gegenüber dem Vorgesetzten, wenn von diesem keine verlässlichen juristischen Kenntnisse zu erwarten sind. In strafrechtlicher Hinsicht kann ihn daher nur exkulpieren, dass er einen im Jugendamt beschäftigten Juristen oder einen speziell geschulten Kollegen konsultiert, der ihm die notwendigen Informationen vermittelt. (cc) Möglichkeit zur Erlangung korrekter Informationen Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass aus dem unterbliebenen Auskunftsersuchen nicht per se auf die Vermeidbarkeit einer rechtlichen Fehlvorstellung geschlossen werden darf. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die Nachforschungen überhaupt zu einer Behebung des Irrtums hätten führen können.1054 Zu untersuchen ist also, ob die Person – wäre sie den Anhaltspunkten für die Rechtswidrigkeit des beabsichtigten Verhaltens nachgegangen – eine zutreffende Information erlangt hätte. (dd) „Vorverschulden“? Wie wirkt es sich aus, wenn der Sozialarbeiter anführt, aufgrund der Eilbedürftigkeit habe für ihn keine Möglichkeit bestanden, die notwendigen Informationen über die Gebotenheit der unterlassenen Handlung bzw. über den Umfang der ihm obliegenden Handlungspflichten zu erlangen? Bezüglich dieses Einwands wird in der Literatur mit einer Vorverlagerung der Informationspflicht argumentiert, sofern es dem Täter voraussehbar war, dass er in die betreffende Situation geraten würde.1055

1053 Bringewat, Tod eines Kindes, S. 114 f. Vgl. auch BGHSt 39, 168, 191 f. („Mauerschützenprozess“) – hier hielt der BGH es für nicht ausreichend, dass sich die Mauerschützen auf die Auskünfte von Repräsentanten des DDR-Regimes verließen. 1054 LK-Schroeder, § 17, Rn. 45 m.w. N.; Bringewat, Tod eines Kindes, S. 112; Puppe, Rudolphi-FS, S. 236 f.; diff. Jakobs, 19/45.

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Dabei wird auf verschiedene dogmatische Konzepte zurückgegriffen. So propagiert Roxin eine Parallele zum Übernahmeverschulden im Rahmen der Fahrlässigkeit1056, Rudolphi rekurriert auf eine „Lebensführungsschuld“ des Täters1057 und Puppe hält das vornehmlich auf dem Gebiet der actio libera in causa diskutierte Ausnahmemodell für tauglich, um eine Vorverlagerung des strafrechtlichen Vorwurfs erzielen zu können1058. Folglich ist es dem Sozialarbeiter nicht möglich, für den Zeitpunkt, zu dem die unterlassene Handlung geboten war, die Unmöglichkeit der Einholung von Rechtsauskünften geltend zu machen. (4) Fazit Aufgrund der umfangreichen Publikationen zu den Handlungspflichten bei möglicher Kindeswohlgefährdung und den bislang ergangenen Gerichtsentscheidungen ist heutzutage davon auszugehen, dass Sozialarbeiter gehalten sind, sich im Bedarfsfall, d.h. sofern sie im Verlauf ihrer Tätigkeit mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen konfrontiert sind, darüber zu informieren, welche Handlungen die Rechtsordnung konkret von ihnen erwartet. Hierbei dürfen sie sich nicht auf unsichere Informationsquellen verlassen, sondern haben den Rat versierter Rechtskundiger einzuholen. Sofern sich ein Sozialarbeiter über seine Handlungsmöglichkeiten irrt, wird die Ursache hierfür vor allem darin begründet liegen, dass er eine falsche Prognose im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung in der Familie gestellt hat. Dieser Irrtum ist davon zu trennen, dass er sich über die ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten geirrt hat. Während sich im erstgenannten Fall bereits die Frage nach der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung bei prognostischen Entscheidungen stellt,1059 hat der Jugendamtsmitarbeiter in der letztgenannten Konstellation in einem stets vermeidbaren Gebotsirrtum gehandelt.

1055 LK-Schroeder, § 17, Rn. 30; SK-Rudolphi, § 17, Rn. 44; ders., Verbotsirrtum, S. 254 ff.; Jakobs, 19/37; Puppe, Rudolphi-FS, S. 238; Roxin, AT I, § 21, Rn. 48. 1056 Roxin, AT I, § 21, Rn. 49; krit. dazu Puppe, Rudolphi-FS, S. 239, die für die Parallele ein Bewusstsein von der Unzulänglichkeit der Rechtskenntnisse fordert und konsequenterweise ein Unrechtsbewusstsein für existent erachtet. Siehe zum Übernahmeverschulden bereits oben Teil 2 A. II. 4. a) (1) (b). 1057 SK-Rudolphi, § 17, Rn. 45; ders., Verbotsirrtum, S. 254 ff.; ähnlich auch Jakobs, 19/37; krit. zu diesem Begriff hingegen Roxin, AT I, § 21, Rn. 47, 50; Stratenwerth/Kuhlen, § 10, Rn. 93. 1058 Puppe, Rudolphi-FS, S. 239 f. 1059 Zugunsten eines unvermeidbaren Gebotsirrtums in diesem Kontext hingegen Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 97.

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c) Erlaubnistatbestandsirrtum Schließlich muss untersucht werden, wie es sich auswirkt, wenn der Sozialarbeiter über die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes irrt, er also beispielsweise meint, mehrere Kinder in von ihm betreuten „Problemfamilien“ bedürften eines sofortigen Tätigwerdens, wobei jedoch nicht alle gleichzeitig versorgt werden können. Sofern seine Vorstellung der Realität entspricht, ist er hinsichtlich des Kindes durch eine Pflichtenkollision gerechtfertigt, zu dessen Gunsten keine unmittelbaren Rettungsbemühungen unternommen wurden.1060 Stellt sich jedoch im nachhinein heraus, dass der Sozialarbeiter die Brisanz der beiden Fälle falsch eingeschätzt und er dem weniger dringlichen Fall den Vorzug gegeben hat, so bestand keine Kollision gleichwertiger Pflichten, und eine Rechtfertigung ist folglich abzulehnen. Auf welche Weise derartige Konstellationen zu lösen sind, wird kontrovers beurteilt.1061 (1) Meinungsstand Die hierzu vertretenen Lösungen resultieren aus der unterschiedlichen Einordnung der Rechtsfigur des Unrechtsbewusstseins in den Verbrechensaufbau. (a) Modifizierte Vorsatztheorie Zum Teil wird trotz der in §§ 16, 17 StGB zum Ausdruck gebrachten Einordnung in den Bereich der Schuld daran festgehalten, dass ein Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes den Vorsatz entfallen lasse. Der Vorsatz umfasse sowohl die Kenntnis der objektiven Tatbestandsmerkmale und ihrer Bedeutung als auch die Kenntnis um die Sozialschädlichkeit des Verhaltens. Sofern der Täter annehme, gerechtfertigt zu handeln, sich aber im tatsächlichen Bereich irre, fehle es am Bewusstsein um die Sozialschädlichkeit des Verhaltens und damit am Vorsatz.1062 (b) Strenge Schuldtheorie Die Vertreter der strengen Schuldtheorie hingegen wenden § 17 StGB auch dann an, wenn der Täter zwar nicht in rechtlicher Hinsicht irrt, sich seine Fehlvorstellung aber auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrun1060

Siehe zu diesem Rechtfertigungsgrund oben Teil 2 A. II. 3. a). Eine umfassende Streitdarstellung liefert Hillenkamp, 32 Probleme, S. 65 ff. m. zahlreichen Nachw. 1062 Vgl. z. B. Otto, GK AT, § 7, Rn. 62, § 15, Rn. 4 ff. 1061

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des bezieht.1063 Sie begründen dies u. a. mit der zum Teil nur schwer vorzunehmenden Trennung zwischen Fehlvorstellungen im rechtlichen und im tatsächlichen Bereich. (c) Eingeschränkte Schuldtheorie Die eingeschränkte Schuldtheorie löst das Problem durch eine analoge Anwendung des § 16 StGB, da der Täter eher demjenigen vergleichbar sei, der sich bereits der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes nicht bewusst ist.1064 Der eingeschränkten Schuldtheorie im weiteren Sinne kann auch die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zugeordnet werden.1065 Sie gründet auf dem zweistufigen Verbrechensaufbau, der von einem „Gesamtunrechtstatbestand“ ausgeht, also nicht zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit trennt. Der Tatbestand beinhaltet demnach positiv und negativ festzustellende Tatbestandsmerkmale, wobei zur letztgenannten Gruppe die Rechtfertigungsgründe gehören, sodass der Vorsatz sich folglich auf das Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen beziehen muss und bei einer Fehlvorstellung in diesem Bereich § 16 StGB direkte Anwendung findet. (d) Rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie Die rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie begrüßt das Vorgehen der eingeschränkten Schuldtheorie grundsätzlich, merkt jedoch kritisch an, dass dann ein an der Tat Teilnehmender mangels vorsätzlicher Haupttat straffrei ausgehen müsste. Ihre Vertreter wollen aus diesem Grund lediglich die Vorsatzschuld, nicht jedoch den Tatbestandsvorsatz entfallen lassen.1066 (2) Stellungnahme Im Rahmen eines fahrlässigen Delikts sind bei Zugrundelegung der Theorien zwei Lösungen denkbar. Die strenge Schuldtheorie führt zu der Frage, ob der 1063 Vgl. z. B. LK-Schroeder, § 16, Rn. 52; Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 44, Rn. 61. 1064 BGHSt 2, 194, 211; 3, 12; 3, 91; 31, 286; 45, 378, 384; OLG Düsseldorf NStZ 1994, 1232; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 10 ff.; S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 35, § 16, Rn. 18; Baumann/Weber/Mitsch, § 21, Rn. 29; Haft, AT, S. 258 f.; Kudlich, PdW, S. 126; Roxin, AT I, § 14, Rn. 62 ff.; Roxin-Schünemann-Haffke, S. 104 f. 1065 Siehe z. B. Schünemann, GA 1985, 349 f. 1066 LK-Spendel, § 32, Rn. 343; Tröndle/Fischer, § 16, Rn. 20; Beulke, KLK I, Rn. 256; Gropp, AT, § 13, Rn. 112 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 41 IV 1d; Maurach/ Zipf, AT I, § 37, Rn. 43; Wessels/Beulke, Rn. 478 f.

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Irrtum vermeidbar war. Ist dies zu bejahen, so kommt nur eine fakultative Strafmilderung in Betracht (§ 17 S. 2 StGB), andernfalls ist der Sozialarbeiter entschuldigt (§ 17 S. 1 StGB). Gegen diese Ansicht spricht, dass der Täter, der über die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes irrt, der Sache nach rechtstreu ist. Im Gegensatz zu denjenigen, die ihre Handlungsbefugnisse contra legem ausdehnen, ist demjenigen, der einem Erlaubnistatbestandsirrtum erliegt, höchstens vorzuhalten, dass er nicht gewissenhaft genug die tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes hinterfragt hat. Die strenge Schuldtheorie widerspricht damit Art. 3 Abs. 1 GG und ist folglich abzulehnen. Legt man die übrigen Theorien zugrunde, dann wird nach § 16 Abs. 1 S. 2 StGB (analog) relevant, ob der Irrtum, also die Fehleinschätzung der Gefahrenlage, auf einer Fahrlässigkeit des Sozialarbeiters beruht, wobei auch in diesem Zusammenhang an den begrenzten Prüfungsumfang der Judikative zu erinnern ist. Sofern keine Fahrlässigkeit nachgewiesen werden kann, ist er freizusprechen. 6. Fazit Die Untersuchung der strafrechtlichen Situation von Jugendamtsmitarbeitern, die „Problemfamilien“ betreuen, hat zu folgenden Erkenntnissen geführt: Ganz gleich, wie man die echten von den unechten Unterlassungsdelikten abgrenzt – die hier relevanten Tatbestände setzen zumindest eine Sonderverantwortlichkeit voraus. In der Regel ist sogar von „klassischen“ unechten Unterlassungsdelikten auszugehen. Die zahlreichen Kontroversen um das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt sind vor allem den unterschiedlichen dogmatischen Ausgangspunkten der einzelnen Handlungslehren geschuldet. Es stehen sich hier die naturalistisch-ontologischen und die normativ geprägten Auffassungen gegenüber. Zwischen der Fahrlässigkeit und dem Unterlassen besteht entgegen der auf den ersten Blick anzunehmenden Gemeinsamkeiten keine verwandtschaftliche Beziehung, weder inhaltlich noch historisch. Daher verwundert es nicht, dass es beim Aufbau des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts an einigen Stellen zu Friktionen kommt. In den untersuchten Konstellationen ist in der Regel nach allen vertretenen Abgrenzungstheorien von einem Unterlassen auszugehen. Daran ändert auch der vermeintliche Sonderfall des Betreuungsabbruchs nichts. Auch die Handlungsfähigkeit ist in der Mehrzahl aller Fälle anzunehmen. Hieran vermag weder die personelle Unterbesetzung, die fehlende Kenntnis der Gefahrenlage, eine Dienstanweisung bzw. Teamabsprache noch ein spekulativer

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oder gar erfolgloser „Antrag“ nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII etwas zu ändern. Vorsatz im Hinblick auf die Schädigung des Kindes durch seine Eltern wird dem Sozialarbeiter in der Regel nicht nachzuweisen sein. Hierfür wäre zumindest vonnöten, dass er die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt und untätig bleibt, obwohl er diese ernst genommen oder sich mit ihr abgefunden hat. Die (Quasi-)Kausalität des Unterlassens ist dann zu bejahen, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Dabei wird der Erfolg im Gegensatz zum Begehungsdelikt allgemein erfasst, d.h. der Begriff beschränkt sich nicht auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt. Die Ursächlichkeit wird nicht durch die „Lehre vom Regressverbot“ beseitigt. Selbst wenn die Eltern das Kind vorsätzlich und vollverantwortlich schädigen, ändert dies nichts an der (Quasi-)Kausalität des Unterlassens des Sozialarbeiters. Die Lehre von der objektiven Zurechnung geht beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt im wesentlichen in der Fahrlässigkeitsprüfung auf. Die einzig verbleibende Fallgruppe, der Einwand der bloßen Risikoverringerung, scheitert beim Unterlassungsdelikt, da der strafrechtliche Vorwurf sich hier auf das Untätigbleiben bezieht, dem Handlungspflichtigen also gerade eine Aktivität abverlangt wird. Bezüglich der Garantenproblematik ergibt eine verfassungskonforme Auslegung des § 13 StGB, dass im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgebot der (karge) Wortlaut der Norm zu berücksichtigen ist, dass eine auf einer reinen Kasuistik aufbauende Garantenlehre nicht zu überzeugen vermag, dass bei der Entwicklung einer Lehre die Wertvorgaben der Verfassung berücksichtigt werden müssen und dass generell ein restriktives Vorgehen angebracht erscheint. Die überblicksartige Darstellung der zahlreichen Ansichten zur Bestimmung der strafrechtlichen Einstandspflichten nach § 13 Abs. 1 StGB hat gezeigt, dass diese häufig zu gleichen Ergebnissen gelangen. Wesentliche Unterschiede bestehen allerdings im Hinblick auf die Anerkennung der Ingerenz und das Erfordernis einer Herrschaftsbeziehung zwischen Rechtsgut und Handlungsverpflichtetem. Angesichts der Akzeptanz der Ingerenz durch die Rechtsprechung wurde diese vorliegend als mögliche Garantenquelle behandelt. Im Hinblick auf die Herrschaftssystementwürfe wurde deutlich, dass diese keine „bestimmtere“ Herangehensweise zu bieten vermögen gegenüber der wohl herrschenden Meinung, die Armin Kaufmanns Zweiteilung der Einstandspflichten in Beschützer- und Überwachergaranten mit den herkömmlichen Garantenquellen kombiniert.

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Bezogen auf die vorliegend relevanten Fallgestaltungen ist von einer Beschützergarantenstellung der Jugendamtsmitarbeiter aus Gesetz auszugehen. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII stellt zwar, isoliert betrachtet, lediglich einen Programmsatz ohne Verpflichtungswirkung dar. Legt man ihn jedoch verfassungskonform aus, so ergibt sich im Lichte des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, dass bei einer Gefährdung von Leib und Leben des Kindes eine Handlungsverpflichtung der Exekutive besteht. Unklar bleibt indes, wann genau sich die Handlungsverpflichtung hinreichend in der Person des fallzuständigen Sozialarbeiters verdichtet. Diese Frage lässt sich beantworten, indem man die Beschützergarantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme, die ein tatsächliches und ein normatives Moment beinhaltet, näher betrachtet. Das erstgenannte Moment ist zutreffenderweise bereits im Fall eines sogenannten Erstkontakts anzunehmen, für das letztgenannte ist ein berechtigtes Vertrauen in das Tätigwerden vonnöten. Ganz gleich, ob man für die Vertrauensberechtigung rechtliche oder soziologische Gegebenheiten als maßgebend erachtet – sowohl die gefährdeten Kinder als auch deren Eltern dürfen auf das kindesschützende Tätigwerden des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters vertrauen. Keine Vertrauensberechtigung genießen hingegen sonstige Personen, wie z. B. Nachbarn. Nicht nötig ist zudem, dass mit dem Vertrauen eine Gefahrerhöhung einhergeht. Insoweit genügt bereits die Möglichkeit der Gefahrerhöhung. Bei der Garantenstellung kraft Amtsträgerschaft ist zu beachten, dass die bei anderen Professionen mit berufsbedingtem Dilemma überwiegend postulierte Forderung nach einer Ermessensreduzierung nicht schematisch auf die Situation der Sozialarbeiter übertragen werden kann, weil hier keine zwingende Handlungsabfolge zwischen §§ 27 und 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII besteht. Vielmehr ist lediglich zu fordern, dass der Interventionsbereich des § 1666 BGB eröffnet und der Amtswalter örtlich und sachlich für die „Problemfamilie“ zuständig ist. Eine Beschützergarantenstellung kraft Ingerenz ist zwar theoretisch denkbar, indes praktisch ohne Relevanz, da für die zu fordernde Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens, das in der Regel auch ein Unterlassen darstellt, bereits eine Garantenstellung notwendig ist. Eine Überwachergarantenstellung ist grundsätzlich abzulehnen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man hierfür die Herrschaft über einen Gefahrenherd verlangt, weil bereits die generelle Situation dieser Garantenkategorie – eine Bewacherstellung des Jugendamts gegenüber den Eltern – abzulehnen ist. Im Hinblick auf die Garantenpflichten werden zahlreiche sozialrechtliche Fragestellungen relevant, weil diese nicht im Gegensatz zur sonstigen Rechtsordnung begründet werden können.

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Dass sich die Beschützergarantenstellung aus mehreren Garantenquellen speist, führt nicht zu einer qualitativen Steigerung der Garantenpflichten. Durch die Delegation von Betreuungsaufgaben an Mitarbeiter freier Träger ändern sich lediglich die Garantenpflichten, die Garantenstellung selbst endet nicht. Konkret muss der Sozialarbeiter bei der Auswahl des Mitarbeiters mitwirken und diesen gegebenenfalls kontrollieren. Bei der nachträglichen Unzuständigkeit endet die Garantenstellung hingegen – ihr Ende steht allerdings unter der Prämisse der ordnungsgemäßen Fallübergabe. Zu einem zwischenzeitlichen Ruhen der Garantenstellung führt auch die zeitweise Vertretung. Ob der Sozialarbeiter seinen Vertreter auswählen muss, hängt von den amtsinternen Regelungen ab. Teambesprechungen und Weisungen als reine Verwaltungsinterna ändern nichts an der Einstandspflicht. Gleiches gilt für eine (erfolglose) Benachrichtigung des Familiengerichts gemäß § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII. Die Fahrlässigkeit stellt – wie die Frage nach der Garantenstellung gemäß § 13 Abs. 1 StGB – eine relativ karg geregelte Rechtsmaterie dar. Auch in diesem Zusammenhang sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Diesen genügt die wohl herrschende Lehre, die eine Sorgfaltspflichtverletzung und Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung verlangt und die Fahrlässigkeit sowohl als Element des Tatbestands als auch der Schuld begreift. Das fahrlässige Unterlassen kann zutreffenderweise auch jenseits des erfolglosen Gebotserfüllungsversuchs bei einem Irrtum über die tatbestandsmäßige Situation angenommen werden, es existiert also auch das unbewusst fahrlässige Unterlassen. Beim fahrlässigen unechten Unterlassen wird die Sorgfaltswidrigkeit nicht durch die Garantenpflichtverletzung indiziert. Vielmehr muss die Sorgfaltspflichtverletzung gesondert festgestellt werden. Hier wird der wohl herrschenden Meinung gefolgt, die den Sorgfaltsmaßstab im Tatbestand generalisierend bestimmt. Sogenannte Sondernormen waren dem SGB VIII bis zum 30.9.2005 nicht zu entnehmen. Die Sammlung und Bewertung der für die Gefahrenanalyse notwendigen Fakten wurde vom Gesetz vielmehr vorausgesetzt. Seit Inkrafttreten des KICK sind nunmehr bestimmte Handlungsgrundsätze in § 8a SGB VIII geregelt. Die sozialrechtlichen Normen, die sich mit den im einzelnen zu treffenden Maßnahmen beschäftigen, gewähren den Jugendamtsmitarbeitern auch nach dem 1.10.2005 Beurteilungs- und z. T. auch Ermessensspielräume. Diese hat der

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Strafrichter bei seiner Entscheidung grundsätzlich zu respektieren. Etwas anderes gilt nur dann, wenn ein Ausfall dieser Spielräume bzw. wesentliche Fehlabwägungen festzustellen sind. Im Rahmen der ebenfalls für die Ermittlung der Sorgfaltspflichtverletzung relevanten „Verkehrsnormen“ kommt den Empfehlungen des Deutschen Städtetages maßgebende Bedeutung zu. Zu beachten ist jedoch, dass diese lediglich Indizwirkung entfalten. Zu prüfen bleibt daher, ob auch bei Zugrundelegung der „differenzierten Maßfigur“ von einem pflichtwidrigen Verhalten auszugehen ist. In diesem Kontext wird der Einwand „fachlichen Verhaltens“ relevant. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Kontroversen in der Literatur im wesentlichen der unterschiedlichen Definition des Begriffs „fachliche Standards“ geschuldet sind. Versteht man diese als Handlungsvorgaben einer Profession, die mit der Rechtsordnung im Einklang stehen, vor allem mit den Vorgaben der Verfassung, so gelangen alle Seiten zu übereinstimmenden Ergebnissen. Dem Fahrlässigkeitsvorwurf vermag der überlastete Sozialarbeiter zu entgehen, indem er eine förmliche Überlastungsanzeige an seinen Vorgesetzten richtet. Der Vertrauensgrundsatz als Unterfall des die Sorgfaltspflichten begrenzenden erlaubten Risikos vermag im Fall einer Beschützergarantenstellung nicht zu einem „Regressverbot“ wegen fahrlässiger Förderung einer Vorsatztat der Eltern zu führen. Auch der weitere Unterfall des erlaubten Risikos – das arbeitsteilige Verhalten – führt hier grundsätzlich zu keiner Entlastung, weder im Fall der Delegation noch bei Teamabsprachen, dienstlichen Weisungen bzw. bei der Benachrichtigung des Familiengerichts. Die objektive Voraussehbarkeit ist grundsätzlich zu bejahen, jedoch dann abzulehnen, wenn der innere Zusammenhang zwischen der Fallübernahme und der späteren Krise völlig fehlt. Beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt ist im Rahmen der objektiven Vermeidbarkeit zu prüfen, ob zwischen der Pflichtwidrigkeit und dem eingetretenen Erfolg der erforderliche Zusammenhang besteht. Hier treten zwei Problemkreise auf: Zum einen handelt es sich beim jugendamtlichen Kinderschutz in Krisensituationen auch nach dem Inkrafttreten des KICK grundsätzlich um ein drittvermitteltes Rettungsgeschehen, bei dem der Sozialarbeiter einwenden könnte, die dritte Person (Teamkollege, Familienrichter, Vorgesetzter) hätte sich bei ihrer Beteiligung womöglich pflichtwidrig verhalten. Zum anderen geht es um den Einwand der späteren Schädigung des Kindes nach einem eigenen hypothetisch pflichtgemäßen Tätigwerden.

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Beiden Einwänden ist kein Erfolg beschieden, sowohl bei Zugrundelegung der herrschenden Vermeidbarkeits- als auch bei der sogenannten Risikoverringerungstheorie. Dies folgt für den erstgenannten Problemkreis daraus, dass das hypothetische Verhalten des Dritten normativ zu bestimmen ist und der indubio-Grundsatz insoweit gar nicht einschlägig ist. Für die letztgenannte Konstellation ergibt sich dies, weil einerseits der Erfolgseintritt allgemein Bestandteil der Vergleichshypothese ist und andererseits der erneute Schädigungsentschluss der Eltern nicht als der tatbestandlichen Situation zugehörig zu erachten ist. Als Rechtfertigungsgründe kommen für den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter die Pflichtenkollision und eine rechtswidrige aber verbindliche Anweisung seitens des Vorgesetzten in Betracht. Im Hinblick auf den letztgenannten Rechtfertigungsgrund ist zu beachten, dass beamten- bzw. dienstrechtliche Normen eine Weisung für unverbindlich erklären, wenn deren Befolgung die Begehung einer Straftat bedingen würde. Bei Zweifeln darüber, ob eine Weisung zur Begehung einer Straftat führt, ist aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Verwaltung ebenfalls Verbindlichkeit und damit eine Rechtfertigung anzunehmen, sofern die Begehung der Straftat nicht als evident anzusehen ist. Im Rahmen der Schuld wird neben der Prüfung der subjektiven Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit vor allem das Übernahmeverschulden relevant. Als praxisrelevanter Irrtum ist vor allem der Gebotsirrtum nach § 17 S. 1 StGB anzusehen, der das Unrechtsbewusstsein betrifft. Wie dargestellt, gilt dieser auch für die Fahrlässigkeit und für das Unterlassen. Von der Vermeidbarkeit des Irrtums über die Gebotenheit einer Handlung ist dann auszugehen, wenn zunächst ein Anlass bestand, Erkundigungen einzuholen. Dies ist beim Tätigwerden des Sozialarbeiters zu bejahen. Er kann die notwendigen Rechtskenntnisse entweder selbst oder von einem Rechtskundigen erlangen, wobei als rechtskundig Volljuristen oder Kollegen gelten, die für derartige Fragen entsprechend geschult wurden. Hat der Sozialarbeiter keine Erkundigungen eingeholt, kommt es darauf an, ob überhaupt die hypothetische Möglichkeit zur Erlangung der entsprechenden Kenntnisse bestand. Im Hinblick auf den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines von der Rechtsordnung anerkannten Rechtfertigungsgrundes (Pflichtenkollision, rechtswidrige verbindliche Weisung) ist § 16 Abs. 1 S. 2 StGB (seinen Rechtsfolgen nach analog) anzuwenden. Zu fragen ist also, ob der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen auf der Fahrlässigkeit des Sozialarbeiters beruht.

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III. Vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikte Wie bereits erläutert, ist ungeachtet diverser Anklagen bislang kein Sozialarbeiter wegen vorsätzlichen Unterlassens rechtskräftig verurteilt worden.1067 Daher sollen nachfolgend lediglich einige Bemerkungen zu den Besonderheiten dieses Delikts gegenüber dem fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt gemacht werden. Eine vertiefte Beschäftigung mit diesem Problemkreis muss einer gesonderten Abhandlung vorbehalten bleiben. 1. Grundsätzliches Anders als beim Fahrlässigkeitsdelikt existiert hier die Möglichkeit der Tatbeteiligung, sofern der entsprechende Mittäter-, Anstifter- oder Gehilfenvorsatz feststeht. Wenn die Eltern vorsätzlich1068 ihr Kind schädigen, kommt sowohl eine Teilnahme als auch eine Täterschaft des Sozialarbeiters in Betracht. a) Täterschaftsfragen und „eigenhändige“ Delikte Täter kann der Sozialarbeiter freilich nur dann sein, wenn die Haupttäter keine „eigenhändigen Delikte“ verwirklichen. Unter eigenhändigen Delikten sind Tatbestände zu verstehen, die nur durch die eigene körperliche Verwirklichung der Tatbestandshandlung vorgenommen werden können, sodass eine Mittäterschaft kraft Zurechnung von Tatbeiträgen (vgl. § 25 Abs. 2 StGB) sowie die Möglichkeit mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 2. Var. StGB) notwendigerweise entfallen.1069 Im Zusammenhang mit den vorliegenden Konstellationen kommen vor allem Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Betracht, konkret der Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB)1070 sowie der sexuelle Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB)1071.

1067 Vgl. den zweitinstanzlichen Freispruch durch das OLG Düsseldorf im Fall „Tanja“ (NStZ-RR 2001, 199 ff.). 1068 Wegen § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB ist dieser Umstand vorausgesetzt. Die Teilnahme ist insoweit akzessorisch, vgl. Wessels/Beulke, Rn. 551. 1069 LK-Roxin, § 25, Rn. 40. 1070 S/S/Lenckner, § 173, Rn. 8; Roxin, AT II, § 31, Rn. 140. 1071 BGHSt 41, 242, 243; S/S/Lenckner/Perron, § 176, Rn. 19; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2004, 533. Weder ein eigenhändiges noch ein Sonderdelikt bildet hingegen § 177 StGB (sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung); vgl. S/S/Lenckner/Perron, § 177, Rn. 15; Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 75, Fn. 7.

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b) Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme Durch welches Merkmal genau sich Täterschaft und Teilnahme unterscheiden, ist bis zum heutigen Tag nicht eindeutig geklärt. Vor allem streiten die Vertreter der formal-objektiven und der subjektiven Theorie1072 mit denen der Tatherrschafts-1073 und der Gesamtbetrachtungslehre1074. Auf die Situation des fallzuständigen Sozialarbeiters angewendet, kommen sie jedoch alle zu dem gleichen Ergebnis: Er ist nur Teilnehmer. Während dies für die formal-objektive Theorie aus dem Umstand folgt, dass der Sozialarbeiter nicht selbst die in dem Tatbestand niedergelegte Handlung (z. B. das Schlagen) vornimmt, fehlt es ihm im Sinne der Tatherrschaftslehre an der Rolle als Zentralgestalt des Geschehens. Er ist nur Randfigur.1075 Die subjektive Theorie schließlich leitet dieses Ergebnis aus dem Umstand her, dass dem Sozialarbeiter kein animus auctoris, sondern lediglich animus socii nachzuweisen sein wird. c) Besonderheit aufgrund Unterlassens? Indes ist zu prüfen, ob dieses Ergebnis Bestand haben kann angesichts des Umstands, dass an ein Unterlassen in Beschützergarantenstellung anzuknüpfen ist. (1) Vertretene Ansichten In der Literatur besteht eine Kontroverse darüber, ob der gegenüber einem täterschaftlichen Begehungsunrecht Untätigbleibende durch sein Unterlassen als Täter oder Gehilfe zu qualifizieren ist.1076 1072 Vgl. RGSt 74, 85 („Badewannenfall“); BGHSt 18, 87 („Staschynskijfall“); krit. Roxin, BGH-Wiss-FS, S. 196 f. Zum dogmengeschichtlichen Hintergrund der Theorie instruktiv LK-Roxin, § 25, Rn. 30. 1073 BGHSt 19, 135, 138; 38, 315; Jäger, Rn. 227; Roxin, BGH-Wiss-FS, S. 189; Wessels/Beulke, Rn. 518. Siehe auch Roxin, AT II, § 25, Rn. 31, der erläutert, dass die Tatherrschaftslehre ihre Durchsetzung dem Vormarsch des Finalismus zu verdanken habe. 1074 BGH NStZ 1987, 225; Schmidhäuser, 14/156; krit. dazu Roxin, AT II, § 25, Rn. 34. Umfassend zum Ganzen Hillenkamp, 32 Probleme, S. 131 ff., der auch die wesentlichen Argumente der einzelnen Ansichten nennt. Instruktiv zur Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs Roxin, BGH-Wiss-FS, S. 177 ff. – er spricht im Zusammenhang mit der Rechtsprechung von einer „normativen Kombinationstheorie“ (s. LK-Roxin, § 25, Rn. 20). Zu weiteren Neukonzeptionen in der Literatur siehe den Überblick bei Roxin, AT II, § 25, Rn. 21, 33. 1075 Zur Rolle des Terminus „Zentralgestalt“ im Rahmen der Bestimmung der Garantenstellung bereits oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (h).

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Zum Teil wird stets eine Bestrafung als Gehilfe propagiert1077 bzw. auch beim Unterlassen auf der Grundlage der subjektiven Theorie verfahren,1078 sodass auch insoweit lediglich eine Gehilfenstellung des Sozialarbeiters in Betracht kommt, da ihm nur animus socii nachzuweisen sein wird. Andererseits wird vertreten, dass der Untätigbleibende als Beschützergarant1079 bzw. generell als nach § 13 Abs. 1 StGB Handlungsverpflichteter1080 als Täter zu qualifizieren sei. Demnach wäre stets eine täterschaftliche Beteiligung des Sozialarbeiters anzunehmen. Hintergrund dieser Kontroverse ist, dass die Tatherrschaft zum Teil bei einem Untätigbleiben für wesensnotwendig ausgeschlossen erachtet wird, zum Teil jedoch auch die Unterlassungsdelikte als Pflichtdelikte1081 charakterisiert werden, sodass der Garantenstellung täterschaftsbegründende Wirkung beigemessen wird. Die vereinzelt vorgenommene Unterscheidung zwischen Beschützer- und Überwachergaranten erklärt sich schließlich dadurch, dass bei letztgenannten die Tatherrschaft eher in den Händen der zu bewachenden Gefahrenquelle vermutet und eine solche nur bei der Beschützergarantenstellung in der Person des Beschützers verortet wird.

1076

Vgl. hierzu den Überblick bei Hillenkamp, 32 Probleme, S. 138 ff. Tröndle/Fischer, § 13, Rn. 19; Lackner/Kühl, § 27, Rn. 5; Jescheck/Weigend, AT, § 64 IV 5; Roxin-Schünemann-Haffke, S. 157 f. (S. 157: „Der tatnähere Begehungstäter „verstellt“ dem Unterlassenden den unmittelbaren Zugang zum Erfolg . . .“); diff. Puppe, AT2, § 50, Rn. 21, die meint, grundsätzlich sei der Unterlassende nur Gehilfe, sofern nicht ein Tatherrschaftswechsel eintrete. 1078 RGSt 53, 292; 58, 246 f.; 64, 275; 66, 74 f.; 73, 53; BGHSt 4, 20; 13, 166; 38, 356; 43, 381, 396; BGH NJW 1966, 1763 („Schamhaarfall“); Baumann/Weber/ Mitsch, § 29, Rn. 58 f. 1079 S/S/Cramer/Heine, Vorbem. §§ 25 ff., Rn. 104 ff.; Gropp, AT, § 10, Rn. 151 f.; Herzberg, Garantenprinzip, S. 257 ff.; (vgl. insbes. Fn. 11 auf S. 260 a. a. O., wo er, ausgehend von dem von ihm propagierten „negativen Handlungsbegriff“, meint, die Verletzung einer Garantenpflicht sei jedem Delikt eigen und könne daher per se nicht zur Begründung der Täterschaft genügen); Schünemann, Grund und Grenzen, S. 377; Horn, NJW 1981, 11. Jakobs (28/14 ff.; 29/101 ff.) will auf der Basis der von ihm entwickelten Garantenlehre (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (bb) (z)) zwischen Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit, die aufgrund ihrer Pflichtenstellung stets zur Täterschaft führen sollen, und Pflichten kraft Organisationszuständigkeit differenzieren, bei denen wertende Betrachtungen für die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme maßgebend sein sollen (krit. hierzu Roxin, AT II, § 31, Rn. 165). 1080 LK-Roxin, § 25, Rn. 147 ff.; SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 37; Haft, AT, S. 192 f.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 294; Roxin, AT II, § 31, Rn. 140 ff.; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 138 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, § 14, Rn. 13, 23; Wagner, Amtsverbrechen, S. 255 ff.; Wehrle, Fahrlässige Beteiligung, S. 103; Welzel, Strafrecht, S. 222. 1081 Der Begriff wurde von Roxin geprägt; zust. S/S/Cramer/Heine, Vorbem. §§ 25 ff., Rn. 84a f. (die allerdings zwischen eigentlichen Sonderdelikten und Unterlassungsdelikten differenzieren wollen); Gropp, AT, § 10, Rn. 39; Jakobs, 21/116 ff.; aA Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 47, Rn. 90 f. 1077

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(2) Stellungnahme Indes leuchtet nicht ein, warum im Fall des Unterlassens andere Maßstäbe Geltung erlangen sollen als auf dem Gebiet des aktiven Tuns. Beim aktiven Tun hat sich – aufgrund der Verknüpfung von materiellen und objektiven Kriterien zu Recht1082 – die Tatherrschaftslehre durchgesetzt. Diese sollte auch beim Unterlassen ihre Geltung behalten.1083 Demnach bleibt es bei dem bereits zu den Begehungsdelikten gefundenen Ergebnis, dass der Sozialarbeiter mangels Stellung als „Zentralgestalt“ des Geschehens in der Regel als Teilnehmer zu qualifizieren sein wird, sodass die Voraussetzungen der Teilnahme zu prüfen sind. Eine Anstiftung durch Unterlassen ist nach herrschender Ansicht mangels eines „Bestimmens“ im Sinne des § 26 StGB ausgeschlossen.1084 Zwar wird vereinzelt vertreten, auch durch Nichtstun lasse sich ein geistiger Anstoß zu Straftaten konstruieren1085; hiergegen spricht jedoch entscheidend, dass ein bloßes Untätigbleiben nicht ohne Verstoß gegen den in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgrundsatz unter das „Bestimmen“ im Sinne des § 26 StGB subsumiert werden kann.1086 Damit kann der Sozialarbeiter allenfalls Gehilfe i. S. d. § 27 Abs. 1 StGB durch Unterlassen sein. 2. Vorsatz a) Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit Auf welche Weise zwischen der bewussten Fahrlässigkeit und dem wohl einzig denkbaren Fall des Vorsatzes – dem dolus eventualis – zu unterscheiden ist, wurde bereits an früherer Stelle ausführlich dargelegt.1087

1082 Hierfür spricht bereits der Gesetzeswortlaut. So wird in § 25 Abs. 1 StGB in der ersten Variante die Bedeutung des eigenen Tätigwerdens angesprochen, während in der zweiten Variante die täterschaftsbegründende Wirkung eines bestimmten Beherrschens anderer zum Ausdruck kommt. 1083 So auch MüKo-Joecks, StGB, § 25, Rn. 236; Beulke, KLK III, Rn. 106; Bottke, Haftung, S. 35 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 49, Rn. 87; Otto, GK AT, § 22, Rn. 60 f.; Wessels/Beulke, Rn. 734. 1084 Vgl. Beulke, KLK III, Rn. 139; Jescheck/Weigend, AT, § 64 II 6; Wessels/Beulke, Rn. 568. Für eine Beihilfe genügt hingegen bereits ein Unterlassen – siehe BGHSt 14, 229; OLG Stuttgart wistra 2000, 392, Wessels/Beulke, Rn. 582. 1085 Siehe Lackner/Kühl, § 26, Rn. 3 („Anstiftung durch Unterlassen ist regelmäßig, aber nicht notwendig (. . .) ausgeschlossen“); Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 51, Rn. 17. 1086 Zur Geltung dieses Grundsatzes im Allgemeinen Teil des Strafrechts siehe bereits oben Teil 2 A. II. 2. d) (1) (a) (bb). 1087 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. b).

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b) Unterlassungsvorsatz Auch wurde schon darauf hingewiesen, dass entgegen den Prämissen des durch Armin Kaufmann entwickelten „Umkehrprinzips“ von der Existenz eines Vorsatzes auch auf dem Gebiet der Unterlassungsdelikte auszugehen ist.1088 Dieser muss sich neben den Merkmalen des jeweils verwirklichten Tatbestands auch auf die Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung gebotenen Handlung, auf den wesentlichen (Quasi-)Kausalverlauf sowie auf die Garantenstellung beziehen. Da es sich bei dem letztgenannten Aspekt um ein sogenanntes normatives Tatbestandsmerkmal handelt, ist es notwendig, dass der Sozialarbeiter Kenntnis von den tatsächlichen Umständen besitzt, auf denen seine Garantenstellung gründet. Übertragen auf die Situation des Jugendamtsmitarbeiters muss also geprüft werden, ob dieser sich bewusst war, dass er die Betreuung der betreffenden Familie und damit des Kindes übernommen hat.1089 Es ist aber nicht notwendig, dass sich der Sozialarbeiter im Hinblick auf das Vertrauendürfen des Kindes bzw. seiner Eltern zu dessen Gunsten konkrete Gedanken gemacht hat. Ein sogenanntes sachgedankliches Mitbewusstsein genügt und wird regelmäßig nachzuweisen sein. c) „Doppelter Gehilfenvorsatz“ Eine weitere Besonderheit ergibt sich aus dem Umstand, dass das vorsätzliche Untätigbleiben in der Mehrzahl aller Fälle lediglich dazu führt, dass dem Sozialarbeiter eine Beihilfe durch Unterlassen zur Last gelegt wird. Die Beihilfe setzt einen sogenannten doppelten Gehilfenvorsatz voraus. (1) Vorsatz hinsichtlich der vorsätzlich begangenen Haupttat Einerseits muss ihm daher Vorsatz hinsichtlich der vorsätzlichen Haupttat der Eltern nachgewiesen werden. Hierfür ist notwendig, dass er zum Tatzeitpunkt, also zum Zeitpunkt des Unterlassens der gebotenen Handlung, wusste, dass eine vorsätzliche Schädigung durch die Eltern drohte. Nun werden Jugendamtsmitarbeiter bei der Betreuung von „Problemfamilien“ häufig Anhaltspunkte dafür erhalten, dass die Eltern ihre Kinder nicht angemessen behandeln. Entscheidend 1088

Vgl. hierzu oben Teil 2 A. II. 2. b) (b). Nicht zu verlangen ist jedoch, dass der Sozialarbeiter – wie Mörsberger (Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 102; Mörsberger im Interview mit Jäger, Jugendhilfe 2000, 233; ders., „. . . und schuld ist“, S. 93) mit seiner Forderung nach einer exakten Sprache implizit fordert – zwischen der bloßen Beratung und der Betreuung unterscheidet. 1089

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ist daher, welchen Grad an Konkretisierung das Wissen aufweisen muss, um einen Gehilfenvorsatz zu begründen. Die Rechtsprechung stellt darauf ab, ob der Gehilfe den wesentlichen Unrechtsgehalt der Haupttat erfasst hat. Anders als bei der Anstiftung soll es jedoch nicht erforderlich sein, dass ihm auch die Tatzeit und die Details der Begehung bekannt waren.1090 Nicht ganz eindeutig wird beurteilt, ob der Gehilfe auch den betreffenden Tatbestand erfassen muss,1091 den der Haupttäter begehen will. Hierfür spricht, dass auch bei der Betrachtung des Vorsatzes des Haupttäters als Bezugspunkt stets die Merkmale eines bestimmten objektiven Tatbestandes dienen. Den Gehilfen insoweit strenger zu behandeln, leuchtet nicht ein.1092 Wegen fehlender Erfassung des Unrechtsgehalts der Haupttat ist der Gehilfenvorsatz daher abzulehnen, wenn dem Sozialarbeiter bekannt wird, dass dem Kind manchmal kein angemessenes Essen verabreicht, es aber verhungert aufgefunden wird1093, oder wenn ihm zu Ohren kommt, dass der Mutter im Zorn manchmal „die Hand ausrutscht“ und sie dem Kind eine Ohrfeige gibt, es im folgenden aber totschlägt. Zu untersuchen bleibt jedoch, ob ein Stufenverhältnis zwischen dem vorgestellten und dem verwirklichten Unrechtstatbestand besteht, sodass der Gehilfe zumindest wegen Beihilfe zu dem vom Vorstellungsbild erfassten Delikt belangt werden kann.1094 Ein solches Stufenverhältnis ist beispielsweise in dem letztgenannten Beispiel zwischen Körperverletzung und Totschlag anzunehmen. (2) Vorsatz hinsichtlich des Hilfeleistens Hat der Sozialarbeiter den wesentlichen Unrechtsgehalt der Haupttat erfasst, so ist es zur Bejahung des Gehilfenvorsatzes nach der herrschenden Auffassung notwendig, dass er zumindest damit rechnet und in Kauf nimmt, dass sein Verhalten die Tatausführung erleichtert und den Erfolgseintritt fördert – der BGH spricht in diesem Zusammenhang von einer „Risikoerhöhung“ durch das An-die-

1090 BGHSt 42, 135, 137 f. („Sachverständigenfall“); 332, 334; BayObLG NJW 1991, 2582. LK-Roxin, § 27, Rn. 47; SK-Hoyer, § 27, Rn. 35; Gropp, AT, § 10, Rn. 150; Wessels/Beulke, Rn. 584. 1091 Dagegen BGH JZ 1997, 210 („Sachverständigenfall“ – diese Ausführungen sind in BGHSt 42, 135 nicht abgedruckt). 1092 Roxin, AT II, § 26, Rn. 277; ders., Anm. JZ 1997, 212. 1093 So geschehen im Fall „Laura Jane“ (s. oben Teil 1 A. I. 1.). 1094 Siehe hierzu SK-Hoyer, § 27, Rn. 35.

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Hand-Geben eines entscheidenden Tatmittels.1095 Diese Voraussetzung wird bezüglich des Verhaltens des Sozialarbeiters stets zu bejahen sein, da von einer (Quasi-)Kausalität der Untätigkeit für das fortgesetzte Schädigen des Kindes und damit von einer entscheidenden Voraussetzung für die Realisierung der Tat ausgegangen werden muss. d) Irrtumsfragen (1) § 16 StGB Wie bereits erläutert wurde, stellt die Garantenstellung ein normatives Tatbestandsmerkmal dar. Sofern dem Sozialarbeiter nicht eine entsprechende „Parallelwertung in der Laiensphäre“ nachzuweisen ist, er also die tatsächlichen Umstände nicht kannte, die zur Bejahung der Garantenstellung führen, befand er sich zur Tatzeit in einem Tatbestandsirrtum. Zu prüfen ist dann, ob ihm im Hinblick auf diesen Irrtum ein fahrlässiges Handeln vorzuwerfen ist (vgl. § 16 Abs. 1 S. 2 StGB). (2) § 17 StGB Falls der Sozialarbeiter hingegen die Tatsachen richtig erfasste und über die hieraus resultierenden strafrechtlichen Pflichten irrte, handelt es sich um einen Irrtum über normative Wertungen, sodass das Unrechtsbewusstsein betroffen und damit § 17 StGB anzuwenden ist.1096 3. Versuchsproblematik a) Allgemeines Im Hinblick auf die Frage, ob dem bedingt vorsätzlich untätig gebliebenen Sozialarbeiter auch ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden kann, wenn das Kind im Ergebnis vor einer Schädigung bewahrt blieb, ist zwischen der versuchten Beihilfe und der Beihilfe zum Versuch zu differenzieren. Der erstgenannte Fall ist nicht strafbar, wie ein Gegenschluss zu § 30 Abs. 1 StGB zeigt.1097

1095 BGHSt 42, 135, 138; krit. demgegenüber Roxin, AT II, § 26, Rn. 277. Vgl. auch Kudlich, PdW, S. 260, der die in Betracht kommenden Beihilfehandlungen für „. . . grundsätzlich unbeschränkt“ hält. 1096 Vgl. dazu oben Teil 2 A. II. 5. b). 1097 Kudlich, PdW, S. 249; Wessels/Beulke, Rn. 565.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter

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b) Voraussetzungen der Beihilfe zum Versuch Voraussetzung für die Beihilfe zum Versuch ist in objektiver Hinsicht, dass der Beitrag die Vollendung der Haupttat zumindest näher rücken lässt.1098 Dies ist beim Untätigbleiben des Sozialarbeiters stets zu bejahen, da sein Eingreifen in der Regel den Erfolgseintritt verhindern würde. In subjektiver Hinsicht muss der Gehilfe auch tatsächlich die Vollendung der Tat billigen. Stellt sich der Sozialarbeiter lediglich eine – im Versuchsstadium scheiternde – Haupttat vor und billigt er diese, so ist er ein bloßer „agent provocateur“1099 und bleibt straflos, selbst wenn es letztlich zum Eintritt des Erfolgs kommt. Sofern ein Jugendamtsmitarbeiter also meint, möglicherweise könnte das Kleinkind bereits einen Tag lang nicht gefüttert worden sein, und er am folgenden Tag beabsichtigt, eine Inobhutnahme zu initiieren, das Kind zu diesem Zeitpunkt indes bereits verhungert ist, so ist der Sozialarbeiter aufgrund des mangelnden Willens, die Tatvollendung zu fördern, nicht wegen Beihilfe zur versuchten vorsätzlichen Tötung zu bestrafen. Zu prüfen ist vielmehr, ob ihm eine fahrlässige Tötung zur Last gelegt werden kann. 4. Fazit Bei den vorsätzlichen Delikten muss zwischen den einzelnen Beteiligungsformen unterschieden werden. Zunächst sind die sogenannten eigenhändigen Delikte abzuschichten, bei denen eine Täterschaft des Sozialarbeiters per se ausscheidet. Legt man dann die zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme entwickelten Theorien zugrunde, so kommt man zu dem Ergebnis, dass ihm auch im übrigen in der Regel nur eine Teilnehmerstellung zuzuweisen ist, wobei im Rahmen des Unterlassens lediglich eine Gehilfenstellung (§ 27 StGB) in Betracht gezogen werden kann. Voraussetzung hierfür ist u. a. der Nachweis des „doppelten Gehilfenvorsatzes“, d.h. dass der Jugendamtsmitarbeiter zum Zeitpunkt der Nichtvornahme der gebotenen Handlung neben dem Vorsatz bezüglich der Haupttat auch einen solchen im Hinblick auf das Hilfeleisten aufwies. Während für den erstgenannten Teil des Gehilfenvorsatzes notwendig ist, dass der Täter den wesentlichen Unrechtsgehalt der Tat erfasst hat, ist für den

1098

SK-Hoyer, § 27, Rn. 20. Vgl. hierzu LK-Roxin, § 27, Rn. 48; SK-Hoyer, § 27, Rn. 36; S/S/Cramer/ Heine, § 27, Rn. 25 („. . . eine dem agent provocateur vergleichbare Situation“). 1099

398

Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

zweitgenannten maßgebend, dass er zumindest wusste und billigte, dass das Unterlassen die Tatvollendung fördert. Irrt sich der Gehilfe über die tatsächlichen Umstände, die seine strafrechtliche Einstandspflicht begründen, so befindet er sich in einem Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Zu prüfen bleibt in dem Fall, ob ihn im Hinblick auf den Irrtum ein Fahrlässigkeitsvorwurf trifft (§ 16 Abs. 1 S. 2 StGB). Unterliegt er jedoch einem Irrtum über die aus der Einstandspflicht resultierenden Pflichten, ist zu fragen, ob dieser Irrtum vermeidbar war. Sofern dies zu bejahen ist, kommt lediglich eine Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB in Betracht, andernfalls ist der Sozialarbeiter nach § 17 S. 1 StGB entschuldigt. Im Gegensatz zur versuchten Beihilfe ist die Beihilfe zum Versuch strafbewehrt. Maßgebend für letztere ist insbesondere der Nachweis, dass sich der Vorsatz des Gehilfen auf die Tatvollendung bezog.

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter Nachdem vorstehend das Strafbarkeitsrisiko des unmittelbar für die Betreuung der „Problemfamilie“ zuständigen Jugendamtsmitarbeiters untersucht worden ist, soll im folgenden darauf eingegangen werden, ob auch dessen Kollegen Gefahr laufen können, sich wegen eines fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts strafbar zu machen.1100 Dabei sollen nur die Besonderheiten dargelegt werden, die sich insoweit ergeben, im übrigen sei auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen. Vor allem zwei Konstellationen kommen in Betracht, wenn es um die nicht unmittelbar fallzuständigen Sozialarbeiter geht: Zum einen stellt sich die Frage, inwiefern Sozialarbeiter aufgrund von Informationen, die sie im Rahmen ihrer Arbeit erlangt haben, auch dann tätig werden müssen, wenn sie nicht unmittelbar zuständig sind.1101 Zum anderen ist zu beantworten, ob aus Ratschlägen, die bei Kollegialberatungen im Jugendamt erteilt werden, bzw. aus Abstimmungen (z. B. im Rahmen des § 36 Abs. 2 SGB VIII oder des § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII) eine Haftung erwachsen kann.

1100 Auf die Möglichkeit, dass die Kollegen des fallzuständigen Amtswalters wegen eines vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts angeklagt werden, soll hier nicht eingegangen werden, da der hierfür erforderliche Vorsatz hinsichtlich einer vorsätzlichen Haupttat der Eltern (vgl. dazu oben Teil 2 A. III. 2. c) (1)) kaum jemals nachzuweisen sein wird. 1101 Es geht insoweit um die ursprüngliche Unzuständigkeit. Zur Frage, welche Pflichten dem nachträglich unzuständig werdenden Sozialarbeiter obliegen, vgl. Teil 2 A. II. 2. e) (3) (b).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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Während bei der erstgenannten Konstellation nach allen vertretenen Abgrenzungstheorien von einem Unterlassen auszugehen ist, gestaltet sich die Entscheidung im Hinblick auf die beiden letztgenannten nicht ganz so eindeutig, sodass sie gesondert abgehandelt werden sollen.

I. Strafbarkeitsrisiko nicht unmittelbar fallzuständiger Kollegen – Übermittlungspflichten? Dass ein Sozialarbeiter im Rahmen seiner Arbeit neben Informationen über die ihm obliegenden Aufgaben auch solche erlangt, für deren Verarbeitung er nicht unmittelbar selbst örtlich, sachlich oder funktionell zuständig ist, stellt eine Alltäglichkeit dar – man denke nur an die Geschehnisse im Fall „Dominic“, bei dem die Großmutter des Kindes vom Jugendamt betreut wurde und innerhalb dieses Betreuungsverhältnisses Informationen über eine mögliche Gefährdung von Dominic an eine nicht unmittelbar zuständige Sozialarbeiterin weitergab.1102 Sind auch diese Mitarbeiter zum Handeln verpflichtet, laufen also auch sie Gefahr, wegen fahrlässigen unechten Unterlassens strafrechtlich belangt zu werden? Die Frage ist, soweit ersichtlich, bislang nicht Gegenstand eines Strafverfahrens gewesen. Die rechtlichen Besonderheiten gegenüber der Situation bei den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern beschränken sich dabei auf die Ermittlung der Garantenstellung und der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung. 1. Tatbestandsmäßigkeit Zu fragen ist, ob der Beschäftigte des Jugendamts nicht die ihm mögliche und gebotene Handlung vornahm, obgleich er dazu von Rechts wegen verpflichtet war, und ob ihm diese Untätigkeit als objektive Fahrlässigkeit anzulasten ist. a) Garantenstellung Zunächst muss geklärt werden, ob auch der nicht unmittelbar fallzuständige Sozialarbeiter eine Garantenstellung innehatte, die ihn zum Tätigwerden verpflichtete.

1102

Vgl. hierzu oben Teil 1 A. IV. 1.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

(1) Beschützergarantenstellung Hier kommt aus demselben Grund wie bei den zur Betreuung der Familie berufenen Sozialarbeitern – dem in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG statuierten und in § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII einfachgesetzlich niedergelegten staatlichen Wächteramt – eine Beschützergarantenstellung in Betracht.1103 (a) Aus Gesetz Zudem kann auf die Ausführungen zur garantenbegründenden Kraft des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII im Lichte des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG bei Überschreitung der Schwelle des § 1666 BGB verwiesen werden;1104 indes bedarf die Beschützergarantenstellung stets eines persönlichen Bezugspunkts zwischen zu beschützendem Rechtsgut und Handlungsverpflichtetem, namentlich der tatsächlichen Übernahme bzw. der Übernahme einer Amtspflicht.1105 (b) Aufgrund tatsächlicher Schutzübernahme Es ist daher zu untersuchen, ob dem nicht unmittelbar zur Betreuung der Familie eingeteilten Sozialarbeiter eine Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme zukommt, ob er also tatsächlich den Schutz der Rechtsgüter des Kindes übernimmt, und ob hieraus ein berechtigtes Vertrauen in sein Tätigwerden erwächst. (aa) Tatsächliches Moment Das tatsächliche Moment dieser Garantenstellung liegt, anders als beim zuständigen Sozialarbeiter, nicht in einer Betreuung begründet, also im Aufbau eines Beratungs- bzw. Vertrauensverhältnisses mit der Familie selbst. Genügt jedoch bereits, dass er brisante Informationen über die Familie sinnlich wahrgenommen hat? Auf den ersten Blick scheint hier eine Parallele zum Fall „Tanja“ angezeigt, bei dem nach Ansicht des OLG Düsseldorf „. . . die allgemeine Fürsorgepflicht der Angekl. hinreichend zu einer Garantenpflicht konkretisiert“ wurde, indem 1103

Vgl. dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (a). Siehe auch die Ausführungen hierzu bei Kunkel, ZFSH/SGB 2001, 131, 134; zust. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 87. 1105 Anderer Ansicht Kunkel, der pauschal von einer Garantenstellung „des Jugendamts“ ausgeht (siehe ZfSH/SGB 2001, 134) – diese Auffassung ist jedoch mangels tauglichen Täters i. S. d. § 13 Abs. 1 StGB abzulehnen (s. dazu bereits oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (aa) (e)). 1104

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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ein Telefonat zwischen Vertrauenslehrerin und Sozialarbeiterin stattfand.1106 Hier legte die Lehrerin den gesamten ihr bekannten Sachverhalt dar, verbunden mit der Bitte um ein umgehendes Tätigwerden des Jugendamts. Im Regelfall wird ein nicht zuständiger Sozialarbeiter indes lediglich eines Teilaspekts der Situation einer nicht von ihm betreuten „Problemfamilie“ gewahr werden, während er ihm obliegende Fälle betreut. Dann verdichten sich die „anderen Aufgaben“ der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. § 2 Abs. 2 SGB VIII sowie § 8a SGB VIII) zum Schutz des Kindes vor Gefahren nicht in der Person des nicht zuständigen Sozialarbeiters.1107 Pointiert formuliert, kann also nicht von der sinnlichen Informationsaufnahme auf die tatsächliche Schutzübernahme geschlossen werden. Völlig ausgeschlossen ist es jedoch nicht, dass sich der Schutzauftrag in dieser Weise konkretisiert – namentlich dann, wenn der Jugendamtsmitarbeiter gezielt bei dem Informanten nachfragt, um weiteren Einblick in die Situation des Kindes zu erlangen. Mit der umfassenden Kenntnis der Fakten aktualisiert sich das staatliche Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in der Person des Jugendamtsmitarbeiters, und dieser übernimmt (einstweilen) als staatlicher Repräsentant den tatsächlichen Schutz. Dass er gemäß der Diensteinteilung nicht zuständig für die Betreuung ist, ändert an diesem tatsächlichen Umstand nichts. (bb) Normatives Moment Auf den ersten Blick scheint es im letztgenannten Fall aber am normativen Moment der Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme zu mangeln, da dem Sozialarbeiter dem Dienstplan zufolge nicht auferlegt wurde, die Familie zu betreuen. Indes läge es dann in der Hand des Organisationsverantwortlichen, die Reichweite der strafrechtlichen Verantwortung seiner Untergebenen zu bestimmen. Wie bereits herausgearbeitet wurde, stellt das Strafrecht aber gerade nicht pauschal auf zivilrechtliche oder öffentlichrechtliche Gegebenheiten ab, um Einstandspflichten zu begründen. Entscheidend ist vielmehr, ob ein berechtigtes Vertrauen in das Tätigwerden auch des nicht unmittelbar fallzuständigen Sozialarbeiters besteht, ob also das Kind bzw. die Eltern zu dessen Gunsten als Vertrauensberechtigte1108 darauf vertrauen dürfen, dass die zur Kenntnis genommene Information im Ergebnis zu einem kindesschützenden Verhalten führen wird.

1106

OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 200. Siehe hierzu oben Teil 1 A. III. 1. Ebenso Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 87. („Der Beschützergarant hat in diesem Fall weder die Betreuung des Kindes tatsächlich übernommen, noch wäre er hierfür zuständig gewesen.“) 1108 Vgl. hierzu ausführlich oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (cc) (g). 1107

402

Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Sofern man die Vertrauensberechtigung in der Rechtsordnung verortet, folgt die Berechtigung auch bezüglich des nicht unmittelbar fallzuständigen Sozialarbeiters daraus, dass weder Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG noch der in dessen Lichte auszulegende § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII bzw. § 8a SGB VIII danach differenzieren, welcher Amtswalter konkret für die Betreuung der Familie zuständig ist. Erachtet man eher die Verankerung des Vertrauens in der Gesellschaft für maßgebend, dann ändert sich an dem Ergebnis nichts, da in der Bevölkerung gemeinhin pauschal auf „das Jugendamt“ verwiesen wird, wenn es um Fälle von Kindeswohlgefährdungen und die Suche nach den hierfür Verantwortlichen geht.1109 In dem Kontext spielt schließlich auch der Fall des „inkonsequenten Samariters“ keine Rolle, dessen Garantenstellung sich daraus herleiten soll, dass andere Rettungswillige von einer Hilfeleistung abgehalten werden.1110 Weil dem unzuständigen Jugendamtsmitarbeiter die Situation der Familie zur Kenntnis gebracht wird, ist in der Regel davon auszugehen, dass der Informant – der damit aus seiner Perspektive heraus die Rettung in die Wege geleitet hat – von der Benachrichtigung des eigentlich zuständigen Amtswalters Abstand genommen hat. Eine Gefahrerhöhung wird somit stets zu bejahen sein, sodass es auf die Kontroverse über das Erfordernis einer solchen hier gar nicht ankommt. (2) Kraft Amtsträgergarantenstellung Anders als bei den zuständigen Sozialarbeitern gewinnt die Frage an praktischer Bedeutung, ob der nicht zuständige Kollege eine Amtsträgergarantenstellung einnimmt, da geklärt werden muss, ob hierfür – im Gegensatz zu einer Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme – die Aufnahme einer vereinzelten Information über eine Problemfamilie genügt. Auf den ersten Blick scheinen sich insoweit keine Schwierigkeiten zu ergeben, wird doch die Amtsträgergarantenstellung insbesondere in Fällen diskutiert, bei denen sich die tatsächliche Schutzübernahme gerade nicht herleiten lässt – man denke nur an den Polizisten, der zu den Rechtsgütern der in seinem Revier wohnhaften Bürger keinen persönlichen Bezug besitzt und bei dem die tatsächliche Übernahme nur sehr gekünstelt (mit dem Dienstantritt) konstruiert werden könnte.

1109 Ein Beispiel dafür bietet die Überschrift eines Artikels in der Neuen Osnabrücker Zeitung v. 4.6.1994: „Säuglingstod nicht verhindert? Lydia verhungerte – mögliche Mitschuld des Jugendamtes“ (abgedruckt in Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 74). 1110 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (cc) (g).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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Will man jedoch die Amtsträgergarantenstellung nicht ohne weiteres mit der Garantenstellung kraft Gesetzes gleichstellen und damit praktisch das Erfordernis des persönlichen Bezugs zwischen Garant und zu schützendem Rechtsgut konterkarieren, dann gilt es, die dem Amtswalter kraft Gesetzes vorgegebenen Pflichten einzuschränken.1111 Der BGH hat im Zusammenhang mit der Beschützergarantenstellung von Polizisten eine Einstandspflicht u. a.1112 davon abhängig gemacht, dass diese auch tatsächlich sachlich und örtlich für die unterlassene Handlung zuständig sind.1113 Die örtliche Zuständigkeit von Jugendamtsmitarbeitern bemisst sich nach §§ 86 ff. SGB VIII und hängt grundsätzlich vom Aufenthalt des Kindes ab. Wenn also z. B. das Kind mit seinen Eltern in Hamburg lebt und die Großmutter im Bayerischen Wald dem Jugendamt ihres Heimatortes berichtet, dass ihre Tochter nicht für eine adäquate Körperpflege des Enkels sorge, dann ergibt sich keine Amtsträgergarantenstellung.1114 Liegt sie vor, muss zusätzlich die sachliche Zuständigkeit beachtet werden, also diejenige für Fälle von Kindeswohlgefährdungen.1115 Fraglich ist das Erfordernis der funktionellen Zuständigkeit. Der BGH hat sich nicht darauf beschränkt, nur (auch) funktionell zuständige Amtswalter als Garanten zu erachten. Das leuchtet ein, da dieser Umstand lediglich eine vor Ort nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vorgenommene Einteilung betrifft1116 und mit der Beschränkung auf die Zuständigkeit in örtlicher und sachlicher Hinsicht bereits eine hinreichende Eingrenzung der beruflich übernommenen Einstandspflicht erzielt wird.1117

1111 In diesem Sinne auch der BGH in St 38, 388, 390: „Da sich die Garantenstellung eines Polizisten aus dessen Beruf herleitet, ergeben sich für seine Verpflichtung zur Verhinderung von Straftaten jedoch Einschränkungen“ (Hervorhebung nicht im Original). 1112 Zur regelmäßigen Beschränkung der Garantenstellung auf die Dienstzeit und die Ausnahmen siehe BGHSt 38, 388, 391 ff. sowie die Ausführungen oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (dd) (g). 1113 BGHSt 38, 388, 390; zust. u. a. Roxin, AT II, § 32, Rn. 93 ff. 1114 Zu beachten ist jedoch die örtliche Eilzuständigkeit nach § 86d SGB VIII, sofern sich das Kind oder der Jugendliche vorübergehend in dem Bezirk aufhält, sich in einer Notlage befindet und das eigentlich zuständige Jugendamt (vgl. § 86 SGB VIII) untätig bleibt. Für die vorläufige Maßnahme der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) ist die Zuständigkeit speziell in § 87 SGB VIII geregelt. 1115 Vgl. in diesem Zusammenhang das Schaubild zur Mannigfaltigkeit der Aufgaben in der Jugendhilfe bei Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 221 sowie den Musterverwaltungsgliederungsplan in Rn. 216. 1116 Beispielsweise nach dem Alphabet, nach Stadtbezirken oder durch eine Kombination beider Merkmale. 1117 Das Erfordernis der funktionellen Zuständigkeit spricht hingegen Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 60 an. Es bleibt jedoch unklar, ob er dies für allgemein notwendig erachtet, da er sich bei seinen Ausführungen auf die funktionell zuständigen Jugendamtsmitarbeiter beschränkt. Für die Unbeachtlichkeit der innerbe-

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Zudem ist dem lediglich funktionell unzuständigen Kollegen die Materie nicht völlig fremd – im Gegensatz zu demjenigen, der z. B. lediglich mit Fragen der Kostenübernahme betraut ist.1118 Daher kommt in dem praktisch häufigen Fall, dass der sachlich zuständige Sozialarbeiter lediglich wegen der anderweitigen Dienstplaneinteilung funktionell unzuständig ist,1119 die Familie, über die die Information bekannt wurde, aber dem örtlichen Zuständigkeitsbereich des Jugendamts unterfällt, eine Garantenstellung aufgrund Amtswalterschaft aus den gleichen Gründen wie beim zuständigen Sozialarbeiter in Betracht.1120 (3) Fazit Folglich ist der Sozialarbeiter, der umfassende Informationen über eine Kindeswohlgefährdung erhält, sofern die Interventionsschwelle des § 1666 BGB überschritten wurde, als Beschützergarant kraft Gesetzes und zudem als ein solcher wegen tatsächlicher Schutzübernahme zu charakterisieren, nicht jedoch derjenige, der lediglich ein Bruchstück über einen Sachverhalt bei Gelegenheit einer anderen Fallbetreuung wahrnimmt. Letzterem obliegt aber eine strafrechtliche Einstandspflicht kraft Amtsträgerschaft, sofern er nicht lediglich funktionell unzuständig, also örtlich und sachlich zuständig ist.1121 b) Garantenpflichten Freilich kann eine fehlende Zuständigkeit für die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht völlig ohne Folgen bleiben. Da Garantenpflichten nicht contra hördlichen Organisation wohl Bohnert, ZStW 117 (2005), 316 in den von ihm angestellten Alternativüberlegungen. 1118 Diese Mitarbeiter des Jugendamts haben zum Teil gar keine sozialpädagogische Ausbildung, sondern sind z. B. Absolventen von Verwaltungshochschulen, vgl. zu den verschiedenen Ausbildungen Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 214. 1119 So ist auch folgende Äußerung des BGH (St 38, 388, 391) zu verstehen: „Ausreichend ist aber, dass die Verhinderung einer konkreten Straftat – ungeachtet etwaiger Sonderzuständigkeiten anderer Beamter – allgemein in den Aufgabenbereich des Beamten fällt; eines speziellen Auftrages bedarf es nicht.“ (Hervorhebungen nicht im Original). 1120 Vgl. hierzu oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (dd) (d). Ohne Differenzierung nach der örtlichen Zuständigkeit Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 87, die eine tatsächliche Schutzübernahme ablehnen und, gestützt auf Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, meinen, der Sozialarbeiter werde „. . . ab Kenntnisnahme von der Bedrohung für das Kind zum Repräsentanten des staatlichen Wächters, von dem es Schutz verlangen kann“. Eine Garantenstellung kraft Gesetzes kann mit dieser Äußerung nicht gemeint sein, da sie zur Begründung von Garantenstellungen generell auf den personalen Bezug von zu schützendem Rechtsgut und Beschützer abstellen (S. 84 a. a. O.). 1121 Zur fehlenden praktischen Relevanz der Beschützergarantenstellung kraft Ingerenz in den hier einschlägigen Fällen s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (ee) (g).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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legem statuiert werden können, beschränken sich diejenigen des nicht unmittelbar fallbefassten Jugendamtsmitarbeiters in der Regel auf die Inkenntnissetzung des nach Dienstplan zuständigen Kollegen. Die Zulässigkeit der Datennutzung1122 folgt hierbei aus §§ 35 Abs. 1 SGB I, 67c Abs. 1 S. 1 SGB X, 64 SGB VIII. Ist jedoch auf der Basis der erlangten Informationen von einer so schweren Gefahrenlage auszugehen, dass ein Durchlaufen der Zuständigkeitskette nicht hinnehmbar erscheint, dann hat er das Kind einstweilen in Obhut zu nehmen.1123 c) Fahrlässigkeitsprüfung Die Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz Garantenstellung muss überdies eine objektive Sorgfaltspflichtwidrigkeit darstellen, und der eingetretene Erfolg muss objektiv vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein. (1) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (a) „Sondernormen“ Zur Bestimmung des objektiven Sorgfaltsmaßstabs ist zunächst zu untersuchen, ob entsprechende Sondernormen existieren, deren Einhaltung auf ein sorgfaltsgemäßes Verhalten hindeutet. Im Hinblick auf die unzuständigen Sozialarbeiter und die Pflicht, die Informationen an den zuständigen Kollegen weiterzuleiten, kommen dabei auf den ersten Blick die Regelungen zum Datenschutz in Betracht. Zu beachten ist indes, dass diese lediglich die Befugnis zur Weitergabe normieren, nicht aber entsprechende Ermächtigungsgrundlagen in bestimmten Situationen.1124 Vielmehr ist § 8a SGB VIII heranzuziehen, der seit dem 1.10.2005 die Amtsermittlungspflicht und das Gebot kollektiven Zusammenwirkens statuiert.1125

1122 Eine Datenübertragung liegt nicht vor, da sich die Weitergabe der Daten auf die verantwortliche Stelle beschränkt (vgl. § 67 Abs. 7, 9 S. 1 SGB X), hier also auf die Abteilung, die mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen befasst ist. 1123 Zu der vor dem Inkraftreten des KICK notwendigen „polizeilichen Zuführung“ siehe oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (c) (dd). 1124 Siehe dazu bereits oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b). 1125 Vor dem Inkrafttreten des KICK konnte als Sondernorm lediglich § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X herangezogen werden, der den Amtsermittlungsgrundsatz enthält und für dessen Umfang das Ausmaß der zu vermutenden Gefahr maßgebend ist.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

(b) „Verkehrsnormen“ (aa) Existenz Darüber hinaus sind auch in den Empfehlungen des Deutschen Städtetages explizit Vorgaben für den Umgang mit sogenannten Erstinformationen durch den nicht unmittelbar fallzuständigen Sozialarbeiter enthalten. Differenziert wird insoweit zwischen dem ASD und dem Jugendamt: Gehe eine Mitteilung beim ASD ein, die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung enthält, so sei dies zu dokumentieren und der Sachverhalt soweit wie möglich aufzuklären. Sei dies geschehen, so müsse der Fall entweder in eigener Zuständigkeit oder durch die „sofortige persönliche Weiterleitung an die zuständige Fachkraft/ihre Vertretung“ bearbeitet werden. Sofern eine Weiterleitung scheitere, bleibe der Sozialarbeiter fallzuständig, der die Information aufgenommen hat („amtsinterne Eilzuständigkeit“).1126 Nehme ein Jugendamtsmitarbeiter die Informationen auf, so habe dieser „unverzüglich“ den zuständigen Kollegen in Kenntnis zu setzen, gegebenenfalls auch dessen Vertretung.1127 (bb) Stellungnahme Legt man diese Vorgaben zugrunde, dann folgt bei der „amtsinternen Eilzuständigkeit“ des ASD-Mitarbeiters, die sich auf §§ 8a, 42 SGB VIII stützt, dass ihm – ebenso wie dem fallzuständigen Sozialarbeiter – ein Beurteilungsspielraum zukommt. Sein Verhalten ist daher nur dann als sorgfaltspflichtwidrig zu erachten, wenn er sich der verschiedenen Bewertungsmöglichkeiten einer Konstellation nicht bewusst (Beurteilungsausfall), oder wenn im konkreten Fall nur eine richtige Schlussfolgerung möglich war, z. B. die Notwendigkeit der Benachrichtigung des Familiengerichts, er diesem Umstand nicht Rechnung trug und damit die Reduktion des Beurteilungsspielraums „auf Null“ verkannte. Im Hinblick auf die unverzügliche Informationsweitergabe ist ebenfalls ein derartiger Beurteilungsspielraum anzunehmen, da dem betreffenden Sozialarbeiter die Bewertung obliegt, ob die Information überhaupt auf eine Kindeswohlgefährdung hindeutet. Die Differenzierung, die der Deutsche Städtetag bezüglich der ASD- und der Jugendamtsmitarbeiter vornimmt, trägt dem Umstand Rechnung, dass in der Regel beim ganzheitlich orientierten ASD1128 eine geringere Differenzierung nach 1126 Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 188 sowie im Anhang (Nr. 3.112). 1127 Empfehlungen des Deutschen Städtetages, abgedruckt in ZfJ 2004, 188 sowie im Anhang (Nr. 3.113).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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Zuständigkeiten anzunehmen ist. Für die Ermittlung der strafrechtlichen Sorgfaltspflichten der unzuständigen Jugendamtsmitarbeiter ist es jedoch nicht einleuchtend, warum keine „amtsinterne Eilzuständigkeit“ angenommen werden kann, wenn dieser den zuständigen Kollegen nicht erreicht und der Fall so brisant ist, dass er keinen Aufschub duldet. (c) „Differenzierte Maßfigur“ Schließlich muss aufgrund der bloßen Indizfunktion von Sonder- und Verkehrsnormen untersucht werden, ob das Verhalten des unzuständigen Sozialarbeiters auch dem eines gewissenhaften und besonnenen Menschen in der konkreten Situation entsprochen hätte, der dem entsprechenden Berufskreis angehört. Begrenzt werden die Sorgfaltspflichten durch die Rechtsfigur des erlaubten Risikos und dessen spezieller Ausprägung im Vertrauensgrundsatz. Dass der die Information Aufnehmende sich nicht darauf verlassen kann, der funktionell zuständige Kollege werde schon auf irgendeinem Weg davon erfahren, ergibt sich daraus, dass in der Regel nichts darauf hindeutet, dass der Informant sich nochmals an den zuständigen Sachbearbeiter wenden wird. Soweit die Information weitergegeben wurde, kann der funktionell unzuständige Sozialarbeiter grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Kollege das Notwendige veranlassen wird, um das Kind zu schützen. Anders ist es hingegen dann, wenn konkrete Anhaltspunkte für das Gegenteil bestehen, wenn der Kollege z. B. deutlich macht, mit solch vagen Informationen werde er das Familiengericht nicht behelligen und auch im übrigen „erst einmal abwarten“. Der unzuständige Sozialarbeiter hat in diesem Fall dessen Vorgesetzten zu informieren, um die angemessene Behandlung der Information sicherzustellen. (2) Objektive Voraussehbarkeit Neben der objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit muss der Erfolgseintritt auch als objektiv voraussehbar eingestuft werden können. Diese Voraussetzung spielt bei den nicht zuständigen Sozialarbeitern eine noch bedeutendere Rolle als bei den zur Betreuung Berufenen, da die erstgenannten – sofern es nicht um eine sogenannte Erstmitteilung geht – in der Regel eine wesentlich begrenztere Fallkenntnis als die letztgenannten besitzen. So kann z. B. die Mitteilung, dass eine Mutter ihr Kind häufig bei Bekannten unterbringt, für sich betrachtet, keinen Anhaltspunkt für eine Gefahrenlage darstellen – anders ist die Situation zu bewerten, wenn dem Betreuenden bekannt ist, dass der Bekanntenkreis der Mutter dem Pädophilenmilieu zuzuordnen ist. 1128

Siehe dazu näher oben Teil 1 D. I. 3. b) (3).

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Ein besonnener Mensch in der konkreten Lage des funktional zuständigen Sozialarbeiters muss sich jedoch bewusst sein, dass auch ein bei isolierter Betrachtung nicht dramatischer Umstand im Zusammenwirken mit sonstigen Ursachen zu einer wesentlichen Verschlechterung der Situation und damit zum strafrechtlichen Gebot führen kann, das Kind von seinen Eltern zu trennen. Letztlich handelt es sich aber um eine Frage des Einzelfalls, ob von der objektiven Vorhersehbarkeit ausgegangen werden kann. (3) Objektive Vermeidbarkeit Überdies muss festgestellt werden können, dass durch das Tätigwerden des unzuständigen Sozialarbeiters der Schadenseintritt hätte vermieden werden können. (a) Rechtmäßiges Alternativverhalten generell Der mögliche Einwand, auch im Fall eines rechtmäßigen Alternativverhaltens wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der tatbestandliche Erfolg eingetreten, gewinnt an dieser Stelle noch größere Bedeutung, als wenn er vom fallzuständigen Sozialarbeiter erhoben wird. Der Grund dafür liegt darin, dass zusätzlich zu den unmittelbar schädigenden Eltern, dem Familiengericht und dem unter Umständen bereits eingesetzten Mitarbeiter eines freien Trägers auch das Verhalten des zuständigen Sozialarbeiters zu beachten, dass also noch ein Glied zwischen den Unterlassenden und das Rechtsgut geschaltet ist, welches die Kindeswohlgefährdung beeinflusst.1129 (b) Speziell: Einwand möglichen Fehlverhaltens des fallzuständigen Sozialarbeiters Insbesondere kommt in Betracht, dass der unzuständige Amtswalter geltend macht, es sei nicht auszuschließen gewesen, dass der Fallbetreuer entschieden hätte, das Familiengericht nicht einzuschalten. Dagegen spricht jedoch das gleiche Argument wie gegen den vom zuständigen Jugendamtsmitarbeiter vor dem Inkrafttreten des KICK erhobenen Einwand, das Familiengericht hätte womöglich der Benachrichtigung nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. keine Konsequenzen folgen lassen: Auch der zuständige Sozialarbeiter ist – gleich dem Familienrichter nach § 12 FGG – gemäß § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X dazu verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. 1129 Zum Einwand eines möglichen Fehlverhaltens des Familiengerichts/des Mitarbeiters des freien Trägers und den Gründen für dessen grundsätzliche Unbeachtlichkeit siehe oben Teil 2 A. II. 2. f) (d) (a).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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Unterstellt man dies entsprechend der Argumentation des BGH im „Politbürofall“,1130 dann führt die Übermittlung der Informationen – da man insoweit von einem pflichtgemäßen Verhalten des Familiengerichts auszugehen hat – zur Vermeidung des Taterfolgs. Nach dem 1.10.2005 kann der Sozialarbeiter das Kind gegebenenfalls nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII einstweilen in Obhut nehmen. 2. Rechtswidrigkeit Im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit ist vorrangig an die rechtfertigende Pflichtenkollision zu denken – vor allem dann, wenn der Jugendamtsmitarbeiter bereits kraft der Diensteinteilung eigene Fälle zu bearbeiten hat und die Informationsweitergabe als gleich- oder nachrangige Pflicht zurückstellt. 3. Ergebnis Auch die nicht unmittelbar fallzuständigen Sozialarbeiter können sich wegen eines fahrlässigen unechten Unterlassens strafbar machen, wenn sie Informationen nicht weiterleiten, die den zuständigen Kollegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem kindesschützenden Verhalten veranlasst hätten. Die Beschützergarantenstellung gründet sich hierbei auf das Gesetz und die tatsächliche Übernahme, sofern die Interventionsschwelle des § 1666 BGB überschritten wird und sich das berechtigte Vertrauen speziell in der Person des unzuständigen Sozialarbeiters verdichtet. Wurde diesem nur ein „Bruchstück“ eines Gefährdungssachverhalts bekannt, so kommt eine Beschützergarantenstellung kraft Amtsträgerschaft in Betracht, wenn der Sozialarbeiter lediglich funktionell unzuständig, im übrigen aber örtlich und sachlich zuständig ist. Sofern eine Situation so brisant erscheint, dass ein Durchlaufen der „Zuständigkeitskette“ im Interesse des gefährdeten Kindes nicht hinnehmbar erscheint, ist ein eigenes Tätigwerden angezeigt, das sich auf eine „Eilzuständigkeit“ stützt. Beachtet werden muss jedoch stets die Möglichkeit, dass die Untätigkeit des Sozialarbeiters wegen einer Pflichtenkollision gerechtfertigt ist.

1130

BGHSt 48, 77, 95. Siehe dazu näher oben Teil 2 A. II. 2. f) (d) (a).

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

II. Strafbarkeitsrisiko der an Teambesprechungen teilnehmenden/abstimmenden/ratgebenden Kollegen Zu untersuchen bleibt, ob die Kollegen des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters auch dann Gefahr laufen, wegen fahrlässigen unechten Unterlassens bestraft zu werden, wenn sie einen Rat geben bzw. im Rahmen einer Teamsitzung dafür plädieren, dass es besser sei, das Kind zunächst bei seinen Eltern zu belassen und die weitere Entwicklung abzuwarten1131 – zwei Konstellationen, die ebenfalls bislang noch nicht Gegenstand eines Strafverfahrens waren1132 und die angesichts des neu geschaffenen § 8a Abs. 1 SGB VIII, der den Grundsatz der Kollegialentscheidung zum Zwecke der Risikoabschätzung statuiert, in Zukunft noch größere Bedeutung gewinnen könnten. 1. Abgrenzung von Tun und Unterlassen Im Gegensatz zur Nichtweiterleitung von Informationen ist das Verhalten von Kollegen des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters, die an einer Teambesprechung i. S. d. § 8a Abs. 1 SGB VIII oder einer Hilfeplankonferenz nach § 36 Abs. 2 SGB VIII teilnehmen, nicht ganz so eindeutig dem Unterlassungsbereich zuzuordnen. Es muss daher auf die bereits dargestellten Abgrenzungstheorien zurückgegriffen werden.1133 a) Allgemeine Abgrenzung (1) Energieeinsatzkriterium/Konkurrenzlösung Nach der naturalistisch-ontologischen Betrachtungsweise ist dann von einem aktiven Tun auszugehen, wenn ein Handeln für den tatbestandlichen Erfolg kausal wird, wobei in eine bestimmte Richtung Energie eingesetzt bzw. diese Energie kausal für den Erfolg wird. Auch für die sogenannte Konkurrenzlösung ist vonnöten, dass ein kausales Tun vorliegt. Von einem Energieeinsatz ist bei der Erteilung eines Rats bzw. bei einer Abstimmung auszugehen – fraglich ist aber, in welche Richtung dieser zielt, vor allem, wenn sowohl das Für als auch das Wider aufgezeigt wird. 1131 Andernfalls ist der Kollege lediglich risikoverringernd tätig geworden, sodass bereits die Kausalität abzulehnen ist (aA OLG Stuttgart NStZ 1981, 28; dagegen zu Recht Roxin, AT II, § 31, Rn. 68). 1132 Als Beispiel für eine thematisch einschlägige Konstellation mag der Fall „Vanessa“ dienen, in dem der zuständige Sozialarbeiter sich mit seinen Kollegen beriet (Urt. des AG Mönchengladbach vom 9.3.2004 (Az. 13 Cs 343/03), abrufbar im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen unter http://www.justiz.nrw.de). 1133 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. a) (1).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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Erachtet man für maßgebend, dass die eingesetzte Energie den tatbestandlichen Erfolg herbeigeführt hat, dann ergibt sich das Problem, dass die Kausalität eines bloßen Ratschlags im nachhinein nur schwer zu klären sein wird, dass also nicht immer nachgewiesen werden kann, dass – dächte man den Rat hinweg – der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, sodass er nicht als conditio sine qua non anzusehen ist. Im Hinblick auf die Teilnahme an einer Abstimmung gilt dasselbe, sofern sie für nicht verbindlich erachtet wird. Wird der Abstimmung indes entgegen der hier vertretenen Ansicht1134 behördenintern Bindungswirkung beigemessen, oder fühlt sich der fallzuständige Jugendamtsmitarbeiter faktisch dem „Druck der Mehrheit“ verpflichtet, so stellen sich die im „Ledersprayfall“ diskutierten Fragen nach der Kausalität, wenn die Stimme wegen der eindeutigen Mehrheitsverhältnisse nicht entscheidungserheblich ist. Ohne weiteres kann also nur dann von deren Ursächlichkeit ausgegangen werden, wenn sie für das Ergebnis ausschlaggebend ist. (2) „Schwerpunktformel“/sozialer Sinn Erachtet man hingegen „den sozialen Sinn“ eines Verhaltens bzw. den „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ als maßgebend, dann ist von einem Unterlassen auszugehen. Nicht die kollegiale Beratung bzw. das Erteilen eines Rats widerspricht der Rechtsordnung1135 – vielmehr ist grundsätzlich umso mehr von einer fachlich vertretbaren Entscheidung auszugehen, wenn mehrere Kollegen auf der Basis der Informationen wie der Betreuende entscheiden würden, weil dann in der Regel das Für und Wider abgewogen und eventuelle Schwachstellen in der Gefahrenabwägung aufgedeckt werden.1136 Anders steht es mit dem unterbliebenen Rat, das Kind aktiv zu schützen, da dieser den Zielvorgaben der §§ 1 Abs. 3 Nr. 3, 8a SGB VIII zuwiderläuft. (3) Stellungnahme Die angesprochenen Probleme bei der Ermittlung der „bestimmten Richtung“ beim Energiekriterium bzw. bei der Ursächlichkeit eines Rats bzw. der Teil1134

s. o. Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b) (cc) (a). Vgl. § 36 Abs. 2 S. 1 SGB VIII sowie § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII, der das Erfordernis des Zusammenwirkens von Fachkräften auf die Risikobewertung bei Fällen von Kindeswohlgefährdung generell ausdehnt (BT-DrS 15/3676, S. 10), und im Gegensatz zur erstgenannten Norm, keine „Soll“-Bestimmung darstellt, sondern zwingend formuliert ist („hat“). 1136 Vgl. auch Wiesner, SGB VIII, § 36, Rn. 40: „. . . mehrere sehen und wissen mehr als einzelne“. 1135

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

nahme an einer Teamsitzung zeigen, dass die Schwerpunktformel – entgegen der häufig geäußerten Kritik – in diesem Zusammenhang die größte Trennschärfe besitzt. Ihr soll daher der Vorzug gegeben werden, sodass grundsätzlich von einem Unterlassen der mitberatenden bzw. mitabstimmenden Kollegen auszugehen ist.1137 b) Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs? Wie wirkt es sich aus, dass mit dem Rat bzw. der Stimmabgabe unter Umständen der vom fallzuständigen Sozialarbeiter schon eingeleitete fremde1138 rettende Kausalverlauf abgebrochen wird? Hier ist nur dann von einem aktiven Tun auszugehen, wenn, bildlich gesprochen, der Rettungsversuch das Kind bereits erreicht hat. Dies wird aber nicht der Fall sein, da zwischen den Kollegen eine Verständigung in der Regel – vor allem bei § 36 Abs. 2 SGB VIII und § 8a SGB VIII – vor dem Ergreifen bestimmter Maßnahmen in der Bewertungsphase nach Sammlung der entscheidungserheblichen Informationen stattfindet. c) Zwischenergebnis Grundsätzlich ist damit von einem Unterlassen der an einer Beratung bzw. Abstimmung teilnehmenden und gegen ein Tätigwerden stimmenden Sozialarbeiter auszugehen. Anders stellt sich die Situation unter Umständen dar, wenn der fallzuständige Kollege bereits Maßnahmen eingeleitet hatte, die, wären sie fortgesetzt worden, dazu geführt hätten, dass das Kind gerettet worden wäre. Hatte dessen Teamkollege hier gegen das Aufrechterhalten der Hilfen plädiert und damit ein Abbrechen der Rettungsmaßnahmen herbeigeführt, dann ist dies als aktives Tun zu werten. 2. Garantenstellung Zudem muss geprüft werden, ob der Beratende bzw. Abstimmende strafrechtlich zum kindeswohlschützenden Tätigwerden verpflichtet, ob er also Beschützergarant ist.

1137 1138

Im Ergebnis ebenso Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 88. Zur Relevanz dieser Qualifikation s. o. Teil 2 A. II. 2. a) (1) (b) (aa).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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a) Aus Gesetz Sofern zum Zeitpunkt der Erteilung des Rats bzw. der Abstimmung die Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB überschritten ist, kommt eine Garantenstellung aus Gesetz in Betracht, die jedoch eines personalen Bezugs bedarf. b) Aus tatsächlicher Übernahme Ein solcher könnte in der tatsächlichen Schutzübernahme begründet sein. Indes ist im Hinblick auf eine amtsinterne Verständigung im Team – noch weniger als bei von außen an den Amtswalter herangetragenen Informationen – von einem tatsächlichen Übernahmemoment auszugehen, zumal häufig bereits in der Vergangenheit eine Anonymisierung der Fälle aus Datenschutzgründen erfolgte1139 und eine solche seit dem 1.10.2005 auch in § 64 Abs. 2 SGB VIII für das Zusammenwirken von Fachkräften vorgesehen ist, sodass der Sachverhalt ein abstrakter bleibt und schon gar nicht von einem „konkreten Fall“ ausgegangen werden kann, ein personaler Bezug zwischen dem Kollegen und den Rechtsgütern des Kindes also notwendigerweise abzulehnen ist. c) Aus Amtsträgerschaft In Betracht kommt daher lediglich, dass eine Einstandspflicht aus der Eigenschaft als Amtsträger resultiert. Falls es bei der an der Hilfeplankonferenz teilnehmenden oder bei der ratgebenden Person an der sachlichen Zuständigkeit mangelt (z. B. wenn Vertreter der wirtschaftlichen Jugendhilfe an der Beratung nach § 36 Abs. 2 SGB VIII mitwirken), dann ist eine Garantenstellung bereits bei Zugrundelegung der maßgebenden Entscheidung des BGH1140 und wegen mangelnder Sachkunde des Kollegen abzulehnen.1141 Sofern es – z. B. bei der Gefahreneinschätzung nach § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII – lediglich an der funktionellen Zuständigkeit fehlt, ist eine Amtsträgergarantenstellung hingegen zu bejahen. Zwar geht es hier für den nicht zuständigen Amtswalter im Gegensatz zur vorstehend erörterten Konstellation nicht darum, den laut Fallverteilung zuständigen Kollegen über bestimmte Tatsachen in Kenntnis zu setzen – hier geht es um die Sachlage, bei der der zuständige Amtsträger Hilfe bei der Risikoeinschätzung erfährt. Indes ist die Situation insoweit jener Konstellation vergleichbar, als der funktionell unzuständige den zu1139

Siehe dazu Wiesner, SGB VIII, § 36, Rn. 55. BGHSt 38, 388 ff. 1141 Im Ergebnis ebenso Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 88 f. und Bringewat, ZfJ 2000, 408. 1140

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

ständigen Jugendamtsmitarbeiter über die aus den vorliegenden Tatsachen folgenden Schlüsse aufklärt. Die Garantenstellung scheitert auch nicht an fehlenden Entscheidungs- bzw. Eingriffskompetenzen, da der Beratende bzw. Abstimmende durchaus in der Lage ist, den Dienstweg zu beschreiten, um auf ein unzureichendes Vorgehen gegenüber einer Kindeswohlgefährdung aufmerksam zu machen und damit eine Anweisung zu rechtmäßigem Verhalten erwirken kann.1142 3. Fahrlässigkeitsprüfung Die Garantenstellung des sachlich und örtlich zuständigen Jugendamtsmitarbeiters führt freilich nur dann zu einer strafrechtlichen Haftung, wenn ihm ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten nachgewiesen werden kann, das zu einem objektiv voraussehbaren und vermeidbaren Erfolg geführt hat. a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung Da weder Sonder1143- noch Verkehrsnormen1144 existieren, die sich speziell mit diesen Konstellationen befassen, muss zur Ermittlung des objektiven Sorgfaltsmaßstabs auf das Verhalten eines besonnenen Dritten aus dem Verkehrskreis des Täters in dessen konkreter Lage abgestellt werden. Der besonnene Sozialarbeiter hat – wie § 8a SGB VIII deutlich werden lässt – auf einer möglichst breiten Informationsbasis zu entscheiden, wobei er sich grundsätzlich nicht auf die beigebrachten Angaben verlassen darf, sondern selbst nachzuforschen hat. Auf den Kollegen des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters gewendet, bedeutet dies, dass dieser die ihm vorgetragenen Tatsachen kritisch zu würdigen und mögliche Widersprüche durch Nachfragen zu klären hat. Ist dies erfolgt, so 1142 Anderer Ansicht Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 89 und Bringewat, ZfJ 2000, 408, die die lediglich funktionell unzuständigen Sozialarbeiter nicht von ihrer Ablehnung einer Beschützergarantenstellung der am Hilfeplanverfahren teilnehmenden Fachkräfte ausnehmen. 1143 § 8a Abs. 1 SGB VIII zeigt nicht auf, in welcher Form die Kollegialabsprachen ablaufen sollen. 1144 Der Deutsche Städtetag bemerkt in seinen Empfehlungen nur, dass Kollegialentscheidungen stattfinden sollen, nicht aber wie das Verhalten bei der Entscheidungsfindung genau aussehen soll (vgl. Nr. 3.21 – „Risikoeinschätzung bei bisher nicht bekannten Familien“, abgedruckt in ZfJ 2004, 189 sowie im Anhang: „Hierzu gehört die grundsätzliche Einbeziehung von Dienstvorgesetzten und/oder anderen Fachkräften (Team).“ sowie Nr. 3.4 – „Anrufung des Familiengerichts“, abgedruckt auf S. 190 a. a. O.: „Vor einer Anrufung des Familiengerichts hat sich die fallverantwortliche Fachkraft im kollegialen Team zu beraten und die/den nächste/n Vorgesetzte/n zu informieren.“).

B. Strafbarkeitsrisiken sonstiger Jugendamtsmitarbeiter

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hat er auf der Basis dieser Tatsachen zu entscheiden. Eigene Ermittlungen muss er nicht anstellen,1145 insoweit gilt der Vertrauensgrundsatz. Der an einer Teamsitzung teilnehmende Sozialarbeiter darf sich also darauf verlassen, dass die zugrunde gelegten Tatsachen zutreffen. Meint er, offenkundig sei die Tatsachenbasis zu gering, dann hat er sich auf den Ratschlag zu beschränken, weiter nachzuforschen, wobei jedoch der Faktor Zeit zu berücksichtigen ist. Ergibt sich auf der Basis der bisher gewonnenen Erkenntnisse ein sofortiger Handlungsbedarf, so kann er keine weiteren Tatsachen fordern. Da er die §§ 27 ff., 42, 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII bei der Beurteilung zugrunde zu legen hat, welche Maßnahmen in dem konkreten Fall angemessen sind, steht ihm bei seiner Risikoeinschätzung – ebenso wie dem fallbefassten Kollegen – ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Deshalb kommt ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten des Abstimmenden bzw. Ratgebenden nur dann in Betracht, wenn er entweder auf der Basis erkennbar zu geringer Tatsachen und verbleibender Zeit zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse gleichsam „ins Blaue hinein“ abstimmt bzw. beratschlagt, oder wenn die dargelegten Informationen nur eine richtige Strategie zulassen, also eine Reduzierung des Beurteilungsspielraums bzw. eine Ermessensreduzierung „auf Null“ vorliegt, und er dies verkennt. b) Objektive Voraussehbarkeit Wie bei dem nicht fallzuständigen Sozialarbeiter, der eine Information über einen nicht seiner Zuständigkeit unterfallenden Fall „von außen“ erhält, bemisst sich auch hier die objektive Voraussehbarkeit auf der Basis der festgestellten Tatsachen. Ein besonnener Dritter in der konkreten Lage des ratgebenden bzw. abstimmenden Sozialarbeiters wird in der Regel den Erfolg umso eher voraussehen können, je mehr Informationen ihm zur Verfügung stehen. Sofern sehr wenig Fakten vorliegen, spricht dies gegen die Voraussehbarkeit. c) Objektive Vermeidbarkeit Überdies muss der eingetretene tatbestandliche Erfolg objektiv zu vermeiden gewesen sein. Auch in diesem Kontext werden Konstellationen relevant, in denen die hypothetische Rettungshandlung vom tatsächlich nicht erfolgten Verhalten eines Dritten abhängig ist.

1145 Dies würde ihm wegen der Anonymisierung der Daten (vgl. § 64 Abs. 2 SGB VIII) wohl auch nicht möglich sein.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Insoweit gilt nichts anderes als bei den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern: Es ist mit der Rechtsprechung von einem hypothetischen rechtmäßigen Verhalten des jeweiligen Dritten auszugehen – ganz gleich, ob es sich um einen Rat gegenüber dem fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter handelt, um das Beratungs- bzw. Abstimmungsverhalten der Teilnehmer eines Hilfeplanverfahrens bzw. sonstiger Abstimmungen oder um das des jeweiligen Vorgesetzten. Ein Verweis auf deren potentielles Fehlverhalten ändert nichts daran, dass sich im eingetretenen Erfolg die Pflichtwidrigkeit des Sozialarbeiters realisiert.1146 4. Ergebnis Zwar haben die sachlich und örtlich zuständigen, lediglich funktionell unzuständigen Sozialarbeiter, die einen Rat erteilen oder an einer Beratung bzw. Abstimmung teilnehmen, eine Garantenstellung kraft Gesetzes bzw. Amtsträgerstellung inne, sofern die Interventionsschwelle des § 1666 BGB zum Zeitpunkt ihres Verhaltens überschritten ist. Indes agieren sie in den meisten Fällen nicht objektiv sorgfaltspflichtwidrig. Lediglich, sofern nur eine „richtige“ Verhaltensstrategie seitens des zuständigen Kollegen verfolgt werden kann und der andere ihm nicht dazu rät bzw. nicht in diesem Sinne abstimmt oder sofern offenkundig zu wenig Tatsachen gesammelt worden sind, sodass eine Entscheidung nicht möglich erscheint, ist von einer objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit auszugehen. In der letztgenannten Konstellation wird es zumeist an der objektiven Voraussehbarkeit fehlen. Zu beachten ist jedoch, dass der Einwand des potentiellen Fehlverhaltens von Personen, von denen die Rettung abhängt, nicht beachtlich ist.

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten Neben den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern und deren Kollegen sind auch die Dienstvorgesetzten1147 (z. B. Abteilungsleiter, Jugendamtsleiter) in das 1146 Zur Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens in derartigen Fällen siehe oben Teil 2 II. 4. b) (2). 1147 Im beamtenrechtlichen Sinne ist hierunter derjenige zu verstehen, der für beamtenrechtliche Entscheidungen über die persönlichen Angelegenheiten der ihm nachgeordneten Beamten zuständig ist (vgl. §§ 3 Abs. 2 S. 1 BBG, Art. 4 Abs. 2 S. 1 BayBG). Hier soll dieser Begriff jedoch gleichbedeutend mit dem des Vorgesetzten verwendet werden, der im Beamtenrecht denjenigen darstellt, der dem Beamten für seine dienstliche Tätigkeit Anordnungen erteilen kann (vgl. § 3 Abs. 2 S. 2 BBG; Art. 4 Abs. 2 S. 2 BayBG).

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten

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Visier der Literatur1148 und der Strafverfolgungsorgane1149 geraten. Obgleich bislang keine Verurteilungen ergangen sind, soll deren Risiko untersucht werden, sich wegen fahrlässigen Verhaltens strafbar zu machen.1150 Entsprechende Konstellationen sind in vielerlei Form denkbar – hier will ich mich darauf beschränken, diejenige des sogenannten Organisationsmangels bzw. der Erteilung einer rechtswidrigen Dienstanweisung zu hinterfragen.1151 Während bei der erstgenannten nach allen Abgrenzungstheorien von einem Unterlassen auszugehen ist, ist im letztgenannten Fall ein aktives Tun anzunehmen. Auch in diesem Zusammenhang sollen nur die Besonderheiten der jeweiligen Konstellationen skizziert werden, im übrigen sei auf die Ausführungen zur Strafbarkeit der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter verwiesen.

I. Organisationsmängel der Leitungsebene Ein Beispiel für einen Organisationsmangel im Jugendamt stellt die Nichtumsetzung der Empfehlungen des Deutschen Städtetages dar, die als Indiz dafür gelten, dass der einzelne Jugendamtsmitarbeiter der objektiven Sorgfaltspflicht nachgekommen ist. Überdies zählt hierzu die fehlende Reaktion auf eine von

1148 Siehe Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 88; Fieseler, UJ 2001, 435; ders., ZfJ 2004, 176 („. . . mit der Befolgung der Empfehlungen (gemeint sind die des Deutschen Städtetages, Anm. nicht im Original) nicht länger nur die Fachkraft vor Ort, sondern auch der Vorgesetzte in die strafrechtliche Verantwortung eingebunden.“). Vgl. auch Manegold, „. . . und schuld ist“ (S. 94: „Welche Aufgabe hat eigentlich die Leitung in bezug auf die Garantenpflicht? Es ist ja so, dass der fallführende Sozialarbeiter oder die Sozialarbeiterin letztendlich zur Verantwortung gezogen wird. Aber wie steht es mit der Amtshierarchie, mit Abteilungsleitung, Amtsleitung oder möglicherweise noch darüber hinaus?“) sowie Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 12 f. Wiesner, „. . . und schuld ist“, S. 8: „Eine Garantenpflicht können alle Menschen im Jugendamt haben, die Verantwortung tragen, nämlich Abteilungsleiter oder Amtsleiter (. . .), wenngleich es mit zunehmender Entfernung zur Rechtsgutsverletzung immer schwieriger wird, den Anteil oder die Spezifik der Verantwortung zu identifizieren und strafrechtlich zu würdigen.“ 1149 Im Fall „Jenny“ wurde gegen den Stuttgarter Jugendamtsleiter Pfeifle (vgl. dessen Bericht in „Die Verantwortung“, S. 83 ff.) sowie gegen die Leiterin des ASD Stuttgart ermittelt (siehe zum Ganzen Hörner, „. . . und schuld ist“, S. 55 ff.). Die Ermittlungen wurden jedoch eingestellt. 1150 Der eher in der Theorie denkbare Fall, dass der Vorgesetzte den erforderlichen „Gehilfenvorsatz“ bezüglich der Haupttat aufweist (und damit § 357 Abs. 1 3. Var. StGB) und möglicherweise wegen des durch die Weisung gerechtfertigten Vordermanns auch eine Tat in mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 2. Var. StGB) verwirklicht (siehe dazu Hoyer in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 183 ff., 191), soll hier vernachlässigt werden. 1151 Werner, Handbuch Kindeswohlgefährdung, Frage 38 bezieht sich überdies auf den aktiven Eingriff in die Einzelfallbearbeitung („. . . soll teilweise in der Praxis vorkommen . . .“).

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

einem Sozialarbeiter erhobene Überlastungsanzeige.1152 Die hiermit angesprochenen Sachverhalte können mit dem Schlagwort „Nichtbehebung struktureller Defizite“ zusammengefasst werden. 1. Tatbestand a) Garantenstellung Zunächst ist auf die Frage einzugehen, ob den Dienstvorgesetzten überhaupt eine strafrechtliche Verpflichtung zum Tätigwerden i. S. d. § 13 Abs. 1 StGB zuteil wird.1153 In Betracht kommt sowohl eine Beschützer- als auch eine Überwachergarantenstellung. (1) Beschützergarantenstellung Eine Beschützergarantenstellung lässt sich auf die gleichen Erwägungen stützen, die eine solche des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters begründen.1154 (a) Tatsächliche Übernahme Sofern die Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB überschritten wurde, resultiert aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG eine Garantenstellung, die sich in der Person des Vorgesetzten verdichtet haben muss, z. B. durch eine tatsächliche Schutzübernahme. In der Regel besitzt der Dienstvorgesetzte jedoch gar keinen persönlichen Kontakt zu der „Problemfamilie“. Seine bloße Teilnahme an der Hilfeplankonferenz nach § 36 Abs. 2 SGB VIII bzw. an der Risikoeinschätzung nach § 8a Abs. 2 SGB VIII genügt hierfür nicht1155, sodass eine Garantenstellung kraft tatsächlicher Übernahme ausscheidet. (b) Amtsträgergarantenstellung Indes kommt, sofern der Dienstvorgesetzte sachlich und örtlich zur Anleitung des für die Familie zuständigen Sachbearbeiters berufen ist, eine Einstands1152 Beispiele dafür bieten die beiden Überlastungsanzeigen von Heek in Sozialmagazin 2001, 34 ff. und in Sozialmagazin 2004, 33. 1153 Für Kunkel, der von einer Garantenstellung „des Jugendamts“ ausgeht, besteht auch in diesem Kontext keine Schwierigkeit, eine Garantenstellung aus dem Gesetz herzuleiten (siehe ZFSH/SGB 2001, 134). 1154 Vgl. hierzu oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a). 1155 Siehe oben Teil 2 B. II. 2. b).

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten

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pflicht kraft Amtsträgerschaft in Betracht, wenn der Interventionsbereich des § 1666 BGB eröffnet ist.1156 (2) Überwachergarantenstellung Die Frage nach einer Überwachergarantenstellung bezieht sich darauf, ob aus dem arbeitsrechtlichen Weisungsverhältnis eine Pflicht folgt, Straftaten der Untergebenen zu verhindern. Im Hinblick auf private Dienstherrn wird dies kontrovers diskutiert.1157 Für den Amtsträgerbereich ist das Geschehenlassen rechtswidriger Taten durch den Vorgesetzten1158 in § 357 Abs. 1 3. Var. StGB1159 geregelt. Jedoch bezieht sich die Norm lediglich auf den Fall des vorsätzlichen Untätigbleibens (vgl. § 15 StGB), sie erfasst also strukturell vor allem die Beihilfe durch Unterlassen. Diese Konstellation soll wegen des schwer nachzuweisenden Gehilfenvorsatzes nicht näher beleuchtet werden, doch stellt sich die Frage, ob aus der Norm ein allgemeiner Rechtsgedanke hergeleitet werden kann, dergestalt, dass Vorgesetzte im öffentlichen Dienst strafrechtlich zur Verhinderung von Straftaten der ihnen Untergeordneten verpflichtet sind, oder ob die Norm ein Indiz für eine abschließende Regelung darstellt. Hierfür ist eine teleologische Auslegung maßgebend. Sinn der Regelung ist es, die strafrechtliche Verantwortung von Führungspersonen gegenüber den allgemeinen Vorschriften zu verschärfen.1160 Über § 357 Abs. 1 3. Var. StGB kann daher eine Bestrafung auch dann erfolgen, wenn der Untergebene fahrlässig agiert (und damit eine Beihilfe mangels vorsätzlicher 1156 Vgl. den Parallelfall, der vom OLG Rostock NStZ 2001, 199 f. entschieden wurde, und bei dem es um Brandstiftungen im Asylbewerberheim Rostock-Lichtenhagen ging (siehe hierzu Puppe, AT2, § 47, Rn. 30 ff.). Hier wurde von den Richtern eine Garantenstellung des Leiters der Polizeidienststelle angenommen, aber nicht eingehend begründet. (S. 200 a. a. O.: „Für die Erfüllung der sich daraus (gemeint sind §§ 13, 14 SOG M-V, Anm. nicht im Original) ergebenden Pflichten der Polizeibehörde ist Garant der Behördenleiter.“) 1157 Zugunsten einer solchen Garantenstellung z. B. S/S/Stree, § 13, Rn. 52; Roxin, AT II, § 32, Rn. 135 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 48; dagegen u. a. SK-Rudolphi, § 13, Rn. 35a; Jäger, Rn. 373. 1158 Zum Streit, ob hierunter nur der Dienstvorgesetzte oder auch der Vorgesetzte fällt, siehe SK-Rudolphi/Rogall, § 357, Rn. 7 m.w. N. 1159 Nach wohl herrschender Ansicht handelt es sich dabei um ein unechtes Unterlassungsdelikt (siehe zur Existenz explizit im Gesetz geregelter unechter Unterlassungsdelikte oben Teil 2 A. I. 1.; vgl. speziell zu § 357 Abs. 1 3. Var. StGB z. B. SKRudolphi/Rogall, § 357, Rn. 16; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 29; Fincke, Verhältnis, S. 75; Gimbernat Ordeig, Roxin-FS, S. 652; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 475; aA z. B. Hoyer in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 199, 202). 1160 LK-Jescheck, § 357, Vor Rn. 1.

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Haupttat aus Akzessorietätsgründen entfällt). Zudem findet die in § 27 Abs. 2 S. 2 StGB angeordnete obligatorische Strafmilderung ebenfalls keine Anwendung. Dieses Telos wird nicht tangiert, wenn auch jenseits des vorsätzlichen Geschehenlassens eine strafrechtliche Einstandspflicht für das rechtmäßige Verhalten der untergebenen Amtsträger angenommen und das geringere Unrecht durch die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 StGB berücksichtigt wird. Es ist daher von einer Überwachergarantenstellung des Vorgesetzten im öffentlichen Dienst auszugehen.1161 b) Garantenpflichten Aus der Beschützergarantenstellung kraft Amtsträgerschaft folgt die Pflicht, die Rahmenbedingungen für die fallbetreuenden Jugendamtsmitarbeiter so zu gestalten, dass der gesetzliche Auftrag zum Kinderschutz verwirklicht werden kann. Bei der Überwachergarantenstellung hängen die Garantenpflichten von den Kontrollmöglichkeiten ab, die dem Vorgesetzten zur Verfügung stehen, um Straftaten zu verhindern. Vor allem muss er dafür Sorge tragen, dass ihm ein eventuelles Fehlverhalten der seiner Weisungsgewalt unterstehenden Personen überhaupt bekannt wird. Die Gewährleistung regelmäßiger Besprechungen ist also unabdingbar. Das ihm zustehende Weisungsrecht (vgl. §§ 3 Abs. 2 S. 2 BBG, 8 Abs. 2 S. 1 BAT) hat er im Bedarfsfall auszuüben. c) Fahrlässigkeitsprüfung Neben der Garantenstellung ist dem Dienstvorgesetzten auch eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung nachzuweisen sowie der Umstand, dass der tatbestandliche Erfolg objektiv vorhersehbar und vermeidbar war. (1) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (a) Verkehrsnormen Da, außer in Gestalt des § 8a SGB VIII, der jedoch keine Regelungen bezüglich der Dienstvorgesetzten enthält, keine Sondernormen existieren, muss auf 1161 Im Ergebnis ebenso SK-Rudolphi, § 13, Rn. 35; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 228, der sich auf die Funktionsfähigkeit sozialer Systeme stützt, sowie Sangenstedt, Garantenstellung, S. 486; aA hingegen Hoyer in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung. S. 193, 200, der meint, die Norm sei lediglich auf das beamtenrechtliche Innenrechtsverhältnis bezogen und treffe keine Aussagen über die Verantwortlichkeit des Vorgesetzten im Außenverhältnis.

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten

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die Verkehrsnormen als Indiz für das objektiv sorgfaltsgemäße Verhalten rekurriert werden. In Betracht kommen insoweit abermals die Empfehlungen des Deutschen Städtetages. Darin wird die Wichtigkeit des Umstands betont, dass der fallbefasste Sozialarbeiter im Bedarfsfall Beratung erhält.1162 Hieraus ist zu folgern, dass die Dienstvorgesetzten derartige Voraussetzungen schaffen müssen.1163 (b) „Differenzierte Maßfigur“ Bestimmte Konstellationen sind hingegen nicht in den Empfehlungen geregelt, wie z. B. die, in der der fallzuständige Sozialarbeiter eine Überlastungsanzeige formuliert. Zu deren Beurteilung muss auf das Verhalten des besonnenen Dritten in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Dienstvorgesetzten zurückgegriffen werden, also auf die „differenzierte Maßfigur“. Ein besonnener Dienstvorgesetzter müsste in diesem Fall zur Gewährleistung der Zielvorgaben nach §§ 1 Abs. 3 Nr. 3, 8a SGB VIII den Dienstplan entsprechend modifizieren oder bei dem nach § 79 Abs. 1, 3 SGB VIII verantwortlichen Träger des Jugendamts darauf dringen, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen, um mehr Personal beschäftigen zu können. (2) Objektive Voraussehbarkeit Ein Problem bei der Beurteilung des Strafbarkeitsrisikos der Dienstvorgesetzten stellt die Frage dar, wann der Erfolgseintritt objektiv vorauszusehen ist. Die generelle Voraussehbarkeit, dass aus Organisationsmängeln Rechtsgutsverletzungen entstehen können, reicht hierfür nicht. Vielmehr ist vonnöten, dass ein besonnener Mensch in der Rolle des Vorgesetzten den Verlauf der Dinge voraussehen kann, es sich also nicht um einen völlig atypischen Kausalverlauf handelt. Insoweit ist im Einzelfall – wie bei den zuständigen Sozialarbeitern – eine Art „innerer Zusammenhang“ zwischen dem Grund, aus dem der

1162 Vgl. ZfJ 2004, 187 ff. sowie Anhang (Punkt 3.12 – „Hausbesuch als erste Maßnahme“; Punkt 3.21 – „Risikoeinschätzung bei bislang nicht bekannten Familien“; Punkt 3.32 – „Risikoeinschätzung im Kontext von Zusammenarbeit mit der Familie und Hilfeplanung bei nicht bestehender Hilfeakzeptanz“; Punkt 3.4 – „Anrufung des Familiengerichts“). 1163 Vgl. auch Fieseler, ZfJ 2004, 176: „Zu den Empfehlungen des Deutschen Städtetages: Hier ist mir zunächst die Einbeziehung des Vorgesetzten bzw. des Dienstvorgesetzten aufgefallen. Acht mal ist davon die Rede . . .“ (Hervorhebungen im Original).

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Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Vorgesetzte mit dem Fall befasst war, und der eingetretenen Schädigung zu fordern. (3) Objektive Vermeidbarkeit Ein weiteres Problem stellt die objektive Vermeidbarkeit dar. (a) Einwand fehlender finanzieller Ressourcen Wenn kein Geld vorhanden ist (z. B. für die Schaffung neuer Planstellen), dann hat der Vorgesetzte die verantwortlichen Stellen zu informieren und gegebenenfalls den Beschluss eines Nachtragshaushalts anzuregen. Selbst der Leiter des Jugendamts ist jedoch sowohl von der Satzung und den Beschlüssen des Gemeinderats bzw. des Kreistags als Vertretungskörperschaften der öffentlichen Träger abhängig als auch von den Beschlüssen des Jugendhilfeausschusses.1164 Zudem bietet auch die Möglichkeit, Rechtsaufsichtsbeschwerde einzulegen, nicht die Gewähr, dass dieser von der zuständigen Behörde tatsächlich nachgegangen wird.1165 (b) Stellungnahme Auf den ersten Blick scheint hier mit der herrschenden „Vermeidbarkeitstheorie“ der in-dubio-Grundsatz anzuwenden und eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Dienstvorgesetzten bereits aus diesem Grund zu verneinen zu sein. Indes sind auch insoweit die Aussagen des BGH im „Lederspray-“ und im „Politbürofall“ zu beachten, wonach es sich bei dem hypothetischen Verhalten Dritter, von denen der Schutz des Rechtsguts abhängt, um normative Aspekte handelt,1166 auf die der in-dubio-Grundsatz gerade keine Anwendung findet. Für dieses Ergebnis streitet im übrigen die Tatsache, dass im vorhinein gerade keine Gewissheit darüber besteht, ob bei Schilderung der Notlage nicht doch die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden.

1164 1165 1166

Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 212. Vgl. dazu oben Teil 1 D. II. 2. f). BGHSt 48, 77, 95.

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten

423

2. Schuld a) Subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit Eine Strafbarkeit des Dienstvorgesetzten setzt weiterhin voraus, dass der Erfolgseintritt für ihn auch subjektiv voraussehbar und vermeidbar gewesen ist. Hier ist an ein Übernahmeverschulden zu denken, sofern dem Dienstvorgesetzten die Fähigkeit fehlte, Organisationsmängel zu erkennen und gegenüber dem Träger des Jugendamts zu artikulieren. b) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens? Doch muss nicht zumindest die Zumutbarkeit des normgemäßen Verhaltens entfallen, wenn Anhaltspunkte – z. B. die desolate Finanzlage der Kommune – dafür sprechen, dass eine bessere Ausstattung des Jugendamts mit finanziellen bzw. personellen Mitteln auch bei einem entsprechenden Tätigwerden des Vorgesetzten nicht stattgefunden hätte?1167 Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, sich den Sinn und Zweck dieses Entschuldigungsgrundes vor Augen zu führen. Die Unzumutbarkeit betrifft in der Regel keine der Situation des § 35 StGB vergleichbare Rechtslage. § 35 StGB kann gerade deswegen nicht bejaht werden kann, weil kein Rechtsgut i. S. d. dort abschließend aufgezählten Katalogs vorliegt. § 35 StGB beruht auf dem Prinzip der Interessenabwägung. Im Falle des Dienstvorgesetzten streitet die nur sehr vage Aussicht auf einen Erfolg und die Wahrscheinlichkeit, beim Gemeinderat mit dem Anliegen kein Gehör zu finden, mit den in Gefahr befindlichen Rechtsgütern des Kindes, denen staatliche Schutzpflichten korrespondieren. Angesichts dessen ist es für den Jugendamtsmitarbeiter sehr wohl zumutbar, die zuständigen Stellen ungeachtet der Erfolgsaussichten um eine bessere personelle Ausstattung zu ersuchen. 3. Ergebnis Eine Beschützergarantenstellung des Dienstvorgesetzten lässt sich aus dem Gesetz und der Amtsträgergarantenstellung folgern, sofern der Anwendungsbereich des § 1666 BGB eröffnet ist. Eine Überwachergarantenstellung folgt aus der Kontroll- und Weisungsbefugnis, die auf dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis basiert. 1167 Allgemein zu diesem Einwand bei der Abhängigkeit der Erfolgsabwendung vom hypothetischen Verhalten Dritter Puppe, AT2, § 48, Rn. 18 (im Zusammenhang mit dem „Blutbankfall“ (BGH NJW 2000, 2754)).

424

Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

Als objektive Sorgfaltspflichtverletzung kommt sowohl die Nichtumsetzung der Empfehlungen des Deutschen Städtetages als auch die fehlende Reaktion auf eine vom zuständigen Jugendamtsmitarbeiter geäußerte Überlastungsanzeige in Betracht. Zu beachten ist jedoch, dass es unter Umständen an der objektiven Voraussehbarkeit mangelt. Nicht verfangen kann der Einwand, dass von den administrativ Verantwortlichen wahrscheinlich nicht genug finanzielle bzw. personelle Mittel zur Verfügung gestellt worden wären – weder auf der Ebene der objektiven Vermeidbarkeit noch auf der Schuldebene unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens.

II. Dienstanweisungen Die strafrechtliche Verantwortung Weisungsunterworfener wurde bereits untersucht. Wie aber ist das Risiko für den Weisungsgeber zu beurteilen, wenn er den fallzuständigen Sozialarbeiter verbindlich zur Verfolgung einer bestimmten Verhaltensstrategie anweist, zum Beispiel nachdem dieser ihn im Zusammenhang mit der Anrufung des Familiengerichts – wie neuerdings von § 8a Abs. 1 SGB VIII sowie vom Deutschen Städtetag favorisiert1168 – kontaktiert hat? 1. Tatbestand a) Aktives Tun Hier ist nach allen Abgrenzungstheorien von einem Tun auszugehen, da sowohl ein Energieeinsatz den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt hat, als auch der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in der Erteilung der Dienstanweisung liegt. Sofern Schutzmaßnahmen das Kind bereits erreicht haben (z. B. vorübergehende Trennung von Eltern und Kind, und Dienstvorgesetzter dringt darauf, das Kind solle wieder in die Obhut der Eltern gegeben werden), liegt zudem das Abbrechen eines fremden, beendeten Gebotserfüllungsversuchs vor, bei dem stets ein Tun anzunehmen ist.

1168 Siehe dazu Punkt 3.4 der Empfehlungen, abgedruckt in ZfJ 2004, 190 sowie im Anhang.

C. Strafbarkeitsrisiken der Dienstvorgesetzten

425

b) Fahrlässigkeit Zu prüfen bleibt daher, ob dem Dienstvorgesetzten eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen ist und ob der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges objektiv vorhersehbar und vermeidbar war. (1) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung In diesem Fall kann mangels Sonder- oder Verkehrsnormen wiederum nur auf die „differenzierte Maßfigur“ rekurriert werden. Ein besonnener Vorgesetzter darf den seinem Verantwortungsbereich unterfallenden Sozialarbeitern nur rechtmäßige Dienstanweisungen erteilen – dies folgt aus dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes. Rechtmäßig sind die Dienstanweisungen dann, wenn die fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter bei ihrer Umsetzung keine Straftat begehen. Dies ist wiederum anzunehmen, wenn sich ihre Entscheidung im Rahmen des ihnen zugewiesenen Beurteilungsspielraums bewegt. Dem Dienstvorgesetzten steht daher bei der Beurteilung der Situation eines Kindes ebenso wie den zuständigen Sachbearbeitern ein Beurteilungsspielraum zu. Objektive Sorgfaltswidrigkeit ist z. B. dann anzunehmen, wenn entweder ein Beurteilungsausfall oder eine grobe Fehlabwägung vorliegt (er sich also z. B. bei seiner Entscheidung ausschließlich oder im wesentlichen von finanziellen Gesichtspunkten leiten lässt). (2) Objektive Voraussehbarkeit Die objektive Voraussehbarkeit des Erfolgs bemisst sich nach den gleichen Gesichtspunkten wie bei den fallzuständigen Sozialarbeitern.1169 Sie ist zu bejahen, sofern nicht zwischen dem Betreuungsgrund und dem schädigenden Ereignis ein objektiv voraussehbarer Zusammenhang abgelehnt werden muss, der eingetretene Erfolg also auch von einem besonnenen Vorgesetzten in der konkreten Lage nicht vorausgesehen werden konnte. (3) Objektive Vermeidbarkeit Die objektive Vermeidbarkeit ist aufgrund der Gehorsamspflicht des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters stets zu bejahen. Überdies verfing der Einwand, möglicherweise hätte der Familienrichter auf eine Benachrichtigung nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. nicht adäquat reagiert, vor dem 1.10.2005 nicht 1169

s. o. Teil 2 A. II. 2. f) (c).

426

Teil 2: Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt

wegen der Aussagen des BGH im „Politbürofall“, wonach das Verhalten des für die Rettung mitverantwortlichen Dritten normativ zu bestimmen ist.1170 Seit dem 1.10.2005 ist dieser Einwand wegen § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII ausgeschlossen. 2. Fazit Bei einer Dienstanweisung eines Vorgesetzten ist dann von einer objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit auszugehen, wenn dieser die ihm zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume überschreitet. Die objektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolgs sind im Regelfall zu bejahen.

1170

Vgl. hierzu bereits oben Teil 2 A. II. 2. f) (d) (aa) (a).

Teil 3

Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen Schließlich bleibt bei der Betrachtung der Strafbarkeitsrisiken in der öffentlichen Jugendhilfe die Frage zu beantworten, ob auch die Repräsentanten des örtlichen Trägers der Jugendhilfe dem Risiko ausgesetzt sind, sich bei einer zu geringen personellen bzw. finanziellen Ausstattung des Jugendamts oder – neuerdings – wegen des Unterlassens des Abschlusses von § 8a Abs. 2 SGB VIII entsprechenden Verpflichtungen wegen eines fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts vor einem Strafgericht verantworten zu müssen.1 Untersucht werden soll auch hier lediglich das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt. Bislang ist, soweit ersichtlich, kein administrativ Verantwortlicher im Zusammenhang mit einer Kindeswohlgefährdung strafrechtlich belangt worden.2

A. Begriffsbestimmungen Zunächst ist zu klären, wer sich hinter dem Begriff der „administrativ Verantwortlichen“ konkret verbirgt. Wie sich aus § 71 Abs. 3 SGB VIII ergibt, obliegt die Entscheidung über die Bereitstellung der Mittel nicht dem Jugendhilfeausschuss, sondern der Vertretungskörperschaft des örtlichen Trägers, also dem Gemeinderat bzw. Kreistag.3

1 Vgl. in diesem Zusammenhang Frings, JWohl 1997, 183: „Was wäre eigentlich so dramatisch, wenn die politisch Verantwortlichen persönlich haftbar werden würden, sofern sie die Jugendhilfe nicht in ausreichendem Maße mit Personal und Geldmitteln ausstatten, obwohl sie wissen, dass daraus in der Folge Kinder und Jugendliche zu Schaden kommen?“ Siehe auch LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a: „Verantwortlich sind z. B. Mitglieder des Kommunalparlaments, das im Haushaltsplan ausreichende Mittel für die Jugendhilfe bereitstellen muss. Verantwortlich sind die Landräte und Bürgermeister, die zur Vorbereitung entsprechender Beschlüsse des Kommunalparlaments verpflichtet sind und notfalls rechtswidrige Beschlüsse des Kommunalparlaments beanstanden müssen. Verantwortung tragen auch die Dezernenten, Fachbereichs, Amts- und Abteilungsleiter . . .“; ähnlich ders., Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 13 und Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, § 50, Rn. 104. 2 Hinzuweisen ist jedoch auf die Äußerung des LG Osnabrück (abgedruckt in ZfJ 1996, 527), das meinte, wenn aus § 1 SGB VIII eine Garantenstellung erwachse, dann vorrangig eine solche der politisch Verantwortlichen.

428

Teil 3: Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen

Der Jugendhilfeausschuss entscheidet jedoch in diesem Rahmen über die Verwendung der Mittel. Als administrativ Verantwortliche kommen daher sowohl die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses als auch diejenigen der Vertretungskörperschaft des örtlichen Trägers (z. B. Gemeinderatsmitglieder, Oberbürgermeister (bei kreisfreier Stadt), Kreistagsmitglieder und der Landrat (beim Landkreis)) in Betracht.4

B. Tatbestand I. Unterlassen Sofern dem Jugendamt entgegen der in § 79 Abs. 1, 3 SGB VIII statuierten Gesamtverantwortung zu wenig Geld oder Personal zur Verfügung gestellt oder kein Vertrag im Sinne des § 8a Abs. 2 SGB VIII geschlossen wird, ist nach allen Abgrenzungstheorien von einem Unterlassen der administrativ Verantwortlichen auszugehen. Anders jedoch dann, wenn der fallzuständige Jugendamtsmitarbeiter bereits eine Hilfe eingeleitet hat und diese aufgrund zu knapper Mittel nicht aufrecht erhalten werden kann. In dem Fall wird durch den Beschluss der Budgetkürzung in eine bereits begonnene fremde Rettungshandlung eingegriffen, die das gefährdete Rechtsgut bereits erreicht hat, sodass ein aktives Tun anzunehmen ist.

II. Garantenstellung Häufig wird im Zusammenhang mit den politisch Verantwortlichen sofort auf das Schlagwort „Organisationsverschulden“ zurückgegriffen. Hierbei wird jedoch übersehen, dass ein solches nur dann diskutiert werden kann, wenn diesen überhaupt eine strafrechtliche Pflicht obliegt, tätig zu werden. In Betracht kommt insoweit eine Beschützergarantenstellung.

3 Zum Erfordernis der Anhörung des Jugendhilfeausschusses („Soll“-Bestimmung) und zu dessen Antragsrecht gegenüber der Vertretungskörperschaft bei Fragen der Jugendhilfe vgl. § 71 Abs. 3 S. 2 SGB VIII. 4 Zu beachten ist, dass der Leiter des Vertretungsorgans der Gebietskörperschaft eine janusköpfige Stellung einnimmt: Einerseits ist er Vorsitzender des Vertretungsorgans, andererseits Dienstvorgesetzter des Amtsleiters. Seine Charakterisierung ist daher davon abhängig, worauf sich sein Verhalten bezieht. Geht es um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, so ist er als administrativ Verantwortlicher im Sinne der vorliegenden Arbeit anzusehen, andernfalls als Dienstvorgesetzter.

B. Tatbestand

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1. Aus Gesetz Sowohl Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG als auch § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII und insbesondere § 79 Abs. 1 SGB VIII scheinen als garantenbegründende Normen denkbar. Überdies kommt neuerdings § 8a SGB VIII in Betracht. Das Strafrecht fordert hierfür jedoch zusätzlich eine persönliche Beziehung zwischen dem Garanten und dem zu schützenden Rechtsgut.5 2. Aus tatsächlicher Übernahme Frings meint im Zusammenhang mit einer möglichen strafrechtlichen Verantwortung der administrativ Verantwortlichen: „Hätten die Jugendamtsleiter und der zuständige Dezernent beispielsweise die Warnungen und Handlungshinweise aufgegriffen und an die politisch Verantwortlichen weitergeleitet/im Jugendhilfeausschuss und zuständigen Rat weitergegeben, wäre man möglicherweise auf diese Art und Weise sogar zu einer strafrechtlichen Verantwortung der Personen gekommen, die organisatorisch notwendige Veränderungen per Mehrheitsbeschluss abgelehnt hätten“.6 Diese Äußerung könnte dahingehend verstanden werden, dass durch die Diskussion konkreter Fälle eine Garantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme auch im Hinblick auf die politisch Verantwortlichen entsteht. Indes ist auch hier regelmäßig von einer Anonymisierung auszugehen (vgl. nunmehr auch § 64 Abs. 2 SGB VIII). Durch die Diskussion eines abstrakten Sachverhalts wird kein persönlicher Bezug zu den Rechtsgütern des Kindes begründet. 3. Aus Amtsträgerstellung Die Teilnahme an der Hilfeplankonferenz nach § 36 Abs. 2 SGB VIII bzw. an einer Risikoeinschätzung nach § 8a Abs. 1 SGB VIII genügt auch für die administrativ Verantwortlichen nicht, um eine Amtsträgergarantenstellung zu begründen, da sie nicht sachlich für die Betreuung von „Problemfamilien“ zuständig sind. 5 So auch Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 88. Anderer Ansicht hingegen LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 35a: „Die Gesamtverantwortung begründet eine jugendhilferechtliche und deckungsgleich damit eine strafrechtliche Garantenpflicht kraft Gesetzes (. . .) für alle Organisationsträger und Bediensteten, die dafür verantwortlich sind, dass der öffentliche Träger seine Gesamtverantwortung wahrnimmt.“ Vgl. auch LPKSGB VIII-Kunkel, § 79, Rn. 18, der auf der Basis der von ihm vertretenen Garantenstellung „des Staates“ eine Garantenstellung der Mitarbeiter des öffentlichen Trägers im Interventionsbereich annimmt, und in der Verletzung der Vorgaben des § 79 SGB VIII ein Indiz für die Verletzung der Garantenpflicht sieht. 6 Frings, JWohl 1997, 183.

430

Teil 3: Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen

Zwar ist auch ihre Tätigkeit u. a. dem Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl gewidmet (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII), indes handelt es sich hierbei um eine bloße Zielbestimmung, nicht jedoch um die Übertragung einer sachlichen Zuständigkeit. Daran hat auch die Einführung des – klarstellenden – § 8a SGB VIII nichts geändert. Schließlich werden auch die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses bei der Beratung nach § 71 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII nicht in der Sache selbst tätig; sie diskutieren die Fälle vielmehr vorrangig im Hinblick auf die zu erwartenden Kosten. 4. Aus Ingerenz Möglicherweise kommt aber eine Beschützergarantenstellung kraft Ingerenz in Betracht. Dafür müsste mit der herrschenden Ansicht das Vorverhalten der zur Abstimmung über den Etat des Jugendamts Berufenen als rechtswidrig zu qualifizieren sein. Sofern man auch bei einer Stimmabgabe im Fall einer überwiegenden Mehrheit die (Quasi-)Kausalität bejaht,7 stellt sich die Frage, inwieweit Prognoseentscheidungen der Exekutive ex post vom Strafrichter hinterfragt werden können. Hier ist – wie auch bei den fallzuständigen Sozialarbeitern – ein Beurteilungsspielraum anzunehmen, der nicht uneingeschränkt überprüft werden darf. Für die administrativ Verantwortlichen folgt dies aus dem Umstand, dass bei Fragen der Budgetierung kommunaler Einrichtungen die Finanzhoheit als Bestandteil der gemeindlichen Selbstverwaltung (Art. 28 GG) tangiert wird.

C. Ergebnis Mangels Garantenstellung kommt nach geltender Rechtslage für die administrativ Verantwortlichen keine Strafbarkeit wegen fahrlässigen unechten Unterlassens in Betracht. Sofern aufgrund des Abbruchs eines fremden Rettungsversuchs, der das gefährdete Rechtsgut bereits erreicht hat, von einem aktiven Tun auszugehen ist, wird wegen des den administrativ Verantwortlichen zustehenden Beurteilungsspielraums bei der Budgetierung ebenfalls eine Strafbarkeit regelmäßig entfallen. 7

Siehe dazu oben Teil 2 B. II. 3. c).

C. Ergebnis

431

Zu beachten ist jedoch, dass im Fall eines – auch strafrechtlich – justitiablen Rechtsfehlers der Einwand, dass die übrigen Mitglieder des Gremiums wahrscheinlich ebenfalls die erforderliche Finanzierung versagt hätten, nach den Grundsätzen des „Lederspray“- und des „Politbürofalls“ nicht die objektive Vermeidbarkeit des Tuns beseitigen würde.8

8

Vgl. hierzu bereits oben Teil 2 A. II. 2. f) (d) (aa) (a).

Teil 4

Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger Soweit ersichtlich wurde bislang bei Fällen von Kindeswohlschädigungen trotz Betreuung der Familie durch die Jugendhilfe keine Fachkraft eines freien Trägers wegen des Geschehenlassens elterlicher Kindeswohlgefährdung strafrechtlich verurteilt.1 Zudem konzentriert sich auch die Literatur eher auf die Strafbarkeitsrisiken der Jugendamtsmitarbeiter.2 Gleichwohl soll abschließend die Verantwortlichkeit der bei den Trägern der freien Jugendhilfe Beschäftigten näher beleuchtet werden, wobei es abermals nur um das Risiko im Hinblick auf das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt gehen soll und die vorsätzlichen Begehungs- sowie die echten Unterlassungsdelikte ausgeklammert bleiben. Auch insoweit erscheint es angebracht, zwischen den Mitarbeitern „an der Basis“ und deren Vorgesetzten zu differenzieren.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallverantwortlichen Fachkräfte Die Beschäftigten freier Träger können bei „Problemfamilien“ in mannigfaltiger Form in Erscheinung treten, wie der nicht abschließende3 Katalog der §§ 28 ff. SGB VIII deutlich macht. 1 Im Fall „Laura Jane“ (dazu oben Teil 1 A. I.) unterblieb eine Anklage gegen die als sozialpädagogische Familienhilfe eingesetzte Mitarbeiterin des freien Trägers. Das AG Osnabrück (abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 67) meinte: „Nach alledem hat die Zeugin (gemeint ist die Familienhelferin, Anm. nicht im Original) nur im Rahmen des Gesetzes gehandelt, als sie in den letzten Tagen vor dem Tod des Kindes nichts unternommen hat, weil sie bei mehreren Terminen in der Wohnung niemanden antraf . . .“. Vgl. aber auch den Fall „Jenny“ (hierzu oben Teil 1 A. II.), bei dem ein Mitarbeiter des Stuttgarter Weraheims, das von einem freien Träger betrieben wurde, angeklagt, letztlich allerdings durch das LG Stuttgart freigesprochen wurde (LG Stuttgart bei Lehmann, EJ 2000, 52). Vgl. aber Bringewat, KJ 2006, 234, Fn. 18, der auf den Hamburger Fall „Michelle“ verweist und insoweit erstmals von der strafrechtlichen Verfolgung der Mitarbeiterin eines „freien Trägers“ berichtet. 2 Eine Ausnahme stellt die Monographie „Sozialpädagogische Familienhilfe und strafrechtliche Risiken“ von Bringewat dar. 3 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 68 spricht in Anlehnung an Wiesner, SGB VIII, Vor § 27, Rn. 16 von „Regelbeispielen“.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallverantwortlichen Fachkräfte

433

Im Kontext von Kindeswohlgefährdungen wird seit längerem verstärkt4 das Instrument der sozialpädagogischen Familienhilfe (vgl. § 31 SGB VIII) eingesetzt, um eine Trennung von Eltern und Kind auf lange Sicht zu verhindern – und nicht zuletzt auch, um teure Fremdunterbringungen zu vermeiden. Daher soll im folgenden ausschließlich an diese Situation angeknüpft werden, bei der sich der Mitarbeiter des freien Trägers über einen längeren Zeitraum hinweg intensiv mit der Familie befasst.5

I. Tatbestand 1. Abgrenzung von Tun und Unterlassen Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass ein bei einem freien Träger Beschäftigter aktiv das Kindeswohl schädigt. Da er jedoch bei innerfamiliären Gefährdungslagen weder Energie gegenüber den Rechtsgütern des Kindes einsetzt noch die geleisteten Hilfestellungen für den Erfolgseintritt ursächlich werden, ist von einem Unterlassen auszugehen. Hierin liegt zudem der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. Es gilt also das Gleiche wie bei den Jugendamtsmitarbeitern.6 2. Handlungsfähigkeit a) Omissio libera in omittendo Auch im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit ergeben sich keine Unterschiede. Insbesondere können die Mitarbeiter freier Träger nicht einwenden, zum Zeitpunkt der gebotenen Handlung seien sie, z. B. wegen fehlender Kenntnis der über die Familie gesammelten Informationen, nicht in der Lage gewesen, sich der Rechtsordnung gemäß zu verhalten. Auch insoweit ist auf die Rechtsfigur der omissio libera in omittendo zurückzugreifen und die Handlungsfähigkeit auf den Zeitpunkt vorzuverlagern, zu dem die Informationserlangung möglich war.7

4 Vgl. die Notiz in ZfJ 2004, 119, wonach laut Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2002 11% mehr Familien und 10% mehr Kinder durch die sozialpädagogische Familienhilfe betreut wurden, als im Vorjahr. 5 Siehe dazu Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b) (bb). 6 Vgl. dazu oben Teil 2 A. II. 2. a) (1). Im Ergebnis ebenso Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 23, 25. 7 So der Sache nach auch Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 96, der auf „. . . (nicht getroffene(n)) Vorsichtsmaßnahmen oder Vorkehrungen zur Verhinderung des Entstehens solcher Gefahrensituationen“ (Hervorhebung nicht im Original) rekurriert.

434

Teil 4: Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

b) Individuelle Handlungsfähigkeit Sofern der Familienhelfer geltend macht, er persönlich sei mit der Komplexität der in der Familie vorherrschenden Probleme überfordert gewesen, spricht dies zwar auf den ersten Blick gegen dessen individuelle Handlungsfähigkeit – indes ist zu beachten, dass dann untersucht werden muss, ob er zumindest die Fähigkeit besaß, seine begrenzten Möglichkeiten zu erkennen.8 Ist dies der Fall, so ist die Handlungsfähigkeit darauf zu beziehen und das Unterlassen, fachkundige Hilfe heranzuziehen, weitergehend zu prüfen. 3. (Quasi-)Kausalität und objektive Zurechnung Für die (Quasi-)Kausalität des Verhaltens ist notwendig, dass – ein kindeswohlschützendes Verhalten des Familienhelfers hinzugedacht – der Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfällt. Bezüglich der objektiven Zurechnung ist dem Familienhelfer – wie dem Jugendamtsmitarbeiter – ein Rekurs auf die Risikoverringerung verwehrt. Bei dem vorgeworfenen Unterlassen besteht das rechtlich relevante „Risiko“ gerade in der ungenügenden Tätigkeit. Der Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Vorwerfbarkeit ist also im Aufrechterhalten der bestehenden Lage zu sehen.9 4. Garantenstellung Doch ist der Mitarbeiter eines freien Trägers überhaupt zum Einschreiten bei Kindeswohlgefährdungen verpflichtet? In Betracht kommt auch hier eine Beschützergarantenstellung im Hinblick auf die Rechtsgüter Leib und Leben des Kindes, da die freien Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Realisierung des staatlichen Wächteramts assistieren und damit zum Schutz des Kindes agieren. a) Aus Gesetz Bei der Untersuchung der Strafbarkeitsrisiken der Jugendamtsmitarbeiter wurde die garantenbegründende Wirkung des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII im Interventionsbereich des § 1666 BGB dargelegt. Die allgemeine Zielvorgabe des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII bzw. § 8a SGB VIII bezieht sich auch auf den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der von freien Trägern abgedeckt wird10 – indes beruht der pflichtenerzeugende Charak8 9

Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 97. Siehe hierzu oben Teil 2 A. II. 2. c) (2) (b).

A. Strafbarkeitsrisiko der fallverantwortlichen Fachkräfte

435

ter der Norm auf ihrer verfassungskonformen Auslegung im Lichte des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG.11 Dieser stellt zwar auch einen Ausdruck der objektiven Werteordnung dar, im Zusammenhang mit der Ermittlung der strafrechtlichen Einstandspflicht bei Jugendamtsmitarbeitern wirkt er jedoch in seiner Funktion als Schutzauftrag an den Staat.12 Unter dem Terminus der „staatlichen Gemeinschaft“ (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) ist die öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG zu verstehen.13 Bedient sich diese zur Erfüllung des ihr obliegenden Wächteramts der Mithilfe freier Träger, so muss sie deren Bindung durch einfachgesetzliche Normen14 oder durch vertragliche Absprachen herstellen. Ohne Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG wirken §§ 1 Abs. 3 Nr. 3, 8a SGB VIII aber für die bei den freien Trägern Beschäftigten nicht verpflichtend, sodass es an der notwendigen Mindestanforderung für die garantenpflichtbegründende Wirkung der Norm fehlt. b) Aus tatsächlicher Schutzübernahme Jedoch könnte sich eine solche aus der tatsächlichen Übernahme einer Schutzpflicht ergeben.15 (1) Meinungsstand in der Literatur (a) Ansicht von Bringewat Bringewat lehnt eine Garantenstellung aus Vertrag bereits aus schuldrechtlichen Gründen ab: Namentlich fehle es an hieraus resultierenden eigenen Rechtsansprüchen des Kindes gegenüber dem Familienhelfer.16

10 So auch Wiesner, SGB VIII, § 1, Rn. 35; Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 79, 90. 11 Vgl. oben Teil 2 A. II. 2. d) (2) (a) (aa) (e). 12 Im Ergebnis ebenso Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 91. 13 Vgl. BK-Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 180 f. Er weist nach, dass die gegenüber Art. 1 Abs. 3 GG abweichende Formulierung historisch bedingt ist und aus der Weimarer Verfassung herrührt; s. a. Heilmann, UJ 2001, 413; ders., ZfJ 2000, 44. 14 Siehe BK-Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 und 3, 75. Lieferung (1995), Rn. 182. 15 So auch Punkt 3.72 der Empfehlungen des Deutschen Städtetages (ZfJ 2004, 191, s. a. Anhang): „Fachkraft als Beschützergarantin aus Pflichtenübernahme“ – freilich ohne Begründung. 16 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 92 f. Er führt zudem an, dass nur der Träger der freien Jugendhilfe Vertragspartner werde, nicht aber der einzelne Jugendhelfer (S. 93 a. a. O.).

436

Teil 4: Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

Er untersucht zunächst, ob aus der Delegation von Aufgaben durch den Jugendamtsmitarbeiter eine Einstandspflicht erwächst und bejaht dies unabhängig von der rechtlichen Konstruktion der sozialpädagogischen Familienhilfe im Einzelfall.17 Darüber hinaus werde eine originäre Garantenstellung durch die tatsächliche Übernahme des Schutzes begründet.18 Das faktische Einrücken in die Garantenstellung geschehe durch den „Dienstantritt“,19 da dann schon mit der Realisierung des „Nahziels“ – dem Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl (§§ 1 Abs. 3 Nr. 3, 8a SGB VIII) – begonnen werde. Das für die tatsächliche Schutzübernahme zusätzlich erforderliche normative Element zeige sich im unreflektierten Vertrauen auf den Schutz durch den Übernehmer. Wie bei den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern könne dabei sowohl auf die bedrohten Kinder und Jugendlichen selbst als auch auf deren Eltern abgestellt werden. Bringewat begründet dies einerseits mit einer gewissen Einstellung dem Jugendhelfer gegenüber, die sich auf dessen gesetzlichen Schutzauftrag richte, und andererseits damit, dass er von diesen auch tatsächlich als Person wahrgenommen werde, die helfe und von der entsprechende Schutzvorkehrungen abhingen. Zudem biete die Charakterisierung des Vertrags zwischen dem freien Träger und den Eltern als ein solcher mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter20 ein weiteres Indiz für das Vertrauen.21 Dieses könne vom „. . . innerlich-verborgenen bis hin zum äußerlich-sichtbaren Sich-Anvertrauen“ reichen.22 Schließlich bestehe auch ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Rechtsgutsinhaber – dem Kind – bzw. den Eltern und dem Familienhelfer.23 Aus den beiden Garantenpositionen resultiere ein „Pflichtenbündel“ zum Schutz des Kindes.24 17 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 62, 87, 95 („. . . derivativ-abgeleitet“) – anders ders., Strafrechtliche Risiken, S. 24: „. . . aber keine Verlagerung der Garantenstellung auf den Pflichtübernehmer“ – Die Äußerung erklärt sich jedoch aus dem Umstand, dass er auf jeden Fall den Eindruck vermeiden will, dass der Jugendamtsmitarbeiter hierdurch entlastet wird. In seiner Kommentierung des LPK-SGB VIII, § 1, Rn. 13i propagiert Bringewat einen Kompromiss zwischen beiden Positionen (originär-eigene Garantenstellung und eigene, „. . . aus der Delegation von Garantenpflichten durch die fallzuständige Fachkraft des JA abgeleitete Garantenposition ,aus Übernahme‘ (. . .) stets Beschützergaranten in ,doppelter Funktion‘“). 18 Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 23; ders., Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 81, 87, 92. 19 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 89. 20 Zur schuldrechtlichen Konstruktion einer sozialpädagogischen Familienhilfe bei einer Delegation – dem Vertrag mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter – näher oben Teil 1 D. I. 2. c) (1) (b) (bb) (b). 21 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 93 („. . . zusätzliches Richtigkeitsanzeichen“). 22 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 92. 23 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 94.

A. Strafbarkeitsrisiko der fallverantwortlichen Fachkräfte

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(b) Ansicht von Beulke/Swoboda Eine Zweiteilung in abgeleitete und originäre Garantenstellungen nehmen Beulke/Swoboda nicht vor. Sie kombinieren den Umstand der Delegation und die tatsächliche Übernahme der hieraus resultierenden Pflichten. Mit dem tatsächlichen Betreuungsbeginn signalisiere der Familienhelfer dem Jugendamtsmitarbeiter, dass er für ihn den Schutz übernehme, sodass dieser darauf vertrauen dürfe, dass im Rahmen des dem Mitarbeiter obliegenden Pflichtenkreises Kinderschutz betrieben werde.25 (c) Ansicht von Papenheim Papenheim hingegen nennt den Grund der Garantenstellung des Familienhelfers nicht konkret.26 Eine Garantenposition erwachse aus der Verpflichtung des freien Trägers zur Erbringung der Hilfe zur Erziehung sowie aus dem Umstand, dass dieser einen Bediensteten mit der Aufgabe betraue.27 (2) Stellungnahme (a) Tatsächliches Moment Gegen Papenheims Ansicht spricht zunächst, dass für die Garantenstellung kraft Schutzübernahme ein tatsächliches Moment zu fordern ist. Die Einstandspflicht verdichtet sich im Regelfall nur hierdurch gerade in einer Person. Entschließt sich die Person vor dem Beginn der Realisierung der ihr obliegenden Handlung dazu, untätig zu bleiben, so handelt es sich um eine bloße Vertragsverletzung, die keine strafrechtlichen, sondern höchstens schuldrechtliche Konsequenzen zeitigt. Der Grund hierfür liegt darin, dass erst mit der tatsächlichen Übernahme den hierdurch Begünstigten der Anknüpfungspunkt gegeben wird, auf dem ihr Vertrauen – das normative Moment der Schutzübernahme – gründen kann.28 Die Übertragung der Aufgabe vom Träger der freien Jugendhilfe auf einen der dort Beschäftigten, auf die Papenheim neben der Verpflichtung gegenüber 24

Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 95. Beulke/Swoboda, Gössel-FS, S. 91. 26 LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 36a („. . . bestimmt sich nach den allgemeinen Vorschriften“). 27 Ähnlich auch Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, Rn. 38, der „. . . vertragliche(r) oder tatsächliche(r) Schutzübernahme“ als Garantenquellen anführt. 28 Siehe dazu auch Roxin, AT II, § 32, Rn. 66 m.w. N. zur Gegenansicht, die ausnahmsweise bereits eine Zusage für ausreichend erachtet. 25

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Teil 4: Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

der Familie abstellt, genügt hierfür nicht, da es sich dabei lediglich um einen Vorgang im Innenverhältnis handelt.29 (b) Normatives Moment Doch wer ist konkret dazu berechtigt, auf das Tätigwerden des Familienhelfers zu vertrauen? (aa) Vertrauen des Jugendamtsmitarbeiters Beulke/Swoboda stellen auf die Person des pflichtendelegierenden Jugendamtsmitarbeiters ab. Dafür spricht, dass dieser bzw. dessen Arbeitgeber einen rechtsgültigen Vertrag mit dem Träger der freien Jugendhilfe abgeschlossen haben, sodass ihm bzw. dem Jugendamt, das er repräsentiert, ein Recht auf Erfüllung zusteht. Die Situation ähnelt insoweit stark dem bereits mehrfach angeführten „Babysitterfall“, bei dem die Eltern des Säuglings ab dem Zeitpunkt, zu dem die Aufsichtsperson die Betreuung tatsächlich übernimmt, darauf vertrauen dürfen, dass ihrem Kind während ihrer Abwesenheit nichts zustößt. (bb) Vertrauen des Kindes bzw. seiner Eltern Aber nicht zwingend hat vor dem Beginn des Tätigwerdens des Familienhelfers bereits ein Kontakt zum Jugendamt bestanden, z. B. wenn sich die Eltern im Rahmen des Selbstbeschaffungsrechts (vgl. § 5 SGB VIII) eigenständig an den Träger der freien Jugendhilfe gewandt haben. Hier kann auf das Vertrauen des Kindes bzw. auf das seiner Eltern abgestellt werden. Zwar leitet sich dessen Berechtigung nicht aus einem direkten Rückgriff auf Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG her. Indes gilt insoweit der allgemeine Grundsatz, dass man in der Regel darauf vertrauen kann, dass jemand seine Aufgabe erfüllen wird, wenn er bereits damit begonnen hat, zumal der Mitarbeiter des freien Trägers dadurch – freilich indirekt – das staatliche Wächteramt erfüllt, das aus einem Anspruch des Kindes gegenüber dem Staat resultiert.

29 Missverständlich daher Nr. 3.7 der Empfehlungen des Deutschen Städtetages: „Mit der Vereinbarung über Handlungen des freien Trägers zum Schutz des Kindes entsteht eine eigene Garantenstellung der leistungserbringenden Fachkraft als Beschützergarantin aus Pflichtenübernahme.“ (Hervorhebungen nicht im Original) (abgedruckt in ZfJ 2004, 191).

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(cc) Fazit Mit dem Beginn der Betreuung übernimmt der Familienhelfer den Schutz in tatsächlicher Hinsicht sowohl gegenüber dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter als auch gegenüber der „Problemfamilie“. Es handelt sich also hierbei um eine Garantenstellung, die lediglich aus zwei verschiedenen Perspektiven heraus betrachtet wird. Ein berechtigtes Vertrauen existiert sowohl auf Seiten des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters als auch auf Seiten des Kindes und seiner Eltern. d) Aus Amtsträgerschaft Eine Beschützergarantenstellung auf der Basis einer Amtsträgerschaft muss hingegen bei den Mitarbeitern freier Träger entfallen. Aufgrund des Delegationsvertrags nehmen sie zwar Aufgaben der öffentlichen Träger wahr, sodass auf den ersten Blick eine Amtsträgerschaft gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) StGB in Betracht kommen könnte.30 Jedoch spricht entscheidend gegen eine Amtsträgergarantenstellung, dass ungeachtet dessen die Normen des SGB VIII den Mitarbeitern freier Träger gegenüber nicht verpflichtend wirken. Zwar bezieht sich die allgemeine Zielvorgabe der §§ 1 Abs. 3 Nr. 3, 8a SGB VIII auch auf diese, indes ist die Norm zu unbestimmt gefasst, um konkrete Pflichten begründen zu können. Eine derartige Wirkung kann nur mittels vertraglicher Abreden erzielt werden, sodass es für eine Amtsträgergarantenstellung an einer verbindlichen Rechtsgrundlage mangelt. e) Zwischenergebnis Eine Beschützergarantenstellung des fallverantwortlichen Familienhelfers lässt sich nicht aus Gesetz, Amtsträgerschaft oder Vertrag herleiten, aber aus der tatsächlichen Schutzübernahme gegenüber dem Jugendamtsmitarbeiter oder dem Kind bzw. gegenüber dessen Eltern. 5. Garantenpflichten Der Umstand, dass zwischen dem Jugendamt und dem freien Träger ein Delegationsvertrag geschlossen wird, ist im strafrechtlichen Sinne nicht bedeutungslos, sondern hat Auswirkungen auf den Inhalt der Garantenpflichten.31 30 Zu den weiteren Voraussetzungen (Wahrnehmung der Tätigkeit bei einer Behörde oder sonstigen Stelle sowie Zugehörigkeits- oder Auftragsverhältnis) S/S/Eser, § 11, Rn. 25 ff. Von vornherein ist dies jedoch ausgeschlossen bei Bediensteten kirchlicher Einrichtungen, siehe SK-Rudolphi, § 13, Rn. 16 m.w. N.

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a) § 8a Abs. 2 SGB VIII In § 8a Abs. 2 SGB VIII ist seit dem 1.10.2005 geregelt, dass in Vereinbarungen mit freien Trägern sicherzustellen ist, dass die dort beschäftigten Fachkräfte den staatlichen Schutzauftrag angemessen wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Zudem ist die Verpflichtung aufzunehmen, dass erforderlichenfalls das Jugendamt zu informieren ist, falls Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefahrenlage zu beseitigen. b) Empfehlungen des Deutschen Städtetages Bereits vor Inkrafttreten des KICK empfahl der Deutsche Städtetag den Jugendämtern, Mitteilungspflichten für die freien Träger zu statuieren. Ähnlich dem neuen § 8a Abs. 2 SGB VIII riet er zudem, die Geltung der gleichen Standards wie bei den öffentlichen Trägern vertraglich festzulegen.32 In den Empfehlungen wurde darüber hinaus geäußert, dass bei Unterlassen derartiger Vereinbarungen die Verantwortung für den Schutz des Kindes bei den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern verbleibe. Indes enthielten sie keine Aussagen über den in diesem Fall bestehenden Pflichtenkreis der Mitarbeiter freier Träger. c) Literatur (1) Ansicht von Papenheim Papenheim konzentrierte sich vor dem Inkrafttreten des KICK vorrangig auf die Datenschutzregelungen als Begrenzung der Garantenpflichten. Grundsätzlich obliege dem Familienhelfer eine Schweigepflicht, deren Verletzung durch § 203 StGB sanktioniert werde. Eine Ausnahme hiervon ergebe sich nur dann, wenn dies zur Abwendung einer akuten und nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib, Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes notwendig, die Offenbarung an den Jugendamtsmitarbeiter also durch § 34 StGB gerechtfertigt sei. Aber auch in dem Fall bestünde lediglich eine Handlungsbefugnis, nicht jedoch eine entsprechende Verpflichtung.33

31

Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 11. Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 191 (sowie im Anhang abgedruckt), Punkt 3.71. 33 LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 36a: „Daraus folgt, dass eine Bestrafung nicht zulässig ist, wenn die Mitarbeiterin trotz akuter Gefährdung dem Schutz der Vertrauensgrundlage durch Wahrung der Schweigepflicht den Vorrang einräumt.“ 32

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(2) Ansicht von Bringewat Bringewat meinte, der Familienhelfer müsse bei dem delegierenden Jugendamtsmitarbeiter vollständige Informationen über die zu betreuende Familie einholen. Sofern es notwendig werde, seien bei diesem überdies „zusätzliche Ressourcen“ abzurufen.34 d) Stellungnahme Seit dem 1.10.2005 sind, zwar nicht detailliert, aber zumindest dem Grunde nach, die Garantenpflichten der Mitarbeiter freier Träger in § 8a Abs. 2 SGB VIII geregelt, freilich vorausgesetzt, der öffentliche Träger erfüllt die Verpflichtung, einen entsprechenden Vertrag zu schließen. Für die Ausführungen des Deutschen Städtetages sprach – schon vor deren Umsetzung im KICK –, dass die im SGB VIII statuierten Verpflichtungen nicht unmittelbar für die Mitarbeiter der freien Jugendhilfe galten, sodass die Implementierung derselben in den Delegationsvertrag unabdingbar war, um Garantenpflichten entstehen zu lassen. Den Aussagen Papenheims war – bereits vor dem Inkrafttreten des KICK, durch das die Offenbarungsbefugnis in § 8a Abs. 2 SGB VIII erstmals gesetzlich geregelt wurde – entgegenzuhalten, dass nicht jede Tatsache, die dem Familienhelfer im Rahmen seiner Tätigkeit bekannt wird, ein Geheimnis im Sinne des § 203 Abs. 1 und 2 Nr. 135 StGB darstellt. Zudem konnte in dem Einverständnis der Eltern zur Einsetzung einer sozialpädagogischen Familienhilfe konkludent ein solches in die Weitergabe der Daten gesehen werden. Im übrigen rechtfertigte § 34 StGB in der Tat eine Verletzung der Schweigepflicht. Sofern sich nachträglich herausstellte, dass die Vorraussetzungen des Notstands nicht vorlagen, handelte der Sozialarbeiter in einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der mangels eines entsprechenden Fahrlässigkeitstatbestandes straflos blieb. Bringewats Auffassung war – bereits vor dem 1.10.2005 – zuzustimmen, weil die umfassende Information über die Familie die notwendige Vorbedingung für die Erfüllung der Zielvorgabe des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII darstellt.

34 Bringewat, Strafrechtliche Risiken, S. 26: Er stellt nicht klar, ob es sich bei den Ressourcen um zusätzliches Personal oder um finanzielle Mittel handelt. 35 Zur schwierigen Abgrenzung des Berufsbildes des Sozialarbeiters i. S. d. § 203 Abs. 1 Nr. 5 StGB von dem des Amtsträgers i. S. d. § 203 Abs. 2 Nr. 1 StGB siehe LK-Schünemann, § 203, Rn. 37.

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6. Fahrlässigkeit Weiterhin muss dem Mitarbeiter des freien Trägers eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden können, und der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs muss objektiv vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein. a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (1) Sonder-/Verkehrsnormen Vor dem Inkrafttreten des KICK existierte, wie für die Jugendamtsmitarbeiter auch für die Familienhelfer keine Sondernorm, die ein sorgfaltsgemäßes Verhalten bei Kindeswohlgefährdungen in der Familie beschrieb – zwar galt die Zielvorgabe des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII auch für letztgenannte, indes beinhaltete sie keine konkreten Handlungsvorgaben. Seit dem 1.10.2005 gilt § 8a Abs. 2 SGB VIII, der jedoch zunächst nur Handlungspflichten für die öffentlichen Träger statuiert. Auch die Empfehlungen des Deutschen Städtetages als sogenannte Verkehrsnormen führen hier nicht weiter36, denn sie beschränken sich ebenfalls auf die Aussage, dass der Umfang ihrer Pflichten im Delegationsvertrag festzuschreiben sei. Auffällig ist einzig, dass sie die Aussage enthalten, andernfalls bestehe der Pflichtenkreis des Jugendamtsmitarbeiters unverändert fort.37 Indes ist damit noch nicht der Pflichtenkreis der Mitarbeiter freier Träger umrissen. (2) „Differenzierte Maßfigur“ Es ist daher – auch nach dem Inkrafttreten des KICK und der Veröffentlichung der Empfehlungen des Deutschen Städtetages – zu untersuchen, wie sich ein gewissenhafter und besonnener Familienhelfer in der konkreten Lage des Betreuers verhalten hätte. (a) „Fachlichkeit“ als Maßstab? An dieser Stelle wird abermals relevant, inwieweit der Strafrichter das Verhalten auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen vermag. 36 Vgl. aber Leube in SGB VIII-Online-Handbuch, Stichwort „Ehrenamtliche Familienhilfe“ (2001), der ausführt, dass einzelne Orts- und Kreisverbände des Deutschen Kinderschutzbundes ein Grundsatzpapier „Familienhilfe im Deutschen Kinderschutzbund – Merkmale, Bedingungen, Ausbildung“ erarbeitet haben. 37 Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 191 (auch abgedruckt im Anhang), Punkte 3.71 und 3.72.

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(aa) Ansicht von Bringewat Bringewat vertritt die Auffassung, dass fachliche Standards auch bei den Mitarbeitern der freien Träger nicht genügen, um ein sorgfältiges Verhalten zu indizieren. Sie seien – wie die Jugendamtsmitarbeiter – am Maßstab der „standardisierten Sonderfähigkeiten“ zu messen. Die Fachlichkeit allein genüge nicht als Messlatte, sofern sie nicht mit den Anforderungen des Strafrechts übereinstimme.38 (bb) Ansicht von Papenheim Papenheim hingegen stellt auf § 72 SGB VIII ab, der für die Jugendhilfe ein Fachkräfteerfordernis statuiert. Hieraus folge, dass die Mitarbeiter des freien Trägers den Standards der Fachlichkeit gemäß agieren müssten.39 (cc) Stellungnahme Dass die Ansicht von Bringewat und die der jugendhilferechtlichen Literatur nur auf den ersten Blick zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt, wurde bereits dargelegt, ebenso wie das an „Standards der Fachlichkeit“ zu stellende Erfordernis der Kompatibilität mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben.40 Zwar entfaltet Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in seiner Ausprägung als staatliche Schutzpflicht keine Wirkung auf die Mitarbeiter der freien Träger, aber er erlangt als Ausdruck der objektiven Werteordnung Relevanz. § 72 SGB VIII ist in diesem Sinne auszulegen, sodass als den Erfordernissen der Fachlichkeit gemäß nur ein Verhalten angesehen werden kann, welches den Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG entspricht. Es bleibt jedoch zu klären, ob auch im übrigen das Gleiche wie bei den Jugendamtsmitarbeitern gilt. Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, die Anwendbarkeit der bei der Untersuchung der Strafbarkeit der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter ermittelten Ergebnisse – eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabs des Richters auf schwerwiegende Beurteilungsfehler41 – zu verneinen, da es sich bei der Hilfeerbringung genaugenommen nicht um ein hoheitliches Verhalten handelt. Eine derartige Sichtweise würde jedoch dazu führen, dass die Mitarbeiter des freien Trägers – die in der Sache die gleichen 38 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 100, 104; ders., Strafrechtliche Risiken, S. 26. 39 LPK-SGB VIII-Papenheim, § 4, Rn. 36a; ders., Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 7 f. 40 Vgl. hierzu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (dd) (e). 41 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (bb) (g).

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schwierigen prognostischen Entscheidungen wie die Jugendamtsmitarbeiter zu treffen haben – ohne sachlichen Grund schlechter gestellt werden würden. Daher ist auch den Familienhelfern ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen, der nur bei einem völligen Ausfall bzw. bei wesentlichen Fehleinstellungen strafrechtlich beanstandet zu werden vermag. Sofern der freie Träger nach § 76 Abs. 1 SGB VIII an der Durchführung der Aufgaben nach §§ 42, 50 bis 52a SGB VIII beteiligt wurde, folgt dies aus der – durch die Übertragung der Befugnisse vermittelte – Geltung der Normen für den Familienhelfer. Wurde hingegen die Fallübernahme lediglich im Delegationsvertrag vereinbart, ist dieser dahingehend auszulegen, dass dem Familienhelfer ein Beurteilungsspielraum zustehen soll.42 (b) Erlaubtes Risiko Der Umfang der objektiv anzuwendenden Sorgfalt wird auch im Zusammenhang mit dem Familienhelfer durch das erlaubte Risiko begrenzt. Indes scheidet eine hierauf gestützte Entlastung dann aus, wenn Leib, Leben oder sexuelle Selbstbestimmung des Kindes in Gefahr sind, da ein besonnener Sozialarbeiter in dieser Situation nicht mehr auf dem Verbleib des Kindes in der Familie beharren würde.43 Sofern lediglich Anzeichen für eine geringfügige Gefährdung des kindlichen Wohls bestehen und der Familienhelfer meint, dass eine Trennung von den Eltern das Kind massiver schädigen würde,44 kommt hingegen eine Begrenzung des Sorgfaltsmaßstabs in Betracht. (c) Vertrauensgrundsatz (aa) Geltung gegenüber dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter Einen Unterfall des erlaubten Risikos stellt der Vertrauensgrundsatz dar. Speziell für den Familienhelfer kommt dessen Geltung vor allem im Hinblick auf ein Tätigwerden des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters in Betracht.45

42 Vgl. auch die Äußerung Wiesners in spektrum 2000, 11: „Es dürfte außer Zweifel stehen, dass Eltern und Kinder bei der Erbringung von Leistungen durch Träger der freien Jugendhilfe denselben Standard an Sozialdatenschutz aber auch an effektivem Kinderschutz erwarten (dürfen) wie bei der Erbringung dieser Leistung durch Einrichtungen und Dienste des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe selbst.“ 43 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 104 f. 44 Zur sogenannten „sekundären Kindeswohlschädigung“ siehe oben Teil 1 F. 45 Zum Vertrauendürfen des fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiters gegenüber dem Familienhelfer s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (3) (b) (ff) (b).

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Die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, an denen sich der Gesetzgeber bei der Schaffung des KICK orientierte, betonen, dass die konkreten Pflichten des Mitarbeiters des freien Trägers explizit festgelegt werden müssten, da ansonsten der Jugendamtsmitarbeiter weiter für den Schutz des Kindes allein verantwortlich bleibe.46 Offensichtlich wird also davon ausgegangen, dass der Familienhelfer jenseits der von ihm übernommenen Pflichten auf das Tätigwerden des Jugendamtsmitarbeiters vertrauen kann. Damit korrelieren im Ergebnis die Pflichten des Familienhelfers und der Umfang der Entlastung des fallzuständigen Sozialarbeiters. Es muss also untersucht werden, welche Pflichten dem Mitarbeiter des freien Trägers vom zuständigen Jugendamtsmitarbeiter im einzelnen übertragen wurden.47 Für dieses Ergebnis spricht, dass das Gesetz nur den bei der öffentlichen Jugendhilfe Beschäftigten konkrete Pflichten auferlegt. Sofern diese einen Teil hiervon delegieren, kann die Hilfsperson grundsätzlich davon ausgehen, dass im übrigen der gesetzlich Verpflichtete für das zu schützende Rechtsgut einstehen wird. Freilich gilt dies dann nicht, wenn der Familienhelfer Widersprüche bei der Darstellung des Sachverhalts bemerkt oder wenn bei ihm Unklarheiten verbleiben. (bb) Geltung gegenüber dem Vorgesetzten bei Weisungen Doch wie wirkt sich das Vertrauensprinzip im Hinblick auf Weisungen des Vorgesetzten eines bei einem freien Träger Beschäftigten aus? Sofern es sich um ein Beschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst handelt, gilt das Gleiche wie bei den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern: § 8 Abs. 2 BAT beinhaltet das Vertrauensprinzip und legt fest, dass einer Anweisung grundsätzlich Folge zu leisten ist, sofern nicht – für den Angewiesenen erkennbar – die Begehung einer Straftat verlangt wird.

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Empfehlungen des Deutschen Städtetages, ZfJ 2004, 191 (s. a. Anhang), Punkt

3.72. 47 Bildhaft in diesem Kontext Kunkel, Jugendhilfe-Wächteramt-Garantenstellung, S. 9: „Der öffentliche Träger ist gleichsam Garant der Garantenstellung des freien Trägers.“ Vgl. auch die Äußerung des AG Osnabrück im Fall „Laura Jane“ (abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 67): „Nach alledem hat die Zeugin (gemeint ist die Familienhelferin, Anm. nicht im Original) nur im Rahmen des Gesetzes gehandelt, als sie in den letzten Tagen vor dem Tod ihres Kindes nichts unternommen hat, weil sie bei mehreren Terminen in der Wohnung niemanden antraf (. . .). Wenn die Angeklagte sich mit dem Einsatz der Zeugin (. . .) eine andere Ausgestaltung der sozialpädagogischen Familienhilfe vorgestellt hat, als sie gesetzlich vorgesehen ist, so hätte sie der Zeugin andere Vorgaben machen müssen . . .“.

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Besteht ein privatrechtliches Dienstverhältnis, so spricht zwar auch hier die Rangstellung des Vorgesetzten für dessen Sachkompetenz. Indes ist bei diesem – anders als bei Beamten und den im öffentlichen Dienst Beschäftigten – die Funktionsfähigkeit der Institution nicht besonders geschützt. Der Familienhelfer hat daher bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer Weisung Rücksprache mit seinem Vorgesetzten zu halten, gegebenenfalls muss er sich weigern, eine bestimmte Weisung auszuführen.48 (cc) Vorsätzliches Dazwischentreten eines Dritten Zudem wird der Vertrauensgrundsatz relevant, sofern die Eltern oder Dritte das Kind vorsätzlich und vollverantwortlich geschädigt haben.49 Hier gilt das Gleiche wie bei den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern50: Aufgrund der Beschützergarantenstellung kann sich der Familienhelfer nicht auf diesen Umstand berufen. Er darf gerade nicht darauf vertrauen, dass den Rechtsgütern des Kindes nichts geschieht. (d) Übernahmefahrlässigkeit Da die sozialpädagogische Familienhilfe häufig bei sogenannten Multiproblemfamilien zum Einsatz kommt, ist stets zu untersuchen, ob ein besonnener Familienhelfer in der konkreten Lage des Übernehmers überhaupt dazu in der Lage war, das Problemkonglomerat mit den ihm zur Verfügung stehenden Fachkenntnissen zu beheben.51 War es ihm möglich, vor dem Betreuungsbeginn seine unzureichende Qualifizierung zu erkennen, so folgt die objektive Sorgfaltspflichtverletzung daraus, dass ein besonnener Familienhelfer die Betreuung nicht übernommen hätte. Erkennt der Mitarbeiter des freien Trägers hingegen erst im Verlauf seiner Tätigkeit, dass er mit der Betreuung überfordert ist, so muss er als gewissenhafter Vertreter seiner Profession den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter entsprechend informieren. Erleichtert wird die Vermeidung derartiger Situationen künftig durch § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII, wonach in Vereinbarungen mit freien Trägern die Verpflichtung aufzunehmen ist, dass bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuzuziehen ist.

48 Siehe hierzu allgemein Dannecker in Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 225 f. 49 Siehe Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 97. 50 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (b) (ff) (b). 51 Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 107 f. misst diesem Umstand „Erhebliche Bedeutung“ bei.

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b) Objektive Voraussehbarkeit Überdies muss der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs für einen gewissenhaften Familienhelfer in der konkreten Situation auch vorhersehbar gewesen sein. Hierbei kommt es nicht darauf an, dass das Geschehen in allen Einzelheiten erkennbar war, sondern dass der Erfolg nicht völlig außerhalb dessen liegt, was noch allgemein erwartet werden konnte.52 c) Objektive Vermeidbarkeit Schließlich ist es für die Feststellung der objektiven Fahrlässigkeit notwendig, dass der Erfolgseintritt für einen besonnenen Familienhelfer in der konkreten Situation auch vermeidbar war, der tatbestandliche Erfolg also auf der Pflichtwidrigkeit des Unterlassens beruht. Zu beachten ist, dass ein Beurteilungsspielraum des Sozialarbeiters existiert, diesem also grundsätzlich mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um die Gefährdung des kindlichen Wohls abzuwehren. Auch an dieser Stelle verfängt der Einwand nicht, dass das Kind auch bei einem Eingreifen der Jugendhilfe möglicherweise nach Beendigung jugendhilferechtlicher Maßnahmen von den Eltern geschädigt worden wäre.53 Zudem ist der Verweis auf den spekulativen Ausgang eines hypothetischen Verfahrens nach § 1666 BGB aufgrund des § 12 FGG grundsätzlich unbeachtlich. Speziell für den Familienhelfer, der einwendet, möglicherweise hätte der fallzuständige Jugendamtsmitarbeiter das Familiengericht nicht gemäß § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII benachrichtigt, folgt dies aus § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X sowie aus der entsprechenden Anwendung der bereits erwähnten Aussagen des BGH im „Lederspray“- und „Politbürofall“.

II. Rechtswidrigkeit 1. Allgemeines Im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit ergeben sich grundsätzlich keine Unterschiede zur Situation der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter. Zu denken ist vor allem an die rechtfertigende Pflichtenkollision bei zu vielen übertragenen Fällen.

52

Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 105 f. Vgl. dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (d) (aa) (b); ebenso Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 99 f. 53

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Teil 4: Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

2. Weisungen Wie verhält es sich mit Weisungen des Arbeitgebers gegenüber dem Mitarbeiter des freien Trägers? Sofern der Familienhelfer im öffentlichen Dienst angestellt ist, resultiert eine rechtfertigende Zwangslage – wie bei den angestellten Jugendamtsmitarbeitern – aus § 8 Abs. 2 S. 1 BAT,54 das heißt eine rechtfertigende Pflichtenkollision ist dann anzunehmen, wenn der Familienhelfer zwar an der Rechtmäßigkeit der Weisung zweifelt, aber die Zweifel nicht durch gewichtige Gründe in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht genährt werden.55 Sofern er nicht einmal erkennt, dass er bei Realisierung der Weisung eine Straftat begehen würde, ist er ebenfalls zu einem entsprechenden Handeln verpflichtet. Es besteht dabei aber keine rechtfertigende Pflichtenkollision, sondern die Rechtsordnung gibt hier dem Gehorsam den Vorrang, vgl. § 8 Abs. 2 S. 1 BAT. Anders ist dies hingegen, wenn der Träger rein privatrechtlich organisiert ist. Dann kollidiert auf den ersten Blick das allgemeine Weisungsrecht des Arbeitgebers mit der Bindung des Sozialarbeiters an das Gesetz. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es sich hierbei um gar keine Kollisionslage handelt – die allgemeinen Gesetze, an die sich der Familienhelfer zu halten hat, stehen nämlich in der Normenhierarchie über dem Weisungsrecht des Vorgesetzten, sodass eine rechtfertigende Pflichtenkollision schon nach dem Grundsatz lex superior derogat legi inferiori entfällt.56 Zwar mag der Mitarbeiter in tatsächlicher Hinsicht einem der Situation im öffentlichen Dienst vergleichbaren Dilemma unterfallen – insbesondere geht es hier um die Gefahr, als „Querulant“ zu gelten und gegebenenfalls eine ungerechtfertigte Abmahnung zu erhalten. Im Gegensatz zu den dort beschäftigten Personengruppen läuft er jedoch nicht Gefahr, disziplinarrechtlich belangt zu werden, sodass eine Gleichstellung nicht geboten erscheint.57

54 Sofern das Beschäftigungsverhältnis mit einem kirchlichen Träger besteht, ergibt sich diese bei einer Anweisung, die zur Verwirklichung einer Straftat führen würde, aus kirchlichen Regelungen, die in der Regel auf das BAT verweisen. 55 Siehe dazu oben Teil 2 A. II. 3. b) (1). 56 Im Ergebnis ebenso Hoyer in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 195 f. 57 Zur Entschuldbarkeit des Verhaltens wegen der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens siehe Teil 2 A. II. 4. b) (2).

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III. Schuld 1. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung Im Zusammenhang mit der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung ist an ein mögliches Übernahmeverschulden zu denken.58 2. Subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit Zudem muss der Erfolgseintritt auch speziell für den betreffenden Familienhelfer voraussehbar und vermeidbar gewesen sein.59 3. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Schließlich ist zu untersuchen, ob die Mitarbeiter freier Träger, die sich nicht auf eine rechtfertigende Pflichtenkollision berufen können, wegen der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens – z. B. der Gefahr, bei der Weigerung, eine bestimmte Weisung des Arbeitgebers auszuführen, den Arbeitsplatz zu verlieren – wenigstens entschuldigt sind. Zur Beantwortung der Frage muss auf den Rechtsgrund dieses Einwandes – auf die notstandsähnliche und damit dem § 35 StGB vergleichbare Sachlage60 – zurückgegriffen werden, für die es freilich an einer Gefahr für ein hierdurch geschütztes Rechtsgut (Leib, Leben, Freiheit) mangelt. Die Vorschrift fußt auf einer Güterabwägung und beinhaltet den Gesichtspunkt der Zumutbarkeit im Rahmen des § 35 Abs. 1 S. 2 StGB. Normgemäß wäre es, wenn der privatrechtlich beschäftigte Familienhelfer der rechtswidrigen Weisung seines Dienstherren zuwiderhandelte, um das Kindeswohl – also Leib und unter Umständen auch Leben des Kindes – zu schützen. Demgegenüber müssen die gefährdeten Interessen des Sozialarbeiters zurückstehen – im schlimmsten Fall der Verlust des Arbeitsplatzes und ein sich anschließender arbeitsgerichtlicher Prozess.

58 Hierzu Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 111. Auf S. 67 meint er, dass der Familienhelfer bei Zweifeln über sein Leistungsvermögen die Fallübernahme ablehnen solle – krit. dazu Papenheim, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 12. 59 Vgl. Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe, S. 110 f. Im Fall „Jenny“ wurde der im Stuttgarter Weraheim beschäftigte Sozialarbeiter vom LG Stuttgart freigesprochen, da ihm nicht nachgewiesen werden konnte, dass er über die vorausgegangenen Misshandlungen des Kindes in Lüneburg informiert worden war, sodass die Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit in dubio pro reo verneint wurde (siehe LG Stuttgart bei Lehmann, EJ 2000, 52). 60 Roxin, AT I, § 24, Rn. 116 spricht von „. . . behutsamer Analogie“.

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IV. Irrtümer 1. § 16 StGB Dass § 16 Abs. 1 S. 1 StGB wegen des Satzes 2 im Ergebnis keine entlastende Wirkung für den eines fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts Beschuldigten entfaltet, wurde bereits darlegt. Bei zutreffender analoger Anwendung der Rechtsfolgen der Norm gilt das Gleiche für den Erlaubnistatbestandsirrtum. 2. § 17 StGB In Betracht kommt jedoch eine entlastende Wirkung des § 17 StGB, sofern sich der Familienhelfer über den Umfang der ihm obliegenden Pflichten irrt, er also einem Gebotsirrtum unterliegt. Auch insoweit gilt nichts anderes als bei den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern: Die Familienhelfer haben bei der Übernahme der Betreuung einen Anlass, sich über ihre Verpflichtungen zu informieren, da sie in einem besonders geregelten Rechtsbereich tätig werden. Sie müssen sich gegebenenfalls bei einem Rechtskundigen die erforderlichen Kenntnisse verschaffen61 – tun sie dies nicht, so kommt es darauf an, ob überhaupt die Möglichkeit bestand, an die korrekten Informationen zu gelangen. Zu beachten ist, dass seit dem Inkrafttreten des KICK in § 8a Abs. 2 SGB VIII für die öffentlichen Träger die Pflicht besteht, eine den Voraussetzungen des § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII entsprechende Betreuung sicherzustellen, so dass die Beratung des Familienhelfers entsprechend sichergestellt ist.

V. Fazit Auch den Familienhelfern kommt eine Beschützergarantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme zu. Der Inhalt der objektiven Sorgfaltspflicht sowie die objektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts bestimmen sich wie bei den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern. Im Hinblick auf den Vertrauensgrundsatz ist auf die Anstellungsmodalitäten Bezug zu nehmen: Gilt für das Beschäftigungsverhältnis zwischen dem freien Träger und dem Familienhelfer das BAT, dann ist das Vertrauen in § 8 Abs. 2 BAT normiert. Der Familienhelfer darf nicht nur auf die Richtigkeit der Wei61 Vgl. hierzu Hoyer in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung, S. 197, der im Zusammenhang mit der Erteilung strafrechtlich relevanter Weisungen meint: „In privatrechtlichen Organisationen basiert das Vertrauen auf weniger verlässlicher Grundlage, so dass der Weisungsunterworfene eher zum Misstrauen gelangen muss.“

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sung vertrauen, sondern er hat sie – sofern hierdurch nicht erkennbar eine Straftat begangen wird – auszuführen. Falls sein Vertrag sich hingegen nicht nach dem BAT bemisst, muss er bei Zweifeln über die Rechtmäßigkeit einer Weisung Rücksprache mit seinem Vorgesetzten halten und die Ausführung gegebenenfalls verweigern. Im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit ist zu beachten, dass der bei einem freien Träger privatrechtlich angestellte Sozialarbeiter sich nicht auf eine rechtfertigende Pflichtenkollision bei rechtswidrigen Weisungen seines Dienstvorgesetzten zu berufen vermag. Im Hinblick auf die Schuld ist zu konstatieren, dass der Einwand der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens in der Regel verwehrt ist.

B. Strafbarkeitsrisiko der Leitungsverantwortlichen bei den freien Trägern Zu prüfen bleibt die Verantwortlichkeit der Leitungsverantwortlichen bei den freien Trägern. Wie bei den im Jugendamt Tätigen soll auch insoweit speziell auf Organisationsmängel – ein Unterlassen – sowie auf die Erteilung von Weisungen – ein aktives Tun – eingegangen werden.

I. Organisationsmangel Einen Organisationsmangel stellt es zum Beispiel dar, wenn die Leitungsebene nicht auf die Meldung des Jugendamtsmitarbeiters reagiert, dass der Mitarbeiter des freien Trägers sich nicht an die Mitteilungspflichten hält.62 Überdies kommt auch hier in Betracht, dass die Leitungsverantwortlichen den bei dem freien Träger beschäftigten Sozialarbeitern zu viele Fälle übertragen und diese damit überfordern. 1. Beschützergarantenstellung Zunächst ist wiederum eine Beschützergarantenstellung zu prüfen. a) Aus Gesetz Eine Garantenstellung aus Gesetz entfällt aus dem gleichen Grund wie bei den fallzuständigen Mitarbeitern des freien Trägers – wegen der mangelnden 62 So das vorgeschlagene Vorgehen des Deutschen Städtetages in ZfJ 2004, 191 (auch abgedruckt im Anhang), Punkt 3.71 im Hinblick auf die Jugendamtsleitung.

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Teil 4: Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

Bindungswirkung des § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII. Da die freien Träger nicht Adressaten der grundgesetzlichen Pflichten sind, obliegt ihnen nicht die aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG resultierende Schutzpflicht. b) Aus Amtsträgerschaft Damit entfällt auch eine Garantenstellung aus Amtsträgerschaft. c) Aus tatsächlicher Übernahme Eine solche könnte sich aber aus einer tatsächlichen Schutzübernahme ergeben. Hiergegen spricht jedoch, dass in der Regel lediglich der fallzuständige Sozialarbeiter persönlich mit der Familie in Kontakt tritt, sodass nur dieser als diejenige Person in Betracht kommt, in die von Seiten des Kindes bzw. der Eltern ein Vertrauen auf ein Tätigwerden gesetzt wird.63 d) Ingerenz Sofern der Leitungsverantwortliche den einzelnen Mitarbeitern eine zu große Anzahl an Fällen zugewiesen oder auf eine Beschwerde seitens der Jugendamtsleitung nicht reagiert hat, kommt schließlich eine Beschützergarantenstellung kraft Ingerenz in Betracht. Hierfür müsste das Verhalten allerdings als rechtswidrig zu qualifizieren sein. Indes verstößt die Überforderung einzelner Mitarbeiter lediglich gegen die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, nicht jedoch gegen Rechtsnormen, ebenso wenig wie die mangelnde Reaktion auf Beanstandungen des Jugendamts, sodass auch diese Garantenquelle nicht einschlägig ist. e) Fazit Eine Beschützergarantenstellung scheidet daher in der Regel aus. 2. Überwachergarantenstellung Indes könnte eine Garantenstellung existieren, die darauf gerichtet ist, Straftaten der Familienhelfer – und damit auch fahrlässige unechte Unterlassungsdelikte – zu verhindern. Dies setzt voraus, dass auch bei den freien Trägern eine

63 Denkbar ist aber natürlich, dass sich der Leitungsverantwortliche aktiv in den Betreuungsverlauf einschaltet (wobei die Mitwirkung am Hilfeplanungsverfahren – wie gezeigt (s. o. Teil 2 B. II. 2. b)) – nicht ausreicht).

B. Strafbarkeitsrisiko der Leitungsverantwortlichen

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Überwachergarantenstellung im Hinblick auf ein strafbares Verhalten der dort Beschäftigten existiert. Damit wird die Frage relevant, ob auch privaten Dienstherrn eine Überwachergarantenstellung im Hinblick auf das Verhalten ihrer Untergebenen zukommt.64 Zugunsten einer solchen spricht, dass diese in tatsächlicher Hinsicht eine Befehlsfunktion innehaben – den Anweisungen wird auch in privatrechtlich organisierten Unternehmen grundsätzlich Folge geleistet.65 Hiergegen wird angeführt, dem stehe die Selbstverantwortung des Mitarbeiters entgegen sowie ein Gegenschluss zu § 357 StGB.66 Gegen das letztgenannte Argument spricht jedoch, dass auch sonst Garantenstellungen nicht explizit normiert sind, und dass § 357 StGB Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens sein könnte, der darin besteht, dass derjenige, der sich der Vorteile der Arbeitsteilung im Rahmen eines Betriebs bedient, auch die daraus resultierenden Gefahren tragen muss. Im übrigen ist die Annahme einer Überwachergarantenstellung auch mit dem Eigenverantwortungsprinzip vereinbar, wenn man diese – wie auch in § 130 Abs. 1 OWiG geschehen – auf die betriebsbezogenen Straftaten beschränkt.67 Den leitenden Angestellten kommt daher eine Überwachergarantenstellung zu. 3. Fahrlässigkeitsprüfung Bei der Prüfung der Fahrlässigkeit ergibt sich nichts anderes als bei den Leitungsverantwortlichen im Jugendamt und den fallverantwortlichen Mitarbeitern der freien Träger: Auch den leitenden Mitarbeitern des freien Trägers steht der Beurteilungsspielraum zu. Diesen hat der Strafrichter zu berücksichtigen, sofern nicht wesentliche Fehler bei dessen Ausübung vorliegen (z. B. bei einem Ermessensausfall wegen ausschließlichem Bezug der Entscheidung auf die Kosten). Zudem muss die objektive und die subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des eingetretenen Erfolgs nachgewiesen werden, wobei mit Blick auf das hypothetische Verhalten des Mitarbeiters nach den vom BGH im „Leder64

Weiterführend Bottke, Haftung, S. 13 ff. m.w. N. S/S/Stree, § 13, Rn. 52; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 275 ff.; Roxin, AT II, § 32, Rn. 135 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, § 13, Rn. 48; Schünemann, ZStW 96 (1984), 318; diff. Gimbernat Ordeig, Roxin-FS, S. 661, der auf der Basis des von ihm entwickelten Materialisierungsansatzes zur Garantenstellung (s. o. Teil 2 A. II. 2. d) (1) (b) (h)), wonach der Gefahrenherd bei der Überwachergarantenstellung bereits vorher existiert haben muss, meint, die Straftat des Untergebenen müsse sich auf einen betriebsbezogenen Gefahrenherd beziehen; dazu Roxin, AT II, § 32, Rn.138 f. 66 LK-Jescheck, § 13, Rn. 45; SK-Rudolphi, § 13, Rn. 35a; Jäger, Rn. 373. 67 So auch Bottke, Haftung, S. 73 f. sowie Roxin, AT II, § 32, Rn. 141, der darlegt, dass bei der Beschränkung auf betriebsbezogene Straftaten beide Ansichten häufig doch zu ähnlichen Ergebnissen gelangen. 65

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Teil 4: Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter freier Träger

spray-“ und „Politbürofall“ geäußerten Grundsätzen dieses wiederum als rechtmäßig zu unterstellen ist.68 4. Fazit Den Leitungsverantwortlichen bei einem freien Träger ist zwar keine Beschützer-, aber eine Überwachergarantenposition zuzuschreiben, die sich auf das Verhalten der eingesetzten Familienhelfer bezieht. Im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung ist der verwaltungsrechtliche Beurteilungsspielraum zu beachten.

II. Dienstanweisung Sofern der Leitungsverantwortliche des freien Trägers dem fallverantwortlichen Mitarbeiter dienstliche Anweisungen im Zusammenhang mit der Betreuung der „Problemfamilie“ gegeben hat – seien diese nun gestützt auf § 8 BAT, auf kirchliche Sonderregelungen oder auf das allgemeine Weisungsrecht des Arbeitgebers – und dieser ihnen nachgekommen ist, so ist eine Strafbarkeit wegen eines fahrlässigen Begehungsdelikts denkbar. Auch hier gilt allerdings das zur Fahrlässigkeit bei organisatorischen Mängeln Ausgeführte: Dem Leitungsverantwortlichen steht der Beurteilungsspielraum zu, den der Strafrichter nur im Fall schwerwiegender Fehler in Frage stellen darf. Zudem muss die objektive und subjektive Voraussehbarkeit des Erfolges seines Verhaltens nachgewiesen werden.

68

Vgl. dazu oben Teil 2 A. II. 2. f) (3) (d) (aa) (a).

Teil 5

Zusammenfassung und Ergebnisse Im Rahmen der vorangegangenen Untersuchung wurden bereits an verschiedenen Stellen Zwischenfazits platziert. Hierauf sei ausdrücklich verwiesen.1 Die folgende Zusammenfassung kann deshalb kürzer ausfallen. Dabei wird zunächst der Gang der Arbeit nochmals nachvollzogen, um ihre anschließend vorzustellenden Ergebnisse zu verdeutlichen. Daran anknüpfend sollen die am Anfang der Abhandlung dokumentierten Beispiele gewürdigt werden. Schließlich soll ein Resümee im Hinblick auf das Thema der Arbeit und die hierzu vertretenen Ansichten gezogen werden.

A. Gang der Arbeit Die vorliegende Untersuchung ist in vier Teile gegliedert, wobei der Schwerpunkt sowohl von der Bedeutung als auch vom Umfang her auf dem zweiten Teil liegt. Die darin und in den Teilen 3 und 4 betrachteten Sachlagen hätten jedoch ohne die vorangegangene Erläuterung der Grundlagen sowohl in verfassungsrechtlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf das SGB VIII, das Familienrecht sowie die kommunalrechtlichen Prämissen nicht verständlich dargestellt werden können – sie sind daher im ersten Teil der Arbeit verortet. Ohne die Dokumentation einiger der bislang ergangenen Verfahren sowie der hierauf bezogenen Reaktionen in der Praxis, den Sozialwissenschaften und der Legislative wären sie zudem viel zu abstrakt geblieben. Die Anwendung der im zweiten Teil der Untersuchung herausgearbeiteten strafrechtsdogmatischen Ergebnisse auf Kollegen und Vorgesetzte der Jugendamtsmitarbeiter, auf die administrativ Verantwortlichen und schließlich auf die Mitarbeiter der freien Jugendhilfe im dritten und vierten Teil runden die Arbeit ab und verwirklichen deren Anspruch, möglichst umfassend Auskunft über die Risikolagen in der Kinder- und Jugendhilfe abzulegen. Hierbei beschränken sich die Ausführungen auf die Besonderheiten gegenüber dem zweiten Teil. 1 Siehe dazu oben Teil 1 C., Teil 1 E., Teil 2 A. II. 6., Teil 2 B. I. 3., Teil 2 B. II. 4., Teil 2 C. I. 3., Teil 2 C. II. 2., Teil 3 C., Teil 4 A. V. sowie Teil 4 B. I. 4. und II.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

Die Gedankenführung innerhalb der einzelnen Teile lässt sich wie folgt zusammenfassen:

I. Rechtsdogmatische Grundlagen Nach der Einleitung, in der die Ausgangssituation, der Gang der Untersuchung und die Ziele der Arbeit erläutert wurden, beginnt der erste Teil der Arbeit mit Fallstudien. Sie verdeutlichen die praktische Relevanz der Thematik und die in Betracht kommenden Sachlagen. Ferner skizzieren sie bereits an dieser Stelle die z. T. divergierenden Ansichten in der Rechtsprechung. Die anschließenden Ausführungen zeigen die aktuelle Brisanz des Themas in der Fachwelt auf, indem Reaktionen in den Sozialwissenschaften und seitens des Gesetzgebers dargestellt werden, auf deren Implikationen im weiteren Verlauf der Arbeit an passender Stelle zurückgekommen wird. Anschließend wird die verfassungsrechtliche Ausgangsposition näher betrachtet, konkret der Dreiklang aus Elternrecht, Kindeswohl und staatlichem Wächteramt, wobei insbesondere letzteres im Hinblick auf seine dogmatische Herleitung, seine Träger und Begrenzungen sowohl „nach oben“ als auch „nach unten“ dargestellt wird. Danach wird die einfachgesetzliche Ausprägung dieses Wächteramts und die Verwirklichung des Kinderschutzes im SGB VIII und im BGB betrachtet. Es werden insbesondere die Strukturen des SGB VIII herausgearbeitet und zahlreiche sozialrechtliche Fragestellungen behandelt, die eine mögliche Relevanz für die Beurteilung der Strafbarkeitsrisiken entfalten (Datenschutz, Inobhutnahme, Weisungsrechte des Jugendamts gegenüber Mitarbeitern freier Träger, Pflichten gegenüber dem Familiengericht). Ferner wird ein Überblick über die kürzlich in Kraft getretenen bzw. ursprünglich geplanten Gesetzesänderungen (KICK und KEG) gegeben und die Organisationsstruktur der Jugendhilfe skizziert – hierbei vor allem der Dualismus von öffentlicher und freier Kinder- und Jugendhilfe. Zudem wird das Zusammenspiel von Familiengericht und Jugendhilfe und das Verfahren nach §§ 1666 f. BGB dargestellt. Die Ausführungen zum Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe runden den Überblick ab.

II. Strafbarkeitsrisiken im Jugendamt Im zweiten Teil der Untersuchung wird die strafrechtliche Risikolage der im Jugendamt Beschäftigten im Hinblick auf das unechte Unterlassungsdelikt ausführlich untersucht. Den Anfang und zugleich eindeutigen Schwerpunkt bildet dabei das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt, welches hinsichtlich Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld sowie Irrtumslagen analysiert wird.

A. Gang der Arbeit

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Nach einigen Vorbemerkungen, die dem Ziel dienen, das Verständnis der im folgenden auf verschiedenen Ebenen der Prüfung anzutreffenden dogmatischen Kontroversen zu erleichtern und das Verhältnis von Fahrlässigkeit und Unterlassen zu skizzieren, werden zunächst die zum unechten Unterlassungsdelikt vertretenen Definitionsansätze dargestellt. Dem folgen Ausführungen zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen und zu Sonderfällen wie dem Abbruch von Rettungsmaßnahmen. Danach wird näher auf den Begriff der gebotenen Handlung eingegangen. Der in den Vorbemerkungen skizzierte Gegensatz zwischen den naturalistisch-ontologischen und den wertenden Handlungslehren spiegelt sich bei der Abschichtung der vorsätzlichen Delikte wider wie auch bei der Frage nach der Existenz eines Unterlassungsvorsatzes und setzt sich fort bei der Ermittlung einer Unterlassungskausalität. Die Ausführungen zur letzteren und zur objektiven Zurechnung sind eher knapp gehalten, weil sich beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt im Rahmen der objektiven Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs denkbare Rechtsfragen in identischer Weise stellen. Einen Schwerpunkt der Arbeit bildet sodann die Untersuchung, ob die für die Problemfamilie zuständigen Sozialarbeiter – wie von § 13 Abs. 1 StGB gefordert – rechtlich dafür einzustehen haben, dass der Erfolg nicht eintritt. Bevor auf diese Frage näher eingegangen wird, wird in einem Exkurs das „verfassungsrechtliche Rüstzeug“ erarbeitet, das zur Bewertung der Ansichten erforderlich ist, die zur Auslegung des § 13 Abs. 1 StGB vertreten werden. Hierfür werden die Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG näher erläutert. Im weiteren Verlauf wird der generelle Diskussionsstand zur Garantenfrage in Lehre und Rechtsprechung skizziert, wobei zwischen der strengen und der eingeschränkten Rechtspflichtlehre sowie zwischen weitergehenden Materialisierungsansätzen differenziert wird. Der auf diese Weise referierte Meinungsstand wird im folgenden hinsichtlich seiner Relevanz für die untersuchten Konstellationen analysiert – konkret in Bezug auf die Bedeutung besonderer Rechtssätze, die Anerkennung der Ingerenz sowie die Forderung nach einer Herrschaft des Garanten über das Geschehen. Anschließend werden die Ansichten mit der von Armin Kaufmann entwickelten und von der Rechtsprechung und Teilen der Lehre vertretenen Kategorisierung in Beschützer- und Überwachergarant, verbunden mit den teils tradierten, teils in jüngerer Zeit herausgearbeiteten Garantenquellen, verglichen. Danach wird der Meinungsstand speziell zur Garantenstellung der zuständigen Jugendamtsmitarbeiter in der Literatur und Rechtsprechung widergegeben und jeweils dazu Stellung genommen. Hierbei bildet die Beschützergaranten-

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

stellung den Anfang, sodann wird kurz auf die Überwachergarantenstellung eingegangen. Im weiteren werden die aus der Garantenstellung erwachsenden Pflichten ermittelt und insbesondere die Auswirkungen einer Pflichtendelegation auf einen Mitarbeiter freier Träger, eine nachträglich eintretende Unzuständigkeit, eine Überbelastung des einzelnen Sozialarbeiters, eine notwendig werdende Vertretung, eine kollegiale Absprache, eine Weisung des Vorgesetzten sowie auf eine erfolglose Meldung gegenüber dem Gericht erörtert. Dem schließen sich Ausführungen zur Fahrlässigkeit an. Hierbei handelt es sich um einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit. Auch in diesem Kontext wird zunächst kurz auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen eingegangen, um im Lichte dieser Vorgaben sodann die vertretenen Ansichten zur Ermittlung fahrlässigen Verhaltens zu bewerten. Danach wird abermals darauf eingegangen, dass es sich bei den untersuchten Fällen um fahrlässige unechte Unterlassungen handelt, da aus diesem Umstand die Frage resultiert, ob die Sorgfaltspflichten nicht bereits durch die Ermittlung der Garantenpflichten indiziert werden. Dem folgt eine Darstellung des Meinungsstands in der Judikatur und Literatur zur Frage der Fahrlässigkeit bei fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern. In der Stellungnahme hierzu wird zunächst der Maßstab zur Bestimmung der Sorgfaltspflicht ermittelt. Bei der Untersuchung der sogenannten Sondernormen wird auf den prognostischen Charakter und den im ersten Teil der Arbeit herausgearbeiteten verwaltungsrechtlichen Beurteilungsspielraum eingegangen. Im Kontext der sich daran anschließenden Bemerkungen zu den sogenannten Verkehrsnormen spielen die Empfehlungen des Deutschen Städtetages eine große Rolle. Bei der Ermittlung des Verhaltens der sogenannten differenzierten Maßfigur wird erörtert, welche Bedeutung dem Einwand zukommt, die Betreuung sei „fachlich korrekt“ erfolgt. Des weiteren wird untersucht, wie sich eine Übernahmefahrlässigkeit und eine in diesem Zusammenhang ergehende Überlastungsanzeige auswirken und inwiefern der Grundsatz des erlaubten Risikos die Sorgfaltspflichten begrenzt. Hierbei ist zu beachten, dass es sich bei den denkbaren Konstellationen um solche handelt, bei denen mehrere Personen in das Rettungsgeschehen involviert sein können. So bei Weisungen des Vorgesetzten, bei Beschlüssen des Familiengerichts sowie bei Delegationen auf die Mitarbeiter freier Träger. Solche Mehrpersonenverhältnisse sind sowohl für die objektive Voraussehbarkeit als auch für die Beurteilung der objektiven Vermeidbarkeit und den an dieser Stelle zu verortenden Einwand rechtmäßigen hypothetischen Alternativverhaltens von Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird ferner die Stichhaltigkeit des Einwands untersucht, dass selbst dann, wenn die erforderliche

A. Gang der Arbeit

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Meldung an das Familiengericht ergangen wäre, die Eltern das Kind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit später geschädigt hätten. Im Rahmen der Rechtswidrigkeit wird einerseits auf die rechtfertigende Pflichtenkollision und andererseits auf die Frage eingegangen, wie sich eine rechtswidrige Weisung des Vorgesetzten auf das Unrecht des Verhaltens des untergebenen Sozialarbeiters auswirkt. Bei der Schuld werden zunächst die subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit näher betrachtet, sodann werden der Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und hierbei wiederum der Sonderfall der rechtswidrigen Dienstanweisung eingehender untersucht. Danach werden denkbare Irrtumskonstellationen angesprochen. Der Tatbestandsirrtum wird wegen des § 16 Abs. 1 S. 2 StGB nur kurz, der Gebotsirrtum näher abgehandelt, wobei sich die Ausführungen insbesondere dem Gesichtspunkt der Vermeidbarkeit widmen. Anschließend folgen einige Bemerkungen zum Erlaubnistatbestandsirrtum. Bei der Untersuchung des vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts wird zunächst die strittige Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme generell, sodann diejenige speziell beim Unterlassen dargestellt und bewertet. Dem folgen Ausführungen zum erforderlichen Umfang des sogenannten Gehilfenvorsatzes, zum Irrtum und zur Beihilfe zum versuchten Delikt. Anschließend werden die Strafbarkeitsrisiken von Kollegen des zur Betreuung der betreffenden Familie zuständigen Sozialarbeiters hinterfragt. Hierbei wird zwischen verschiedenen Konstellationen differenziert, zum einen derjenigen, bei der eine Information nicht weitergeleitet wird, zum anderen derjenigen, bei der der Sozialarbeiter an einer Absprache bzw. Abstimmung teilnimmt und im Ergebnis ein Tätigwerden ablehnt. Bei der rechtlichen Würdigung kann im wesentlichen an die eingangs herausgearbeiteten Ergebnisse angeknüpft werden, vor allem an diejenigen zur Garantenstellung und die hieraus erwachsenden Pflichten, zur Fahrlässigkeit und zur objektiven Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit. Schließlich wird im zweiten Teil der Arbeit die strafrechtliche Risikolage der Leitungsebene des Jugendamts näher untersucht, wobei zwischen der Nichtbehebung von Organisationsmängeln und dem Erteilen dienstlicher Weisungen differenziert wird. Auch hier ergeben sich Anknüpfungspunkte zur Prüfung bei den zuständigen Jugendamtsmitarbeitern, darüber hinaus stellt sich die Frage nach einer Überwachergarantenstellung für das Verhalten der Untergebenen.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

III. Strafbarkeitsrisiken der administrativ Verantwortlichen Im Zusammenhang mit der Budgetierung des Jugendamts taucht das Problem auf, ob die für die Garantenstellung erforderliche Verdichtung einer Pflicht gerade bei einzelnen Personen festgestellt werden kann, die für diese Budgetierung verantwortlich sind.

IV. Strafbarkeitsrisiken der Mitarbeiter der freien Träger Die Arbeit schließt im vierten Teil mit der Erörterung der Risiken der bei den freien Trägern der Jugendhilfe Beschäftigten. Auch insoweit wird zwischen den Mitarbeitern „an der Basis“ und denjenigen auf der Führungsebene unterschieden. Bei den fallzuständigen Mitarbeitern beschränkt sich die Erörterung auf die praktisch relevante sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII), und in Bezug auf die Führungsebene werden speziell der Organisationsmangel und die Dienstanweisung hinterfragt.

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse I. Allgemeines Die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit lauten – thesenartig formuliert – wie folgt: 1. Zum fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt a) Die streng naturalistisch-ontologischen Handlungslehren haben Probleme bei der begrifflichen Erfassung der Unterlassungs- und der Fahrlässigkeitsdelikte, wohingegen die wertenden Ansätze zur Definition des Handlungsbegriffs diese Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens besser zu integrieren vermögen. Hieraus resultieren bis heute fortwirkende Fragen, z. B. im Rahmen der Kausalität, des Vorsatzes oder des Fahrlässigkeitsmaßstabs und Probleme im Prüfungsaufbau. b) Die Fahrlässigkeit und das Unterlassen knüpfen zwar auf den ersten Blick beide an ein Nichttätigwerden (in sorgfaltswidriger Weise) an. Indes sind sie bei näherer Betrachtung weder geschichtlich noch strukturell miteinander verwandt, sodass es nicht verwundert, dass es auf diversen Ebenen der Prüfung zu Frik-

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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tionen kommt, so z. B. bei der Frage, ob ein unbewusst fahrlässiges Unterlassen überhaupt denkbar ist. c) Zwar vermag die von Armin Kaufmann entwickelte Kategorisierung der strafrechtlichen Einstandspflichten in Beschützer- und Überwachergarantenstellungen, verbunden mit den Garantenquellen der älteren Lehren, nicht den Umstand dafür aufzuzeigen, der diese Garantenpflichten begründet, doch geben auch die sonstigen vorgestellten Materialisierungsansätze dem Rechtsanwender keine „bestimmtere“ Möglichkeit an die Hand, eine Garantenstellung zu verifizieren. Ihre Bedeutung entfalten diese Ansätze indes bei der Konkretisierung der Voraussetzungen der einzelnen Garantenquellen, indem sie Argumentationstopoi liefern wie z. B. den des berechtigten Vertrauens. d) Die zur Bestimmung fahrlässigen Verhaltens vertretenen Ansätze widersprechen sich nur auf den ersten Blick. Die überwiegende Meinung, die eine Sorgfaltspflichtverletzung voraussetzt, spricht die von den entgegengesetzten Positionen für maßgeblich erachteten Gesichtspunkte der objektiven Zurechnung bzw. der Überschreitung der Grenze des erlaubten Risikos lediglich auf anderen Stufen der Prüfung (denen der objektiven Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit) an. e) Im Hinblick auf das fahrlässige unechte Unterlassen ist festzuhalten, dass die Garantenpflichten und die Sorgfaltspflichten zwar zum Teil ineinander übergehen können, aber nicht als identisch anzusehen sind. Vielmehr indiziert die Sorgfaltspflichtverletzung die Verletzung der Garantenpflicht. Mit der Feststellung der Garantenpflichtverletzung ist jedoch noch nicht zugleich das Urteil über die Fahrlässigkeit des Verhaltens gefällt.

2. Zu den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern a) Unabhängig von der zugrunde gelegten Definition des unechten Unterlassungsdelikts sind die in Betracht kommenden Tatbestände mehrheitlich eindeutig als unechte Unterlassungstatbestände zu charakterisieren. Zumindest aber ist das Erfordernis einer Sonderverantwortlichkeit des Sozialarbeiters festzustellen (z. B. bei § 171 StGB). b) Auch der Streit um die Abgrenzung von Tun und Unterlassen kann dahingestellt bleiben: In der Regel ist ein Unterlassen anzunehmen, selbst bei vermeintlichen Sonderfällen wie dem Abbruch eigener Rettungsmaßnahmen. c) Die Handlungsfähigkeit des Jugendamtsmitarbeiters ist regelmäßig zu bejahen, auch bei einem (hypothetischen) Fehlverhalten Dritter bspw. des Familiengerichts oder des Vorgesetzten, dem intern die Letztentscheidung überlassen wurde. Sofern dem Sozialarbeiter die Handlungsfähigkeit zum Zeitpunkt der akuten Gefährdung fehlte, ist auf die Rechtsfigur der omissio libera in omit-

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

tendo zurückzugreifen und die strafrechtliche Bewertung auf diesen Zeitpunkt vorzuverlagern. d) Von der (Quasi-)Kausalität des Verhaltens ist ebenfalls auszugehen. Abzulehnen ist in diesem Zusammenhang ein „Regressverbot“ bezüglich eines Rückgriffs auf das vorsätzliche und vollverantwortliche Handeln der Eltern. Der Einwand, der tatbestandliche Erfolg sei dem Jugendamtsmitarbeiter nicht zuzurechnen, da dieser lediglich risikoverringernd tätig geworden sei, verfängt im Rahmen des Unterlassens ebenfalls nicht, weil hier letztlich die Aufrechterhaltung des Risikos maßgebend ist, nicht, dass man versucht hat, es (ungenügend) zu verringern. e) Eine Beschützergarantenstellung des zuständigen Sozialarbeiters resultiert daraus, dass dieser als Teil der Exekutive die dem Staat auferlegte und in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verdichtete Schutzpflicht verwirklicht. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII ist in diesem Sinne verfassungskonform auszulegen und wirkt im Interventionsbereich des § 1666 BGB pflichtenbegründend, da Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG, die in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ihren Ausdruck finden, den Staat zu einem Tätigwerden zum Schutz des Kindes verpflichten. Diese Betrachtungsweise wird seit dem Inkrafttreten des KICK durch den neu geschaffenen § 8a SGB VIII gestützt. Die für eine strafrechtliche Einstandspflicht nach § 13 Abs. 1 StGB vorausgesetzte besondere personale Beziehung zum tatbestandlichen Erfolg ergibt sich nicht aus einem Vertrag mit den Eltern, sondern aus der tatsächlichen Übernahme des Schutzes für das Kind. Diese Garantenquelle beinhaltet ein reales und ein normatives Moment. Während das erstgenannte bereits dann zu bejahen ist, wenn ein „Erstkontakt“ des Sozialarbeiters mit der Familie stattgefunden hat, nicht jedoch dann, wenn ein solcher infolge völliger Überlastung gar nicht mehr möglich war, ist für das letztgenannte maßgebend, ob ein berechtigtes Vertrauen dahingehend bestand, dass der Schutz des Kindes gewährleistet ist. Die Untersuchung hat ergeben, dass – ganz gleich, ob man die Berechtigung an der Rechtsordnung oder mehr an soziologischen Voraussetzungen orientiert – sowohl die in ihrem Wohl gefährdeten Kinder als auch deren Eltern als Vertrauensberechtigte in Betracht kommen, nicht jedoch Nachbarn oder sonstige Außenstehende, denen das Tätigwerden der Jugendamtsmitarbeiter nur reflexartig zugute kommt. Der konkrete Nachweis des Vertrauens bzw. gar einer damit korrespondierenden Gefahrschaffung für die Rechtsgüter des Kindes ist nicht zu fordern. Es genügt insoweit bereits die Möglichkeit, dass durch die Fallübernahme eine Gefahr geschaffen wurde. Aus dem Umstand, dass sich die Übernahme der Schutzpflichten im Rahmen der Ausübung einer Tätigkeit eines Amtswalters vollzieht, folgen keine Beson-

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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derheiten. Die – vor dem Inkrafttreten des KICK – speziell gegen eine Garantenstellung von Jugendamtsmitarbeitern vorgebrachten Bedenken im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit des Aufgabenfeldes und die grundsätzlich mangelnde Befugnis, eigenhändig in das Geschehen innerhalb der Familie einzugreifen, verfingen bereits vor dem 1.10.2005 nicht. Um nicht durch einen Rückgriff auf die Garantenstellung als Amtswalter das Erfordernis der besonderen personalen Beziehung des Einstandspflichtigen zum gefährdeten Rechtsgut zu konterkarieren, ist zu fordern, dass der zur Betreuung der „Problemfamilie“ Berufene sachlich und örtlich zuständig, die Schwelle des § 1666 BGB überschritten und die Gefährdung grundsätzlich während seiner Dienstzeit aufgetreten ist. Eine Garantenstellung aufgrund Ingerenz ist zwar auch im Rahmen des Unterlassens theoretisch vorstellbar, wegen der von der überwiegenden Mehrheit zu Recht geforderten Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens und der hieraus folgenden Notwendigkeit, eine Garantenstellung nachzuweisen, jedoch im Ergebnis ohne praktische Relevanz. f) Eine Überwachergarantenstellung der Sozialarbeiter ist regelmäßig abzulehnen, da das staatliche Wächteramt um des Kindeswohls willen besteht. Dieses existiert nicht, um die Eltern als „potentielle Gefahrenquellen“ zu überwachen. g) Die Garantenpflichten sind nicht „qualitativ gesteigert“, weil sie sich aus mehreren Garantenstellungen herleiten, sondern sie sind lediglich in quantitativer Hinsicht umfangreicher. Die Delegation von Aufgaben führt zur Modifikation von Garantenpflichten, nicht aber zur Beendigung der Garantenstellung des Jugendamtsmitarbeiters. Die Pflicht zum eigenhändigen Einschreiten gerät zu einer solchen zur Benachrichtigung desjenigen, der nunmehr den unmittelbaren Kontakt mit der Familie pflegt. Zudem muss der delegierende Sozialarbeiter diese Person auswählen und bei entsprechenden Anhaltspunkten für Gefährdungslagen kontrollieren. Hieran können und konnten bereits vor dem 1.10.2005 etwaige „Freizeichnungsklauseln“ in Verträgen zwischen dem öffentlichen und dem freien Träger nichts ändern. Wird der Sozialarbeiter nachträglich sachlich oder örtlich unzuständig, so endet seine Garantenstellung. Die Garantenpflichten wirken jedoch insoweit fort, als er seinen Nachfolger umfassend und vollständig über die Sachlage in Kenntnis zu setzen hat. Die Überlastung des einzelnen Sachbearbeiters und eine in diesem Zusammenhang ergehende Überlastungsanzeige an den Vorgesetzten ändert nichts an der Garantenstellung bzw. an den Garantenpflichten. Eine im Lauf der Betreuung notwendig werdende Vertretung des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters entlässt diesen für die betreffende Zeitspanne aus seiner

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

Garantenposition. Ob er zur Auswahl seines Vertreters berufen ist, hängt von amtsinternen Regelungen ab: Sofern der Dienstvorgesetzte den Plan aufstellt, treffen den Sozialarbeiter keine Pflichten. Teambesprechungen oder gar Abstimmungen ändern nichts daran, dass der einzelne Amtswalter strafrechtlich für den Schutz des Kindes einzustehen hat, ebenso wenig wie eine Weisung seines Vorgesetzten, die diesen Schutz konterkariert oder eine erfolglose Benachrichtigung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII. h) Im Hinblick auf die Fahrlässigkeitsprüfung hat sich ergeben, dass es bis zum 30.9.2005 nahezu keine gesetzlichen Normen gab, die das konkrete Vorgehen des Jugendamts bei einer Kindeswohlgefährdung beschrieben – vielmehr setzten die meisten Regelungen die Sammlung und Bewertung der Fakten bereits voraus. Insoweit hat § 8a SGB VIII einige Änderungen bewirkt. Der bei der Entscheidung über Maßnahmen nach §§ 27 ff., 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. bzw. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII wegen der Unabsehbarkeit zukünftigen menschlichen Verhaltens anzunehmende verwaltungsrechtliche Beurteilungsspielraum ist grundsätzlich auch von den Strafgerichten zu respektieren. Dies ergibt die Rückführung der regelmäßigen verwaltungsrechtlichen Überprüfbarkeit exekutivischer Entscheidungen auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 19 Abs. 4 GG) und der Verweis auf die andersartige Sachlage im Strafrecht mit Blick auf das ultima-ratio-Prinzip. Ausnahmsweise darf die Judikative das Verhalten der Exekutive jedoch dann ex post als sorgfaltswidrig deklarieren, wenn sie schwere Beurteilungsfehler nachzuweisen vermag wie den Beurteilungsausfall, die schwere Fehlgewichtung oder die Reduzierung des Beurteilungsspielraums „auf Null“. Als sogenannte Verkehrsnormen kommen die Empfehlungen des Deutschen Städtetages in Betracht, soweit sie nicht schon durch das KICK im SGB VIII gesetzlich verankert wurden. Im Kontext der sogenannten differenzierten Maßfigur wurde bislang kontrovers diskutiert, ob der Einwand, der Sozialarbeiter habe „fachlich korrekt“ gearbeitet, von den Strafgerichten zu akzeptieren ist. Hier wurde nachgewiesen, dass sich die vertretenen Ansichten nur auf den ersten Blick unversöhnlich gegenüberstehen, und dass die Kontroversen vorrangig Kommunikationsproblemen geschuldet sind. Der Konflikt ist nach der hier entwickelten Ansicht durch einen Rückgriff auf das Grundgesetz zu lösen: Fachliche Standards sind dann zu akzeptieren, wenn sie den Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG entsprechen, welcher die Schutzpflichten des Staats gegenüber dem in seinem Wohl gefährdeten Kind verkörpert. Ist ein Sozialarbeiter angesichts der Fülle der ihm übertragenen Fälle nicht dazu in der Lage, den Schutz zu gewährleisten, dann hat er eine förmliche

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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Überlastungsanzeige zu formulieren und weiterzuleiten. Tut er dies, so genügt er hiermit seinen Sorgfaltspflichten. Im Hinblick auf die Rechtsfigur des erlaubten Risikos, das den Umfang der Sorgfaltspflichten begrenzt und speziell im Vertrauensgrundsatz verkörpert ist, gilt, dass das vorsätzliche Verhalten Dritter (z. B. der Eltern) nach allen vertretenen Ansichten im Sonderfall des fahrlässigen unechten Unterlassens in Garantenstellung nicht zu einer Entlastung führt. Die objektive Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs ist nur bei atypischen Kausalverläufen abzulehnen. Auf einen solchen deutet der Umstand hin, dass es an einem „inneren Zusammenhang“ zwischen der Ursache der Betreuung und dem eingetretenen Erfolg fehlt. Letztlich entscheidend sind jedoch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse. Bei der objektiven Vermeidbarkeit wurden zwei Gesichtspunkte näher behandelt. Zum einen ging es darum, dass das Rettungsgeschehen vor dem 1.10.2005 regelmäßig vom Verhalten eines Dritten (des Familienrichters, des Vorgesetzten, des Mitarbeiters des freien Trägers, der Teamkollegen) abhing und grundsätzlich auch heute noch davon abhängt. Diesbezüglich wurde herausgearbeitet, dass ein Verweis auf ein potentielles Fehlverhalten dieser Personen nichts daran ändert, dass sich im eingetretenen Erfolg die Pflichtwidrigkeit des Sozialarbeiters realisiert – dieser also bei wertender Betrachtung „sein Werk“ ist. Im Hinblick auf den Einwand der wahrscheinlich eingetretenen späteren Schädigung des Kindes wurde dargelegt, dass dieser Umstand nicht mehr Teil der zu bildenden Vergleichshypothese ist. i) Im Rahmen der Rechtswidrigkeit ist – sofern der Sozialarbeiter nicht bereits durch eine Überlastungsanzeige die objektive Sorgfalt gewahrt hat – die Möglichkeit einer rechtfertigenden Pflichtenkollision im Blick zu behalten. Bezüglich einer Weisung des Vorgesetzten wurde klargestellt, dass die Normen – seien es nun solche des Beamtenrechts oder tarifvertragliche Regelungen des öffentlichen Dienstes – grundsätzlich davon ausgehen, dass diesen Folge zu leisten ist. Die Pflichtenkollision ist damit bereits de lege lata entschieden worden. Richtigerweise muss das Gleiche zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung auch dann gelten, wenn der Sozialarbeiter Zweifel daran hegt, ob die Verwirklichung einer Weisung als strafrechtlich einwandfrei anzusehen ist. Etwas anderes gilt nur, wenn die Anhaltspunkte dafür, dass eine Straftat begangen wird, als evident zu bewerten sind. j) Im Rahmen der Schuld ist vor allem auf die subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit einzugehen, wobei auch hier das Übernahmeverschulden zu beachten ist. Der Einwand der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens verfängt in der Regel nicht.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

k) Die bedeutendste Irrtumskonstellation bei den untersuchten Sachlagen stellt der nach § 17 StGB zu beurteilende Gebotsirrtum dar. Dieser ist auch im Rahmen des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts denkbar, freilich unter der Prämisse, dass es beim fahrlässigen unbewussten Unterlassen um das potentielle Unrechtsbewusstsein geht. Um aus dem fehlenden Unrechtsbewusstsein die Schuldlosigkeit des Verhaltens herleiten zu können, ist es erforderlich, dass der Irrtum unvermeidbar war, vgl. § 17 S. 1 StGB. Der Sozialarbeiter hat stets einen Anlass, sich über die rechtlichen Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit zu erkundigen, da er in einer speziell geregelten Rechtsmaterie – dem SGB VIII – tätig wird. Entweder verschafft er sich diese Kenntnisse selbst, wobei er die Rechtsprechung der höherrangigen Gerichte zugrunde zu legen hat, oder er fragt bei einer Person nach, von der erwartet werden kann, dass sie umfassende Rechtskenntnisse besitzt. Hierfür kommen entweder Volljuristen oder Personen im Jugendamt in Betracht, die entsprechend geschult wurden. Hat der Sozialarbeiter keine derartigen Aktivitäten entfaltet, so ist maßgebend, ob er überhaupt die Möglichkeit besaß, sich die erforderlichen Informationen zu beschaffen. Ist dies zu bejahen, dann folgt aus § 17 S. 2 StGB lediglich ein fakultativer Strafmilderungsgrund. Ein Tatbestands- bzw. ein Erlaubnistatbestandsirrtum ist zwar auch beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt denkbar, wegen (der analogen Anwendung der Rechtsfolgen) des § 16 Abs. 1 S. 2 StGB entfaltet ein solcher Irrtum indes keine entlastende Wirkung, sondern er verlagert die Fahrlässigkeitsprüfung auf die Frage, ob der Irrtum auf einer Fahrlässigkeit beruht. l) Bei der Prüfung des vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts wurde herausgearbeitet, dass die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ebenso wie im Rahmen des aktiven Tuns vorzunehmen ist. Bei den hier einschlägigen Konstellationen kommt – sofern es sich nicht bereits um sogenannte eigenhändige Delikte handelt – nach allen vertretenen Abgrenzungstheorien in der Regel lediglich eine Gehilfenstellung des Sozialarbeiters in Betracht, wobei zu beachten ist, dass nur die Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB), nicht aber die Anstiftung durch Unterlassen begangen werden kann. Der hierfür erforderliche sogenannte Gehilfenvorsatz umfasst einerseits, dass der Jugendamtsmitarbeiter sich der Förderung der Haupttat durch sein Untätigbleiben bewusst ist und diesen Umstand zumindest billigt, und dass er andererseits mindestens bedingten Vorsatz im Hinblick auf die vorsätzliche Haupttat der Eltern aufweist. Für letzteres ist notwendig, dass er den wesentlichen Unrechtsgehalt der Tat erfasst, wozu zutreffenderweise auch der von den Eltern verwirklichte Tatbestand gehört. Liegt dem Vorstellungsbild des Sozialarbeiters von der Tat eine Norm mit niedrigerem Unrechtsgehalt zugrunde, dann kommt eine Bestrafung

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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wegen Beihilfe durch Unterlassen zu dieser Tat in Betracht, wenn zwischen der verwirklichten und der vorgestellten Tat ein Stufenverhältnis besteht. Möglich ist eine Beihilfe zum Versuch, nicht aber eine versuchte Beihilfe. Im Rahmen des Vorsatzes ist bei der erstgenannten Konstellation zu beachten, dass sich die Vorstellung des Gehilfen auf die vollendete Haupttat beziehen muss. Tut sie das nicht, so bleibt der Sozialarbeiter als bloßer agent provocateur im Hinblick auf die Beihilfe straflos.

3. Zu den sonstigen Jugendamtsmitarbeitern a) Sofern ein nicht unmittelbar fallzuständiger Jugendamtsmitarbeiter eine Information über eine „Problemfamilie“ nicht weiterleitet, ist nach allen vertretenen Abgrenzungstheorien von einem Unterlassen auszugehen. Hat er dem betreuenden Kollegen zu einem Abwarten geraten oder in einer Teambesprechung für ein solches Verhalten plädiert bzw. sogar seine Stimme dementsprechend abgegeben, so ist mit der sogenannten Schwerpunkttheorie ebenfalls von einem Unterlassen auszugehen. b) Auch die Kollegen des fallzuständigen Sozialarbeiters sind als Beschützergaranten anzusehen. Ebenso entfaltet das Gesetz ihnen gegenüber im Interventionsbereich des § 1666 BGB verpflichtende Wirkung. Die persönliche Verdichtung der Pflichtenstellung gerade bei diesem Amtswalter ist jedoch – im Gegensatz zum unmittelbar mit der Familie in Kontakt tretenden Sozialarbeiter – regelmäßig abzulehnen, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang gewinnt daher die Garantenquelle „Amtsträgerschaft“ entscheidende Bedeutung. Demnach ist dann von einer strafrechtlichen Einstandspflicht der nicht unmittelbar fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter auszugehen, wenn die Familie dem sachlichen und örtlichen, nicht notwendigerweise aber dem funktionellen Zuständigkeitsbereich des Sozialarbeiters unterfällt und die Interventionsschwelle des § 1666 BGB als überschritten anzusehen ist. c) Bei der Erlangung von Informationen beschränkt sich die Garantenpflicht auf deren Weiterleitung an den zuständigen Amtswalter. Im Rahmen der Erteilung von Ratschlägen oder der Teilnahme an Abstimmungen geht es darum, einen Rat zu geben, der dem staatlichen Schutzauftrag gerecht wird, bzw. eine diesem Anspruch genügende Abstimmung herbeizuführen. d) Die Prüfung, ob die objektive Sorgfaltspflicht verletzt wurde, bemisst sich wie bei den Jugendamtsmitarbeitern. Im wesentlichen ist auf die Empfehlungen des Deutschen Städtetages (und hierbei insbesondere die Punkte 3.112 und 3.113) und auf die sogenannte differenzierte Maßfigur abzustellen.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

Dem Jugendamtsmitarbeiter ist – wie seinem zuständigen Kollegen – ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen, den der Strafrichter zu respektieren hat, sofern nicht schwerwiegende Fehler feststellbar sind. Hat der Sozialarbeiter eine ihm zur Kenntnis gelangte Information an den zuständigen Kollegen weitergeleitet, so kann er – sofern nichts Gegenteiliges erkennbar ist – darauf vertrauen, dass dieser die notwendigen Schritte unternehmen wird. Es gilt insoweit der Vertrauensgrundsatz. Bei der objektiven Voraussehbarkeit sind abermals die Umstände des Einzelfalls maßgebend. Im Rahmen der objektiven Vermeidbarkeit entlastet den Jugendamtsmitarbeiter nicht der Einwand, selbst wenn er bei einer Abstimmung „richtig“ votiert hätte, hätte sich die Mehrheit des Teams gegen ein Tätigwerden ausgesprochen. Strukturell handelt es sich auch hier um ein Rettungsgeschehen, das vom Verhalten Dritter abhängt, und bei dem nach den vom BGH im „Lederspray-“ und „Politbürofall“ getätigten Äußerungen in wertender Betrachtung von einem rechtmäßigen hypothetischen Verhalten der anderen zur Rettung berufenen Personen auszugehen ist.

4. Zu den Dienstvorgesetzten im Jugendamt a) Bei der Untersuchung der Risiken der leitenden Jugendamtsmitarbeiter kommt zum einen in Betracht, dass diese nicht die für ein Vorgehen der zuständigen Sachbearbeiter zum Schutz des Kindeswohls erforderlichen Rahmenbedingungen gewährleisten, und zum anderen, dass sie Dienstanweisungen erteilen, die den gesetzlichen Pflichten des fallzuständigen Sozialarbeiters zuwiderlaufen. Im erstgenannten Fall ist nach allen zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen vertretenen Theorien von einem Unterlassen, im letztgenannten von einem aktiven Tun auszugehen. b) Auch hier ist eine Beschützergarantenstellung denkbar, die sich auf die Verwirklichung des staatlichen Wächteramts durch die Exekutive stützt. Eine Verdichtung der im Interventionsbereich des § 1666 BGB pflichtenbegründenden sozialgesetzlichen Normen in der Person des Leitungsverantwortlichen entfällt in der Regel, da kein persönlicher Kontakt zu der Familie besteht. Indes kommt unter den gleichen Voraussetzungen wie bei den fallzuständigen Jugendamtsmitarbeitern eine auf die Amtsträgerschaft gestützte Garantenstellung in Betracht. c) Eine Überwachergarantenstellung kann aus § 357 StGB hergeleitet werden, der den allgemeinen Rechtsgedanken beinhaltet, dass im Bereich der öffentlichen Verwaltung der Vorgesetzte stets als zur Verhinderung betriebsbezogener Straftaten der ihm Unterstellten anzusehen ist.

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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d) Die Garantenpflichten richten sich auf die Gewährleistung angemessener Rahmenbedingungen (bei der Beschützergarantenstellung) bzw. auf die Sicherstellung eines rechtmäßigen Vorgehens der Jugendamtsmitarbeiter (im Hinblick auf die Überwachergarantenstellung). e) Die Fahrlässigkeit beurteilt sich nach den Empfehlungen des Deutschen Städtetages und der „differenzierten Maßfigur“. Abermals kann der Verweis auf die Abhängigkeit des rettenden Verhaltens vom rechtmäßigen Verhalten Dritter – in diesem Zusammenhang von dem der budgetierenden Gremien bzw. des angewiesenen Jugendamtsmitarbeiters – nicht verfangen: Jeweils ist ein rechtmäßiges Verhalten zu unterstellen. Sofern der Leitungsverantwortliche Dienstanweisungen erteilt, ist zu beachten, dass ihm – wie auch dem angewiesenen Sachbearbeiter – ein Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die zu treffenden Maßnahmen eingeräumt ist, den der Strafrichter vorbehaltlich schwerwiegender Fehler zu respektieren hat.

5. Zu den administrativ Verantwortlichen a) Unter den administrativ Verantwortlichen sind einerseits die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses und andererseits die der Vertretungskörperschaft des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe zu verstehen. b) Grundsätzlich ist – sofern sie zu wenig Geld für die Betreuung von „Problemfamilien“ zur Verfügung stellen – ein Unterlassen zu konstatieren. Nur dann, wenn durch Budgetkürzungen bereits laufende Maßnahmen abgebrochen werden, die die Sphäre des Kindes bereits erreicht hatten, ist von einem aktiven Tun auszugehen. c) Da auch die für die finanzielle Ausstattung verantwortlichen Gremien Teil der das staatliche Wächteramt repräsentierenden Exekutive sind, ist auch insoweit die Annahme einer Beschützergarantenstellung naheliegend. Jedoch sind die Voraussetzungen keiner einzigen denkbaren Garantenquelle erfüllt: Die tatsächliche Schutzübernahme scheitert am mangelnden persönlichen Kontakt zur Familie, die Amtsträgergarantenstellung verfängt nicht wegen der fehlenden sachlichen Zuständigkeit für die konkreten Hilfs- bzw. Eingriffsmaßnahmen, und die Ingerenz scheitert am Beurteilungsspielraum der Amtswalter bei der Finanzplanung, der nur selten zur Rechtswidrigkeit der Planung nach § 79 SGB VIII führt. d) Sofern ein aktives Tun anzunehmen ist, muss dieser Spielraum überdies bei der Ermittlung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung beachtet werden. Nicht durchgreifen kann allerdings das Argument, der Beschluss wäre auch bei einer rechtmäßigen Stimmabgabe zustande gekommen – hier gilt wiederum

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

der Grundsatz, dass das hypothetische Verhalten Dritter normativ zu bestimmen und als rechtmäßig zu unterstellen ist.

6. Zu den Mitarbeitern der freien Träger a) Bei der Beurteilung des Verhaltens der fallzuständigen Mitarbeiter der freien Träger ist in der Regel von einem Unterlassen auszugehen. b) Auch hier ist die Handlungsfähigkeit grundsätzlich zu bejahen. Macht der Sozialarbeiter geltend, er habe nicht die für die Betreuung der Familie erforderlichen Kenntnisse besessen, so ist auf die Erkennbarkeit dieses Unvermögens bei der Fallübernahme abzustellen und die Handlungsfähigkeit hierauf zu stützen. c) Der Familienhelfer ist der Kategorie der Beschützergarantenstellung zuzuordnen, da er der Exekutive bei der Erfüllung des staatlichen Wächteramts zur Seite steht. d) Indes kann aus § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII keine pflichtenbegründende Wirkung erwachsen, weil sich Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, in dessen Lichte die Norm auszulegen ist, nicht auf die freien Träger bezieht (siehe Art. 1 Abs. 3 GG). Aus diesem Grund entfällt auch die Garantenquelle der Amtsträgerschaft, die eine bindende Norm voraussetzt. e) Allerdings bietet die tatsächliche Schutzübernahme eine Möglichkeit, um eine strafrechtliche Einstandspflicht herzuleiten. Das tatsächliche Moment liegt dabei in der Kontaktaufnahme mit der Familie begründet, das normative Moment stellt das Vertrauendürfen des Kindes, der Eltern bzw. des pflichtendelegierenden Jugendamtsmitarbeiters dar. f) Die Garantenpflichten ergeben sich vorrangig aus dem Delegationsvertrag, aber auch darüber hinaus stehen – und standen bereits vor dem Inkrafttreten des KICK – der Weiterleitung von Informationen keine datenschutzrechtlichen Bedenken entgegen. g) Ob ein Familienhelfer fahrlässig agiert hat, richtet sich vorrangig nach der sogenannten differenzierten Maßfigur. Auch hierbei ist das Problem, ob „Standards der Fachlichkeit“ anzuerkennen sind, durch deren Kontrolle anhand der Verfassung zu lösen. Zudem ist den Familienhelfern der verwaltungsrechtliche Beurteilungsspielraum zuzubilligen, den auch die Jugendamtsmitarbeiter innehaben, d.h. der Strafrichter ist auch insoweit nur befugt, schwerwiegende Beurteilungsfehler für sorgfaltspflichtwidrig zu erklären. Der Umfang der Sorgfaltspflichten des Mitarbeiters des freien Trägers wird durch den Vertrauensgrundsatz eingeschränkt – er darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die ihm von dem delegierenden Jugendamtsmitarbeiter mitgeteilten

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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Fakten zutreffen und dass letzterer jenseits der übertragenen Pflichten selbst tätig werden wird. Im Hinblick auf Weisungen des Vorgesetzten des Familienhelfers ist zu beachten, dass dieser – sofern sich das Arbeitsverhältnis nicht nach dem BAT bemisst – nicht über die allgemeine arbeitsrechtliche Gehorsamspflicht hinaus gebunden ist. Dem liegt die Wertung zugrunde, dass nur ein geringeres Vertrauendürfen in die Richtigkeit der Weisung gerechtfertigt ist. Sofern der Familienhelfer Zweifel an der Rechtmäßigkeit hegt, ist er zum Widerspruch und gegebenenfalls zur Weigerung, die Weisung auszuführen, verpflichtet. Angesichts der mannigfaltigen Problemlagen bei der Erbringung von Leistungen im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe ist es denkbar, dass dem Mitarbeiter des freien Trägers eine Übernahmefahrlässigkeit angelastet wird. Diesem Vorwurf kann er nur entgehen, wenn er die Betreuung vor deren Übernahme ablehnt, bzw. wenn er die Überforderung nach dem Betreuungsbeginn gegenüber dem delegierenden Jugendamtsmitarbeiter kundtut. Schließlich war und ist auch nach dem Inkrafttreten des KICK bei der Prüfung der objektiven Vermeidbarkeit wiederum ein Rekurs auf das hypothetische Fehlverhalten Dritter (des Jugendamtsmitarbeiters, Vorgesetzten, Familienrichters) wegen des Grundsatzes der normativen Bestimmung des Drittverhaltens verwehrt. h) Bei der Beurteilung des Risikos der Leitungsverantwortlichen der freien Träger wurde herausgearbeitet, dass im Falle von Organisationsmängeln von einem Unterlassen auszugehen ist. Eine Beschützergarantenstellung kommt mangels Garantenquelle nicht in Betracht. Indes ist auch bei privatrechtlichen Dienstverhältnissen eine Überwachergarantenstellung für das Verhalten der Untergebenen anzunehmen, die sich auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten beschränkt. Im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung ist den Leitungsverantwortlichen der freien Träger ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen. i) Bei der Dienstanweisung ist zwar ein aktives Tun anzunehmen. An der Reichweite des Prüfungsumfangs bei der Fahrlässigkeit ändert dies jedoch nichts.

II. Bewertung der dokumentierten Entscheidungen Im Lichte dieser Ergebnisse sind die im ersten Teil der Arbeit vorgestellten Fälle wie folgt zu bewerten:2 2 Dabei ist zu beachten, dass zum Zeitpunkt der Entscheidungen die angeführten Empfehlungen bzw. Neuregelungen infolge des KICK noch nicht existierten.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

1. Der Fall „Laura Jane“ a) In den Verfahren im Fall „Laura Jane“ wurde die Handlungsfähigkeit der angeklagten Sozialarbeiterin zutreffend trotz des Antritts der Urlaubsreise und der möglicherweise bestehenden Überforderung nicht in Zweifel gezogen. b) Auch ist dem AG Osnabrück bzw. OLG Oldenburg insoweit beizupflichten, als sie eine Garantenstellung der Jugendamtsmitarbeiterin angenommen haben. Leider versäumten es beide Gerichte, herauszuarbeiten, dass ein Fall der Beschützergarantenstellung vorlag und dass sich die aus gesetzlichen Normen herzuleitende Pflichtenstellung speziell in der Person der fallzuständigen Sozialarbeiterin verdichtet hatte. Hier kam die tatsächliche Übernahme der Betreuung der Familie sowie eine Amtsträgergarantenstellung in Betracht. c) Diese Garantenstellung erlosch auch nicht mit der Delegation der Betreuung an die Familienhelferin des freien Trägers. Aus diesem Umstand ist lediglich eine Modifikation der Garantenpflichten herzuleiten, dergestalt, dass aus der Pflicht zur eigenhändigen Betreuung eine solche zur Auswahl der geeigneten Mitarbeiterin und zu deren Kontrolle bei konkreten Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdungen bestand. Derartige Anhaltspunkte ergaben sich hier einerseits aus dem Klinikaufenthalt und den in diesem Zusammenhang von dem behandelnden Arzt geäußerten Pflegedefiziten und andererseits aus der vorangegangenen Verwahrlosung des Haushalts, die die Sozialarbeiterin mit eigenen Augen gesehen hatte. d) Im Hinblick auf die Entscheidung der Jugendamtsmitarbeiterin, eine sozialpädagogische Familienhilfe einzusetzen, äußerte das AG Osnabrück, diese Maßnahme sei im vorliegenden Fall nicht geeignet gewesen, die Kindeswohlgefährdung zu beseitigen. Damit hat es seine Entscheidung an die Stelle der Sozialarbeiterin gesetzt und den § 27 Abs. 1 SGB VIII zu entnehmenden Beurteilungsspielraum verkannt. Ein Fall, in dem die Judikative der Exekutive ausnahmsweise ein Fehlverhalten zu bescheinigen vermag, lag hier nicht vor. Insbesondere ist nicht – wie das AG Osnabrück meint3 – davon auszugehen, dass eine Reduktion des Spielraums „auf Null“ anzunehmen war; hieran ändern auch die eindringlichen Warnungen des behandelnden Arztes nichts. Wie die an die Mutter gerichtete Warnung, ein erneutes Verwahrlosen des Haushalts dürfe kein zweites Mal vorkommen, zeigt, hat sich die Sozialarbeiterin durchaus mit der Möglichkeit einer Fremdunterbringung des Kindes befasst, sodass kein Ausfall des Beurteilungsspielraums anzunehmen ist. Insoweit ist den Ausführungen des LG Osnabrück beizupflichten, das eine Zurückhaltung der Judikative anmahnt.4

3 4

Urteil abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 68. Urteil abgedruckt bei Mörsberger/Restemeier (Hrsg.), Helfen mit Risiko, S. 126.

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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Indes verletzte die Sozialarbeiterin die Sorgfalt, die ein besonnener Jugendamtsmitarbeiter bei einer Delegation aufwenden muss, indem sie trotz der konkreten Anhaltspunkte für familiäre Krisen keine Nachfrage über den Fallverlauf tätigte und in den Urlaub fuhr. e) Im Hinblick auf den vom OLG Oldenburg angesprochenen unvermeidbaren Gebotsirrtum kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, insbesondere auf die Frage, ob die Sozialarbeiterin sich bei einer vertrauenswürdigen Person über die ihr obliegenden Pflichten im Rahmen einer Delegation erkundigt hatte, bzw. wer den Vertrag zwischen dem SKF und dem ASD geschlossen hatte, in dem die Freizeichnungsklauseln enthalten waren, und ob sie überhaupt die Möglichkeit besessen hätte, im Fall der Einholung von Erkundigungen eine korrekte Auskunft zu erhalten. Leider wurden diese Fragen durch die Einstellung des Verfahrens nicht abschließend geklärt. 2. Der Fall „Jenny“ a) Im Fall „Jenny“ wurden dem Lüneburger Sozialarbeiter zunächst sowohl der Irrtum über die Reichweite der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten als auch die fehlende Inkenntnissetzung der Betreuer des Stuttgarter Weraheims beim Umzug der Familie vorgeworfen. b) Zutreffend hat das OLG Stuttgart herausgearbeitet, dass der Sozialarbeiter als Beschützergarant kraft tatsächlicher Übernahme beruflicher Pflichten anzusehen ist. c) Zwar endete die Zuständigkeit des Sozialarbeiters mit dem Wegzug der Familie aus dem örtlichen Einzugsbereich des Lüneburger Jugendamts, indes wirkten seine Pflichten insoweit fort, als er den nunmehr zuständigen Sozialarbeiter umfassend über die Geschehnisse in Lüneburg (insbesondere über die Bisse des Kindes und den zwischenzeitlichen Aufenthalt in einer Pflegefamilie) zu unterrichten hatte. d) Die Pflicht zur Informationsweiterleitung ist auch in den Empfehlungen des Deutschen Städtetages enthalten. Indem der Sozialarbeiter dies unterließ, agierte er fahrlässig.5 e) Hieran änderte auch der Umstand nichts, dass das Kind erst nach Jahren geschädigt wurde und dass Vorsatztäter, die nicht der Familie zuzuordnen waren, die Schädigung bewirkten. Bezüglich Jennys Mutter scheiterte ein „Regressverbot“ bereits an ihrer mangelnden Vollverantwortlichkeit, und im Hinblick auf die von ihr engagierten befreundeten Babysitter war maßgebend, dass

5 Vgl. die Punkte 3.112 und 3.113, abgedruckt in ZfJ 2004, 188 sowie im Anhang. Vgl. nunmehr auch § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

der Jugendamtsmitarbeiter als Beschützergarant gerade zum Schutz der Rechtsgüter des Kindes berufen war. f) Bezüglich der objektiven Voraussehbarkeit ist anzumerken, dass sich das Geschehen wohl nicht als völlig unvorhersehbar darstellte. Ob aber auch konkret die Tötung voraussehbar war, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. g) Der Irrtum über den Umfang der ihm von Gesetzes wegen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ist mit dem OLG Stuttgart als vermeidbarer Gebotsirrtum einzustufen: Ein Blick in das Gesetz hätte dem Sozialarbeiter aufgezeigt, dass die Anregung sorgerechtlicher Maßnahmen gerade nicht von der Zustimmung der Eltern abhängt (vgl. § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F., §§ 1666 f. BGB). h) Im Hinblick auf die strafrechtliche Einstandspflicht des Stuttgarter Mitarbeiters des Weraheims wurde leider nicht näher darauf eingegangen, dass dieser bei einem freien Träger beschäftigt war. Im Ergebnis zutreffend wurde jedoch auch bei ihm die Beschützergarantenstellung kraft tatsächlicher Fallübernahme bejaht. Zwar endete dessen Garantenstellung mit dem Auszug der Mutter aus dem Heim, indes wirkten auch hier die Einstandspflichten insoweit nach, als er der nunmehr zuständigen Stuttgarter Jugendamtsmitarbeiterin umfassend über die Geschehnisse in Lüneburg hätte berichten müssen, von denen er Kenntnis erlangt hatte. i) Durch diese Garantenpflichtverletzung verstieß der Sozialarbeiter zugleich gegen die Empfehlungen des Deutschen Städtetages6 sowie gegen § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII, sodass die objektive Sorgfaltspflichtverletzung indiziert ist. Der eingetretene tatbestandliche Erfolg war überdies objektiv vermeidbar – insbesondere ist zu unterstellen, dass die mit dem Auszug der Familie aus dem Heim zuständig gewordene Sozialarbeiterin die erforderlichen Schritte zur schnellstmöglichen Einleitung einer Tagesbetreuung von Jenny ergriffen hätte. j) Ob der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs dem Stuttgarter Betreuer tatsächlich nicht voraussehbar war, wie das LG Stuttgart ausführte, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. 3. Der Fall „Tanja“ a) Im Fall „Tanja“ nahm das OLG Düsseldorf eine Einstandspflicht der Sozialarbeiterin gemäß § 170d StGB a. F. (= § 171 StGB n. F.) an. Diese bemisst sich wie diejenige nach § 13 Abs. 1 StGB. Die Sozialarbeiterin hatte nach dem „Erstkontakt“ mit der Vertrauenslehrerin die Fallbetreuung übernommen. Obgleich sie sich weigerte, über die Erteilung 6

Vgl. Punkt 3.6, abgedruckt in ZfJ 2004, 190 sowie im Anhang.

B. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse

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von Informationen hinausgehende Maßnahmen zu ergreifen, oblag ihr eine Einstandspflicht, weil das Vertrauendürfen des Kindes bereits mit dem Telefonat begründet wurde und keines tatsächlichen Nachweises bedurfte. b) Wie jedoch das OLG Düsseldorf ausführte, konnte der erforderliche Eventualvorsatz nicht nachgewiesen werden. c) Im Hinblick auf die (Quasi-)Kausalität kam wohl angesichts der vagen Informationslage nur das Anbieten von Hilfsmaßnahmen gegenüber den Eltern in Betracht. Sofern hier konkrete Anhaltspunkte dafür bestanden, dass derartigen Hilfsangeboten kein Erfolg beschieden gewesen wäre, war mit dem OLG Düsseldorf hilfsweise auch die (Quasi-)Kausalität abzulehnen. 4. Der Fall „Dominic“ a) Im Fall „Dominic“ wurde die Garantenstellung zu Recht bejaht. b) Die Sozialarbeiterin verletzte durch die bloße schriftliche Aufforderung zu einem Gespräch, nachdem sie die vermutlich drogenabhängige Mutter nicht erreicht hatte, sowohl ihre Garanten- als auch ihre Sorgfaltspflichten.7 Schließlich stellt die Vernachlässigung keine atypische Folge der Drogensucht dar. Der Erfolg ist daher als objektiv voraussehbar einzustufen. Dem Urteil des AG Leipzig ist aus diesem Grund zuzustimmen. 5. Der Fall „Vanessa“ a) Im Fall „Vanessa“ wurde die Handlungsfähigkeit des Sozialarbeiters zu Recht nicht wegen der offenkundigen Überforderung oder Abstimmungen mit Kollegen, die zum Ergebnis hatten, dass das Kind bei der Mutter bleiben sollte, abgelehnt. b) Hier ergab sich eine Beschützergarantenstellung aus der tatsächlichen Übernahme der gesetzlichen Pflichten. c) Das AG Mönchengladbach irrte jedoch bei der Annahme, die Garantenpflichten hätten auch eine eigenhändige Inobhutnahme des Kindes erfordert, da § 42 Abs. 3 SGB VIII a. F. diese Möglichkeit zur Zeit der Entscheidung8 nicht vorsah.

7 Vgl. die Empfehlungen des Deutschen Städtetages, Punkt 3.12 (abgedruckt in ZfJ 2004, 188 sowie im Anhang): „Gibt es Anhaltspunkte für eine gegenwärtige oder akut drohende Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung, so ist der Hausbesuch unverzüglich durchzuführen.“ 8 Anders ist ist die Rechtslage seit dem 1.10.2005 zu beurteilen. Siehe §§ 8a Abs. 3 S. 2, 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b) SGB VIII.

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

d) Bezüglich der Fahrlässigkeitsprüfung ist anzumerken, dass es sich hierbei möglicherweise um einen Fall handelt, bei dem der von § 50 Abs. 3 SGB VIII a. F. eingeräumte Beurteilungsspielraum „auf Null reduziert“ war: Angesichts der bekannten psychischen Erkrankung der Mutter, mehrerer erfolgloser Therapien, diverser Krisen und besorgniserregender Hinweise der Großmutter kam vorliegend wohl keine andere Möglichkeit in Betracht als die Trennung von Mutter und Kind. Der Einwand, es wäre nicht schnell genug eine einstweilige Anordnung zu erzielen gewesen, verfängt im Lichte der Aussagen des BGH im „Politbürofall“ nicht, wonach ein rechtmäßiges Handeln der ebenfalls zur Rettung bestellten Personen zu unterstellen ist. e) Die Verurteilung ist daher im Ergebnis zu Recht erfolgt. 6. Der Fall „Dennis“ a) Auch im Fall „Dennis“ oblag den zuständigen Sozialarbeitern, welche die Familie aufgesucht hatten, eine Beschützergarantenstellung kraft tatsächlicher Schutzübernahme. b) Sie verletzten die ihnen obliegenden Garanten- und Sorgfaltspflichten, als sie keinen weiteren Hausbesuch unternahmen, nachdem auf zwei erfolglose Schreiben hin dem angemahnten Vorzeigen des Untersuchungshefts für Dennis nicht Folge geleistet wurde. Auch spricht einiges für die objektive Voraussehbarkeit des eingetretenen Erfolgs: So war das Kind bei dem Hausbesuch blass, dünn und an einer Pilzinfektion – einem möglichen Indiz für eine vernachlässigte Körperpflege – erkrankt. Indes kann hier mangels näherer Informationen kein abschließendes Urteil gefällt werden. Auch insoweit sind die Umstände des Einzelfalls maßgebend.

C. Resümee Bereits in der Einleitung wurde angesprochen, dass einige der vorstehend erörterten Kontroversen dem Disput von Sozialrecht und Strafrecht geschuldet sind, so z. B. diejenige um die Geltung „fachlicher Standards“ im strafrechtlichen Verfahren. Der Grund hierfür liegt – speziell beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt – darin begründet, dass dieses nicht mithilfe streng naturwissenschaftlich orientierter Begrifflichkeiten, sondern im wesentlichen normativ zu bestimmen ist. Damit werden Wertungsfragen relevant, beispielsweise ob jemand rechtlich dafür einzustehen hat, dass ein bestimmter Erfolg nicht eintritt sowie, ob ein Verhalten dem eines besonnenen Amtswalters entspricht. Die Antworten hierauf sind naturgemäß abhängig vom persönlichen Horizont des Betrachters. Bislang waren die Strafverfolgungsorgane bei der Entscheidung, ob

C. Resümee

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eine bestimmte Strategie in der Sozialarbeit als fahrlässig zu charakterisieren war, im wesentlichen auf sich allein gestellt. Wie jedoch die Ausführungen im ersten Teil der Arbeit bei der Vorstellung aktueller Projekte zum Themenkreis „Kindeswohlgefährdung“ verdeutlichen,9 realisieren sowohl der Gesetzgeber und die Wissenschaft als auch Interessenverbände wie der Deutsche Städtetag und die Praxis nach und nach den – nicht nur in den Reihen der Judikative, sondern auch an der „Sozialarbeiterfront“ zu vernehmenden – Wunsch nach Handlungssicherheit.10 Hiermit wird zugleich den Strafverfolgungsorganen das erforderliche „Handwerkszeug“ bereitgestellt, mithilfe dessen das Handeln der Sozialarbeiter ex post überprüft werden kann. Mustert man die angeführten Fallkonstellationen durch, so haben aber auch bislang ergangene Verfahren zu im wesentlichen nachvollziehbaren Ergebnissen geführt. Die eingangs angeführte Äußerung H.-J. Albrechts, die bislang ergangenen Strafverfahren seien im wesentlichen kriminalpolitischen Erwägungen geschuldet gewesen,11 wurde daher widerlegt. Wie eine Gesamtschau der Teile zwei bis vier der vorliegenden Arbeit ergibt, sind es überdies keinesfalls lediglich die „Kleinen“, die gehängt werden, während die „Großen“ laufen gelassen werden. Sofern ein Risiko der administrativ Verantwortlichen vor dem Hintergrund des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts als gering einzustufen ist, dann ist dies nicht politischen Gründen, sondern dem Umstand geschuldet, dass eine Garantenstellung eine gewisse persönliche Beziehung von Opfer und Handlungsverpflichtetem voraussetzt.12 Abgesehen davon laufen diese Personengruppen – wie der Fall des Pflegekindes „Alexander“ erst jüngst gezeigt hat – zumindest Gefahr, nach Amtshaftungsgrundsätzen belangt zu werden.13 Wie die Untersuchung überdies verdeutlicht, sind die fallzuständigen Mitarbeiter – seien diese nun beim ASD, dem Jugendamt oder bei einem Träger der freien Jugendhilfe beschäftigt – keinesfalls „Sündenböcke“, die bei ihrer anspruchsvollen Arbeit, die zunehmend an den ökonomischen Gegebenheiten zu scheitern droht, „mit einem Bein im Gefängnis stehen“. Vielmehr ist klar geworden, dass im Fall von Überforderung und Überlastung rechtzeitig eine Überlastungsanzeige erfolgen muss, um einer Fahrlässigkeitshaftung zu entgehen. Hierdurch wird nicht die befürchtete „Absicherungsmentalität“ gefördert, sondern es werden im Gegenteil Verbesserungen in der Verwaltungsstruktur angeregt, die im Ergebnis dem Schutz des Kindeswohls dienlich sein werden. 9

Siehe dazu oben Teil 1 A. VIII. 2. a). So auch das DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2005, 233. 11 H.-J. Albrecht, Saarbrücker Memorandum, S. 193. 12 Sollte der Ruf nach Strafen für diese Berufsgruppen lauter werden, wäre insoweit der Gesetzgeber gefordert. 13 BGH NJW 2005, 68 ff. 10

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Teil 5: Zusammenfassung und Ergebnisse

Aber auch abgesehen von diesem Teilaspekt lautet das beste Mittel zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen wie zum Kinderschutz in Fällen von Kindeswohlgefährdungen schlicht: Information. Wie deutlich wurde, ist diese in nahezu allen Sachlagen essentiell – z. B. bei Urlaub, Krankheit, Wechsel der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit, Delegation sowie bei Teamabsprachen. Zwar ist hierbei stets das grundsätzliche Dilemma der Jugendhilfe zu beachten, das darin besteht, dass mit einem übereilten und zu harschen Vorgehen der Hilfeprozess und damit der Kinderschutz erschwert werden. Indes mehren sich auch insoweit die Bemühungen, hier eine angemessene Balance zu finden.14 Zudem spielt die Dokumentation von Betreuungsverläufen eine große Rolle. Diese beiden wichtigen Gesichtspunkte mit dem Verweis auf das Datenschutzrecht einzugrenzen, bedeutete im Ergebnis wegen der in Frage stehenden Rechtsgüter des Kindes die nicht hinnehmbare Konsequenz, dass das auf staatlichen Schutzpflichten gegenüber dem Kind gegründete staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) de facto durch einen schematischen Rekurs auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausgehebelt würde. Wie die Untersuchung zeigt, genügten – entgegen bisweilen zu lesenden Stimmen – auch bereits die bis zum 30.9.2005 geltenden Regelungen, um im Gefährdungsfall eine umfassende Information der zuständigen Stellen gewährleisten zu können. Nichtsdestotrotz sind die klarstellenden Regelungen des KICK zu begrüßen. Die Forderung nach Klarstellung lässt sich darüber hinaus generell auf die Zusammenarbeit von Familiengericht, freien Trägern und Jugendamt erweitern. Auch insoweit stellen die Neuerungen im Zusammenhang mit dem KICK, wie z. B. die frühzeitige Einschaltung des Familiengerichts (vgl. § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII) oder das Gebot kollektiver Risikoabwägung (§ 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII), einen Fortschritt dar. Hiermit wird nicht nur den Sozialarbeitern und den Strafverfolgungsorganen, sondern vor allem den gefährdeten Kindern selbst ein großer Dienst erwiesen.

14 Zu Strategien für ein behutsames und dennoch effektives Vorgehen in Fällen vermuteter Kindeswohlgefährdung jüngst Kohaupt, JAmt 2005, 218 ff.

Anhang Deutscher Städtetag: Strafrechtliche Relevanz sozialarbeiterischen Handelns Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls (Stand: 1. April 2003) Gliederung 1. 2. 3. 3.1. 3.11 3.111. 3.112 3.113 3.12 3.2 3.21 3.22

Anlass für die Empfehlungen Zielsetzung der Empfehlungen Die Empfehlungen im Einzelnen Behandlung von Mitteilungen der Kindeswohlgefährdung Erste Sofortreaktion Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden Eingang der Erstmitteilung an den ASD Eingang der Erstmitteilung beim Jugendamt außerhalb des ASD Hausbesuch als erste Maßnahme Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse – Risikoeinschätzung – Risikoeinschätzung bei bisher nicht bekannten Familien Risikoeinschätzung bei Familien, die bereits im Rahmen der Jugendhilfe betreut werden 3.3 Risikoeinschätzung im Kontext der Zusammenarbeit mit der Familie und der Hilfeplanung 3.31 Bei bestehender Hilfeakzeptanz 3.32 Bei nicht bestehender Hilfeakzeptanz 3.321 Eine akute Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung liegt nicht vor 3.322 Eine akute Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung liegt vor 3.4 Anrufung des Familiengerichts 3.5 Dokumentation 3.6 Fallabgabe und Fallübernahme durch Zuständigkeitswechsel 3.7 Leistungserbringung durch einen Träger der freien Jugendhilfe 3.71 Leistungsvereinbarung mit Mitteilungspflichten 3.72 Leistungsvereinbarung ohne Mitteilungspflichten 3.8 Datenschutz

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Anhang 1. Anlass für die Empfehlungen

Bereits im Jahr 1999 hat die Konferenz der Großstadtjugendämter beim Deutschen Städtetag in einer Arbeitsgruppe aus dem Kreis ihrer Mitglieder eine ,Standortbestimmung der Jugendämter zur Qualitätssicherung erzieherischer Hilfen insbesondere bei Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch‘ vorgenommen, der der Sozialausschuss/Arbeitskreis ,Familie und Jugend‘ in seiner Sitzung am 27./28. Mai 1999 zugestimmt hat. Ziel dieser Standortbestimmung war es, über den rechtlichen und fachlichen Rahmen der Arbeit von Jugendämtern zu informieren und Aussagen zu ihrer Qualität zu machen. Angesichts der zwischenzeitlich stattgefundenen Strafverfahren gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern (z. B. Osnabrück, Stuttgart, Dresden, Leipzig, Mannheim) in Fällen der Kindesvernachlässigung, der Kindesmisshandlung oder des Kindestodes wird es im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter für notwendig erachtet, in einem weiteren Schritt Standards zum fachlichen Verfahren festzulegen, die das strafrechtliche Risiko der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begrenzen und überschaubar machen. 2. Zielsetzungen der Empfehlungen Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl ist ein Ziel der Kinder- und Jugendhilfe (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII). Diese Aufgabe gewinnt besondere Bedeutung im Zusammenhang mit einer Kindeswohlgefährdung. Kindesschutz als Maßnahme gegen Kindeswohlgefährdung hat eine doppelte Aufgabenstellung: a) Zum einen geht es darum, Kindeswohl dadurch zu sichern, dass vor allem Eltern1 in ihrer Erziehungsverantwortung unterstützt und gestärkt werden (Hilfe durch Unterstützung). Die Erziehung bleibt bei den Eltern. b) Daneben sichert die Jugendhilfe anstelle der Eltern, falls diese nicht bereit oder in der Lage sind, durch Intervention das Wohl des Kindes. Dies geschieht durch Anrufung des Familiengerichts mit dem Ziel einer Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB und anschließender Inanspruchnahme von Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie durch den Pfleger oder Vormund nach §§ 27, 33, 34 SGB VIII oder in akuten Notfällen durch Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII oder durch Herausnahme nach § 43 SGB VIII (Hilfe durch Intervention). Insofern ist das staatliche Wächteramt in dieser Doppelfunktion zu sehen: Das staatliche Wächteramt beinhaltet – Hilfe für das Kind durch Unterstützung der Eltern und – Hilfe für das Kind durch Intervention, wobei für die Wahl der Mittel der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgeblich ist. Die sachgerechte Erledigung dieser Pflichtaufgaben erfordert die Einhaltung fachlicher Bearbeitungs- und Verfahrensstandards. 1 Die Empfehlungen nennen durchgehend die Eltern; sie gelten natürlich entsprechend, wenn es um sonstige Personensorgeberechtigten geht.

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Eine Entscheidung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt zunächst eine Einschätzung der Art und Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls voraus. Dabei ist zwischen Fällen mit einer wenigen intensiven bis geringfügigen oder nicht akut drohenden Gefährdung des Kindeswohls unterhalb der Eingriffsschwelle nach §§ 1666, 1666a BGB (Hilfe durch Unterstützung) und Fällen akuter Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung oder akuter Wiederholungsgefahr bei bereits eingetretenen Kindesmisshandlungen (Hilfe durch Intervention) zu unterscheiden. Die Empfehlungen konzentrieren sich auf den Bereich der Hilfe durch Intervention. Für diesen Bereich werden Verfahrensstandards mit dem Ziel beschrieben, in bestmöglicher Weise das Kindeswohl zu sichern und gleichzeitig das Risiko einer strafrechtlichen Verantwortung für die Fachkraft zu minimieren. 3. Die Empfehlungen im Einzelnen 3.1 Behandlung von Mitteilungen der Kindeswohlgefährdung2 3.11 Erste Sofortreaktionen 3.111 Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden Die Verpflichtung zum Tätigwerden des Jugendamts ergibt sich aus dem Schutzauftrag nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII, der wiederum seine Grundlage im staatlichen Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG hat. Für die örtliche Zuständigkeit gelten die Regelungen des § 86 SGB VIII. Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit sofortigen Handelns ist auf § 86d SGB VIII hinzuweisen, der den örtlichen Träger zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind tatsächlich aufhält. 3.112 Eingang der Erstmitteilung beim ASD Jede Mitteilung (schriftlich, mündlich, telefonisch, elektronisch – auch anonym), die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung enthält, ist von der informierten Fachkraft schriftlich aufzunehmen und zu unterschreiben. Durch konkrete Nachfragen bei der Aufnahme der Erstmitteilung trägt sie zur möglichst weitgehenden Aufklärung des vorgetragenen Sachverhalts bei. Mit der Aufnahme der Mitteilung entsteht ein Fall, der unverzüglich zu bearbeiten ist, und zwar – in eigener Zuständigkeit oder – durch sofortige persönliche Weiterleitung an die zuständige Fachkraft/ihre Vertretung. Ist die zuständige Fachkraft/ihre Vertretung nicht erreichbar oder kommt die

2 Siehe hierzu Fachbereich Kinder, Jugend, Familie Recklinghausen, ,Qualitätsentwicklung im ASD, Meldebogen‘.

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Abgabe des Falls aus anderen Gründen nicht zustande, bleibt die aufnehmende Fachkraft zuständig (amtsinterne Eilzuständigkeit). Die/der nächste Vorgesetzte wird über die Mitteilung der Kindeswohlgefährdung informiert.

3.113 Eingang der Erstmitteilung beim Jugendamt außerhalb des ASD Sofern Mitteilungen oder Erkenntnisse über eine Kindeswohlgefährdung nicht in der Bezirkssozialarbeit/ASD, sondern an anderer Stelle im Jugendamt (z. B. in einer Tageseinrichtung oder in einer Beratungsstelle) aufgenommen werden, ist es die vorrangige Aufgabe der dortigen Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters, unverzüglich die zuständige Sozialarbeiterin oder den zuständigen Sozialarbeiter des ASD/der Bezirkssozialarbeit, ggf. ihre/seine Vertretung zu informieren.

3.12 Hausbesuch als erste Maßnahme Um die Bedeutung der Mitteilung einschätzen und bewerten zu können, ist in der Regel ein Hausbesuch zur Kontaktaufnahme zur Familie notwendig. Der Hausbesuch erfolgt – wenn nach Informationslage nötig – zu zweit mit dem Ziel, eine richtige Einschätzung und Bewertung zu dem Zustand des Kindes, seinen Lebensbedingungen und seiner Entwicklungsperspektive vorzunehmen. Dies umfasst: – die häusliche und soziale Situation der Familie, – das Erscheinungsbild des Kindes und sein Verhalten, – das Kooperationsverhalten und die Ressourcen der Eltern oder des erziehenden Elternteils. Gibt es Anhaltspunkte für eine gegenwärtige oder akut drohende Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung, so ist der Hausbesuch unverzüglich durchzuführen. Einzubeziehen sind, je nach Lage des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Datenschutzbestimmungen (§§ 61 bis 65 SGB VIII – siehe unten 3.8): – ein Arzt zur Feststellung des körperlichen Zustands des Kindes – insbesondere bei kleineren Kindern oder bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch ist die medizinische Abklärung des Gesundheitszustands zu veranlassen –, – die Polizei, wenn der Zustand zur Wohnung verwehrt (die Fachkräfte des Jugendamts haben kein Recht zum Betreten der Wohnung) oder die Anwendung des unmittelbaren Zwangs notwendig wird, um die Herausnahme des Kindes aus der eigenen Familie und Inobhutnahme zu erreichen, – Fachkräfte anderer Institutionen, wie Kindergarten, Schule, Beratungsdienste, wenn diese zur Beurteilung der Gefährdungslage beitragen können. Um zu verhindern, dass Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung durch die Eltern oder den erziehenden Elternteil verdeckt werden, kann es im Einzelfall angezeigt sein, vor einem Hausbesuch die ersten Eindrücke außerhalb des Hauses anderenorts, wie z. B. im Kindergarten oder in der Schule, zu gewinnen. Sofern dabei eine

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dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erfordert, so ist sie vorzunehmen (§ 42 Abs. 3 SGB VIII). Im Anschluss an den Hausbesuch werden der erste Eindruck und eine vorläufige Einschätzung mit Hinweisen zur weiteren Bearbeitung schriftlich festgehalten. Die/der nächste Vorgesetzte wird informiert, sie/er überprüft die Einhaltung der festgelegten Standards in der Bearbeitung und leistet bei Bedarf fachliche Beratung. 3.2 Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse – Risikoeinschätzung Bei der richtigen Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse und der richtigen Risikoeinschätzung wird zwischen den Fällen, in denen das Jugendamt durch die Mitteilung mit Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung erstmals auf die Familie aufmerksam wird, und den Fällen, in denen zu der Familie bereits Kontakt besteht, zu unterscheiden sein. 3.21 Risikoeinschätzung bei bisher nicht bekannten Familien Auf Seiten des Jugendamts geht es vor der Entscheidung, in welchem Umfang und in welcher Form Hilfen geeignet und erforderlich sind, um die Bewertung der Sachlage und um die Einschätzung des Hilfebedarfs. Hierzu sind in der örtlichen Praxis der Jugendämter differenzierte Bewertungsverfahren/Bewertungsraster zu entwickeln und einzuführen. Der Hilfebedarf richtet sich auch danach, welche Risiken für die Betroffenen mit welcher möglichen Hilfeform bzw. Intervention verbunden sind. Bei Risikoeinschätzungen in Bezug auf zukünftige Entwicklungen und Verhaltensweisen sind Beurteilungsprobleme immanent. Die Einhaltung fachlich qualifizierter Verhaltensstandards kann zwar aufgrund der Schwierigkeiten bei der Bewertung von Kindeswohlgefährdungen eine strafrechtliche Verantwortung der Fachkräfte in der Jugendhilfe grundsätzlich nicht ausschließen, die Unsicherheiten können aber minimiert werden, wenn die Risikoeinschätzung für die Zukunft in einem standardisierten Verfahren bewusst reflektiert wird. Hierzu gehört die grundsätzliche Einbeziehung von Dienstvorgesetzten und/oder anderen Fachkräften (Team). Bei der Bewertung der notwendigen und geeigneten Hilfe wird daher der Aspekt des Kindesschutzes einer eigenen Bewertung zugeführt und die getroffenen Feststellungen eigens dokumentiert. Eine richtige Einschätzung des evtl. vorhandenen Risikos für das Wohl des Kindes in einer Familie kann durch die Beantwortung folgender vier Fragen3 zur Einstellung und zum Verhalten der (sorgeberechtigten) Eltern und zur Position des Kindes befördert werden.

3 Diese Fragen sind aus ,Programm und Prozessqualität – ein Katalog, PPQ Kinderschutz‘ (Dormagen) übernommen und stellen nur eine Möglichkeit der Standardisierung dar.

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1. Gewährleistung des Kindeswohls Inwieweit ist das Wohl des Kindes durch die Sorgeberechtigten gewährleistet oder ist dies nur z. T. oder überhaupt nicht der Fall? 2. Problemakzeptanz Sehen die Sorgeberechtigten und die Kinder selbst ein Problem oder ist dies weniger oder gar nicht der Fall? 3. Problemkongruenz Stimmen die Sorgeberechtigten und die beteiligten Fachkräfte in der Problemkonstruktion überein oder ist dies weniger oder gar nicht der Fall? 4. Hilfeakzeptanz Sind die betroffenen Sorgeberechtigten und Kinder bereit, die ihnen gemachten Hilfeangebote anzunehmen und zu nutzen oder ist dies nur z. T. oder gar nicht der Fall? Die Einschätzung der Schwere des Gefährdungsrisikos ist darüber hinaus auch vom Alter des Kindes und der Art der Gefährdung abhängig. Diese Beurteilungen können in einer fachlich standardisierten Skala erfasst werden, um die Risikoeinschätzung transparent zu machen4. 3.22 Risikoeinschätzung in Familien, die bereits im Rahmen der Jugendhilfe betreut werden Auch in Fällen, in denen Jugendhilfe mit unterstützenden Leistungen in der Familie tätig ist, ist bei der Begleitung des Hilfeprozesses des Falls neben der Wirkungskontrolle zu den getroffenen Maßnahmen die Sicherung des Kindeswohls eigens zu beachten und zu bewerten. Die Lebensbedingungen und die Entwicklung des Kindes, d.h. – die häusliche und soziale Situation der Familie, – das Erscheinungsbild und Verhalten des Kindes und – das Kooperationsverhalten der Eltern/des erziehenden Elternteils sind laufend dahin gehend zu bewerten, ob sich eine Gefährdung des Kindeswohls abzeichnet (vgl. 3.12). Die Risikoeinschätzung ist nach dem vor Ort festgelegten Standard, z. B. unter den oben bereits genannten vier Fragestellungen – Gewährleistung des Kindeswohls, – Problemakzeptanz 4 Vgl. hierzu ,Programm und Prozessqualität – ein Katalog, PPQ Kinderschutz‘ (Dormagen).

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– Problemkongruenz und – Hilfeakzeptanz laufend vorzunehmen (vgl. 3.21). 3.3 Risikoeinschätzung im Kontext von Zusammenarbeit mit der Familie und Hilfeplanung 3.31 Bei bestehender Hilfeakzeptanz Nehmen die Eltern Beratung an und wünschen unterstützende Hilfen, dann kommt das Hilfeplanverfahren als Grundlage der Entscheidung für die Gewährung der notwendigen und geeigneten Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff., 36 SGB VIII in Gang (Hilfe durch Unterstützung, vgl. 2a). Der Hilfeplan beinhaltet unabhängig vom Vorliegen einer akuten Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung immer auch ein der Familie bekanntes Schutz- und Kontrollkonzept. Dieses Konzept legt insbesondere den Informationsaustausch zwischen den Fachkräften (regelmäßig und in Krisensituationen) sowie deren Rolle und Aufgaben (Hilfe und Kontrolle/Sicherung des Wohls des Kindes) fest. 3.32 Bei nicht bestehender Hilfeakzeptanz Bei den Eltern wird um die Annahme von Beratung und Unterstützung geworben. Lehnen die Eltern Beratung und Unterstützung der Bezirkssozialarbeit ab, ist zu klären, ob dies mit Blick auf die Situation des Kindes hinnehmbar oder ob zur weiteren Sachverhaltsaufklärung oder zur Installierung von Hilfen zur Erziehung das Familiengericht nach § 50 Abs. 3 SGB VIII anzurufen ist. Hier ist die Beratung durch die/den nächste/n Dienstvorgesetzte/n und/oder im kollegialen Team in Anspruch zu nehmen. In diesem Zusammenhang ist zu klären: 3.321 Eine akute Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung liegt nicht vor Wird bezogen auf das Kind eine Situation angetroffen, die zwar eine Kindeswohlgefährdung möglich erscheinen lässt, bei der aber eine akute Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung nicht festgestellt werden kann (Schnittstelle zwischen Hilfe durch Unterstützung und Hilfe durch Intervention, vgl. 2), wird ein oder werden mehrere Hausbesuche/Kontrolltermine vereinbart. In schwer wiegenden Fällen können Hausbesuche in kurzer Folge (mindestens wöchentliche Hausbesuche) – ggf. auch unangemeldet – angezeigt sein. Können in diesen Fällen innerhalb von drei Monaten keine beschreibbaren Fortschritte in der häuslichen und sozialen Situation der Familie und/oder beim Erscheinungsbild des Kindes festgestellt werden, ist der Fall in der Hilfeplankonferenz zu beraten.

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Anhang 3.322 Eine akute Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung liegt vor

Liegt eine akute Gefährdung für das Kind vor, sind die notwendigen Schritte der Herausnahme und Inobhutnahme des Kindes unverzüglich einzuleiten und das Familiengericht einzuschalten. Erscheint die Anwendung des unmittelbaren Zwangs notwendig, ist die Polizei hinzuzuziehen. 3.4 Anrufung des Familiengerichts Grundsätzlich ist das Familiengericht anzurufen, wenn dies zur Abwehr einer Gefährdung des Wohls des Kindes erforderlich ist (§ 50 Abs. 3 SGB VIII). Die Grundlage bilden hier die Einschätzung und Bewertung der fallverantwortlichen Fachkraft zur häuslichen und sozialen Situation der Familie, zum Erscheinungsbild und dem Verhalten des Kindes und zum Kooperationsverhalten und den Ressourcen der Eltern oder des erziehenden Elternteils sowie die Risikoeinschätzung bezogen auf die vier Fragen ,Gewährleistung des Kindeswohls, Problemakzeptanz, Problemkongruenz und Hilfeakzeptanz‘ (siehe 3.2). Die Einschaltung des Familiengerichts scheint auch in den Fällen angezeigt, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls zwar noch nicht zweifelsfrei angenommen werden kann, jedoch verschiedene Verdachtsmomente auf eine konkrete Gefährdung hinweisen oder wenn sich die Situation der Familie und die Bereitschaft der Eltern zur Mitwirkung als labil darstellt und vor diesem Hintergrund eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls angenommen werden kann. Vor einer Anrufung des Familiengerichts hat sich die fallverantwortliche Fachkraft im kollegialen Team zu beraten und die/den nächste/n Vorgesetzte/n zu informieren. Eilfälle sind unverzüglich mit einer/einem Vorgesetzten zu beraten und entsprechende Hinweise sowie Anträge sind per Fax dem Familiengericht zur Entscheidung zu übermitteln. 3.5 Dokumentation Eine standardisierte Dokumentation – der Einschätzung und Bewertung der Lebensbedingungen der Familie und der Entwicklung des Kindes – der Risikoeinschätzung zur konkreten Gefährdung des Kindes sowie – der Beratungs- und Hilfeprozesse dient der Überprüfbarkeit des Falls und der Einhaltung der vorgegebenen Standards durch die Leitung und ist die Grundlage für die weitere Arbeit in der Familie, insbesondere auch bei Abwesenheit der zuständigen Fachkraft für die Vertretungskraft und bei einem Zuständigkeitswechsel für die nachfolgende Fachkraft (hierzu siehe unten 3.6).

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Aus der Dokumentation ergeben sich: – die Fallaufnahme und der Entscheidungsablauf ab Bekanntwerden des Hilfebedarfs bis zum Einsetzen einer Hilfe, – die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Beteiligten und mehreren Fachkräften über Art, Umfang und Notwendigkeit der Leistung, – die Faktenlage bei der Risikobetrachtung und die Bewertung der Risikoeinschätzung, – eine eigene Darstellung der Überlegungen und Entscheidungen zum konkreten Schutzkonzept für das Kind und über die getroffenen Vereinbarungen einschließlich der Darstellung konkreter Zielschritte und Zielperspektiven. Sofern eine Hilfe zur Erziehung für voraussichtlich längere Zeit einzuleiten ist, wird die Dokumentation Gegenstand des Hilfeplans. Sollten sich innerhalb der vereinbarten Fristen nennenswerte Abweichungen von der Hilfeplanung ergeben oder sich die Situation dramatisch verschlechtern, ist auch eine neue Bewertung des Schutzkonzepts vorzunehmen und die hierbei gefundenen Erkenntnisse sind zu dokumentieren5. 3.6 Fallabgabe und Fallübernahme durch Zuständigkeitswechsel Die abgebende Fachkraft hat die Fallübergabe an die übernehmende Fachkraft so zu gestalten, dass sich die übernehmende Fachkraft darauf verlassen kann, alle relevanten Informationen, insbesondere solche erhalten zu haben, die die Möglichkeiten einer zukünftigen Kindeswohlgefährdung nahe legen. Vor der Abgabe des Falls, gleichgültig ob dafür eine Karteikarte, eine Erziehungshilfeakte oder eine Familien/Vormundschaftsgerichtsakte angelegt worden ist, ist deswegen ein zusammenfassender Sachstandsvermerk anzufertigen. Dieser hat besondere Probleme bzw. Konflikte zu kennzeichnen und Aspekte kenntlich zu machen, die bei der Zusammenarbeit mit der Familie zu beachten sind. Bei Verdacht auf Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung sind die entsprechenden Anhaltspunkte und Einschätzungen besonders hervorzuheben. Für die Transparenz der Darstellung ist die abgebende Fachkraft verantwortlich. Grundsätzlich muss ein persönliches Fallübergabegespräch zwischen der bisher zuständigen und der künftig zuständigen Fachkraft stattfinden. Die/der Dienstvorgesetzte der fallübernehmenden Fachkraft bestätigt durch Unterschrift die Kenntnisnahme des zusammenfassenden Sachstandsvermerks. Ist ein Übergabegespräch nicht möglich, weil z. B. die betreffenden Familien den Jugendamtsbezirk verlassen und ein anderes Jugendamt zuständig wird, so ist der zusammenfassende Sachstandsvermerk dem zuständigen Jugendamt umgehend in doppelter Ausfertigung zuzusenden und in einem Telefongespräch der neu zuständigen Fachkraft zu erläutern. Über dieses Gespräch ist eine kurze Niederschrift zu fertigen, vom

5 Siehe hierzu auch die beiden als Anlage beigefügten Dateien zum Dokumentationsverfahren des Jugendamts Recklinghausen.

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fallabgebenden Jugendamt dem nunmehr zuständigen Jugendamt zuzuleiten und vom zuständigen Jugendamt gegenzuzeichnen und dem abgebenden Jugendamt wieder zurückzuschicken. 3.7 Leistungserbringung durch einen Träger der freien Jugendhilfe Wird nach Leistungsgewährung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Leistung durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht, setzt dies eine Leistungsvereinbarung voraus, die stets auch Vereinbarungen über Handlungspflichten des freien Trägers zum Schutz des Kindes beinhaltet. Mit der Vereinbarung über Handlungspflichten des freien Trägers zum Schutz des Kindes entsteht eine eigene Garantenstellung der leistungserbringenden Fachkraft als Beschützergarantin kraft Pflichtenübernahme. Daneben kommt mit Beginn der Leistungserbringung eine originäre eigene Garantenstellung der die Leistung erbringenden Fachkraft als Beschützergarantin aus tatsächlicher Schutzübernahme hinzu. Bei der einzelfallzuständigen Fachkraft des leistungsgewährenden Trägers verbleibt zwar die Garantenpflicht zum Schutz des Kindes als Aufgabe des staatlichen Wächteramts. Sie erfährt jedoch eine wesentliche inhaltliche Veränderung. Die einzelfallzuständige Fachkraft des leistungsgewährenden Trägers hat nunmehr die Kontrollpflicht, dass die Fachkraft des freien Trägers die zu erbringende Leistung an den im Hilfeplan festgelegten fachlichen Anforderungen und Zielsetzungen ausrichtet. 3.71 Leistungsvereinbarung mit Mitteilungspflichten Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen in der Leistungsvereinbarung und im Hilfeplan die beiderseitigen Verantwortlichkeiten geklärt sein. Außerdem muss sich die einzelfallzuständige Fachkraft des Jugendamts vergewissern, dass die Absprachen eingehalten werden. Insbesondere gilt daher: Da der Hilfeplan, der gemeinsam vom hilfegewährenden und hilfeerbringenden Träger zusammen mit den Betroffenen zu entwickeln und fortzuschreiben ist, eine verbindliche Zielsetzung beinhaltet und dabei auch das Schutzkonzept für das Kind zum Gegenstand hat (vgl. 3.5), sind Abweichungen vom Schutzkonzept für das Kind und akute, schwer wiegende Gefährdungen einer Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung der einzelfallzuständigen Fachkraft unmittelbar mitzuteilen. Daher sollten die Leistungsvereinbarungen die Mitteilungspflichten des leistungserbringenden Trägers der freien Jugendhilfe an den öffentlichen Träger, insbesondere bei akuten, schwer wiegenden Gefährdungen (Fälle des § 50 Abs. 3 SGB VIII) zum Gegenstand haben. Auch sollte in den Leistungsvereinbarungen durch Bezugnahme auf die entsprechenden Teile der Empfehlungen sichergestellt werden, dass die Fachkräfte des Trägers der freien Jugendhilfe in den Fragen der Wahrnehmung und Risikoeinschätzung bei akut drohender Gefährdung durch Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung nach denselben Standards arbeiten wie die Fachkräfte des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Sollte die einzelfallzuständige Fachkraft des Jugendamts Anhaltspunkte haben, dass der Berichts- und Meldepflicht nicht oder nicht genügend entsprochen wird, ist die oder der Dienstvorgesetzte einzuschalten, die oder der mit dem freien Träger unverzüglich ein Klärungsgespräch führt.

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Sind Anhaltspunkte für eine akute, schwer wiegende Gefährdung durch eine Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung erkennbar, die von der leistungserbringenden Fachkraft nicht ausgeräumt werden können, gelten die Verfahrensregeln nach 3.322.

3.72 Leistungsvereinbarung ohne Mitteilungspflichten Sofern eine Mitteilungspflicht nicht Gegenstand der Leistungsvereinbarung ist, obliegt dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Verantwortung für den Schutz des Kindes. Für die einzelfallzuständige Fachkraft des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bedeutet dies, dass sie durch geeignete Maßnahmen (z. B. Hausbesuche) sicherstellen muss, rechtzeitig akute schwer wiegende Gefährdungen durch Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung selbst zu erkennen.

3.8 Beachtung des Datenschutzes 3.81 Allgemeine Vorbemerkung Der Schutz personenbezogener Daten (sowohl bei der Erhebung als auch bei der Weitergabe) ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit pädagogischer Hilfen und damit eine Bedingung fachlich qualifizierten Handelns. Auf der einen Seite ist das Jugendamt auf die Kenntnis persönlicher Daten angewiesen, um eine bedarfsgerechte Hilfe leisten und das Gefährdungsrisiko des Kindes möglichst gut einschätzen zu können. Auf der anderen Seite sind Eltern, aber auch Kinder und Jugendliche teilweise nur bereit und in der Lage, offen über ihre Probleme und Belastungen zu sprechen, wenn sie davon ausgehen können, dass diese Daten vertraulich behandelt werden. Nach § 35 Abs. 1 SGB VIII hat jeder Bürger einen Anspruch darauf, dass der Sozialleistungsträger die ihn betreffenden Sozialdaten nicht unbefugt erhebt, verarbeitet und nutzt. Als Konsequenz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe heißt dies, dass mit Daten der jungen Menschen und ihrer Familien sehr sorgsam umgegangen werden muss und eine Übermittlung von Daten an andere Stellen nur möglich ist, wenn hierfür eine ausdrückliche Einverständniserklärung vorliegt oder eine gesetzliche Norm dies ausdrücklich erlaubt. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass es keine Auskunftsverpflichtung oder Verpflichtung zur Vorlage von Schriftstücken und Akten gibt, wenn keine gesetzlich normierte Übermittlungsbefugnis vorliegt. Die Situation in Fällen der Kindeswohlgefährdung ist jedoch komplexer, weil dem Recht der Eltern auf informationelle Selbstbestimmung das Recht des Kindes auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl gegenübersteht und dadurch begrenzt wird. Andererseits gefährdet jeder rechtlich zulässige Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenerhebung bei Dritten, Übermittlung von Daten an Dritte ohne Einwilligung) wegen des Vertrauensverlusts den Zugang zu den Eltern und damit zum Kind. Es ist daher im Einzelfall abzuwägen, ob von einer Eingriffsbefugnis Gebrauch gemacht oder eine Einwilligung der Eltern eingeholt wird.

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Anhang 3.82 Datenerhebung

Gem. § 62 Abs. 1 SGB VIII dürfen Sozialdaten nur erhoben werden, soweit ihre Kenntnis zur Erfüllung der jeweiligen Aufgabe erforderlich ist (Erforderlichkeitsgrundsatz). Gerade im Fall der Kindeswohlgefährdung hängt die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen zu treffen sind (Gewährung von Hilfen zur Erziehung, Inobhutnahme oder Anrufung des Familiengerichts), jedoch ihrerseits von den erhobenen Daten ab. Grundlage für die Bestimmung des Datenbedarfs bilden daher Hypothesen über mögliche Ursachen der vorgetragenen oder wahrgenommenen Probleme über Auswirkungen der Schwierigkeiten auf die kindliche Entwicklung und deren Veränderbarkeit durch pädagogische Hilfen. Hinzu kommen Fragen zur Einschätzung des Risikos für das Wohl des Kindes in der Familie (siehe 3.21). Gemäß § 62 Abs. 2 SGB VIII dürfen Sozialdaten grundsätzlich nur mit Kenntnis oder unter Mitwirkung des Betroffenen erhoben werden (Ersterhebungs- bzw. Kenntnisgrundsatz). Bliebe jedoch das Jugendamt allein auf die Bereitschaft der Eltern angewiesen, die zur Aufklärung einer Kindeswohlgefährdung erforderlichen Informationen preiszugeben, so könnten die Eltern den Weg zur Abwendung einer Gefährdung des Wohls ihres Kindes unter Berufung auf ihr Recht zur informationellen Selbstbestimmung versperren. Sie würden damit ihr Elternrecht missbrauchen. Deshalb gestattet § 62 Abs. 3 Nr. 1 in Gefährdungsfällen die Datenerhebung auch ohne Einwilligung der Betroffenen. Aus den Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung, die einen Hausbesuch nötig machen, lässt sich noch nicht ableiten, ob der Gefährdung durch Unterstützung der Eltern oder aber (nur) durch Anrufung des Familiengerichts begegnet werden kann. Verweigern Eltern die notwendigen Informationen, dann ist die Fachkraft befugt, die notwendigen Auskünfte bei Dritten (ohne Mitwirkung der Eltern) einzuholen. Voraussetzung für diesen Eingriff in die Freiheitsrechte der Eltern ist jedoch, dass ,konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlbeeinträchtigung gegeben und die Maßnahme geeignet, erforderlich und verhältnismäßig zur Erlangung von Auskünften und Daten ist, deren der Staat bedarf, um auf hinreichend sicherer Erkenntnisgrundlage beurteilen zu können, ob und in welchem Maße die Voraussetzung für ein Einschreiten in Ausübung des Wächteramts vorliegt‘. Dies bedeutet, dass die Erhebung von Daten bei Dritten nicht nur und nicht erst dann zulässig ist, wenn die Kenntnis der Daten erforderlich ist für die gerichtliche Entscheidung, die Voraussetzung für die Gewährung einer Leistung nach diesem Buch ist (§ 62 Abs. 3 Nr. 2d), sondern bereits zur Entscheidung der Vorfrage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und diese mit den Eltern oder ggf. durch Anrufung des Familiengerichts abgewendet werden muss. 3.83 Datenübermittlung Im Zusammenhang mit der Abwehr einer Kindeswohlgefährdung spielt die Übermittlung von Daten eine zentrale Rolle, nämlich an: – das Familiengericht, – die Polizei,

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– andere Mitarbeiter/in im Jugendamt im Rahmen einer Vertretung oder eines internen Zuständigkeitswechsels, – ein anderes Jugendamt aufgrund externen Zuständigkeitswechsels. Sozialdaten dürfen zu dem Zweck übermittelt oder genutzt werden, zu dem sie erhoben worden sind (Zweckbindungsgrundsatz § 64 Abs. 1 SGB VIII). Im Interesse eines effektiven Kindesschutzes dürfen Sozialdaten dem Familiengericht auch dann übermittelt werden, wenn zum Zeitpunkt der Erhebung zwar Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorlagen, aber noch gar nicht beurteilt werden konnte, ob deren Anwendung durch Hilfe zur Erziehung oder eine Anrufung des Gerichts erfolgen muss. Hält das Jugendamt die Anrufung des Familiengerichts für erforderlich, so steht der Übermittlung der Daten § 64 Abs. 2 SGB VIII nicht im Weg, da der Erfolg der zu gewährenden Leistung nicht durch die Übermittlung, sondern durch die Weigerung der Personensorgeberechtigten in Frage gestellt wird. Aufgrund der Weitergabebefugnis nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII dürfen auch anvertraute Daten an das Familiengericht weitergegeben werden. Bedarf es zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung des Tätigwerdens der Polizei, so befugt § 64 Abs. 1 SGB VIII auch eine Weitergabe der Sozialdaten an die Polizei (etwa zur Anwendung unmittelbaren Zwangs). Wie bei der Übermittlung an das Familiengericht steht hier § 64 Abs. 2 SGB VIII nicht im Weg. Vor dem Hintergrund der strafrechtlichen Garantenstellung ist die Fachkraft auch befugt, anvertraute Sozialdaten an die Polizei weiterzugeben (§ 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII). Praxisrelevant ist aber – wie die Gerichtsverfahren zeigen – nicht nur die Weitergabe von Informationen an das Familiengericht und die Polizei, sondern bereits die Weitergabe von Informationen bei internen oder externen Zuständigkeitswechseln oder zwischen Jugendamt und Leistungserbringer. Gerade in laufenden Hilfeprozessen mit Gefährdungsrisiko kann die Kenntnis anvertrauter Daten (Krankheit, Sucht, Gewaltausübung durch den Partner) für die Risikoeinschätzung und dessen Neubewertung entscheidend sein. Die Weitergabe anvertrauter Daten an andere Mitarbeiter bei Zuständigkeitswechsel für die Fallbearbeitung (auch Vertretung) oder Änderung der örtlichen Zuständigkeit oder aber die Weitergabe solcher Daten an verantwortliche Mitarbeiter in den Dienst oder der Einrichtung, die die Leistung erbringt, ist zulässig mit Einwilligung der betroffenen Person (§ 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII). Wird sie jedoch nicht erteilt, geht der zuständig gewordenen Fachkraft eine wichtige Information für die Einschätzung bzw. Neubewertung des Gefährdungsrisikos verloren. Bis zu einer gesetzlichen Regelung in § 65 Abs. 1 SGB VIII, die ausdrücklich klarstellt, dass eine Weitergabe von anvertrauten Daten bei Zuständigkeitswechseln auch dann zulässig ist, wenn Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen und die Kenntnis der Daten für die Einschätzung des Gefährdungsrisikos notwendig sind, muss die Befugnis zur Weitergabe dieser Daten unmittelbar auf § 65 Abs. 1 Nr. 3 i.V. m. § 34 StGB gestützt werden. Die Übermittlung von Sozialdaten an Strafverfolgungsbehörden ist dann zulässig, wenn damit eine gesetzliche Aufgabe des Jugendamts erfüllt wird (§ 64 Abs. 2 SGB VIII i.V. m. § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 SGB X). Damit besteht keine Pflicht des Jugendamts zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden (z. B. Pflicht zur Strafanzeige). Die Anrufung steht vielmehr im fachlichen Ermessen: Die Jugendämter haben abzu-

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Anhang

wägen, ob durch die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden mit deren Maßnahmen dem Wohl des Kindes (und nicht der Allgemeinheit oder dem öffentlichen Empfinden) am Besten gedient ist. Es ist daher im Einzelfall abzuwägen, welche Vorteile und welche Nachteile ein Strafverfahren dem Kind bringt. Die Entscheidung kann nur nach einer genauen Überprüfung der konkreten Situation des Kindes oder Jugendlichen getroffen werden.6

6 Abgedruckt in ZfJ 2004, 187 ff. sowie in JAmt 2003, 226 ff.; auch abrufbar unter http://www.dijuf.de/german/dok/Empfehlungen-Staedtetag.pdf.

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Sachwortregister Abhängigkeit des Rettungsgeschehens vom Verhalten Dritter 350 „Absicherungsmentalität“ 37, 155, 477 Abteilungsleiter 416 Abwehrrecht 69, 70, 72, 78, 87, 90 actio libera in causa 183, 371, 381 agent provocateur 397, 467 Alternativverhalten, rechtmäßiges 42, 350, 355, 357, 358, 408, 459 Amtsermittlungspflicht 124, 125, 150, 189, 352, 405 Amtsgericht Osnabrück 49, 233, 310, 345, 472 Amtspflichtverletzung 152, 264 Analogieverbot 207 animus auctoris 391 animus socii 391, 392 Anordnung, einstweilige 112, 114, 145, 181, 189, 354, 476 Anrufung des Familiengerichts 115, 120, 354, 355, 424, 479, 480, 486, 490, 491 arbeitsteiliges Verhalten 342 ASD 43, 47, 53, 61, 137, 280, 406, 473, 477, 481, 482 „Ausfallbürge des Kindeswohls“ 79 Auslegung, verfassungskonforme 71, 75, 80, 134, 150, 208, 240, 242, 244, 274, 275, 302, 386, 435 Außer-Acht-Lassen der im Verkehr gebotenen Sorgfalt 313 Auswahl- und Kontrollrecht des Jugendamts 131, 132, 133, 288 Auswahlermessen 141 „Babysitterfall“ 258, 438 Bernhard 62, 63 Beschützergarantenstellung 232, 247, 252, 260, 266, 270, 276, 277, 301,

320, 385, 386, 391, 400, 401, 403, 409, 418, 420, 423, 428, 430, 434, 439, 446, 450, 451, 454, 457, 458, 462, 468–472, 474–476 Bestimmtheitsgebot 206, 207, 209, 210, 211, 214, 218, 222, 302, 385 Bestimmungsmacht 73, 90 Betreuungsabbruch 177, 180, 384 Beurteilungsausfall 325, 406, 425, 464 Beurteilungsspielraum 49, 116, 124, 128, 146, 151, 154, 275, 316, 322, 350, 406, 415, 425, 430, 444, 447, 453, 458, 464, 468, 471, 476 „Blutbankfall“ 355, 356 Bürgermeister 42, 136, 140, 272, 428 Constitutio Criminalis Carolina 170 Datengewinnung 118 Datenschutz 65, 97, 98, 118, 121, 128, 133, 134, 149, 293, 296, 405, 413, 440, 456, 470, 479, 482, 489 Dazwischentreten, vorsätzliches 42, 202, 446 Delegation 82, 98, 102, 133, 148, 179, 284, 293, 301, 312, 328, 342, 347, 349, 356, 374, 387, 436, 458, 463, 472, 478 delicta commissiva per omissionem 159 delicta omissiva 159 Dennis 60, 61, 476 Dienstanweisung 424–426, 454, 460, 468, 469, 471 Dienstanweisung, rechtswidrige 42, 187, 372, 417, 459 Dienstaufsichtsbeschwerde 145, 190 Dienstvorgesetzte 42, 416, 418, 420–425, 451, 464, 468, 483, 485, 487, 488

520

Sachwortregister

„differenzierte Maßfigur“ 328, 363, 407, 421, 425, 442, 467 Dilemma 76, 150, 154, 155, 317, 319, 346, 386, 448, 456, 478 dolus directus 194 dolus eventualis 161, 191, 192, 194, 393 Dominic 55, 56, 65, 313, 328, 399, 475 Dormagener Qualitätskatalog 64 Dreieckskonstellation 67, 68 eigenhändige Delikte 390, 397, 466 Eingriff 70, 77, 79, 90, 104, 107, 109, 115, 127, 140, 144, 228, 242, 272, 469, 489, 490 Einheit der Rechtsordnung 315, 332, 334–336 „Einschätzungsprärogative“ 76, 88 Elternverantwortung 68, 72, 74, 140, 249 Energieeinsatzkriterium 410 Entscheidungsvorschlag des Jugendamts 143, 144 Entschuldigungsgründe 372, 423, 459 Erlaubnistatbestandsirrtum 382, 384, 441, 450, 459, 466 Erstkontakt 248, 253, 386, 462, 474 „Erwartungserwartungen“ 227 Evidenzkontrolle 88 „Fachlichkeit“ 121, 279, 329, 330, 332, 333, 336, 442, 443, 470 Fahrlässigkeit – bewusste 191, 377 – unbewusste 375 – verfassungsrechtliche Grundlagen 302 Fahrlässigkeitsprüfung 301, 385, 405, 414, 420, 453, 454, 464, 466, 471, 476 „Familienfürsorge“ 137 Familienhelfer(in) 48, 101, 134, 181, 357, 434, 444, 452, 454, 470 Familienrichter 43, 112, 113, 124, 151, 190, 229, 300, 344, 352, 353, 388, 401, 425, 465, 471 „Fensterwurffall“ 198, 199 Finalität 163, 167, 186

Finanzhoheit 430 Förderung der freien Jugendhilfe 137 Formel von der gesetzmäßigen Bedingung 196, 202 Freie Träger 82, 83, 128, 129, 130, 131, 286, 287, 349, 444 „Freigängerfall“ 303, 321, 322, 324, 346, 358, 360, 361, 363–365 „Freizeichnungsklausel“ 289, 290, 374, 463, 473 Fremdnützigkeit 74 Fremdunterbringung 39, 433, 472 Garantenpflichten 42, 169, 237, 239, 241, 245, 256, 274, 281, 283, 290, 299, 301, 311, 373, 377, 386, 404, 420, 439, 441, 458, 461, 463, 469, 472, 475 Garantenstellung – aus Amtsträgerschaft 262, 273, 279, 386, 404, 409, 413, 419, 420, 439, 452, 467, 468, 470 – aus besonderem Rechtssatz 233, 264 – aus Ingerenz 209, 275, 278, 430 – aus tatsächlicher Schutzübernahme 56, 247, 249, 262, 413, 429, 435, 452, 488 – Herleitung 43, 204, 209, 211, 214, 227, 239, 242, 243 Gebot kollektiven Zusammenwirkens 405 Gebotsirrtum 169, 299, 373, 374, 376, 378, 381, 389, 450, 459, 466, 473, 474 Gefährdungskriterium 220 Gehilfenvorsatz, doppelter 394, 397 Gemeinderat 136, 422, 423, 427, 428 Gesamtbetrachtungslehre 391 Gesamtverantwortung und Gewährleistungsverpflichtung 138 Gesetzesvorbehalt 70, 89 Gesetzgebungsverfahren 37 Gewohnheitsrecht 206, 208, 238 „Gleichstellungsklausel“ 169, 212 grundrechtsdogmatische Anomalien des Elternrechts 72

Sachwortregister Handlung, gebotene 66, 180, 182, 204, 348, 356, 399 Handlungsempfehlungen 37, 40, 44, 63, 64, 65 Handlungsfähigkeit 181, 183, 198, 306, 338, 433, 434, 461, 470, 472, 475 Handlungslehre – finale 162, 163, 166, 169 – kausale 162, 163, 166, 168 – negative 164 – personale 165, 197 – soziale 163, 186 Handlungsverantwortung und soziale Zuordnung 221 Handlungsvorgaben 97, 121, 234, 243, 316, 326, 388, 442 Herausnahme 106, 109, 113, 114, 125, 152, 480, 482, 486 Herrschaftssystementwürfe 230, 385 Herrschaftsverhältnis 73, 74 – über den Erfolgsgrund 224 Hilfen zur Erziehung 66, 71, 99, 100, 104, 128, 146–150, 203, 330, 485, 490 Hilfeplangespräche 42 Hilfeplanungsverfahren 102 „Höchstgeschwindigkeitsfall“ 358

521

Jugendamtsleiter 140, 416, 429 Jugendhilfeausschuss 42, 135, 136, 138, 422, 427–430, 469 Justitiabilität 42, 321, 324, 325 kasuistische Herangehensweise 222 Kausalität 195 Kindeswohl 75 „Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz“ 64 Kindeswohlgefährdung – primäre 152 – sekundäre 77, 152 „Kindeswohlgefährdung und Allgemeiner Sozialer Dienst“ 65 Klagebefugnis 139 Klarstellungsfunktion 121 „Konkurrenzlösung“ 176, 177, 410 Kooperation mit den Eltern 123 Kreistag 136, 422, 427, 428

impossibilium nulla est obligatio 366 Informationsbeschaffung 84 Informationspflicht 131, 286, 290, 294, 380 Ingerenz 228, 249, 259, 275, 385, 386, 430, 452, 457, 463, 469 Innen- und Außenverhältnis 72 Inobhutnahme 105, 125, 147, 181, 189, 190, 229, 300, 354, 373, 397, 456, 475, 480, 482, 483, 486, 490 Institutsgarantie 72 Irrtumsfragen 373, 396

Landgericht Osnabrück 49, 50, 233–235, 237, 238–241, 244, 246, 275, 286, 311, 379 Landgericht Stuttgart 53, 236, 291, 293, 312, 346 Landrat 136, 428 Laura Jane 46, 47, 48, 131, 233, 236, 239, 240, 244, 245, 247, 250, 275, 286, 289, 310, 311, 328, 330, 332, 345, 347, 374, 472 „Lebensführungsschuld“ 371, 381 „Lederriemenfall“ 193 „Ledersprayfall“ 201, 351, 355, 411 „Leinenfängerfall“ 372 Leistungen der Jugendhilfe 96, 99 Leitungsverantwortliche 43, 357, 451– 454, 468, 469, 471

Jenny 50, 51–53, 236, 237, 247, 252, 291, 312, 317, 327, 346, 347, 374, 473, 474

„Massenkarambolagefall“ 358, 360 Modellprojekt „Frühe Hilfen/Frühwarnsystem“ 66

522

Sachwortregister

Naturalistisch-ontologische Betrachtungsweise 174, 384, 410 neminem laedere 221, 304 Normative Betrachtungsweise 175 „Normvertrauen“ 248 „Notstandsberatung“ 105 nulla poena sine lege praevia 96, 206 nulla poena sine lege scripta et stricta 206 Oberlandesgericht Oldenburg 49, 131, 132, 235–237, 250, 289, 311, 374, 379, 472, 473 Oberlandesgericht Stuttgart 53, 237, 252, 291, 312, 317, 318, 346, 374, 375, 473, 474 „Objektformel“ 73 objektive Zurechnung 67, 202, 359, 434 Öffentliche Träger 135, 138, 139, 441 omissio libera in causa 183, 184 omissio libera in omittendo 184, 433 Opferlamm 36 Organisation der Jugendhilfe 128 Organisations- und Institutionszuständigkeit 223 Organisationsmangel 417, 451, 460 Organisationsmängel der Leitungsebene 417 Pascal 63 „Peritonitisfälle“ 199, 200 „Personale Unrechtslehre“ 168, 169 Personelle Unterbesetzung im Amt/Überbelastung des Sozialarbeiters 182, 384 „Perspektivenwechsel“ 92, 93, 146, 241 Pflegeeltern 62, 69, 81, 243 Pflichtengebundenheit 74 Pflichtenkollision 119, 365–367, 370, 382, 389, 409, 447–449, 451, 459, 465 Pflichtwidrigkeitszusammenhang 172, 322, 348, 350, 358, 360–365 Planungsverantwortung 139

„Politbürofall“ 351, 352, 356, 357, 409, 422, 426, 431, 447, 454, 468, 476 Primat der verfassungskonformen Auslegung 302 Prognoseentscheidungen 117, 316, 324, 430 Quasi-Freispruch 50 Quasi-Kausalität 197 „Radfahrerfall“ 174, 176, 360 Rat 379, 381, 410–413, 416, 467 Rechtfertigung 42, 70, 80, 183, 366, 367, 370, 382, 389 Rechtfertigung, fahrlässige 366 Rechtfertigungsgründe, allgemeine 109 Rechtsaufsichtsbeschwerde 140, 422 Rechtsmittel 145 Rechtspflichtlehre – eingeschränkte 214, 457 – strenge 213 Rechtsstaatsprinzip 70, 464 Regressverbot 201, 202, 338–341, 363, 385, 388, 462, 473 Relevanztheorie 196 Remonstrationsverfahren 343, 369 Richterprivileg 43 Risiko, erlaubtes 337, 444 Risikoeinschätzung 42, 130, 413, 415, 418, 429, 479, 483–488, 491 Risikoerhöhungslehre 348, 352, 353, 365 Risikoverringerung 203, 204, 348, 352– 354, 385, 389, 434 Risikoverringerungslehre 348, 352–354 Rückwirkungsverbot, verfassungsrechtliches 242 Saarbrücker Memorandum 63 Samariter, inkonsequenter 259, 261, 264, 402 Schuld 166, 168, 188, 195, 299, 314, 370, 374, 377, 382, 387, 389, 423, 449, 451, 457, 459, 465

Sachwortregister Schuldtheorie – eingeschränkte 383 – rechtsfolgenverweisende eingeschränkte 383 – strenge 382, 383, 384 Schutzauftrag 37, 90, 92, 121, 126, 147, 149, 243, 247, 249, 401, 435, 440, 467, 481 Schutzbereich 69, 70, 72, 75, 80, 81, 95, 97, 154, 242, 257, 335 Schutzpflichten 77, 86, 90, 95, 237, 241, 267, 274, 288, 335, 423, 462, 464, 478 „Schwerpunkttheorie“/sozialer Handlungssinn 175, 467 Selbstverwaltung, gemeindliche 136, 430 „Sondernormen“ 315, 316, 326, 327, 387, 405, 420, 458 Sorgfaltsmaßstab 171, 313, 329, 387, 405, 414, 444 Sorgfaltspflichtverletzung 56, 169, 171, 299, 301, 303, 305, 308, 313, 316, 326, 370, 387, 405, 414, 420, 424, 442, 446, 449, 461, 469, 474 Sozialpädagogik 36, 95, 326 Sozialpädagogische Familienhilfe 43, 48, 58, 101, 102, 134, 177, 181, 199, 203, 311, 433, 436, 441, 446, 460, 471, 472 Sozialstaatsprinzip 82, 110, 128 spekulativer Ausgang einer Meldung an das Familiengericht 188, 384 staatlicher Kinderschutz nach der EMRK 79 Staatsanwaltschaft Stuttgart 52 Stadtverordnetenversammlung 136 Strafbarkeitsrisiken – der administrativ Verantwortlichen 427, 460 – der Mitarbeiter freier Träger 432 Strafbarkeitsrisiko – der fallzuständigen Jugendamtsmitarbeiter 156 – der Leitungsverantwortlichen bei den freien Trägern 451 Subsidiaritätsprinzip 138

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Tagesbetreuungsausbaugesetz 37 Tanja 54, 236, 400, 474 Tatbestandsirrtum 373, 396, 398, 450, 459 Täterschaft und Teilnahme, Abgrenzung 391, 397, 459, 466 Tatherrschaftslehre 224, 391, 393 Teamberatungen 42 Träger – freie 82, 83, 128–131, 286, 287, 349, 444 – örtliche 135 – überörtliche 135 „Trennungstrauma“ 152 Tun und Unterlassen, Abgrenzung 172, 173, 180, 233, 410, 433, 457, 461, 468 Überlastung 294, 295, 301, 336, 462, 463 Überlastungsanzeige 295, 297, 299, 337, 388, 418, 421, 424, 458, 463, 465, 477 Übermaßverbot 85, 87, 90, 142 Übernahmefahrlässigkeit 336, 337, 446, 458 Überwachergarantenstellung 215, 279, 386, 419, 423, 452, 458, 459, 463, 468, 471 Ultima-ratio-Charakter des Strafrechts 214, 332 „Umgang mit sexuellem Missbrauch“ 64 Umkehrprinzip 163, 193, 194, 198, 307, 394 Unbestimmter Rechtsbegriff 116 Unrechtsbewusstsein 375, 376, 377, 382, 389, 396, 466 Unterlassungsdelikte – echte 157–159 – fahrlässige unechte 42, 45, 160, 161, 384, 427, 432, 452, 457 – vorsätzliche unechte 390 Untermaßverbot 83, 88, 90, 97, 101 Untersuchungsgrundsatz 122 Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens 372, 423, 449, 451, 459, 465

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Sachwortregister

Unzuständigkeit, nachträgliche 291 Urlaubs-/Krankheitsfälle 183, 295 Vanessa 56, 57, 58, 59, 60, 236, 312, 345, 475 Verfahrenspfleger 58, 143, 149 „Verkehrsnormen“ 326–328, 406, 407, 414, 421, 425, 442, 458, 464 Vermeidbarkeit – objektive 348, 356, 408, 415, 422, 425, 431, 447 – subjektive 371, 423, 449, 453, 459, 465 Verpflichtung zu einer Strafanzeige 120, 491 versari in re illicita 195, 338 Versuchsproblematik 396 Vertrauen, unreflektiertes 248, 249, 251, 258, 436 Vertrauens- oder Abhängigkeitsbeziehung 218 Vertrauensgrundsatz 338, 342, 343, 363, 388, 407, 415, 444, 446, 450, 465, 468, 470 Vertretungsfälle 295, 296, 297 Verwaltungsaktsakzessorietät 318, 335 Verwaltungsrechtsakzessorietät 335

vis absoluta 162 Voraussehbarkeit – objektive 344, 388, 407, 415, 421, 425, 426, 447, 450, 459, 465, 476 – subjektive 371, 423, 449, 453, 465 Vorsatztheorie, modifizierte 382 Vorstellungstheorien 191 „Vorverschulden“ 380 Wächteramt – einfachgesetzliche Ausformung 91, 282 – Grenzen 87 – Inhalt 83 – staatliches 68, 76, 77, 81, 87, 91, 93, 130, 132, 249, 401, 438, 463, 469, 478, 480 Weisungsbefugnis des Familiengerichts 144, 145 Werteordnung, objektive 71, 89 Willenstheorien 191–193 Zuführung, polizeiliche 112, 189 Zurechenbarkeit des Erfolges 195, 198, 304 Zusammenwirken von Fachkräften 188, 297, 413