Figuren und Strukturen: Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag [Reprint 2016 ed.] 9783110943634, 9783598115851

"Nicht zuletzt aber ist die Festschrift für jeden, der sich für die sächsische Geschichte interessiert, eine wahre

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Figuren und Strukturen: Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag [Reprint 2016 ed.]
 9783110943634, 9783598115851

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Tradierungen und Interpretationen
Arbeit als Problem der europäischen Geschichte
Das Bürgertum – Phönix aus der Asche
Die Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig im Jubiläumsjahr 1863
Die Kontinuität des Irrtums. Das Deutsche Reich an der Schwelle zum totalen Krieg
Über den Nutzen und Nachteil der Historie in einem (post)-kolonialen Zeitalter
Gesellschaftsprognose – auch eine Aufgabe für Historiker?
Erinnerungspolitik im Nachkriegsdeutschland? Eine Erinnerung
Revolution oder „Wende“: Das Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im Meinungsstreit
„Eine deutsche Affäre“?
II. Figuren und Strukturen
Von Paderborn nach Rom: Ein Kaiserweg?
Wiprecht von Groitzsch
Erzbischof Stefan von Riga († 1483)
Die Hochzeit Georgs des Bärtigen mit der polnischen Prinzessin Barbara von Sandomierz (1496)
Landesvater oder Reichspolitiker? Kurfürst August von Sachsen und sein Regiment in Dresden 1553-1586
Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700
Das Prinzip der „Lokalvernunft“
Soziale Figurationen und psychische Valenzen. Die Dynamik von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert
Bürgerliche Gutseigentümer im mecklenburgischen Landtag am Ende des 18. Jahrhunderts
Ländliche Neusiedlungen in Sachsen während der frühen Neuzeit
„Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft“. Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ vor zweihundert Jahren
Johannes Gutenberg und Friedrich Koenig – zwei Pioniere des Druckmaschinenbaus.
Staat und Industrialisierung im Vormärz: Das Königreich Sachsen (mit Vergleichen zu Preußen)
Weibliche Erwerbsarbeit zwischen Tradition und Aufbruch: das 19. Jahrhundert und (k)ein Ende?
Der Leipziger Frauenbildungsverein und der Allgemeine Deutsche Frauenverein
Die Juden zwischen Tschechen und Deutschen in Prag
Geheime Verschwörung mit Königsmord
Proletarische Herkunft - proletarisches Bewußtsein. Das Beispiel Emma Ihrer (1857-1911)
Friedrich Ebert (1871-1925)
Die Braunkohlenindustrie in Sachsen zwischen Demontage und Neubeginn (1945-1958)
Kongruenz der Systeme. Lohnfmdung auf ost- und westdeutschen Werften in den 1950er Jahren
Vorläufige Betrachtungen der Ohnmacht am Beispiel Lateinamerikas
III. Regionen und Institutionen
„...so ist kein beßer Mittel, ihn im Zaum zu halten.“
Humboldt in Leipzig? Die ‚Alma Mater Lipsiensis‘ und das Modell der preußischen Reformuniversität im frühen 19. Jahrhundert
„...so sich des Bergwerks beflissen / Und von Amerika bis China hinein / Manch’ löbliches Bergwerk bracht‘ auf die Bein’.“
Das Wirken Chemnitzer Abgeordneter im Sächsischen Landtag (1833-1867)
Der Lengenfelder Bürgerverein im Revolutionsjahr 1848
“Under the name of a constitution ...” British Diplomatic Reports from Germany in the Nineteenth Century
Majestätsbeleidigung und Öffentlichkeit
Vom deutschen „Conversations-Lexikon“ zum russischen „Enzklopädischen Wörterbuch“
„... durch sein Verhalten des Tragens einer deutschen akademischen Würde unwürdig...“
Von den Nationalliberalen zur Deutschen Volkspartei
Die Option Mitteldeutschland. Wirtschaftsräumliche Konzepte in den 1920er Jahren aus Leipziger Perspektive
Vergangenheitsbewältigung im Zeichen Goethes. Mitglieder der Leipziger Goethe-Gesellschaft im Umgang mit dem Dritten Reich (1945–1950)
Die Entstehung des Sorbischen Instituts an der Universität Leipzig (1951)
Die Institutionalisierung der Sorabistik nach dem Zweiten Weltkrieg
Eine Notkirche für Leipzig
Schriftenverzeichnis von Hartmut Zwahr, 1955-2001
Autorenverzeichnis

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Figuren und Strukturen Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Manfred Hettling, Uwe Schirmer und Susanne Schötz unter Mitarbeit von Christoph Volkmar

K G Säur München 2002

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Figuren und Strukturen: Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag / hrsg. von Manfred Heuling ... - München : Saur, 2002 ISBN 3-598-11585-7 ®

Gedruckt auf säurefreiem Papier / Printed on acid-free paper © 2002 by K. G Saur Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten / All rights strictly reserved Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Druck/Bindung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach ISBN 3-598-11585-7

Inhalt

Vorwort

X

I. TRADIERUNGEN UND INTERPRETATIONEN

Jürgen Kocka Arbeit als Problem der europäischen Geschichte

1

Hans-Ulrich Wehler Das Bürgertum - Phönix aus der Asche

17

Friedrich Lenger Die Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig im Jubiläumsjahr 1863

25

Wolfgang J. Mommsen Die Kontinuität des Irrtums. Das Deutsche Reich an der Schwelle zum totalen Krieg

43

Georg G. Iggers Über den Nutzen und Nachteil der Historie in einem (post)-kolonialen Zeitalter

57

Volkmar Weiss Gesellschaftsprognose - auch eine Aufgabe für Historiker?

69

Wolfgang Kaschuba Erinnerungspolitik im Nachkriegsdeutschland? Eine Erinnerung

81

Rainer Eckert Revolution oder „Wende": Das Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im Meinungsstreit

99

Ulrich von Hehl „Eine deutsche Affäre"? Beobachtungen zum Verlauf des Konflikts am Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung

121

I I . FIGUREN UND STRUKTUREN

Franz-Reiner Erkern Von Paderborn nach Rom: Ein Kaiserweg?

141

Thomas Vogtherr Wiprecht von Groitzsch. Bemerkungen zur Figur des sozialen Aufsteigers im hohen Mittelalter.... 157 Henning Steinßihrer Erzbischof Stefan von Riga (f 1483). Eine biographische Skizze

171

Uwe Schirmer Die Hochzeit Georgs des Bärtigen mit der polnischen Prinzessin Barbara von Sandomierz (1496)

183

Jens Brüning Landesvater oder Reichspolitiker? Kurfürst August von Sachsen und sein Regiment in Dresden 1553-1586

205

Helmut Bräuer Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700

225

Manfred Rudersdorf Das Prinzip der „Lokalvernunft". Der konservative Aufklärer Justus Moser und das Problem der Armutsbewältigung im Ancien regime

241

Manfred Heuling Soziale Figurationen und psychische Valenzen. Die Dynamik von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert

263

Gerhard Heitz Bürgerliche Gutseigentümer im mecklenburgischen Landtag am Ende des 18. Jahrhunderts

277

Karlheinz Blaschke Ländliche Neusiedlungen in Sachsen während der frühen Neuzeit

291

Günther Heydemann „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft". Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus" vor zweihundert Jahren. Ein sozial- und kulturhistorischer Rückblick

321

VI

Thomas Keiderling Johannes Gutenberg und Friedrich Koenig - Zwei Pioniere des Druckmaschinenbaus. Zur Methodik der vergleichenden Biographie- und Innovationsforschung

335

Rudolf Boch Staat und Industrialisierung im Vormärz: Das Königreich Sachsen (mit Vergleichen zu Preußen)

355

Susanne Schätz Weibliche Erwerbsarbeit zwischen Tradition und Aufbruch: das 19. Jahrhundert und (k)ein Ende?

373

Beate Klemm Der Leipziger Frauenbildungsverein und der Allgemeine Deutsche Frauenverein. Eine Annäherung an Figuren, Strukturen und Handlungsräume

391

Jan Havränek Die Juden zwischen den Tschechen und Deutschen in Prag

413

Stephan Niedermeier Geheime Verschwörung mit Königsmord. Ein Kriminalfall aus dem alten Wien

423

Arno Herzig Proletarische Herkunft - proletarisches Bewußtsein. Das Beispiel Emma Ihrer (1857-1911)

443

Heinrich August Winkler Friedrich Ebert (1871-1925). Eine Skizze

451

Kerstin Kretschmer Die Braunkohlenindustrie in Sachsen zwischen Demontage und Neubeginn (1945-1958). Aspekte der Wirtschafts- und Sozialpolitik

463

Hanna Haack /Heinz-Gerd Hofschen Kongruenz der Systeme. Lohnfindung auf ost- und westdeutschen Werften in den 1950er Jahren.. 477 Michael Riekenberg Vorläufige Betrachtungen der Ohnmacht am Beispiel Lateinamerikas

VII

495

I I I . REGIONEN UND INSTITUTIONEN

Manfred Straube „... so ist kein beßer Mittel, ihn im Zaum zu halten." Das Leipziger Handwerk und die „General-Innungs-Articul für Künstler, Profeßionisten und Handwerker" vom 8. Januar 1780

509

Markus Huttner Humboldt in Leipzig? Die ,Alma Mater Lipsiensis' und das Modell der preußischen Reformuniversität im frühen 19. Jahrhundert

529

Andreas Schöne „... so sich des Bergwerks beflissen / Und von Amerika bis China hinein / Manch' löbliches Bergwerk bracht' auf die Bein'." Notizen aus dem Leben des Betriebs-Schichtmeisters der Schneeberger konsortschaftlichen Grubenverwaltung Heinrich Schmidhuber (1811-1867)

563

Wolfgang Uhlmann Das Wirken Chemnitzer Abgeordneter im Sächsischen Landtag (1833-1867)

575

Michael Hammer Der Lengenfelder Bürgerverein im Revolutionsjahr 1848. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Vereinswesens in Sachsen in der Revolution von 1848/49

601

James Retallack "Under the name of a Constitution ..." British Diplomatie Reports from Germany in the Nineteenth Century

621

Uwe John Majestätsbeleidigung und Öffentlichkeit. Presseprozesse wegen Beleidigung des Andenkens König Johanns von Sachsen 1873/74

645

Erhard Hexelschneider Vom deutschen „Conversations-Lexikon" zum russischen „Enzyklopädischen Wörterbuch". Zur Entstehungsgeschichte des Brockhaus/Jefron

663

VIII

Jens Blecher / Gerald Wiemers „... durch sein Verhalten des Tragens einer deutschen akademischen Würde unwürdig..." Akademische Graduierungen und deren nachträglicher Entzug an der Universität Leipzig zwischen 1900 und 1935

679

Michael Rudioff Von den Nationalliberalen zur Deutschen Volkspartei. Der Umbruch im sächsischen Parteiensystem im Spiegel der Korrespondenz des Kriebsteiner Unternehmers Dr. Konrad Niethammer

699

Volker Titel Die Option Mitteldeutschland. Wirtschaftsräumliche Konzepte in den 1920er Jahren aus Leipziger Perspektive

737

Detlef Döring Vergangenheitsbewältigung im Zeichen Goethes. Mitglieder der Leipziger Goethe-Gesellschaft im Umgang mit dem Dritten Reich (1945-1950)

757

Siegfried Hoyer Die Entstehung des Sorbischen Institutes an der Universität Leipzig (1952)

779

Dietrich Scholze Die Institutionalisierung der Sorabistik nach dem Zweiten Weltkrieg

793

Thomas Topfstedt Eine Notkirche für Leipzig

801

Schriftenverzeichnis von Hartmut Zwahr, 1955-2001

819

Autorenverzeichnis

832

IX

Vorwort i. Volker Braun hat in seinen Berichten von Hinze und Kunze die subversive Kraft der Poesie gegen die theoretische Autorität der Klassiker gewendet. Jeder Mangel lasse sich ertragen, und mit jeder Knappheit lasse sich fertig werden - so Hinze. Was dieser hier Kunze mitteilt, war auch als Antwort auf Marx und Engels und deren Epigonen lesbar. In dem Land, in dem Hinze und Kunze lebten, nahm die Verelendung neue und auf andere Art bedrohliche Züge an. „Elend sei es aber, wenn es keine Ideen mehr gibt". Wer wollte, konnte darin eine prägende Erfahrung finden in jenem Land, das vorgab, Not und Elend erstmals für alle abgeschafft zu haben. Und wer sich dieser Erfahrung öffnete, der wurde sehr schnell gewahr, sich darin von „Hinz" und „Kunz" zu unterscheiden. Hartmut Zwahr erfuhr das aus nächster Nähe an der Universität Leipzig. Als Student der Geschichte, Germanistik, Volkskunde und Pädagogik erlebte er das plötzliche Abhandensein von Personen und das allmähliche Verschwinden von Ideen. Ernst Bloch und Hans Mayer gingen in den fünfziger Jahren in den Westen, Heinrich Sproemberg nach Berlin. Die, die nicht vorgaben, auf alles eine Antwort zu wissen, wußten keinen anderen Ausweg mehr. Die Wissenschaft wurde dekretiert; viele andere verfielen in Schweigen. Die Hoffnungen, die Hartmut Zwahr den Kontakt zu tschechischen und slowakischen Kollegen und späteren Freunden nach 1965 suchen ließen, wurden im August 1968 durch Panzer zerstört. Müssen Geist und Kultur, so fragten sich damals viele, in der Wüste der Tyrannei versanden? Kann Wissenschaft überhaupt noch Neues erzeugen, wenn sie dekretiert wird, wenn ihr - wie Hinze befürchtete - die Ideen ausgingen? Auswege können vielfältig sein. Die einen, vielleicht die Mehrheit, akzeptierten die Selbstgenügsamkeit des sich Im-Kreise-Drehens und des Wiederkäuens des Erlaubten und Bekannten. Andere wiederum entschieden sich für das Auswandern mit ungewissem Ausgang. Schließlich blieben jene, die das Unterwandern als Uberlebensmöglichkeit praktizierten. Die verordnete Erfahrungslosigkeit beförderte neue Ausdrucksformen und Einsichten. Eine Dialektik von Verelendung und Innovation konnte im günstigen Fall hieraus entstehen. Hartmut Zwahrs Unterwanderung der real verordneten Geschichtsinterpretation läßt sich mit zwei Begriffen charakterisieren. Einerseits entwickelte er eine faszinierende Fähigkeit, Geschehnisse in einer detailgetreuen Phänomenologie zu beschreiben und zu veranschaulichen. Die Genauigkeit der Beobachtung, der Spürsinn für das Wesentliche und das Faible für das Einzelne verbinden sich bei ihm mit einer beeindruckenden sprachlichen Gestaltungskraft. Diese phänomenologische Beschreibungsfähigkeit schützte ihn auch davor, sich in der vermeintlichen Sicherheit theoretischer Scheuklappen einzurichten. Statt dessen wurde ihm die Dialektik selber zum Leitfaden für die theoretische Durchdringung vergangenen Geschehens. Denn Hartmut Zwahr flüchtete sich gerade nicht in einen theorieskeptischen Positivismus und in die Illusion einer vermeintlich wertneutralen

Ereignisrekonstruktion, sondern machte marxistische Theorieelemente für eine moderne Sozialgeschichte fruchtbar.

II. In Leipzig wurde das Instrumentarium der Strukturgeschichte auch nach den tiefschneidenden Veränderungen der fünfziger und sechziger Jahre und dem Weggang kritischer Köpfe weiter gepflegt. Die Traditionen der deutschen Landesgeschichtsforschung lebten im Verborgenen weiter und wurden gepflegt. Vor allem Lamprechts Name ist oft genannt worden. Bei ihm, wie auch unter Seeligers, Kötzschkes und Sproembergs Obhut waren empirisch gesättigte, strukturgeschichtliche Qualifizierungsschriften dutzendweise entstanden. Zu Beginn der sechziger Jahren blieben den Studenten, so sie die Wege in die alte Albertina oder die Deutsche Bücherei fanden, diese Studien nicht verborgen. Auf diese Tradition besann sich auch Zwahr, als er 1963 mit einem agrar- und sozialgeschichtlichen Thema promoviert wurde. Belesenheit schützte ihn vor Ideenlosigkeit. Den Bauernwiderstand und die sorbische Volksbewegung in der Oberlausitz zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersuchte er eingehend. Daß die Gerichtsherren der Oberlausitz im 19. Jahrhundert sorbisch lernten, um die Sprache ihrer Knechte zu verstehen, war eine Beobachtung Zwahrs, die ihm zur Erkenntnis von Herrschaft und zur Einsicht in die Verkrustung jenes sozialistischen Systems wurde, das er durchaus bejahte. Die Herren des 19. Jahrhunderts konnten und wollten lernen, die Herren des Sozialismus nicht. Seit den siebziger Jahren hat Hartmut Zwahr dann explizit eine .dialektische Sozialgeschichte' konzipiert und in eindringlichen Studien umgesetzt. Beginnend mit der Konstituierung des Proletariats als Klasse, seiner Habilitationsschrift von 1974, hat er strukturelle Bedingungen beschrieben, in denen Menschen sich zu Handlungseinheiten formen. Diese Arbeit fand schnell international Anerkennung und zählt bis heute zu den Klassikern der Sozialgeschichte. Berühmt wurde insbesondere seine Patenanalyse der Leipziger Arbeiter - befreit hat er damit die Arbeitergeschichte aus dem Prokrustesbett ideologischer Vorannahmen. Doch wird oft übersehen, daß Zwahr nie eine simple Sozialgeschichte einzelner sozialer Gruppen betrieb. Alle seine Arbeiten waren bezogen auf eine „Klassendialektik" von Proletariat und Bourgeoisie. Diese jedoch - und hierin lagen der entscheidende intellektuelle Anspruch und die nach wie vor bestehende Inspiration begründet - wurde nicht geschichtsphilosophisch begründet, sondern immer zurückgeführt auf das Arbeitsverhältnis und die Wechselbeziehungen von Lebensbedingungen und Lebensformen. Hier ist die Ursache zu finden, daß seine Studien auch nach der Entideologisierung der Geschichtswissenschaft und nach der kulturalistischen Herausforderung der Sozialgeschichte nichts von ihrer Überzeugungskraft und ihrer Anregungsfähigkeit verloren haben. Was Zwahr in seinen Studien über Proletariat und Bourgeoisie für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts theoretisch formuliert hat, fand seine anthropologi-

XI

sehe Erweiterung in den Arbeiten über Herr und Knecht. Nach der im modernen Arbeitsprozeß wurzelnden Dialektik von Klassen wurde nun die Spannung zwischen „Figurenpaaren" zum Leitthema. Auch hier offenbarte sich erneut Hartmut Zwahrs theoretische Kreativität. Er kontrastierte nicht einfach Strukturen und Personen, sondern sein Begriff der „Figuren" beschrieb typische Konstellationen und Handlungsbedingungen, in die Personen eingebunden und verstrickt sind. Zwahrs Herr und Knecht war als Pendant zu Volker Brauns Hinze-und-Kunze-Roman konzipiert worden. Im Herbst 1989 brachte er in einer kleinen Nachbemerkung einen Satz zu Papier, der die Skepsis des Historikers und die Einsicht des Dialektikers angesichts eiliger Befreiungshoffnungen zu Ausdruck brachte: „Knecht und Magd können den Herrn zum Rollentausch zwingen, Freiheit und Würde haben sie damit noch nicht errungen". Wer die Dauerhaftigkeit der Ideenlosigkeit gespürt hatte, der blieb gegenüber Hoffnungen auf schnelle Veränderung skeptisch. Daß dieses theoretische Fundament nie zur Unterstellung einer Zwangsläufigkeit des historischen Geschehens angeleitet hat, ist im Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR beeindruckend bestätigt worden. Ereignisbeschreibung und Strukturanalyse verbinden sich zu einer dichten Beschreibung des Oktober 1989 in Leipzig - indem historische Figuren in genau jenem Moment beschrieben werden, in dem sie überkommene strukturelle Bedingungen hinter sich lassen und neue und überraschende Handlungsfreiheiten gewinnen. Daß der Dialektiker und Phänomenologe der Historie das Gespür für die Besonderheit des historischen Augenblicks nicht verloren hatte, erwies Hartmut Zwahr gerade in diesem Buch. Sein - an Mattheuer angelehntes - Motto des ,aus dem Kasten ins Freie Springenden' war Hoffnung und Aufforderung zugleich. Aber auch Einsicht darin, daß der vorerst zu kurz springen würde, der es nie gelernt hatte.

III. Jeder, der Hartmut Zwahrs Vorlesungen hörte oder seine Seminare besuchte, weiß, daß dem Historischen Seminar der Universität Leipzig ein Hochschullehrer fehlen wird, der nicht nur erworbene Lesefrüchte, professionelles Wissen und handwerkliches Können, sondern auch seine Sicht der Dinge, seinen Weg der Erkenntnis und seine Neugier an den großen und kleinen Sachverhalten der Geschichte mit ganzem Engagement einbrachte. Hartmut Zwahr ließ andere großzügig an seinen Kenntnissen und Erkenntnissen teilhaben; er förderte die Eigenständigkeit seiner Schülerinnen und Schüler und stellte ihnen wissenschaftliche Kontakte im In- und Ausland zur Verfügung. Waren es in den 1980er Jahren Studien zur Klassenbildung, regte er in den 1990er Jahren sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Forschungen zum Buchhandel und zu den Leipziger Messen sowie zu Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte an. Die daraus hervorgegangenen Lehrveranstaltungen haben wesentlich zur Attraktivität des Historischen Seminars der Universität Leipzig

XII

unter den Studierenden beigetragen. Sie stehen für ein Stück Öffnung und Innovation in der Leipziger Geschichtswissenschaft nach 1989. Öffnung und Innovation - das charakterisierte auch die Tätigkeit des institutionsunabhängigen, interdisziplinären Leipziger Sozialgeschichtlichen Arbeitskreises, der auf Initiative von Hartmut Zwahr im Frühjahr 1982 in Leipzig gegründet wurde. Hier waren in jährlich zwei Tagungen all jene vereint, die, wie die Gründer, Hartmut Zwahr, Helga Schultz, Horst Handke und Bernd Schöne, von unterschiedlichen Ansätzen, Forschungsrichtungen und Institutionen der DDR herkommend, ein Interesse an Sozialgeschichte hatten. Im Arbeitskreis spiegelt sich das Bemühen Hartmut Zwahrs um Wissenschaftsorganisation und -Vernetzung von unten, um Öffnung und Pluralisierung der DDR-Geschichtswissenschaft. Der Leipziger Sozialgeschichtliche Arbeitskreis war ein Projekt Gleichgesinnter; er war ein Forum der Diskussion und Information, der Meinungsbildung und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, das ohne Hartmut Zwahr nicht denkbar gewesen wäre. Das Verdienst dieses Arbeitskreises besteht erstens in der großen Themenbreite der hier diskutierten und initiierten Projekte. Dies trifft auf den zeitlichen Rahmen von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Republik wie für die inhaltlichen Schwerpunkte gleichermaßen zu. Zur Diskussion standen nicht nur .klassische' sozialgeschichtliche Themen, wie die Sozialgeschichte von Klassen und Schichten, Städten und Regionen, sondern auch Projekte, die für die Ausdifferenzierung und Erweiterung der Disziplin stehen, ob sie sich nun der politischen Sozialgeschichte, demographischen Fragestellungen, der Geschichte der sozialen Mobilität, der Alltags* und Kulturgeschichte oder der Frauengeschichte zuwandten. Damit waren im Leipziger Arbeitskreis Themen bestimmend, die das geschichtswissenschaftliche Profil der DDR wenig prägten - weder in der universitären Forschung und Lehre, noch in der institutionellen Schwerpunktsetzung. Zweitens kennzeichneten den Leipziger Arbeitskreis spezifische, immer wiederkehrende Diskussionslinien, die einen Prozeß des gemeinsamen Lernens verdeutlichen. Das waren beständige Fragen nach den Quellen und Methoden und ihrer Kritik, nach der Begrifflichkeit und den theoretisch-methodologischen Implikationen, nach der Darstellung von Geschichte und nach den Anregungen - dem Nachahmens- und Übernehmenswerten für andere Projekte. Drittens prägte den Arbeitskreis von Anfang an das ZurKenntnis-Nehmen und Diskutieren anderer - vor allem westlicher - Ansätze. Während dabei anfangs vor allem interessierte, welche Fragestellungen, Untersuchungsmethoden und verwendeten Quellenbestände für die eigene Arbeit nutzbar gemacht werden könnten, wurde bald immer stärker die Gefahr des Zurückbleibens und der Abkopplung von der internationalen Wissenschaftsentwicklung thematisiert. Daraus erklärt sich viertens das Bestreben um Abhilfe, um Selbsthilfe. So fand ein regelmäßiger Austausch nicht nur über interessante Neuerscheinungen, sondern auch über Tagungen, Ausstellungen, Auslandaufenthalte statt. Wie die Sozialgeschichte Empathie für die beschriebenen Akteure, Sinn für das Charisma des historischen Augenblicks und nüchtern-rationale Analyse struktureller Handlungsbedingungen gleichermaßen in den Blick nehmen und konzeptionell fruchtbar machen kann - das wird man auch weiterhin in Hartmut Zwahrs Arbeiten

XIII

genußvoll lesen und fruchtbringend studieren können. Die Beiträge dieses Bandes sind ein bescheidener Versuch, Hartmut Zwahr für unzählige anregende Gespräche und Lektüren zu danken. Dank gilt auch jenen zu sagen, die an dieser Festschrift mitgewirkt haben. Ohne die Unterstützung durch die Universität Leipzig unjl den Kanzler der Universität, Herrn Peter Gutjahr-Löser, die Stiftung für das Sorbische Volk, die Horst-SpringerStiftung für neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Frau Katja Wöhner, Herrn Manfred Rudersdorf und Herrn Johannes Bronisch sowie Herrn Klaus G. Saur und dem Verlag K. G. Saur München wäre die Festgabe nur schwerlich zustande gekommen. Ohne Christoph Volkmar wäre sie kein Buch geworden. Dafür sei allen besonders gedankt.

Manfred Hettling

Uwe Schirmer

Leipzig / Halle, im Sommer 2001

XIV

Susanne Schötz

Jürgen Kocka

Arbeit als Problem der europäischen Geschichte

Es fehlt nicht an Untersuchungen und Darstellungen zur Geschichte der Arbeit und zur Arbeit in der Geschichte des Westens. Umfangreiche Forschungsliteratur findet sich insbesondere zur Geschichte der Arbeiter in den unterschiedlichen Epochen. Die breite sozial- und kulturgeschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte hat immer wieder Probleme der Arbeit berührt, sei es in Untersuchungen zu einzelnen beruflichen und sozialen Gruppen wie den Handwerkern und Heimarbeitern oder den Kaufleuten und Akademikern, sei es bei der Behandlung von Landwirtschaft, Gewerbe und Dienstleistungen, sei es in der Geschichte der Familie und des Haushalts, der Unternehmen und der Arbeitsbedingungen, sei es in der Geschlechter-, Städte-, Protest- oder Armutsgeschichte. Auch an zusammenfassenden Darstellungen zur Geschichte der Arbeit in einzelnen Epochen wie im Epochenvergleich fehlt es nicht ganz, und umgekehrt behandeln die Studien zur Geschichte der Freizeit und der Arbeitslosigkeit das Thema ex negativo.1 Dennoch wirkt die Geschichte der Arbeit als Untersuchungsfeld noch merkwürdig unstrukturiert. Es ist nicht so, als ob man nichts über Arbeit in der Geschichte Europas wüßte. Im Gegenteil, man weiß sehr viel oder kann es doch wissen. Aber es ist fraglich, ob und - wenn ja - wie sie als solche thematisiert werden soll, da sie doch immer - bis in die Moderne hinein - aufs engste verflochten mit anderen Lebensvollzügen war und insofern auch für den rückblickenden Historiker gar nicht so recht abgrenzbar ist. Es besteht noch kaum Klarheit über die Fragestellungen, mit denen die Phänomene als historisches Problemfeld konstituiert werden können und sollen. Jedenfalls hat die gegenwartsbezogene Debatte, die seit den 1980er Jah-

1

Vgl. bspw. Venanz Schubert (Hg.), Der Mensch und seine Arbeit. Eine Ringvorlesung der Universität München, St. Ottilien 1986; Frans van der Ven, Sozialgeschichte der Arbeit, 3 Bde., München 1972 (erstmals niederländisch 1965-68); Josef Ehmer und Peter Gutschner, Befreiung und Verkrümmung durch Arbeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien 1998, 283-303; Wolfgang Nahrstedt, Die Entstehung der Freizeit. Dargestellt am Beispiel Hamburgs, Göttingen 1972; John A. Garraty, Unemployment in History. Economic Thought and Public Policy, New York 1979. - Quellen: Wolfgang Asholt /Walter Fähnders (Hg.), Arbeit und Müßiggang 1789-1914, Frankfurt 1991; Keith Thomas (Hg.), The Oxford Book of Work, Oxford 1999. Dies ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich 1996 in der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten habe. Manfred Bierwisch bereitet die Veröffentlichung der Beiträge vor, die zu diesem Thema in der Klasse gehalten wurden. Der Band wird im Akademie-Verlag erscheinen. Ich bedanke mich für die Erlaubnis zu diesem Vorabdruck zu Ehren von Hartmut Zwahr, der bahnbrechend über die Geschichte der Arbeiter und der Arbeit geschrieben hat.

Jürgen Kocka

ren in den westlichen Ländern über Probleme der Arbeit und der „Arbeitsgesellschaft" geführt wird, noch nicht oder kaum auf die Behandlung der Geschichte der Arbeit durchgeschlagen.2 Ich wähle, für den Zweck dieses Problemaufrisses, drei Zugänge. Zum einen spreche ich über Verständnis und Deutung, Begriff und Einschätzung von Arbeit in Europa bis ca. 1800, wie sie sich in den Diskussionen der Zeit, vor allem bei herausragenden, überlieferten Autoren rekonstruieren lassen. Dies ist ein begriffsgeschichtlicher Ansatz, der sich stark auf den von Werner Conze verfaßten Artikel „Arbeit" in den „Geschichtlichen Grundbegriffen" stützt,3 aber anders gewichtet und neuere Forschungsergebnisse einbezieht. Die Auswahl der Stationen, die ich behandle, ist nicht ganz ohne Willkür, aber in Übereinstimmung mit der Konvention und teilweise dadurch gerechtfertigt, daß die jeweils späteren Stationen - etwa die mittelalterlich-christliche Diskussion über Arbeit - auf frühere Stationen - etwa die klassisch-griechische Diskussion - zitierend zurückgriffen: also ein Stück Kontinuität im Gegenstand selbst, nicht nur rückblickend konstruiert. Zum andern diskutiere ich, von eigenen Forschungen ausgehend,4 den großen Wandel, den die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts für die Praxis und die Deutung der Arbeit gebracht hat. Schließlich ende ich mit einem kurzen Ausblick auf Gegenwartsprobleme.

I. Wandlungen im Verständnis der Arbeit Christian Meier hat es früh betont: Im klassischen Athen und im klassischen Rom dominierte ein Verständnis von Arbeit, das sich von der modernen Auffassung scharf unterscheidet. Es gab keinen allgemeinen Begriff für „Arbeit". Den Griechen der Perikles-Zeit wäre es unsinnig erschienen, die Handarbeit der Sklaven und die intellektuelle Arbeit eines Schriftstellers mit ein und derselben Kategorie zu fassen. Arbeit, im Sinne der Arbeit der Bauern, der Handwerker und Kaufleute, der Tage2

3

4

Vgl. Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt 1983; Orio Giarini und Patrick M. Liedtke, Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome, Hamburg 1998 (engl. 1997); Ulrich Beck, Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt 1999; Chris Tilly und Charles Tilly, Work Under Capitalism, Boulder, Col. 1998; Paul James u. a. (Hg.), Work of the future. Global perspectives, St. Leonards NSW (Australien) 1997; Alain Supiot (Hg.), Au-delà de l'emploi, Paris 1999. Werner Conze, Art. „Arbeit", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, I, Stuttgart 1972, 154-215. Vgl. etwa Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990; ders., Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875, Berlin 1983.

2

Arbeit als Problem

löhner und Handarbeiter, wirtschaftliche und abhängige Arbeit überhaupt, wurden vergleichsweise skeptisch, ja negativ gewertet. Arbeit galt primär als Mühe und Last, sie gehörte vor allem in die Sphäre des Hauses und wurde dort meist von Sklaven, Frauen und anderen Personen minderen Rechts wahrgenommen, in deutlicher Absetzung zur Polis, zur Öffentlichkeit der Stadt, in der die allgemeinen Dinge des Gemeinwesens verhandelt wurden, und zwar von den Bürgern, d.h. den männlichen Hausherren und Haushaltsvorständen, die gerade keine Gewerbe- und Handeltreibenden, auch keine Bauern oder Handwerker und natürlich auch keine Tagelöhner und Handarbeiter waren, sondern die über Muße verfugten und gerade deshalb die bürgerlichen Tugenden praktizieren konnten. Muße und Freiheit galten als Schwestern. Grundbesitz half. Ich erspare mir alle an sich notwendigen Differenzierungen. 5 Zweifellos hat das Christentum, und zwar schon in der Antike, zur EntDiskriminierung der Arbeit beigetragen. Doch sollte man zunächst die Ambivalenz der jüdisch-christlichen Tradition in bezug auf Arbeit betonen. Das gilt jedenfalls für die Bibel, gemäß der Arbeit einerseits mit Fluch und Mühsal verbunden war, andererseits als Teil des göttlichen Auftrags an den Menschen verstanden wurde, sich die Erde untertänig zu machen: also Arbeit als Fluch und Segen zugleich. Doch liegt in der Bibel, wenn man dem Theologen Wolfhart Pannenberg folgt, das größere Gewicht für die Lebenserfüllung des Menschen auf dem Sabbat, an dem Gottes gedacht wird und der Mensch mehr zu sich kommt als in der, als notwendig akzeptierten Arbeit der Woche.6 Bei Paulus findet sich dann eine deutliche Aufwertung der Arbeit, und zwar auch und gerade der Handarbeit. Wer nicht arbeite, solle auch nicht essen, schrieb er. Arbeit galt ihm als unerläßlich für jeden Menschen ohne Unterschied des Standes, nicht nur des Unterhalts wegen, sondern auch „um Gottes Willen", als Dienst am Nächsten, als Erfüllung. 7 Darauf konnten sich dann die Regeln der christlichen Mönchsorden seit dem 6. Jahrhundert beziehen. Benedikt von Nursia schrieb: „Müßiggang ist der Feind der Seele, deshalb sollen sich die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit beschäftigen und wieder zu bestimmten Zeiten mit heiliger Lektüre." Andere Mönchsorden folgten nach, so besonders ausgeprägt die Zisterzienser. Sicherlich trugen die Mönchsregeln zur positiven Umwertung der Vorstellung von Arbeit in Europa bei, zumal die christliche Lehre ja gleichzeitig gegen Sklaverei Stellung nahm und insofern die Arbeit vom Stigma der Unfreiheit zu lösen beitrug, das ihr in der Antike und in anderen Teilen der Welt lange anhaftete. Doch diese Deutung der Arbeit als

5

Siehe Christian Meier, Arbeit, Politik, Identität. Neue Fragen im alten Athen, in: Schubert (Hg.), Der Mensch, 47-111; Wilfried Nippel, Erwerbsarbeit in der Antike, in: Jürgen Kocka / Klaus O f f e (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt 2000, 54-66.

6

Vgl. Wolfhart Pannenberg, Fluch und Segen der Arbeit, in: Schubert (Hg.), Der Mensch, 23-46.

7

Vgl. Gerhard Jaritz / Käthe Sonnleitner (Hg.), Wert und Bewertung von Arbeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Graz 1995.

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Jürgen Kocka

sinnvoll im Rahmen religiös orientierten Lebens änderte nichts an der weiterhin dominanten Deutung von Arbeit - von Handarbeit - als harte Mühe und drückende Last. Eben dies dürfte den Erfahrungen der allermeisten tatsächlich Arbeitenden auf dem Land und in den Städten, im Kampf um das Überleben und bei der Verausgabung der eigenen Kräfte durch Arbeit vor allem entsprochen haben. Und in der kirchlich-theologischen Tradition wirkten auch arbeitsskeptische Sichtweisen weiter, so bei Thomas von Aquin, der Aristoteles rezipierte und die Vorrangigkeit der vita contemplativa vor der vita activa erneut bekräftigte. Schließlich war die christliche Kirche des Mittelalters nicht nur Mönchs- und Volkskirche, vielmehr auch Adels- und Priesterkirche. Die Distanz zur Arbeit und besonders zur körperlichen Arbeit war ein zentraler Bestandteil adliger Kultur.8 Auch im kürzesten Überblick über die Geschichte der Arbeit in Europa darf die Erwähnung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadt nicht fehlen, die seit dem 12. Jahrhundert ausgebaut und von Westen nach Osten hin ausgebreitet wurde: fast durchweg als Gewerbestadt, mit dem zünftigen Handwerk und dem korporativ organisierten Handel als sozialer Substanz. Ganz anders als in der antiken Stadt fielen jetzt die Rolle des Gewerbebürgers und die des Stadtbürgers in eins. Das Recht zum Betreiben des eigenen Gewerbes und das Recht zur Mitsprache in allen städtischen Dingen hingen eng zusammen, bedingten einander und setzten einander voraus. Im Bürger der europäischen Stadt des Mittelalters verschränkten sich Arbeit und Bürgerrecht - ganz anders als in der Antike. Angesichts dieser Verknüpfung versteht man die positive Konnotierung des „ehrbaren Handwerks" und des „ehrsamen Handels" wie auch umgekehrt die prägende Bedeutung von Arbeit, speziell von Berufsarbeit, für die sich entwickelnde bürgerliche Kultur. Dies ist ein großes, hier nur anzudeutendes Thema. Die Bedeutung der Stadt für die Geschichte des Okzidents ist spätestens seit Max Weber bekannt. Zu ihr gehörte die städtische Autonomie im Unterschied zum Feudalismus der ländlichen Umwelt, gehörte die bürgerliche Absetzung vom Adel, gehörte die Herausbildung einer selbstbewußten Kultur freier, sich zusammenschließender und selbst organisierender Bürger. Dazu gehörte aber auch das weitgehende Fehlen unfreier Arbeit (im Unterschied zu den Sklaven in der antiken Stadt). Früh prägte also die Arbeit den Bürgerbegriff und eben dies wirkte positiv auf die gängige Vorstellung von Arbeit zurück.9

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Vgl. Wolfgang Zorn, Arbeit in Europa vom Mittelalter bis ins Industriezeitalter, in: Schubert (Hg.), Der Mensch, 181-212, bes. 183-187; Otto Gerhard Oexle, Arbeit, Armut, „Stand" im Mittelalter, in: Kocka / O f f e (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, 67-79; Jacqueline Hamesse / Colette Muraille-Samaran (Hg.), Le travail au Moyen Age. Une approche interdisciplinaire, Louvain-La-Neuve 1990.

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Vgl. Christian Meier (Hg.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber, München 1994; Evamaria Engel, Die deutsche Stadt des Mittelalters, München 1993 - Zuletzt Max-WeberGesamtausgabe, Abt. I, XXII/V: Wirtschaft und Gesellschaft. D i e Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teil 5: Die Stadt, hg. v. Wilfried Nippel, Tü-

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Diese Tradition setzte sich dann im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit fort. Zunehmend prägte sie die wirtschaftlichen Beziehungen über die einzelnen Städte hinaus: den sich entwickelnden Handelskapitalismus mit dem Fernhandel als Kern; das von Kaufleuten und Verlegern organisierte Heimgewerbe; das Geld- und Kreditwesen. Umgekehrt führten die ökonomischen und demographischen Krisen des späten Mittelalters dazu, daß man in den Städten des 14. und 15. Jahrhunderts begann, die zunehmende Armut zu fürchten, die anschwellende Bettelei zu stigmatisieren und den „Müßiggang" zu bekämpfen - womit umgekehrt eine „von oben" oktroyierte Positivnormung der Arbeit, des Fleißes, der Ordnung und der Disziplin verbunden war. Arbeit begann nun mit Wohlstand und Glück, Müßiggang mit Armut und Unsittlichkeit assoziiert zu werden, und dies deutlich vor der Reformation, wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat.10 Die Reformation des 16. Jahrhunderts brachte einen neuen Anerkennungsschub für die Arbeit im Leben. Martin Luther wertete die vita activa auf Kosten der vita contemplativa auf. Sein Lob der Arbeit verband sich mit bürgerlicher Adelsskepsis und protestantischem Antiklerikalismus, mit scharfer Kritik am Müßiggang der alten Eliten, zugleich aber mit dem Kampf gegen die Arbeitsscheu der kleinen Leute und mit der Verurteilung der Bettelei. Es ist kein Zufall, daß die Einrichtung von Arbeits- und Zuchthäusern seit dem 16. Jahrhundert zunächst in protestantischen Ländern begann. In Calvins Lehre war die religiöse Rechtfertigung der Arbeit, und zwar als Beruf, noch eindeutiger als bei Luther. Das Lob der Arbeit ging bei Calvin in ein Plädoyer für Arbeitsaskese über und verband sich mit der Prädestinationslehre, gemäß der wirtschaftlicher Erfolg im Diesseits die Auserwähltheit durch Gott im Jenseits erkennen läßt. Max Weber hat bekanntlich argumentiert, daß diese protestantische Ethik den Geist des Kapitalismus vorzubereiten und später auch die Praxis des Kapitalismus zu legitimieren half. Doch sei vor einer allzu modernen Deutung Luthers und Calvins gewarnt. Für beide wurde Arbeit nie Selbstzweck, sondern blieb Mittel: untergeordnet dem religiösen Zweck, weniger wichtig als der Glaube. Luther gehörte noch einem vorkapitalistischen Zeitalter an. Arbeit blieb für ihn weiter ganz biblisch durch „Mühe" und „Qual" geprägt. Sie blieb bisweilen dem sinnlosen Tun und Treiben enger benachbart als der sinnvollen Lebenserfüllung im Glauben.11

hingen 1999; Hinnerk Bruhns / Wilfried Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000. 10

Vgl. Frank Rexroth, Das Milieu der Nacht. Obrigkeit und Randgruppen im spätmittelalterlichen London, Göttingen 1999; Otto Gerhard Oexle, Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter, in: Christoph Sachße / Florian Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt 1986, 73-101; Robert Jütte, Abbildung und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber Vagatorum (1510), Köln 1988.

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Vgl. Conze, Art. „Arbeit", 163-65; Konrad Wiedemann, Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende zur Neuzeit, Heidelberg 1979. - Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Ge-

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Das 17. und 18. Jahrhundert war in Europa eine Phase fundamentalen und sich beschleunigenden Wandels, aus dem die Moderne hervorging. Erst jetzt setzte sich der moderne, allgemeine Begriff von Arbeit durch, der die verschiedensten körperlichen und geistigen Tätigkeiten umfaßte und hauptsächlich positiv konnotiert war: Arbeit als bewußtes, intentionales Handeln zur Befriedigung von Bedürfnissen und gleichzeitig als Teil der Daseinserfullung des Menschen. Diese Begriffsbildung geschah in einem historischen Kontext, der hier nur angedeutet werden kann. Zu ihm gehörte die weitere Durchsetzung des Kapitalismus lange vor der Industrialisierung, vor allem im Fernhandel, im „protoindustriellen" Heimgewerbe und in der Großlandwirtschaft. Dazu gehörte die innere Staatsbildungspolitik der absolutistischen Fürstenstaaten einschließlich ihres Fiskalismus, Kameralismus und Merkantilismus. Soziale Disziplinierung und sozial-moralische Diskriminierung von Armut waren Teil dieser Politik. Damit wurde die Arbeit zu einem Gegenstand staatlicher Förderung und Regulierung, zu einer Ressource staatlicher Macht, zu einem öffentlichen Wert, obwohl zunehmend privatwirtschaftlich organisiert. Außerdem sind die verschiedenen Spielarten des Neuprotestantismus zu nennen, insbesondere der Puritanismus im westlichen Europa mit Ausstrahlung in die Einwanderungsländer des nördlichen Amerika, der Methodismus, der als „gnadenlose religiöse Ideologie der Arbeit" bezeichnet worden ist, und im mittleren Europa der Pietismus mit seinen pädagogischen Folgen. Schließlich ist auf die Aufklärung zu verweisen und, damit verbunden, den Aufstieg eines neuen, dynamischen Bürgertums von Unternehmern und Gebildeten vor allem seit dem 18. Jahrhundert.12 Zwei begriffsgeschichtliche Entwicklungen sind zu unterscheiden:13 Zum einen ist in der Philosophie der Aufklärung und dann des Deutschen Idealismus eine emphatische Fundamentalisierung des Arbeitsbegriffs zu beobachten. Thomas Hobbes bringt Mitte des 17. Jahrhunderts die Arbeit (operatio) und Handlung (actio) mit Macht (potentia) in enge Verbindung. Wenig später macht John Locke Arbeit zu einem gesellschaftlichen Grundbegriff. Für ihn verleiht Arbeit, und zwar individuelle Arbeit, dem Menschen sein Recht auf Eigentum und den Dingen

sammelte Aufsätze zu Religionssoziologie, I, Tübingen 1920, 17-206. - Die neuere Forschung betont stark die Kontinuitäten in den Auffassungen über Armut und Arbeit seit dem 14. Jahrhundert und stellt in dieser Hinsicht den tiefen Zäsurcharakter der Reformation ein wenig in Frage, der - vielleicht vor allem in Folge des Kulturkampfs der 1870er Jahre - lange in der deutschen Forschung überbetont worden sei. Vgl. auch Volker Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: GG 9 (1983), 480-512; Oexle, Arbeit. Generell: Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250-1750, Berlin 1999. 12

Vgl. Zorn, Arbeit, 188-194. Generell: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I, München 1987; Schilling, Die neue Zeit.

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Zum folgenden mit Zitatnachweisen Conze, Art. „Arbeit", 167-81 (Kant 169, Pestalozzi 173, Adam Smith 180f.); Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, XVI, Neufchatel 1765, 567; Zorn, Arbeit, 194-205.

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erst ihren Wert. Und im Standardwerk der französischen Aufklärung, in der von d'Alembert und Didérot herausgegebenen „Encyclopédie" (1751-72) heißt es über „travail": „occupation journalière à laquelle l'homme est condamné par son besoin, & à laquelle il doit en même temps sa santé, sa subsistance, sa sérénité, son bon sens & sa vertu peut-être". Allmählich beginnt sich die alte Verbindung von „Arbeit" mit „Mühe" und „Last" zu lockern. Die Techniken (artes) sollen zur Arbeitserleichterung führen, so spätestens Descartes: Arbeit als Lust statt Arbeit als Last dank fortschrittlicher Technologie. In den Utopien von Morus und Campanella war der Gedanke bereits vorgedacht und ausgesponnen worden. Radikaler noch formuliert, hundert Jahre später, Immanuel Kant. Er wertet die Muße als „leere Zeit" ab und die Arbeit zum Lebenssinn auf: „Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, daß wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewußt. In der Muße fühlen wir nicht allein, daß uns das Leben so vorbeistreicht, sondern wir fühlen auch sogar eine Leblosigkeit." Friedrich Schiller gab dem Gedanken die volkstümliche Form und die sozialgeschichtliche Einordnung: „Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen seiner Mühe Preis. Ehrt den König seine Würde, ehret uns der Hände Fleiß." Die Überzeugung vom hohen Wert der Arbeit wurde in den Bildungsreformbewegungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zur gesellschaftlichen Kraft. Der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi kann als Beispiel dienen, an dem sich auch die andere Seite dieser Arbeitsaufwertung beobachten läßt, nämlich - lange vor Karl Marx - die Kritik an jenen Formen der Arbeitswirklichkeit, die dem neuen, emphatischen Begriff von Arbeit nicht entsprachen: also die Kritik an der nur noch routinisierten, höchst arbeitsteiligen, repetitiven, ausgebeuteten Arbeitstätigkeit, etwa an der Arbeit von Kindern in den Manufakturen der Zeit, bald auch an der Kinder-Erwerbsarbeit überhaupt. Pestalozzi schrieb 1781: „Arbeit ist ohne menschenbildenden Zweck nicht Menschenbestimmung." Das heißt: Rein mechanische, ausgebeutete Arbeit widerspricht der menschlichen Bestimmung. Diese aufklärerische Verbindung von Arbeit, Bildung und Menschenwürde wirkte als mächtige Triebkraft in das bürgerliche und das proletarische Bewußtsein des 19. Jahrhunderts hinein und machte sich in den „Arbeiterbildungsvereinen" bemerkbar, die man als eine der Wurzeln der europäischen Arbeiterbewegung sehen kann. Neben der philosophischen Fundamentalisierung des Arbeitsbegriffs fand, zum andern, seine Ökonomisierung statt. Hierfür findet man Beispiele bei den Physiokraten und den schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere beim einflußreichen Adam Smith, seinen Vorläufern, Übersetzern und Nachfolgern. Arbeit erscheint bei Smith als eigentliche Quelle des Reichtums und der Wertschöpfung, als einziger Produktionsfaktor im wirtschaftlichen Sinn, als wahrer Maßstab des Tauschwerts der Güter, als Hauptbegriff der ökonomischen Theorie und der entstehenden Wirtschaftswissenschaft. Aus diesem wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis von Arbeit war alle Mühsal, Pein und Verachtung ge-

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schwunden. Arbeit wird, in diesem Denken, zur grenzenlos dynamischen Kraft. Sie schafft Reichtum, Luxus und Kapital - und dies wird akzeptiert, in der Hoffnung und Überzeugung, daß eben diese Akkumulation letztlich dem allgemeinen Wohl zugute kommen werde. Dies war der Arbeitsbegriff des durchbrechenden Kapitalismus, noch vor Beginn der Industrialisierung, denn diese setzte sich in England ja erst seit dem späten 18. Jahrhundert, auf dem europäischen Kontinent erst im 19. Jahrhundert durch. Bei Smith wird die Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft gedacht: auf Arbeitsteilung beruhend, durch Märkte und aufgeklärtes Eigeninteresse der vielen Einzelnen verknüpft (allerdings auch durch Recht und Sitte zusammengehalten), mit Produktion und Konsum, Arbeit und Bedürfnis als zentralen Momenten. Von dieser modernen, bürgerlich-kapitalistischen, fortschrittsoptimistischen Gesellschaftsvorstellung her, in der Arbeit eine Schlüsselfunktion hielt, konnte Kritik an herkömmlichen und zeitgenössischen Formen politischer Herrschaft geübt werden: an Adelsmacht und absolutistischem Staat. Zugleich war das System von Smith ein System der „Politischen Ökonomie", das die Wirtschaft auf Politik, Nation und Staat bezog, und in dem Arbeit als Grundlage von Wohlstand und Macht des Nationalstaats geschätzt wurde. Soweit einige Stationen auf dem Weg, den das europäische Verständnis von Arbeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts durchlief. Europäisches Verständnis von Arbeit? Ich sollte einschränken: Ich bin einen Höhenweg gegangen und habe den Diskurs herausragender Autoren ausschnittsweiße rekonstruiert, nicht aber das Alltagsverständnis der Arbeit in den verschiedenen sozialen Milieus erforscht. Wer selbst mit den Händen ein Leben lang arbeitete, sei es als Bauer und Landarmer, als Magd und als Knecht, sei es als Handwerker, Heimarbeiter oder Handarbeiter anderer Art (jeweils beide Geschlechter), auf dem Feld, im Stall und im Haus, in Werkstätten, auf Baustellen und anderswo, dürfte die Last und die Mühe, die Härte und das Elend der Arbeit (jedenfalls der die Regel darstellenden Handarbeit) auch im 17. und 18. Jahrhundert nicht so beiseite gerückt, verdrängt oder relativiert haben wie es in den Abhandlungen der erwähnten Philosophen und Sozialwissenschaftler zu beobachten war. Die Arbeitserfahrung und das Arbeitsverständnis der Arbeitenden dürfte sich von den Arbeitsvorstellungen der darüber Schreibenden erheblich unterschieden haben. Sie waren überdies höchst differenziert.14 Ich habe mehr auf das westliche und mittlere als auf das östliche Europa geblickt, auf das protestantische mehr als auf das katholische und das christlich-orthodoxe. Die nationalen und regionalen Differenzen wurden vernachlässigt. Trotzdem: Was ich schilderte, war 14

Vgl. Hans Mommsen / Winfried Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981; Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte, Göttingen 1986; Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800, Frankfurt 1992, 355-413; Catharina Lis und Hugo Soly, Disordered Lives. Eighteenth-Century Families and their Unruly Relatives, Oxford 1996; Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990; Ehmer und Gutschner, Befreiung.

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nicht auf einzelne Länder beschränkt, sondern der Tendenz nach europäischnordamerikanisch, also westlich. Vergleiche zu anderen Kulturen wären äußerst erwünscht. Was änderte sich im Zeitalter der Industrialisierung, im 19. Jahrhundert?

II. Arbeit und Industrialisierung

Bis zum Beginn der Industrialisierung war freie Lohnarbeit ein Minderheitsphänomen. Arbeit, auch Erwerbsarbeit (d. h. Arbeit, mit der man ein Einkommen erzielt, von der man lebt, durch die man verdient, abhängig, selbständig oder in einer Zwischenform, manuell oder nicht nicht-manuell, mehr oder weniger qualifiziert), war vielfach gebunden: als Arbeit im Verband und unter der Herrschaft des Hauses; als Arbeit in korporativen Verbänden, beispielsweise das zünftige Handwerk; als Arbeit in feudaler Abhängigkeit und Schollengebundenheit, so auf den Grund- und Gutsherrschaften des Landes; anderswo in persönlicher Unfreiheit. Erst mit der Industrialisierung wurde die freie Lohnarbeit - die Arbeit für Lohn und Gehalt auf vertraglicher Basis - die Regel, in unterschiedlicher, oft zunächst noch verdeckter Form. Jetzt erst wurde Lohnarbeit zur Hauptvariante von Erwerbsarbeit. Erst jetzt wurde Arbeit en masse zum Gegenstand eines marktwirtschaftlichen Tauschvorgangs, also zur Ware.15 Dies stand teilweise im Widerspruch zum emphatischen Begriff von selbständiger Arbeit als Lebenssinn und Daseinsverwirklichung, wie er in den vorangehenden Jahrhunderten entstanden war. Aus diesem Widerspruch ergab sich Kritik und Protest gegen Lohnarbeit als fremdbestimmte, abhängige, ausgebeutete Arbeit, so besonders effektiv in der Theorie von Karl Marx und in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Verstädterung kam es zu erheblicher Zentralisierung der Erwerbsarbeit. Zunehmend fand Arbeit in Manufakturen und Werkstätten, Fabriken und Bergwerken, Büros und Verwaltungen statt. Es gab unzählige Übergangs- und Zwischenformen, doch dies war der hauptsächliche Trend: Der Arbeitsplatz, an dem Erwerbsarbeit geleistet wurde, und die Sphäre des Hauses / der Familie traten auseinander. Solche räumliche Trennung war den Bauern und großen Teilen der unterbäuerlichen Schicht, den Heimarbeitern und Handwerkern, den Kaufleuten aber auch noch den meist bei sich zu Hause arbeitenden Gelehrten früherer Jahrhunderte fremd gewesen. Erwerbsarbeit war gewöhnlich eng mit sonstigen Arbeiten und Daseinsverrichtungen verknüpft gewesen. Das änderte sich nun für eine rasch wachsende Zahl der Erwerbstätigen und ihre Angehörigen.

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Das folgende vor allem nach Kocka, Arbeitsverhältnisse, bes. 474-506.

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Die Familie und der Haushalt verloren Funktionen, die sie jahrhundertelang wahrgenommen hatten. Sie hörten weitgehend auf, Ort der Erwerbsarbeit zu sein. Erst jetzt wurde die private, vom Erwerbsleben und von der Öffentlichkeit getrennte Familie zum Normalfall. Die Arbeit, soweit sie Erwerbsarbeit war, wurde zu einem relativ klar ausdifferenzierten Teilsystem, das nach eigenen Regeln funktionierte: immer klarer nach marktwirtschaftlichen Regeln, unter der Kontrolle von Vorgesetzten, auch nach funktionalen Kriterien. Arbeit konstituierte sich als abgrenzbarer, erfahrbarer Teilbereich, als Arbeit an und für sich, als Sphäre mit eigenem Ort und eigener Zeit, ein Stück weit herausgelöst aus den sonstigen Lebensverrichtungen. Damit wurde die Unterscheidung zwischen „Arbeit" (im Sinn von Erwerbsarbeit) und „NichtArbeit" (einschließlich wichtiger, jedoch meist ungenannter Elemente von Arbeit, die nicht Erwerbsarbeit waren, z. B. im Haus und für die Familie) zur weit verbreiteten Erfahrung. Eben dies prägte das Reden über Arbeit wie die Begriffe der offiziellen Statistik, in der sich Arbeit zu „Erwerbsarbeit" verengte und die vielfältige Arbeit (besonders von Frauen) im Haus nicht mehr als Arbeit erscheinen ließ. Die Trennung von Erwerbsarbeit und Familie/Haushalt bedeutete viel für das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Insgesamt führte diese Trennung zu einer schärferen Unterscheidung von Männer- und Frauenrollen. Vorindustrielle Arbeit war in der Regel zeitlich unregelmäßig gewesen, nicht scharf reglementiert. Die natürlichen Rhythmen des Tages und des Jahres waren maßgebend, sie ergaben keine scharfen Zäsuren. Arbeit konnte sehr lange Zeit beanspruchen, war aber meistens porös, pausenhaltig, von anderen Tätigkeiten und von Muße durchdrungen. Die Meßinstrumente ließen zu wünschen übrig. Mit der Industrialisierung und der Ausdifferenzierung von Erwerbsarbeit und Haushalt/Familie wurde das Zeitregiment genauer. Arbeit hatte nun ihre eigene Zeit. Auch in dieser Hinsicht wurde der Unterschied zwischen Arbeit als Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit schärfer durchgezogen. Glocken, Sirenen und genau gehende Uhren - aber auch das Durchschreiten des Fabriktores oder die routinemäßige Eingangskontrolle beim Portier - bezeichneten Anfang und Ende genau. Pausen wurden nun schärfer reglementiert. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dehnte sich die durchschnittliche Arbeitszeit aus, seitdem nimmt sie ab. Arbeit wurde damit meßbarer als je zuvor und auch: umstreitbarer. Für die große Mehrheit der Bevölkerung galt in vorindustrieller Zeit, daß sie ihren Lebensunterhalt und ihre Verdienste nicht aus einer Quelle - einer Erwerbsarbeit - bestritt, sondern aus einer Verknüpfung von mehreren Erwerbsquellen, gewissermaßen aus „Jobs", die im Laufe des Tages, des Jahres und des Lebens wechselten. Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts nahmen die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung und die Arbeitsteilung in den Unternehmen zu. Das Volumen der zu leistenden Erwerbsarbeit expandierte. Langfristig wuchs auch der Anteil qualifizierter Arbeiten an allen Arbeiten, die das Erwerbsleben bot. Die Synchronisierung zwischen dem Schul- und Ausbildungswesen einerseits, der Arbeitswelt andererseits wurde damit wichtiger. All dies trug zur Verstetigung der

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Erwerbsbiographien bei. Berufsarbeit auf Lebenszeit wurde häufiger. Die Planbarkeit des Arbeitslebens nahm zu. Die Chance wuchs, daß man sein Selbstverständnis und sein soziales Profil auf spezialisierte Erwerbsarbeit gründete. Beruf und Berufsstellung wurden die wichtigsten Grundlagen der individuellen und sozialen Identität. Aber hier bleiben Fragezeichen. Galt dies nicht auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nur für eine Minderheit von Erwerbstätigen in den gesicherten Bereichen des Handwerks, für die Stammbelegschaften der großen Betriebe, für die Beamten einschließlich der Lehrer, für die an Zahl zunehmenden Expertenberufe? Blieben nicht die Verknüpfung von und der Wechsel zwischen verschiedenen Erwerbstätigkeiten das Normale für sehr viele Erwerbstätige, besonders für die weniger qualifizierten unter ihnen, die Pendler und Wanderer vom Land zur Stadt (und zurück), die vielen Saison- und Gelegenheitsarbeiter? Für diese These spricht viel. Doch der Forschungsstand erlaubt keine ganz klare Auskunft. Man würde das gern genauer wissen, um besser beurteilen zu können, was an der heutigen Situation mit ihrer großen Fluidität und ihrer Tendenz zur Fragmentierung der Lebenszeitberufe - wirklich neu ist.16 Im Zeitalter der Industrialisierung gewann die Arbeit an sozialer, politischer und kultureller Bedeutung kräftig dazu. Was die Intellektuellen des 17. und 18. Jahrhunderts vorgedacht hatten, im 19. Jahrhundert wurde es teilweise zur Realität: die Arbeitsgesellschaft. Zum Teil lag dies an der neuen Erfahrbarkeit der Erwerbsarbeit als einer ausdifferenzierten Sphäre mit eigener Logik (wie gerade ausgeführt). Zum Teil lag es an der industrialisierungsbedingten Bedeutungszunahme der Ökonomie, die auf Gesellschaft, Kultur und Politik prägender einwirkte als je zuvor. Zum Teil lag es am Niedergang konkurrierender Quellen kultureller Identität und lebenspraktischer Sinngebung, also beispielsweise am Bedeutungsverlust der Religion, an der Erosion ständischer Milieus und an der Auflockerung regionaler Bindungen. Nur der an Kraft gewinnende Nationalismus blieb als Identitätsangebot neben der Arbeit mächtig. Einige Anmerkungen müssen genügen: Die größte Protest- und Emanzipationsbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Arbeiterbewegung, fußte auf abhängiger Erwerbsarbeit als Basis. Sie konzentrierte sich auf die Vertretung der Interessen, die aus gemeinsamen Arbeitsbedingungen folgten, und rekrutierte ihre Mitglieder in ihrer Eigenschaft als abhängig Arbeitende, als Lohnarbeiter. Sie setzte bei ihren Mitgliedern ähnliche Arbeitserfahrungen voraus, aus denen sich gemeinsames Selbstbewußtsein und gemeinsame Kultur ergaben. Idealisierte Vorstellungen von - männlicher! - Arbeit prägten

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Man lese einmal unter diesem Gesichtspunkt Wolfgang Emmerich (Hg.), Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der zweiten Kultur in Deutschland, Hamburg 1974.

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die Forderungen, die Kultur und die Selbstdarstellung der Arbeiterbewegung, bis hinein in ihre Ikonographie.17 Arbeit war ein zentrales Moment im liberalen Diskurs der Jahrhundertmitte. „Ist früher das Vorrecht heilig gewesen, so ist heute die Arbeit heilig; die freie Arbeit, der Fleiß und die Tätigkeit... ist heute die höchste Ehre", so formulierte ein liberaldemokratischer Abgeordneter in der Paulskirche 1848.18 Auch für die Frauenbewegung des späten 19. Jahrhunderts war die Erringung neuer Arbeitsmöglichkeiten ganz zentral, um darauf die Forderung nach Emanzipation, Gleichberechtigung und politischem Einfluß zu gründen. Umgekehrt wurden neue politische Einflußmöglichkeiten zur Erringung neuer Arbeitsmöglichkeiten für Frauen genutzt.19 Erwerbsarbeit diente als Basis für die Errichtung des Sozialstaats seit den 1880er Jahren. Die Arbeiter - nicht die Armen - wurden zu Adressaten von Bismarcks staatlicher Kranken-, Unfall- und Altersversicherung. Über die Beiträge der Arbeiter und der Arbeitgeber, nicht aber über Steuern oder Ersparnisse wurde das System finanziert. Erwerbsarbeit und soziale Sicherung waren jedenfalls im deutschen Modell aufs engste verknüpft. Heute tragen wir an den Folgen, und zwar in Gestalt hoher, die Arbeit verteuernder und Arbeitslosigkeit vermehrender Lohnnebenkosten. Ein Umbau steht an.20 Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Nationsbildung ist diffizil und indirekt. Spätestens 1848/49 tauchte das Schlagwort von der „nationalen Arbeit" auf, bald schrieb Wilhelm Heinrich Riehl darüber ein Buch. Weltausstellungen führten Arbeit und ihre Produkte vor, nach Nationen differenziert und mit nationalen Ansprüchen (seit den 1850er Jahren). Ein Prager Professor schrieb 1875: Die Arbeit präge dem Menschen „den Stempel seines Wesens auf, sie bildet die Nation. Nationalität und nationale Arbeit sind gleiche Begriffe-"21 Schließlich nahm die staatliche Regelung der Arbeit im Nationalstaat zu. Seit Jahrhunderten hatten staatliche Regierungen durch Statuten und Ordnungen die Arbeit reguliert, ergänzend zu den Regeln der Zünfte im Gewerbe und der Grundherrschaften bzw. Gutsherrschaften auf dem Land. Seit den Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1860er Jahre zog sich der Staat im Zeichen des Libera17

Vgl. Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin 1978; Jürgen Kocka, Traditionsbindung und Klassenbildung. Zum sozialhistorischen Ort der frühen deutschen Arbeiterbewegung, in: Historische Zeitschrift 241 (1986), 333-376.

18

Nach Conze, Art. „Arbeit", 190.

19

Vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt 1986, 92-128.

20

Vgl. Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983; E. P. Hennock, Social Policy under the Empire Myths and Evidence, in: German History 16 (1998), 58-74.

21

Karl Thomas Richter, Die Fortschritte der Kultur, II, Prag 1875, 12ff. (nach Conze, Art. „Arbeit", 210); Wilhelm Heinrich Riehl, Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861.

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lismus weitgehend aus der Regulierung der Arbeit zurück. Doch seit dem späten 19. Jahrhundert nahm die staatliche Regulierung der Arbeit wieder zu. Dabei wirkten Sozialrecht und Arbeitsrecht zusammen, zum Teil als Reaktion auf Streiks und soziale Konflikte. Individuelle Arbeitsverträge wurden zunehmend durch kollektive „Tarifabschlüsse" zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie durch gesetzliche Kodifikationen überlagert, begrenzt und ergänzt. So sehr im kapitalistischen System private Nachfrager und Anbieter auf dem Markt über die Bedingungen und den Wert der Arbeit entscheiden, so sehr ist sie gleichwohl zum kollektiven Gut geworden, über das kollektive Aushandlungsprozesse und politische Setzungen mit entscheiden.22

III. Ausblick auf die Gegenwart

Bis zum frühen 20. Jahrhundert hatte sich das System der Erwerbsarbeit herausgebildet, das im wesentlichen noch heute gilt. Über die Gegenwart kann hier nicht ausführlich gehandelt werden. Ich beschränke mich abschließend auf drei kurze Bemerkungen. Was ist heute neu? Was „Globalisierung" genannt wird, ist häufig weniger neu als es scheint. Trotzdem hat die übernationale Verflechtung der Wirtschaft (insbesondere die Kapitalmobilität und die Kommunikationsrevolution) im heutigen „Turbokapitalismus" eine neue Qualität erreicht, die den Wettbewerbsdruck auf Arbeit über die nationalen Grenzen hinweg steigert und der nationalstaatlichen Regulierung der Arbeit immer empfindlichere Grenzen setzt. Die nationalstaatliche Regulierung der Arbeit - ein Pfeiler des Systems seit dem 19. Jahrhundert - scheint überfordert. Besteht nur die Wahl zwischen Deregulierung (mit ihren ungewollten sozialen Folgen) und neuen Formen der Regulierung auf supranationaler Ebene? Doch ist fraglich, ob wir diese Wahl wirklich haben. Denn oberhalb der Nationalstaaten fehlt es bisher an Institutionen, die die Kraft und die Legitimation zur Regulierung der Arbeit besäßen. In der Europäischen Union gibt es vielversprechende Ansätze. Aber sie reichen nicht aus.23 Stellt die heutige Massenarbeitslosigkeit eine historisch neue Krise dar, die ganz neuartiger Therapien bedarf? Dafür spricht einerseits die Radikalität des technologischen Wandels, der Arbeitsplätze vernichtet. Dafür spricht andererseits die unbestreitbare Beobachtung, daß heute große Gruppen an der Erwerbsarbeit teilnehmen wollen, die sich früher mit Haus- und Familienarbeit begnügten: Die Erwerbsquote 22

23

Vgl., Bénédicte Zimmermann u. a. (Hg.), Le travail et la nation. Histoire croisée de la France et de l'Allemagne, Paris 1999. Vgl. Ulrich Steger (Hg.), Wirkmuster der Globalisierung. Nichts geht mehr, aber alles geht, Ladenburg 1998.

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der Frauen hat stark zugenommen, sie nimmt weiter zu. Dahinter stecken tiefe Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Dahinter steckt aber auch die weiterhin riesengroße Anziehungskraft, die die Erwerbsarbeit in unserer Kultur über die Jahrhunderte gewonnen hat und weiterhin ausübt. Trotzdem spricht vieles für die Annahme, daß die heutige Arbeitslosigkeit nicht andauern muß. In einigen Ländern ist sie bereits stark zurückgegangen, so in den USA, in England, den Niederlanden. In anderen Ländern war sie nie sehr hoch, z. B. in Japan. Auch in Deutschland und Frankreich gibt es noch viel zu tun, entstehen neue Bedürfnisse, gibt es noch viel potentielle Arbeit. Es muß nur gelingen, sie in Arbeitsplätze umzusetzen, dafür braucht es institutionelle und mentale Reformen, die schwierig sind, aber nicht ausgeschlossen.24 Dennoch befinden wir uns mitten in einem tiefgreifenden Wandel. Die Bedeutung der Arbeit nimmt insgesamt ab, die Arbeit verändert sich. Denn einerseits sind andere Produktionsfaktoren neben der Arbeit wichtiger geworden als sie es im 19. Jahrhundert waren: Kapital und Wissen. Andererseits hat die Prägekraft, die Vergesellschaftungskraft gemeinsamer Arbeitserfahrungen nachgelassen: die Zeit der klassischen Arbeiterbewegung liegt hinter uns, und damit eine Phase der Politik, in der diese sehr stark durch Erfahrungen und Interessen, Konflikte und Loyalitäten aus der Arbeitswelt bestimmt wurde. Zu den Ursachen dieser Verschiebung gehört ein fundamentaler Gestaltwandel der Arbeit, von der manuellen zur nichtmanuellen Arbeit, von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft, zuletzt unter dem Einfluß der Kommunikationsrevolution und der Globalisierung. Einmal ist der Anteil der Lebenszeit, der für Erwerbsarbeit eingesetzt wird, stark zurückgegangen. Man verbringt heute sehr viel weniger Zeit am Arbeitsplatz als vor einhundert Jahren. Zum andern schreitet die Fragmentierung der Arbeitsplätze voran. Der „Arbeitsplatz" verliert seine klare Abgrenzung, wird häufig fluide, löst sich bisweilen auf. Die Grenze von Arbeit und Nicht-Arbeit verfließt. Die gängige Verengung von Arbeit auf „Erwerbsarbeit" wird in Frage gestellt. Muß man „Arbeit" nicht weiter und anders definieren? Über „Erwerbsarbeit" hinaus?25 Es eröffnen sich neue Chancen der Verknüpfung von Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten, von Arbeit und Freizeit, von Beruf und Familie, im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Neue Chancen zeichnen sich ab, aber auch neue Probleme. Wenn denn die Sozialisations- und Bindungskraft der Erwerbsarbeit erodiert, was tritt an ihre Stelle? Wenn die gesellschaftlich-politische Tragfähigkeit der Arbeit insgesamt rückläufig ist, welche institutionellen Veränderungen werden dann nötig (z. B. im System der sozialen Sicherung)? Wenn das relative Gewicht der Erwerbsarbeit in der Biographie vieler Einzelner abnimmt, welche Konsequenzen wird man daraus für

24

25

Vgl. Günther Schmid, Arbeitsplätze der Zukunft. Von der industriellen zur informationellen Arbeit, in: Kocka / Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, 269-292. Dazu anregend Beck, Schöne neue Arbeitswelt; Lars Clausen, Produktive Arbeit - Destruktive Arbeit, Berlin 1988.

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Arbeit als Problem

Lebensplanung und Daseinsverwirklichung ziehen? Wenn Arbeit als Sinnstiftung nicht mehr ausreicht, welche Alternativen bieten sich an? Vieles wirkt weiter: Über Jahrhunderte eingeschliffene Deutungen zerbröckeln nicht in einer Generation, so auch nicht die für die europäische Kultur typische Hochschätzung der Arbeit. Die dynamische Kontinuität des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist ungebrochen (mit unabsehbaren Folgen), und mit ihm lebt die marktvermittelte Erwerbsarbeit weiter, wie sie sich im 19. Jahrhundert zur Normalität entwickelte. Andererseits ist das Zeitalter der Industrialisierung zu Ende. Globalisierung und Kommunikationsrevolution verändern das Leben. In der Konsequenz könnte sich das System der Arbeit überlebt haben, das für die vergangenen zwei Jahrhunderte typisch war - jedenfalls in einigen Hinsichten. Manche Neuentwicklung - etwa die erneute Verschränkung von Erwerbsleben und Familie bzw. Haushalt oder die häufiger werdende Zerstückelung der Arbeitsbiographien - mutet wie die Rückwendung auf alte Muster vor der Industrialisierung an. Doch die Konturen der Zukunft zeichnen sich nur wie durch dichten Nebel hindurch ab.

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Das Bürgertum - Phönix aus der Asche

Mit dem Übergang in das dritte Millenium christlicher Zeitrechnung kann das Bürgertum seine Tausendjahrfeier begehen. Denn im Verlauf einer ersten Urbanisierungswelle hat es sich auch im Bereich des später deutschsprachigen Mitteleuropa seit dem 11. Jahrhundert herausgebildet. Seine Entstehungsgeschichte hängt mit dem Aufstieg der okzidentalen Stadt zusammen, die in universalgeschichtlicher Perspektive eine einzigartige, in keinem anderen Kulturkreis des Globus vorkommende Schöpfung darstellt. Sie verkörperte keinen asiatischen Herrschaftssitz und keinen abgekapselten Stadtstaat wie in der Antike. Vielmehr bildete sie eine autonome Gebietskörperschaft in einem durchweg noch feudalrechtlich organisierten Umfeld, sie wurde von Bürgerkorperationen selbständig verwaltet, besaß einen eigenen Markt, eine eigene Warenproduktion, eine eigene Gerichtsbarkeit und die Fähigkeit zur militärischen Selbstverteidigung. In dieser Stadt stiegen anstelle des Adels zum erstenmal Bürger, vor allem Kaufleute und Handwerker, zur herrschenden Elite auf und verteidigten nach manchen Mutationen diesen Vorrang bis heute. Die mitteleuropäischen Städte gingen durchweg aus Kaufmannssiedlungen hervor, die sich entweder zu einer selbständigen Schwurgenossenschaft vereinigten oder um einen Adelssitz herumlagerten. In jedem Fall stammte ihre auffallige Dynamik aus dem Aufblühen des Fernhandels mit seinen neuartigen Handelsströmen, aus den Expansionswellen des europäischen Bevölkerungswachstums und aus den Ausdehnungsmöglichkeiten der vorherrschenden Agrargesellschaft. Um 1800 waren aus dem Urbanisierungsprozeß rund 3000 Städte im Alten Reich hervorgegangen, in denen rund ein Viertel seiner deutschsprachigen Bevölkerung lebte. Über die Größe darf man sich keiner Illusion hingeben: Nur zwei Städte, Wien und Berlin, besaßen mehr als 100 000 Einwohner, ein Dutzend mehr als 10 000, knapp 20 lagen zwischen 2000 und 10 000, aber mehr als 2800 Städte kamen nicht einmal auf 1000 Einwohner, die zum guten Teil von der Landwirtschaft im städtischen Umfeld lebten. In all diesen Städten, besonders deutlich in den großen Urbanen Gemeinwesen, hatte sich eine identische Sozialstruktur des frühen Bürgertums herausgebildet. Eine hauchdünne Oberschicht von einem bis maximal fünf Prozent der Einwohnerschaft bestand aus vermögenden Kaufleuten und Handwerkern, den Honoratioren und Patriziern, denen im Zuge der Adelsimitation öfters der Übergang in einen neuen Stadtadel gelang. Sie bildeten die politische und sozialkulturelle Oligarchie, die „herrschende Klasse" der Stadt. Darunter bewegten sich mittel- und kleinbürgerliche Schichten im Umfang von zehn bis höchstens 30 Prozent der Stadtbevölke-

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rang: einigermaßen auskömmlich lebende Handwerker, Krämer, Spediteure, Wirte usw. Die große Mehrheit bestand jedoch überall gut 900 Jahre lang aus den Unterschichten, denen alle Stadtbürgerrechte - z.B. das aktive und passive Wahlrecht, der Anspruch auf Versorgung im städtischen Hospital und mit städtischem Brenn- und Bauholz - rigoros verweigert wurden. Alle Städte hingen von der Präsenz dieser „Reservearmee" aus Tagelöhnern, Dienstboten und Gesindeleuten ab, konnten sie aber im Prinzip innerhalb weniger Stunden ausweisen. Wenn man vom städtischen Bürgertum in Mitteleuropa spricht, geht es daher konkret jeweils nur um eine Minderheit von jenen zehn bis 30 Prozent vollberechtigter Stadtbürger, die den wirtschaftlichen und politischen Kern der Gemeinde bildeten, umgeben von mindestens zwei Dritteln der Einwohnerschaft, die aus rechtlosen Unterschichten bestanden. Zu diesem Stadtbürgertum trat seit der „Fürstenrevolution" des Reformationszeitalters, aus der die bunte Vielzahl selbständiger deutscher Territorialstaaten hervorging, allmählich eine weitere bürgerliche Sozialformation. Das waren die an den neuen Landesuniversitäten geschulten Juristen und Theologen, die im Zuge des Staatsbildungsprozesses von der Fürstenherrschaft als „Staatsdiener" benötigt wurden und überwiegend als Bürger unter eigenem Recht, als „Staatsbürger", auch in den Städten wohnten. Aus diesen „gebildeten Ständen" ging seit dem späten 18. Jahrhundert das „Bildungsbürgertum" hervor. Das war ein Ensemble von staatlichen Funktionseliten in der Verwaltung und Justiz, im Schul- und Wissenschaftsbetrieb, nicht zuletzt im protestantischen Pfarramt. Diese „verstaatlichte Intelligenz" war, ehe sie in ihre Beamtenstellen einrückte, an den Universitäten geschult und unter dem Einfluß des Neuhumanismus zum Träger der neuen Bildungsidee geworden. Ihr zufolge sollte an die Stelle des Aufklärungskonzeptes der strikten Erziehung die Selbstbildung des Verstandes und Gemüts durch den einzelnen treten. Im Vergleich mit anderen westlichen Staaten entstand mit dem deutschen Bildungsbürgertum eine einzigartige Modernisierungselite mit dem eigentümlichen Sozialprofil der „Akademiker" und der Sozialmentalität der „Gebildeten". Da sie im Höheren Dienst der Bürokratie an einer Vielzahl politischer Entscheidungen beteiligt war, dazu in der Öffentlichkeit und Wissenschaft zu den modernen „Meinungsmachern" gehörte, übte sie unverkennbar einen bedeutenden politischen Einfluß aus, auf dem ihr Selbstbewußtsein zum guten Teil beruhte, obwohl sie die eigentlichen Spitzenpositionen im Herrschaftsapparat gewöhnlich Aristokraten überlassen mußte. Ungefähr gleichzeitig mit dem Bildungsbürgertum tauchte eine zweite neue Bürgerformation auf. Das war die unternehmerische Bourgeoisie, die sich mit dem Ausbau der neuzeitlichen Marktwirtschaft ganz auf die neuartigen Industrieunternehmen, Banken und Verkehrsbetriebe hin orientierte. Sie ging nur zum Teil aus den alten wirtschaftsbürgerlichen Familien des traditionalen Stadtbürgertums hervor, obwohl hier manche Kontinuität unübersehbar ist, wenn etwa jüngere Söhne aus solchen Familien, ausgestattet mit dem Startkapital und dem sozialen Netzwerk ihres Herkunftmilieus, in die neue Arena der produktionskapitalistischen Welt aufbrachen. Interessanter sind die Aufsteiger, die aus einem meistens „unterbürgerli-

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Bürgertum

chen" Milieu außerhalb des alten Stadtbürgertums nach oben drängten: Söhne von Zwirndrehern und Seifensiedern, von Volksschullehrern und Pfarrern. Ehrgeizig, begabt, Fanatiker des Leistungsprinzips nutzten diese Repräsentanten der Marktwirtschaft die Chancen der Aufstiegsmobilität entschlossen aus und sicherten sie oft durch eine zielbewußte Strategie der Einheirat in die Familien des prestigeträchtigen Stadtbürgertums oder der Höheren Bürokratie ab. Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts existierten daher in den Gesellschaften der deutschen Staaten und Städte stets drei klar unterscheidbare bürgerliche Formationen nebeneinander, obwohl diese „Bürgertümer" durch manche Heirats- und Verkehrskreise, durch gemeinsame „Weltbilder" miteinander verbunden waren. Unter diesen altständischen Stadtbürgern, den Berufsklassen des Bildungbürgertums und den kleinen Erwerbsklassen der Bourgeoisie fand jene politische Utopie am meisten Resonanz, die im späten 18. Jahrhundert im Anschluß an die schottischen und englischen Aufklärer von deutschen Sozialtheoretikern unter dem Stichwort der „Bürgerlichen Gesellschaft" entworfen worden war. Darunter wurde ein Gemeinwesen aus gleichberechtigten Bürgern verstanden, die unter dem Schutz einer schriftlichen Verfassung lebten, auf dem Forum eines gewählten Parlaments in freier Diskussion das Gemeinwohl ermittelten, ehe sie es in Gesetzesform gössen, und in der Arena einer möglichst ungehinderten Marktwirtschaft ihrem Privaterwerb nachgingen. Das Fernziel dieser Utopie war die bürgerliche Republik. Auf dem Wege dorthin waren aber Kompromisse mit der Fürstenherrschaft, deren Übergriffen der Schutzwall der Verfassung entgegenstand, durchaus möglich. Freilich schloß diese Utopie ursprünglich Frauen und Minderheiten, wie z.B. die Juden, von der aktiven Mitwirkung im Gemeinwesen und seiner öffentlichen Sphäre aus. Mit der Zielvorstellung von einer zu realisierenden und dabei verbesserungsfähigen „Bürgerlichen Gesellschaft" gewannen die bürgerlichen Zeitgenossen seit dem späten 18. Jahrhundert ein Programm für ihr politisches Handeln. Zugleich gewinnt man damit aber auch einen generalisierbaren Bewertungsmaßstab für die gesellschaftliche und politische Verfassung der konkreten Bürgergesellschaft. Ohne die Zielvision der „Bürgerlichen Gesellschaft" wäre etwa der deutsche Liberalismus schlechthin undenkbar. Im Verlauf der Reformen, die in den meisten deutschen Staaten zwischen 1800 und 1815 durchgeführt wurden, um den Druck der Französischen Revolution und der napoleonischen Politik abzufangen, sind überall die überlieferten Autonomierechte des alten Stadtbürgertums in Frage gestellt und schließlich aufgehoben worden. Durchgesetzt wurde die Rechtsfigur des allgemeinen „Staatsbürgers", der nicht mehr seiner Stadtgemeinde oder auf dem Lande einem Adelsherrn, sondern dem direkten Zugriff des Staates und seiner Verwaltung unterstand. Zwar wurde von vielen Städten das „Heimatrecht", das ihnen die Zuwahl neuer Vollbürger weiter sichern sollte, erbittert verteidigt. Aber bis 1870 wurde diese Bastion von der Bürokratie im Auftrag des einzelstaatlichen Gesetzgebers geschleift. Dadurch entstand anstelle der alten Stadtbürgerschaft die neue Einwohnergemeinde, eine Gebietskörperschaft aus gleichberechtigten Staatsbürgern. Die Gesetzgebung des neu-

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gegründeten Deutschen Reiches von 1867/71 hat diesen Rechtszustand unverzüglich besiegelt. Wie sah seither die Sozialstruktur des städtischen Bürgertums aus? Unverändert hielt sich an der Spitze eine Honoratiorenelite, die - ein bis sechs Prozent der Einwohner umfassend - aus vermögenden Wirtschaftsbürgern, neureichen Aufsteigern, hohen Beamten und erfolgreichen Freiberuflern, insbesondere Rechtsanwälten und Ärzten, bestand. Die mittel- und kleinbürgerlichen Erwerbsklassen machten, je nach Stadt, zehn bis 25 Prozent aus. Den Sockel der Sozialpyramide bildeten weiterhin proletarische Unterklassen, die mindestens 70, manchmal aber sogar 90 Prozent der Stadtbevölkerung umfaßten. Zwar galt für die Wahlen zum Reichstag das allgemeine Wahlrecht für großjährige Männer, aber in den deutschen Städten bestanden bis 1918 verschiedenartige Formen des Klassenwahlrechts. Das berüchtigte preußische Dreiklassenwahlrecht wurde durch die mehr als doppelt so große Anzahl von Klassen im hamburgischen und sächsischen Wahlrecht noch übertroffen. Zugrunde lag überall das plutokratische Prinzip, die Zugehörigkeit zu einer Wahlklasse an das Steueraufkommen zu binden. Auf diese Weise konnte Krupp in Essen alle Stadtverordneten, die der ersten Klasse zustanden, allein ernennen, während in den Berliner Wahlbezirken in der dritten Klasse 100 000 Stimmen für einen Verordneten nötig waren. Im Grunde hielt daher die scharfe Diskriminierung der Unterschichten in den bürgerlichen Städten unter neuen Vorzeichen weiter an, und die Stadtverordneten, die von den beiden schmal zugeschnittenen obersten Wahlklassen bestimmt wurden, welche die etwa sechs Prozent des Großbürgertums und der oberen Mittelklassen erfaßten, gaben bis 1918 den Ton an. Wendet man sich von der genuinen Heimat des Bürgertums, den Städten, zum Anteil des Bürgertums an der Gesamtgesellschaft des Kaiserreichs, ergeben sich ebenfalls ernüchternde Größenverhältnisse. Die Großbourgoisie umfaßte ein Prozent, das gesamte obere Wirtschaftsbürgertum nicht mehr als fünf bis sechs Prozent, das Bildungsbürgertum nicht einmal ein Prozent der Reichsbevölkerung. Der Doppelkern des Verhaltens- und mentalitätsprägenden oberen Bürgertums übertraf daher nur knapp sechs Prozent aller Reichsdeutschen. Das Mittel- und Kleinbürgertum schwankte zwischen 12 und 15 Prozent, so daß alle bürgerlichen Formationen in der reichsdeutschen Klassengesellschaft zusammengenommen auf höchstens ein Fünftel der Bevölkerung (von etwa 60 Millionen vor 1914) kamen. Das rückt zum einen das unbedachte Gerede von der bürgerlichen Gesellschaft ganz konkret zurecht, denn die erdrückende Mehrheit wurde von den 70 Prozent des städtischen Proletariats und den zehn Prozent der ländlichen Bevölkerung gestellt, in welcher die Groß -und Mittelbauern seit jeher nur eine kleine Minderheit oberhalb der Landarbeiterschaft darstellten. Zum anderen bleibt es ein erstaunliches Phänomen, wie diese numerisch derart kleinen bürgerlichen Erwerbs- und Berufsklassen ihren Wertehimmel, ihren Verhaltenskanon, ihr Arbeitsethos, ihren Lebensstil der Mehrheit aufprägen konnten.

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Bürgertum

An einem entscheidenden Punkt scheiterte das Bürgertum jedoch: Es konnte zwar sein Projekt, eine „Bürgerliche Gesellschaft" zu verwirklichen, Schritt für Schritt und schließlich weithin durchsetzen. Man braucht nur auf die rechtliche Absicherung der modernen kapitalistischen Marktwirtschaft, den Ausbau des Verfassungs- und Rechtsstaats, des Rechtswesens überhaupt und allemal der Schul- und Wissenschaftsdomäne zu blicken, um seines erstaunlichen Erfolges gewahr zu werden. Die Zentrale der politischen Herrschaft konnte es jedoch nicht erobern. Nicht nur blieb es auf den Kompromiß mit der Monarchie und dem Adelssystem fixiert, sondern es wurde im Reich und in allen seinen Einzelstaaten im Vorhof der Macht gefangen gehalten. Die Monarchen, nicht aber die Parlamentsmehrheiten, ernannten die Reichskanzler und Ministerpräsidenten, und die Herrschaftsbezirke des Militärs, der Bürokratie und des Hofs blieben abgeschottete Autonomiebereiche, die sich dem politischen Zugriff des Bürgertums nicht öffneten. Auch die Parlamentarisierung in den allerletzten Schlußtagen des Kaiserreichs wurde nicht etwa erkämpft, sondern von der Obersten Heeresleitung unter Ludendorff und Hindenburg im Zuge der letzten preußischen „Revolution von oben" im Oktober 1918 durchgesetzt, um die Schuld der unabwendbaren Niederlage den Linksparteien aufbürden zu können. Aufs Ganze gesehen wurde daher die erste Republik von 1919 namentlich vom Bürgertum als Ergebnis dieser Kriegsniederlage wahrgenommen. Das Wirtschaftsbürgertum hatte sich längst an effektive Interessenverfechtung im autoritären System des Kaiserreichs gewöhnt. Und das Bildungsbürgertum, in seinem Kern noch immer die verstaatlichte Intelligenz des höheren Staatsdienstes, war ohnehin in engster Symbiose mit dem Fürstenstaat aufgestiegen und tat sich, voller Animosität, ja Haß, außerordentlich schwer mit der unvermeidbaren Umstellung auf den neuen, den ungeliebten, den republikanischen Staat. Die Größenverhältnisse der verschiedenen „Bürgertümer" blieben weiterhin dieselben: An der Spitze hielt sich mit fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung das obere Wirtschaftsbürgertum, in dem eine riesige Distanz die schwerreiche Großbourgoisie von anderen Bürgerlichen trennte. Das Bildungsbürgertum stagnierte bei knapp einem Prozent, und der Umfang der mittel- und kleinbürgerlichen Erwerbsklassen schwankte um 15 Prozent. In ihm herrschte ja stets eine lebhafte Aufstiegs-, aber auch Abstiegsdynamik, die namentlich in der Zeit der „Großen Depression" der Weltwirtschaft seit 1929 zum Absinken von Kleinbürgern in das Proletariat führte. In den Bereichen, in denen die Utopie der „Bürgerlichen Gesellschaft" schon weithin durchgesetzt worden war, wurde der Ausbau weiter fortgesetzt. Das bleibt ein Ruhmesblatt der Weimarer Republik. Endlich erhielten die Frauen das Stimmrecht im Zentralstaat, in allen Einzelstaaten und in den Kommunen, ohne daß damit die politischen Kräfteverhältnisse verändert worden wären. Die Mängel der freien Marktwirtschaft wurden im Anschluß an die etatistische Sozialpolitik seit der Bismarckzeit weiter korrigiert. Die Leistungen des Weimarer Wohlfahrtsstaats wurden für lange Jahre nicht mehr übertroffen.

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Aber politisch scheiterte das republikanische Experiment nicht zuletzt an jenem Widerstand des Bürgertums, der bis zum neuen Rechtsradikalismus der HitlerBewegung gesteigert wurde. Abgesehen von den relativ wenigen aufrechten bürgerlichen Liberalen fand das Bildungsbürgertum aus seiner anfänglichen Opposition nicht heraus. Seine traditionelle Staatsnähe hatte nur dem monarchischautoritären Staat gegolten. Auf die Republik in all ihren Nöten wollte es diese Sonderbeziehung nicht übertragen. Da es in der höheren Bürokratie und in der Öffentlichkeit unverändert einen weitreichenden Einfluß ausübte, wirkte sich sein antirepublikanischer Konsens fatal aus. Das läßt sich besonders prägnant an der Grundsatzopposition fast aller Universitätsprofessoren verfolgen. Sie rieten keineswegs zu einem realistischen Kompromiß mit der neuen Staatsordnung im Sinne der aus Monarchisten zu „Vernunftrepublikanern" gewordenen winzigen Minderheit unter ihnen. Vielmehr redeten sie der Rückkehr zur autoritären Politik ebenso das Wort wie einem extremen Nationalismus und radikalen Revisionismus, der das „Versailler System" notfalls mit Waffengewalt umstürzen sollte. Der bildungsbürgerliche Nachwuchs an den Universitäten erlag der Stimmungsmache. Längst vor dem bedrückenden Wahlsieg der NSDAP im Sommer 1932 hatte der „Nationalsozialistische Studentenbund" die Mehrheit bei den AStA-Wahlen an allen deutschen Hochschulen gewonnen. Das Wirtschaftsbürgertum, namentlich die „strategische Clique" in den Großunternehmen, hat zwar nicht, wie es eine zählebige Legende lange Zeit weismachen wollte, den Aufstieg der NSDAP finanziert. Die Wahlfonds der Großindustrie wurden nach dem Gießkannenprinzip verteilt, blieben unerheblich und ergänzten nur den ausschlaggebenden Mittelzufluß aus der Selbstfinanzierung der Parteikosten mit Hilfe einer Besteuerung der Mitglieder. Dennoch trug das obere Wirtschaftsbürgertum maßgeblich zum Untergang der Republik bei, weil es fast alle republikfeindlichen Bestrebungen unterstützte und schließlich in einem autoritären politischen System die beste Lösung für die Probleme der Wirtschaftskrise sah. Hitler als der „große Trommler" sollte dafür die Massenunterstützung mobilisieren, von den erfahreneren Rechtspolitikern aber „gezähmt" werden. Eben dieses Zähmungskonzept scheiterte kläglich, als binnen kurzem die charismatische Führerherrschaft in einer totalitären Diktatur durchgesetzt wurde. Von Widerstand dagegen findet man im Bürgertum kaum eine Spur. Im Wirtschaftsbürgertum wurde der „neue Aufbruch" verklärt. Nur wenige Bürgerliche leisteten riskante Opposition. Vergessen waren im Nu die Ideale der „Bürgerlichen Gesellschaft". Die „Volksgemeinschaft" im großgermanischen Rassereich des Nationalsozialismus verkörperte geradezu den vollständigen Verrat dieser nobelsten Utopie, die das westliche Bürgertum bisher hervorgebracht hat. Mit dem Untergang des „Dritten Reiches" schien das Bürgertum, aber auch die Zielvision einer „Bürgerlichen Gesellschaft" rundum diskreditiert, ja zerstört. Es gehört daher zu den faszinierenden Momenten der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, daß beide die historisch überaus seltene Chance eines zweiten Anlaufs erhielten. In sozialhistorischer Perspektive ist die Kontinuität das Bestechende. Wie

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Bürgertum

Phönix, der Wundervogel der antiken Sage, stieg das Bürgertum aus der Asche wieder empor. Das obere Wirtschaftsbürgertum blieb, wenn man einmal von seinen Kriegsverlusten absieht, aufs Ganze gesehen bestehen. Die alten Unternehmernamen überdauerten die Zäsur von 1945/48, als ob der Mahlstrom des zweiten totalen Krieges dieser privilegierten Erwerbsklasse nichts hätte anhaben können. Neu hinzu kamen die jungen Aufsteiger, die etwa als Speers Junge Leute" vor allem in der Kriegswirtschaft die Kommandobrücken der Großunternehmen erklommen hatten und sich in der Hochkonjunkturphase der 1950er und 60er Jahre behaupteten. Von eben dieser ganz unerwarteten Konjunkturbewegung des „Wirtschaftswunders" wurden auch die kraftvoll in die Breite wachsenden wirtschaftsbürgerlichen Mittelklassen hochgetragen, die in der Arena der westdeutschen Wachstumsgesellschaft ein sich ständig ausdehnendes Betätigungsfeld gewannen. Wahrscheinlich haben in dieser Expansionsphase zwischen Währungsreform und erster Ölkrise - also in der Epoche einer beispiellosen Prosperität der westlich dominierten Weltwirtschaft - die mittel- und kleinbürgerlichen Klassen auch in der Bundesrepublik so stark wie nie zuvor an Umfang gewonnen. Diese dynamische Ausweitung im Mittelbereich der Sozialstruktur hat der Soziologe Helmut Schelsky frühzeitig mit dem optimistischen Schlagwort der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" charakterisiert, das eine zustimmende Resonanz fand. Sieht man einmal von dem anachronistischen Begriff des „Standes" ab, der sich freilich in der deutschen politischen Sprache bis heute zählebig hält, kam dieser Begriff der vertrauten Neigung entgegen, zur bürgerlichen Mitte zu gehören. Zugleich knüpfte er gewissermaßen unterschwellig an die von den Nationalsozialisten vielbeschworene sozialromantische Vorstellung von der deutschen „Volksgemeinschaft" an, die sich in die angeblich allen zugängliche „Mittelstandsgesellschaft" verwandelte. Auch im verbeamteten oder freiberuflichen ehemaligen Bildungsbürgertum hielt sich über 1945 hinaus eine erstaunliche Kontinuität. Zwar war die ältere Form des neuhumanistischen, geistesaristokratischen Bildungsbürgertums im Hexenkessel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstört worden. Aber die soziale Matrix bildungsbürgerlicher Familien mit ihrer Fixierung auf die akademische Ausbildung und das Prestige des „Gebildeten" blieb bestehen, so daß aus ihr ein Großteil der akademischen Intelligenz der Bundesrepublik, dank der Bildungsreform allmählich durch Aufsteiger ergänzt, hervorging. Zu dieser gesellschaftlichen Kontinuität kam dann hinzu: Bürgerliche Verfassungsvorstellungen dominierten das Grundgesetz der Bundesrepublik und den Ausbau des Rechtsstaats. Bürgerliche Leistungs- und Verhaltensvorstellungen prägten in zunehmendem Maße die westdeutsche Gesellschaft. Selbst der deutsche Liberalismus, der in der Weimarer Republik endgültig und kläglich untergegangen zu sein schien, erlebte eine Renaissance. Endlich konnte das Projekt der „Bürgerlichen Gesellschaft" rundum verwirklicht werden, denn der moderne Sozialstaat bemühte sich, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwachstellen effektiv auszubessern. Die formelle Gleichberechtigung der Frauen wurde in weitere Lebenssphären hinein ausgedehnt. Minderheiten wurden rechtsstaatlich abgesichert. Nach den Ka-

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tastrophen zweier Weltkriege, die das Deutsche Reich ausgelöst und wider alle Vernunft bis zum Ende durchgekämpft hatte, mithin um einen geradezu ungeheuerlichen Preis, wurden endlich günstige Voraussetzungen für eine „Bürgerliche Gesellschaft" geschaffen, akzeptiert und politisch genutzt. Das ist die eigentliche Leistung der Bundesrepublik. Dagegen blieben die Ostdeutschen in ihrem sowjetischen Satellitenstaat von dieser Entwicklung und den damit verbundenen Lernprozessen ausgeschlossen, so daß sie diese seit 1989 unter enormem Druck nachholen müssen. Darüber hinaus ist die „Bürgerliche Gesellschaft" oder die „Zivilgesellschaft", wie sie in der modischen Sprache unserer Tage heißt, durch den Zerfall der Sowjetunion und den Zwang zum inneren Aufbau der demokratisch-parlamentarisch verfaßten Nachfolgestaaten und der befreiten osteuropäischen Staaten in einem unvorhersehbaren Maße auf die Tagesordnung gesetzt worden. In ihrer Verbindung von Verfassungsstaat, liberaler, aber sozialstaatlich gezügelter Marktwirtschaft und gesellschaftlicher Autonomie verkörpert sie geradezu den beherrschenden Wunschtraum zwischen Oder und Ural. Zwei Dilemmata stehen jedoch seiner schnellen Verwirklichung entgegen. Zum einen fehlt diesen Staaten weithin ein selbstbewußtes, handlungsfähiges Bürgertum, das nach dem Zerstörungswerk der Bolschewiki nur langsam entstehen kann. Zum zweiten verhindert die Überschneidung zahlreicher Krisenfelder schnelle Erfolge und schwächt die Attraktion dieser „Zivilgesellschaft", die vielerorts nur als exzessiver Turbokapitalismus erfahren wird. Aus dieser Lage drängen sich zwei Folgerungen auf. Einmal sind in der neuen Bundesrepublik noch längst nicht alle Ziele einer zeitgemäß erweiterten und sicher abgefederten Zivilgesellschaft erreicht. Zu hochmütiger Passivität im Sinne des „Wir haben es geschafft" besteht keinerlei Anlaß. Und zweitens ist es die Hauptaufgabe der in der Europäischen Union bereits vereinten Staaten, den vielfach belasteten Staaten Ost- und Südosteuropas auf ihrem Weg zur Zivilgesellschaft zu helfen. Insofern sind auch im internationalen Maßstab die Aufgaben eines politisch verantwortungsbewußten deutschen Bürgertums genau so wenig an ihr Ende gelangt wie der Aufbau von Zivilgesellschaften östlich der EU.

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Friedrich Lenger

Die Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig im Jubiläumsjahr 1863'

„In gewissem Sinne", so notierte 1913 der Freiherr von Grotthus, „wird der Befreiungskrieg für Deutschland immer sein, was der Unabhängigkeitskrieg den Amerikanern, die Große Revolution den Franzosen ist: Der Anfang des modernen, nationalbewussten politischen Lebens".2 Diese Sinnbestimmung unterstellte, dass die zu einem Ursprungsmythos verklärten Befreiungskriege nicht nur in ihrem Bedeutungsinhalt unverändert blieben, sondern ging auch von einer in etwa konstant bleibenden Intensität des Erinnerns aus. Beide Annahmen führen in die Irre. Zwar zeigten nicht erst die Hundertjahrfeiern und die Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals 1913 ein gestiegenes Interesse an den Befreiungskriegen.3 Vielmehr bildeten sie in spätwilhelminischer Zeit immer häufiger einen Bezugspunkt, der geeignet schien, die sozialen und ideologischen Zerklüftungen der Gegenwart in der Erinnerung an das einig zu den Waffen greifende Volk einer vorindustriellen Epoche zu überwinden. Selbst der spätere Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde nannte die Befreiungskriege 1913 „berechtigt auch vom Standpunkt des Pazifisten aus".4 Ein vergleichbares Integrationsversprechen, bald darauf noch verstärkt durch die Verbindung der „Ideen von 1813" mit denen von 1914, war dem Gedenken an die Befreiungskriege zur Zeit der Reichsgründung aber keineswegs zu eigen. Ablesbar ist dies zum Beispiel an den Friedensfeiern des Jahres 1871, die mit schöner Regelmäßigkeit in Theaterauffuhrungen die nationale Vergangenheit be1

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Dieser Aufsatz ist aus der Arbeit an einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereiches 434 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Erinnerungskulturen" an der Justus-Liebig-Universität hervorgegangen; der Projektbearbeiterin Stefanie Becker, M.A., die zu diesem Themenbereich eine Dissertation vorbereitet, bin ich für die Bereitstellung des Quellenmaterials zu großem Dank verpflichtet. Hier zit. nach Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt 1993, 53. Vgl. hierzu vor allem Wolfram Siemann, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: Dieter Düding u.a. (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politsche Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, 298-320; Katrin Keller/Hans-Dieter Schmid (Hg.), Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur, Leipzig 1995; Stefan-Ludwig Hoffmann, Mythos und Geschichte. Leipziger Gedenkfeiern der Völkerschlacht im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Etienne Francois u.a. (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, 111-32, bes. 123ff. Bundesarchiv Koblenz, Nl. Quidde, N 1212/83; vgl. zu vergleichbaren Positionen innerhalb der Friedensbewegung Dieter Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfangen bis 1933, Göttingen 1985, 30.

Friedrich Lenger

schworen. Wenn diese Theaterauffiührungen häufig Kaiser Rotbart und den Kyffhäusermythos wieder auferstehen ließen, so ging der Impuls hierzu zwar von den süddeutschen Staaten aus, deren Dynasten die Nähe ihrer Vorfahren zum staufischen Kaiser in Erinnerung riefen. Dennoch setzte sich die schlichte Deutung, Deutschland sei 1190 eingeschlafen und 1871 aufgewacht auch in der preußischen und nun reichsdeutschen Hauptstadt Berlin durch. „Was man zu diesem Fest auch bild' und dichte, / es zieht die Summe preußischer Geschichte" - ein solches Motto fehlte zwar nicht in der erinnerungspolitischen Debatte des Jahres 1871, doch hatte eine derart preußenzentrierte Sicht zurückzustehen zu Gunsten einer Deutungslinie, die das gerade geeinte Reich zu integrieren versprach.5 Der weißbärtige Wilhelm als Erlöser von Kaiser Rotbart leistete dies wie der zunehmend Verbreitung findende Germanenmythos offenkundig besser als der Rückgriff auf die Befreiungskriege, die in dieser Perspektive, wie die Revolution von 1848/49, lediglich als vergeblicher Versuch erschienen, die Raben vom Kyffhäuser zu verjagen.6

I.

Nun verkürzt eine derart funktionalistische Ableitung die Erinnerungskonkurrenzen innerhalb des jungen Nationalstaats ungemein. Sicherlich trugen gerade die drei Einigungskriege der 1860er und frühen 1870er Jahre selbst dazu bei, dass die Befreiungskriege zunächst die zentrale Position im nationalen Gedächtnis einbüßten, die sie bis in die 1860er Jahre innegehabt hatten. Ihre Omnipräsenz in Kultur und Politik der Reichsgründungszeit gilt es zunächst etwas genauer auszufuhren, bevor die Betrachtung auf Leipzig im Jubiläumsjahr 1863 konzentriert werden kann. Nur in Ausnahmefällen, wie dem des Wiesbadener Bürgers und Bauern Friedrich Ludwig Burk, umspannte das individuelle Gedächtnis die Zeit von 1813/14, für die Burk die Bewegungen preußischer und russischer Truppen sowie sein eigenes Einrücken ins Nassauische Landwehr-Regiment protokollierte, bis in die Mitte der 1860er Jahre, für die er in seinem Tagebuch von Geldsammlungen zur Errichtung eines Denkmals für die Schlacht bei Waterloo berichtete.7 Es waren also vor allem die noch lebenden Veteranen, die die kriegerischen Auseinandersetzungen der napoleonischen Ära im kommunikativen Gedächtnis gegenwärtig hielten. Aber auch im kulturellen Gedächtnis der 1860er Jahre war die Erinnerung an die ursprünglich

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Zit. nach Amo Borst, Barbarossas Erwachen - zur Geschichte der deutschen Identität, in: Odo Marquardt/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 19962, 17-60, hier 46, dem dieser Abschnitt folgt. Zum Germanenmythos jetzt Rainer Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2001. Vgl. Jochen Dollwet/Thomas Weiche! Bearb., Das Tagebuch des Friedrich Ludwig Burk. Aufzeichnungen eines Wiesbadener Bürgers und Bauern 1806-1866, Wiesbaden 1993, 76ff., 219f.

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Völkerschlacht-Jubiläumsjahr 1863

als Freiheitskriege bezeichneten Kämpfe des Jahres 1813 sehr wach.8 Theodor Körners Wunsch - „und von Enkeln zu Enkeln sei es nachgesagt: Das war Lützows wilde verwegene Jagd" - war in den frühen 1860er Jahren nicht nur gegenwärtig, er wurde offenkundig auch befolgt.9 Belege hierfür liefert die Literatur der Zeit zuhauf: In Wilhelm Raabes „Hungerpastor", 1863 zunächst in der populären Form der Romanzeitung erschienen, ist etwa die Base Schlotterbeck bekannt „wie der Alte Fritz, der Kaiser 'Napohlion' und der alte Blücher". Und die nachgelassenen Notizen des Schusters Unwirsch berichten „vorzüglich Taten und Helden des eben vorübergedonnerten Befreiungskrieges".10 Noch weit präsenter als in populären Romanen der Zeit sind die Befreiungskriege im Liedgut der 1860er Jahre, das zu einem ganz erheblichen Teil aus Vertonungen der Lyrik der Befreiungskriege besteht. „Von dem Schlachtgesange, mit dem die Scharen Hermanns die römischen Legionen schreckten ... bis auf Körners Leier und Schwert und das Eisenlied unseres alten Arndt hat nie dem starken deutschen Manne das begeisternde Lied gefehlt."11 So hieß es in einem Liederbuch der Turnerbewegung der frühen 1860er Jahre. Ihr Liederschatz unterschied sich kaum von dem der Sänger und Schützen, den anderen beiden Säulen eines massenhaft organisierten Nationalismus. Beispiele für den blutrünstigen Franzosenhass dieses Genres erübrigen sich. Gleichwohl scheint die in der jüngsten Forschung gezogene Verbindungslinie zwischen dem Arndtschen Eisenlied und dem Bismarckschen Appell an Blut und Eisen kurzschlüssig.12 Das stete Rekurrieren auf 1813 antizipierte in der ersten Hälfte der 1860er Jahre keineswegs die Bismarcksche Form der Nationalstaatsgründung. „Wenn die Deutschen Deutsche werden, gründen sie das Reich auf Erden, das die Völker all umschlingt und der Welt den Frieden bringt." Mit diesen Worten beendete etwa Karl Simrock 1863 sein Geleitwort zu den von ihm herausgegebenen ,,Lieder[n] vom Deutschen Vaterland", die, wie der Untertitel „Zur Ju8

Die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis natürlich nach Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 19972; zu den Befreiungskriegen selbst vgl. zuletzt Horst Carl, Der Mythos des Befreiungskrieges. Die „martialische Nation" im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792-1815, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, 6382.

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Zit. nach: Befreiungskriege. Erläuterungen zur deutschen Literatur, Berlin 19798, 144. Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor, Berlin o.J., 23, 15; vgl. zum Vorabdruck Hartmut Eggert, Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875, Frankfurt 1971,40. 11 Hier zit. nach Michael Krüger, Körperkultur und Nationsbildung. Die Geschichte des Turnens in der Reichsgründungsära - eine Detailstudie über die Deutschen, Schorndorf 1996, 353, der eine große Zahl von Liederbüchern analysiert. 12 Eine solche Linie zieht vor allem Dietmar Klenke, Nationalkriegerisches Gemeinschaftsideal als politische Religion. Zum Vereinsnationalismus der Sänger, Schützen und Turner am Vorabend der Einigungskriege, in: HZ 260 (1995), 395-448; vgl. auch ders., Der singende „deutsche Mann": Gesangvereine und deutsches Nationalbewusstein von Napoleon bis Hitler, Münster 1998; sowie Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1880, Göttingen 1998. 10

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belfeier der Leipziger Schlacht" unmissverständlich signalisierte, gleichfalls vor allem Vertonungen der Gedichte von Arndt, Körner, von Schenkendorff u.a. umfassten.13 Nun soll mit diesem Hinweis dem immer wieder auf die Befreiungskriege zurückgreifenden Nationalismus der Reichsgründungszeit kein pazifistischer Anstrich gegeben werden, doch scheint es wichtig zwei Aspekte nicht aus dem Blick zu verlieren: Zum einen die große Vielfalt der vertretenen Nations- und Nationalstaatsvorstellungen und zum anderen die grundsätzliche Janusköpfigkeit des Nationalismus auch dieser Zeit.14 Sein unbestreitbarer aggressiver, ja nicht selten chauvinistischer Gehalt ist eben nicht von den Partizipationsansprüchen zu trennen, die sich an das Leitbild der Nation banden.15 Dies ist für die frühen 1860er Jahre eigentlich unübersehbar. Schließlich war der 18. Oktober 1863 nicht nur der 50. Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht sondern zugleich der Wahltag zum preußischen Abgeordnetenhaus.16 Diese Wahlen aber standen ganz im Zeichen des preußischen Verfassungskonfliktes, zu dem ja eine Heeresreform den Anlass gegeben hatte, die nicht zuletzt die aus den Befreiungskriegen hervorgegangene Landwehr bedeutungslos machen sollte. In dieser Auseinandersetzung stieg der heute weitgehend vergessene Abgeordnete Heinrich Beitzkke zu einer Prominenz auf, die ihn gleichberechtigt neben Berühmtheiten wie Rudolf Virchow, Heinrich von Sybel oder Karl Twesten stellte.17 Seine aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbare Prominenz hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen personifizierte er als bürgerlicher Offizier und Teilnehmer der Befreiungskriege die Tradition einer Volksarmee. Zum anderen trat er als Verfasser einer vielbändigen Geschichte der deutschen Freiheitskriege hervor. Er stützte so die Erinnerung an die Befreiungskriege als Volks- oder Nationalkrieg. Dass diese Deutung schwerlich mit den Ereignissen von 1813-1815 vereinbar ist, minderte ihre zeitgenössische Wirksamkeit keineswegs. Diese Wirksamkeit machte ihn zum idealen „Ehrengast bei den großen Feierlichkeiten, die am 18. und 19. Oktober des Jahres" 1863 in Leipzig veranstaltet wurden.18 Auf diese Leipziger Feierlichkeiten wird zurückzukommen sein. Zuvor sei nur festgehalten, dass die bislang angeführten Belege doch auf eine starke Präsenz der Befreiungskriege im kollektiven Gedächtnis der frühen 1860er Jahre hindeuten. Dabei müsste eine umfassendere Bestandsaufnahme weit über die Jubiläumsfeier13

Frankfurt 1863.

14

Zur Vielfalt der Nations- und Nationalstaatsvorstellungen nützlich die von Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849-1867, Düsseldorf 2000, 242-52 entwickelte Typologie, die für den vorpolitischen Raum noch zu erweitern wäre.

15

Vgl. vor allem Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, 35-54.

16

Vgl. dazu z.B. Ute Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert. Die Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1806-1918), Essen 1995, 169.

17

Vgl. die Einleitung des Hg. in Horst Conrad (Hg.), Ein Gegner Bismarcks. Dokumente zur Neuen Ära und zum preußischen Verfassungskonflikt aus dem Nachlass des Abgeordneten Heinrich Beitzcke (1798-1867), Münster 1994, 14; vgl. ebd., passim auch zum folgenden.

18

Ebd., 56.

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lichkeiten hinausgreifen und z.B. bewusste räumlich-zeitliche Bezüge, wie die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins am 18. Oktober 1865 in Leipzig einbeziehen. 19 Darüber hinaus wäre zum einen nach der Konjunktur mythisch verklärter Gestalten aus der Zeit der Befreiungskriege, wie der im Preußenjahr neue Aufmerksamkeit findenden Königin Luise und ihres „Gegenspielers" Napoleon zu fragen.20 Zum anderen müssten aber auch die Gedenkfeiern einbezogen werden, die etwa mit Unterstützung des Deutschen Nationalvereins anlässlich des hundertsten Geburtstags Fichtes im Mai 1862 organisiert wurden oder die im August 1863 des fünfzigsten Todestages Theodor Körners gedachten.21 Dabei bedurfte es keineswegs „runder" Jubiläen, auch ein dritter Todestag war 1863 eine Feier wert, wenn es sich um eine so prominente Figur wie Ernst Moritz Arndt handelte.22 Von daher überraschen die Einschätzungen Ute Schneiders, wonach die „Erinnerung an die Befreiungskriege (...) nur eine nachgeordnete Rolle" spielte oder „daß der 18. Oktober für viele Zeitgenossen schon bald an Bedeutung verlor".23 So wichtig ihre quellenkritischen Bemerkungen zu den Feiern von 1814 sind, ihre Extrapolation auf die Reichsgründungszeit führt in die Irre. Sie übersieht nicht 19

20

21

22

23

Vgl. Ute Planert, Die Nation als „Reich der Freiheit" für Staatsbürgerinnen: Louise Otto zwischen Vormärz und Reichsgründung, in: dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt 2000, 113-30, bes. 122 sowie zur Bedeutung der Befreiungskriege für die Frauenbewegung auch Jean H. Quataert, German Patriotic Women's Work in War and Peace Time, 1864-90, in: Stig Förster/Jörg Nagler (Hg.), On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Cambridge 1997, 449-77, bes. 458. Vgl. Tanya Szymansky, Königin Luise: Preussische Jeanne d'Are, romantisches Frauenideal und Performancemodell, in: Constanze Carcenac-Lecomte u.a., Steinbruch. Deutsche Erinnerungsorte. Annäherungen an eine deutsche Gedächtnisgeschichte, Frankfurt a.M. 2000, 67-83; Günter de Bruyn, Preussens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2001 sowie Wulf Wülfing, „Heiland" und „Höllensohn". Zum Napoleon-Mythos im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt 1996, 164-84. Zum Luisen-Mythos bereitet Birte Förster (Gießen) eine Dissertation vor. Vgl. zu den Fichtefeiern Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857-1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994, 255f.; Klaus-Christian Köhnke, Philosophische Begriffe in wissenschaftsinterner und -externer Kommunikation. Am Beispiel der Fichte-Festreden des Jahres 1862, in: Archiv für Begriffsgeschichte 31 (1987), 233-65 sowie Erik Lindner, Deutsche Juden und die bürgerlich-nationale Festkultur: Die Schiller- und Fichtefeiern von 1859 und 1862, in: Andreas Gotzmann u.a. (Hg.), Bürger, Juden, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen 2001, 171-91; zu Körner: René Schilling, Körner Superstar. Freiheitskämpfer, Kriegsheld, arische Lichtgestalt und Vorbild des DDR-Soldaten - die Geschichte einer deutschen Leitfigur, in: Die Zeit 16.11.2000, 86. So etwa in Salzburg; vgl. Robert Hoffmann, Bürgerliche Kommunikationsstrategien zu Beginn der liberalen Ära: das Beispiel Salzburg, in: Hannes Stekl u.a. (Hg.), „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit", Wien 1992, 317-36, hier 326. Ute Schneider, Die Erfindung des Bösen: Der Welsche, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.), „Gott mit uns". Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 35-52, hier 50; dies., Die Feiern der Leipziger Schlacht am 18. Oktober 1 8 1 4 eine intellektuelle Konstruktion?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 133 (1997), 21938, hier 234.

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nur, dass etwa in Bremen der Völkerschlacht schon im Vormärz alljährlich gedacht wurde, sondern auch, dass die Feiern des Jahres 1863 sich keineswegs „auf eher laue Beamtenbankette und bestenfalls Veteranenspeisungen" beschränkten.24 Selbst für die einmal mehr unterschwellig für das Ganze genommenen (rhein-)preußischen Verhältnisse belegt der berechtigte Hinweis auf die staatlich erwünschten Feiern am 17. März 1863, dem Jubiläumstag des königlichen Aufrufes „An mein Volk", ja nicht die Bedeutungslosigkeit des 18. Oktober, sondern vielmehr die Schärfe einer Erinnerungskonkurrenz, die der Deutung der Befreiungskriege im Konflikt zwischen fortschrittsliberaler Opposition und preußischem Staat besonderes Gewicht zukommen ließ. Vor allem aber gilt es der zentralen Rolle gerecht zu werden, die der Erinnerung an die Befreiungskriege im Rahmen der von jeweils mindestens 100000 Teilnehmern und Zuschauern besuchten Feste der Turner, Sänger und Schützen in den frühen 1860er Jahren zuwuchs.25 So widmete Heinrich Weismann sein Gedenkbuch zum ersten allgemeinen deutschen Schützenfest in Frankfurt 1862 ausdrücklich „dem Deutschen Volk zum 18. Oktober 1813" und unterstrich damit, in welcher Tradition sich die in Frankfurt versammelten Schützen hatten sehen wollen. Dass ein Jahr später auf dem dritten deutschen Turnfest in Leipzig die Bezüge zur Völkerschlacht und zu den Befreiungskriegen geradezu allgegenwärtig waren, überrascht angesichts des bewusst gewählten Veranstaltungsortes nicht. Das dritte deutsche Turnfest ist also in die Betrachtung der Leipziger Feierlichkeiten mit einzubeziehen. Dabei kann es nicht einfach um eine Rekonstruktion gehen, zumal für die Feiern zum 18. Oktober 1863 ein zuverlässiger Abriss neueren Datums vorliegt.26 Interesse verdienen die nicht auf Leipzig beschränkten Gedenkveranstaltungen des Jahres 1863 vielmehr deshalb, weil sie - zeitlich unmittelbar vor der Zuspitzung des Schleswig-Holstein-Konfliktes gelegen - die Gelegenheit bieten, noch einmal die konfessionellen und einzelstaatlichen Brechungen in den Blick zu nehmen, die der Ausbildung eines nationalen Gedächtnisses im Wege standen. Schließlich stand die Beschwörung der Befreiungskriege als Ursprung eines nationalen Einigungsprozesses in den frühen 1860er Jahren vor mindestens zwei grundsätzlichen Problemen: Zum einen musste ein Gedenken im Zeichen der Nation mit dem Umstand fertig werden, dass 1813 die Soldaten zahlreicher Rheinbundstaaten auf der „falschen" Seite gekämpft hatten. Das galt nicht zuletzt für die Truppen des sächsischen Königs. Und zum anderen hatte das Gedenken an den 24

25

26

Schneider, Erfindung, 50; zu Bremen vgl. Dieter K. Buse, Public Celebrations in 19th Century Bremen: Nationalizing the provincial, secularizing the National, German Studies Association Presentation, Houston, TX October 2000; fur die Überlassung des Ms. bin ich dem Autor zu Dank verpflichtet. Beispiele für Feiern des 18. Oktober 1863 in Salzburg bei Hoffmann, Kommunikationsstrategien, 326f. oder in München bei Stefan Iiiig, Zwischen Körperertüchtigung und nationaler Bewegung. Turnvereine in Bayern 1848-1890, Köln 1998, 177, allesamt Beispiele, auf die G. Loh, Die Völkerschlacht bei Leipzig. Eine bibliographische Übersicht, Leipzig 1963 keine Hinweise enthält. Die Teilnehmer- und Besucherzahlen nach Dieter Düding, The Nineteenth-Century German Nationalist Movement as a Movement of Societies, in: Hagen Schulze (Hg.), Nation-Building in Central Europe, Leamington Spa 1987, 19-49, hier 47. Vgl. Hoffmann, Mythos, 117-21.

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vermeintlichen Volkskrieg von 1813 zwar innerpreußisch eine klare politische Valenz, die im Verfassungskonflikt deutlich hervortrat. In gesamtdeutscher Perspektive aber bleibt erst noch zu prüfen, ob und in welcher Weise die unübersehbaren Meinungsverschiedenheiten über den Weg zur nationalen Einheit, die sich nicht nur mit einzelstaatlichen, sondern auch mit konfessionellen Loyalitäten verbanden, das Gedenken an die Befreiungskriege überlagerten und formten. Eine solche Prüfung kann nur vergleichend erfolgen, doch lässt bereits der Blick auf die Leipziger Geschehnisse des Jahres 1863 einige der Aspekte hervortreten, denen eine vergleichende Analyse wird nachzugehen haben.

II.

Auf dem zweiten allgemeinen deutschen Turnfest in Berlin war 1861 beschlossen worden, „das dritte deutsche Turnfest aus Anlaß des 50. Jahrestages der Völkerschlacht in Leipzig durchzufuhren".27 Gleichwohl waren die Planungen nicht unumstritten. Einige Stimmen kritisierten die Vertreter eines unpolitischen Turnens, die auf Nationalfesten Reden hielten, anstatt die Wehrhaftmachung der deutschen Turner energisch voranzutreiben. Sie hielten, wie Fedor Streit vom linken Flügel des Nationalvereins, „das Fest dem Charakter nach, 'den es in Leipzig erhalten muß und unfehlbar auch erhalten wird, für geradezu schädlich, weil es in einer Zeit , welche mehr als je aller Zusammenfassung der charaktervollsten Manneskraft und des ernstesten politisch-Denkens und Wollens bedarf, die ohnehin noch sehr schwächliche öffentliche Meinung mit patriotischem Phrasentum und deutschtümelnder Sentimentalität vergiftet'". 28 Durchsetzen konnten sie sich indessen nicht, wie schon an der Bestellung Heinrich von Treitschkes zum Festredner sichtbar wurde.29 Ob darin ein Erfolg der „preußenfreundlich[en] Leipziger Bourgeoisie" zu sehen ist, sei dahingestellt.30 Das Auftreten von prominenten Vertretern der Paulskirchenlinken wie Jakob Venedey oder des nun in der frühen Arbeiterbewegung aktiven Emil Adolph Roßmäßler wurde dadurch jedenfalls nicht verhindert.31 Ohnehin hatte das von den Stadtvätern mit 17500 Thalern großzügig unterstützte Fest auch

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30 31

Krüger, Körperkultur, 330; vgl. zur Geschichte der Stadt nur Hartinut Zwahr, Leipzig im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (1763-1871), in: Neues Leipzigisches Geschichts-Buch, Leipzig 1990, 132-79. Zit. nach Toni Offermann, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 18501863, Bonn 1979,426. Vgl. dazu Jochen Hinsching/Horst Weder, Das 3. Allgemeine Deutsche Turnfest 1863 zu Leipzig - ein Höhepunkt patriotischer Volksbewegung in Deutschland, in: Theorie und Praxis der Körperkultur 12 (1963), 386-95, bes. 387f.; Rolf Weber, Kleinbürgerliche Demokraten in der deutschen Einheitsbewegung 1863-1866, Berlin 1962, 71 ff. Hinsching/Weder, Turnfest, 388. Zur politischen Einordnung Venedeys und Roßmäßlers vgl. Jansen, Einheit.

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sozial einen recht offenen Charakter.32 Anders als im Nationalverein mit seinem prohibitiv hohen Jahresbeitrag waren hier Arbeiterbildungsvereine durchaus beteiligt. Insgesamt aber dominierten unter den 20000 Teilnehmern wie in der Turnbewegung der Zeit überhaupt Handwerker und kleine Gewerbetreibende.33 Lässt man den eigentlichen Festablauf einmal außer Betracht, obwohl die Wirksamkeit des medial in hoher Auflage weiter verbreiteten Eindrucks der „Herstellung nationaler Identität im Vorgang der Bildung einer bewegten Masse" hoch zu veranschlagen ist, erscheinen zunächst weniger die in verschiedenen Reden zum Ausdruck kommenden Meinungsverschiedenheiten bemerkenswert als vielmehr die Allgegenwart der Befreiungskriege einerseits und die Einheitsrhetorik des nationalen Diskurses andererseits.34 Dies gilt schon für „die mit grossem Beifall aufgenommene Festrede" Heinrich von Treitschkes, die ganz der Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht gewidmet war.35 Sie war zunächst einmal ein eindrucksvolles Dokument bürgerlichen Selbstbewusstseins und bürgerlicher Zukunftsgewißheit, das voller Optimismus die Fortschritte der zurückliegenden fünfzig Jahre vermaß: „Und wo der Staat vordem Leiter und Lehrer war, da steht er heute nur als bescheidener Mitbewerber neben der selbsttätigen Bürgerkraft." Die daraus zu ziehenden politischen Konsequenzen sprach der Redner offen an: „Die Zeit ist dahin, für immer dahin, wo der Wille der Höfe allein die Geschicke dieses großen Landes bestimmte." Die Implikationen einer solchen Aussage für den preußischen Verfassungskonflikt werden den Zuhörern nicht verborgen geblieben sein, und auch das kontroverse Thema des Wehrturnens griff Treitschke zumindest indirekt auf: „Wo der Staat noch zaudert, ein notwendiges Gesetz zu geben, wo er die Ehre der allgemeinen Wehrpflicht dem Volke vorenthält, da treten freiwillig die Männer zusammen, da scharen sich die Schützen und unsere fröhliche Turnerschaft, der wir dieses reiche Fest verdanken, und lehren der Jugend die ersten Tugenden des Kriegers, Manneszucht und die Herrschaft über den gestählten Arm, und festen Mut, das Vaterland zu schirmen mit dem eigenen Leibe, und legen also den Grund zu einer neuen Wehrverfassung in der Zukunft." 36 Das war sehr viel zurückhaltender formuliert als die auf „Endloses Bravo" stoßende Zweckbestimmung des Turnfestes durch Emil Adolph Roßmäßler: „wir

32

Zur Finanzierung zuletzt Päll Björnsson, Liberalism and the Making of the „New Man": The Case o f Gymnasts in Leipzig, 1845-1871, in: James Retallack (Hg.), Saxony in German History. Culture, Society, and Politics, 1830-1933, Ann Arbor 2000, 151-65, hier 161.

33

Vgl. Namensverzeichnis der 20000 Turner des III. Deutschen Turnfestes zu Leipzig 1.-5. August 1863 nebst Festbeschreibung und Rede von Prof. v. Treitschke, Leipzig o.J. sowie allg. Krüger, Körperkultur, 65.

34

Hartwig Gebhardt, Auf der Suche nach nationaler Identität. Publizistische Strategien in der Leipziger „Illustrirten Zeitung" zwischen Revolution und Reichsgründung, in: Stefan Germer/Michael F. Zimmermann (Hg.), Bilder der Macht. Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, Bonn 1997, 310-23, hier 316.

35

Neue Jahrbücher für die Turnkunst 9 (1863), 279.

36

Heinrich von Treitschke, Zur Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht 1863, wieder in: Peter Wende/Inge Schlotzhauer (Hg.), Politische Reden, I, 1792-1867, Frankfurt 1990, 562-70, hier 563, 570, 564.

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brauchen angesichts unserer Turnerei keine stehenden Heere mehr".37 Gleichwohl dürfte auch Treitschkes Formulierung bei den dem Idealbild des wehrhaften Mannes anhängenden Turnern Anklang gefunden haben.38 Zumindest zielte sie eher auf die Verdeckung etwaiger Meinungsunterschiede als auf deren Akzentuierung. Damit passte sie gut zu dem Einigkeitspathos, das die Rede Treitschkes wie das dritte deutsche Turnfest insgesamt durchzog: „So verbannt sie denn für immer, jene schnöde Scheelsucht, welche mäkelt an dem unzweifelhaften Ruhme edler deutscher Stämme, welche neidisch bestreitet, dass die Preußen in dem Freiheitskriege uns allen glorreich voranstürmten, oder dem Süddeutschen die Ehre verkümmert, dass sie früher als wir alle, doch zum Frommen für uns alle, die schweren ersten Jahre des parlamentarischen Lebens durchmessen haben."39 Ein solcher Einigkeitsappell durchzog sämtliche Festreden und entsprach der kulturnationalen Prägung der Nationalfeste der frühen 1860er Jahre. „Wir fragen nicht: bist Du ein Großdeutscher, bist Du ein Kleindeutscher? Sondern: bist Du ein echter, ein rein deutscher, ein von ganzem Herzen deutscher Bruder?"40 So hieß es in einer der zahllosen anderen Reden, und selbst der Graf von Beust, der als leitender sächsischer Minister die Turner in Leipzig begrüßte, beschwor die „Eintracht im deutschen Vaterlande". Ob die Kraft des Einheitstopos ausreichte, um seiner Behauptung Glaubwürdigkeit zu verleihen, „daß die Fürsten Deutschlands dem Gedanken der deutschen Einheit nicht abhold sind", sei dahingestellt. Völlig zu Recht sprach Beust jedenfalls von einem „großen deutschen Verbrüderungsfest", ein Fest, das im übrigen ganz im Zeichen schwarz-rot-goldener Fahnen stattfand, die selbst vom Königs-Palais wehten.41 Welchen Stellenwert hatte nun die Erinnerung an die Völkerschlacht von 1813 im Rahmen dieses Nationalfestes? „Deutsche, singt im Jubelchor, / die Freiheit ist erwacht, / sie stieg auf Leipzigs Fluren empor / und brach des Feindes Nacht!" So begann das Leipziger Siegeslied, das die Illustrirte Zeitung am Eröffnungstag des Turnfestes abdruckte.42 Ähnliche Verweise auf „die mit deutschem Herzblute getränkten Fluren, vergossen für Ehre, Freiheit, Vaterland" fehlten in kaum einer Rede, und lange vor der Eröffnung des Festes hatten die ersten beiden Folgen der 'Blaetter für das dritte deutsche Turnfest' den Besuchern einen „Gang über die Schlachtfelder Leipzigs" nahegelegt.43 „Im Leipziger Acker / Laßt reifen die Saat! / 37

Zit. nach Blaetter für das dritte deutsche Turnfest, Leipzig 1863, Nr. 8, 70.

38

Vgl. dazu allg. Krüger, Körperkultur; Goltermann, Körper; Björnsson, Liberalism; sowie - wenig überzeugend - Daniel A. McMillan, „... die höchste und heiligste Pflicht...". Das Männlichkeitsideal der deutschen Turnbewegung 1811-1871, in: Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt 1996,

39

Treitschke, Erinnerung, 567.

40

Rede Dr. Heyners (Leipzig), zit. nach Erinnerungs-Kalender an das Dritte Deutsche Turnfest zu Leipzig am 1 .-5. August 1863, Leipzig o.J., 41 ff. Rede Beusts zit. nach Blaetter für das dritte Turnfest, Nr. 8, 70; zum Fahnenschmuck vgl. den

88-100.

41

Bericht in Illustrirte Zeitung (Nr. 1050) vom 15.8.1863, 111. 42

Nr. 1048 vom 1.8.1863,85.

43

Rede Dr. Heyners, zit. nach Erinnerungs-Kalender, 43.

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Ihr Turner, turnt Euch wacker / Und stärket Euch zur That!" - so lautete ein nicht nur in Liedform immer wiederkehrendes Motiv. Verbunden wurde es regelmäßig mit dem Appell an den Verpflichtungscharakter, der dem Opfertod der Gefallenen der Befreiungskriege innewohne: „Was klagt ihr Geister in den dunklen Lüften, / Daß ihr für uns umsonst gefallen seid? / Wir knieen hier an Euren Todesgrüften / Und schwören einen dreimal heiligen Eid. / Es schwöret mit uns jeder deutsche Sohn: / „Treu bis zum Tod der deutschen Nation!"44 In ganz ähnlicher Weise hatte auch Treitschke in seiner Festrede die zeitliche Distanz von fünfzig Jahren mit Hilfe der Frage überbrückt: „sind wir es wert, die Söhne solcher Väter zu heißen?"45 Wie zahlreiche auf dem dritten deutschen Turnfest zum Vortrag gelangende Lieder und Reden auch beschwor Treitschkes Rede die Befreiungskriege als einen Mythos, der sowohl fundierende als auch kontrapräsentische Funktionen besaß 46 Kontrapräsentische Funktionen, insofern sich mit der Einheit des Jahres 1813 das Fehlen eines ,,staatliche[n] Band[es]" in der Gegenwart kontrastieren ließ. Weit dominanter aber war die fundierende Funktion der mythischen Erinnerung, barg sie doch das Versprechen eines erst in der Zukunft zum Abschluss kommenden Beginns und den Beleg für die Möglichkeit eines blitzartigen Aufstiegs. Die Beschwörung der Vergangenheit beinhaltete auch den Glauben an eine zukünftige Erlösung, und es ist sicherlich kein Zufall, dass Treitschkes Sprache immer wieder eine religiöse Einfärbung aufwies: „Was der fernste unserer Stämme leidet durch Unrecht und Gewalttat, das soll uns schmerzen wie eine Wunde an unserm eigen Leibe", so fasste er z.B. sein Plädoyer für die Überwindung jedweden Partikularismus: „Dann wird der Dom der deutschen Einheit in seinen Grundmauern gefestet stehen."47 Indem die mythische Verklärung es erlaubte, die zeitliche Distanz von fünfzig Jahren zu überspringen, gestattete sie im Zusammenspiel mit dem Einigkeitspathos der „aus sämtlichen deutschen Gauen" zusammengekommenen Turner über aktuelle Meinungsverschiedenheiten ebenso hinwegzugehen wie über die konträren Bündnisse des Jahres 1813. So wurde denn auch am Schlusstag des Turnfests „ein mit verschiedenen Erinnerungszeichen an die Schlacht und das Turnfest gefüllter Blechkasten in den Grundstein" des Kugeldenkmals gelegt, ohne dass thematisiert worden wäre, dass das Denkwürdige dieses Ortes das Eindringen der preußischen Landwehr in die von sächsischen Truppen verteidigte Stadt Leipzig am 18. Oktober 1813 war.48 44

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Zitate aus: Festgruß der Turner von Plauen im Voigtland, in: Blaetter für das dritte Turnfest, Nr. 9, 76 und Julius Mosen, Deutsches Tumerlied, ebd., Nr. 4. Treitschke, Erinnerung, 562. Die begriffliche Unterscheidung nach Jan Assmann, Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen, in: Dietrich Harth/ders. (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt 1992, 39-61, bes. 52f. Treitschke, Erinnerung, 565, 567f.; zur religiösen Semantik des nationalistischen Diskurses grundsätzlich Friedrich Wilhelm Graf, Die Nation - von Gott „erfunden"? Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: Krumeich/Lehmann, Gott, 285-317, bes. 304ff. Illustrirte Zeitung (Nr. 1050) vom 15.8.1863, 122; vgl. zur regionalen Zusammensetzung der Teilnehmerschaft des Turnfestes Neue Jahrbücher für die Turnkunst 9 (1863), 273.

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III.

Nun soll die Betonung des Einigkeitstopos, dessen Pflege mit der Wertschätzung der föderativen Vielfalt der Nation einherging, die Existenz von während des Leipziger Nationalfestes zutage tretenden Bruchlinien nicht verdecken.49 Dem Berichterstatter der Illustrirten Zeitung z.B. erschien die Festrede Treitschkes zwar als trefflich, „wenn auch mit allzu großer Vorliebe für Preußen gehalten".50 Im Vergleich zu den im Oktober desselben Jahres stattfindenden Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum der Völkerschlacht blieb die potentielle Brüchigkeit des Gedenkens an die Befreiungskriege aber kaum sichtbar. Ob sich in dieser Differenz der Kontrast zwischen einem von großdeutschen Demokraten dominierten Turnfest und einer von kleindeutschen Liberalen organisierten Jubiläumsfeier widerspiegelt, wie Andreas Neemann die beiden Veranstaltungen sehr zugespitzt charakterisiert hat, oder ob der unterschiedlichen Dichte der herangezogenen Quellen größere Bedeutung zukommt, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum entscheiden.51 Unübersehbar ist jedenfalls die Unterstützung für die Jubiläumsfeier durch den Nationalverein, der seine Generalversammlung am 16. und 17. Oktober 1863 in Leipzig stattfinden ließ. „Möge die Gedächtnißfeier der heiligen Tage des Befreiungsjahres", so motivierte der Vorsitzende Rudolf von Bennigsen den entsprechenden Beschluss des Ausschusses, „die Söhne gemahnen, in dem Ringen der Nation um innere Freiheit und Einheit nicht zu lahmen und wenn die Entscheidung naht, es den Vätern gleich zu thun."52 Allerdings hatte der „überwältigende Festesjubel, der in den nächsten Tagen alles vereinte", vereinsintern vor allem den Zweck, bestehende Meinungsverschiedenheiten zu überdecken.53 Und dennoch konstituierte sich auf einer Nach Versammlung am 18. Oktober die vereinsinterne linke Opposition, die als „Freunde vom 18. Oktober 1863" die demokratischen Kräfte innerhalb des Nationalvereins stärken wollten.54 Die Feiern zum fünfzigjährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig gingen auf eine gemeinsame Initiative Berliner und Leipziger Kommunalpolitiker zurück. „Der Magistrat von Berlin schlug dem Rathe von Leipzig vor, das Fest zu einem

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Die Wertschätzung der föderativen Vielgestaltigkeit der Nation kommt in den Abbildungen zum Turnfest in: Illustrirte Zeitung (Nr. 1050) vom 15.8.1863, 112, 116f. oder 120 überdeutlich zum Ausdruck; vgl. zur Einordnung Langewiesche, Nation, bes. 61, 87. Illustrirte Zeitung (Nr. 1050) vom 15.8.1863. Vgl. Andreas Neemann, Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50-1866, Düsseldorf 2000, 459. Beilage zum Protokoll der Ausschusssitzung vom 23./24.8.1863, abgedruckt in: Der Deutsche National verein 1859-1867. Vorstands- und Ausschussprotokolle, bearb. von Andreas Biefang, Düsseldorf 1995, 253f. Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker. Nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren, I, Stuttgart 1910, 613. Vgl. Biefang, Bürgertum, 295f.; Shlomo Na'aman, Der deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859-1867, Düsseldorf 1987, 176ff.

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allgemein deutschen zu erheben."55 Zum einen knüpften prominente Berliner Liberale wie Duncker, Löwe oder Virchow, allesamt prominente Mitglieder des Nationalvereins, damit an bescheidenere Leipziger Pläne an, zum anderen reagierten sie mit ihrem Ausweichen nach Leipzig auf die angespannte innenpolitische Situation im preußischen Verfassungskonflikt. Ohne diesen, so konstatierten die Preußischen Jahrbücher, „wäre alles Volk nach Berlin geströmt, um preußischem Geiste und preußischer Kraft, die doch vor Allem die Fremdherrschaft gebrochen haben, eine freiwillige Huldigung darzubringen".56 So aber wichen auch die preußischen Liberalen den Repressalien der preußischen Behörden aus, die z.B. den Berliner Sängern die Aufführung von Uhlands Lied „Zum 18. Oktober 1816" untersagten.57 Im Herbst 1863 reichte also schon die Erinnerung an die gebrochenen Versprechen der Fürsten als Interventionsgrund aus. Da war es nur konsequent, dass einigen Berliner Veteranen, die beim königlichen Stadtgericht beschäftigt waren und an der Leipziger Feier teilnehmen wollten, der Urlaub verweigert wurde.58 „Festgeber sind diejenigen deutschen Städte, deren Vorstände bis zum 8. Oct. dem Festausschuß in Leipzig ihren Beitritt erklären. Als Gäste der verbundenen Städte werden zu dem Feste sämmtliche deutsche Veteranen eingeladen, welche in den verbündeten Heeren an der Leipziger Schlacht theilgenommen haben."59 Es ging also dem Leipziger Ausschuss, der sich im Anschluss an eine Vorfeier im Jahre 1862 gebildet hatte, von Beginn an darum, „die noch lebenden deutschen Veteranen in gebührendster Weise zu ehren und alles zu vermeiden, was für diejenigen verletzend werden konnte, welche einst nicht auf deutscher Seite standen".60 Dieser integrativen Absicht zum Trotz fiel die Resonanz höchst unterschiedlich aus. Die Dominanz sächsischer, und hier vor allem Leipziger, und preußischer Vertreter ist angesichts der geographischen Lage wenig überraschend. Unter den insgesamt knapp fünfhundert städtischen Deputierten waren allerdings nur gut zwanzig Österreicher und ganze sechs Bayern. Auch einige der größten Städte der Rheinprovinz wie Aachen, Düsseldorf oder Köln fehlten.61 Die Gründe hierfür mögen von Fall zu Fall andere gewesen sein. So fanden in manchen der Städte, die keinen Vertreter nach Leipzig entsandt hatten, eigene Feiern statt, so in Salzburg und München.62 Veranstaltungen wie die gleichfalls am 18. Oktober 1863 stattfindende Einweihung der Befreiungshalle in Kelheim fanden zwar breite Beachtung, zielten aber nicht auf

55

Illustrirte Zeitung (Nr. 1056) vom 26.9.1863, 225; vgl. auch Hoffmann, Mythos, 117ff.

56

Willy Veit, Die Leipziger Gedenkfeier der Völkerschlacht, Preußische Jahrbücher 12 (1863), 387-92, hier 388. Veit spricht bemerkenswerter Weise offen an, inwiefern das städtische Gedenken im Widerspruch zu der überwiegend ländlichen Rekrutierung der Kriegsteilnehmer stand.

57

Klenke, Mann, 124.

58

Vgl. Illustrirte Zeitung (Nr. 1061) vom 31.10.1863, 314.

59

October-Fest-Kalender. Programm über sämmtliche Festlichkeiten zur 50jährigen Feier der Völkerschlacht bei Leipzig, Leipzig 1863, 1.

60

Illustrirte Zeitung (Nr. 1061), vom 31.10.1863, 313.

61

Vgl. Verzeichnis der bei der 50jährigen Feier der Völkerschlacht am 17., 18., 19. Oktober 1863 in Leipzig anwesenden städtischen Deputirten, Leipzig o.J.

62

Vgl. die Nachweise in Anm. 24.

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Völkerschlacht-Jubiläumsjahr 1863

eine massenhafte Beteiligung der Bevölkerung.63 Das war bei dem am 15. und 16. Oktober 1863 in Köln durchgeführten Dombaufest anders, dessen komplizierte politische Besetzung - Zuschussverweigerung durch die liberale Stadtverordnetenmehrheit und Boykott durch den preußischen König - die Nichtentsendung städtischer Repräsentanten nach Leipzig indessen noch nicht erklärt.64 Hier wäre vielmehr an deutliche Äußerungen prominenter Kölner Fortschrittsliberaler gegen eine preußische Spitze im nationalen Einigungsprozeß zu denken, mit denen sie nicht nur in Widerspruch zur Mehrheit ihrer Gesamtpartei, sondern auch zur Linie des beim Leipziger Völkerschlachtjubiläum so präsenten Nationalvereins gerieten.65 So komplex die Entscheidungsstrukturen im einzelnen auch waren, ist insgesamt ein konfessionelles Muster unverkennbar. So waren aus der Rheinprovinz protestantisch geprägte oder gemischtkonfessionelle Städte wie Barmen, Duisburg oder Essen durchaus vertreten, die bayerischen Vertreter kamen aus Augsburg und dem pfälzischen Kaiserslautern.66 Das war angesichts der protestantischen Imprägnierung auch des Leipziger Nationalfestes nicht wirklich überraschend. Zwar fanden im Rahmen der Leipziger Feier Festgottesdienste aller Religionsgemeinschaften statt, doch folgte die Wahl von Chorälen wie „Nun danket alle Gott" eher der protestantischen Tradition.67 Das entsprach dem bereits im Vorfeld des Festes vorgenommenen Rückgriff auf die Arndtsche Schrift des Jahres 1814 „Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht" als Modell für den Festablauf im Jubiläumsjahr.68 Dagegen dürfte die gleichfalls früh formulierte Sorge, „daß man durch die Feier das französische Volk beleidigen könne", nur von den kosmopolitischen Freimaurern voll und ganz geteilt worden sein.69 63

64

65

66

67 68

69

Vgl. den ausführlichen Bericht in: Illustrirte Zeitung (Nr. 1060) vom 24. Oktober 1863, 295298; zur Befreiungshalle selbst Jörg Träger, Der Weg nach Walhalla. Denkmallandschaft und Bildungsreise im 19. Jahrhundert, Regensburg 19912, 130-35. Vgl. den Bericht in: Illustrirte Zeitung (Nr. 1062) vom 7.11.1863, 337f. sowie Leo Haupts, Die Kölner Dombaufeste 1842-1880 zwischen kirchlicher, bürgerlich-nationaler und dynastischhöfischer Selbstdarstellung, in: Düding u.a., Festkultur, 191-211, bes. 196; Thomas Parent, Die Kölner Abgeordnetenfeste im preußischen Verfassungskonflikt, in: ebd., 259-77, bes. 265-68. Vgl. hierzu Toni Offermann, Preußischer Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung im regionalen Vergleich. Berliner und Kölner Fortschrittsliberalismus in der Konfliktszeit, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, 109-35, bes. 126f. Vgl. Verzeichnis der Deputirten; sowie zu den das Verhältnis von Konfessionsstruktur und kommunalpolitischer Repräsentanz extrem verzerrenden Wirkungen des Dreiklassenwahlrechts Friedrich Lenger, Bürgertum und Stadtverwaltung in rheinischen Großstädten des 19. Jahrhunderts. Zu einem vernachlässigten Aspekt bürgerlicher Herrschaft, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990, 97-169. Vgl. Illustrirte Zeitung (Nr. 1061) vom 31.10.1863, 316f. Vgl. Illustrirte Zeitung (Nr. 1056) vom 26.9.1863, 225f. sowie Dieter Düding, Das deutsche Nationalfest von 1814. Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert, in: ders. u.a., Festkultur, 67-88. Illustrirte Zeitung (Nr. 1056) vom 26.9.1863, 226; vgl. dazu Moritz Zille, Die Jubelfeier der Schlacht bei Leipzig. Eine freimaurerische Betrachtung, Freimaurer-Zeitung 17.10.1863, Nr. 42.

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Friedrich Lenger

Der Ablauf des Leipziger Jubiläumsfestes kann hier aus Platzgründen nicht umfassend geschildert werden.70 Breiten Raum nahm einmal mehr die Musik ein, und unter den alten und neuen Kompositionen dominierten wiederum die Vertonungen der Gedichte von Körner, Arndt und Schenkendorff.71 Wenn sie „dem vaterländischen Gefühle den schönsten Ausdruck" gaben, ist ihre emotionale Wirkung damit vielleicht angedeutet, doch wäre der Rückschluss von der in den Liedern zweifellos vorgenommenen Verherrlichung von Eisen und Schwert auf entgrenzte Gewaltbereitschaft und Kriegslüsternheit sicherlich überzogen.72 Aufschlussreich scheint jedenfalls, dass die am selben Tag aufgeführte „Hermannsschlacht" Heinrich von Kleists keinen Anklang fand. Über die Formel von der zweiten Hermannsschlacht thematisch mit dem Anlass der Leipziger Feiern verbunden, blieb das „Drama dem geistigen Horizonte des sehr gemischten Publikums zu fern, um eine eclatante Wirkung hervorzubringen, abgesehen von den inneren Mängeln des Stückes, unter denen der auffallendste der ist, daß der Held desselben, vom moralischen Standpunkte aus betrachtet, sich wie ein heimtückischer Schuft benimmt". Die Gründe für diese ablehnende Aufnahme des Kleistschen Dramas bringt ein Bericht zu einer anderen Auffuhrung zum Ausdruck: „Nur eine Zeit, wie die, in welcher Kleist schrieb, kann ein solches Drama verstehen mit all' seinen barbarischen Auswüchsen und an ihm erglühen. Möge dieses Verständnis nie wiederkehren für Deutschland!"73 Derartige Absagen an die „barbarischen Auswüchse" ferner Zeiten lassen es fraglich erscheinen, ob man den in den Feiern des Jahres 1863 zutage tretenden Nationalismus als Vorwegnahme der kriegerischen Nationalstaatsgründung angemessen interpretiert. Sehr viel wichtiger scheint das Fortwirken älterer Traditionen eines föderativen Reichsnationalismus, wie er in Fahnen und Wappen auch auf der Leipziger Gedenkfeier seinen bildlichen Ausdruck fand. Ohnehin hoben die Zeitungsberichte deutlich hervor, dass in Leipzig ein gutes Vierteljahr nach dem Turnfest erneut „nur die deutsche Tricolore wehte, es war ja kein Fest Leipzigs oder Sachsens, sondern eine große allgemeine deutsche Feier". 74 Dass in Hannover die schwarzrotgoldene Fahne verboten worden war, wurde ebenso vermerkt, wie die Haltung der sächsischen „Regierung, für welche durch die Schlachtfeier so manche trübe Erinnerung wachgerufen werden musste".75 Derlei Erinnerungen scheinen im Oktober 1863 offener thematisiert worden zu sein als auf dem Turnfest desselben Jahres. Ein Jubel-Kalender zur Erinnerung an die Völkerschlacht, der noch im Jubiläumsjahr selbst in die vierte Auflage ging, schilderte 70

Vgl. als kurzen Abriß Hoffmann, Mythos, 117-21; demnächst die Arbeit von Stefanie Becker.

71

Vgl. Gedenkfeier der Leipziger Völkerschlacht. Fest-Musik auf dem Marktplatz zu Leipzig, Sonntag am 18. October 1863, Leipzig o.J.

72

Illustrirte Zeitung (Nr. 1061) vom 31.10.1863, 317; vgl. die gegenläufigen Thesen von Klenke,

73

Beide Berichte hier zit. nach Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der

Mann, 126ff. Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen, Reinbek 1996, 212f. 74

Illustrirte Zeitung (Nr. 1061) vom 31.10.1863, 315; vgl. ebd. auch zum Reichswappen sowie die Abbildung, ebd., 313.

75

Ebd., 314.

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Völkerschlacht-Jubiläumsjahr 1863

ausführlich, wie würdevoll der greise König von Sachsen sein Schicksal ertragen habe, und suggerierte, der preußisch-russische Vertrag von Kaiisch habe ihn auf die Seite Napoleons treten lassen.76 Ein anderes Interpretationsangebot unterbreitete die am 18. Oktober 1863 in der Nicolai-Kirche gehaltene Predigt der dort versammelten Gemeinde, indem sie den König selbst zitierte: „Er hat es ausgesprochen: 'Wenn ich abfalle von Napoleon, der so oft Sieger geblieben ist, und er bleibt auch diesmal Sieger, so zermalmt er mein armes Volk wie ein Löwe. Bleiben aber die Verbündeten Sieger, so haben diese eher ein Herz für dasselbe.' So hat ihn denn die Liebe zu seinem Volke in diesem Bunde erhalten." Erfolgte schon diese nachträgliche Sinngebung ganz aus der Perspektive des sächsischen Herrscherhauses, so galt dies erst recht für die Kommentierung gegenwärtigen Einheitsstrebens: „Es sollen die großen den kleinen nicht erdrücken", so hieß es ganz im Sinne der sächsischen Politik einer eigenständigen Rolle der Staaten des dritten Deutschlands. Das war mehr als ein Bekenntnis zur föderativen Struktur Deutschlands, sondern schloss auch jedwede revolutionäre Veränderung aus: „Wir wollen keinen Fortschritt über gebrochenes Recht, wir wollen keine von der Geschichte losgerissenen vom dürren Verstände ausgedachten Verfassungen. Wir wollen den Gang zu einer festen Einigung Deutschlands nur auf dem Wege des heiligen Rechts gehen." Und ein solches obrigkeitsfrommes Selbstverständnis schrieb er auch den Veteranen der Befreiungskriege zu, wenn er sagte: „Ihr alten lieben Veteranen, ihr Grauen und Blutzeugen aus jener Zeit, ihr wisst, was sie gewollt haben und was ihr gewollt habt. Los wollten sie vom fremden Joche, und dann wollten sie unter ihrer Obrigkeit ein stilles geruhiges Leben führen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit."77 W i e die anwesenden Veteranen auf dieses Deutungsangebot reagierten, das so weit entfernt war von den gängigen Verklammerungen von Einheit und Freiheit, ist nicht bekannt. Aber schon der Vergleich mit anderen Predigten desselben Tages deutet daraufhin, dass Ahlfelds Predigt die Grenzen dessen auslotete, was innerhalb des mythischen Gedenkens an die Befreiungskriege noch sagbar war. Zugleich waren es gerade die religiösen Deutungen, die die Grundstruktur dieses Mythos als einer wiederholbaren Erlösungsgeschichte befestigten: „Der Weg aber, den Gott mit unserem Volk zu seiner Errettung gegangen ist, ist kein anderer als der, den er mit jeder einzelnen Seele geht: durch Demüthigung zur Erhebung, durch Züchtigung zum Segen." Dass diese Demütigung im Falle Sachsens mit der Völkerschlacht noch nicht ihr Ende gefunden hatte, verschwieg auch die hier zitierte Predigt nicht. Die sich daran knüpfenden wehmütigen Erinnerungen bedurften aber keiner jenseitigen Sinngebung. Vielmehr ließ sich „die Zerreißung unseres engern Vaterlandes" durchaus „mit der Befreiung des großen Vaterlands" verrechnen, denn: „die Freude des heutigen Tag s ist eine, welche die auftauchende Wehmuth erst überwinden muß. Aber ich setze auch wieder hinzu: Gott Lob! Daß sie groß genug ist, um sie

76

Vgl. Jubel-Kalender zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16.-19. October, Leipzig 18634, 8, 44f. und 48.

77

Dr. Fr. Ahlfeld, Danket dem Herrn, dem großen Siegverleiher. Predigt über Psalm 46, 8-12. A m 50jährigen Jubiläum der Leipziger Völkerschlacht am 18. Oktober 1863 in der Kirche zu St. Nicolai in Leipzig, Leipzig 1913\ 6, 13, 12.

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überwinden zu können." Spezifisch sächsische Leidenserinnerungen und gesamtnationale Erlösung ließen sich also versöhnen. Zugleich aber, darauf wies mehr als eine Predigt hin, bestätigte die Geschichte selbst deren Deutung als Erlösung durch den Herrn. Schon Arndt habe die nationale Begeisterung „ein Wunder Gottes" genannt, und sein vielfach variierter Satz „Es ist ein Kreuzzug, / 's ist ein heil'ger Krieg" erlaubte nun fünfzig Jahre später die Frömmigkeit des Jahres 1813 zu den Voraussetzungen einer Wiederholung der nationalen Erlösung zu zählen.78 Hatte die religiöse Aufladung des Nationalismus der Zeit der Befreiungskriege dessen emotionale Wirksamkeit mitbegründet, bemühten die Geistlichen der Reichsgründungszeit nun die populären Vertreter des frühen Nationalismus als Gewährsleute ihrer Frömmigkeitspostulate. „Mit Gott, für König und Vaterland!" Das war auch die Devise der „Predigt im Tempel der Israelitischen Gemeinde zu Leipzig", die gleichfalls keinen Zweifel daran ließ, dass „die Hülfe Gottes aber endlich Dasjenige [war], wodurch das Ziel erreicht wurde". „'Erlöset hat Gott sein Land!"', dieser Grundtopos verband die Predigt von A.M. Goldschmidt mit denen seiner christlichen Kollegen. Dass er ansonsten einige Sorgfalt auf den Nachweis verwandte, dass der Wehrbeitrag der jüdischen Bevölkerung in keiner Weise hinter dem der christlichen Konfessionen zurückgeblieben sei, überrascht angesichts der verwickelten Emanzipationsgeschichte der Juden im Königreich Sachsen nicht.79 „Nicht blos der palästinensische Boden war Israel heilig; nein, jedes Land, das Israels Söhne als seine Kinder betrachtet, jedes Land, deß Gesetze sie schirmen, deß Boden sie nährt, in dessen Erde die Gebeine ihrer Angehörigen ruhen, war und ist ihnen heilig, für das sie Gut und Blut einzusetzen wussten, einzusetzen wissen: also haben sie in den Freiheitskriegen und bis in die Gegenwart als wackere Vaterlandsverteidiger sich bewährt". Einen solchen Nachweis mochte die Verbreitung antisemitischer Stereotype, die gerade auch in früheren Gedenkfeiern zum 18. Oktober verbreitet worden waren, geradezu erzwingen.80 Bemerkenswerter scheint die Zielbestimmung, die Goldschmidt dem Geschehen gab: „Hüten wir uns daher", so hieß es in direkter Umkehrung der oben zitierten Predigt, „es jemals zu vergessen, daß es Freiheitskriege waren, die in den Oktobertagen gekämpft wurden, Kriege nicht blos zur Abwälzung des fremden Joches, sondern zum Aufbau der Freiheit in der Heimath." Dementsprechend bildeten für ihn „Einheit, Freiheit, Gottergebenheit, dieses glänzende Dreigestirn", ein merk-

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79

80

Benno Bruno Brückner, Die Befreiung des deutschen Vaterlandes. Predigt bei der Gedenkfeier der Leipziger Völkerschlacht am 20. Sonntag nach Trinitatis 1863, Leipzig 1863, 310, 315, 311, 317; in ganz ähnlicher Weise bemüht auch Ahlfeld, Danket, 9f. Arndt und Schenkendorff als Zeugen göttlichen Wirkens. Dazu zuletzt Simone Lässig, Emancipation and Embourgeoisement: The Jews, the State, and the Middle Classes in Saxony and Anhalt-Dessau, in: Retallack, Saxony, 99-118. Vgl. Peter Brandt, Das studentische Wartburgfest vom 18./19. Oktober 1817, in: Düding u.a., Festkultur, 89-112, bes. 99.

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licher Kontrast selbst zu der moderateren der zuvor angeführten Predigten, die „deutsche Sittlichkeit, deutsche Frömmigkeit, deutsche Einigkeit" beschwor.81 Goldschmidts Deutung der Befreiungskriege war so den Interpretationsangeboten der liberalen Nationalbewegung ungleich näher als die Predigten seiner christlichen Kollegen. Ihr Vergleich zeigt, dass der nationalreligiös gefärbte Kern der mythischen Erinnerung an die Befreiungskriege erheblichen Spielraum für Erinnerungskonkurrenzen bot, ein Spielraum, den der Blick auf Leipzig allein sicherlich nicht auszumessen erlaubt. In der konkreten Situation des Jubiläumsjahres war es das liberale Stadtbürgertum, das die Erinnerungshoheit weitgehend für sich beanspruchte und über die Gestaltung der Festlichkeiten umzusetzen versuchte. Seiner Hegemonie waren indessen deutliche Grenzen gesetzt, wie die ganz unterschiedliche Resonanz der Jubiläumsfeierlichkeiten aber auch die Eigenständigkeit kirchlicher Deutungsmuster zeigen. Als typisch bürgerlich wird man den Versuch bezeichnen dürfen, die Erinnerungshegemonie auf Dauer zu stellen. Dies wurde ansatzweise mit einer „Ausstellung von Autographen und anderen Gegenständen" angestrebt, die der schon länger bestehende Verein zur Feier des 19. Oktober 1813 anlässlich der Gedenkfeier veranstaltete und an die sich Pläne zur Einrichtung eines Museums knüpften.82 Sehr viel bekannter geworden ist indessen das Projekt eines Völkerschlachtdenkmals, dessen Grundstein im Rahmen der Leipziger Gedenkfeiern des Jahres 1863 gelegt wurde. Wenn dabei der Leipziger Bürgermeister in seiner Festrede einmal mehr den Hinweis „auf die schweren Tage des Kampfes" mit der Zuversicht verband, „daß die Zeit nicht ausbleiben könne, in der die Nation auch die Früchte dieses Sieges, dieser Kämpfe erringen werde", so unterstrich er damit noch einmal die Zeitstruktur der mythischen Erinnerung an die Befreiungskriege.83 Diese Grundstruktur ließ auch in der Reichsgründungszeit erheblichen Raum für Erinnerungskonkurrenzen, die auszuloten dem Verständnis des Nationalismus der Zeit förderlich sein dürfte.

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82

83

Dr. A.M. Goldschmidt, Die Jubelfeier des geretteten Vaterlandes. Predigt beim Gottesdienste am 18. October 1863 zur Feier der Leipziger Völkerschlacht im Tempel der Israelitischen Gemeinde zu Leipzig, Leipzig 1863, 13, 12, 8, 10, 13; Brückner, Befreiung, 320. Vgl. Ausstellung von Autographen und anderen Gegenständen veranstaltet in den Räumen der Stadtbibliothek vom Vereine zur Feier des 19. October 1813 zur Fünfzigjährigen Gedenkfeier der Schlacht bei Leipzig, Leipzig 1863 sowie den Bericht in: Illustrirte Zeitung (Nr. 1061) vom 31.10.1863, 319. Zit. nach: Illustrirte Zeitung (Nr. 1061) vom 31.10.1863, 319.

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Wolfgang J. Mommsen

Die Kontinuität des Irrtums. Das Deutsche Reich an der Schwelle zum totalen Krieg

In den letzten Jahren ist die herkömmliche Ansicht, daß die Regierungen und Generalstäbe der kriegführenden Mächte, insbesondere im Deutschen Reich, durchweg einen kurzen Krieg erwartet haben, weitgehend erschüttert worden.1 Es ist zwar unübersehbar, daß der deutsche Generalstab und mit ihm die Reichsleitung, 1914 mit einem durchschlagenden Erfolg des Schlieffenplans gerechnet haben, der Frankreich zu einem baldigen Friedensschluß nötigen werde - das sog. Septemberprogramm kam unter dieser Prämisse zustande. Ebenso hat der französische Generalstabschef Foch gehofft, mit seiner Offensive im Elsaß, die das deutsche Heer in seiner Flanke treffen und gleichsam von hinten her aufrollen könne, einen definitiven Entscheidungsschlag führen zu können. Auch in der Öffentlichkeit gab es viele, die einen raschen Feldzug erwarteten und glaubten, die Soldaten würden Weihnachten wieder zu Hause sein. Aber an vorausschauenden Stimmen, die richtig antizipierten, daß der spätestens seit 1911 allgemein befürchtete und vielerorts herbeigesehnte europäische Krieg sich zu einem erbitterten Ringen der europäischen Nationen auswachsen werde, das mit größter Anstrengung aller Kräfte geführt und sich mehrere Jahre hinziehen werde, fehlte es nicht. Schon 1890 hatte der ältere Moltke gemeint, daß der über Europa hängende europäische Krieg sehr wohl sieben Jahre dauern, ja sogar ein neuer dreißigjähriger Krieg werden könne.2 Die Befürchtung war groß, daß durch einen solchen Krieg die Grundlagen der europäischen Gesellschaftsordnung und die Werte der europäischen Kultur aufs schwerste erschüttert werden könnten. 1911 wies August Bebel die Abgeordneten des Deutschen Reichstags daraufhin, daß der sich beständig beschleunigende Rüstungswettlauf der Großmächte eines Tages zur Katastrophe eines europäischen Krieges führen werde: „Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 1 6 - 1 8 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken." Dies aber werde den Zusammenbruch der überkommenen bürgerlichen Welt zur Folge haben.3 Damals haben nur wenige der Parlamentarier Bebels Worte ernst genommen, aber die Warnung stand fortan im Raum, daß ein europäischer Krieg unabsehbare 1

2 3

Zusammenfassend jüngst Stig Förster, Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871 - 1914. Metakritik eines Mythos, in: Johannes Burkhardt u. a., Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg, München 1996, 115 -158. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 1890/91, Bd. 129, 76f. ebd., Bd. 268, 7730.

Wolfgang J. Mommsen

Folgen auch für die gesellschaftliche Ordnung haben würde. Der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg stand solchen Besorgnissen keineswegs fern. Noch im Juni 1914 wies er den Gedanken eines ohne Not herbeigeführten Präventivkrieges mit dem Hinweis auf den Tatbestand ab, daß ein europäischer Krieg keineswegs eine Konsolidierung der inneren Verhältnisse im Deutschen Reiche herbeiführen würde, wie viele Konservative glaubten, sondern ganz im Gegenteil die Machtstellung der Sozialdemokratie noch mehr steigern und womöglich zum Sturz der deutschen Monarchien fuhren könnte. 4 Stig Förster hat jüngst in Erinnerung gerufen, daß auch Moltke davon ausging, daß der bevorstehende Krieg „die Kultur fast des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus vernichten" werde.5 Trotzdem versuchte er in enger Zusammenarbeit mit dem österreichischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorff Ende Juli 1914 zielbewußt, ein Zurückweichen der Reichsleitung zu verhindern, durch welches der Ausbruch eines europäischen Krieges vielleicht noch hätte abgewendet werden können. Ungeachtet dieser überaus kritischen Beurteilung der möglichen Folgen eines europäischen Krieges waren sowohl der Generalstab wie auch die Reichsleitung in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch davon überzeugt, daß man Herr der Situation sei und der Krieg beherrschbar sein werde. Egmont Zechlin hat bereits vor geraumer Zeit dargelegt, daß Bethmann Hollweg anfanglich alles daran gesetzt hat, den Krieg als einen Kabinettskrieg herkömmlichen Typs zu fuhren, d.h. jede Ingerenz der Parteien, Parlamente oder pressure groups auf die Führung des Krieges nach Möglichkeit abzublocken.6 Das bestehende bürokratische Regiment halbautoritären Zuschnitts oberhalb der Parteien und gesellschaftlichen Gruppen sollte unter den Bedingungen des Krieges in verschärften Formen fortgeführt werden. Dementsprechend wurde der Reichstag, nachdem er am 4. August 1914 ein ganzes Bündel von Ermächtigungsgesetzen beschlossen hatte, die dem Bundesrat für die Dauer des Krieges weitreichende Vollmachten gaben, auf unbestimmte Zeit vertagt, ursprünglich für die ganze Dauer des Krieges, und auch späterhin nur zusammengerufen, um die unentbehrlichen Kriegskredite zu votieren. Ebenso wurde die Zensur, die von den Stellvertretenden Generalkommandos ausgeübt wurde, benutzt, um die Reichsleitung in allen politischen und militärischen Fragen gegenüber der Öffentlichkeit abzuschirmen.7 Auch auf die schon im August 1914 aufflammende Kriegszielagitation versuchte der Kanzler, wenn auch nur mit indirekten Mitteln, anfanglich mäßi4

Lerchenfeld an Hertling (= Bericht 328 vom 4. Juni 1914), in: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, hg. v. Pius Dirr, Berlin 1922, 111-113, 113.

5

Moltke an Bethmann Holl weg am 29. Juli 1914, bei Imanuel Geiß, Julikrise und Kriegsausbruch. Eine Dokumentensammlung, II, Hannover 1964, 263. Vgl. Stig Förster, Der deutsche Generalstab, 116.

6

Egmont Zechlin, Deutschland zwischen Kabinettskrieg und Wirtschaftskrieg. Politik und Kriegführung in den ersten Monaten des Weltkrieges 1914, in: HZ 199 (1964), 347ff.

7

Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Regierung Bethmann Hollweg und die öffentliche Meinung 1 9 1 4 - 1917, in: V f Z 17(1969), 131 ff.

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Kontinuität des Irrtums

gend einzuwirken, um sich auf diese Weise freie Hand für Entscheidungen zu verschaffen. Das sogenannte „Septemberprogramm", das, wie bereits erwähnt, für den Fall baldiger Friedensverhandlungen mit Frankreich vorbereitet wurde, war das Produkt nicht nur intensiver Beratungen innerhalb der Reichsleitung, sondern auch umfangreicher Konsultationen zahlreicher sogenannter Experten und wirtschaftlicher Interessenvertreter. Es versuchte die Quadratur des Zirkels zu lösen, indem es einerseits die Forderungen der radikalen Annexionisten zu befriedigen suchte, durch den Entwurf eines Modells indirekter Herrschaft über den europäischen Kontinent vornehmlich mittels wirtschaftlicher Machtinstrumente, andererseits aber direkte Annexionen in Ost und West auf ein mögliches Minimum beschränken wollte. Ungeachtet des vagen Charakters seiner Formulierungen und seines erklärtermaßen provisorischen Status zeigt das Septemberprogramm, daß die Reichsleitung im Gegensatz zu ihren eigenen Bestrebungen ziemlich von Anfang an die Kontrolle über die Kriegszielauseinandersetzungen verlor. Ja mehr noch, sie handelte sich, ungeachtet des weitreichenden Charakters der von ihr selbst, wenn auch mit wechselnder Entschiedenheit verfolgten Ziele, den Vorwurf seitens der Rechten ein, zu einem Friedensschluß unter Opferung sogenannter vitaler nationaler Interessen bereit zu sein. Bethmann Hollweg galt fortan als ein „schlapper" Staatsmann, dem das Selbstvertrauen und die Führungskraft fehle, um einen Siegfrieden durchzusetzen, der den gebrachten Blutopfern entsprechen würde. Auch die Militärs waren anfänglich davon überzeugt, daß die deutschen militärischen Operationen planmäßig verliefen, obschon der überraschende russische Vorstoß bis nach Ostpreußen einen erheblichen Schock auslöste. Die zunehmende Besorgnis der Armeeführungen darüber, ob die Operationspläne eingehalten werden könnten, fand ihren Ausdruck auch in Gewaltakten gegenüber der belgischen Zivilbevölkerung, der man ohne konkrete Anhaltspunkte unterstellte, mit angeblichen Franktireurs zusammenzuarbeiten. Mehrfache Fälle von sogenanntem „friendly fire", die in einer Atmosphäre gesteigerter Nervosität zustande kamen, haben für diese Übergriffe den Auslöser gegeben; die Vorgänge beleuchten, daß die Heeresleitung und die Führungsstäbe vor Ort keineswegs Herr der Lage waren.8 Schon zu diesem frühen Zeitpunkt kam es demgemäß zu einer Verwischung der klassischen Trennlinie zwischen Kombattanten und der Zivilbevölkerung, ein Phänomen, das für den totalen Krieg charakteristisch ist. Spätestens mit dem Verlust der Marneschlacht, der dem Zusammenbruch des ursprünglichen deutschen Kriegsplans gleichkam, ging die Illusion eines in politischer wie in militärischer Hinsicht rational kontrollierten Kabinettskrieges in Rauch auf. General von Falkenhayns Bemühungen im Herbst 1914, durch immer neue

8

Alan Kramer, „Greueltaten", in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...", Essen 1993, 85-114. Siehe ferner John Hörne, German „Atrocities" and FrancoGerman Opinion, 1914, in: JModH 66 (1994), 1-33, sowie Lothar Wieland, Belgien 1914. Die Frage des belgischen „Franktireurkrieges" und die deutsche öffentliche Meinung von 1 9 1 4 - 1 9 3 6 , Frankfurt 1984.

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Wolfgang J. Mommsen

verlustreiche Angriffe in Flandern unter Aufopferung fast der gesamten Heeresreserve doch wieder Bewegung in die Westfront zu bringen, endeten ebenfalls ergebnislos und führten zu großer Ernüchterung.9 Plötzlich sah sich die deutsche Heeresleitung vor einer Situation, die sie niemals ernstlich ins Auge gefaßt hatte, nämlich eines langen Abnutzungskrieges, bei dem die anfänglich vorhandenen Vorteile auf deutscher Seite, insbesondere die vergleichsweise frühe Verfügbarkeit starker, gut ausgebildeter Heeresreserven, nicht mehr zählten, hingegen die Nachteile, insbesondere die Abschnürung der Mittelmächte von allen überseeischen Rohstoff- und Nahrungsmittelzufuhren, zunehmend stärker ins Gewicht fielen. Falkenhayn kam denn auch bereits am 18. November 1914 zu einer überaus negativen Einschätzung der militärischen Gesamtlage; das deutsche Heer, so meinte er, sei ausgebrannt und eine rein militärische Beendigung des Krieges nicht mehr erreichbar.10 Bethmann Hollweg aber scheute davor zurück, die deutsche Öffentlichkeit über die tatsächliche militärische Situation zu informieren, aus der nicht ganz unbegründeten Sorge heraus, daß es dann zu einem schweren Einbruch der Moral der Bevölkerung kommen könnte.11 Dieses Dilemma setzte sich in der Folge fort. Unter dem Schutzmantel der Zensur und angesichts der Bereitschaft der Presse, die Informationspolitik der Reichsleitung und der Militärs im Hinblick auf das gemeinsame Ziel der größtmöglichen Stärkung der Kriegsmoral hinzunehmen und deren Propagandabestrebungen nahezu uneingeschränkt zu unterstützen, entwickelte sich im Innern eine fast unwirkliche Atmosphäre der Siegesgewißheit, die den tatsächlichen Verhältnissen überhaupt nicht entsprach. Die Sozialdemokratie und ihre Presse, die als einzige dagegenhielten, konnten nur wenig ausrichten, zumal sie im Bestreben, an ihrer patriotischen Gesinnung keine Zweifel aufkommen zu lassen, selbst in den Sog der offiziösen Propaganda geriet. Während die militärischen Operationen an der Westfront in einem Stellungskrieg erstarrten, der den Soldaten unvorstellbare Strapazen abverlangte und auf eine sinnlose Menschenvernichtung hinauslief, eskalierte im Innern die nationalistische Agitation zugunsten extremer Kriegsziele. Im Frühjahr 1915 erreichte die nationalistische Flutwelle in der öffentlichen Meinung einen ersten Höhepunkt. Die Agitation für weitreichende Kriegsziele wurde unter dem Deckmantel des „Burgfriedens" mit einer wachsenden Zahl von Kriegszieldenkschriften geführt, die formal an die Reichsleitung adressiert waren, aber gleichzeitig gezielt an zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens versandt wurden.12 Am bedeutsamsten unter diesen war, neben einer schon im Au-

9

Vgl. Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994, 196ff.

10

11 12

Vgl. das diesbezügliche Memorandum Bethmann Hollwegs vom 19. November 1914 in: André Scherer / Jacques Grunewald (Hg.), L'Allemagne et les problèmes de la paix pendant la première guerre mondiale, I, Paris 1962, 15-19, 17 sowie Afflerbach, Falkenhayn, 204f. Belege bei Mommsen, Die Regierung Bethmann Hollweg, 155f. Auf eine Nachweisung der umfangreichen, an Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht anschließende Literatur zu den Kriegszielfragen wird hier verzichtet. Die jüngste umfassende

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gust 1914 vertriebenen Denkschrift von Heinrich Claß, dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, die Denkschrift der fünf, späterhin sechs Wirtschaftsverbände vom 10. März 1915, die bereits alle wesentlichen Postulate der annexionistischen Rechten enthielt, und mit dem Argument, daß das Gleichgewicht zwischen Industrie und Landwirtschaft auch nach Kriegsende aufrechterhalten bleiben müsse, umfangreiche Annexionen in West und Ost forderte. Demgemäß sollte für Annexionen im Westen, welche die Industrie begünstigten, ein Ausgleich in Form der Annexion landwirtschaftlich zu nutzender Gebiete im Osten herbeigeführt werden. Dieser Denkschriftenaktion der Wirtschaftsverbände folgte wenig später eine sogenannte Intellektuelleneingabe, die auf Betreiben Reinhold Seebergs und Dietrich Schäfers entstanden war und an Maßlosigkeit kaum hinter jener der sechs Wirtschaftsverbände zurückblieb. Es erübrigt sich, hier eingehend auf den utopischen Charakter dieser Kriegszielprogramme einzugehen, die jegliches Augenmaß vermissen ließen. Im Mai 1915 versuchten die Sprecher der Industrie darüberhinaus, den angeblich „schlappen" Reichskanzler zu umgehen und ihre Forderungen unmittelbar an Wilhelm II. heranzutragen, unter Vermittlung des Generals von Gayl, des Chefs des Stellvertretenden Generalkommandos in Münster. Bislang hatte Bethmann Hollweg es dank der Hilfestellung des Chefs des Königlichen Zivilkabinetts von Valentini erreicht, den Kaiser gegenüber diesen politischen Umtrieben so gut es ging abzuschirmen. Jetzt drohte die Kriegszielagitation auch die persönliche Stellung des Kanzlers bei Wilhelm II. zu untergraben. Hinter der Kampagne für Kriegsziele immer gigantischeren Umfangs standen nicht nur nationalistische Bestrebungen und patriotische Begeisterung für das erhoffte künftige größere Deutschland, sondern auch handfeste materielle Interessen. Die Industriellen gingen davon aus, daß nur im Falle eines deutschen Sieges, der es erlauben würde, die Kriegskosten zum großen Teil auf die Schultern der westlichen Mächte zu legen, die Arbeiterschaft sich mit ihrer Lage abfinden werde. Ansonsten aber werde es zu schweren revolutionären Erschütterungen kommen. 13 In ihren Gesprächen mit General von Gayl am 12. Mai 1915 äußerten sich die Repräsentanten der rheinischen Schwerindustrie recht offenherzig: „wenn dieser Krieg nicht mit einem großen Erfolge, nicht mit einem großen Gewinn nach allen Seiten" auslaufe, würden die Verhältnisse nach dem Krieg außerordentlich schwierig werden. „Die Arbeiter, die aus dem Kriege zurückkommen, werden mit großen Ansprüchen an die Arbeitgeber herantreten, und wenn nicht auf der Grundlage eines großen Zuwachses an Gebiet und wirtschaftlicher Kraft auf dem Gebiete der Lohnfrage in weitherziger Weise verfahren werden kann, dann wird es zwischen Arbeitgebern

13

Darstellung bei George-Henri Soutou, L'Or et le Sang. Les buts de guerre économiques de la Première Guerre mondiale, Paris 1989. 1916 meinte Hugo Stinnes sogar festhalten zu müssen: „Das Ergebnis eines schlechten Friedens wird Revolution und vermutlich das Ende der Dynastie sein". Stinnes an Ludendorff am 23. 12. 1916, zit. bei Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes, München 1998, 420f.

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und Arbeitnehmern einen fürchterlichen Kampf geben."14 Auf der Rechten, namentlich bei den konservativen Parteien, trat das Motiv hinzu, daß die Situation des Krieges die Chance eröffne, die Macht der Sozialdemokraten über die Massen der Arbeiterschaft zu brechen, indem man deren nationale Gesinnung ins Zwielicht rückte. Durch die Propagierung weitreichender Kriegsziele hoffte man, das bestehende Einvernehmen zwischen der Reichsleitung und der Sozialdemokratie sowie den Freien Gewerkschaften, das ihnen ein Dorn im Auge war, zu untergraben und die Sozialdemokratie in die politische Isolation zu treiben. Nationalistische Gesinnung, politisches Kalkül und materielle Interessenlagen gingen bei der Kriegszielagitation, die immer mehr die Grenzen des Möglichen hinter sich ließ, Hand in Hand; es war dies in erster Linie eine innenpolitisch motivierte Kampagne, die im Endeffekt die Mittelmächte immer stärker auf den Pfad eines mit allen verfügbaren Kräften geführten, und am Ende eines totalen Krieges verwies, der nur mit einem umfassenden Sieg oder einer vollständigen Niederlage zu einem Ende gebracht werden konnte. Es ist charakteristisch, daß diese Agitation zum Zeitpunkt einer schweren außenpolitischen Krise erfolgte, von der freilich die Öffentlichkeit nur unzureichend informiert war. Der drohende Eintritt Italiens und womöglich auch Rumäniens in den Krieg auf Seiten der Alliierten Mächte wurde sowohl von der Reichsleitung als auch von der OHL als äußerst schwerwiegend angesehen, namentlich auch wegen der unmittelbaren Bedrohung der verbündeten Donaumonarchie; dadurch könnte sich, so meinte man in der Umgebung des Kanzlers, das Kräfteverhältnis entscheidend zuungunsten der Mittelmächte verändern. Bethmann Hollweg hielt es jedoch für unmöglich, den Bestrebungen der Annexionisten in der Öffentlichkeit durch nüchterne Aufklärung über die tatsächliche Kriegslage entgegenzutreten, weil er befürchtete, daß dann ein verhängnisvoller Einbruch der Stimmung eintreten würde: „Aufklären über die militärische Situation kann ich die Petenten nicht. Entweder sie bezeichnen mich des Flaumachens, oder sie werden selbst ängstlich. Beides können wir nicht brauchen. Die Aufklärung kann nur ganz allmählich durch die militärischen Ereignisse selbst stattfinden."15 Infolgedessen ließ die Reichsleitung der immer weiter fortschreitenden Eskalation der Kriegszielforderungen freien Lauf, obwohl dies streng genommen auf eine krasse Verletzung des „Burgfriedens" hinauslief. Die Schere zwischen den sanguinischen Erwartungen in der Öffentlichkeit und der tatsächlichen militärischen Lage der Mittelmächte weitete sich immer mehr, ohne daß die Reichsleitung irgend etwas dagegen unternahm. Im Gegenteil, ungeachtet der stetig erneuerten Beteuerungen, daß man einen Verteidigungskrieg führe - die notwendig waren, um auch weiterhin die Unterstützung der Sozialde-

14

15

Der Bericht über die Unterredung der Vertreter der Stahlindustrie und der bergbaulichen Vereine Hugenberg, Kirdorf und Stinnes mit von Gayl, 12. Mai 1915, Kgl. Zivilkabinett Rep. 89 H, Militaria 1 lc, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Anlage 13, Blatt 32ff. Zit. bei Mommsen, Die Regierung Bethmann Hollweg, 136.

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mokratie für die Kriegspolitik zu erlangen - ließ sich die Reichsleitung immer stärker von den annexionistischen Strömungen in der Öffentlichkeit selbst mitreißen. Die Kluft zwischen der tatsächlichen Lage und den nationalistischen Erwartungen in breiten Schichten der Öffentlichkeit, bis hinein in das linksliberale Lager, gewann mit der Berufung der sogenannten 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff eine neue Qualität. Anfangs hatte Bethmann Hollweg gehofft, daß sich mit den siegreichen Heerführern, deren Ansehen in der uninformierten Öffentlichkeit inzwischen charismatische Qualität gewonnen hatte, notfalls auch ein magerer Friede werde schließen lassen.16 Doch darin sah sich der Kanzler schon bald getäuscht. Vielmehr gaben Hindenburg und Ludendorff nur wenig später der Kampagne für den Übergang zum unbeschränkten U-Bootkrieg, welche seit März 1916 losbrach und in gewissem Sinne eine Fortsetzung der Kriegszielagitation der ersten Kriegsjahre darstellte, ihren Segen und raubten dem Kanzler die Möglichkeit, sich zur Durchsetzung seines Kurses auf die moralische Autorität Hindenburgs und Ludendorffs zu berufen. Dieser zielte darauf ab, einen Kompromiß mit den neutralen Mächten in der U-Bootfrage zu finden, um einen definitiven Bruch mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. Anfänglich gelang dies. Im März 1916 wurde zunächst eine Übereinkunft erzielt, die den Einsatz der U-Bootwaffe auf einer niedrigen Ebene ermöglichen sollte. Großadmiral von Tirpitz wurde wegen seines zweideutigen Verhaltens in der U-Bootfrage zum Rücktritt gezwungen. Aber durch die nur wenig später mit vermehrter Wucht einsetzende erbitterte Kampagne für den Übergang zum unbeschränkten U-Bootkrieg, mit dem Großbritannien nach den Informationen der Admiralität binnen weniger Monate in die Knie gezwungen werden könne, geriet die Reichsleitung hoffnungslos in die Defensive, insbesondere, nachdem bekannt geworden war, daß nunmehr auch die 3. OHL für den unbeschränkten U-Bootkrieg eintrat. Die Agitation für den unbeschränkten U-Bootkrieg operierte mit dem Argument, daß der er das letzte, unfehlbare Mittel darstelle, um eine Kriegsentscheidung im deutschen Sinne herbeizuführen. Dahinter stand die Befürchtung, daß der ersehnte „Siegfrieden", ohne den die Kriegszielerwartungen nicht hätten in Erfüllung gehen können, auf andere Weise nicht mehr erreichbar war, mit unübersehbaren Konsequenzen. Diese in die Öffentlichkeit getragene Argumentation war im Grunde eine Spekulation ä la baisse, die, mit anderen Worten gesagt, den Krieg für verloren gab, wenn die letzte Karte des unbeschränkten U-Bootkriegs nicht stechen werde. Sie trug deutlich die Züge einer irrationalen Hysterie. Wie problematisch die Grundlagen des Kalküls hinsichtlich einer kriegsentscheidenden Wirkung der UBootwaffe auch immer sein mochten, gegen diese Agitation war nicht anzukommen. Am Ende mußte der Kanzler wider besseres Wissen konzedieren, daß der un-

16

Vgl. Bethmann Hollweg an Grünau für General von Lyncker vom 23. 6. 1916, Reichskanzlei Nr. 2398/6. Siehe auch Karl-Heinz Janßen, Der Kanzler und der General. Die Führungskrise um Bethmann Hollweg und Falkenhayn (1914-1916), Berlin 1967, 235 sowie ders., Der Wechsel in der Obersten Heeresleitung 1916, in: V f Z 7 (1959), 337f.

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beschränkte U-Bootkrieg nur pro tempore ausgesetzt, nicht aber definitiv aufgegeben worden sei.17 In den Kriegszielfragen hat Bethmann Hollweg darauf gesetzt, daß es ihm möglich sein werde, sich, sofern es zu konkreten Verhandlungen zwischen den kriegführenden Mächten kommen sollte, über die in der Öffentlichkeit zirkulierenden Kriegszielforderungen hinwegzusetzen. Aber tatsächlich waren ihm längst die Hände gebunden.18 Das Bemühen des Kanzlers, mit dem Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 der Entscheidung zugunsten des unbeschränkten U-Bootkrieges aus dem Wege zu gehen und zugleich den drohenden Kriegseintritt der Vereinigten Staaten doch noch abzuwenden, scheiterte vollständig, weil der Kanzler in der Frage der deutschen Kriegsziele längst festgelegt war. Der halbherzige Versuch, sich durch die Gründung eines formell unabhängigen, faktisch aber von der Reichskanzlei gesteuerten „Ausschusses für einen ehrenvollen Frieden" eine innenpolitische Basis für einen Verhandlungsfrieden zu schaffen, war fehlgeschlagen und hatte nur die formelle Gegengründung des „Ausschusses für einen deutschen Frieden", des Vorläufers der wenig später gegründeten „Vaterlandspartei", provoziert. Die zu diesem Zeitpunkt durchaus noch vorhandene Chance, aus einer vergleichsweise immer noch günstigen Ausgangsposition heraus zu Friedensverhandlungen mit den Westmächten zu kommen, wurde bereits im Ansatz verspielt, weil Bethmann Hollweg, einerseits konfrontiert mit der utopischen Erwartungshaltung der schon seit geraumer Zeit auf weitgespannte annexionistische Ziele eingestellten öffentlichen Meinung, andererseits festgelegt auf die extremen Kriegsziele der Obersten Heeresleitung, den notwendigen Handlungsspielraum verloren hatte, um die zwar nicht großen, aber durchaus vorhandenen Möglichkeiten für eine diplomatische Beendigung des sinnlos gewordenen Krieges auszuloten. Das Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 war auf deutscher Seite mit so vielen Kautelen und Bedingungen belastet worden, daß von vornherein nur sehr geringe Chancen für ein Gelingen bestanden; und das Gleiche galt für die sich daran anschließenden Verhandlungen über die Friedensaktion des amerikani17

18

Erklärung im Hauptausschuß des Reichstages am 9. Oktober 1916, HAS, BA Potsdam, Reichstag Nr. 1201, 582f. Ein nahezu grotesk anmutender Beleg dafür findet sich in einer Aktennotiz, in der sich Bethmann Hollweg von dem am 23. April 1917 vereinbarten Kreuznacher Kriegszielprogramm insgeheim distanzierte: „General Ludendorff hat seit längerer Zeit auf eine Vereinbarung der Kriegsziele gedrängt und auch Seiner Majestät zu suggerieren verstanden, daß das jetzt das wichtigste Geschäft sei ... Wahrscheinlich hoffte der General, mich bei Differenzen über die Kriegsziele stürzen zu können, was augenblicklich wohl leicht durchzusetzen wäre. Oder er glaubte mich festlegen zu können, damit ich nicht auf billigerer Grundlage (Friedensangebot vom 12. Dezember) Friedensverhandlungen betreibe. Ich habe das Protokoll mitgezeichnet, weil mein Abgang über Phantastereien lächerlich wäre. Im übrigen lasse ich mich durch das Protokoll natürlich in keiner Weise binden. Wenn sich irgendwie und irgendwo Friedensmöglichkeiten eröffnen, verfolge ich sie. Was ich hiermit aktenmäßig festgestellt haben will". Kuno Graf von Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs, II, Berlin 1936, 85f. ferner Soutou, L' or, 387.

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sehen Präsidenten. Fortan waren die Schleusen hin zu einer immer radikaleren Kriegführung weit geöffnet. Die nunmehr unabwendbar gewordene Eröffnung des unbeschränkten U-Bootkrieges führte, wie zu erwarten war, zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zum 1. April 1917 und damit definitiv zu einer Ausweitung des europäischen Kriegs zu einem Weltkrieg. Im Grunde hatte die Politik bereits zu diesem Zeitpunkt abgedankt. Das deutsche Reich driftete nunmehr unwiderruflich in Richtung einer fortschreitenden Radikalisierung der Kriegführung, die schrittweise zur völligen Erschöpfung an den Fronten und in der Heimat führen und schließlich zwangsläufig in der Niederlage enden mußte. Im Innern suchten die 3. OHL und die dieser zögerlich folgende Reichsleitung, die Unterlegenheit der deutschen Armeen auf dem Gebiet des Kriegsmaterials durch eine drastische Steigerung der Rüstungsproduktion und der Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitskräfte zu kompensieren. Bekanntlich führte jedoch das mit großen Worten proklammierte „Hindenburgprogramm", das allerdings vor dem Äußersten zurückschreckte und nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Freien Gewerkschaften von der Militarisierung der Rüstungsarbeiterschaft und der durchgängigen Lenkung des Wirtschaftssystems durch die Staatsbehörden Abstand genommen hatte, schon nach wenigen Monaten zu einer schweren Krise. Im Winter 1917 kam es zum zeitweisen Zusammenbruch der Energieversorgung und des Verkehrssystems. Die hochfliegenden Projekte des „Hindenburgprogramms" mußten teilweise wieder zurückgenommen werden. Hindenburg und Ludendorff, unter Hilfestellung des Obersten Bauer, ihrer rechten Hand in wirtschaftspolitischen Fragen, schreckten am Ende selbst vor einer zentral gelenkten Kriegswirtschaft zurück und gaben statt dessen den Unternehmern weitgehende Freiheit, mit der Folge, daß die Kriegsgewinne, aber auch die Löhne der in den kriegswichtigen Industrien beschäftigten Facharbeiter, immer stärker stiegen und das Wirtschaftssystem immer mehr aus dem Gleichgewicht geriet, und mit ihm auch das gesellschaftliche Gefüge. Dies war gewiß das Gegenteil einer Wirtschaftspolitik, die den Erfordernissen eines total geführten Krieges entsprochen hätte. Das halbautoritäre Regierungssystem des Deutschen Reiches, dessen Überlegenheit über die parlamentarischen Systeme des Westens von den Intellektuellen so hoch gepriesen worden war, erwies sich als außerstande, eine zentral gesteuerte Kriegswirtschaftspolitik zu betreiben. Statt dessen wurde einer durch mangelnde Transparenz in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigten marktwirtschaftlichen Ordnung, in der das Prinzip des „free for all" , d. h. für jene, die dazu imstande waren, galt, die Bahn freigegeben. Auch im Innern, auf dem Sektor der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, scheiterte das halbbürokratische Steuerungssystem kläglich. Gerade hier zeigte sich, daß die Voraussetzungen für eine planmäßige Lenkung der Wirtschaftsordnung nicht gegeben waren. Die Folge war die schrittweise Verarmung und schließlich die Verelendung der breiten Schichten der Bevölkerung, zugleich aber führte dies zu einer enormen Verbitterung in der Bevölkerung, die eine Versäulung der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander bewirkte: die Städter gegen die Landwirte, die kleinen

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Leute gegen den Zwischenhandel, die Frauen gegen die Polizei und die Organe der staatlichen Gewalt, die Irritation der Soldaten gegenüber den zahlreichen, vom Wehrdienst freigestellten Facharbeitern der Rüstungsindustrie, und natürlich die Empörung über die kleine Klasse der Kriegsgewinnler. Ungeachtet der sich stetig verschärfenden Krisenlage im gesellschaftlichen Raum blieb die Kluft zwischen der tatsächlichen Lage und den Erwartungshaltungen der beständig mit nationalistischen Parolen berieselten und zum „Durchhalten" angehaltenen Öffentlichkeit unverändert bestehen. Angesichts der Agitation der „Vaterlandspartei", die sich als eine Sammlungsbewegung verstand, die alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen auf die Linie eines „Hindenburgfriedens" zu bringen bestrebt war, nahmen die Debatten über die Kriegs- und Friedensziele immer unrealistischere Formen an.19 Im Sommer 1917 wurde unübersehbar, daß der unbeschränkte U-Bootkrieg trotz großer Versenkungsziffern das vielerorts versprochene Ergebnis, nämlich Großbritannien zu einem Friedensschluß zu zwingen, keinesfalls erbracht hatte. Der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, der zudem beunruhigt war, daß ein Zusammenbruch des österreichischen Bundesgenossen in den Bereich des Möglichen gerückt war, unternahm den Versuch, mit der von ihm initiierten Juliresolution des Reichstages die amtliche Politik auf die Linie der baldigen Herbeiführung eines Verständungsfriedens zu bringen und durch die Einrichtung eines Interfraktionellen Ausschusses des Reichstages auf diese festzulegen. Diese Initiative lief sich jedoch schon bald im Gestrüpp der verantwortlichen Institutionen fest. Vor allem aber zeigte sich, daß selbst im eigenen Lager weitreichende Kriegszielerwartungen mehr oder weniger unvermindert fortbestanden und demgemäß eine eindeutige Strategie gegenüber der Reichsleitung nicht durchgehalten werden konnte. Das Scheitern der Bemühungen des Interfraktionellen Ausschusses, die Führung der äußeren Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen, wurde dann manifest angesichts der Behandlung des Päpstlichen Friedensangebotes im Sommer 1917; es erwies sich, daß die deutsche Kriegspolitik aus den utopischen Bahnen nicht mehr herauszutreten vermochte, in welchen sie sich in den ersten beiden Kriegsjahren bewegt hatte, als die Dinge noch vergleichsweise günstiger aussahen. Dies war keineswegs nur deshalb der Fall, weil die Oberste Heeresleitung mehr denn je das Sagen hatte. Die deutsche Gesellschaft vermochte sich aus dem Teufelskreis utopischer Kriegszielerwartungen nicht mehr zu befreien. Vielmehr wurde jedermann eingehämmert, nun unter Einbeziehung der Schulen, Universitäten, der kulturellen Institutionen und nicht zuletzt der Kirchen, daß die einzige Alternative darin bestehe, durchzuhalten, bis ein „ehrenvoller Friede" erreicht sei. Dem gleichen Ziel galt die Einrichtung eines speziellen „vaterländischen Unterrichts" für die Soldaten. Dem stand die stetig wachsende Friedenssehnsucht der breiten Massen gegenüber, die sich, von der extremen Linken abgesehen, jedoch nicht wirksam zu artikulieren vermochte. 19

Vgl. dazu Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1997, insb. 282f.

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Die prekäre Lage der Mittelmächte stellte sich nach dem Zusammenbruch des zarischen Rußland und der nachfolgenden Oktoberrevolution aus der Sicht der Führungseliten erheblich verbessert dar. Die Januarstreiks 1918 signalisierten jedoch, daß die breiten Massen der expansionistischen Politik der Reichsleitung und namentlich der OHL weniger denn j e zu folgen bereit waren. Diese spontanen Streiks brachen aus, weil die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk angesichts der maßlosen Forderungen der Mittelmächte ins Stocken geraten waren. Dies geschah ohne Zutun der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, welche sich in den politischen Konsens, der auf die Fortführung des Krieges mit allen verfügbaren Mitteln abzielte, eingebunden fühlten. Die Streikbewegung war ein Gradmesser der Stimmung der Arbeiterschaft in den industriellen Zentren, die nunmehr einen Frieden um jeden Preis anstrebte und dem nationalistischen Konsensus der herrschenden Eliten einschließlich der Führer der bürgerlichen Parteien zunehmend mit Mißtrauen begegnete. Im bürgerlichen Lager wurde das Eintreten der Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in die Streikbewegung, obschon diese nur darum bemüht waren, sie behutsam zurück zu rollen, als eine Art Aufkündigung des nationalen Aufbruchs des „August 1914" aufgefaßt.20 Der Abschluß des Friedens von Brest-Litowsk brachte wenigstens im Osten Frieden und so beruhigte sich die Lage im Innern wieder etwas. Die bürgerlichen Parteien und die Presse nahmen den Friedensschluß mit einiger Befriedigung auf. Dabei wurde verkannt, daß durch diesen Gewaltfrieden die Möglichkeit eines erträglichen Verständigungsfriedens auch mit den westlichen Mächten endgültig verschüttet wurde. Max Weber hat späterhin den Friedensschluß von Brest-Litowsk „als Herausforderung des Schicksals" bezeichnet.21 Tatsächlich hatte die Reichsleitung nicht nur die Versuche der Sowjets, die deutsch-russischen Friedensverhandlungen in allgemeine Friedensverhandlungen zu überführen, mit allen Mittel konterkariert, sondern auch einen Gewaltfrieden geschlossen, der nur mühsam und für jedermann durchsichtig mit dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der kleineren Völker Ostmitteleuropas bemäntelt wurde. Namentlich die OHL war entschlossen, nach dem Ausscheiden des russischen Gegners alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um in einer letzten großen Rraftanstrengung die militärische Entscheidung im Westen zu erzwingen, bevor die amerikanischen Streitkräfte ernstlich in die Kampfhandlungen an der Westfront würden eingreifen können. Davon abgesehen diente der Frieden von Brest-Litowsk zum Ausgangspunkt für eine weitgespannte Eroberungspolitik im Osten, welche die Chancen für einen Verständigungsfrieden ein für allemal verschüttete. Ein faires Arrangement mit den Randvölkern des ehe-

20

Vgl. dazu die sehr abgewogene zeitgenössische Analyse Max Webers „Innere Lage und Außenpolitik" vom 3., 5. und 8. Februar 1918 in der Frankfurter Zeitung; Max Weber, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hg. v. Wolfgang J. Mommsen / Gangolf Hübinger (Max Weber Gesamtausgabe I, Bd. X V ) , Tübingen 1984, 405-420.

21

Max Weber, Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918-1920, hg. v. Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schwentker (Max Weber Gesamtausgabe I, Bd. X V I ) , 388f.

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maligen russischen Reiches hätte den Weg für eine spätere Beendigung des Krieges zu erträglichen Bedingungen bereiten können; indes das Gegenteil war der Fall. Vielmehr wurde aller Welt demonstriert, was von den Mittelmächten zu erwarten sein würde, wenn diese den Krieg doch noch zu ihren Gunsten entscheiden würden. Anfänglich hat Lloyd George immerhin erwogen, den Mittelmächten in Osteuropa freie Hand zu geben, um im Westen eine Verständigung zu ermöglichen. Schon bald aber kam er zu dem Schluß, daß nun nur noch ein „knock out", eine definitive Niederwerfung der Mittelmächte, in Frage käme. Innerhalb Deutschlands aber nahm die verhängnisvolle Überschätzung der den Mittelmächten verbliebenen militärischen Optionen immer noch zu. Die Kluft zwischen den sanguinischen Siegeshoffnungen und der Realität weitete sich immer stärker. Nach dem Scheitern der mit großen Erwartungen begonnenen Märzoffensive 1918 setzte dann allerdings ein Prozeß fortschreitender Ernüchterung ein. Aber noch immer waren die Erwartungen in der Öffentlichkeit und selbst in den Kreisen der verantwortlichen Politiker und Militärs weit höher gespannt, als man dies aufgrund einer nüchternen Analyse der Lage der Mittelmächte hätte annehmen sollen. Teilweise lag dies auch an der offiziösen Durchhaltepropaganda, die weiterhin ein viel zu rosiges Bild der tatsächlichen Verhältnisse zeichnete, unter tätiger Mitwirkung auch der Zeitungsverleger und der fuhrenden Journalisten. 22 Dies zeigte sich schlaglichtartig in der sogenannten „Kühlmann-Krise" vom Juni 1918. Richard von Kühlmann hatte am 24. Juni 1918 im Reichstage dargelegt, daß „bei der ungeheuren Größe dieses Koalitionskrieges und bei der Zahl der in ihm begriffenen auch überseeischen Mächte durch rein militärische Entscheidungen allein ohne alle diplomatischen Verhandlungen ein absolutes Ende" des Kriegs kaum erwartet werden könne.23 Diese Äußerung wurde, obschon sie hinter der Wahrheit noch weit zurückblieb, allgemein als ein Zeugnis eines verantwortungslosen Defätismus aufgefaßt. Niemand wollte wahrhaben, daß es tatsächlich so stand. Vielmehr wurde auch jetzt alles daran gesetzt, die öffentliche Meinung weiterhin auf die Parole eines mit zähem Durchhalten zu erreichenden „Siegfriedens" einzuschwören. Der angebliche Defätist Kühlmann mußte auf den Protest der OHL hin seinen Platz für den linientreuen Admiral von Hintze räumen. Die deutsche Öffentlichkeit wurde bis zum bitteren Ende weiterhin mit Durchhalteparolen gefüttert und mit geschönten Informationen über die militärische Lage getäuscht. Sie drängte im Augenblick der Krise auf eine umfassende, wahrheitsgemäße Information, stieß aber weiterhin auf eine „Mauer des Schweigens".24 Als dann Ludendorff am 28. September 1918 überraschend das Handtuch warf und auf der umgehenden Herausgabe eines Friedensangebots an den amerikani22

23

24

Martin Creutz, Die Pressepolitik der kaiserlichen Regierung während des Ersten Weltkriegs, Frankfurt 1996, 262ff. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 313, 5607-5612, das Zitat 5611 f. Vgl. Creutz, Pressepolitik, 278.

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sehen Präsidenten Woodrow Wilson bestand, wollte zunächst niemand glauben, daß die Lage tatsächlich so ernst sei. Ludendorff, so meinte man vielerorts, habe bloß die Nerven verloren. Die Informationspolitik der Kriegsjahre hatte der deutschen Öffentlichkeit, bis in die Kreise der Sozialdemokratie hinein, den Blick für eine nüchterne Einschätzung der Lage der Mittelmächte verstellt. Demgemäß vermochten die Parteien der fortschreitenden Radikalisierung der Kriegführung, welche immer näher an die Grenze eines totalen Krieges heran führte, keine realistische Strategie entgegenzusetzen. Eine verhängnisvolle Informationspolitik einerseits und die sich ins Gigantische steigernden Kriegszielerwartungen einer unzulänglich informierten Gesellschaft andererseits trugen dazu bei, daß der Erste Weltkrieg mit innerer Folgerichtigkeit in eine vollständigen Niederlage einmündete und auf den Zusammenbruch der bestehenden Herrschaftsordnung hinauslief.

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Georg G. Iggers

Über den Nutzen und Nachteil der Historie in einem (post)-kolonialen Zeitalter

In den letzten drei, vier Jahrzehnten haben westliche wie auch nichtwestliche Stimmen immer wieder behauptet, dass das Geschichtsbewußtsein ein Instrument sei, mit dem die westliche Welt ihre Hegemonie über die nichtwestliche Welt und auch über ihre eigene Bevölkerung ausübe, darunter über Frauen, ethnische Minderheiten und untergeordnete Schichten. In Frage gestellt wurde nicht nur der Glaube an den Fortschritt, der bis zu den beiden Weltkriegen eine zentrale Rolle gespielt hatte, sondern auch die Möglichkeit, die Geschichte nach objektiven Kriterien zu erforschen. Das westliche Erbe rationalen Denkens wurde von Jacques Derrida1, Joan Scott2 und anderen als logozentrisch verworfen. Viele postmoderne und postkoloniale Geschichtsdenker betonten den fiktiven Charakter jeder Geschichtsdarstellung. In letzter Instanz sei Geschichte ein Mittel zur Macht oder Hegemonie, das keinen Anspruch auf Wahrheit erheben könne. Inwiefern ist diese Kritik berechtigt? Die Kritik des modernen Geschichtsbewußtseins ist nicht neu. Sie geht auf ein Unbehagen mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft zurück, das schon im späten 18. Jahrhundert bei den frühen Romantikern einsetzt und dann im späten neunzehnten Jahrhundert eine ausgeprägte Form bei Kulturkritikern wie Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche annimmt. Bei Romantikern wie Novalis erhält diese Kritik nostalgische Züge, die einer christlichen, ständischen Gesellschaft nachtrauern. Für Burckhardt und Nietzsche ist wenig von dieser Nostalgie übrig. Es wird im Gegenteil der Bruch mit dem Christentum gefordert und als Befreiung gefeiert. Burckhardt begrüßt die Überwindung des christlichen Mittelalters durch die Kultur der Renaissance, aber beide wollen eine neue, elitäre Gesellschaftsordnung, die die emanzipatorischen Aspekte der modernen Gesellschaft weitgehend rückgängig machen würde. In einer sich anbahnenden modernen Gesellschaft, in der die Menschen zunehmend gleichgestellt sein sollen, befürchten Burckhardt und Nietzsche die angebliche Mittelmäßigkeit der Massen, die die Kulturgüter der westlichen Welt gefährden. Für die postmodemen und postkolonialen Denker des späten zwanzigsten Jahrhunderts ist dagegen die moderne Gesellschaft nicht genügend egalitär; sie betonen den oppressiven Charakter der modernen Gesellschaft, die sie einer fundamentalen Kritik unterziehen. Es ist allerdings frappierend, wie sich Denker wie Michel Foucault, Joan Scott und Jacques Derrida mit der Kritik der Vernunft, wie sie von antidemokratischen Denkern wie Burckhardt und Nietzsche und aus faschistischer Sicht von Heidegger betrieben wurde, identifizieren. 1

Siehe Allan Megill, Prophets of Extremity: Nietzsche, Heidegger, Foucault, Derrida, Berkeley 1995.

2

Joan Scott, Gender and the Politics of History, New York 1988.

Georg G. Iggers

Warum greifen emanzipatorische Denker des späten zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich Denker aus der postkolonialen Welt wie Asis Nandy, immer wieder auf die Kulturkritik der elitären und selbst protofaschistischen Denker des späten neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück? Die Kulturkritik, die bis in die Zeit des 3. Reiches von rechts kam, kommt in den letzten drei Jahrzehnten eher von links, von postmodernen und postkolonialen Denkern, die gegen die Ungleichheiten und die Herrschaftsstrukturen in den modernen Gesellschaften angehen wollen, aber vieles vom Irrationalismus der älteren Generationen übernommen haben, anstatt sich kritisch mit diesem Irrationalismus und seiner politischen Bedeutung auseinanderzusetzen. Zentral für die älteren Kulturkritiker von rechts wie für die neueren von links ist eine Auseinandersetzung mit - oder eher Ablehnung - der Aufklärung. Die Aufklärung wird als der zentrale Diskurs des modernen Zeitalters gesehen. Für die konservativen Denker des neunzehnten Jahrhunderts bedeutete die Aufklärung den Bruch mit dem Christentum, den Übergang von einer organischen Gemeinschaft zu einer fragmentierten Gesellschaft. Nietzsche war in seiner Abrechnung mit dem Christentum noch der Religionskritik der Aufklärung verbunden, aber verfolgte in dieser Kritik ganz andere Ziele als die Aufklärung, nämlich nicht die Befreiung der Menschen von Fremdbestimmung und ihre Gleichberechtigung, sondern das Aufräumen einer Herkömmlichen ethischen Ordnung, die Nietzsche eine Sklavenmoral nennt, die der Beherrschung der Massen durch geniale Herrenmenschen Schranken setzte. Die dezisionistischen Denker der Zwischenkriegszeit in Deutschland (Spengler, Heidegger, Schmidt, Freyer, Alfred Rosenberg u.a.) und in Italien (d'Annunzio, Gentile, Mussolini) erweitern diese Kritik in die Richtung eines autoritären Führerstaats. Aber mit Max Horkheimer und Theodor Adorno in der amerikanischen Emigration setzt eine Kritik der Aufklärung ein,3 die andere, emanzipatorische Ziele verfolgt, ihre Wurzeln in der kritischen, ursprünglich marxistischen Theorie der Frankfurter Schule hat, aber vieles von Nietzsches und Heideggers Gedankengut übernimmt. Das Ziel, das sich die Aufklärung stellt, ist die Befreiung der Menschen vom Mythos, von ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) durch die rationale Vernunft. Für Horkheimer und Adorno hat die Aufklärung aber zu neuen Mythen und neuer Unmündigkeit geführt. Die Wissenschaft, die das menschliche Denken vom Mythos befreien sollte, ist selber Mythos geworden, und die Wissenschaft, die den Menschen freisetzen sollte, ist in ihrer Sicht zum Instrument totalitärer Beherrschung geworden. In der „Dialektik der Aufklärung" steht der Satz: „Die Vernunft spielt die Rolle des Anpassungsinstruments... Ihre List besteht darin, die Menschen zu immer weiter reichenden Bestien zu machen."4 Für Horkheimer und Adorno ist die Vernunft jetzt gleichbedeutend mit der Reduzierung der Wirklichkeit auf abstrakte Quantitäten. „Die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung." 5

3

Max Horkheimer und Theodor Adorno, Dialektik der Aufklärung (1944), in: Theodor Adorno, Gesammelte Schriften, III, Frankfurt 19963.

4

Zitiert in Arnold Künzl, Aufklärung und Dialektik. Politische Philosophie von Hobbes bis Adomo, 171.

5

Adorno, Gesammelte Schriften, III, 23.

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Was aber bedeutet Aufklärung? Einmal ist es ein Epochenbegriff, der sich auf Geisteshaltungen des achtzehnten Jahrhunderts bezieht. Aber das achtzehnte Jahrhundert ist keineswegs einheitlich, es ist auch die Zeit der religiösen Erweckungen (Pietismus, Methodismus, Chassidismus) und der Präromantik. Aufklärung und Romantik lassen sich oft, wie bei Rousseau, nicht trennen. Es gibt aber gleichzeitig ein idealtypisches Verständnis der Aufklärung, das immer wieder in der Literatur auftaucht. Demnach ist ein Erkenntnisprozess, der dem Menschen traditions- und institutionskritisch durch die Vernunft den Weg zum rationalen Handeln freimachen will, charakteristisch für das Denken der Aufklärung. Für Horkheimer und Adorno enthält der Vernunftbegriff der Aufklärung einen fundamentalen Widerspruch. Vernunft wird in einem normativen und in einem instrumenteilen Sinn verstanden. Aber die Befürworter der Aufklärung sind sich oft dieses Widerspruchs nicht bewusst. Auf der normativen Ebene bedeutet Vernunft, wie oben erwähnt, die Befreiung der Menschen aus ihrer „Unmündigkeit", so dass sie ihr Leben nach Maßstäben der kritischen Vernunft selbst bestimmen können. Politisch bedeutet es, wie Kant und Condorcet betonten, eine republikanische Weltföderation, in der die freie Selbstentfaltung der Menschen möglich sein wird. Am ausführlichsten hat Condorcet in seinem „Entwurf einer historischen Darstellung des menschlichen Geistes" (1794) die Ideale der Aufklärung formuliert, die Gleichstellung der Menschen, einschließlich der Frauen, die Abschaffung der Sklaverei und der Leibeigenschaft, die Eröffnung gleicher Chancen durch die Überwindung der Ignoranz und damit auch des Aberglaubens, die Beseitigung der Armut und durch die Fortschritte der Medizin auch der Krankheit. Im Gegensatz zur pessimistischen Bevölkerungstheorie von Thomas Malthus, der fast zur selben Zeit (1798)6 wie Condorcet eine demographische Katastrophe voraussieht, wenn die Armen nicht durch Abstinenz ihren Geschlechtstrieb beherrschen, ist Condorcet davon überzeugt, dass es möglich sei, durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden die Produktion von Nahrungsmitteln zu steigern und Geburten zu regulieren. Gleichzeitig ist aber auch bei Condorcet die Vernunft ein Instrument, um die Welt zu beherrschen, sie für die Menschen nützlich zu machen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt ist aber kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, das Leben der Menschen qualitativ zu verbessern. Dieser emanzipatorische Gedanke ist mit einer Geschichtskonzeption, die die Geschichte der Menschheit als einen einzigen, fortschrittlichen Prozess betrachtet, eng verbunden. Der Fortschrittsgedanke enthält aber ebenso wie der Glaube an die menschliche Vernunft widersprüchliche Seiten. Für Condorcet bedeutet Fortschritt ebenso die Verwirklichung menschlicher Gleichheit und Freiheit wie auch wissenschaftlich-technische Entwicklung. Beide Seiten schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Dennoch enthält der Fortschrittsgedanke, wie er bei Condorcet vertreten ist, trotz seines universalen Anspruchs einen ethnozentrischen Kern. Denn nur in einem Teil der Welt, in Westeuropa und Nordamerika, findet die fortschrittliche Entwicklung statt. Zivilisation im achtzehnten und später im neunzehnten Jahrhundert ist aus dieser Sicht identisch mit westlicher Kultur. Hier kommt der Wider6

Thomas Malthus, An Essay on the Principle of Population.

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spruch innerhalb des aufklärerischen Weltbilds klar zum Vorschein. Für Condorcet soll der Fortschritt gleichzeitig auf alle Menschen übertragen werden. Es darf auch in der nichtwestlichen Welt keine Sklaven und unterprivilegierten Menschen geben. Der normative Vernunftgedanke setzt voraus, dass alle Menschen die selben Rechte besitzen. Die westliche Kultur, als die in der die Menschenrechte am weitesten verwirklicht worden ist, wird die Befreiung der übrigen Menschheit von willkürlichen Herrschaftssystemen, Ignoranz, Aberglauben, und Armut durchsetzen. Gleichzeitig entstehen im Rahmen der Aufklärung aber auch ganz andere Ansichten über Gleichheit und Ungleichheit der Menschen. Die neue empirische Anthropologie, wie sie in extremer Form von Christoph Meiners im späten achtzehnten Jahrhundert an der Universität Göttingen betrieben wird, versucht auf Grund von physischen Schädelmessungen eine wissenschaftliche Rassenlehre zu formulieren, in der die weiße Rasse an der Spitze der Menschheit steht und die gelbe Rasse ihr untergeordnet ist. Ganz unten, fast tierisch, befinden sich die Schwarzen.7 Hier werden die beiden widersprüchlichen Seiten des aufklärerischen Vernunftsgedankens sichtbar, die normative Anerkennung der Menschenwürde und der Drang zur Beherrschung der Welt und der Menschheit mit den Mitteln der Wissenschaft. Der Fortschrittsgedanke wird bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum zentralen Bestandteil der Geschichtsauffassung der westlichen Welt. Er liefert die ideologischen Grundlagen für Kolonialismus und Imperialismus, die von fast allen politischen Richtungen geteilt werden, von etatischen Denkern wie Hegel, neo-liberalen wie James Mill und John Stuart Mill und von Sozialisten wie Karl Marx und Friedrich Engels. Es wird jetzt scharf zwischen Kultur- und Naturvölkern unterschieden. Das Leben der Letzteren wird auch Gegenstand von Ausstellungen in naturgeschichtlichen Museen. Zwar sind Chinesen und Inder Kulturvölker; angeblich stagnierten sie aber seit ihren Anfangen und haben daher für Ranke, der andererseits behauptete, dass alle Epochen unmittelbar zu Gott seien, keine eigentliche Geschichte, sondern nur eine Naturgeschichte. Es wird allgemein behauptet, dass die Schwarzafrikaner unfähig wären, eine eigenständige Kultur zu entwikkeln. Marx spricht von einer asiatischen Produktionsweise, die keinen Fortschritt kennt und nicht über einen orientalischen Despotismus herauskommt. Hegel und Marx sind sich vollkommen einig, dass die Weltgeschichte mit der Zivilisation des Abendlandes identisch ist. Das Verhältnis zu Asien und dem Mittelosten verändert sich zunehmend im europäischen Denken seit dem 18. Jahrhundert. Während Leibniz noch am Ende des siebzehnten Jahrhunderts von zwei großen ebenbürtigen Kulturen auf dem euroasiatischen Kontinent sprach, von Europa und China,8 entstand im achtzehnten Jahrhundert eine wissenschaftliche Orientierung, deren Entstehung und Geschichte Edward Said als Orientalismus beschrieb.9 Ein enthistorisierter Orient entstand in westlichen Anschauungen zusammen mit einem enthistorisierten China und einem geschichtslosen Indien. Gleichzeitig entstand eine neue Sicht der 7 8

9

Zu Meiners siehe Luigi Marini, Praeceptores Gennaniae. Göttingen 1770-1820, Göttingen 1995. Siehe Jürgen Osterhamniel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998. Edward Said, Orientalism, London 1978.

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westlichen antiken Geschichte. Während bis dahin die Wurzeln der abendländischen Kultur in Ägypten und dem Nahen Osten gesucht wurden, betonte die Altphilologie die Eigenständigkeit einer betont indogermanischen hellenischen Kultur.10 Grundlegend für die dominanten westlichen Geschichtsauffassungen war der Begriff der Modernisierung, obwohl der Terminus erst viel später im zwanzigsten Jahrhundert entstand. In vieler Hinsicht deckt sich der Moderisierungsbegriff mit dem der Rationalisierung, wie ihn Max Weber formulierte. Nur im Westen gab es laut Weber einen Vernunftsbegriff, der die Wirklichkeit auf abstrakte Konzepte reduzierte und damit die Grundlage für die moderne Wissenschaft schuf. Wissenschaft, wie wir sie kennen, ist daher ein Produkt des Westens. Weber versteht die Geschichte des Westens als einen Rationalisierungsprozess, in dessen Strukturen sich die abstrakte Vernunft, frei von ethischen oder religiösen Bedenken, fortschreitend durchsetzt. Statt Rationalisierung können wir von Modernisierung sprechen. Von Marx bis Rostow und Fukuyama sind sich Denker, die aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern kommen, einig, dass sich dieser im Westen verankerte Prozess weltweit durchsetzt. Die Modernisierung geht über in die Globalisierung. Bis jetzt haben wir uns im Rahmen von Diskursen bewegt, von Aufklärung, Modernisierung, Rationalisierung. Aber diese Diskurse schweben nicht in der reinen Luft, sie sind eingebettet in soziale und politische Strukturen. Die ökonomische, politische und kulturelle Eroberung der Welt durch den Westen beruhte in letzter Instanz auf realen Machtverhältnissen. Ohne den Kapitalismus, den modernen Staat und die Entstehung der modernen Wissenschaft und Technik ist die Ausdehnung der europäischen Einflussnahme auf die außereuropäische Welt undenkbar. Die postkoloniale Kritik an der Moderne, die erst in den 1970er Jahren ernstlich einsetzte, teilt vieles mit der postmodernen Kritik. Während letztere aus der Feder westlicher Intellektuellen kommt, ist erstere das Werk außerwestlicher Denker aus den ehemaligen Kolonien, wobei besonders in den Subaltern-Studies in Indien und den Dependencia-Theorien in Lateinamerika Erklärungen für die Rückständigkeit dieser Regionen formuliert werden. Aber nicht nur die politische und ökonomische Struktur des Westens wird in Frage gestellt, so z.B. die Rolle des Kapitalismus, sondern der Diskurs der Moderne generell, dem eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Es geht im Grunde um den Geist des Westens, um seine Vorstellung von Wahrheit und seine Geschichtsphilosophie. Hier besteht die Gefahr, dass ähnlich wie westliche Wissenschaftler ein statisches Bild des Orients geschaffen haben, jetzt ein statisches, monolithisches Bild des Westens und der Moderne entsteht. Im Zentrum der Kritik steht der Vernunftbegriff der Aufklärung. Symptomatisch für diese Kritik aus westlicher Sicht ist das Frühwerk von Michel Foucault, die „Geschichte des Wahnsinns" (1961), das noch rein eurozentrisch ist. Hier wird ähnlich wie bei Horkheimer und Adorno der Gedanke einer Dialektik der Aufklärung verfolgt. Es war das Ziel der Aufklärung, den Menschen von äußeren Zwängen zu befreien. Aus ihrer Sicht bahnte die Aufklärung aber in der Tat den Weg zu einer Maximierung und Totalitisierung der Herr10

Siehe Martin Bernai, Schwarze Athene, München 1992.

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schaft. Demnach besteht das Zerstörerische und Unmenschliche der modernen Welt und der Aufklärung darin, dass sie alle Formen der Unvernunft ausschalten will und das Leben der Menschen im Namen der Vernunft rational verwalten will. Damit wird auch die Subjektivität der Menschen ausgeschaltet, die jetzt zu konformen Objekten der Herrschaft werden. Während der Dorfharr im Mittelalter noch seinen Platz in der Dorfgemeinschaft hatte, wird der von den Normen der modernen Gesellschaft abweichende Mensch institutionalisiert, ins Irrenhaus gebracht, das ursprünglich als Zuchthaus fungiert, später aber noch weit gefährlichere Formen annimmt mit der Entstehung der Psychiatrie, die die Nichtkonformität als Krankheit heilen will, in anderen Worten den Einzelnen seiner Individualität und Persönlichkeit beraubt. Ähnlich wird der Leistungszwang zur Norm. Armut wird in der protestantischen wie auch in der katholischen Welt im siebzehnten Jahrhundert kriminalisiert. Gleichzeitig setzt sich der Gedanke durch, dass die Bestrafung der als Kriminelle gebrandmarkten humaner werden muss. Statt der Bestrafung soll die Behandlung der Straffälligen jetzt ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft dienen. Das Fatale dabei ist aber, dass sie gezwungen werden, die Normen dieser Gesellschaft zu verinnerlichen. In gewisser Hinsicht übernimmt Foucault den aufklärerischen Gedanken eines fortschreitenden Geschichtsprozesses, nur dass er diesen jetzt auf den Kopf stellt. Der Drang, eine humanere Gesellschaft zu schaffen, schlägt in das Gegenteil um, in die Entmenschlichung der Menschen. Obwohl fast alle seiner Arbeiten historisch strukturiert sind, sieht er das Geschichtsbewußtsein als Vorurteil einer überholten modernen Welt. In vieler Hinsicht ist Foucaults Bild der Moderne repräsentativ für das postmoderne Denken schlechthin. Ähnlich wie Foucault argumentiert etwa auch Hayden White, Geschichtsbewusstsein sei ein Vorurteil der modernen westlichen Welt, „das die angebliche Überlegenheit der modernen Industriegesellschaft rückwirkend glaubhaft und plausibel machen soll".11 Ich möchte jetzt auf einen Aufsatz von Ashis Nandy eingehen,12 der eine postkoloniale Kritik der westlichen Moderne entwickelt. Für ihn ist das Geschichtsdenken, das die europäische und später die euroamerikanische Welt beherrscht hat, die intellektuelle Grundlage des Kolonialismus. In diesem Aufsatz betrachtet er den Glauben an die Möglichkeit wissenschaftlicher Geschichte als das Kernstück der kolonialen Weltanschauung. Dieser Glaube steht im Gegensatz zu dem Geschichtsverständnis aller anderen Gesellschaften und Kulturen. Für Nandy besteht in der westlichen Geschichte eine Kontinuität von der frühen Neuzeit bis zur Zeit des entwickelten Kolonialismus, der nicht mit der formellen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien aufhört, sondern im Verlauf der Globalisierung die außereuroamerikanische Welt weiter beherrscht. Die Wurzeln des Kolonialismus als Weltanschauung sind in einer säkularisierten Einstellung zur Wirklichkeit zu finden, wie sie für das westliche Denken seit Francis Bacon charakteristisch ist. Sie 11

12

Hayden V. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft in Europa im neunzehnten Jahrhundert, Frankfurt 1990, 16. Ashis Nandy, History's Forgotten Doubles, in: History and Theory, Theme Issue 34 (1995), 44-66.

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schließt Mythen vollkommen aus, erkennt nur eine Form der Geschichte an, die sie als objektiv und wissenschaftlich betrachtet. Die Tradition der „Aufklärung setzt voraus, dass eine vollkommene Äquivalenz zwischen Geschichte und der Rekonstruktion der Vergangenheit besteht, dass es keine Vergangenheit unabhängig von der Geschichte gibt."13 Die moderne Geschichtsauffassung kennt nur einen Geschichtsverlauf, der zur Euroamerikanisierung der Welt fuhrt. Aber Nandy stellt nicht nur den einseitigen Fortschrittsgedanken der westlichen Welt, der der Kolonialisierung der nichtwestlichen Welt gedient hat, sondern das Geschichtsbewusstsein allgemein in den Mittelpunkt seiner Kritik. Geschichtsbewusstein ist für ihn spezifisch westlich. Andere Kulturen hätten ein viel offeneres und vielseitigeres Bild von der Vergangenheit, in der Mythen und Legenden mitwirkten. Die Bemühung, der Geschichte eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, habe zu Totalitarismus und Gewalt gefuhrt. Nandy behauptet, dass Stalin im Namen der „Idee einer wissenschaftlichen Geschichte" zwanzig Millionen seiner Mitbürger in den Tod geschickt hat.14 Nandy verwechselt hier unbekümmert eine teleologische Geschichtsphilosophie, die jeder empirischen Überprüfung entbehrt, mit den Bemühungen von Historikern und Historikerinnen, historische Erkenntnis von mythischen Verzerrungen zu befreien. Ähnlich wie Nietzsche und Heidegger bedauert Nandy die Invasion der Lebenswelt durch das wissenschaftliches Weltbild: „Heute, im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts ... älter, müde und weiser, können wir den Mut haben festzustellen, dass das Hauptproblem der Zivilisation nicht mit rationalen, sich selbst widersprüchlichen Aberglauben zu hat, sondern mit dem Denken, das mit dem modernen Begriff der Rationalität verbunden ist."15 Das offene Verständnis der Vergangenheit in nichtwestlichen Kulturen wie Indien ermöglichte es, die Vergangenheit selektiv zu rekonstruieren, sie auch im Sinne Nietzsches zu vergessen, so dass diese Vergangenheit dann einen Nutzen für das Leben hat. Mit keinem Wort äußert sich Nandy zu der Rolle, die Mythen in der Rechtfertigung politischer Gewalt und nationaler Wahnvorstellungen spielen. Für ihn ist es der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt, der die Hauptschuld an Gewalt im 20. Jahrhundert trägt. Noch schlimmer als zwei Weltkriege, ethnische Konflikte und Genozide ist für ihn die Modernisierung, die Globalisierung, die er als „modernen Kosmopolitismus" bezeichnet, „die Industrialisierung und Urbanisierung in großem Maß," die weit mehr unsichtbare Opfer gefordert und unsichtbare Flüchtlinge verursacht hätten als die großen blutigen Auseinandersetzungen des Jahrhunderts.16 Nandy verschleiert dabei den oppressiven Charakter der traditionellen indischen Gesellschaft, der erst im Prozess der Modernisierung in Frage gestellt worden ist. Hier müssen wir noch einmal auf die widersprüchliche Tradition der Aufklärung zurückkommen. Es hat vielleicht abgesehen von kleineren isolierten Urgesellschaften über die wir wenig wissen, in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaf-

13

E b d , 53.

14

Ebd., 49.

15

Ashis Nandy, Modern Science and Authoritarianism: From Objectivity to Objectivation, in:

16

Nandy, History's Forgotten Doubles, 55.

Bulletin of the Science and Technology Society, VII, Nr. 1 (1997), 11.

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ten und Kulturen gegeben, die nicht auf Unterordnung ganzer Gruppen von Menschen und darunter auch besonders der Frauen, beruhten. Alle großen Kulturen seit der Antike, im Nahen Osten, in Südasien, in Ostasien, in Europa, im vorkolumbischen Nord- und Südamerika, in Afrika südlich der Sahara, verkörperten diese hierarchischen Ordnungen, auch die klassische westliche Philosophie seit Piaton und Aristoteles und alle großen Religionen, der Hinduismus, Konfuzianismus, Buddhismus, das Judentum, das Christentum, und der Islam rechtfertigten Unterordnung und Hierarchie. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit proklamierte die Aufklärung die gleiche Würde aller Menschen auf sozialer und politischer, nicht nur wie die Bergpredigt auf religiöser Ebene. Die Gleichheit war ein Prinzip der Aufklärung - sie wurde in der amerikanischen Unabhängigkeits- und der französischen Menschenrechtserklärung verkündet, ist aber nie auch nur annähernd in die Praxis umgesetzt worden. Washington und Jefferson waren Sklavenhalter; nicht nur die politische, sondern auch die gesellschaftliche und kulturelle Gleichberechtigung, besonders die der Frau, ließen auf sich warten. Auch lässt sich die Behauptung, wie sie seit den frühen Kritikern der Moderne erhoben worden ist und von postmodernen Denkern wie Foucault wieder hervorgehoben wurde, dass die moderne Welt die Freiheit und Individualität der Menschen abschaffe, nicht aufrecht halten. Die Auflösung alter sozialer und politischer Strukturen und herkömmlicher Normen hat mehr dazu beigetragen, dass die Menschen größere Möglichkeiten bekamen, ihr Leben zu bestimmen und individuell zu fuhren als in irgendeiner anderen Zeit; eine Freiheit, die sie vor das existentielle Dilemma stellt, Entscheidungen über ihr Leben zu treffen, die ihnen in älteren, konformeren Gesellschaften nicht gegeben waren - und nicht zugemutet wurden. Die politischen Bewegungen, auch der Kampf gegen den Kolonialismus in Asien und Afrika, sind unvorstellbar ohne die Prinzipien der Aufklärung und der Moderne. Die Gleichberechtigung der Menschen ist zunehmend seit dem achtzehnten Jahrhundert Teil der modernen Weltanschauung geworden. Das moderne Indien war nur auf der Basis einer modernen Auseinandersetzung mit der indischen Vergangenheit möglich. In dieser Hinsicht hat der Kolonialismus zu seiner eigenen Abschaffung beigetragen. Die Führer und Sprecher des Anti- und Postkolonialismus sind Intellektuelle und Politiker, die selbst in ihrer Bestrebung, das eigene Land von westlicher politischer, sozialer und kultureller Herrschaft zu befreien, mit westlichen Konzepten, wie denen des Nationalstaats, umgehen, Konzepten, die längst nicht mehr auf den Westen beschränkt sind, sondern inzwischen global geworden sind. Die Widersprüche der Aufklärung beruhen auf der Tatsache, auf die wir schon hingewiesen haben, dass ihre Forderungen nicht reine Diskurse sind, sondern in Strukturen eingebettet sind, die Machtverhältnisse widerspiegeln.17 Ohne den Kapitalismus ist die moderne Welt nicht denkbar. Als Idealtyp verfolgt der Kapitalismus die Maximierung der Profite mit äußerster Rationalität; ohne Rücksicht auf ethische oder kulturelle Normen. Als Idealtyp opfert er die Menschen der ökonomischen Rationalität. Kapitalismus pur in diesem Sinn gibt es aber nicht. Die Schaffung des 17

Siehe Arif Dirlik, Postmodernity's Histories: The Past as Legacy and Project, erscheint bei Rowman & Littlefield Publishers, Boulder 2000.

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Weltmarkts und die ökonomische Eroberung der Welt wären unmöglich gewesen ohne den modernen zentralen Staat, der meistens, aber nicht immer, die Form des Nationalstaats annahm; aber auch nicht ohne eine rationale Einstellung zur Wirklichkeit, die zur Entstehung der modernen Wissenschaft fuhrt, die es in dieser Form in keiner anderen Gesellschaft oder Kultur gibt. Der Fortschritt auf wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Ebene ist nicht nur die Ideologie der Moderne, sondern beruht auf der Tatsache, dass es eine wirkliche Welt gibt. Dieser Fortschritt ist Teil eines Prozesses der Globalisierung, der die alten Grenzen zwischen der euroamerikanischen und der ehemaligen kolonialen Welt eliminiert. Leben wir in der Tat in einem postkolonialen Zeitalter? Der formelle Kolonialismus endete mit der politischen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien; wenigstens auf ökonomischer Ebene, aber auch im kulturellen Bereich, ist der Einfluss der alten kolonialen Welt auf die neuen Staaten heute größer denn je. Der Begriff, der mit der Moderne identifiziert wird, dass es eine kontinuierliche Entwicklung auf weltweiter Ebene gibt, kann nicht so leichtfertig widerlegt werden, wie es in der postmodernen und postkolonialen Theorie geschieht. In der Tat gibt es einen Modernisierungsprozess, der gleichzeitig ein Prozess der Globalisierung ist. Seine wichtigste Triebfeder ist der Kapitalismus. Nicht zu erkennen, dass die moderne westliche Welt seit der frühen Neuzeit sich in einem Prozess der Modernisierung befindet, der noch nicht abgeschlossen ist, hieße blind sein. Zwei Aspekte der Modernisierung müssen aber in Betracht gezogen werden. Während ein großer Teil der Bevölkerung der westlichen Welt bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts den Fortschritt als positiv und normativ betrachtete, sind wir uns heute der Dialektik dieses Prozesses viel bewusster. Einerseits sind die Ideale der Aufklärung im Rahmen der sozialen und kulturellen Möglichkeiten einer sich modernisierenden Welt in vielen Weisen verwirklicht worden, andererseits hat die ökonomische Globalisierung zu wachsender Ungleichheit in den hoch entwickelten Industriestaaten gefuhrt und auch die Kluft zwischen diesen und den ehemaligen Kolonien, heute mit wenigen Ausnahmen noch industriell unterentwickelten Regionen, ist größer geworden. Wir müssen uns bewusst sein, dass Modernisierung und Globalisierung keineswegs, weder innerhalb oder außerhalb der westlichen Welt, ein einförmiger Vorgang ist. Im europäischen Herzland stießen die ökonomischen, politischen und kulturellen Wandlungen, die wir beschrieben, immer wieder auf den Widerstand traditioneller Werte, Anschauungen und Strukturen. Die liberalen, demokratischen Ideale der französischen Revolution setzten sich nur langsam und mit bedeutenden Rückschlägen durch. Auf die Emanzipation der Juden in Mittel- und Westeuropa im neunzehnten Jahrhundert folgte ein neuer Antisemitismus und schließlich der Holocaust. Während die ökonomischen und politischen Grenzen in Europa überwunden werden, wüten anderswo auf dem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten, in Sri Lanka und in Afrika blutige ethnische Konflikte. Widersprechen nicht zwei Weltkriege und die Schreckensherrschaften der Nationalsozialisten, des Stalinismus und der chinesischen Kulturrevolution den Behauptungen von einer Tendenz zu einer humaneren - wenn wir so wollen vernünftigeren - Gesellschaft? Waren Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus Varianten der Modernisierung oder Atavis-

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men mit modernen Machtmitteln, die der Entwicklung zu einer moderneren Welt weichen mussten. Es ist auch sicher, dass es keine Modernisierung oder Globalisierung pur gibt. Besonders in den letzten drei Jahrzehnten ist in der Geschichtsschreibung die Rolle kultureller Faktoren in politischen, sozialen und ökonomischen Ereignissen und Wandlungen betont worden. Während z.B. die französische Revolution in der Historiographie seit den frühen Arbeiten von Georges Lefebvre in den 1920er bis in die 1970er Jahre überwiegend aus der Wechselwirkung mit ökonomischen Faktoren interpretiert wurde, wurde sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren weitgehend als ein Diskurs betrachtet, in dem kulturelle Erscheinungen wie Sprache und Symbole verhältnismäßig unabhängig von sozialen und ökonomischen Strukturen entscheidend sind. Die Geschichtsschreibung ist sich auch der Rolle regionaler und lokaler Eigenartigkeiten bewusst geworden. Die Modernität hat ein anderes Gesicht in Sizilien als in Südkalifornien und auch innerhalb diese Regionen wieder sehr unterschiedliche Formen. Diese Unterschiede sind offensichtlich in der außerwestlichen Welt größer und die Widerstände beträchtlicher. Überall in der islamischen Welt, Indien und Israel aber auch im protestantischen Nordamerika werden wir mit Fundamentalismen konfrontiert, die sich gegen modernisierende Tendenzen wehren oder ihnen eine andere Form geben möchten, die selber Varianten der Modernisierung sind. Was bedeutet dies für die Humanwissenschaften und besonders für die Historie in einem postkolonialen oder angeblich postkolonialen Zeitalter? Geschichte kann heute nicht mehr so geschrieben werden wie sie noch vor vierzig Jahren geschrieben wurde. Damals hatte eine sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaft die klassische historistische Historiographie abgelöst, wie sie im neunzehnten Jahrhundert entstanden war. Letztere spiegelte die politischen und sozialen Verhältnisse einer vorindustriellen und vordemokratischen Zeit wider. Sie konzentrierte sich auf die Staaten und die großen Männer, die, um Treitschke zu zitieren, Geschichte machten. Die sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaft nach 1945 ersetzte eine personen- und ereignisbezogene Historie mit einer analysierenden Untersuchung von Strukturen und Prozessen. Beide teilten aber zwei grundsätzliche Prämissen: sie setzten eine direkte Korrespondenz zwischen Geschichtsschreibung und einer wirklichen Vergangenheit voraus und die Geschichte blieb für sie überwiegend euro- oder euroamerikanisch zentriert. Sie tendierten auch dazu, die Geschichte der westlichen Ländern, die für sie gleichbedeutend war mit der Geschichte der modernen Welt, als einen Triumphzug zu sehen, ohne sich der riesigen Opfer bewusst zu sein, die dieser Triumph kostete. Die postmoderne und die postkoloniale Kritik hat diese Konzeption in Frage gestellt und auch den wissenschaftlichen Anspruch, den diese Geschichte für sich behauptete. Sie wies darauf hin, das es keine einheitliche Geschichte gebe, sondern eine Vielfalt von Geschichten, von denen jede von der Subjektivität der Historiker oder der Historikerinnen und ihren ideologischen Voraussetzungen bestimmt war. Sie betonte weiterhin, dass Geschichtsforschung und -Schreibung nie die Vergangenheit wider spiegelte, „wie sie eigentlich gewesen", sondern immer erst von Historikern konstruiert werden müsse. An beiden Punkten war die Kritik berechtigt. Allerdings führte die extreme Form

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mitunter unter Literaturtheoretikern und Philosophen wie Roland Barthes, Hayden White, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard und Jacques Baudrillard zu einem radikal epistemologischen Relativismus, der verneinte, dass es überhaupt historische Zusammenhänge gäbe und zugleich verneinte, dass es eine Trennung zwischen Geschichte und Fiktion gäbe. Der „Linguistic Turn"18 hat mit Recht auf die zentrale Rolle hingewiesen, die die Sprache in der historischen Erkenntnis einnimmt. Radikale Vertreter dieser Einsicht wie Hans Kellner19 haben dann aber den Standpunkt vertreten, dass es keine historische Wirklichkeit gäbe - dass das, was wir als Wirklichkeit verstehen, nur ein Produkt der Sprache sei. Lyotard und Baudrillard haben betont, dass Geschichte reines Chaos sei und dass jeder Versuch, in ihr einen Sinn zu finden, totalitären Ideologien Vorschub leiste. Diese Kritiken sind teilweise nicht unbegründet. Das Verhältnis zwischen Forschung und Vergangenheit ist viel komplizierter und ideologischer als es die historistische wie auch die sozialwissenschaftliche Geschichtsforschung verstanden. Beide setzten eine bestimmte Gesellschaftsordnung voraus, die Sozialwissenschaften, wie sie sich in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg besonders in den Vereinigten Staaten verstanden, betrachteten die politische und ökonomische Ordnung, wie sie sich in den westlichen Ländern in der Nachkriegszeit durchsetzte, als normativ. Die marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft teilte die Grundprämissen der Sozialwissenschaften und operierte ebenfalls mit einer eurozentrischen Auffassung des Geschichtsverlaufs, nur sah sie dessen Ausgang anders. Das eurozentrische Geschichtsbild kann in einer globalen Welt nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die postmoderne und postkoloniale Kritik des modernen Denkens hat auf die Schwächen der etablierten Geschichtswissenschaft und ihres Geschichtsbildes hingewiesen. Nicht nur die außerwestliche Welt wurde von letzterer ausgeklammert, sondern ganze Gruppen von Menschen und Bereiche menschlichen Lebens, darunter die Geschlechterproblematik und das Leben derjenigen, die nicht im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen. Die Mikrohistorie hat auf das Lokale, auf die Lebenserfahrungen deijenigen hingewiesen, die von der Makrohistorie vernachlässigt worden sind. Aber dies muss keineswegs eine Absage an rationale Verfahren in der Erforschung der Vergangenheit bedeuten oder die Aufgabe der Bemühungen um Objektivität. Auch ist die makrohistorische wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialen Strukturen und sozialem Wandel weiterhin berechtigt. Wir werden mit wirklichen Prozessen konfrontiert, die einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden müssen. Wir begreifen, dass diese Prozesse viel vielseitiger sind, als wir sie im vorpostkolonialen Zeitalter verstanden. Wir erkennen auch die hegemonialen Prämissen der historistischen und sozialwissenschaftlichen Ansätze dieser Periode. Der Antirationalismus, wie wir ihn bei vielen postmodernen und postkolonialen Theoretikern, besonders in der Literaturkritik finden, hat sich 18

19

Siehe Georg G. Iggers, Zur 'Linguistischen Wende' im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung, in: GG 21 (1995), 557-570. Hans Kellner, Language and Historical Representation. Getting the Story Crooked, Madison 1989.

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aber in der Forschung praktizierender Historiker nicht durchgesetzt. Die letzten dreißig Jahre haben nicht das Ende der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte gesehen, sondern eine Bereicherung und Weiterentwicklung und Pluralisierung, mit neuen Methoden und Forschungsstrategien, die der Vielfalt menschlichen Lebens gerechter werden als die älteren Formen der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsbewusstseins. Was wir in unserem Geschichtsverständnis an Einheit verloren haben, haben wir an Vielfalt gewonnen. Auch ist das Projekt der Aufklärung keineswegs zu Ende. Ich habe vorher scharfe Kritik an Horkheimers und Adornos einseitigem Bild der Aufklärung ausgeübt. Aber ich glaube mit ihnen, dass wir eine kritische Theorie benötigen, die von einem Wissenschaftsverständnis ausgeht, das die bestehenden Verhältnisse in einer sich modernisierenden Gesellschaft nicht einfach konstatiert, sondern sie kritisch durchleuchtet. Die Kritische Theorie, wie sie Horkheimer in den dreißiger Jahren, also noch vor der „Dialektik der Aufklärung", formulierte, ging von der „Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen (aus), wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist",20 von einem Vernunftsbegriff, dessen Ziel „die Herstellung eines gerechten Zustands unter den Menschen" ist.21 Das ist auch der Kern der Aufklärung. In einem Zeitalter, in dem eine rasante Globalisierung unter kapitalistischen Bedingungen uns mit ihren Widersprüchen weltweit konfrontiert, sind wissenschaftliche Untersuchungen dieser Prozesse, die empirische Analysen mit einer kritischen Einstellung verbinden, dringend notwendig. Das Ideal der Gleichwertigkeit aller Menschen darf nicht aufhören, im Bewusstsein der Menschen als Gegengewicht gegen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Markt global dominiert, einen wichtigen Platz einzunehmen.

20

Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: ders., Kritische Theorie, Frankfurt 1968,11, 166.

21

Ebd., 191.

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Volkmar Weiss

Gesellschaftsprognose auch eine Aufgabe für Historiker?1

Würden Sie einem Meteorologen weiterhin Ihr Vertrauen schenken, wenn er Ihnen einen strahlend blauen Himmel versprochen hat, aber stattdessen ein fürchterliches Unwetter niedergegangen ist? Vertrauen Sie weiterhin in das wissenschaftliche Urteil von Historikern, die Ihnen die Sieghaftigkeit einer bestehenden politischen Ordnung verheißen haben, die inzwischen längst vergangen ist? (Vielleicht, denn sie haben sich ja 1990 alle als Kritiker, die es schon lange besser wußten, enttarnt.) Vertrauen Sie Politikern, die Ihnen vieles versprochen haben und wenig davon gehalten, oder wählen Sie bei der nächsten Wahl eine andere Partei? Die Zeit, in der wir gerade leben, ist eher ein zufälliger Punkt auf der Strecke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Historiker befaßt sich zwar mit der Vergangenheit2, aber als Mensch der Gegenwart macht er sich dennoch seine privaten Gedanken, wie es weitergehen könnte. Der Historiker könnte dabei sogar eine Lücke füllen, denn in Deutschland beschäftigen sich 1 492 Institute mit der Vergangenheit, aber nur sechs mit der Zukunft. Doch befähigt es denjenigen, der sich lange aus professionellem Interesse heraus mit historischen Trends3 befaßt hat und selbst auf mehrere Jahrzehnte sorgfältige Beobachtung, ja Beteiligung, an politischen Entwicklungen zurückblicken kann, zu einem ungetrübteren Blick in die Zukunft, als denjenigen, der bisher nur Motoren gebaut oder Rinder gezüchtet hat? Ob die Historiker bessere Propheten sind als andere Berufsgruppen, ist noch nie untersucht worden, und es wird sich mancher finden, der darlegen kann, warum Historiker sich nicht mit der Zukunft befassen sollten, denn davon verständen sie am allerwenig1

Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag gewidmet in Erinnerung an ein Vier-Augen-Gespräch in der Deutschen Bücherei im Jahre 1984 (nach dem Erscheinen des Buches „Gespräche mit meinem Urenkel" von Jürgen Kuczynski), in dem Zwahr nicht mit seiner Meinung zurückhielt, daß, wenn es jetzt keine Reformen gäbe, es mit dem Sozialismus zu Ende ginge. Wir kannten uns damals noch nicht allzu lange: Ich war auch schon lange dieser Auffassung und lächelte verbindlich, als hätte ich gerade etwas Neues erfahren. Vgl. auch: Werner Obst, Der Rote Stern verglüht. Moskaus Abstieg - Deutschlands Chance, München 1985.

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Hugh Trevor-Roper, History and Imagination, in: Hugh Lloyd-Jones u.a. (Hg.), History and Imagination. Essays in honour of H. R. Trevor-Roper, London 1981, 356-369. Volkmar Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität: Sachsen 1550-1880, Berlin 1993; Volkmar Weiss, Bearbeitete Fragen und Methoden bei der wissenschaftlichen Auswertung von Ortsfamilienbüchern und ihren Vorstufen, in: Volkmar Weiss/Katja Münchow, Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie, Neustadt/Aisch 19982, 74-196.

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sten und dafür wären ja schließlich Politiker da. Keine so leichte Ausrede haben die Demographen, denn Vorausberechnungen verlangt man von ihnen alle Tage. Was die Altersstruktur der Bevölkerung in drei oder zehn Jahren anbetrifft, so sind die Abweichungen zwischen Vorhersage und Wirklichkeit meist auch nur gering. Aber wenn ein Demograph im Jahre 1985 die Altersstruktur von Sachsen im Jahre 2005 vorausberechnet hat, dann dürfte er sich sehr geirrt haben. Noch schlechter wäre es z.B. mit der Vorhersage für Palästina für die Jahre 1910 auf 2000, für Böhmen von 1910 auf 1950 oder von Siebenbürgen von 1910 auf 1950 bestellt, wenn die Prognose nicht nur die bloße Zahl, sondern auch Bevölkerungs- und Machtanteile betreffen sollte. In diesen Fällen hat es in der Kontinuität jeweils schwere Brüche gegeben. So wichtig das Jahr 1990 für Polen auch war, für den polnischen Staat und das polnische Volk war es kein solcher Schnitt, wie er sich 1999 im Kosovo vollzogen hat. Bei unserem Beitrag soll es weniger um Wirtschaftsprognose gehen, sondern um die zweite Art der Entwicklung, wie sie im Kosovo stattgefunden hat. Denn das, was der demographischen Prognose bisher fehlt, ist eine Art Katastrophentheorie, die vorausschauen läßt, wann bestimmte Verschiebungen nicht mehr kontinuierlich weitergehen, sondern in Krieg, Revolution und Vertreibung umschlagen, so daß jede quantitative Vorhersage in kurzer Zeit zu Makulatur wird. Gibt es aus der Sozialgeschichte heraus Erfahrungen, aus denen sich solche Katastrophen vorhersagen lassen? Ehe wir zu dieser Problematik im engeren Sinne kommen, einige grundsätzliche Anmerkungen zu den Zwängen, unter denen der Geschichtsablauf steht. Der Schachspieler, der ein Spiel gewinnen will, lernt, daß es drei Grundgrößen gibt, die ineinander verwandelt werden können, nämlich Raum, Zeit und Material. Der gemeinsame Nenner dieser drei ist so etwas wie energetische Effizienz (bzw. Negentropie). Wer das Spiel gewonnen hat, der hat gegenüber seinem Gegner die größere energetische Effizienz zur Geltung gebracht. Bekanntlich ist das Schachspiel der realen Kriegführung nachgebildet, in der aber auch Unkenntnis der Züge der Gegner, ungleiche Anfangsvoraussetzungen, ungleiche Raumstruktur und reine Zufallselemente eine Rolle spielen. Moderne Spiele - wie die beliebten „Siedler von Catan" - versuchen, auch diesen, beim Schach fehlenden, Elementen Rechnung zu tragen. Auch im wirklichen Leben ist höchstmögliche energetische Effizienz das Ziel allen strategischen und taktischen Handelns, auch wenn das für viele historische Abläufe auf den ersten Blick kaum erkennbar ist. Wenn z.B. eine Burg mit gewaltigem Aufwand an eine schwer zugängliche Stelle gebaut worden ist, scheint dieses Streben nach Effizienz geradezu ins Gegenteil verkehrt. Der gesetzmäßige Zusammenhang wird erst dann deutlich, wenn der Belagerer vor der Burg auftaucht und nun seinerseits ein Maximum an Anstrengungen aufbringen muß, um die Burg einzunehmen. Im Kampf gegeneinander hat somit jeder der Gegner sein eigenes rüstungspolitisches Optimum. Man kann Gegner, ja ein ganzes politisches Staatssystem totrüsten, ohne den heißen Krieg zu führen, wenn man sich auf die effizientere

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Volkswirtschaft stützen kann. Wir sind 1990 Zeitzeugen eines derartigen Ereignisses und Systemzusammenbruches geworden.4 Über die Zusammenhänge von Raum, Zeit und Material, die allem wirtschaftlichen und militärischen Geschehen ihren Stempel aufdrücken, kann sich niemand hinwegsetzen. Wer es versucht und seinen Irrtum nicht bald bemerkt und noch rechtzeitig korrigiert, wird niederkonkurriert. Material kann auch einfach nur tradierte oder delegierte politische Macht und Prestige sein (die aber auch einmal aus besonderer Effizienz erwachsen ist). Eine solche Entscheidungsgewalt kann ihrerseits in Raum und Zeit Strukturen erzeugen, die Bestand haben. Der Zar Peter I. baute Petersburg, die DDR-Gewaltigen bestimmten Suhl und Neubrandenburg als Bezirkshauptstädte, eine Gruppe sächsischer Landtagsabgeordnete Borna zur Kreisstadt des „Leipziger Landes". Während Suhl und Neubrandenburg gegenüber Meiningen und Neustrelitz zentraler lagen und sich Neubrandenburg in seiner neuen Rolle behaupten konnten, bemerken die einfachen Menschen, die wegen trivialer Verwaltungsakte aus Dörfern um Leipzig in das verkehrsentlegene Borna müssen, daß bei der Gliederung der sächsischen Kreise die Dummheit eine nicht geringe Rolle gespielt haben muß und man statt der Abgeordneten - die damit die auf sie delegierte Macht mißbraucht haben - auch auf raumplanende Geographen, die etwas von der Theorie der Zentralen Orte gehört haben, hätte hören müssen. Aber so etwas korrigiert sich irgendwann einmal, etwa in der Weise wie die Spaltung Berlins beendet worden ist. Bislang hat sich noch jede Weltmacht einmal totgerüstet und früher oder später ihre Verbündeten verprellt, in dem sie sie durch Bündnisse in Verpflichtungen und Kriege hineingezogen hat, die wenig im Eigeninteresse des einen oder anderen Verbündeten waren. Politikern von Weltmächten ist zwar diese Gefahr grundsätzlich bekannt, wie wir z.B. bei der Korrektur der US-amerikanischen Indochinapolitik erleben konnten, aber schon im Nahen Osten dürften die Interessen bei näherem Hinsehen eigentlich wieder verschieden sein, wenn einige Verbündete es auch kaum wagen, das offen auszusprechen. Früher oder später kann dabei historische Zeiträume von Jahrhunderten bedeuten. Überdehnung des Machtgebietes und der militärischen Operationen, d.h. ein Mißverhältnis zwischen dem Raum und dem notwendigen und möglichen Transport - noch dazu unter ungünstigen klimatischen Bedingungen im Winter - wurde bekanntlich Napoleon in Rußland zum Verhängnis, hatte ihn aber auch schon zum Abzug aus Ägypten gezwungen. Der Historiker Collins machte darauf aufmerk-

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Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993; Volkmar Weiss, Die Rolle der 1990 in Leipzig gegründeten Deutschen Sozialen Union (DSU) bei der Einigung Deutschlands, in: Hartmut Zwahr u.a. (Hg.), Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festgabe fur Manfred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag, Beucha 2000, 245-253; Hartmut Zwahr, Revolutionen in Sachsen. Beiträge zur Sozialund Kulturgeschichte, Weimar 1996.

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sam5, daß sich das Großdeutsche Reich im Jahre 1942 mit militärischen Operationen vom Nordkap bis an den Kaukasus und in Ägypten in eine ähnliche Situation manövriert hatte. Alexander der Große war gerade noch im letzten Moment dieser Gefahr entgangen, als er seine Truppen am Indus halt machen ließ. Mit wirtschaftlichen und militärischen Hilfsoperationen zugleich in Kuba, Chile, Nikaragua, Angola, Afghanistan und einigen anderen Ländern hatte das Sowjetimperium sein Leistungsvermögen, das schon ab 1960 mit Beschleunigung an weltwirtschaftlichen Gewicht verlor, weit überschätzt. Das Gegenteil von räumlicher Überdehnung ist die Verteidigung bzw. der Kampf auf der inneren Linie, den Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg erfolgreich fuhren konnte, und in dem auch noch die Hoffnungen der deutschen Militärführung Ende 1944 lagen. Die fehlende Lufthoheit - und damit die Erschwerung von raschen Truppentransporten - war aber ein völlig neuer Faktor. Auch hätte eine derartige Kriegführung in ihrer Konsequenz eine Rückführung z.B. der Kurlandarmee und anderer abgetrennter Heeresteile auf die innere Linie verlangt, wozu Hitler nicht bereit war. Auch Israels siegreiche Kriege gegen die arabischen Nachbarstaaten beruhten bisher stets auf einer effizienten Nutzung der inneren Linie. Denn Größe ist nicht unbedingt ein wirtschaftlicher Vorteil: Die Transportkostenanteile der Waren sind in den USA und in Rußland im Mittel deutlich höher als in Mitteleuropa. Eine effiziente Infrastruktur entsteht erst bei einer bestimmten Bevölkerungsdichte und ihr Zerfall - etwa auch der Bildungs- und Kultureinrichtungen - droht, wenn die Bevölkerungszahl sich drastisch verringert, wie das jetzt in den neuen Bundesländern Deutschlands der Fall ist. Bevölkerung hat dabei nicht nur eine Quantität, sondern auch eine Qualität,6 und Abwanderungsvorgänge sind zumeist selektiver Art. Die Dörfer, in denen fast nur noch Alte, Kranke und Unqualifizierte zurückgeblieben sind, sehen dann auch dementsprechend aus. Geschichte bedeutet damit, parallel zum zeitlichen Fortschreiten, eine immer stärkere berufliche Spezialisierung und soziale Differenzierung, auch der Siedlungsstrukturen, und sich verschärfende soziale Ungleichheit. Also das genaue Gegenteil von dem, was man gern glauben und vielleicht anstreben möchte. Staatliche Strukturen, die sich gegen diesen Trend stellen, werden unweigerlich niederkonkurriert. Das Unbehagen, das sich beim Lesen dieser Sätze einstellt - der Wunsch zum Widerspruch - hat seinen guten Grund. Sich verschärfende soziale Ungleichheit entwickelt bekanntermaßen ihre eigene Dynamik, die droht, die jeweilige staatliche Ordnung zu sprengen, um - wenigstens vorübergehend - einen Zustand der geringeren Ungleichheit anzustreben, wenn auch auf Dauer völlig erfolglos. Jedes staatliche System erträgt also zu einem gegebenen Zeitpunkt nur einen bestimmten Grad der sozialen Ungleichheit. Die politische Kunst besteht deshalb stets darin, zwischen der tatsächlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit und dem Glauben der Massen, daß diese Ungleichheit entweder nicht vorhanden, be5

Randall Collins, S o m e principles of long-term social change. The territorial power o f states, in: Research in Social Movements, Conflicts and Change 1 (1978), 1-34.

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Volkmar Weiss, Die IQ-Falle. Intelligenz, Sozialstruktur und Politik, Graz 2000.

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deutungslos oder gottgewollt ist, ein optimales Verhältnis zu erreichen. Wird dieses Verhältnis nachhaltig gestört, droht eine gleichmacherische Revolution. (Im Falle von 1990 waren sich aber, als der urspüngliche egalitäre Schein des Systems die Massen nicht mehr trügte oder befriedigte, nur wenige klar darüber, daß diesmal die Marschrichtung genau umgekehrt sein würde. Auch die es wußten, versprachen klugerweise erst einmal allgemeine Verbesserungen.) Gibt es aber langfristige soziale Entwicklungen und Risikofaktoren, aus denen sich geschichtliche Brüche, die über den Kreislauf der Eliten hinausreichen, mit fast zwingender Folge vorhersagen lassen, und vor denen man verantwortungsvoll warnen kann, soll und muß? Daß man nicht unbedingt Historiker sein muß, wenn man aus seinen Beobachtungen richtige Schlüsse zieht, dafür ließe sich mancher Reiseschriftsteller oder Journalist zitieren. 1884 erschien z.B. in Leipzig ein Reisebericht7 über Siebenbürgen, und man konnte lesen: „Reiseschriftsteller haben vor Decennien geäußert, daß die Nemesis über Sachsen und Magyaren komme, und ... es könne eine Zeit erscheinen, in der ein gemeinsames Grab die Sachsen und ihre Peiniger, die Magyaren verschlingen werde.... Das allmähliche, überschichtende siegreiche Ausbreiten der Rumänen ist statistisch nachweisbar und für den Kenner des Landes augenscheinlich. Nach und nach ist das rumänische Volk von seinen stillen, bezaubernd schönen Bergen herabgestiegen, um bei den herrschenden Nationen leibeigen zu werden. Neue Zuwüchse, zahlreiche Nachkommenschaft und zähes Leben haben es allmählich an Stelle seiner einstigen Herren treten lassen, eine Eroberung, welche auf friedlichem Wege vor sich geht und nicht auf dem der Gewalt. ... Die Sachsen beklagen sich oft seufzend, daß ihre Dörfer aussterben, daß ihre Häuser leer stehen und sich Rumänen hineinsetzen. , Können wir dafür', erwidern die Rumänen, haben wir die Sachsen todtgeschlagen, thun wir ihnen ein Leid an? Gewiß nicht, sie selbst sind Schuld, wenn sie verschwinden und keine Nachkommen hinterlassen.'"

Heute, vier Generationen später, hat sich diese Vorhersage voll erfüllt: Bis auf einen kleinen Rest gibt es in Siebenbürgen keine Sachsen bzw. Deutschen mehr und auch ihre kulturellen Errungenschaften und die stolzen Kirchenburgen, auf die noch verwiesen wird, auch davon dürften die meisten zerfallen. Um dann einmal nur noch als Bodendenkmale, so wie die keltischen Fluchtburgen im Süden oder slawischen Wallanlagen im Osten Deutschlands, auf den Karten kenntlich zu sein. Dabei war es kein großer Krieg, der mit einem Male einen Schlußpunkt und einen Anfang gesetzt hätte, wie etwa 1945 für Ostpreußen. Die beiden Weltkriege waren für Siebenbürgen nur Etappen einer langen Entwicklung, deren Konsequenz der Reiseschriftsteller von 1884 richtig erahnt hat. Hat eine Bevölkerung einmal eine kritische Größe unterschritten, kommt es dann, nach einem sehr langen Niedergang, in kurzer Zeit zu einem völlig Zusammenbruch, im Falle Siebenbürgens zur Auswan-

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Rudolf Bergner, Siebenbürgen, Eine Darstellung des Landes und der Leute, Leipzig 1884, hier 212f.

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derung der deutschen Restbevölkerung im ausgehenden 20. Jahrhundert,8 im Falle des Kosovo9 zum Exodus der Serben. Ende des 16. Jahrhunderts hatte Siebenbürgen 425000 Einwohner, von denen je ein Sechstel Rumänen und Deutsche waren, etwa 60% waren Ungarn. Diese Völker lebten weitgehend in ethnisch getrennten Siedlungsgebieten, also etwa so ähnlich, wie die Schweiz organisiert ist. Ob es im Mittelalter überhaupt Rumänen in Siebenbürgen gegeben hat, darüber streiten sich die Gelehrten. Wenn, dann waren es Hirten in abgelegenen Gebirgsdörfern. Als Schäfer hatten sie ihre eigene „walachische" Lebensweise. Als ihre Dörfer größer und gewerbefleißiger wurden und ihrem Bevölkerungszuwachs nicht mehr genügend Nahrung boten, nahmen sie als Knechte Stellungen auch in den deutschen und ungarischen Dörfern an. 1850 zählte Siebenbürgen 1822000 Einwohner, davon waren 58% Rumänen, 27% Ungarn, 11% Deutsche und 4% Zigeuner. Hatte die Zugehörigkeit zum Habsburgerreich mit Deutsch als Verwaltungs- und Militärsprache den Deutschen bis dahin eine fuhrende Stellung oder wenigstens Autonomie gesichert, so ging diese nach 1866 an die Ungarn verloren, die nun ihrerseits eine rigorose Magyarisierungspolitik durchzusetzen versuchten. „Die früheren anfangs verachteten, dann gehaßten Widersacher der Sachsen, die Rumänen, sind heutzutage infolge derselben Leiden ihre Bundesgenossen geworden," schreibt dazu unser Gewährsmann 1884, und setzt fort10: „Hie und da findet man ruhige, leidenschaftslose Männer, die, mit objectivem Blick begabt, meinen, es sei augenscheinlich, daß die Existenz des ungarischen Staates nur noch eine Frage des nächsten Säculum sein könne. Die Magyaren ahnten instinktmäßig, was kommen werde und müsse, und in einem letzten verzweifelten Angriff versuchten sie alle andersprachigen Stämme zu verschmelzen.... Und einst werde die Zeit kommen, wo die Neigung der Nationaliätenconcentrierung den Sieg davontragen würden, dann würden all die am Rande Ungarns wohnenden Völker den anverwandten Staaten zufallen, so die Rumänen dem Königreich, ... die Südslaven einem neuen südslavischen Reich."

Das ist 34 Jahre vor 1918 geschrieben worden. Und vielleicht ist eine derartige seherische Kraft der „leidenschaftslosen Männer", die „mit objektivem Blick begabt" sind - und selbstverständlich heute auch der Frauen, womit schon eine Verdoppelung dieser Fähigkeit eingetreten ist - keine so seltene Gabe, als daß an ihr nicht auch Historiker teilhaben könnten, wenn sie nur wollten und man herausfinden könnte, worin die notwendige Objektivität eigentlich besteht.

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Das gilt auch bei Tier- und Pflanzenarten, die wenn eine kritische Masse unterschritten wird und die Population in kleine, unzusammenhängene Teile zerrissen wird, dann sehr rasch aussterben. 9 Folgen von Masseneinwanderung und „Sieg im Wochenbett". Epoche 146 (2000), 13-17. 10 Bergner, Siebenbürgen, 384.

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Rund 100 Jahre nach dem Reiseschriftsteller Bergner schrieb jedoch ein etablierter Historiker über den geschichtlichen Ablauf in Ungarn und Siebenbürgen, nunmehr im Rückblick11: „Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, die Möglichkeiten der Geschicke des Staates Ungarn sowie des magyarischen Volks, nicht minder aber auch die der Nationalitäten zu untersuchen, zu erwägen, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätte" das Nationalitätengesetz von „1868 vollinhaltlich angewendet werden und die Verhältnisse der Nationen in Ungarn versöhnend regeln können. Der Historiker, der nur die Hergänge und deren Ursachen wie Folgen beobachtet und jeglicher sentimentalen, auch ethnopathetischen oder Staatsromantik abgeneigt ist, ist kein ,rückwärts gekehrter Prophet'... Man sieht aber, daß die magyarischen Eliten voller Todesangst um die Gegenwart und die Zukunft des Staates Ungarn und des magyarischen Volkes gewesen waren ... Die Kehrseite der Existenzangst besteht jedoch des öfteren aus einer Kraft- und Gewaltanwendung, aus einer Flucht nach vorne, in die Schaustellung der Größe, Herrlichkeit und Maßlosigkeit. Letzen Endes war die Nationalitätenfrage der neuralgische Punkt, ja der Krebsschaden der ganzen Existenz Ungarns und des Magyarentums ... Konzessionen an die Nationalitäten ... ist jenen Jahrgängen, die sich noch als Erben des alten Adels Ungarn empfunden haben, gleichbedeutend mit der Selbstaufgabe, mit Selbstmord und mit einer feigen Hingabe an das ihrer und ihrer Nachfahren harrende Verhängnis erschienen". 12

Daraus schlußfolgernd könnte man vielleicht meinen, daß die Tage von Vielvölkerstaaten generell gezählt seien. Das Ende des Habsburgerreiches in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorherzusagen und seine Folgen, wäre dann kein so großes Kunststück mehr gewesen.13 „Auf allen Seiten wird an dem österreichischungarischen Staatengefuge gerissen. Ungarn droht mit völliger Loslösung; ... die Tschechen ... erstreben die ,Wiederaufrichtung der Wenzelskrone', die Slowenen wünschen ein eigenes Reich ..., und alle diese separatistischen Tendenzen können nur auf Kosten der österreichischen Monarchie und des Deutschtums ihr Genüge tun." Andere Autoren wurden noch deutlicher: „Darauf gehen ja schließlich die Fortschritte der Tschechen hinaus, daß man dadurch die Deutschen entbehrlich mache und sie ..., nachdem Böhmen den Tschechen gehöre ... zum Lande hinauswerfe oder sie zwingen im Tschechentum aufzugehen".14 In tschechischen Publikationen lassen sich schon vor 1900 mühelos Belege für die Auffassung finden, daß in Böhmen nur Platz für ein Volk sei und diese Frage entschieden werden müsse. Die Ereignisse von 1938 und 1945 waren keine Betriebsunfälle der Geschichte.15

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Ludwig Gogoläk, Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen Nationalund Zentralstaates, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, III, Die Völker des Reiches, Wien 1980, 1207-1303, hier 1303. Die sozialgeschichtlichen Hintergründe werden ausfuhrlich analysiert durch: Läszlö Katus, Die Magyaren, in: ebd., 410-488. Käthe Schirmacher, Die nationale Zweiteilung Böhmens, in: Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur 7 (1905), 65-75, hier 65. Karl Türk, Böhmen, Mähren und Schlesien, München 1898, hier 16. Reinhard Pozorny, Wir suchten die Freiheit. Weg einer Volksgruppe, München 1959.

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1921 wurde in Südafrika eine Volkszählung durchgeführt. Der damalige Direktor des Statistischen Amtes der Union von Südafrika, C. W. Cousins, kommentierte die Zahlen in folgender Weise16: „Während in den letzten 30 Jahren die nichteuropäische Bevölkerung durch natürliches Wachstum um 2.630.000 zugenommen hat, vermehrte die europäische Bevölkerung ... ihre Zahl nur um 500.000." Es wird sich daher seiner Ansicht nach wahrscheinlich schön in den nächsten 25 - 50 Jahren endgültig entscheiden, ob die Europäer neben den farbigen Rassen noch ein verhältnismäßig starkes und für die weitere Entwicklung Südafrikas bestimmendes Bevölkerungselement bleiben werden, oder ob diese sie derart an Zahl übertreffen und friedlich verdrängen, daß sie schließlich nur noch eine sehr dünne Oberschicht bilden, die eines Tages leicht ganz beseitigt werden kann. Cousins veröffentlichte dann drei Varianten A, B und C der möglichen Bevölkerungsentwicklung bis 1971. Bei Variante B sollten 1971 vier Millionen Weiße und 19 Millionen Schwarze in Südafrika leben, bei Variante C sollten 1971 3.650.000 Weiße einer farbigen Bevölkerung von 24 Millionen gegenüberstehen. Die tatsächlichen Zahlen lagen dann 1971 zwischen diesen beiden Varianten. Inzwischen (1999) leben rund 4.700.000 Weiße und etwa 38 Millionen Farbige in Südafrika, davon rund 33 Millionen Schwarze. Da die Einwohner von Basuto- und Swaziland bei Südafrika nicht mit dazu gezählt werden, ist die Zahl der Schwarzen eigentlich noch deutlich höher. Der 1921 von Cousins erahnte Machtwechsel hat bekanntlich 1994 stattgefunden; der „eine Tag", an dem die Massenflucht der Weißen einsetzt, noch nicht. Kenia hat ihn schon hinter sich, das frühere Rhodesien (heute Simbabwe) stand in letzter Zeit bereits dicht vor diesem Tag. Auch in Südafrika lassen sich die Vorstufen der weißen Abwanderung schon längst registrieren: Qualifizierte junge Leute zieht es nach Europa oder Australien, die Ausdünnung ist schon im Gange. Eine unbekannte Größe in dieser Entwicklung ist jedoch die Aids-Epidemie, deren Dimension vor 1985 in dieser Dimension von niemandem ins Kalkül gesetzt werden konnte, und die sogar in Südafrika die Auswirkung haben könnte, daß die Karten noch einmal neu gemischt werden. Jedoch kann und sollte man bei Sozialhistorikern nicht die seherischen Kräfte eines Nostradamus erwarten, mit denen sich verheerende Epidemien, nukleare Verseuchung und Klimawandel mit ihren konkreten Folgen für bestimmte Staaten vorhersagen lassen, denn Aids und Rinderwahn werden nicht die einzigen echten Überraschungen bleiben, mit denen die Zukunft aufwarten wird. Genauer vorhersagen lassen sich aber bereits die Folgen des zu erwartenden Wassermangels und Kriege um Süßwasser. Südafrika darf als das klassische Beispiel für Staaten und soziale Systeme mit einer ungünstigen Prognose gelten: Die großen und grausamen inneren Konflikte der unmittelbaren Gegenwart (Rwanda, Indonesien usw.) verlaufen alle entlang von Unterschieden, bei denen Sprache, Religion oder äußeres Erscheinungsbild (zusammen oder nur einer dieser Unterschiede) mit hartnäckigen sozialen Unterschieden zusammenfallen, d.h. ohne daß erkennbar ist, daß die Kluft durch gegenseitige 16

C. W. Cousins, Third Census of the Population of South Africa, Pretoria 1921, hier 27f.

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Heirat und soziale Mobilität in wenigen Generationen überbrückbar ist. Für den Fremden ist der Einheimische der Fremde, und zu Toleranz und Ausgleich gehören zwei Seiten. Auch Rassismus ist kein speziell europäisches Problem. Z.B. hatten Einwanderer aus Indien in Uganda eine fuhrende Rolle in Handel und Gewerbe inne, ehe sie durch pogromartige Ereignisse enteignet und vertrieben wurden. Schon 1879 hatte sich der in seiner Zeit als sehr bedeutend geltende v. Treitschke (1834—1896) unter dem bezeichnenden Titel „Unsere Aussichten" einmal mit Prognose versucht und geschrieben:17 „Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, daß sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesittung nicht ausüben können; über unsere Ostgrenze dringt aber Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung 18 wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dieses fremde Volkstum mit dem unseren verschmelzen können."

Daß er damit als Historiker früh auf ein mögliches Konfliktpotential aufmerksam gemacht hat, das in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich von großer Bedeutung sein sollte, dafür hat er die Kritik von allen Seiten erfahren, die auf jeden einbricht, der den Mut hat, sich zu grundlegenden Problemen der sozialen Entwicklung in vorausschauender Weise zu äußern. Denn für die später organisiert auftretenden Antisemiten war die Assimilation der Juden kein Thema; für die Zionisten ebenso nicht,19 denn sie wollten die Auswanderung. Aber auch für die unmittelbaren Zeitgenossen Treitschkes waren die eben zitierten Sätze Anlaß zur Kritik aus den verschiedensten Blickwinkeln. Das im einzelnen zu diskutieren,20 würde den Zweck und Rahmen unseres Essays sprengen. Uns kam es in diesem Zusammenhang nur darauf an zu belegen, wie Treitschke eine sich anbahnende Entwicklung erfaßt und nicht nur den künftigen Einfluß der jüdischen Minderheit in Finanzwirtschaft und Zeitungswesen richtig erahnt, sondern auch das sich daraus ergebende mögliche Konfliktpotential.

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Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), 553-575, hier 572. In Berlin stieg in dem halben Jahrhundert von 1850 bis 1900 die Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung von 9.600 Personen auf 106.000, in Wien von 2.000 auf 147.000 (und 175.000 im Jahre 1910). - 1932 wurden, mit steigender Tendenz, bereits 36% aller Ehen von Juden in Deutschland mit Nichtjuden geschlossen. Deutschland war ein Land mit einer antisemitischen Strömung unter anderen Ländern und, verglichen etwa mit Polen und Rumänien, keinesfalls der Schwerpunkt des Antisemitismus. Daß es dann 1933 zu einer dramatischen Wende kam und 1935 mit den Nürnberger Gesetzen jede weitere Assimilation gestoppt wurde, ist eine Entwicklung, die bei Treitschke, der ja von „Verschmelzung" geschrieben hatte, nicht zu lesen ist. Joseph Marcus, Social and Political History of the Jews in Poland, 1919-1939, Berlin 1983. Dietrich Beyrau, Antisemitismus und Judentum in Polen, 1918-1939, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), 205-232. Volkmar Weiss, Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses, in: Genealogie 50 (2000), 417-436, 497-507, 615-627; Weiss, Die IQ-Falle, 174-187.

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Die Völker Europas, die für das Entstehen ihrer Nationalstaaten einen hohen Preis gezahlt haben, stehen jetzt vor der Entscheidung, wie rasch und um welchen Preis sie ihre ethnisch relativ geschlossenen und christlich geprägten Nationalstaaten aufs Spiel setzen. Prognose ist stets auch Prognose über die künftige Verteilung der politischen Macht und Prognose über zu erwartende Verteilungskämpfe. Sie ist deshalb nicht wertfrei, bewegt sich auf mit Denkverboten vermintem Gelände und versucht dennoch, durch die Prognose eine Rückkopplung mit dem Gang der Geschichte zu erreichen. Das Risiko, verkannt zu werden, geht dabei jeder ein, der als Schuster nicht bei seinen Leisten bleiben und den Propheten spielen will. Je folgenschwerer die Einsicht ist, desto geringere Aussicht besteht, daß sie rechtzeitig Gehör findet.21 Die Altersverteilung der Bevölkerung, die Rentenproblematik und die Soziallasten sind wichtige Themen, aber von nachgeordneter Bedeutung gegenüber der Tatsache, daß biologisch schrumpfende Bevölkerungen - und das sind mit Ausnahme der Albaner - jetzt alle europäischen Völker, „Unterdruckgebiete" besiedeln, auf die ein Einwanderungsdruck mit ständig wachsenden Kosten (für Grenzschutz, Asylbewerber usw.) ausgeübt wird. 1995 hatte die Europäische Union 375 Millionen Einwohner, der islamisch geprägte Nahe Osten und Nordafrika zusammen 313 Millionen. Nach der UN-Prognose (von 1996) soll 2050 die Zahl der EU-Einwohner auf 338 Millionen sinken, die im Nahen Osten und Nordafrika hingegen auf 661 Millionen steigen. Diese Prognose ist naiv, denn die ausgleichende Wanderungsbewegung hat schon längst begonnen.22 Wirtschaftliche und politische Führungsrolle und .demographisches Verhalten von Teilbevölkerungen klaffen dabei oft weit auseinander und schaffen den eigentlichen politischen Sprengstoff. Daß angeführte Beispiel von Siebenbürgen ist anschaulich genug, es gilt ebenso für Palästina, Südafrika und anderswo. In einer demokratischen Gesellschaft, wo jede erwachsene Person eine Stimme hat, erhöht sich das politische Gewicht einer Zuwanderergruppe, wenn ihre Kinderzahl die der Einheimischen übertrifft. Der individuelle Aufstieg wird zwar dadurch eher gebremst, der kollektive aber gefördert. Bei nüchterner Betrachtung läßt sich deshalb der folgende Schluß nicht vermeiden: Der gegenwärtige Zustand in Mitteleuropa mit sinkenden Rüstungslasten und relativer politischer Ruhe und Stabilität ist eine Übergangszustand, der - wenn der gegenwärtige Trend nicht gebrochen wird - mittelfristig in einen Zustand mit schweren inneren und vielleicht auch damit zusammenhängenden äußeren Konflikten übergehen wird. Noch gibt es Steuerungsmöglichkeiten. Gestatten wir uns noch einmal einen geschichtlichen Rundblick: Bei Vielvölkerreichen stand am Anfang in der Regel ein Staatsvolk, das die anderen Territorien

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Volkmar Weiss, Überproportionale Anteile von Einwanderern in Unter- oder Oberschicht können den sozialen Frieden gefährden. Eine Ergänzung zu Steinmann und Feininger, in: Acta Demographica (1994-1996), 97-103. Herwig Birg, Demographisches Wissen und politische Verantwortung. Überlegungen zur Bevölkerungsentwicklung Deutschlands im 21. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 23 (1998), 221 -251.

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erobert und sozial überschichtet hat. Rom, Spanien, Österreich, Rußland, England die Liste ließe sich leicht verlängern. Gerät das tragende Staatsvolk demographisch - immer im Verhältnis zu den anderen Völkern im jeweiligen Reichsgebiet gesehen - auf den absteigenden Ast, so verliert es seinen fuhrenden Einfluß in den Außenzentren, wo die Führung in immer stärkerem Maße an einheimische, aus dem näheren Umland, zugewanderte Personen übergeht. Als die Russen in den letzten Jahrzehnten prozentual Jahr für Jahr gegenüber den mittelasiatischen und kaukasischen Völkern im Bevölkerungsanteil zurückgingen, kündigte sich die Auflösung der Sowjetunion an. Nicht anders bei den Serben in Jugoslawien. Wie steht es dann mit der Perspektive von Indien, Nigeria, Südafrika, Indonesien, d.h. in ihrer Einheit eher einmal künstlich von außen geschaffenen Staatsgebilden? Sind es Vielvölkerstaaten, die langfristig sowieso keine Zukunft haben, oder erfolgreiche Schmelztiegel, wie es Rom jahrhundertelang war und die USA und Brasilien noch sind? Und wie ist es mit einem Vereinten Europa, das kein Staat, sondern nur eine Wirtschaftsgemeinschaft sein will? Wieviel gemeinsamen Staat braucht eine solche Wirtschaftsgemeinschaft und bei wiezuviel zerbricht sie wieder? Eine Unsicherheit jeder Gesellschaftsprognose sind die zukünftigen Anteile des gesellschaftlichen Bedarfs an qualifizierter und unqualifizierter Arbeit. Vielleicht ist die Schwelle des dritten Jahrtausends dafür eine echte Zeitenwende, vielleicht auch nicht. Eurasische und nordafrikanische Gesellschaften sind in den letzten drei Jahrtausenden durch eine eigenartige Stabilität gekennzeichnet, die wir als so selbstverständlich zur Kenntnis nehmen oder mit solcher Selbstverständlichkeit ignorieren, daß fast niemand die Frage stellt, wie diese Stabilität durch biologische und soziale Evolution entstanden ist und wodurch sie aufrechterhalten wird. Wir alle haben einmal vor der zum Abitur führenden Schule eine allgemeinbildende Schule besucht und erinnern uns, daß es in einer Schulklasse wenige oder sehr wenige sehr gute Schüler gab, mehrere mittelmäßige und dann etwa die reichliche Hälfte Mitschüler, die mehr oder weniger gut mitkamen, von denen die meisten im Leben aber auch ihren Weg gemacht haben. Gute und sehr gute Schüler arbeiten später meist auch in höherqualifizierten Berufen. Eine derartige Verteilung der geistigen Leistungsfähigkeit findet man, mit nur geringen Schwankungen, in den Schulklassen Japans, Indiens, Ägyptens, Englands und Kanadas und anderswo. Aber warum wohl? Warum gibt es keine größeren Unterschiede? - Nur in Israel ist der Anteil der höherqualifizierten Berufe überproportional hoch, wobei die starke Einwanderung von Personen mit akademischer Ausbildung aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion eine große Rolle spielt. Aber gerade das Sozialgefuge von Israel und Palästina, beide einmal im Zusammenhang betrachtet, läßt uns die Frage stellen, ob es irgendwo in der Welt eine Territorium gegeben hat oder gibt, in dem soziale und zugleich ethnische Unterschiede und unüberschreitbare Heiratsschranken so kraß benachbart waren und das dennoch mittel- oder gar langfristig stabil war oder ist? Diese Frage stellen sich auch die politischen Strategen in Israel und Palästina selbst. Inzwischen deutet sich für Israel ein möglicher Ausweg an,

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der, wenn er erfolgreich weitergegangen werden könnte und das Land nicht durch innere Konflikte mehr zerrissen wird als durch äußere, zu einer weltweit bisher einmaligen Chance führen könnte: In den allerletzten Jahren ist die Software-Ausfuhr Israels in dramatischer Weise angestiegen und steigt weiter. High-Tech-Produkte machten 1999 schon 40% der gesamten Ausfuhr Israels aus, und damit könnten Volk und Staat sich genau in die ökologische Nische der Weltwirtschaft einpassen, die der Sozialstruktur des Landes eine Überlebenschance verschaffen dürfte (denn analoge Überlegung gelten auch für die Kriegführung, in der sich auch das Gewicht zugunsten kleiner hochtechnisierter Einheiten verschieben könnte). So könnte es möglich sein, daß das jüdische Volk wieder einmal - wie schon bei der demographischen Transition und bei der Verstädterung, die bei ihnen wenige Jahrzehnte früher und mit großer Konsequenz eingesetzt hatten - strukturelle Entwicklungen der weiteren Modernisierung vorwegnimmt, die in anderen Teilen der Welt Jahrzehnte später einsetzen werden. Auf lange Sicht ist nur eines sicher: Werden und Vergehen. Das gilt bereits für Berufe und Berufsgruppen oder soziale Stände. Doch große Völker treten nicht einfach aus der Geschichte ab. Ihre Reste werden in neue Völker mit neuen Namen eingeschmolzen. Die spätrömische Gesellschaft war sicher in mehreren Provinzen und zuletzt auch im Zentrum eine multikulturelle. Doch aus Römern wurden Italiener, Spanier, Portugiesen, Rumänen. Was wird aus den Deutschen, Tschechen und Ungarn werden? In den letzten Jahren wuchs in Mitteleuropa Jahr für Jahr die Zahl der Anhänger des praktizierenden Islam dreimal schneller als die katholische und die evangelische Kirche zusammen an Mitgliedern verloren haben. Die Zukunft hat auch diesmal schon begonnen. Der Wandel von ethnisch homogenen zu multikulturellen Gesellschaften oder umgekehrt ist nicht der Wandel von besseren zu schlechteren Ordnungen oder umgekehrt, so wie es den jeweils betroffenen Individuen erscheinen mag, sondern Teil des konfliktbeladenen Rhythmus der Weltgeschichte, und wir sind mittendrin.

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Erinnerungspolitik im Nachkriegsdeutschland? Eine Erinnerung

Beginnen möchte ich mit einem Satz, den uns Maurice Halbwachs auf die Agenda gesellschaftlicher Geschichts- und Erinnerungsarbeit gesetzt hat: „Das vergangene Geschehen gewinnt erst durch gemeinsames Erinnern an Gestalt und ermöglicht ein intensives Wiedererleben."1 Der französische Wissenschaftler Maurice Halbwachs, der damit dem Begriff des „kollektiven Gedächtnisses" eine spezifische soziale Semantik verlieh, wurde bekanntlich 1945 im Konzentrationslager Buchenwald von den Nationalsozialisten ermordet. Wenn Geschichtsbewußtsein wesentlich auf solchem „gemeinsamen Erinnern" basiert, auf der Existenz bestimmter kultureller und moralischer Konventionen der gemeinsamen Verantwortung von Geschichte, dann bedarf es in jeder Gesellschaft dazu klarer politischer Ermunterungen und Vorgaben. Es muß ein gesellschaftlicher Konsens darüber vorhanden sein, daß und wie wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, daß dies als die entscheidende Vorbedingung für die Gestaltung von Gegenwart zu betrachten ist und daß nur diese gemeinsame Verantwortung der Geschichte auch die Verantwortung der Zukunft legitimiert. Dazu aber bedarf es einer bewußten „Politik des Erinnerns", einer öffentlichen Geschichtskultur, in der symbolische und rituelle Formen des Gedenkens jenes „kollektive Gedächtnis" organisieren und repräsentieren. Nur dann kann Geschichtsbewußtsein als öffentlicher Diskurs wirksam werden; als ein Diskurs, der unser Verhältnis zur Vergangenheit zum zentralen Bestandteil „kollektiver Identität" macht, zu einer klaren Ortsbestimmung im Raum eigener und fremder Geschichte. Nun kreist deutsches Erinnern in dieser Hinsicht ja immer wieder um die Daten 1945 und 1990. Wohl hat das eine mit dem anderen nur indirekt zu tun gehabt, mehr als Abfolge, denn als Folge. „Erinnerungspolitisch" jedoch ist beides in einem diskursiven Zusammenhang gebracht worden, der uns - je länger, je mehr - immer plausibler erscheint. Er lädt ein zum Vergleich: für Analogie- wie für Kontingenzschlüsse. So diskutiert hier vielfach (wieder) Rechts gegen Links (was es nicht mehr gibt) und West gegen Ost - und diskutiert sich in Positionen hinein, die oft weniger durch Geschichtsbewußtsein als durch ideologischen Eifer charakterisiert sind. 1990 ist in noch frischer Erinnerung, während 1945 im weiten Abstand inzwischen eben als Beleg für jeden Analogie- oder Kurzschluß taugt. Und so lohnt vielleicht doch nochmals ein Rückblick auf jene entlegenere Zeit des deutschen „Neubeginns". - Dies freilich weniger in historiographischer als vielmehr in kulturanthropologischer Absicht: um mit heutigem Blick in der Vergangenheit das 1

Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1966, 2.

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Symbolische und Strategische der Geschichtspolitik aufzusuchen - als Erinnerung an Erinnerung. Daher will ich fragen: Wie wird die geschichtliche Ortsbestimmung in Deutschland nach 1945 kulturell vorgenommen? Welche kollektiven Muster des Erinnerns wurden damals geschaffen? Welche kulturellen und symbolischen Legitimationsstrategien des Umgangs mit Geschichte sollten den „Neuanfang" begründen? Bei diesen Betrachtungen sind gewiß auch die allgemeinen historischpolitischen Rahmenbedingungen dieser Zeit zu erörtern - Aspekte der „nationalen" und der europäischen Situation, der Deutschlandpolitik der Alliierten, der Formierungsprozesse politischer Parteien und Programme. Doch die letztlich prägende Substanz der politischen Nachkriegskultur besteht nach kulturanthropologischer Auffassung ganz wesentlich eben aus jenem kulturellen Repertoire des „gemeinsamen Erinnerns", also aus den symbolischen Mitteln und Ausdrucksformen, in denen privates und öffentliches Geschichtsbewußtsein als Alltagsbewußtsein damals sichtbar und gestaltbar wird. Welche Werte und Begriffe, welche historischen Orte und Denkmäler, welche Symbole und Bilder, welche Daten und Feiern werden bereitgestellt, um welche Geschichte zu verkörpern? Welche „Kultur des Erinnerns" soll die gesellschaftlich-politische Gegenwart repräsentieren und damit den Neubeginn auch ethisch-moralisch legitimieren?

I. Kultureller Nationalismus Wir sind heute Zeitzeugen einer ähnlich tiefen weltgeschichtlichen Zäsur wie 1945; Zeitzeugen nämlich jenes Jahres 1989, das mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Europa ebenfalls als ein „Neubeginn" von Geschichte apostrophiert wird. So schafft der Blick zurück auf das Jahr 1945 durch die Brille des Jahres 1989 die Problematik einer „doppelten" Vergangenheitsbetrachtung: Wie beeinflußt unsere heutige Erfahrung des Zusammenbruchs totalitärer Herrschaftssysteme und des gesellschaftlichen Neubeginns in Osteuropa unsere Wahrnehmung des gesellschaftlichen Neubeginns nach 1945? Nun ist auffallig, wie sehr die Umgestaltung in Ostdeutschland und Osteuropa nach 1989 deutliche Züge einer „Politik der Symbole" trug. Embleme und Denkmäler der alten Regimes wurden gestürzt, öffentliche Gebäude und Plätze architektonisch umgestaltet, Städte und Straßen umbenannt, Worte und Begriffe des sozialistischen Staats- wie Alltagslebens abgeschafft. - Weshalb? Offensichtlich doch, um durch diese Bearbeitung von „Vergangenheit" ein neues Gegenwartsbewußtsein herzustellen, um den „falschen" sozialistischen Weg symbolisch zu dekonstruieren und zu entwerten, um - insbesondere in Deutschland - ein neues „kollektives Gedächtnis" zu schaffen.

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Ob diese Strategie heute richtig oder falsch ist, sei einmal dahingestellt. Wichtig daran ist, daß die „Politik der Symbole" heute als zentraler Hebel akzeptiert ist, um Vergangenheitsbewußtsein nachhaltig zu verändern. Und so kann man sich fragen, ob dieser heutige Maßstab auch bereits nach 1945 angewandt wurde, ob der Faschismus damals ebenso vehement und mit symbolischen Besen aus den Falten der Gesellschaft ausgefegt werden sollte wie heute der Sozialismus. Nun bilden das Kulturelle und das Symbolische ja bereits traditionell den Grundstoff deutscher Identitätskonstrukte. Um dies nur stichwortartig zu rekapitulieren: Seit dem frühen 19. Jahrhundert gründete das Konzept nationaler Identität in Deutschland auf Vorstellungen und Werten einer „gemeinsamen" kulturellen Tradition. Einer Gemeinsamkeit, die in Bildern einer einheitlichen ethnischen Abstammung und einer „völkisch" geformten nationalen Mentalität beschrieben wurde als historisch überliefertes „deutsches Volkstum". Auf der einen Seite - in ethnischer Argumentation - beschwor man den Mythos von „Blut und Boden" längst vor dem NS: also von rassischen Ursprüngen, deren germanische Wurzeln angeblich bis in graue Vorzeiten reichten, und von einem spezifisch deutschen Nationalgefühl, das sich dieser Tradition stets bewußt gewesen sei und das sie durch Sagen, Lieder, Balladen und Bräuche im „Volksgeist" wach gehalten habe. Dieses ethnische Traditionsmotiv war in der deutschen Romantik insbesondere von den „germanistischen Wissenschaften" wie der Literaturgeschichte, der Sprachwissenschaft oder der Volkskunde geschaffen worden, aber auch von der nationalen Geschichtsschreibung. Es war die „Geburt einer Nation", aber eben nicht als politischer Akt sondern als eine kulturelle Konstruktion - eine „invention of national tradition", um einen Begriff von Eric Hobsbawm zu variieren. Auf der anderen Seite wurde ein Gebäude kultureller Werte errichtet, die angeblich in der geistigen Tradition „deutschen Denkens" seit dem Mittelalter standen. Es war die Vorstellung eines in seiner Intellektualität und Spiritualität eigenen „deutschen Wesens", bekräftigt durch das literarische, wissenschaftliche und künstlerische Erbe der „deutschen Klassik"2. Die Pädagogen, die Philosophen und die Dichter beschrieben dieses zweite Profil deutscher Identität in Abgrenzung zu anderen Kulturen: die „deutsche Kultur" als der Gegenentwurf zur französischen und englischen „Zivilisation", die Wärme deutscher „Wesenstiefe" gegenüber der Kälte französischer Etikette und englischem Geschäftssinns. Die Grundkonstruktion nationaler Identität in Deutschland setzte historisch also auf einem ,Jculturellen Nationalismus" auf, denn ohne nationale Staatlichkeit und nationales Zentrum blieben Politik und Macht, Verwaltungs- und Rechtssysteme ohne entscheidende Prägekraft. Auch Preußens Vormacht vermochte dieses politische Vakuum lange Zeit nicht entscheidend zu füllen. „Nationale Identität" und „Geschichtsbewußtsein" stützen sich daher vorwiegend auf einen nationalen Diskurs über „deutsches Volk und deutsches Wesen". Erst spät, im Kaiserreich und in

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Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt 1993.

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der Weimarer Republik, erweiterte sich dieser Diskurs auf den Dreiklang von „Volk, Nation und Staat". Und zwar genau in dieser Reihenfolge: „Volk" als das Wesenhafte geschichtlicher Identität, „Nation" als politisches Gefäß gemeinsamer Kultur und Tradition, und „Staat" als ein Altar für Gehorsam und Loyalität, als „Obrigkeitsstaat" gedacht, nicht als Garant politischer und bürgerlicher Rechte. Jedenfalls entsprach dies der Auffassung der politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten wie der konservativen Gruppen des Bürgertums. In dieser ideologischen Kontinuität bewegten sich dann auch die Nationalsozialisten. Es gab wenig, was sie im Blick auf nationale Identitätszuschreibungen wirklich neu „erfinden" mußten. Ihre Formel von der „Volksgemeinschaft", geboren aus „deutschem Blut und Boden", vertiefte lediglich die ethnisch-rassische Komponente und setzte sie dann konsequent in Politik um: „ethnische Säuberung" im Inneren und Angriffskrieg für „Volk und Raum" nach außen. - All dies ist wohlbekannt. Im Ergebnis bedeutete dies jedenfalls für das Jahr 1945, daß die grundlegenden Werte und historischen Begründungen deutschen Nationalbewußtseins zerstört, entlegitimiert waren durch die Nationalsozialisten. Wobei „durch die Nationalsozialisten" natürlich ein Euphemismus ist: Tatsächlich begann dieser Prozeß bereits lange vor den Nationalsozialisten und vor 1933 durch die „völkische", vielfach bereits rassistische und antisemitische Orientierung weiter bürgerlicher Kreise. Nach 1933 schwenkte dann die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mehr oder weniger willig auf diesen ideologischen Kurs ein.

II. Delegitimierung und Neulegitimierung Auf der Ebene des Diskurses um kollektive Selbstbilder und nationale Identitäten gab es 1945 insofern keine „unbelasteten" Beschreibungen eines Deutsch-Seins mehr.3 Wie also konnten - nach diesem „apokalyptischen Ende" deutscher Geschichte und Geschichtsideologie - noch andere, neue Identitätsentwürfe aussehen? In welchen politischen Begriffen und nationalen Semantiken sollte sich ein „postfaschistisches" Deutschland künftig beschreiben? Dabei ist daran zu erinnern, daß der NS nicht nur den internationalen „Kredit" Deutschlands zerstört hatte. Vielmehr hatte er auch die ethischen und moralischen Ressourcen innerhalb der Gesellschaft aufgezehrt. De-Legitimation meint eben nicht nur die Stigmatisierung und Entwertung von Leitbegriffen wie „Volk", „Gemeinschaft" oder „Geschichte", sondern ebenso und vor allem die Zerstörung all jener sozialen Werte, die zuvor in der Gesellschaft integrierend und regulierend

3

Vgl. Wolfgang Kaschuba, Volk und Nation: Ethnozentrismus in Geschichte und Gegenwart, in: Heinrich August Winkler / Hartmut Kaelble (Hg.), Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalität, Stuttgart 1993, 56-81.

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Eri nnerungspol itik

wirkten. Der Ausschluß und die radikale Verfolgung oppositioneller politischer Ideen, die Ausgrenzung und die physische wie kulturelle Vernichtung ethnischer Minderheiten, die Diskriminierung „artfremder" Religionsauffassungen und Lebensformen, die Festschreibung sozial „aggressiver" Erziehungskonzepte und „biologistischer" Geschlechterrollen, der braune Jargon des „Unmenschen" und der hohe Konformitätszwang im Alltagsleben - all dies bezeichnet nicht nur abstrakte Schlagworte und Vorgänge. Es beschreibt vielmehr auch alltägliche Semantiken sozialen Verhaltens, wie sie zwölf Jahre lang über Schulunterricht und Militärerziehung, über Literatur und Film, über Presse und Feste in die Köpfe eingeimpft und in die Lebensgeschichten eingeschrieben worden waren. Auch in diesem Sinne verkörperte der Nationalsozialismus die extreme Form einer „Politik der Symbole". Diese Köpfe nach 1945 wieder zu „entgiften", wieder ein Denken in sozialen Grundrechten und humanistischen Idealen zu erreichen, war bekanntlich das zentrale soziale und kulturelle Problem der Nachkriegszeit. Denn es ging um Menschen, die das Jahr 1933 oft keineswegs als einen „Sturz in die Diktatur" erlebt hatten, sondern meist willig in das „Dritte Reich" mitmarschiert waren. Um Menschen, die erst mit dem Beginn des Krieges, mit der militärischen Rekrutierung ihrer Väter, Männer und Söhne und mit der Erfahrung der Bombenangriffe die Kosten dieses Marsches zu erahnen begannen. Um Menschen, die 1945 nicht zunächst an „Sühne", sondern an „Überleben" dachten. Um Menschen schließlich, für die die NSGeschichte auch integraler Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte geworden war und die nach 1945 mit ihrer Biographie zugleich diese „deutsche Vergangenheit" zu verteidigen suchten.

III. 1945: Symbolische Optionen und Interpretationen Dennoch gab es nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes natürlich neue Optionen, das Verhältnis zur Vergangenheit des „Dritten Reiches" aktiv selbst zu gestalten, gleichsam eine „neue Identität" zu wählen. Ich will hier vier solcher - zumindest theoretischer - Wahlmöglichkeiten nennen: Zunächst die Möglichkeit der Wahrnehmung des Kriegsendes als „Befreiung" oder als „Niederlage". Daß die meisten Deutschen das Jahr 1945 als „nationale Katastrophe" erlebten, ist bekannt. Das lag einerseits natürlich an den unmittelbaren physischen und psychischen Kriegserfahrungen, die tiefergehende politische oder moralische Reflexionen weithin überlagerten. Andererseits hatte es in Deutschland aber auch - anders als in Italien und Frankreich - keinen nennenswerten eigenen Beitrag zur militärischen Befreiung gegeben. Der punktuelle antifaschistische Widerstand durch kommunistische und sozialdemokratische, vereinzelt auch kirchliche und militärische Gruppen war den meisten Deutschen unverständlich und „fremd" geblieben - „fremder" oft als die Politik der Nationalsozialisten. So wurde

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auch nachträglich kein Versuch unternommen, daraus wenigstens eine mehr oder weniger substantielle Widerstands/egemfe zu begründen. Solch eine Legende hätte zumindest politisch und psychologisch entlastend wirken und Akzente im öffentlichen Bewußtsein setzen können. Sie hätte jedoch zugleich bedeuten müssen, beides - „Widerstand" und „Sozialismus" - als „legitime", ja notwendige Haltungen bereits während des Nationalsozialismus zu akzeptieren. Für die meisten Deutschen eine vor wie nach 1945 undenkbare Vorstellung. So fand als „legitimer" Widerstand schließlich allein die Gruppe der Hitler-Attentäter um Stauffenberg allmählich Eingang in das „kollektive Gedächtnis" - ihr Kopf ein Offizier und Adliger, also quasi ein „national" denkender Held. Der wirklich politische Antifaschismus fiel spätestens dem „Kalten Krieg" und seinem ideologischen Verdikt zu Opfer. Noch 1964 konnte ein Historiker so völlig selbstverständlich in seinen Einleitungstexten zu Dokumenten der deutschen Nachkriegsgeschichte formulieren: Die Nachkriegsjahre seien eine Zeit gewesen, „an die es kaum gute Erinnerungen geben kann".4 Die Möglichkeit, auch gute Erinnerungen jenseits von Hunger und Not auf der Ebene von wiedergewonnener persönlicher und politischer Freiheit behalten zu haben, stand für ihn selbst noch 20 Jahre nach Kriegsende offenbar gar nicht zur Debatte. So formulierte er automatisch aus der Perspektive der „Mitläufer", für die NS und Krieg weniger tragisch gewesen waren als deren Ende, nicht aus jener anderen Perspektive der zahllosen Verfolgten, Regimegegner und Remigranten. Zweite Option: das Verhältnis zum Holocaust und zur Frage der Anerkennung von deutscher Schuld und von Wiedergutmachung vor der Weltöffentlichkeit. Auch diese Chance wurde kaum genutzt - trotz mancher offiziellen Bekenntnisse und juristischen Einrichtungen wie der „Zentralstelle für nationalsozialistische Gewaltverbrechen". Im öffentlichen Bewußtsein blieb die Schuld gegenüber anderen Völkern, aber auch gegenüber der eigenen Gesellschaft nur eine vage, eine verdrängbare Ahnung. Verantwortlich für den Völkermord an jüdischen Menschen, an Sinti und Roma, für 14 Millionen Zwangsarbeiter, für „displaced persons" und für die Euthanasie war allein der NS-Apparat, waren nicht die „kleinen Leute". Die SS wurde zum „Alibi der Nation". Das schienen auch die wenigen letztlich durchgeführten Prozesse gegen NS-Politiker und KZ-Mannschaften zu bestätigen: Lediglich 794 Todesurteile gegen „Kriegsverbrecher" wurden ausgesprochen, nur 474 davon vollstreckt.5 Die politische Unselbständigkeit der ersten Nachkriegsjahre durch die Oberhoheit der Alliierten begünstigte diese Flucht aus der Verantwortung zusätzlich. Wenn ohnehin die „fremden Sieger" über Deutschlands Schicksal bestimmten, dann soll4

Theo Stammen (Hg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Westdeutsche Innenpolitik 1945-1955, München 1965, 8.

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Heiß und Kalt. Die Jahre 1945-69, Redaktion: Eckhard Siepmann, Berlin 1986, 113. Vgl. auch Justus Fürstenau, Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, Neuwied 1969; Michael Ratz u.a., Die Justiz und die Nazis. Zur Strafverfolgung von Nazismus und Neonazismus seit 1945, Frankfurt 1979.

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ten auch sie die Vergangenheits- und Schuldfragen klären. Die von „Antifaschistischen Komitees" noch im Sommer 1945 formulierte Forderung nach Aufarbeitung und Selbstverantwortung der Vergangenheit wurde nicht nur von den Alliierten gebremst, sondern von der „schweigenden Mehrheit" der Deutschen abgelehnt. So kam es - wiederum im Unterschied zu Italien und Frankreich - auch zu keiner „nationalen Abrechnung" zwischen NS-Gegnern und Nationalsozialisten. Diese Haltung, schuldig geworden zu sein, ohne sich schuldig zu fühlen, weil man ja von „nichts wußte", prägte auch das Verhältnis zu den Remigranten. Sie wurden als Flüchtlinge oder Verstoßene aus der „Schicksalsgemeinschaft" betrachtet, eben als die „anderen Deutschen" jüdischer Herkunft oder linker Gesinnung. Daher erhielten ihre Erfahrungen und Gedanken zur Aufarbeitung der Vergangenheit nie entscheidenden Einfluß auf die politische Nachkriegskultur. Zum dritten und eng damit verbunden geriet der von den Alliierten eingeleitete Prozeß der Entnazifizierung nicht zum Startzeichen eines geschichtlichen Neubeginns sondern eher umgekehrt zum Symbol für geschichtliche Kontinuität. Mit dieser Maßnahme sollten sowohl nazistische Ideen, Rechtsnormen und Institutionen ausgeschaltet, als auch belastete Personenkreise bestraft bzw. von leitenden beruflichen wie politischen Funktionen ausgeschlossen werden. Statistisch wurden im Rahmen der Entnazifizierung über Fragebogen und Spruchkammerverfahren bis 1949 insgesamt 2,5 Mio. Verfahren durchgeführt. Nur in 1,4% der Fälle wurde allerdings auf „schuldig" oder „belastet" erkannt.6 Noch negativer aber war der mentale und psychologische Effekt dieser wenig geschickt durchgeführten Maßnahme. Denn sie ließ sich bequem als „Rache der Sieger und Fremden" diffamieren. Große gesellschaftliche Einrichtungen wie die katholische Kirche versagten daher kategorisch die Mitarbeit, während umgekehrt Vertreter antifaschistischer Gruppen bald aus den Spruchkammern herausgedrängt wurden. Immerhin berührten die Fragen nach der Zugehörigkeit zu NS-Organisationen, zur Wehrmacht, zu weltanschaulichen Haltungen bei fast allen erwachsenen Deutschen lebensgeschichtlich „dunkle Punkte". Darauf reagierten die meisten mit einer Strategie der „umgekehrten" Biographisierung: Um die Lebensgeschichte zu retten, um sie nicht als persönliches Versagen empfinden zu müssen, wurde die NS-Geschichte mitverteidigt, verhüllt, umgedeutet. So trat ein trotziger Solidarisierungseffekt ein: Gegenseitige Ehrenerklärungen, die „Persilscheine", wurden ausgetauscht; NS-Vergangenheit wurde zum Kavaliersdelikt; in der „Gemeinschaft der kleinen Opfer" versteckten sich auch die „großen Täter". Im Ergebnis bedeutete dies jedenfalls, daß nach kurzer Zwangspause oder Internierung die belasteten Eliten des nationalsozialistischen Systems bald wieder ihren Platz in den Meinungs- und Funktionseliten der BRD fanden: in der Politik, in der Wirtschaft, im Gerichtswesen, im Erziehungssystem, seltener in den Medien. Zum vierten schließlich stellte sich die Frage nach dem Umgang mit den Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die 1945 und danach aus den östlichen Nach-

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Heiß und Kalt, 113.

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barländern kamen. Daß dies eine unmittelbare, fast zwangsläufige Folge vorausgegangener nationalsozialistischer Kriegs-, Umsiedlungs- und Ethnisierungspolitik war, aus der sich wiederum die Frage nach Schuld und Verantwortung ergab, dies sollte bald nach 1945 nicht mehr gelten. Die Parole „Vertreibung bleibt Unrecht" versuchte vielmehr, die ethisch-moralischen Gewichte zu verschieben: Diese Unrechtsformel diente fortan als zentraler Hebel zur Relativierung der deutschen Schuldfrage und schuf zugleich die Voraussetzungen für den populären Antikommunismus des folgenden „Kalten Kriegs". Und es bedeutete die Rehabilitierung zentraler Geschichtsmetaphern im öffentlichen Diskurs: „Volk", „Heimat", „Deutschtum" kehrten zurück in die Alltagssprache - sofern sie diese überhaupt verlassen hatten.

IV. Blinde deutsche Spiegel Diese vier Chancen eines symbolischen Neuanfangs wurden von den meisten Deutschen also nicht genutzt - weder im Blick auf die individuelle noch auf die kollektive Biographie. Gewiß trug dazu die alliierte Politik ihr Gutteil bei durch ihre unglückliche Vermischung von „Sühne, Bestrafungs- und Reparationszielen", wie es der Politikhistoriker Peter Steinbach einmal formulierte.7 Aber auch die eigene Bereitschaft zum Beginn eines „gesellschaftlichen Ratschlags" war offensichtlich gering - zumindest, wenn dieser Ratschlag schmerzhafte Rückblicke miteinbeziehen sollte. Theodor W. Adorno fragte 1959 in seinem berühmten Aufsatz „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit", voller Zweifel zurückschauend, „wie weit es geraten sei, bei Versuchen zur öffentlichen Aufklärung aufs Vergangene einzugehen, und ob nicht gerade die Insistenz darauf das Gegenteil dessen bewirke, was sie bewirken soll"? Im deutschen Fall ist dieses Gegenteil offenbar eingetreten. Allerdings gelten diese Situationsbeschreibung nur für die spätere BRD. In der sowjetischen Besatzungszone und folgenden DDR verlief die Entwicklung deutlich anders. Ich kann hier nur Stichworte nennen: systematische Entfernung der Mehrzahl der NSDAP-Mitglieder aus politischen und öffentlichen Funktionen; Neuaufbau von Funktions- und Bildungseliten aus dem Reservoir antifaschistischer oder unbelasteter Kräfte - auch aus der Emigration; strukturelle Umgestaltung durch Kapitalenteignung und Bodenreform; Versuch des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung und Sozialstruktur - natürlich unter den Flügeln des „großen Bruders" Sowjetunion. Dieses Konzept ist hier nicht zu bewerten, weil die Erforschung weiter Strecken der DDR-Nachkriegsgeschichte noch aussteht. Nur soviel: Zwar war der Antifa-

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Vgl. Peter Steinbach, Vergangenheitsbewältigungen in vergleichender Perspektive, Berlin 1993, 21.

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schismus hier zur zentralen politischen und später sogar staatlichen Leitlinie gemacht, eine tiefgreifende Aufarbeitung der nazistischen Vergangenheit aber konnte offenbar auch diese radikalere Entnazifizierungspolitik nicht bewirken. Zum einen, weil sie die Frage der Verantwortung zweiteilte in eine persönlich-moralische und eine gesellschaftlich-politische Schuldfrage, die als gelöst betrachtet wurde durch die Praxis der Entlassung der „Parteigenossen" bzw. durch die Theorie des Bündnisses von Finanzkapital und NSDAP. Zum andern, weil damit die Verantwortung für das nazistische „Erbe deutscher Geschichte" quasi abgelehnt und an die spätere BRD als den „Hort der Reaktion" verwiesen wurde. So waren die Wurzeln des Faschismus in der DDR schnell „ausgerottet", ohne sie zuvor richtig besehen zu haben. Es gab kaum öffentliche Fragen nach eigener Verantwortung, kaum familiäres Nachfragen nach der „Schuld der Väter". Ein pathetischer Antifaschismus der Deklarationen und Gedenkaufmärsche überzog nur die Oberfläche einer Gesellschaft, die in ihre eigenen Abgründe offenbar ebensowenig blicken wollte wie der westdeutsche Nachbar. Wenn Geschichtsbewußtsein gerade auch in seinen schmerzhaften Formen ein Spiegel des politischen, intellektuellen und moralischen Zustandes einer Gesellschaft ist, dann waren die Deutschen und ihre Spiegel also blind.

V. Werte im Wiederaufbau Der deutsche Historiker Friedrich Meinecke schrieb 1946 in seinem Buch „Die deutsche Katastrophe": „Hilfe für den deutschen Geist" könne in dieser besonderen Zeit nun nicht mehr aus konkreter Politik- und Geschichtsbetrachtung erwachsen. Dies vermöge allein noch die Besinnung auf die Tradition und das Erbe deutscher Kultur, etwa auf jene Lyrik der „wunderbaren Art, wie sie in Goethe und Mörike gipfelte". Meinecke stand damals mit solcher Meinung keineswegs allein: Die Chance eines Wiederbeginnen konnte nach Auffassung vieler Deutscher nur in der Rückbesinnung bestehen - aber nicht in der Rückbesinnung auf die Zeiten und Ursachen „der Katastrophe", sondern auf die Kontinuität deutscher Geschichte und Kultur davor. Diese Kontinuität sollte in ihren besten Teilen eben jenes Erbe der klassischen deutschen Literatur und Philosophie sein, welches „deutsches Wesen" stets geprägt, es auch über den Niederungen der Politik „rein" erhalten hatte. Aus diesem Denken heraus schlug Meinecke vor, in jeder deutschen Stadt „Goethegemeinden" aus Künstlern, Literaten und Intellektuellen zu schaffen. Diese sollten als Repräsentanten deutscher Kultur - und damit des überlebenden „guten" Deutschland - den Menschen wieder die „Zeugnisse des großen deutschen Geistes (...) ins

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Herz tragen" und so den Weg des Neuaufbaus deutscher Gesellschaft und Gesinnung bewerkstelligen.8 Bezeichnend an dieser Einstellung ist nicht nur die Berufung auf das Erbe Schillers und Goethes - ein Prinzip, in dem sich die Ideologie deutscher Kulturnation verkörpert. Bezeichnend und erschreckend zugleich ist vielmehr die Erkenntnis, wie wenig der Mißbrauch eben dieser deutschen Klassik durch die Nationalsozialisten mitreflektiert wurde, welch naives Vertrauen in die Intaktheit und Unantastbarkeit der „deutschen Bildungskultur" aus diesem Denken sprach. Damit war der Nationalsozialismus zum „Betriebsunfall" der Geschichte deklariert, der jener kulturellen Substanz deutschen Geistes nichts hatte anhaben können. Und das schien ja auch die Tatsache zu bestätigen, daß die Menschen noch in den Trümmern des Jahres 1945 in die ersten Theaterauffuhrungen und Konzerte strömten, um bei Kälte und Kerzenschein tief berührt den Worten und Klängen jenes früheren, „besseren Deutschland" zu lauschen. Die ersten Zeitungen nahmen dieses Motiv wiederum sofort auf, um ein deutsches Selbstbild zu restaurieren: jenes Bild vom Volk der „Dichter und Denker", von seiner „Kultur". Andererseits war es aber auch wiederum „die Kultur", wenngleich nicht die klassische sondern die zeitgenössische, die Fragen nach der jüngsten Vergangenheit auf die Tagesordnung setzte. Es ist auffällig, wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem die Kulturzeitschriften und die Literatur als Träger und Medien des Diskurses über Vergangenheit fungierten. 9 In der Politik hingegen wurde die Vergangenheitsbetrachtung schnell instrumentalisiert zur „Geschichtspolitik": Es ging weniger um Fragen von kollektivem Gedächtnis und Schuld, als vielmehr um Strategien der Benutzung von Geschichte zur Rechtfertigung von Programmen und Parteigründungen. Geschichtsargumente dienten entweder als Legitimationsnachweis gegenüber den Alliierten wie der eigenen Bevölkerung, oder sie wurden als Schuldzuweisungen an den politischen Konkurrenten benutzt. Politik wurde damit in vieler Hinsicht zu einem „autonomen" um nicht zu sagen: „autistischen" - System, das jenseits der alltäglichen Lebensund Gefühlswelten der Menschen agierte. So konnte eine wirkliche „Normalität" des Nachdenkens über Nationalsozialismus und über individuelle wie kollektive Verstrickungen im öffentlichen Diskurs kaum entstehen. Im Gegenteil: Es ergab sich eine „Spaltung von Politik und Kultur" 10 , in der freilich rasch das politisch konservative Denken des Kalten Kriegs das Übergewicht gewann und die kritischen Stimmen aus Literatur und Kunst in die Defensive drängte. Die Vergabe etwa von Literaturpreisen und die Verlagsprogramme in den Jahren 1946 und 47 zeigen deutlich, daß eine „Politisierung" von Literatur und Kunst unerwünscht war: Die ersten Literaturpreise wurden an „Hei8 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, 175. 9 Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-55, Bonn 19913, 161; vgl. auch Jost Hermand, Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, München 1986. 10

Peter Alheit, Zivile Kultur. Verlust und Wiederaneignung der Moderne, Frankfurt 1994, 202.

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matschriftsteller" vergeben, die zwischen den Trümmern noch „heile Welt" fanden; Autoren hingegen aus Exil und Widerstand fanden kaum Verleger; in den öffentlichen Bibliotheken fehlte weithin die Literatur des Exils, des Antifaschismus und vielfach auch die der Jungen" Nachkriegsgeneration.11 Damit stellte sich in der Tat „Kontinuität" her: die Kontinuität einer Pflege der Klassiker in Literatur und Theater, die von Kritikern wegen ihrer Starre und Pomphaftigkeit boshaft als „Reichskanzleistil" bezeichnet wurde. Von der Politik waren damit deutliche Akzente gesetzt, die das historische Angebot der West-Alliierten an die Besiegten gleich selbst begrenzten. Die Chance der Neuorientierung einer künftigen deutschen Gesellschaft an Prinzipien der westlichen Demokratien wie an Traditionen der Weimarer Republik wurde nur halbherzig genutzt. Zwar begann der Aufbau einer „Zivilgesellschaft", die sich endgültig von den Traditionen des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates verabschieden wollte - Jürgen Habermas nennt dies den historischen Versuch, endlich den „aufrechten Gang" zu üben.12 Aber nicht wenige der Denk- und Verfassungsprinzipien, die nach 1945 allmählich in Kraft traten, blieben Formeln noch ohne eigenen Inhalt oder orientierten sich doch an Altem. So entstanden einerseits politische und soziale Konsensformeln, die zumindest neue Wegrichtungen beschrieben: Formeln wie „Wiederaufbau", „parlamentarische Demokratie", „Meinungspluralität", „moderne Industriegesellschaft" oder später „soziale Marktwirtschaft" (wogegen anfänglich ja sogar bei den Konservativen „antikapitalistische" Bedenken bestanden). Doch waren damit zunächst nur Schlagworte aus dem Wortschatz der Sieger übernommen, die eine Zukunft entwarfen noch ohne feste Brücken zur Gegenwart und Vergangenheit.13 Andererseits bildete die in der Verfassung der Bundesrepublik 1949 getroffene Regelung des Staatsbürgerrechts dann eine solche Brücke - allerdings nach rückwärts. Denn darin wurde die deutsche Staatsbürgerschaft nicht auf dem Prinzip von politischer Zugehörigkeit und „civil rights" begründet, sondern wieder auf dem ethnischen Abstammungsprinzip des „ius sanguinis". Auf jenem Prinzip, das die Nationalsozialisten eben erst für ihre rassistische Politik mißbraucht hatten. Wiederum war die Idee eines „Deutschtums" denkbar geworden, die alles, was sich deutscher Abstammung und Sprache zurechnen ließ, für das „Vaterland" reklamieren konnte - auch das „Auslandsdeutschtum" in den osteuropäischen Ländern. Hier war die Zukunft also mit den Hypotheken der Vergangenheit belastet.

11

Hermann Glaser, Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, I, Frankfurt 1990, 314ff.

12

Vgl. Jürgen Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1992.

13

Vgl. Hartmut Kaelble (Hg.), Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und politische Folgen in der BRD und in Europa, Opladen 1992.

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VI. Deutsche Selbstbilder Wir wissen, daß Sprache bezeichnend und zugleich verräterisch ist: Länger als das Handeln bestimmt sie Denkweisen und Einstellungen. Nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Erziehung und Alltagskultur mußte der „Kampf um die Köpfe" also auch ein Kampf um Begriffe und Worte sein, um aus „falschen Worten" nicht wieder „Taten" entstehen zu lassen. So zeichnete der Publizist Dolf Sternberger ab November 1945 in seiner Artikelserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" die Spur nazistischer Worte als eine Kette inhumanen Denkens und barbarischen Handelns nach. Er zeigte, wie die Semantik der Sprache zugleich die Semantik des Vergangenen weitertransportieren konnte: Worte wie „Arbeitsdienst", „Lager", „Menschenbehandlung", „Vergasen".14 Bertolt Brecht bezeichnete Begriffe wie „Volk", „Heimat", „Gemeinschaft" gar als „Unworte", die aus dem Sprachgebrauch zu löschen seien. So richtig diese politischen Absichten waren, unterschätzten sie wohl doch die Trägheit kultureller Gewohnheit und Tradition. Schließlich war die „NS-Sprache" keineswegs etwas grundlegend Neues gewesen, denn viele ihrer Begriffe und Metaphern entstammten dem Wortschatz des wilhelminischen Obrigkeitsstaates oder der konservativen und völkischen Bewegungen vor 1933. Ihre Unschuld hatten die Worte also längst vor 1933 verloren. Sie zu verdrängen, hätte politische und kulturelle Lernprozesse vorausgesetzt, die vor dem sprachlichen ein historisches Umdenken verlangt hätten. Dazu war bei den „Davongekommenen" wenig Bereitschaft, und so blieben viele belastete Begriffe in Gebrauch. Charakteristisch für dieses Verharren war die politische Programmsprache. Ab Mitte 1945 begannen sich politische Parteien neu oder wieder zu formieren und wandten sich mit Grundsatzprogrammen an die Öffentlichkeit. Mit Programmen, deren Vokabular oft dicht durchsetzt war von bekannten, alten Metaphern. So sprach der Aufruf der Christlich Demokratische Union (CDU) aus dem Juni 1945 von „eigener Scholle", vom „Volksganzen", vom „stillen Heldentum der Mütter", von „der Pflicht des Volkes zu Treue, Opfer und Dienst am Gemeinwohl". Kaum anders die Christlich Soziale Union (CSU), die in ihrem Programm zur „Kulturordnung" forderte: „Vor allem durch seine Kultur muß das deutsche Volk die Achtung der Völker und seinen alten Platz im Kreise der Nationen wieder gewinnen." Noch konservativere Programme nahmen noch weniger Anlaß zur Distanzierung von „völkischen" Metaphern. Demgegenüber versuchten Teile der Sozialdemokratie und der Kommunisten, neben einer generellen „Sprachhygiene" auch Begriffe wie „Antifaschismus" oder „Schuld" in den politischen Diskurs einzuführen - mit wenig Erfolg selbst in den eigenen Reihen.15

14

Glaser, Kulturgeschichte, 309.

15

Stammen, Einigkeit, 82f., 102, 111, 127.

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Trotz aller Mahnungen wurden die Sprache und die Bilder beim „Reden über Deutschland" also kaum reflektiert. Wobei die Kontinuität wohl weniger als Ausdruck des Weiterbestehens faschistischen Denkens zu interpretieren ist, eher als Folge einer gewohnten Verwaschenheit der Begriffe, einer unpräzisen politischen Sprache, die „braunes Vokabular" kaum mehr als solches identifizieren konnte. Hinzu kam, daß durch die Debatte um die „Heimatvertriebenen" und dann durch den „Kalten Krieg" viele der mißbrauchten Metaphern ohnehin re-legitimiert wurden - Begriffe wie „Volk", „Heimat", „Gemeinschaft" oder „Deutschtum". Hier, auf der Ebene der politischen Begriffe und Metaphern, bedeutete solche „Kontinuität" eben nicht „Erinnern", sondern nur dumpfes Beharren. Denn „Erinnern" hätte gerade umgekehrt heißen müssen, mit der Vergangenheit auch die Sprache und die Bilder zu „bearbeiten", ein bewußtes und kritisches Verhältnis zu ihnen zu gewinnen. Das hätte jedoch mehr vorausgesetzt, als eine eher formale Entnazifizierung: nämlich einen entschiedenen Antifaschismus, den freilich auch die West-Alliierten nicht förderten und forderten. Schon ab 1946 deutete sich bei ihnen wie bei den Westdeutschen vielmehr eine Relativierung des Problems „Nazismus" an, die mit dem wachsenden Antikommunismus Hand in Hand ging. Je bedrohlicher die Gefahr des „Bolschewismus" von amerikanischen wie deutschen Patrioten an die Wand gemalt wurde, desto unschuldiger erschien die NS-Vergangenheit; desto eher ließ sich dieser historische „Betriebsunfall" durch Antikommunismus und Westorientierung ausbügeln. Tabuierung der Vergangenheit plus Antikommunismus der Gegenwart: Diese Formel schrieben weite Kreise in den konservativen Parteien wie in der katholischen Kirche nun auf ihre Fahnen, die im Westwind wehten. Die NSVergangenheit wurde in passiven Formulierungen gefaßt wie die „schwerste Katastrophe, die je über ein Land gekommen ist"16 - als sei der Faschismus wie eine Naturgewalt über Deutschland hereingebrochen. Bekenntnisse zur „nationalen Einheit" blieben nicht frei von revanchistischen Untertönen, die eine Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 forderten. Ein CSU-Wahlplakat aus dem 1949 trug den Schriftzug „Nein", dahinter ein wohl mongolische Züge verkörperndes Gesicht und eine rote Hand, die sich bedrohlich über Bayern ausstreckte.17 Salonfähig wurde aber auch wieder der Stolz auf die „deutschen Tugenden": Arbeitsamkeit, Disziplin, Pflichtbewußtsein. Jener alte Wertekanon also, den Max Weber den erzieherischen Wirkungen der „protestantischen Ethik" zugeordnet und der den alten Obrigkeitsstaat getragen hatte. Diese Werte waren beim deutschen „Wiederaufbau" gefragt. Sie dienten der Wiederbesinnung auf individuelle wie nationale Selbstbilder, verbunden nun allerdings mit dem Signet der „Moderne": mit der Vision einer Gesellschaft, die sich über wirtschaftlichen Fortschritt, über industrielle Produktion und technische Effizienz, über individuellen Konsum und Lebensstil definieren wollte. Denn „Wiederaufbau" bedeutete nach dem Wirksam-

16

Ebd., 82.

17

Klaus Wasmund, Politische Plakate aus dem Nachkriegsdeutschland, Frankfurt 1986, 123.

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werden des Marshallplans ab 1948 auch neue soziale Aufstiegschancen über wirtschaftlichen Erfolg und damit eine hohe soziale und politische Integrationswirkung des renovierten Modells „Made in Germany". Wesentlich für die Kontinuität solcher sozialen und nationalen Selbstbilder war natürlich auch das Erziehungssystem in Schulen und Universitäten. Da dort weithin die Lehrkräfte aus den Jahren vor 1945 tätig waren, kam es einerseits durchaus zu einer weiteren Vermittlung von Nazi-Ideologien. Ich erinnere mich selbst lebhaft noch an meinen Lehrer in der Volksschule, der uns im Jahr 1957 ungestört Unterricht in „Rassenkunde" erteilen konnte. Andererseits wurde bestenfalls „deutsche Bildungskultur" vermittelt: Schiller- und Goethe-Zitate als Themen für die Abituraufsätze. Fragen, woher der Nationalsozialismus kam, wer ihn trug, wie mit dieser Geschichte umzugehen sei, wurden kaum gestellt. Daher waren auch Themen wie „Widerstand", „Antifaschismus", „Emigration" oder „Holocaust" im Lehr- und Bildungskanon bis weit in die 60er Jahre hinein nicht vorgesehen. Wer hätte sich und seine „deutsche Identität" darin auch wiedergefunden? Lieber summte man die ersten Nachkriegsschlager mit - die Hits der Jahre 1946 und 47 wie „Möwe, du fliegst in die Heimat", „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" oder „Wer soll das bezahlen, wer hat soviel Geld?"

VII. Archive des kollektiven Gedächtnisses Zeiten und Orte der Erinnerung fungieren - wie wir wissen - als „Archive des kollektiven Gedächtnisses". Durch die öffentliche Gestaltung und Ordnung des geschichtlichen Raumes, durch jene „Geschichtskultur" der Gedenktage, der Denkmäler, des Umgangs mit „gebauter Geschichte" wird die Bereitschaft des Einzelnen wie der Gesellschaft zur „Betroffenheit" durch Erinnerung bestimmt. Wie sehr, mag uns in den großen Gedenk- und Wendejahren seit 1989 besonders bewußt geworden sein, in denen Feiern und Gedenktage zum Anlaß umfassender Ausblicke auf europäische Vergangenheit und Zukunft genommen wurden. In Deutschland herrschte 1945, nach dem Übermaß der Nazi-Festkultur, zunächst eine gewiß begreifliche Skepsis gegenüber politischen Gedenkanlässen. Dennoch wurden einzelne Feste in kirchlicher oder populärer Tradition bald wieder begangen, weil sie eben auch das Gefühl vermittelten, sich eigener Tradition und Identität versichern zu können. Und diese Wirkung hätte eine neue politische Festund Gedenkkultur in gewiß noch weit höherem Maße erzielen können, wenn sie als bewußte symbolische Integrationsstrategie angelegt worden wäre. Dies geschah jedoch nicht. Nur einige wenige Beispiele: Im Unterschied etwa zum italienischen 25. April wurde nach Gründung der Bundesrepublik der 8. Mai, der Tag der „Befreiung", zu keinem deutschen Feiertag. Er blieb offenbar das Datum der „Niederlage", auch noch im zeitlichen Abstand. Auch der 20. Juli, der Tag des Hitler-

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Attentats durch Stauffenberg, wurde nicht in den offiziellen Kalender aufgenommen. Nicht einmal der Gedanke, den traditionellen Trauertag an die Toten, den „Büß- und Bettag" im November, zu einem offiziellen Gedenktag für die Opfer des Faschismus zu erklären, fand Zustimmung. Stattdessen wurde nach den Unruhen des Jahres 1953 in der DDR rasch der 17. Juni zum Gedenkdatum erklärt und als „Tag der deutschen Einheit" gefeiert. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler resümiert diese „Gedenkpolitik" der Nachkriegsjahre: „Alle Chancen, symbolisch wirksame und integrierende Feste zu stiften, wurden nicht genutzt."18 Sie wurden nicht genutzt, obwohl damit gerade in dieser Zeit des sozialen und politischen Neubeginns wichtige symbolische Zeichen der politischen Selbstverständigung wie der kollektiven Identifikation hätten gesetzt werden können, ja müssen. Ein „Zeitarchiv" des Erinnerns entstand also nicht. Aber auch kritisch „erinnernde" Fotografien und Filme, die als „Bildarchive" hätten fungieren können, sucht man in dieser Zeit weithin vergebens. Erste Bilddokumentationen der „Stunde Null" zeigen Fotos der zerbombten Städte, der Verwüstungen des Krieges, kaum Bilder von den Opfern oder den „Befreiern". Zwar entstanden bald einige wenige deutsche Dokumentär- und Problemfilme zur NS-Vergangenheit: etwa Hans Bürgers „Die Todesmühlen", ein Dokumentarfilm über die Konzentrationslager; oder Wolfgang Staudtes 1946 gedrehter Spielfilm „Die Mörder sind unter uns", der vom Überleben der Nazi-Richter handelte. Doch war Staudtes Film in westdeutschen Kinos kaum gefragt, und Bürgers Produktion wurde 1946 schon wieder aus dem Verleihprogramm genommen. Statt dessen triumphierten bald seichte Unterhaltung aus Hollywood und deutsche „Heimatfilme" mit ihrer unverwechselbaren Kulisse aus heiler Natur, neuem Volkswagen und Glück am Nierentisch.19 Im Vergleich dazu waren die Orte und Denkmäler der Geschichte buchstäblich aus Stein - fester und standhafter. Die deutsche Nationalgeschichte vor allem des Kaiserreichs hatte sich bekanntlich in einer Fülle monumentaler Bauten und Denkmalensembles verewigt, von denen viele die Zerstörungen des Krieges überstanden. Vor allem die „klassischen" Erinnerungsstätten germanisch-deutscher Geschichtslegenden vom „Hermannsdenkmal" im Teutoburger Wald bis zur Regensburger „Walhalla" blieben erhalten oder wurden bald restauriert. Auch die auf fast allen Friedhöfen stehenden Gefallenendenkmäler des Ersten Weltkrieges wurden um Tafeln mit den Namen der gefallen Soldaten des Zweiten Weltkriegs ergänzt. Und von den Straßenschildern wurden lediglich die Namen der bekanntesten Nazi-Größen entfernt; die Hindenburgs, die Generäle und die völkischen Literaten blieben diskussionslos erhalten. So blieben auch die „steinernen" Erinnerungen an Deutschlands Größe und Opfer im Alltag präsent, sie erzählten ihre Version der Geschichte unbeeindruckt weiter.

18

19

Hans-Ulrich Wehler, Gedenktage und Geschichtsbewußtsein, in: Hans-Jürgen Pandel (Hg.), Verstehen und Verständigen, Pfaffenweiler 1991, 197-214, hier 205. Glaser, Kulturgeschichte, 274.

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Denkmäler jedoch für den antifaschistischen Widerstand, für die „fremden" Opfer des Raubkrieges, vor allem aber für die Opfer des Holocaust fehlen in dieser deutschen Erinnerungslandschaft. Nur einige wenige Tafeln und Hinweise auf ehemalige jüdische Mitbürger, auf bürgerlichen oder kirchlichen Widerstand wurden nach 1945 in der BRD angebracht. Eigentlich erst 1989, zum 50. Erinnerungstag, setzt dann plötzlich eine Gründungsflut von KZ-, Synagogen- und OpferGedenkstätten ein - als ob man die Geschichtskultur dadurch neu historisieren könne. „Bau und Nutzung, Zerstörung und Veränderung von Denkmälern und Geschichtsstätten sind (...) ein wichtiger Bereich symbolischer Politik und der durch sie beeinflußten kollektiven Gedächtniskultur", stellt der Politikwissenschaftler Peter Reichel in seinem Rückblick auf die deutsche Denkmalpolitik nach dem Kriege fest. Und er zeigt, daß diese symbolische Politik in Deutschland keine offene und öffentliche Gedächtniskultur zustandegebracht und beabsichtigt hat.20 Eine „Entnazifierung" des öffentlichen Raumes als politisch-symbolische Strategie fand kaum statt. Teils weil es an Sensibilität und Betroffenheit mangelte, teils auch weil die NS-Symbole und -Architektur vielfach eingebunden waren in altes nationalistisches Ambiente bzw. zum Teil aus diesem heraus entstanden waren. Eher umgekehrt führte die ästhetische und architektonische Marschrichtung in die Nachkriegsmoderne dazu, daß beim Wiederaufbau der Städte wohl mehr historische Bausubstanz durch Abrißbagger vernichtet wurde, als durch Kriegsbomben zerstört war. Auf eine bewußte „Erinnerungsarchitektur" gar um Gebäude und Plätze, die „Orte" des Nationalsozialismus gewesen waren, wurde völlig verzichtet - ein geplanter Geschichtsverlust. Symptomatisch für diese Politik der Verweigerung von Erinnerung mag sein, daß viele deutsche Städte erst in den letzten Jahren entdeckten, daß sie in ihren Archiven und Ehrenlisten immer noch Adolf Hitler als Ehrenbürger führten.

VIII. „Politik der Symbole" Ernst Cassirer beschrieb die Wirkung politischer Symbole als „Wirklichkeit auf einer neuen Ebene": Sie seien nicht einfach zeichenhafte Spiegelungen des gesellschaftlich Vorhandenen und Geschehenen, sondern fügten dem politischen Deuten und Verstehen eine neue, zusätzliche Dimension hinzu. Nimmt man diese Überlegung zum Ausgangspunkt einer Schlußbetrachtung, dann hat die deutsche „Politik der Symbole" nach 1945 in der Tat zwei neue Ebenen von Wirklichkeit geschaffen: zum einen eine von den Hypotheken der NS-Vergangenheit entlastete, nur auf „Zukunft" gerichtete Gegenwart; zum andern eine ungebrochene Kontinuität wesentli-

20

Peter Reichel, Steine des Anstoßes: Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Manuskript (1993), 2.

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eher Mythen deutscher Geschichte. Beides wurde bezeichnenderweise dadurch erreicht, daß auf eine aktive, kritisch reflektierende Symbol- und Erinnerungspolitik weithin verzichtet wurde. Das bedeutete nichts weniger, als den vorläufigen Auszug der Geschichtsethik aus dem politischen Bewußtsein der sich nach 1945 formierenden westdeutschen Gesellschaft. Mag sein, daß dies ein in vieler Hinsicht notwendiger Vorgang des Aufbaus „selektiver" Erinnerungssegmente war. Angesichts der Überlast an Schuld wäre eine Zukunftsorientierung sonst vielleicht kaum möglich gewesen. Gleichwohl war der Preis dafür eine Art von „Geschichts-Amnesie". Ein Gedächtnisverlust, der später unter Schmerzen und Kosten aufgearbeitet werden mußte; Alexander Mitscherlich prägte dafür das Wort von der „Unfähigkeit zu trauern". „Die Bundesrepublik war als politischer Körper mit der Erinnerung eines Halbwüchsigen ausgestattet", schrieb ein deutscher Historiker im Rückblick darauf.21 In dieser gesellschaftlichen und staatlichen Neuformierungsphase Deutschlands, waren wesentliche „Vorentscheidungen über den künftigen politischen Stil" zu treffen gewesen.22 Diese Vorentscheidungen wurden getroffen, aber eben in einem abwartenden, auf „Vergessen" bauenden, gleichsam passiven Verfahren. Zu keiner Zeit waren die öffentlichen Symbolstrategien auf die Herstellung „antifaschistischer Erinnerungskultur" ausgerichtet, vielmehr orientierten die Zeichen auf „Kalten Krieg", auf „Westintegration" und auf „Wirtschaftswachstum". Sie schufen keine Verbindung zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Sie entwickelten vor allem kein System lenkender „öffentliche Rituale", die nach anthropologischem Verständnis gerade für „Gesellschaften im Übergang" von so entscheidender Bedeutung sind, um alte und neue Identitäten ausbalancieren zu können.23 Erst um 1968 erfolgte der Bruch dieses Schweigens und Verschweigens auf breiterer Front (auch wenn das heute schon wieder gern in Frage gestellt wird). Es war der Beginn einer deutschen „Kultur der Schuld", wie es der niederländische Publizist Ian Buruma kürzlich genannt hat,24 der Beginn einer intensiven Auseinandersetzung nicht nur um die „verschwiegene Geschichte", sondern auch um die Gründe des Verschweigens. Im Vergleich zu Italien und Frankreich jedoch, wo der aktive Widerstand und die Befreiung von „fremden Besatzern" nach 1945 ein Fundament der Erinnerung an „Eigenes" bildete - oder zumindest zur offiziellen Geschichtsversion wurde -, blieben Widerstand und Antifaschismus in Westdeutschland dennoch stets etwas „Fremdes". Die NS-Geschichte hingegen verkörperte das versteckte, tabuierte „Eigene". Umgekehrt in der DDR: Dort erschien die NSVergangenheit als das „fremde", abgelehnte Erbe, während der Antifaschismus als

21

Karl-Ernst Jeismann, „Identität" statt „Emanzipation"? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik, in: APuZ (1986), B 20/21, 3-16, hier 6.

22

Wehler, Gedenktage, 205.

23

Vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt 1989.

24

Vgl. Ian Buruma, Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan, München 1994.

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das „Eigene" reklamiert wurde. Zwei konträre Lösungen einer „Politik der Symbole" - mit dem ähnlich negativen Resultat einer „verborgenen Geschichte". Insofern gilt für Deutschland in der Tat: Das Jahr 1989 zwang dazu, neu über das Jahr 1945 nachzudenken; und im Licht des Jahres 1945 erscheint wiederum die Entwicklung deutscher Erinnerungspolitik seit 1989 nicht unproblematisch. Hätte der Symbolkampf gegen den Faschismus damals so energisch geführt werden müssen wie nach 1989 der gegen den Sozialismus? Oder hätte er besser damals statt heute geführt werden sollen? - Antworten darauf müssen Historiker suchen - mit West- und Ostbiographien - diesseits und jenseits von Emeritierungsgrenzen!

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Revolution oder „Wende": Das Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im Meinungsstreit

I. Vergleich und Wertfreiheit: Eine Einführung Die methodische und definitorische Auseinandersetzung um zentrale Begriffe deutscher Zeitgeschichte: um Revolution und Konterrevolution, um „Wende", um Widerstand, Opposition, Dissidenz und um abweichendes Verhalten steckt auch elf Jahre nach dem Ende der DDR in den Kinderschuhen. So herrscht in Geschichtsund politischer Wissenschaft Unklarheit über grundsätzliche Definitionen - und mehr noch: selbst deren Notwendigkeit wird oft nicht akzeptiert. Viele Autoren gebrauchen Begriffe wie Widerstand, Widerspruch und Opposition synonym, wenden sie darüber hinaus in ein und demselben Text höchst unterschiedlich an. Nicht anders steht es mit den Begriffen „Wende", friedliche Revolution, Implosion, Zusammenbruch oder Konterrevolution und sowohl der Vergleich mit anderen Diktaturen als auch der mit demokratischen Systemen liegt außerhalb des Horizonts vieler Wissenschaftler.1 Offensichtlich herrscht weit verbreitet gedankliche Unklarheit. Dagegen scheint es auf der Hand zu liegen, daß in dieser Situation gerade dieser Vergleich und hier besonders der von historischen Umbrüchen weiter fuhren könnte. Trotzdem meinte der Leipziger Zeithistoriker Günther Heydemann nicht zu unrecht, daß derjenige, der vergleichen will, sich erst einmal verteidigen muß, da er immer wieder in den Verdacht gebracht wird, er wolle lediglich relativieren. Außerdem ist ständig der Vorwurf zu hören, für vergleichende Untersuchungen würde es keine ausreichende theoretische und methodologische Grundlage geben. Gleichzeitig sind jedoch kaum Bemühungen auszumachen, dieses Dilemma in fächerübergreifender Forschung und Diskussion zu beseitigen. Eine Voraussetzung für die Veränderung dieses Zustandes wäre zumindest unter Historikern und Politikwissenschaftlern die Einsicht, daß es bei einem Vergleich stets nur um den Versuch einer Annäherung, niemals um die historische Wahrheit im eigentlichen Sinn gehen kann.2 Und genauso klar sollte es sein, daß die Überdehnung eines Vergleichs im 1

2

Günther Heydemann, NS- und SED-Staat - Zwei deutsche Diktaturen? Probleme und Möglichkeiten des Diktaturenvergleichs, in: Ingrid Gamer-Wallert u.a. (Hg.), Nähe und Ferne. Erlebte Geschichte im geteilten und vereinigten Deutschland, Tübingen 1997. So auch: Bernd Stöver, Leben in Deutschen Diktaturen. Historiographische und methodologische Aspekte der Erforschung von Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR, in: Detlef Pol lack/Dieter Rink (Hg.), Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR, 1970-1989, Frankfurt 1997, 30.

Rainer Eckert

Sinne der Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen politischen Systemen immer seine Akzeptanz vermindern muß. Weiterhin ist es eine Binsenwahrheit, daß nur Phänomene miteinander verglichen werden können, die auch etwas Gemeinsames haben, die also vergleichbar sind.3 Weiterhin kennzeichnet geschichts- und politikwissenschaftliche Vergleiche gleichermaßen, daß zwei oder mehrere historische Phänomene systematisch nach Ähnlichkeiten und nach Unterschieden untersucht werden. Dabei sind die Ziele des Erkenntnisprozesses möglichst zuverlässige Beschreibungen und Erklärungen von geschichtlichen Handlungen, Erfahrungen, Prozessen und Strukturen.4 Von dieser Zielsetzung ausgehend, scheint es für einen umfassenden europäischen Diktaturvergleich noch zu früh zu sein, dagegen ist die vergleichende Betrachtung bestimmter Gesellschaftssektoren einzelner Diktaturen auf empirischer Basis dringend geboten. Für die beiden Diktaturen auf deutschem Boden zählte Bernd Faulenbach die wichtigsten Bereiche des benötigten Vergleiches auf: es sind der totalitäre Politikanspruch, das Herrschaftssystem, die Rolle der Ideologien, die Rolle der Gesellschaft bzw. ihrer Integration in das politische System und die jeweiligen Systemverbrechen. Dies könnte durch die jeweilige Entstehungsund Niedergangsgeschichte beider System ergänzt werden. Grundsätzlich sind dabei sowohl kontrastierende Vergleiche mit der Frage nach evtl. Unterschieden, um eine genauere Einsicht in Einzelfälle zu ermöglichen, als auch generalisierende Vergleiche zur Herausarbeitung von Übereinstimmungen ins Auge zu fassen. Auch sollte nicht vernachlässigt werden, daß zwar diachrone Vergleiche deutscher Diktaturen zuerst sinnvoll sind, daß künftig aber auch synchrone Diktaturvergleiche notwendig sein werden. Dabei drängen sich als tertium comparationis das „Dritte Reich" und die Stalinsche Sowjetunion geradezu auf. Neben dieser Form des Vergleichs wird jedoch auch die vergleichende Sicht auf diktatorische Systeme wie dem der DDR und demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik einen spezifischen Erkenntnisgewinn mit sich bringen. Naheliegend sind darüber hinaus Arbeiten zur Gegenüberstellung außerdeutscher faschistischer und kommunistischer Diktaturen.5 Doch auch dieser Versuch trifft immer wieder auf erbitterte Abwehr wie letztlich die Diskussion um das „Schwarzbuch des Kommunismus" erneut gezeigt hat.6

3

Bernd Faulenbach, Zur wissenschaftlichen und politischen Vergleichbarkeit von N S - und SEDDiktatur (Manuskript).

4

Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka, Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse internationaler vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt 1996, 9.

5

Jürgen Kocka, Nationalsozialismus und SED-Diktatur im Vergleich, in: ders., Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, 92f., lOOf.

6

Stéphane Courtois (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München 1998; kritisch: Jens Mecklenburg/Wolfgang Wippermann (Hg.), „Roter Holocaust"? Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus, Hamburg 1998.

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Revolution oder „Wende"

Neben den erwähnten gibt es als weiteres Argument gegen vergleichende Forschung, daß diese in keinem Fall von noch Lebenden betrieben werden dürfe, da Zeitzeugen nicht wertfrei urteilen könnten. Bezogen auf deutsche Diktaturen tragen solche Einwände jedoch nicht, wie gerade die frühzeitig begonnene Erforschung des Nationalsozialismus immer wieder bewies. Aber auch der in diesem Zusammenhang gern zitierte Max Weber hat eine solche Wertfreiheit nicht eingefordert. Dagegen meinte der Soziologe etwas anderes: er mahnte, nur in Situationen politisch zu urteilen, in denen auch widersprochen werden könne.7 Und er meinte weiter, daß Wissenschaft zur Klärung von Wertungen beitragen solle, die dann zum Handeln im politischen Bereich führen.8 Aber gerade dies ist in einer Demokratie besser als in allen anderen politischen Systemen garantiert und damit ein weiteres Argument für vergleichende Forschung. Dagegen erscheinen die Argumente der Gegner einer Kategorisierung, diese könne zu einer vorschnellen Einengung des Forschungsansatzes fuhren, wenig überzeugend. Unbestritten ist dabei jedoch, daß sich auch im Vergleich die historische Wahrheit immer wieder dem Versuch einer historischen Kategorisierung zu entziehen sucht. Gerade deshalb ist jedoch immer wieder von neuem zu prüfen, ob die Annäherung an solche Kategorien idealtypisch möglich und für den Erkenntnisprozeß von heuristischem Wert ist. Dabei ist auch nach dem Verhältnis von Revolution und Diktatur und danach zu fragen, ob politische Gegnerschaft in den Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts systemprägend war.9 Käme man hier zu einer bejahenden Antwort, so könnte etwa widerständiges Verhalten im „Dritten Reich" zum heuristischen Modell für die Analyse der zweiten deutschen Diktatur auf deutschem Boden werden: also methodische Ansätze und Begriffsinstrumentarien liefern. Die Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen Repressionsapparat und Widerstand gewönne zentrale Bedeutung für die Erklärung beider deutscher Diktaturen. Von ähnlicher Bedeutung ist das Verhältnis von Diktatur und Revolution, für dessen Klärung klare Definitionen notwendig und Vergleiche unabdingbar sind.

7 8

9

Dazu: Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995, 41. Kurt Lenk, Methodenfrage der politischen Theorie, in: Hans-Joachim Lieber (Hg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1991, 991-97. Rainer Eckert, Vorläufer der parlamentarischen Demokratie? Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR, in: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hg.), Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis, Berlin 1998, 156-58. Hier auch Angaben zu möglichen Vergleichsfeldern, vgl. 163-66.

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II. Die Revolution als Definitionsversuch zwischen Karl Marx und der Moderne Im Umfeld der gegenwärtigen Diskussion um den Revolutionsbegriff führte Wolfgang Schieder unlängst zu Recht aus, daß es zur Kennzeichnung eines Umbruchs immer eine Fülle von Begriffen gäbe und nichts schwerer auf den Begriff zu bringen sei, als ein plötzlicher Wechsel der geschichtlichen Strukturen.10 Dies gilt in einem besonderen Ausmaß für den Begriff Revolution, der einen solchen Umbruch wohl am deutlichsten akzentuiert. Darüber hinaus steht die Forschung in Bezug auf die Klärung des Verhältnisses zwischen Revolution und Diktatur in der deutschen Zeitgeschichte vor zwei Grundproblemen. Das erste ergibt sich aus der noch immer offenen Frage, ob Nationalsozialismus und „Drittes Reich" eine revolutionäre Umwälzung mit sich brachten und die zweite aus der Kontroverse, ob sich das Ende der DDR als Revolution beschreiben läßt. Um in dieser Kontroverse weiter zu kommen, ist Klarheit über den Begriff „Revolution" unumgänglich. Und dabei stoßen wir schnell auf einen überraschenden Sachverhalt: dieser Begriff befindet sich im Wandel und ist noch keineswegs abschließend definiert.11 Aber gerade eine solche allgemein akzeptierte Beschreibung könnte durch vergleichende Forschung entscheidend vorangebracht werden. Bisher kennzeichnet - bezogen auf das Ende der DDR - die Situation jedoch, daß gerade immer wieder altbundesdeutsche Wissenschaftler meinen, es könne sich ja um keine Revolution handeln, da die DDR an innerem System versagen kollabiert sei12 oder es könne nur von einem endogenen Zusammenbruch von Regime, System und Staat die Rede sein, da diese total von der Sowjetunion abhingen.13 Hier scheint ein gewisser Revolutionsneid zum Tragen zu kommen. Aber auch die Unfähigkeit, seit 1968 eine eigene reale Alternative zur sozialen Marktwirtschaft vor-

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Wolfgang Schieder, Die Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989 als Wendepunkte deutscher Geschichte, in: Wolfgang Papenfuß/ders. (Hg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, 6f. Vgl. Rainer Eckert, Die revolutionäre Krise am Ende der achtziger Jahre und die Formierung der Opposition, in: Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. 7/1, Baden-Baden 1995, 668; Georg P. Meyer, Revolutionstheorien heute. Ein kritischer Uberblick in historischer Absicht, in: HansUlrich Wehler (Hg.), 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen 1976, 122. Dazu: Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt 1999, 205. Gerhard Wettig, Das Ende der DDR - Phänomen imperialen Zusammenbruchs, in: Z. Forsch.verbünd SED-Staat (1997), H. 4,4, 11.

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zulegen,14 gemischt mit der Verachtung der Rolle von Volksmassen in der Geschichte könnte eine Rolle spielen. Charles Maier hat ganz Recht - selbst wenn Symptome des Systemversagens auszumachen sind, so schmälert dies die Rolle der Menschen im Herbst 1989 auf den ostdeutschen Straßen keinesfalls. Einen weiteren zentralen Einwand gegen den Revolutionsbegriff formulierte Tilman Fichter schon recht früh, als er meinte, eine klassische Revolution könne es nicht sein, da sie sich unblutig in einem völlig zerrütteten Land vollzogen hätte.15 Und auch dagegen hat wieder Maier Recht mit der Meinung, daß das Ausbleiben gewalttätiger Aktionen nicht die Authentizität des revolutionären Aufstandes schmälere.16 Das Kriterium ist nicht das Blutvergießen, sondern die Mobilisierung der Menschen und ein schneller Sieg spricht auch nicht gegen die Beschreibung eines Umbruchs als Revolution. In dieser offenen Situation eines Definitionsstreits scheint ein Blick auf die Versuche einer begrifflichen Fassung von „Revolution" in den letzten 150 Jahren sinnvoll und notwendig. Geradezu zwangsläufig stoßen wir hier auf Karl Marx, der bereits 1843/44 meinte, daß sich Elemente der bürgerlichen Revolution verallgemeinern lassen und mit dieser Auffassung Ansätze zu einer historischen Theorie der Revolution entwickelte.17 Dem folgte gemeinsam mit Friedrich Engels 1847 im Kommunistischen Manifest der Aufruf zur Revolution. Sie betrachteten dabei „revolutionären Terrorismus" als eine Maßnahme, die Todeswehen der alten und die Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen.18 Neben der These von der Diktatur des Proletariats als „proletarischer Schreckensherrschaft" übernahm Marx, bezogen auf die Revolution von 1848, von Friedrich Engels die Auffassung, die Revolution wäre mit Blick auf den russischen Zarismus nur möglich, wenn sie die Gestalt eines europäischen, ja eines Weltkrieges annehmen würde,19 um die „blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen".20 Weiter meinte Marx: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede

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Peter Hübner, Von der friedlichen Herbstrevolution bis zur deutschen Einheit - das Erbe, in: Alexander Fischer/Maria Haendcke-Hoppe-Arndt (Hg.), Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands, Berlin 1991, 83. Tilman Fichter, Die SPD und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit, Berlin 1993, 30. Maier, Verschwinden der DDR, 206. Heinrich August Winkler, Die unwiederholbare Revolution. Über einen Fehlschluß von Marx und seine Folgen, in: ders., Streitfragen der deutschen Geschichte, München 1997, 11. Ders., Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, 143. Ebd., 114, 127. Ebd., 143; vgl. Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW, VII, Berlin 1960, 89f.; ders./Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies., Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, I, Berlin I968 lfi , 57; dazu: Wladimir I. Lenin, Die revolutionären Marxisten auf der internationalen sozialistischen Konferenz vom 5. - 8. September 1915, in: Werke, XXI, Berlin 19776, 397.

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Revolution stürzt die alte Gewalt, insofern ist sie politisch."21 Weitere Kriterien der marxistischen Theorie für die Beschreibung von Revolutionen bzw. von revolutionären Situationen waren, daß die „oben" nicht mehr so können, wie sie wollen, die herrschende Klasse ihre Macht also nicht mehr unverändert aufrechterhalten kann und die „unten" nicht mehr so wollen wie ihre Herren, daß sich also Not und Elend der unterdrückten Klassen über das gewöhnliche Maß hinaus verschärfen mußten.22 Unter solchen Umständen würden sich die Aktivitäten der Massen im Klassenkampf verstärken. Weiterhin gingen Marx und Engels von einer gesetzmäßigen, also zwangsläufigen Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft aus, die durch das Spannungsverhältnis von sich entwickelnden Produktivkräften und den damit nicht Schritt haltenden Produktionsverhältnissen bedingt sei.23 So würde in jeder antagonistischen Klassengesellschaft eine überlebte ökonomische Gesellschaftsformation durch eine progressivere abgelöst werden - bis die Menschheit im klassenlosen Kommunismus den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht. Das Mittel dieser ruckartigen Entwicklung war die Revolution, wobei von der bürgerlichen auf die proletarische Revolution geschlossen wurde. Und gerade hier lag der Fehlschluß, der sich in erster Linie darin gründete, daß das Bürgertum zu keinem Zeitpunkt so funktionslos wie der Adel wurde und sich das Proletariat nie zu einem allgemeinen Stand entwickelte.24 Wenn die Revolutionstheorie von Karl Marx auch letztlich gescheitert ist, so scheint die Formulierung „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte" 25 für die Ereignisse 1989/1990 in Ostmitteleuropa doch in beinahe klassischer Form zuzutreffen. Und marxistisch gedacht gilt dies nicht weniger für die Aussage, daß immer dann eine Epoche sozialer Revolutionen eintreten würde, wenn die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch zu den vorhandenen Produktionsverhältnissen geraten würden.26 So waren im Zyklus der ostmitteleuropäischen Revolutionen Computer, Internet und weltweite Vernetzung nicht mehr mit dem materiellen Reproduktionstyp realsozialistischer Gesellschaften vereinbar.27 Als Folge stürzten die Regierungen und es vollzog sich ein Wechsel in den Eigentumsformen sowie im gesamten gesellschaftlichen System. 21

Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, in: MEW, I, Berlin 1956, 409.

22

Wladimir I. Lenin, Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: ders., Werke, XXXI, Berlin 1959, 71.

23

Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, XIII, Berlin 1961, 8f.

24

Winkler, Unwiederholbare Revolution, S. 21.

25

Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, in: ders. /Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, I, Berlin 1968, 199.

26

Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: ebd., 336; dazu: Wladimir I. Lenin, Karl Marx (Kurzer biographischer Abriß mit einer Darlegung des Marxismus), in: Werke, XXI, 44.

27

Dazu: Dennis L. Bark, Außenpolitische Bedingungen der deutschen Einheit. Die „Supermächte", in: Der Weg zur Wiedervereinigung, Berlin 2000, 11-26.

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Bei der Frage nach der Gewalt als Bestandteil einer Revolution ist dagegen der Befund differenzierter. So waren schon die Aussagen der immer wieder als revolutionäre Kronzeugin bemühten Rosa Luxemburg zur Revolution und zur Anwendung von Gewalt durchaus ambivalent. So bejahte sie zum einen, daß die Geschichte der bisherigen Revolutionen zeigen würde, daß gewaltsame Volksbewegungen elementare, sich mit Naturgewalt durchsetzende soziale Phänomene seien, die ihre Quelle im Klassencharakter der modernen Gesellschaft hätten.28 Aus dieser Sicht heraus war für Luxemburg Gewalt die ultima ratio der Arbeiterklasse und die klare Einsicht in die Notwendigkeit der Gewaltanwendung unerläßlich.29 So wäre kein ernsthafter politischer Umsturz auf „legalem", friedlichem Weg möglich.30 Und am 18. November 1918 schrieb Luxemburg in der „Roten Fahne", daß der Bürgerkrieg nur ein anderer Name für den Klassenkampf sei, und daß ohne diesen Klassenkampf der Sozialismus nicht einzuführen wäre.31 Die Idee der Errichtung einer sozialistischen Herrschaft durch einen parlamentarischen Mehrheitsbeschluß war für sie in diesem Kontext nichts anderes als eine lächerliche, kleinbürgerliche Illusion. Andererseits führte die Revolutionärin - und im Gegensatz dazu - jedoch auch den Begriff der „friedlichen Revolution" ein und meinte, diese müsse die Antwort der revolutionäre Masse auf die hochgerüstete Staatsmacht sein.32 Und im ähnlichen Sinn meinte Luxemburg, daß Revolution mehr als reines Blutvergießen sei.33 Auch über den Zeitpunkt einer Revolution machte die revolutionäre Denkerin weit vorausblickende Aussagen - dieser sei in einer Diktatur nämlich dann gegeben, wenn unter den Bedingungen des Fehlens allgemeiner Wahlen, von Presse- und Versammlungsfreiheit sowie eines unterbundenen freien Meinungskampfes den proletarischen Parteiführern die von ihr beschriebene „unerschöpfliche Energie" und der „grenzenlose Idealismus" abhanden gekommen sind und ihnen so weder die „Elite der Arbeiterschaft" noch eine nennenswerte Zahl der übrigen Bevölkerung zu folgen bereit sind. Und auch mit der Betonung der Wichtigkeit einer spontanen Massenbewegung befand sie sich im Widerspruch zum russischen Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin, zu dessen Politik sie im Gefängnis schrieb: „Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das sind alles Palliative. Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt: die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert."34

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Rosa Luxemburg, Und zum dritten Male das belgische Experiment, in: dies., Gesammelte Werke, 1/1, Berlin 1988, 241. Ebd., 247. Dies., Dem Andenken des „Proletariat", in: ebd., 356. Winkler, Weg, 385. Rosa Luxemburg, In revolutionärer Stunde. Was weiter? in: dies., Werke, 1/1, 567. Dies., Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: ebd., II, Berlin 19864, 129. Dies., Zur russischen Revolution, in: dies., Werke, IV, Berlin 1974, 361 f.

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Aber auch die Aussagen Lenins zur Revolution waren widersprüchlich. Grundsätzlich erweiterte er die Marxsche Revolutionstheorie auf ein unterentwickeltes Land, was bei Stalin zur Revolution in einem Land mutierte, und beide waren gleichermaßen bereit, eine neue Gesellschaft auch dann aufzubauen, wenn die sozialökonomischen Verhältnisse dazu nicht gegeben waren.35 Dabei betonte Lenin immer wieder die notwendige Verbindung von Revolution, vom ihm als Festtag der Unterdrückten und Ausgebeuteten interpretiert, und Gewalt, ja Krieg.36 So führte er die Formen der Gewalt verschiedentlich auch dezidiert aus: es waren Bürgerkrieg, Todesstrafe und Erschießungen.37 An anderer Stelle korrigierte sich jedoch selbst Lenin und er lehnte die Auffassung ab, daß eine Revolution immer und unvermeidbar mit dem bewaffneten Aufstand als Kampfform verbunden sein müsse.38 So meinte er, eine Revolution könne durchaus mit einer friedlichen Entwicklung verbunden sein, allerdings wäre dies eine außerordentlich schwierige und seltene Sache.39 Jedoch wären Bedingungen denkbar, unter denen die eigentlich zu bejahende Gewalt keine Ergebnisse zu zeitigen vermöge40 und weiter meinte Lenin, daß viel wichtiger als revolutionäre Gewalt die Organisation der Werktätigen sei.41 Insgesamt war - wie Heinrich August Winkler ausführte - der Leninismus eine despotische Reaktion auf Jahrhunderte despotischer Tradition. Und es war der falsche Rückschluß von der Französischen Revolution auf die russischen Verhältnisse.42 Aber trotz des Scheiterns wesentlicher Elemente der marxistisch-leninistischen Revolutionsverständnisses43 lassen sich einzelne ihrer Aussagen auf das Ende der DDR und anderer realsozialistischer Systeme anwenden. Dagegen ist das von Guntolf Herzberg in der gegenwärtigen Diskussion überraschend verwandte Argument, die Revolution in der DDR habe keine ökonomischen Gründe gehabt und deshalb

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Antonio Gramsci, Die Revolution gegen das „Kapital", in: Harald Neubert (Hg.), Antonio Gramsci - ein vergessener Humanist? Berlin 1991, 31; dazu: Stefan Bollinger, 1989 - eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR? Berlin 1999, 19. Wladimir I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: ders., Werke, XXVII, Berlin 1960, 255; ders., Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in: Werke, IX, Berlin 19777, 103, 118; ders., Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: ders., Werke, V, Berlin 1955, 535. Ders., Nächste Aufgaben, 255; ders., Rede auf dem V. Gesamtrussischen Sowjetkongreß, Juli 1918, in: ders., Werke; XXVII, Berlin 1960, 519. Ders., Seltsames und Ungeheuerliches, in: ebd., 56. Ders., Die russische Revolution und der Bürgerkrieg, in: ders., Werke, XXVI, Berlin 1961, 20. Ders., Erfolge und Schwierigkeiten der Sowjetmacht, in: ders., Werke, XXIX, Berlin 19654, 43; ähnlich: ders., Seltsames und Ungeheuerliches. Ders., Gedenkrede für J. M. Swerdlow an 18. März 1919, in: ders., Werke, XXIX, Berlin 196524, 74. Winkler, Unwiederholbare Revolution, 30. Auf die sozialdemokratische Revolutionsdiskussion bei Eduard Bernstein, Karl Kautsky u.a. kann hier nicht eingegangen werden.

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könne diese Theorie nicht angewandt werden,44 nicht stichhaltig. Denn es ist ganz im Gegensatz so, daß der Hintergrund für die Handlungsunfähigkeit der SED und für die Massenflucht der Ostdeutschen gerade die wirtschaftliche Misere war. Wie im marxistischen Modell kollidierten in der DDR Produktivkräfte mit Produktionsverhältnisen, die eingeführten Herrschaftsverhältnisse „funktionierten" nicht mehr und so entstand eine klassische revolutionäre Situation.45 Zur Erkenntnis der Gültigkeit von Elementen der Leninschen Revolutionsauffassung für den Herbst 1989 kam als erster Karl Wilhelm Fricke bereits 1990 mit seinem Modell der demokratischen Revolution in der DDR.46 Dies begründete er damit, daß in der DDR sich eine tiefgreifende radikale Veränderung der politischen bzw. sozial-ökonomischen Strukturen vollzogen habe, ein Wechsel der - anders als 1945 - jedoch „von unten" erfolgt sei. Diese „Revolution von unten" - meinte er weiter, habe genau 200 Jahre nach der französischen Revolution abermals ein überlebtes Regime durch eine Levée en masse überwunden. Über diese Auffassung hinaus gilt es weitere theoretische Ansätze auf ihre Anwendbarkeit auf die Ereignisse in der DDR und in Ostmitteleuropa zu prüfen. Guntolf Herzberg hat wesentliche zusammengefaßt.47 So verwies Ralf Dahrendorf auf die Schnelligkeit, Gewaltsamkeit und die tiefgreifenden Wirkungen von Revolutionen, Hannah Arendt hielt ebenfalls die Anwendung von Gewalt zur Herstellung einer neuen politischen Ordnung mit dem Ziel der Konstituierung der Freiheit für wesentlich und auch S. P. Huntington ging bei seiner Revolutionsdefinition von einer schnellen, grundlegenden und gewaltsamen inneren Veränderung aus. Und auch noch heute gültig ist Ossip K. Flechtheims schon klassische Definition: „Ziel der Revolution ist eine tiefgehende Umgestaltung der politischen, sozialen oder ökonomischen Verhältnisse in verhältnismäßig kurzer Zeit. Die großen Revolutionen der Weltgeschichte waren meist von blutigen Ereignissen begleitet, doch kann man Revolution nicht einfach mit blutigem Aufstand oder Bürgerkrieg gleichsetzen."48 Bemerkenswert ist hier die Entkoppelung von Revolution und Gewalt, die Bestätigung der Marxschen Auffassung, daß Revolutionen die „ruckartige Nachholung verhinderter Entwicklungen" seien und daß sie die Rückständigkeit juristischer Institutionen, der Gesellschafts- bzw. Wirtschaftsstruktur hinter der industrielltechnischen Entwicklung aufholen. Dazu kommt, daß Revolutionen systemimma44 45

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Guntolf Herzberg, Keine Wende, sondern Revolution, in: Horch & Guck 8 (1999), H. 4, 70. Peter Hübner, Von der friedlichen Herbstrevolution 1989 bis zur deutschen Einheit - das Erbe, in: Weg zur Realisierung, 63. Karl Wilhelm Fricke, Die demokratische Revolution in der DDR, in: Jb. Extremismus & Demokratie 2 (1990), 77-95, vgl. auch ders., Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR, Berlin 2000, 525-38, Fricke bezieht sich auf Wladimir 1. Lenin, Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale, in: ders., Werke, XXI, Berlin 1960, 206. Zum Folgenden Herzberg, Wende, 70-74; grundsätzlich dazu: A.S. Cohen, Theories of Revolution, London 1975. Ernst Fraenkel/Karl Dietrich Bracher (Hg.), Staat und Politik, Frankfurt 1971, 297.

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nent nicht lösbare Funktionsstörungen beseitigen und so dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen. Hier werden Revolutionstheoretiker wohl schnell zu einem Einverständnis gelangen, etwas anderes ist der immer wieder strittige Punkt der Gewaltanwendung. So meint der amerikanische Revolutionshistoriker Charles Tilly, Revolution wäre mit rachsüchtiger Gewaltanwendung verbunden.49 Darüber hinaus würden die klassischen Revolutionen der Weltgeschichte von einer durch eine Klasse gegebene Basis, eine charismatische Vision, den Glauben an Politik als Instrument konstruktiver Erneuerung und den Widerstand der alten Machthaber gegen ihre Ablösung gekennzeichnet werden - und all dies hätte in der DDR gefehlt.50 Und zum Schluß soll auch noch die Auffassung eines Klassikers der Revolutionstheorie, des Amerikaners Crane Brinton zitiert werden, der bevorzugt die Französische Revolution von 1789, aber auch die englische Revolution von 1640, den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und die Revolution in Rußland untersuchte.51 So meinte er, Revolution sei ein etwas verschwommener Begriff, der aber einen zentralen Bedeutungskern habe. Dazu würden vielleicht Gewalt und Terror gehören, ganz sicher jedoch die drastische und plötzliche Ersetzung der mit der Lenkung einer politischen Gebietseinheit betrauten Gruppe durch eine andere.52 Revolutionen würden immer im Namen der Freiheit gemacht werden, sie würden mit erheblichen Eigentumswandel, Sturz einer herrschenden Klasse und Aufstieg einer anderen herrschenden Klasse verbunden sein. Vorbedingungen für die Entstehung einer revolutionären Situation seien der Abfall der Intellektuellen, das schlechte Funktionieren der Verwaltung und der Selbstzweifel der Herrschenden.53 Dazu kämen der finanzielle Zusammenbruch, der Zusammenschluß der Unzufriedenen zu einer Bewegung und die mangelnde Fähigkeit der Herrschenden zur Gewaltanwendung. Wie es um alle diese Argumente steht, wird im Folgenden zu zeigen sein.

III. Die „nationalsozialistische Revolution" - eine Form von Modernisierung? Vorher soll jedoch noch ein Blick auf die sogenannte nationalsozialistische Revolution geworfen werden. Hier vertritt Wolfgang Schieder die Auffassung, daß in der 49

Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen, München 1993, 334.

50

Tilly bezieht sich auf S. N. Eisenstadt, The breakdown o f Communist regimes, in: Daedalus 121, H. 2, 21-42, der allerdings bei der Beantwortung, ob die Ereignisse in Osteuropa zwischen 1989 und 1992 eine Revolution waren, zum Urteil eines vagen „vielleicht" kommt.

51

Crane Brinton, Die Revolution und ihre Gesetze (1938), Frankfurt 1959.

52

Ebd., 12.

53

Ebd., 350-52.

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Geschichtswissenschaft das Jahr 1933 öfter als die anderen Schicksalsjahre deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts unter Revolutionsverdacht steht und zwar als Jahr einer „braunen" oder einer „alternativen Revolution".54 Bei schärferer Analyse ist feststellbar, daß Interpretationsansätze des Nationalsozialismus bzw. der Übertragung der Macht an Hitler als Revolution in aller Regel mit modernisierungstheoretischen Ansätzen verbunden sind.55 Marxistische Historiker gehen im Gegensatz dazu in der Regel von der These aus, daß diese Machtübertragung bei oberflächlichen Veränderungen der gesellschaftlichen Formen und institutionellen Rahmenbedingungen keinen Wechsel in der gesellschaftlichen Grundsubstanz gebracht hätte. Andererseits meinen „liberale" Historiker - anknüpfend an frühe Äußerungen von David Schoenbaum und Ralf Dahrendorf - man könne von einer sozialen Revolution sprechen, da mit der Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Gesellschaftsstrukturen durch den Nationalsozialismus ein Stoß in die Moderne verbunden gewesen sei. Eher konservative Historiker scheinen dagegen dazu zu neigen, zumindest die Machtübertragung an Hitler als Revolution zu begreifen, eine Revolution, die auf der Straße stattfand und mit administrativer Gleichschaltung sowie formeller Legalisierung von oben verbunden war.56 So bezeichnete Klaus Hildebrandt den Nationalsozialismus auch als „Revolution gegen die Revolution" und Karl Dietrich Bracher sprach von der „doppelten Revolution", dem totalen Triumph 1933 und der totalen Widerlegung 1945.57 Der Streit um den Nationalsozialismus als Revolution hat aber noch eine weitere methodisch interessante Seite. Dies ist das Problem, ob sich der Historiker auf Selbstbenennungen von Diktatoren einlassen kann oder soll. Der Schlüsselbegriff der Nationalsozialisten „legale Revolution" ist, wie Bracher feststellte, in sich ein Paradoxon, da eine Revolution kein im Rahmen von Recht und Verfassung verlaufender Vorgang sei.58 Daran kann auch nichts ändern, daß Hitler bereits in der Kabinettssitzung vom 7. März 1933 die politischen Ereignisse selbst als Revolution bezeichnete und dies - wie auch andere fuhrende Nationalsozialisten - immer wieder mit dem Zusätzen „legal", „national" oder „nationalsozialistisch" wiederholte. Die Selbstbenennung von Diktatoren sollte in jeden Fall äußerst kritisch überprüft werden59 und dies gilt besonders bei dem Versuch der Nationalsozialisten, „Revolution" zu einem positiven Kampfbegriff zu formen. Und genauso ist auch nach der Zielsetzung solcher Bemühungen zu fragen, die bei Adolf Hitler stark

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Schieder, Umbrüche, 6.

55

Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1988, 271.

56

So Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986, 259.

57

Klaus Hildebrandt, Das Dritte Reich, München 1987 3 , 229, 233.

58

Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1966 2 , 215.

59

Zur Selbstverständlichkeit der Verwendung des Begriffs Revolution durch die Nationalsozialisten vgl. Karlheinz Weißmann, Der Weg in den Abgrund, 1933-1945, Berlin 1995, 103.

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Zielsetzung solcher Bemühungen zu fragen, die bei Adolf Hitler stark außenpolitisch motiviert waren.60 Letztlich ist es wohl so - wie auch Ian Kershaw meint -, daß mit der Herrschaft Hitlers sowohl reaktionäre als auch modernisierende Wirkungen verbunden waren. Entscheidend war jedoch nicht der Nationalsozialismus als Sozialrevolution, sondern seine Zerstörung mit dem Ende der seit dem Bismarck-Reich in Deutschland herrschenden autoritären Stukturen.61 In den Jahren des „Tausendjährigen Reiches" war dagegen in der Wirtschaft das kapitalistische System weitgehend erhalten geblieben und auch die Machtpositionen traditioneller Eliten hatten die Nationalsozialisten kaum angetastet.62 Zwar gab es wichtige Ergebnisse der Machtübergabe wie die Gleichschaltung der Länder, bereits in den ersten Jahren von Hitlers Herrschaft, 63 doch rechtfertigt dies nicht, von einer Revolution zu sprechen. Der Realität näher kommt dagegen die Auffassung, daß die grundlegenden Veränderungen des politischen, sozialen und gesellschaftlichen Gefüges Deutschlands Folge eines mörderischen Angriffskrieges und eines von außen erzwungenen Zusammenbruchs waren. Dies ließ unter dem Einfluß der jeweiligen Besatzungsmacht dann ganz unterschiedliche Entwicklungen zu: sowohl die zur stalinistischen Diktatur als auch die zur freiheitlichen Demokratie. Die Diskussion darüber, ob der Nationalsozialismus eine Revolution war, hat insofern eine Ähnlichkeit mit dem Streit über das Ende der DDR, daß man in beiden Fällen wie Kershaw anmerkte - ein semantisches Minenfeld betritt, und daß bei der Entscheidung für oder gegen den Terminus persönliche Vorlieben eine große Rolle spielen.64

IV. Friedliche Revolution oder „Wende" - das Ende der DDR, eine Zwischenbilanz Bei einer ersten Betrachtung der Situation in Ostmitteleuropa am Ausgang der achtziger Jahre fällt auf, daß der Gedanke an die Möglichkeit einer „friedlichen Re-

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Bedrich Löwenstein, Nationalsozialistische Revolution. Einige Fragezeichen zur historischen Begrifflichkeit, in: Thomas Nipperdey u.a. (Hg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte, Berlin 1993, 127. Heinrich August Winkler, Vom Mythos der Volksgemeinschaft, in: AfS 17 (1977), 490. Dietrich Orlow, Einige Bemerkungen zum Wettbewerb der Umbruchsdaten in der deutschen Zeitgeschichte, in: Umbrüche, 492f. Winkler, Weg, 10. Kershaw, NS-Staat, 256.

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volution" bei den Dissidenten durchaus präsent war.65 Für die Bürgerrechtler der DDR galt solches allerdings nicht. Allerdings änderte sich dies im Herbst 1989 schlagartig. Jetzt war es sowohl in der Politik - später auch in den Sitzungen der ersten frei gewählten Volkskammer66 - als auch in der Publizistik fast selbstverständlich, von einer friedlichen Revolution, einer deutschen Revolution, der Oktoberrevolution bzw. Novemberrevolution, einer demokratischen, sanften protestantischen 67 oder einer nachholenden Revolution zu sprechen.68 Auch verwiesen die oppositionellen „Umweltblätter" bereits im September 1989 - also zu einem Zeitpunkt als wohl noch sämtliche Politiker und wissenschaftliche Sachkenner an die erprobte Stabilität der DDR glaubten - darauf, daß im Lande so etwas wie eine revolutionäre Situation herrsche.69 Und nach dem Fall der Mauer wandte sich das „Neue Forum" mit einem Aufruf an die Ostdeutschen, in dem diese als „Helden einer politischen Revolution" angesprochen wurden.70 Diese fast selbstverständliche Verwendung der Begriffe Revolution oder revolutionäre Situation änderte sich erst in den folgenden Jahren mit der zunehmenden Ungewißheit der Akteure, was sie denn nun wirklich zustande gebracht hätten, mit dem zunehmenden Gefühl westlicher Überfremdung und östlicher Unzufriedenheit. Allerdings wird mit voranschreitender Forschung der Begriff der Revolution wieder verstärkt angewandt und theoretisch reflektiert.71 So meinte Detlef Pollack unlängst vorsichtig, die Ereignisse in der DDR könnten wohl als Revolution bewertet werden, doch sei deren Zustandekommen weniger den Anstrengungen der beteiligten Akteure geschuldet, als dem umstrukturierendem Wirken einer systemischen Krise, die das existierende System gegenüber auftretenden Herausforderungen verletzlich machte.72 In Anlehnung an ein Modell von Pierre Bourdieu ging er davon aus, daß der Umbruch in der DDR nur als Folge des Zusammenwirkens ursprünglich ge65

Wolfgang Leonhard stellte dies schon Mitte der siebziger Jahre fest: Am Vorabend einer neuen Revolution? Die Zukunft des Sowjetkommunismus, München 1975, 39-403.

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Vgl. etwa die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere am 19. April 1990, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Protokolle der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode (5. April bis 2. Oktober 1990), I, Opladen 2000, 41-51.

67

Ehrhart Neubert, Bemerkungen zur „protestantischen Revolution", in: Z. Forsch.verbund SED-Staat, 1997, H. 4, 26. Hartmut Zwahr, Die Revolution in der DDR 1989/1990 - eine Zwischenbilanz, in: Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg.), Die politische „Wende" 1989/90 in Sachsen, Weimar 1995, 206f. Zur derzeitigen politischen Situation in der DDR, in: Umweltblätter, September 1989,10. „Die Mauer ist gefallen", in: Die ersten Texte des Neuen Forum, Berlin 1990, 20; vgl.: Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, 288. Allerdings konnte der Begriff „Wende" inzwischen sogar in einem eher konservativen Umfeld Fuß fassen, vgl.: Politische „Wende" 1989/90 in Sachsen. Im gleichen Band wird jedoch auch der Begriff Revolution verwandt. Vgl.: Zwahr, Revolution, 205-52. Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000, 13.

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trennt wirkender Kausalreihen, die sich parallel entwickelten und erst in einem bestimmten Moment in Interaktion traten, erklärlich sei. Diese Einsicht ist indes so banal, daß das eigentlich Erstaunliche an ihr ist, daß bisher nur wenige auf sie gekommen sind. Darüber hinaus vermag sie die Verknüpfung langfristiger Strukturblockaden der Modernisierung in der DDR mit kurzfristigen Ereignissen des Herbstes 1989 nicht zu erklären.73 Noch fragwürdiger wird Pollacks Auffassung wenn er zu den Bewegungen, die die Ereignisse des Herbstes 1989 bedingten, neben der Bürgerrechtsbewegung, den Massendemonstrationen und der Fluchtbewegung auch die „Bewegung der kommunistischen Reformer" zählt. Die Fragwürdigkeit einer solchen Auffassung wird klar, hält man sich vor Augen, daß die vorsichtigen Kritiker innerhalb der SED weder eine Bewegung waren, noch sich so verstanden. Auch ging es Personen wie Egon Krenz oder Günter Schabowski nicht um einen wirklichen Wandel, sondern im Kern um die Erhaltung oder Erlangung von Macht. Trotz Bewertungen der Ereignisse von 1989 wie der durch Pollack sind auch heute noch ganz unzureichende und indiskutable Begriffe im Gebrauch. Dazu gehören „Aufbruch", „Umbruch", „Umsturz", Zusammenbruch,74 „Kollaps der DDR" 75 ebenso wie die Beschreibung der Vorgänge durch orthodoxe Kommunisten, die eine „Konterrevolution" und anschließende Restauration ausmachen76 und verbreitet ist (oft mit abfälligem Unterton) von einer Implosion die Rede.77 Im alltäglichen Sprachgebrauch dominiert dagegen der sozialwissenschaftlich nicht faßbare und auf Egon Krenz zurückgehende Begriff „Wende", an den eine ernsthafte Diskussion nicht verschwendet zu werden braucht.78 Aber auch Bürgerrechtler wie Wolfgang Ullmann bestehen auf diesem Begriff.79 Und letztlich ist es so, daß „Wende" vielleicht gerade wegen ihrer Beliebigkeit und Neutralität zumindest alltagssprachlich bleibend sein wird.80 So impliziert die Neutralität des Begriffs einen unpersönlichen Prozeß, der keine Stellungnahme erfordert, in dem also auch die eigene Rolle nicht thematisiert zu werden braucht. „Wende" erfordert für die Unbeteiligten kein weiteres Nachdenken, Altkommunisten gebrauchen ihn mit abwertender Absicht und gescheiterte Altachtundsechziger verbergen dahinter ihre Enttäuschung, selbst als Re73

Konrad H. Jarausch, Implosion oder Selbstbefreiung? Zur Krise des Kommunismus und der Auflösung der DDR, in: Umbrüche, 550.

74

Dazu: ders., Etiketten mit Eigenleben. Wende, Zusammenbruch, friedliche Bürgerrevolution, in: Das Parlament 50 (2000), H. 34/35, 1. Zwahr, Revolution, 210. Werner Röhr, Die Regression der DDR zur Anschlußzone, in: Neues Deutschland 273.10.1993, 10. Rolf Reißig, Transformationsprozeß Ostdeutschlands, in: ders. (Hg.), Rückweg in die Zukunft. Über den schwierigen Transformationsprozeß in Ostdeutschland, Frankfurt 1993, 13. Erwähnt werden soll jedoch, daß Hartmut Zwahr versuchte, die Begriffe „friedliche Revolution" und „Wende" zu verschmelzen: Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, 166. Herzberg, Wende, 69. Dazu: Zwahr, Revolution, 207-10.

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volutionäre versagt zu haben. Und Jens Reich hat auch mit seiner Meinung recht, daß mit dem Begriff „Wende" heute jeder umgehen kann, während bei dem emphatischen Begriff Revolution der Mehrheit klar wird, daß sie nur Zuschauer war81 und viele Bürgerrechtler im Rückblick nicht glauben wollen, was sie wirklich zustande brachten. Also besteht die Stärke des Begriffs „Wende" gerade darin, daß seine Neutralität und seine Unpersönlichkeit einen Prozeß nahelegen, zu dem sich der Nichtbeteiligte mit freundlicher Gelassenheit oder mit kritischer Ablehnung der Akteure und Ergebnisse verhalten kann. Dagegen klingt Revolution wohl zu pathetisch, ist mit überlebensgroßen Ereignissen der Vergangenheit verbunden, mit denen sich die Heutigen nicht gleichsetzen wollen oder können.82 Aber dabei geht es um Gefühle, die über den wirklichen analytischen Wert eines Begriffs wenig aussagen. Eine weitere Wurzel für solches Urteilen könnte auch daran liegen - wie Charles Maier ausführte - daß soziologisch geschulte Betrachter zuerst die inneren Systemwidersprüche ausmachen, die zum Systemzusammenbruch fuhren mußten, oder ein spezifisches Revolutionsmodell wie das der großen Französischen Revolution als alleingültigen Bewertungsmaßstab im Sinne haben.83 Aber die DDR brach nicht durch eine Implosion unerwartet und plötzlich zusammen, sondern ihre Herren scheiterten an dem explosionsartig zunehmenden Demonstrationen.84 Auch kann keine noch so bedeutende und erfolgreiche Revolution des 18. Jahrhunderts, die Beurteilung anderer radikaler Umbrüche für alle Zeiten determinieren. Und auch Jarauschs Argument ist bedenkenswert, der davor warnt, daß immer noch jakobinische, bolschewistische oder maoistische Verständnisse von Revolution die Diskussion dominieren könnten, und daß dies zur Folge hätte, einen revolutionären Aufbruch unlösbar mit Terror, Putsch einer disziplinierten Kaderpartei oder mit einem revolutionären Bürgerkrieg zu verbinden. Im Zusammenhang mit dem hier angedeuteten Streit um die Definitionen hat Habermas' Ansicht von einer „nachholenden" Revolution bzw. nach Michael Richter einer „wiederholenden" bürgerlichen Revolution Plausibilität.85 Aber auch Ehrhart Neuberts Beschreibung als protestantische Revolution hat für die Ereignisse in

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Jens Reich, „Von den eigentlichen Helden kennen wir die Namen nicht", in: Der Tagesspiegel 9.11.1999, 3. Jarausch, Implosion, 555, Charles S.Maier, Die Umwälzung in der DDR und die Frage einer deutschen Revolution, in: Konrad H. Jarausch/Matthias Middell (Hg.), Nach dem Erdbeben. Rekonstruktion ostdeutscher Geschichte und Geschichtswissenschaft, Leipzig 1994, 339f., 348. Zwahr, Revolution, 225. Jürgen Habermas, Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute? In: ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt 1990, 179-204; Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR, 1945-1989, Frankfurt 1992; Michael Richter, Zum nationalen Charakter der friedlichen Revolution in der DDR, in: Z. Forsch.verbünd SED-Staat, 1997, H. 4, 21.

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der DDR viel für sich,86 nicht jedoch für den gesamten Revolutionszyklus in Mittelosteuropa. Allerdings ist seine Auffassung von 1990, daß diese Revolution Ausdruck eines weltweit bevorstehenden Paradigmenwechsels sei, wohl eher dem Enthusiasmus ostdeutscher Revolutionszeiten geschuldet als nüchterner Analyse. Die hier ausgedrückte Hoffnung auf gesellschaftliche und politische Veränderungen industriegesellschaftlicher Lebensweisen und Organisationsformen ist zwar immer noch aktuell, gleichzeitig aber am Anfang des 21. Jahrhunderts in weite Ferne gerückt.87 Etwas anderes ist es jedoch wie Neubert zu fragen, ob 1989 nicht ein neuer Revolutionstyp: friedlich, gewaltlos und mit ungeheurer Dynamik geboren wurde, der die Zukunft auch außerhalb Europas prägen könnte. Auch Jürgen Kockas Versuch, das Gesamtgeschehen in der DDR als demokratische Revolution und Selbstbefreiung der Ostdeutschen zu begreifen, erfaßte die Vorgänge sehr früh und präzis.88 Das gilt ebenso für die Einbettung der Ereignisse in einen mittelosteuropäischen Revolutionszyklus durch Kocka und für die These des durch sie ermöglichten Übergangs zur europäischen Normalität. Andere Beschreibungen lassen dagegen eher Fragen offen. Das gilt für eine Analyse der Befragungen Leipziger Bürger und von Mitgliedern von Oppositionsgruppen, als deren Ergebnis eine „volkseigene Revolution" ohne Revolutionäre steht.89 Und auch Hartmut Zwahr, der wohl wichtigste Chronist und Analytiker des Herbstes 1989, versuchte die Quadratur des Kreises mit der Einschätzung: „Die friedliche Revolution brachte die Wende", da sie einen Machtwechsel und darüber hinaus einen Systemwechsel nach sich zog.90 Konrad Jarausch meinte dagegen anfänglich, die Implosion des ostdeutschen Staates mit dem Begriff der sozialen Revolution und einer „Wende in der Wende" vereinen zu können.91 Auch an anderer Stelle war er inkonsequent. Das gilt besonders für die gemeinsam mit Volker Gransow vertretene Meinung, daß es sich „lediglich" um eine „zivilgesellschaftliche Bürgerrevolution der Intellektuellen" gehandelt habe.92 Gerade das Gegenteil ist der Fall: nicht die systemkonformen und korrumpierten Intelligenzler der DDR trugen die Revolution, sondern die Alltagsmenschen auf den Straßen. Inzwischen hat jedoch auch Jarausch seine Position geändert, wenn er in jüngeren Veröffentlichungen meint, daß „Revolution" zwar einen pathetischen Beigeschmack habe, daß der

86

Ehrhart Neubert, Eine protestantische Revolution, Berlin 1990, 5-7, 112.

87

Um zu dieser Einsicht zu kommen muß man nicht Anhänger von Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte. W o stehen wir? München 1992) sein.

88

Jürgen Kocka, Revolution und Nation. Zur historischen Einordnung der gegenwärtigen Ereignisse, in: Tel Aviver Jb. f. dt. Gesch. 19 (1990), 479-99.

89

Karl-Dieter Opp u.a., Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993, 202.

90

Zwahr, Selbstzerstörung, 7-9.

91

Jarausch, Unverhoffte Einheit, 174, 206, 305.

92

Die deutsche Vereinigung: Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hg.), Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt, Köln 1991, 17.

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Revolution oder „Wende"

Begriff aber zum Aufbegehren der Regimekritiker und zum Machtwechsel passe.93 Allerdings handele es sich um den neuen Typus einer Bürgerrevolution mit dem Zusammenwirken von engagierten Bürgerrechtlern und unzufriedenen Normalbürger. Aber auch die bereits erwähnte Auffassung des amerikanischen Revolutionstheoretikers Charles Tilly, daß Revolutionen mit Gewaltanwendung verbunden sind, ist für die DDR und die anderen Länder Mittelosteuropas zutreffend. Dies gilt auch für seine These, daß in einer Revolution mindestens zwei Machtblöcke den Anspruch auf die Macht im Staat stellen und dabei jeweils von Teilen der Bevölkerung unterstützt werden, sowie daß die bisher Herrschenden nicht in der Lage sind, die Ansprüche ihrer Herausforderer zu unterdrücken.94 Auch Tillys Auffassung, daß die in einer Revolution zur Macht kommende neue Koalition auch Teile der alten herrschenden Kräfte enthalten kann, trifft zu. Dagegen irrt er, wenn er meint, daß die Revolutionäre über starke militärische Kräfte verfugen müssen. Dies ist genau dann nicht der Fall, wenn das Militär der Herrschenden - wie es die Streitkräfte der SED waren - moralisch so demotiviert ist, daß es sich nicht mehr einsetzen läßt. Und damit erfüllt sich auch die Bedingung Tillys, der meint, Revolutionen könnten auch dadurch gekennzeichnet sein, daß die bewaffneten Kräfte des Regimes neutralisiert sind oder zum Gegner überlaufen. Das war exemplarisch in Rumänien zu beobachten. Möglich ist jedoch auch, daß, wie in der DDR, die Desintegration der Herrschenden so weit vorangeschritten war, daß sie nicht mehr die Kraft oder den Mut haben, sich ihrer Machtmittel zu bedienen.95 So ist die Gewalt nicht zwangsläufig Bedingung einer Revolution, sondern gefragt werden muß, ob sie angesichts eines desolaten Systems überhaupt nötig ist. Auch ist in der Perspektive westlicher Demokratie wesentlicher als die Gewaltfrage eine Aussage darüber, ob „ein erzwungener Transfer der Macht im Staate" über einen normalen Regierungswechsel hinausgeht und noch dazu System und Verfassung austauscht.96 Ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen den Begriff der Revolution ist letztlich, ob eine grundlegende Veränderung politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller und wissenschaftlicher Strukturen stattfindet.97 Es geht um die Veränderung von Herrschaft durch eine Gruppen- oder Massenbewegung mit einem ideologischen Programm und Revolutionen streben eine andere

93

94 95 96 97

Jarausch, Etiketten; ders., Zehn Jahre danach. Die Revolution von 1989/90 in vergleichender Perspektive, in: ZfG 48 (2000), 909-24. Tilly, Revolutionen, 30, 32, 339-45. Dazu Hannah Arendt, Über die Revolution, München 2000\ 328. Jarausch, Implosion, 556. Wolfgang-Uwe Friedrich, Revolution, in: Rainer Eppelmann u.a. (Hg.), Lexikon des DDRSozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderborn 1996,494.

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gesellschaftliche bzw. politische Ordnung sowie neue Rechtsformen an, welche die bestehenden Verhältnisse grundlegend ändern.98 Und auch Hannah Arendt hat bereits 1963 am Beispiel der französischen und der amerikanischen Revolution Kriterien genannt, die auch für den Herbst 1989 anwendbar sind." Dazu zählt, daß das Ziel einer Revolution nichts anderes als die Freiheit sein kann, daß solche Aufstände die Morschheit des Ancien régime offenbaren, und daß sie als Reformbestrebungen beginnen. Ziel von Revolutionen sind für Arendt die Bildung eines neuen politischen Gemeinwesens, die Neuregelung der Machtverhältnisse und typisch wäre nicht der bewaffnete Aufstand, sondern daß die Macht die Kontrolle über ihre Machtmittel verliert. Dieses Spektrum wird bei Brinton ergänzt durch die Revolutionsmerkmale des Abfalls der Intellektuellen, der Demoralisierung der herrschenden Klasse und ihrer verfehlten Reaktionen auf die Beschwerden von „unten", durch den finanziellen Zusammenbruch, den Zusammenschluß der Unzufriedenen zu einer Bewegung, das Wirrwarr in der Verwaltung, die Intensivierung der sozialen Gegensätze und gesellschaftliche Aufstiegssperren.100 All das war in der Spätphase der DDR gegeben. Wichtig bei der Analyse der Revolution in der DDR ist jedoch auch das internationale Bedingungsgefüge, das sie ermöglichte. Hierzu gehören der Niedergang der Sowjetunion, die hilflosen Reformbestrebungen Michail Gorbatschows und die Demokratisierung in Polen und in Ungarn. So passen sich die Ereignisse in der DDR in einen mittelosteuropäischen Revolutionszyklus der Jahre 1989 und 1990 ein. Auch war das Aufbegehren in Ostdeutschland Voraussetzung für die „samtene Revolution" in der Tschechoslowakei und für die gewaltsame Revolution in Rumänien. All dies war nur möglich, weil sich der gesamte Ostblock schon im Zusammenbrechen befand. Alle diese Revolutionen101 hoben das Jahr 1917 mit dem Putsch der Bolschewiki in Rußland und der darauf folgenden Ära kommunistischer Herrschaft zumindest in Europa auf. So betrachtet hat allerdings Zwahr einerseits Unrecht, wenn er meint, das Jahr 1917 sei ein Epochenjahr gewesen, recht hat er dagegen mit seiner Auffassung, das 1989 in einem gigantischen Zerstörungswerk 1917 eingeebnet hat.102 Viel spricht auch dafür, mit der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts die Bedeutung des Jahres 1918 mit dem Ende der alten europäischen Staaten weit höher zu bewerten. Die entscheidenden Zäsuren des 20. Jahrhunderts in Mittelosteuropa sind jedoch 1945 und 1989. Sie bedeuteten hier

98

So Karl Griewank; vgl. Friedrich, Revolution, 495. Arendt, Revolution, 10, 162, 185, 250f„ 328. 100 Dazu: Winkler, Weg, II, 514.

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Tilly, Revolutionen, 336 geht von Revolutionen in der DDR, in der Tschechoslowakei, in der Sowjetunion und in Jugoslawien aus. Ob es in Ungarn und Rumänien Revolutionen gegeben habe, hält er fur ungewiß - in Albanien, Bulgarien und Ungarn seien es Revolutionen „am Rande" gewesen. Zwahr, Revolution, 249; ders., Die Revolution in der DDR, in: Manfred Hettling (Hg.), Revolution in Deutschland? 1789-1989, Göttingen 1991, 136.

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einerseits die Unterwerfung unter den sowjetischen Hegemonialanspruch und andererseits nationale Wiedergeburt, Demokratie, Menschenrechte sowie Anschluß an den Westen.103 Letztlich ist es aber trotzdem wohl so und wird es auch bleiben, daß die Verwendung des Begriffes Revolution nicht ohne Parteinahme erfolgen kann und Revolutionen zu den historischen Ereignissen zählen, die auf immer umstritten bleiben werden.104 Für die Verwendung des Revolutionsbegriffs sprechen jedoch die grundstürzenden politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen, die auf den Herbst 1989 folgten, das Wirken von großen Volksmassen, die Anwendung von Gewalt gegen Sachen und die Unfähigkeit der herrschenden Kaste, adäquat zu reagieren. Die Themen der friedlichen Revolution in der DDR waren Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, Ausarbeitung einer neuen Verfassung, Auflösung der Geheimpolizei unter ziviler Kontrolle, innere Sicherheit, Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen sowie finanziellen Situation der DDR, Wirtschafts- und Bildungsreform, Reise- und Meinungsfreiheit.105 Bei einem zentralen Punkt der Diskussion, dem der Gewaltanwendung, sollte nicht übersehen werden, daß (ausgehend von der Provinz) in Leipzig am 2. Oktober, in Dresden zwischen dem 3. und 8. Oktober und in Berlin am 7. Oktober 1989 Gewalt - wie Hartmut Zwahr bewies - staatlicherseits nicht nur angedroht, sondern auch brutal angewandt wurde.106 Das ging vom Einsatz von Wasserwerfern bis zu Prügelorgien mit Schlagstöcken, von geworfenen Steinen bis zum MolotovCocktail.107 Die Staatsmacht riskierte und kalkulierte durch den Einsatz physischer Machtmittel den Bürgerkrieg, und auch der unter dem Schutz von Teilen der evangelischen Kirchen eingeübte, der Situation hoch angemessene,108 zivile Ungehorsam und Massenprotest sind eine (milde Form) von Gewalt. Und es gab auch - anders als etwa Heinrich August Winkler meint109 - die Erstürmung von Machtzentren. Zwar war es nicht die Bastille, aber es waren Gebäude mit ähnlichem Symbolwert - die Zentralen der Geheimpolizei. Und dazu kam der Fall der Berliner Mauer als dem Symbol der Unfreiheit und der Herrschaft mit terroristi103

Michael Richter, Die Revolution in Deutschland 1989/90. Anmerkungen zum Charakter der „Wende", Dresden 19952, 9f.

104

Reinhart Kosellek, Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe 5 (1984), 786; Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, 503; zum Unbehagen eines Teiles der „Linken" im Westen an der friedlichen Revolution auch: Jochen Staadt, Revolution, Tradition und Frau Meier aus Leipzig, in: Z. Forsch.verbund SED-Staat, 1997, H. 4, 77. Zwahr, Revolution in der DDR, 138.

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Ders., Revolution, 211; ders., Die 89er Revolution in der DDR, in: Peter Wende (Hg.), Große Revolutionen der Geschichte, München 2000, 360-63. Timmer, Aufbruch, 142; Michael Richter/Erich Sobeslavski, Die Gruppe der 20: Gesellschaftlicher Aufbruch und politische Opposition in Dresden 1989/90, Köln 1999. Dazu: Timmer, Aufbruch, 332, 385. Winkler, Weg, II, 513.

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sehen Methoden.110 Die Gefahr von Kampfhandlungen auf den Straßen der DDR war erst vom Tisch, als der Führung von SED und Staatssicherheit klar geworden war, daß sie keinen Rückhalt in Moskau mehr hatte und auch ihre eigenen bewaffneten Kräfte nur noch bedingt einsatzfähig waren. Vielleicht war aber auch entscheidend, daß die herrschenden Eliten den Glauben an sich selbst verloren hatten - nach Alexis de Tocqueville einer der entscheidenden Faktoren einer Revolution.111 Und es war auch so, daß den Bürgerrechtlern die kontraproduktive Wirkung von Gewaltanwendung durchaus bewußt war.112 Und gerade dies macht die Neuartigkeit des Typs der demokratischen Revolution aus: die weitgehende Gewaltlosigkeit auf der Seite der Demonstranten und die Selbstaufgabe des hochgerüsteten Repressionsapparates als Voraussetzung einer erfolgreichen Verlaufs. 113 Bestätigt wird diese Auffassung über die Geburt eines neuen Typs der Revolution zuletzt durch die Ereignisse vom Oktober des Jahres 2000 in Jugoslawien bzw. in Serbien. Und auch hier stellten Kritiker den Revolutionsbegriff postwendend in Frage. So sprachen sie jetzt abschätzig von einer „parfurmierten Revolution", und erneut schien dahinter der Gedanke zu stehen, daß zu wenig Blut geflossen sei. Aber solche Meinungen werden eine der Hoffnungen des 21. Jahrhunderts nicht beseitigen können - ich meine die Hoffnung, daß mit den demokratischen Revolutionen in Ostmitteleuropa der letzten zehn Jahre der bisher als unauflösbar geltende Zusammenhang von Gewalt und Gegengewalt, von Mord und Massenmord, durchbrochen werden könnte. Zu einem vorläufigen Resümee der von mir umrissenen Diskussion gehört auch der Eindruck, daß es ausländischen Historikern und Politikwissenschaftlern leichter fallt, sich zum Begriff der Revolution zu bekennen als deutschen. So urteilt der eher zurückhaltende Charles Maier geradezu emphatisch und spricht von einer „völlig überraschenden und mitreißenden Revolution von unten". 114 Es handelte sich dabei um eine Revolution, die zwar von Anomalien wie Massenflucht der Bevölkerung, der Situation eines geteilten Landes und der Existenz einer fremden Militärmacht in der DDR gekennzeichnet war,115 was jedoch am eigentlichen Sachverhalt nichts änderte. Und vielleicht ist der Grund, warum so

110

Ebd., 517, 544.

111

Nach: Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, München 1990, 462. Frank Brunssen, Die Revolution in der DDR. Ambivalenzen einer Selbstbefreiung, in: APZ 1999, B 45, 6. Dazu: Mark R. Thompson, Die „Wende" in der DDR als demokratische Revolution, in: APZ 1999, B 45, 15-23. Maier, Verschwinden der DDR, 188. Herzberg, Wende, 73 f.

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viele Deutsche Schwierigkeiten mit dem Revolutionsbegriff haben, die Tatsache, daß sie am Aufstand nicht beteiligt waren.116 Umgekehrt könnte dies jedoch auch der Anlaß dafür sein, daß der Leipziger Demonstrationsteilnehmer Zwahr zu dem richtigen Schluß kommt, daß der Umbruch in der DDR eine Revolution war - eine friedliche, jedoch keine gewaltlose Revolution, die auch dadurch historisch neuartig war, daß in ihr evangelische Gemeinschaften zum Handeln kamen, daß hochmotivierte Minderheiten mit einer eskalierenden Massenbewegung zusammengingen und daß die Träger erst jüngere Menschen waren, die schließlich von denen mit der Erfahrung des 17. Juni 1953 abgelöst wurden.117 Zu ihren herausragenden Ergebnissen gehörte die Legalisierung neuer Vereinigungen und Parteien, die Etablierung „Runder Tische" als Machtorgane des Übergangs, die Amnestie für politische Gefangene, die Erkämpfung von Reisefreiheit, die Entfesselung der Medien, die Einführung der Marktwirtschaft bzw. des Kapitalverhältnisses, die Einführung eines Zivildienstes und der Beginn einer ökologischen Erneuerung.118 Neuartig war dagegen, daß es sich letztlich um eine nationaldemokratische Revolution in einem gespaltenen Land handelte, die in einer Landeshälfte auch eine Fremdherrschaft beendete und zur staatlichen Einheit zurückführte. Der Wunsch auf Wiedervereinigung war legitim, denn er war nicht damit verbunden zu fordern, daß die Westdeutschen die Ostdeutschen beschenken und mit Wohltaten überhäufen. Statt dessen ist es richtig - und hier ist auch die Voraussetzung Hannah Arendts für die Verwendung des Begriffs Revolution erfüllt 1 19 -, daß die Ostdeutschen frei sein und als Freie sich den Anteil am gesamtdeutschen Wohlstand selbst erarbeiten wollten.120 Daß die namentlich weitgehend unbekannten Ostdeutschen der Freiheit zum Triumph verhalfen,121 sich ohne Anteil westlicher Parteieliten selbst befreiten,122 und damit die Tradition der bundesdeutschen Demokratie um einen wesentlichen Bestandteil bereicherten, ist der deut-

116

Vielleicht meint deshalb auch Wolfgang Wippermann, daß in der DDR Nationalismus und Materialismus triumphiert hätten; Torsten Harmsen, Die wirkliche Revolution haben wir noch vor uns, in: Berliner Zeitung 19.3.1998, 15.

117

Zwahr, Revolution, 214f., 217; ders., Revolution in der DDR, 140. Ders., Revolution in der DDR, 138; ders., 89er Revolution, 373. Arendt, Revolution, 10; vgl. dazu: Brunssen, Revolution, 3-14. Geradezu unsinnig erscheint dagegen die Behauptung von Martin Jander und Klaus Schroeder (Zwei Bewegungen, keine Revolution, in: Z. Forsch.verbünd SED-Staat, 1997, H 4, 58), die Oppositionellen in der DDR hätten das wesentliche Ziel einer Revolution, die Begründung von Freiheit verfehlt. Beiden Autoren geht es hier offensichtlich darum, den ostdeutschen Revolutionären ihre Subjektrolle abzusprechen. Vgl. dazu: Bernd Rabehl, Eine Revolution in Deutschland. Im Verschwörernetz von Bruder Zufall und Schwester Chaos, in: ebd., 60.

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Ebd., 221.

121

Gemessen am Ziel von Freiheit und Einheit Deutschlands war die Revolution von 1848/49 gescheitert; vgl.: Winkler, Weg, 128. Reich, Helden, 3.

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sehen Öffentlichkeit aber immer noch zu wenig bewußt.123 Und in diesem Zusammenhang hat auch Fritz Stern recht, der zum einen deutlich sagt: ja, es war eine friedliche deutsche Revolution, aber zum anderen es auch durchaus für möglich hält, daß der Kollaps eines diskreditierten Regimes in Erinnerung bleiben könnte oder vielleicht (und noch falscher) ein Triumph des Westens.124 So ist auch die Forderung der Ostdeutschen nach Beteiligung am gesellschaftlichen System der Bundesrepublik und auch an ihrem Reichtum besonders unter den Bedingungen von millionenfacher Massenarbeitslosigkeit im hohen Maß legitim. Und zum Schluß sei nochmals darauf zurückgekommen, daß revolutionstheoretisch der Zyklus der mittelosteuropäischen Revolutionen des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts neue Fragen aufwirfit. Dazu gehört die danach, ob demokratische Revolutionen ein europäisches Phänomen sind, ob sie einen neuen Revolutionstypus begründeten, ob sie ihr Zentrum in Großstädten haben, nur lose organisiert sind und spontan beginnen.125 Und auch ein weiteres Spezifikum dieser Revolutionen ist theoretisch zu bewerten. Es handelt sich dabei um die Tatsache, daß sich in ihnen Zusammenbruch und Auflehnung in einem mixtum compositum verbanden.126 Es war in ganz Mittelosteuropa das Zusammentreffen des von Bürgerrechtlern geführten Aufstandes der Bevölkerung mit einem Legitimitätsverfall der Regime, der die kritische Grenze überschritt. Allerdings ist es letztlich so, daß das Hand in Hand gehen von Zusammenbrüchen (bzw. von Implosionen) mit Revolutionen historisch nicht so neuartig ist, wie es in der gegenwärtigen Situation scheinen mag.127 So war zumindest die deutsche Revolution von 1918 mit dem Zusammenbruch des Ancien Régime verknüpft. Revolutionstheoretisch neu ist dagegen der Typ einer - wie sie Mark R. Thompson definierte - demokratischen Revolution, in der der Regimewechsel von der Diktatur zur Demokratie durch einen gewaltlosen Volksaufstand ermöglicht wird.128 Es handelt sich um etwas historisch Neuartiges, um friedliche und demokratische Bürgerrevolutionen oder anders ausgedrückt um volksdemokratische Revolutionen als bürgerliche Revolutionen.129 Und es sollte eine Hoffnung sein, daß solche Revolutionen nicht nur ein Phänomen des 20. Jahrhunderts gewesen sein mögen, sondern daß wir auf künftige Revolutionen des „neuen Typs" wieder hoffen dürfen. 130

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Brunssen, Revolution, 14. Fritz Stern, Vier Tage im November, in: Johannes Willms (Hg.), Der 9. November, München 1995\ 89. Thompson, „Wende", 15. Jarausch, Zehn Jahre danach, 916, 922. Winkler, Weg, II, 523. Thompson, „Wende", 18. Jarausch, Implosion, 558f.; Michael Naumann, Einführung. Der Weg der Vereinigung - Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 9. Oktober 2000. Christian Sachse, Die Revolution und ihre Folgen. Die Ereignisse vom Herbst 1989 und die Perspektive einer deutschen Kleinstadt, in: Z. Forsch.verbünd SED-Staat, 1997, H. 4, 100.

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„Eine deutsche Affäre"? Beobachtungen zum Verlauf des Konflikts am Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung

I. Ausgangsbedingungen Das Hannah-Arendt-Institut (HAIT) e. V. an der Technischen Universität Dresden, ein Kind der „friedlichen Revolution" des Herbstes 1989, geht auf eine Gründungsinitiative des reformerischen Flügels der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtags zurück. Diese hatte mit Antrag vom 9. Oktober 1991, der am 21. November 1991 von ihrem damaligen wissenschaftspolitischen Sprecher, dem heutigen Kultusminister und Vorsitzenden des Kuratoriums des HAIT Matthias Rößler MdL, begründet wurde, die Errichtung eines Instituts gefordert, das in finanzieller Trägerschaft des Landes, also parteiübergreifend, „die in 60 Jahren gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Nationalsozialismus und des SED-Regimes ... erforschen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ... analysieren" sollte. Daß hierbei an eine durchaus politiknahe wissenschaftliche Begleitung gedacht war, unterstrich Rößler mit dem Hinweis, „die demokratischen Parteien brauchten zur Überwindung der verkrusteten und ineffizienten Strukturen des ,realen Sozialismus' die Hilfe der modernen Wissenschaft", stießen sie doch „ständig auf mehr oder weniger intakte Reststrukturen des alten totalitären Systems". Es ging den Initiatoren also darum, „in engster Verbindung [von interdisziplinär arbeitenden Wissenschaftlern] mit verantwortlichen Politikern und der demokratischen Öffentlichkeit... Strategien für Strukturreformen" zu entwickeln. Neben dem unmittelbaren „praktischen" Nutzen sollte das Institut indessen auch einen Beitrag zur ,,geistige[n] Auseinandersetzung mit der untergegangenen Diktatur" leisten, um „so den Prozeß der Veränderung dauerhaft und unumkehrbar zu machen".1 Bei aller „wendebedingten" Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer Institutsgründung, die im Landtagsbeschluß vom 21. November 1991 ihren Ausdruck fand und nach langwierigen Vorbereitungen am 17. Juni 1993 zur festlichen Eröffnung des Instituts führte, gingen „die Meinungen über Ziele und Arbeitsweise des

' Nachweis der vorstehenden Zitate bei Michael Richter, Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Ein „Kind der Wende", in: Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Ein Kind der „Wende". Veröffentlichungsliste, [Dresden 1996], unpaginiert, [310]. Einschlägige Dokumente, Ansprachen und Presseberichte auch in: Ansprachen zur Eröffnung des Hannah-Arendt-Institutes am 17. Juni 1993, (Vorträge, Heft 1), Dresden 19952.

Ulrich von Hehl

Instituts doch von Anfang an ... auseinander".2 Dies ist hier im einzelnen nicht zu verfolgen. Jedenfalls hält die nach intensiven und durchaus kontroversen Beratungen in Kraft getretene Satzung des HAIT vom 5. April 1995 in § 1 Abs. 2 als Aufgabe des Instituts fest: „ - in interdisziplinärer Arbeit von Historikern und Sozialwissenschaftlern die politischen und gesellschaftlichen Strukturen von NS-Diktatur und SED-Regime sowie ihre Folgen fiir die Gestaltung der deutschen Einheit zu analysieren; - zeitgeschichtliche Forschung und Dokumentation unter besonderer Berücksichtigung totalitärer Systeme und Strukturen sowie des Widerstandes von Bewegungen, Gruppen, Parteien und Organisationen sowie von Einzelpersönlichkeiten gegen Gewaltherrschaft zu betreiben und die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen; - zu Einzelfragen der regionalen und überregionalen Zeitgeschichte gutachterlich Stellung zu nehmen und sich für Initiativen einzusetzen, die dem Entstehen totalitärer Strukturen entgegenwirken; - das Andenken an die Opfer der NS-Diktatur und des SED-Regimes bewahren zu helfen und durch wissenschaftliche Untersuchungen zu unterstützen; - das Schicksal von Opfern der NS-Diktatur, der sowjetischen Besatzungsherrschaft und des DDR-Regimes zu erforschen sowie die Opferverbände in ihrer Tätigkeit zu unterstützen; und - zeitgeschichtliche Lehre und Forschung an der Technischen Universität Dresden und an anderen sächsischen Hochschulen, darüber hinaus an Lehrerbildungsinstitutionen, an Schulen und von Dritten zu unterstützen."3

Damit schien eine Wendung zu unabhängiger, nicht vorrangig um tagespolitischer Aktualitäten willen betriebener Forschung genommen. Man wird kaum fehlgehen, das Verdienst hieran nicht zuletzt dem Gründungsdirektor Alexander Fischer und seinen Mitarbeitern zuzuschreiben, die sich bei aller Eindeutigkeit des staatsbürgerlichen Engagements dem Postulat freier und unabhängiger Wissenschaft verpflichtet wußten. Einschlägige Forschungen sollten, dies unterstrich Fischer in seiner Eröffnungsansprache mit Nachdruck, multidisziplinär betrieben werden und sie sollten sich „in vorrangiger Konzentration auf die Erscheinungsformen des Totalitarismus in der jüngsten deutschen Geschichte, also die NS-Diktatur und das SEDRegime", richten.4 Dies wurde auch durch die Berufung eines „Wissenschaftlichen Beirats" unterstrichen (§§ 11, 12 der Satzung), dessen Mitglieder ihre Arbeit Ende 1994 aufnahmen. Berufende Instanz ist das „Kuratorium" (§§ 7, 8), das vermöge seiner satzungsmäßigen Aufgaben, namentlich aber aufgrund seines Selbstverständnisses und der engen Bindungen, die der auf den Kuratoriumsvorsitz abonnierte Kultusminister Rößler zu „seinem" Institut unterhält, sich als das entscheidende Einflußorgan des HAIT betrachtet. Das wird nicht zuletzt am Verhältnis des Kuratoriums zum Wissenschaftlichen Beirat deutlich, dessen Konstituierung, abweichend von den übli2 3 4

Richter (wie Anm. 1), [4]. Abdruck in: Ansprachen zur Eröffnung (wie Anm. 1), 27-41, Zitate 27f. Ansprache Fischers zur festlichen Einweihung, 17. Juni 1993, in: Ansprachen zur Eröffnung (wie Anm. 1), 5-12, hier 10.

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chen Gepflogenheiten, der Kuratoriumsvorsitzende jeweils als seine ureigene Aufgabe ansieht. So nahmen Kuratoriumsmitglieder oder Beauftragte anfänglich sogar an den Beiratssitzungen teil, obwohl ein Beiratsmitglied satzungsmäßig im Kuratorium vertreten, der wechselseitige Informationsfluß also gesichert ist. Auch bei der Neuberufung des Beirats Ende 1997/Anfang 1998 wurde dem Gremium das an sich selbstverständliche Recht auf Konstituierung in eigener Regie bestritten. Im Rückblick wird man es daher nicht als bloße semantische Ungeschicklichkeit abtun, daß bei der konstituierenden Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 16. November 1994 „die Erwartung des Kuratoriums zum Ausdruck" gebracht wurde, „daß der Wissenschaftliche Beirat es in Übereinstimmung mit der Satzung als seine Aufgabe ansehen werde, die Tätigkeit des Instituts wissenschaftlich zu begleiten."5 Das politische Gewicht des Kuratoriums kommt auch in seiner engen Verbindung mit dem für die Bewilligung der Haushaltsmittel zuständigen Landtag und dem die Rechtsaufsicht fuhrenden Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst zum Ausdruck. Dem Kuratorium gehör(t)en drei vom Landtag entsandte Abgeordnete oder Persönlichkeiten, je ein Vertreter des SMWK, der TU Dresden und des Wissenschaftlichen Beirats, ggf. ein weiterer Sachverständiger sowie ein von der Mitgliederversammlung des (Träger-)Vereins gewähltes Mitglied an (§ 7 Abs. 2). Mit der „Mitgliederversammlung" (§§ 5, 6) ist ein weiteres Organ des HAIT genannt. Seine Aufgabe beschränkt sich im wesentlichen auf Satzungsfragen; die Mitgliederversammlung entsendet jedoch auch ein Mitglied in das Kuratorium und vermag somit auf dessen Entscheidungen Einfluß zu nehmen. Endlich ist als viertes Organ (nach Beirat, Kuratorium und Mitgliederversammlung) der „Vorstand" (§§ 9, 10) zu nennen, der in einem gemeinsamen Berufungsverfahren mit der TU Dresden vom Kuratorium auf fünf Jahre gewählte, in der Amtszeit aber verlängerbare Direktor, der zugleich eine C4-Professur in der Philosophischen Fakultät der TU Dresden innehat. Ihm steht nach § 9 Abs. 2 der Satzung „ein" Stellvertreter zur Seite. Die schwere Krankheit und der frühe Tod des verdienten Gründungsdirektors Alexander Fischer am 24. Juni 1995 haben die Aufbauphase des Instituts nachhaltig belastet. Vor allem haben sie zur Neubesetzung der Direktorenstelle genötigt, für die eine vom HAIT und der TU Dresden gemeinsam beschickte Berufungskommission bei anfangs schwieriger Bewerberlage und nach langen, intensiven Beratungen am 12. April 1996 eine mit großer Einmütigkeit verabschiedete Berufungsliste mit dem zum 1. Februar 1997 ernannten Zeithistoriker Klaus-Dietmar Henke auf Platz 1 präsentierte. Der Wissenschaftliche Beirat des HAIT hat diesen Listenvorschlag einmütig zur Kenntnis genommen, und im August 1996 hat ihm auch das Kuratorium „mit großer Mehrheit" zugestimmt, zumal sich abzeichnete, daß der zuständige Staatsminister für Wissenschaft und Kunst zur Berufung Henkes entschlossen war. Es verdient festgehalten zu werden, daß der Listenvorschlag wie vermutlich auch die Berufung Henkes durch den Eindruck bestimmt waren, den sein Oeuvre, seine persönliche Vorstellung und die dabei entwickelten Vorstellungen und Perspektiven hinsichtlich der künftigen Institutsarbeit hinterlassen hatten. Dies ist des5

Sofern sich die Darstellung im folgenden auf interne Unterlagen stützt oder aus ihnen zitiert, wird auf den genauen Nachweis der Fundstelle verzichtet.

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halb zu unterstreichen, weil später der Eindruck aufkam, daß der Kuratoriumsvorsitzende diesen Vorschlag nur mit Bedenken akzeptiert hatte. Hierfür sind neben atmosphärischen Trübungen vor allem die divergierende parteipolitische Präferenz Henkes sowie Meinungsunterschiede über dessen programmatische und personelle Vorstellungen zu vermuten. Insbesondere die von Henke präferierte zeitgeschichtliche Schwerpunktsetzung bei der Institutsarbeit dürfte der im Kuratorium vorherrschenden Erwartungshaltung nur begrenzt entsprochen haben. Das Verhältnis dürfte aber auch dadurch belastet worden sein, daß das Kuratorium vor Ernennung des neuen Direktors die Entfristung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters durchgesetzt hatte, während Henke im Frühjahr 1997, in völligem Einvernehmen mit einem vom Wissenschaftlichen Beirat eingesetzten „Findungsausschuß", die Einstellung eines Stellvertreters erreichen konnte, der - gleichfalls Zeithistoriker - fachlich zwar hervorragend qualifiziert, in den Augen des Gründungsinitiators aber wie Henke mit dem Makel „falscher" parteipolitischer Orientierung behaftet war. Es ist nachvollziehbar, daß mit den Gepflogenheiten wissenschaftlicher Rekrutierungspraxis weniger Vertraute den Eindruck gewinnen konnten, hier werde der Mehrheitsfraktion des Sächsischen Landtags, die unbestreitbar die Initiative zur Gründung und zum Unterhalt des HAIT ergriffen hatte, nun gleichsam das Heft aus der Hand genommen. Nur so erklärt sich das Bestreben des Kuratoriumsvorsitzenden, dem Direktor einen (in der Satzung nicht vorgesehenen) zweiten Stellvertreter zu attachieren. Die dafür benötigte neue Stelle wurde nur für den Fall zugesichert, daß dieser Stellvertreter der Mehrheitsfraktion parteipolitisch näher stehe als der Direktor. Im Einvernehmen mit dem Direktor hat der Beirat am Auswahlverfahren mitgewirkt, wobei er beim Kriterium der fachlichen Eignung keine Abstriche machte und auf eine politikwissenschaftliche Ergänzung des Direktoriums achtete. Im Ergebnis dieser Bemühungen ist 1999 der Politikwissenschaftlicher Uwe Backes, Bayreuth, als zweiter stellvertretender Direktor eingestellt worden.

II. Auftakt Unbeschadet solcher atmosphärischen Trübungen hat die wissenschaftliche Arbeit des HAIT unter dem Direktorat Klaus-Dietmar Henkes einen unbezweifelbaren Aufschwung genommen. Nach dem vom Beirat auf seiner turnusmäßigen Sitzung am 15. Oktober 1999 beratenen „Arbeitsplan 2000" erstreckte sie sich auf immerhin zehn Forschungsfelder und war, bei lediglich 15 Planstellen, von insgesamt ca. 50 Mitarbeitern, darunter 30 Wissenschaftlern, getragen, umfaßte also einen hohen Anteil an drittmittelfinanzierten Projekten. Den Ausführungen des Direktors zufolge hatte das Institut damit „nach einer nicht ganz einfachen Startphase jetzt seine organisatorische und personelle Struktur gefunden". In Zusammenfassung einer längeren Debatte konnte der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats anerkennend hervorheben:

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-

die Vielfalt und das hohe Niveau der satzungskonform angelegten Forschungsvorhaben; einen besonderen Erfolg bei der Einwerbung von Drittmitteln; eine überzeugende „Vernetzung in der Forschungslandschaft", die das Institut zu einem attraktiven Kooperationspartner mache; einen deutlichen Anstieg im öffentlichen Wirken und in der Wahrnehmung des Instituts; eine beeindruckende Leistungsfähigkeit bei der Organisation von Veranstaltungen und Tagungen.

Was der Beiratssitzung vom 15. Oktober 1999 im Rückblick einen besonderen Charakter verleiht, ist der Umstand, daß sie vor dem Hintergrund eines seit April des Jahres schwelenden Konflikts zwischen dem Institutsdirektor Henke und seinem Stellvertreter Vollnhals einer-, dem Institutsmitarbeiter Fritze, dem zweiten stellvertretenden Direktor Backes und dem im Hintergrund agierenden Beiratsmitglied Jesse (TU Chemnitz) andererseits stattfand, ohne daß der Beiratsmehrheit etwas von diesem Konflikt bekannt wurde oder die Sitzung zu einem Vermittlungsversuch genutzt worden wäre, obwohl immerhin vier der Beteiligten anwesend waren. Auslöser des Konflikts war die Publikationsvorbereitung von Fritzes Antrittsvorlesung, die dieser zum Abschluß seines Habilitationsverfahrens im November 1998 an der TU Chemnitz unter dem Titel „Das Attentat auf Hitler vom 8. November 1939" gehalten hatte. Welche Brisanz darin steckte, wurde dem Direktor erst im April 1999 bewußt, als er die zur Veröffentlichung vorgesehene Fassung zu lesen bekam, nunmehr schon unter der aufhorchen lassenden Überschrift „Der Ehre zuviel. Eine moralphilosophische Betrachtung zum HitlerAttentäter Georg Elser". Tatsächlich gelangt Fritze in Übertragung eines abstrakten, für den „diktatorischen Sozialismus" entwickelten Kategoriensystems6 auf das totalitäre NS-Regime und in historisch unzureichender Urteilsbildung zu dem Befund: „Nach Abwägung der wesentlichen Gesichtspunkte bleibt nur das Urteil übrig, daß es sich bei dem Anschlag von Elser um eine Tat gehandelt hat, deren Ausfuhrungsweise moralisch nicht zu rechtfertigen ist."7 Hierbei hebt Fritze vor allem darauf ab, daß Elser sich vor Zündung seiner Bombe vom Tatort entfernt hatte und damit Tod und Verletzung zahlreicher „Unschuldiger" billigend in Kauf genommen habe. Der Direktor erkannte die schweren Mängel in der zeithistorischen Argumentation Fritzes und versuchte in der Folgezeit vergeblich, ihn von der Abwegigkeit seiner Thesen zu überzeugen. Auch im Kreis der Institutsmitarbeiter wurde der Vortrag höchst kontrovers diskutiert. Das Fritze gemachte Angebot, seinen Beitrag in dem von Eckhard Jesse und dem Stellvertretenden Direktor des HAIT Uwe Backes

6

7

Vgl. Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, (Schriften des HAIT, Bd. 6), Köln 1998. Hier zitiert nach der Fassung in der Frankfurter Rundschau: Lothar Fritze, Die Bombe im Bürgerbräukeller. Der Anschlag auf Hitler vom 8. November 1939. Versuch einer moralischen Bewertung des Attentäters Johann Georg Elser, in: FR vom 8. November 1999, 9.

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herausgegebenen Jahrbuch „Extremismus & Demokratie" zu publizieren, war unstrittig.8 Dieser für eine wissenschaftliche Öffentlichkeit bestimmten Publikationsform widersprach auch der Direktor mit Rücksicht auf die Wissenschaftsfreiheit nicht. Er riet hingegen dringend davon ab, den Beitrag in der überregionalen Tagespresse zu veröffentlichen, weil die Ausführungen damit eine geschichtspolitische Konnotation erhielten, die Mißverständnisse geradezu provozieren und dem Profil des HAIT schaden müßte. Die Bombe platzte, als der Direktor zur Kenntnis nehmen mußte, daß seine Strategie der Konfliktbegrenzung gescheitert war. Zwar hatte eine seriöse Zeitung wie die Frankfurter Allgemeine Fritzes Publikationsanfrage negativ beschieden, doch Ende Oktober 1999, knapp zwei Wochen nach der erwähnten Beiratssitzung, erfuhr Henke von Fritze, daß dessen Artikel zum 60. Jahrestag des Elser-Attentats in der Frankfurter Rundschau erscheinen sollte. Nunmehr schien Eile geboten, wenngleich nach den bisherigen Erfahrungen anzunehmen war, daß es sich allenfalls noch um einen „Versuch zur Eindämmung des Schadens für das Institut" handeln konnte. Fritze wurde für den 3. November zu einer Krisensitzung mit dem dreiköpfigen Direktorium gebeten, über deren Verlauf wir aus unterschiedlicher Perspektive unterrichtet sind. Danach ergibt sich, daß Fritze von den Mängeln, aber auch der Brisanz seiner Studie nicht zu überzeugen war und es auch ablehnte, sein Manuskript vor der Presseveröffentlichung hinsichtlich historischer Argumentationsschwächen von einer anerkannt-unabhängigen und in jeder Hinsicht „neutralen" Autorität prüfen zu lassen. Für den weiteren Gang der Auseinandersetzungen wurde jedoch vor allem bedeutsam, daß Fritze in seiner unzugänglichen Haltung vom stellvertretenden Direktor Backes massiv bestärkt und zur Zeitungspublikation ausdrücklich ermuntert wurde. Backes ging es gerade auch um geschichtspolitische Aspekte. Er hob namentlich auf den seiner Auffassung nach „starken Einfluß ,volkspädagogischer' Argumente in der NS-Forschung" ab, die ihm „seit langem ein Dorn im Auge" seien. Ferner attackierte er vermeintliche „Konzessionen an den Zeitgeist" und charakterisierte die „Befürchtung, Fritzes Arbeit könne ,das Andenken des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus' beschädigen", als „einen Kotau vor böswilligen Kritikern". Gerade eine Forschungseinrichtung wie das HAIT müsse „konzessionslos der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung" verpflichtet bleiben und die Bereitschaft aufbringen, auch „,heiße Eisen' anzufassen". Backes' Haltung war damit klar umrissen; sie lief auf eine Gegenposition zur Linie des Direktors Henke und seines Vertreters Vollnhals hinaus, denen Backes wenig später in einer Ausarbeitung für Beirat und Kuratorium vorwarf, „ihre jüngeren Mitarbeiter mit Geschick und untrüglichem Gespür für Zeitgeistwandlungen auf dem Weg des Konformismus und der Anpassung an die tatsächlichen oder vermeintlichen Mehrheitsströmungen in Zeitgeschichte und Politikwissenschaft zu halten". Es unterliegt somit keinem Zweifel, daß Backes die Richtungskompetenz des Institutsdirektors bestritten hatte, noch ehe der Konflikt öffentlich geworden war. Offenkundig brachte Backes aber auch die sehr westdeutsche Perspektive eines 8

Vgl. jetzt Forum: Der Streit um den Widerstandskämpfer Georg Elser, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 12 (2000), 95-178.

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„bekennenden Patriotismus" in die Diskussion, während Fritzes Haltung eher den Erfahrungen eines nonkonformistischen „DDR-Bürgers" geschuldet sein dürfte, jedenfalls die leicht vorhersehbaren Auswirkungen seiner den Widerstand gegen Hitler ins Zwielicht rückenden Thesen auf die nationale und internationale Öffentlichkeit nicht zureichend in Rechnung stellen wollte oder konnte. Auf die Veröffentlichung des Fritze-Artikels am 8. November 19999 reagierte Henke mit einer scharf distanzierenden „Pressemitteilung".10 Dazu sah er sich genötigt, nachdem die Süddeutsche Zeitung in einem kritischen Kommentar die „abenteuerlichen" Thesen Fritzes verworfen und ihn als Mitarbeiter des HAIT gekennzeichnet hatte." Henke betonte, daß Fritzes Zeitungsartikel ausschließlich in privater Verantwortung erschienen sei und nicht die Meinung des Instituts wiedergebe. Der Verfasser habe „sich offensichtlich verrannt". Unverständlich sei, „daß er in seinen abwegigen Auffassungen von Prof. Dr. Eckhard Jesse, einem der sechs Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates des Hannah-Arendt-Instituts, und Priv.Doz. Dr. Uwe Backes, seit kurzem Stellvertretender Direktor des Instituts, gestützt werden konnte". Kuratorium und Wissenschaftlicher Beirat würden sich in Kürze mit der Angelegenheit befassen.12 Überhaupt reagierte die (überregionale) Presse auf Fritzes Artikel heftig. Für DIE ZEIT war es „feinsinnige Schmähung" und ein „aberwitziges Stück Geschichtsdeutung" in einem „bizarr verklausulierten Text, der sich wie ein Oberseminar-Referat aus den fünfziger Jahren" lese,13 während die Süddeutsche Zeitung ihre Kritik ironisch mit „Weltsicht eines Privatdozenten" überschrieb,14 die taz von einer „moralischen Bombe", einem „Angriff auf die Würde Elsers", sprach15 und die Frankfurter Allgemeine Fritzes „akademisch-weltfremde Meßlatte ..., mit der die meisten Attentatsversuche auf Hitler diskreditiert werden könnten", mit Sarkasmus überzog.16 Die Leiter der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand rechneten Fritzes Umdeutungsversuch gar zu den Bestrebungen, „die deutsche Zeitgeschichte zu ,revidieren'" und ein neues Geschichtsbild zu propagieren, was „im Zusammenhang mit vielfaltigen Bemühungen seiner Chemnitzer [sie!] Kollegen Eckhard Jesse und Uwe Backes gesehen werden" müsse.17 Zehn Tage später suchte die Frankfurter Rundschau, die bei der Redigierung des Fritze-Artikels

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Wie Anm. 7. Pressemitteilung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 10. November 1999. 11 SZ vom 10. November 1999, Artikel „Weltsicht eines Privatdozenten". 12 Wie Anm. 10. 13 Artikel „Unfaßbar. Ein Anschlag auf den Widerstand", in: DIE ZEIT vom 11. November 1999. 14 Wie Anm. 11. 15 Artikel „Die moralische Bombe auf Seite neun", in: taz vom 10. November 1999. 16 Artikel „Ohne Sonderzug", in: FAZ vom 21. Dezember 1999. 17 AP-Meldung vom 10. November 1999: „Gedenkstätte nimmt Hitler-Attentäter in Schutz." Die Anspielung bezieht sich vor allem auf Uwe Backes/Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt 1992. 10

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schlampig gearbeitet hatte, sich aus der Schußlinie zu bringen, indem sie Fritzes schärfste Kritiker in einem ganzseitigen Beitrag zu Wort kommen ließ18.

III. Entfaltung Unter diesen Umständen war den für den 19. November anberaumten Sondersitzungen von Wissenschaftlichem Beirat und Kuratorium mit einiger Spannung entgegenzusehen. Zur Vorbereitung und näheren Information gingen den Gremienmitgliedern sowohl von Seiten des Direktors als auch durch die „Gegenseite" (Backes, Fritze, Jesse) längere Ausarbeitungen zu. Aus ihnen ergab sich, daß der Konflikt nach der „Pressemitteilung" Henkes eine institutsinterne Zuspitzung erfahren hatte, unter anderem durch eine Mitarbeiterversammlung vom 12. November, der Backes „Tribunalcharakter" attestierte, durch die Anweisung des Direktors an Backes und Fritze, „ab sofort" nicht mehr „im Namen des Hannah-Arendt-Instituts" aufzutreten, aber auch durch eine Replik Backes', in der er dem Verfasser der „Presseerklärung" sowie den „Vertreterin] jener Gremien, die ihn in diesem Sinne beraten, möglicherweise gar bedrängt haben", „mangelnde Zivilcourage" vorwarf. Die von Backes in diesem Zusammenhang auch vorgebrachte Kritik am Führungsstil Henkes und der Hinweis auf „atmosphärische Störungen" unter den Mitarbeitern des HAIT sind dem Beirat damals nicht zu Ohren gekommen und haben für seine Beratungen keine Rolle gespielt. Hingegen konnte er seiner Meinungsbildung Backes' Bemerkung zugrunde legen, daß ihm und Fritze „die Brisanz der Thematik ... klar" gewesen sei. Der Wissenschaftliche Beirat hat sich bei seinem Zusammentritt am 19. November 1999 somit nicht allein auf die Berichterstattung in der Presse, sondern auch auf schriftliche Stellungnahmen der Beteiligten sowie auf deren persönliche Darlegungen in der Sitzung selbst stützen können. In eingehender Diskussion wurde gegen Fritzes Thesen insbesondere eingewandt, daß darin erstens dem „Durchschnittsbürger", also Elser, die politische Urteilsfähigkeit abgesprochen würde; daß zweitens Elsers aus den Quellen sich zweifelsfrei ergebendes Tatmotiv, nämlich die Kriegsverhinderung, unterbewertet bzw. willkürlich bezweifelt werde, um sein Handeln als suspekt erscheinen zu lassen und ihm Unangemessenheit der Mittel vorwerfen zu können. Drittens wurde die in Fritzes Argumentation fehlende Kategorie des „Dilemmas" hinsichtlich der unbeabsichtigten Tatfolgen moniert, wie sie nicht allein für Akte politischen Widerstands, sondern für weite Bereiche gesellschaftlicher Selbstbehauptung unter den Bedingungen des braunen Totalitarismus kennzeichnend sei. Und viertens wurde darauf hingewiesen, daß Fritzes Bewertungsmaßstäbe, an andere Attentatsversuche angelegt, nahezu den gesamten politisch-militärischen Widerstand gegen Hitler, namentlich aber den Anschlag des 20. 18

Peter Steinbach/Johannes Tuchel, Es schien, als schreckte die Öffentlichkeit vor Elser zurück. Der Widerstandskämpfer und das Attentat vom 8. November 1939. Deutungen und Diffamierungen, in: FR vom 18. November 1999, 8.

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Juli 1944, diskreditieren müßten. Dies habe gerade der Mitarbeiter eines Instituts, das den Namen Hannah Arendts trage und satzungsmäßig dem „Andenken an die Opfer der NS-Diktatur und des SED-Regimes" (§ 1 Abs. 2) verpflichtet sei, bei seinen Äußerungen zu bedenken. In diesem Zusammenhang wurde zusätzlich als befremdend empfunden, daß Fritze den „Opfer"-Begriff für die erschossenen Putschisten des Hitler-Putsches vom 9. November 1923 verwandt hatte und sein moralisches Verdammungsurteil in geradezu scharfrichterlicher Weise an Elser exekutierte. Am Ende einer sehr kontrovers geführten Debatte stand eine Beschlußempfehlung, die der Beiratsvorsitzende auf der unmittelbar anschließenden Kuratoriumssitzung vortrug. Ihr zufolge hielt der Wissenschaftliche Beirat die Fragestellung von Fritzes Artikel für wissenschaftlich legitim, hingegen die historische und moralphilosophische Untersuchung in Anlage und Durchführung für verfehlt. Der Beirat billigte die Haltung, die der Direktor „im Zusammenhang mit dem Artikel von Herrn Dr. Lothar Fritze vor und nach der Veröffentlichung in der Frankfurter Rundschau (8.11.1999) eingenommen" hatte. Auch er hielt die Publizierung des Artikels in der großen Tagespresse aus Anlaß des 60. Jahrestages des Hitler-Attentats für unverantwortlich. Ferner mißbilligte der Beirat die Haltung des stellvertretenden Direktors Dr. Uwe Backes. Er hielt das notwendige Vertrauensverhältnis im Direktorium angesichts des Führungskonflikts für nicht mehr gegeben und empfahl dem Kuratorium, das Arbeitsverhältnis mit Backes zu lösen. Da die Forschungskompetenz von Lothar Fritze auf anderen Gebieten wesentlich besser ausgewiesen sei als auf dem Gebiet des Nationalsozialismus, empfahl der Beirat schließlich, dies bei der künftigen Arbeitsplanung des HAIT zu berücksichtigen. Alle Punkte der Entschließung wurden gegen die Stimme eines Beiratsmitglieds angenommen, bei der Backes betreffenden Empfehlung enthielt sich ein weiteres Beiratsmitglied der Stimme. Der an der Teilnahme verhinderte amerikanische Zeithistoriker Friedlaender hatte den Vorsitzenden bereits unter dem 15. November wissen lassen, daß er nicht bereit sei, mit Backes, Fritze und Jesse weiter zusammenzuarbeiten. Für die Beschlußfassung der Beiratsmehrheit war maßgebend, daß auch sie Fritze zubilligte, sich „verrannt" zu haben. Das Verhalten des Stellvertretenden Direktors Backes bewertete sie dagegen als einen Akt bewußter Illoyalität, der den Konflikt mit dem Vorstand auf Dauer stellen wollte und die für den Ruf des Instituts unverzichtbare Vertrauensgrundlage zerstörte. Da das Kuratorium diese Stellungnahme lediglich zur Kenntnis nahm, eine Entscheidung aber auf den 16. Dezember 1999 verschob, bat der Beiratsvorsitzende die übrigen Mitglieder des Beirats, bis zu diesem Zeitpunkt Zurückhaltung zu wahren. Er selbst teilte auf Anfrage der Medien nur die den Elser-Artikel betreffenden Punkte mit.

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IV. Eskalation in der Öffentlichkeit In den folgenden Wochen wurde indessen deutlich, daß die Beiratsmehrheit den weiteren Gang der Dinge kaum noch bestimmten konnte, weil der Konflikt durch Einflußnahmeversuche von außen verschärft und schließlich in die Öffentlichkeit getragen wurde. Diese Entwicklung setzte kaum zufällig im Vorfeld der - vermeintlich - entscheidenden Kuratoriumssitzung vom 16. Dezember 1999 ein. Das Kuratorium hatte bis dahin nicht erkennen lassen, ob es gewillt war, den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats zu folgen. Versuche der Beeinflussung lagen daher nahe. Soweit erkennbar, begannen sie mit einem Schritt des Dresdner Beiratsmitglieds Patzelt, der zur Überraschung der Beiratsmehrheit am 12. Dezember eine Kehrtwendung vollzog und sich nunmehr demonstrativ vor Backes stellte. Ein entsprechendes Schreiben ging auch den Mitgliedern des Kuratoriums zu. Nahezu gleichzeitig fand ein anderer, nachgerade bizarrer Versuch der Einmischung statt, und zwar von seiten des damaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Peter Frisch. Mit Backes und Jesse in langjähriger Zusammenarbeit verbunden, dürfte er auf deren Bitten hin tätig geworden sein, indem er zunächst in einem Privatanruf beim Direktor des HAIT, sodann in einem Schreiben an alle Kuratoriumsmitglieder, das auffalligerweise aber nicht dem Vertreter des Beirats zuging, eine Ehrenerklärung für Backes abgab, den er wegen umlaufender Verdächtigungen ausdrücklich gegen den Vorwurf rechtsradikaler Anschauungen in Schutz nahm. Die Kuratoriumssitzung vom 16. Dezember brachte keine Entscheidung in der Sache. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den von Fritze und Backes vertretenen Positionen und der Stellungnahme des Beirats fand nicht statt. Hinsichtlich des Stellvertretenden Direktors Backes wurde von einem Juristen des Wissenschaftsministeriums vorgebracht, daß arbeitsrechtliche Gründe gegen eine Entlassung sprächen. Statt dessen bot der Sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst an, eine außerrechtliche Lösung zu suchen, die freilich zur Voraussetzung hatte, daß die Beteiligten Ruhe bewahrten und der Streit nicht erneut in die Schlagzeilen geriet. Ruhe war im Interesse des HAIT auch deshalb geboten, weil den Beteiligten klar sein mußte, daß es hinsichtlich der Forschungsausrichtung des Instituts Divergenzen zwischen Wissenschaftsminister und Kuratoriumsvorsitzendem gab. Überdies hatte der Trägerverein des HAIT auf Betreiben Rößlers soeben in aller Stille eine Satzungsänderung beschlossen, die es der PDS als größter Oppositionspartei im Sächsischen Landtag verwehren sollte, den ihr zustehenden Platz im Kuratorium einzunehmen.19 Institutspolitische, wissenschaftspolitische, politische und persönliche Interessen überkreuzten sich also auf vielfältige Weise, als am Ende der Kuratoriumssitzung „mehr Fragen offen als geklärt" waren. Diesen Schwebezustand zu beenden war augenscheinlich das Anliegen jener, die die Weihnachtspause dazu nutzten, um den Konflikt an die Öffentlichkeit zu tragen. Wer trägt hierfür die Hauptverantwortung? Als das Dresdner Beiratsmitglied Patzelt Anfang Januar 2000 unter Umgehung des Beirats seinen Dissens in die Presse 19

DER SPIEGEL Nr. 1 vom 3. Januar 2000, Artikel „Gräßliche Dinge".

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brachte und sich vor seinen Beiratskollegen zu rechtfertigen suchte, hat er dem Direktor des HAIT die Schuld zugeschrieben: Henke habe „seit Mitte Dezember nichts unversucht" gelassen, „um das Institut und dessen internen Streit zum Zweck der Erledigung von Backes in die Medien zu bringen". Jedenfalls setzte in den letzten Dezembertagen in Teilen der Presse eine Kampagne ein, in deren Verlauf nach einem Leserbriefkrieg der Anruf des Verfassungsschutzpräsidenten zur Agentenfarce mutierte und der im fernen Kalifornien weilende Friedlaender mit einer ultimativen Rücktrittsdrohung und Hinweisen auf seine Verbindungen zur amerikanischen Ostküstenpresse gegen die Sächsische Staatsregierung in Stellung gebracht wurde. Die Süddeutsche Zeitung sah durch Friedlaenders Drohung nicht allein die reichlich fließenden Drittmittel des HAIT, namentlich auch ein groß dimensioniertes Projekt zur Erforschung der Dresdner Bank, sondern die Existenz des Instituts selbst gefährdet. 20 Daß sich selbst ein mit der historischen Wahrheit auf Kriegsfuß stehender Autor wie Rolf Hochhuth für die angeblich geknechtete Wissenschaftsfreiheit und damit für Backes glaubte verwenden zu müssen, beleuchtet schlagartig, zu welch eigenartigen Frontbildungen und zu welch unsinnigen Unterstellungen es kommen konnte.21 Es zeigt aber auch, daß der eigentliche Gegenstand des Konflikts - Fritzes mißlungene Demonstration von „Zivilcourage" am untauglichen Objekt und Backes' Versuch, diesen Anlaß für einen Führungskonflikt und eine Umprofilierung des HAIT zu nutzen - in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle mehr spielte. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung Anfang Januar 2000 mit einem Spiegel-Artikel, der schlankweg behauptete, das HAIT bringe „sich durch rechtslastige Tendenzen um seinen Ruf'. Dem Kuratoriumsvorsitzenden warf er vor, den Ausschluß der Opposition aus dem Kuratorium „handstreichartig ... durchgeboxt" zu haben. Selbst eine Gefahrdung des Institutsnamens hielt der Artikel für möglich.22 Die hiermit erreichte, auch in der Umgebung Rößlers auf Henke zurückgeführte Eskalation der Berichterstattung war für Patzelt Anlaß, nun seinerseits an die Öffentlichkeit zu gehen. Seine Pressemitteilung enthielt schwerwiegende Angriffe auf Henke, dem vorgeworfen wurde, eine Rufmordkampagne gegen Backes inszeniert zu haben.23 Patzelt verfolgte das erklärte Ziel, den Fall Backes zu einem Fall Henke zu machen. Deshalb enthielt seine Mitteilung auch Anschuldigungen gegen die Beiratsmehrheit, der er vorwarf, mit Henke gemeinsame Sache gemacht zu haben. Weder damals noch später hat Patzelt sehen wollen, daß das 20

Vgl. SZ vom 20. Dezember 1999, Artikel „Forsch, Forschung. Ist das Hannah-Arendt-Institut gefährdet?"; Leserbriefe in den Ausgaben vom 23., 27. und 30. Dezember. FAZ vom 27. Dezember 1999, Artikel „Streit um Elser. Querelen am Hannah-Arendt-Institut", Leserbrief Frischs in der Ausgabe vom 31. Dezember 1999; FAZ vom 6. Januar 2000, Artikel „Dresdner Bank besorgt über Querelen am Hannah-Arendt-Institut" .

21

Vgl. Augsburger Zeitung vom 27. Dezember 1999, Artikel „Attentat auf Hitler zeigt Spätfolgen". - Auch der Beiratsvorsitzende hatte sich gegen den von prominenter Seite erhobenen Vorwurf „skandalöser Unterdrückung der Forschungsfreiheit" zu verwahren. WieAnm. 19. Pressemitteilung Patzelts „Intrigen am Hannah-Arendt-Institut", [4. Januar 2000]; Leipziger Volkszeitung vom 5. Januar 2000, Artikel „Am Dresdner Hannah-Arendt-Institut schwelen die Konflikte".

22 23

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Verhalten seiner Beiratskollegen als eigenständige, weder von Friedlaender noch von Henke bestimmte Konfliktlinie zu verstehen ist, daß die Beiratsmehrheit also aus Beobachtungen selbst ihre Schlüsse zog. Während in diesen Januartagen die Berichterstattung in den Medien allmorgendlich für neue Adrenalinstöße sorgte und die Ausgangslage des Streits sich bis zur Unkenntlichkeit verschob, hatten der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats und die seine Linie mittragenden Kollegen es bislang strikt vermieden, den Konflikt öffentlich zu schüren, „um die Suche nach Möglichkeiten für eine außerrechtliche tragfähige Lösung nicht zu erschweren". Daß ihre personellen Empfehlungen an das Kuratorium gleichwohl von interessierter Seite an die Öffentlichkeit getragen wurden, konnten sie nur mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. Mit der Torpedierung einer „außerrechtlichen Lösung" durch Patzelt war freilich eine neue Lage entstanden, zumal er „die Dinge so darfstellte], als lasse die Entschlußbildung des Beirats Sachkunde und Unabhängigkeit vermissen". Der Beiratsvorsitzende fühlte sich daher am 6. Januar 2000 zu einer öffentlichen Klarstellung verpflichtet, die den Kern der Auseinandersetzung in Erinnerung rief, nämlich die (einzeln nachgewiesenen) Schwächen des Fritze-Artikels, die Konsequenzen, welche er für das „Ansehen und den Auftrag des HAIT" haben konnte, und das illoyale, auf „Gegenprofilierung" bedachte Verhalten des Stellvertretenden Direktors Backes. Die Pressemitteilung endete mit dem Wunsch nach einer Lösung, die es dem HAIT erlaube, „das hervorragende Forschungsniveau" zu bewahren, „das es unter der Leitung von Herrn Henke erreicht hat".24 Auch diese Hoffnung mutet im Nachhinein eigentümlich wirklichkeitsfremd an, denn schon einen Tag später wurde ihr die Grundlage entzogen. Während die Frankfurter Rundschau am 7. Januar 2000 noch von einem „Show-down nach Dresdner Art und in provinzieller Selbstherrlichkeit" orakelte und Sachsens CDU unterstellte, das Institut als „Kommunistenfreßmaschine" konzipieren zu wollen,25 betätigte sich der Dresdner FAZ-Korrespondent Peter Carstens gleichzeitig als Sprachrohr des Kuratoriumsvorsitzenden. In einem knappen Artikel teilte er mit, daß Rößler Backes nicht nur nicht zu kündigen, sondern im Gegenteil Henke für eine weitere Amtszeit nicht zu verlängern gedenke.26 Damit hatte der Streit unter Desavouierung der Beiratsmehrheit, mit deren Argumenten das Kuratorium sich nicht auseinandergesetzt hatte, ein unerwartet frühes Ende gefunden; was noch an schriller Begleitmusik folgte, in Form von Unterstellungen oder Schuldzuweisungen, in Presseberichten von teils auffälliger Parteilichkeit oder in Leserbriefen bisweilen peinlichen Zuschnitts, hat diese frühe Festlegung nicht mehr verändert, doch manchen Nebenkriegsschauplatz eröffnet und den ursprünglichen Konflikt immer weiter in den Hintergrund gedrängt. 24

Mitteilung „Zum Konflikt am Hannah-Arendt-Institut in Dresden", 6. Januar 2000.

25

FR v o m 7. Januar 2000, Artikel „Die Bombe, Rauchvergiftung nicht auszuschließen. Elsers Hitlerattentat, eine Vorlesung und das Erschrecken: Ein Wissenschaftsstreit gerät zur politischen Affare". - Die Gegenposition wurde in DIE WELT vertreten, die in ihrer Ausgabe vom 8. Januar 2 0 0 0 mit gleich drei Beiträgen aufwartete, darunter einem aus der Feder von Eckhard Jesse.

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FAZ v o m 7. Januar 2000, Artikel „Rößler: Backes wird nicht gekündigt".

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Der nach dem 7. Januar an sich fällige und bereits in Schriftform gebrachte Rücktritt der Beiratsmehrheit27 wurde wegen der nunmehr intensivierten Bemühungen des Wissenschaftsministers, doch noch eine „Lösung in aller Stille" zu suchen, zurückgestellt, obgleich es nach den öffentlich mitgeteilten Festlegungen des Kuratoriumsvorsitzenden zweifelhaft war, ob sich die Linie des Ministers Meyer noch würde durchsetzen lassen.28 Immerhin schien zeitweise Optimismus angebracht und Ruhe einzukehren. Auch die Frankfurter Allgemeine fand zu ausgewogener Betrachtung.29 Nur gelegentlich tauchte der Streit noch in den Schlagzeilen auf, so Ende Januar 2000, als sich der Direktor per Einstweiliger Verfugung gegen Entgleisungen Patzelts zur Wehr setzte,30 oder Mitte März, als in der Frankfurter Allgemeinen eine ansonsten abgewogen urteilende „Fremde Feder" bei der Analyse des Konflikts gründlich daneben griff und den Streit in die „lange Geschichte deutscher Neurosen" einordnete.31

V. Nachbeben Auch in den folgenden Monaten zeichnete sich kein Ende der Krise ab. Die Auslöser des Streits waren gleichsam „abgetaucht". Die turnusmäßige Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 6. Oktober 2000 lag seit dem Herbst 1999 fest. Auf ihr hatte satzungsgemäß die Aussprache und Beschlußfassung über den Arbeitsbericht des Direktors und den „Arbeitsplan 2001" zu erfolgen. Das Votum des Beirats war wiederum den Beratungen des Kuratoriums zugrunde zu legen. Hieraus hätte sich eine entsprechende Sitzungsabfolge ergeben müssen. Es mußte daher auffallen, daß das Kuratorium bereits für den 11. September 2000 zu einer Sitzung eingeladen wurde, auf der u. a. die erst zum 31. Januar 2002 akute Frage einer Verlängerung der Amtszeit des Direktors erörtert werden sollte. Auf dieser Sitzung wurde Henke unter handstreichartigen Umständen abgewählt,32 ohne daß zuvor die satzungsgemäß gebotene Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats eingeholt worden wäre. Der Beiratsvorsitzende konnte daher auf dieser Sitzung nur für seine Person sein Befremden zum Ausdruck bringen, da der Beirat, wie dem Kuratorium bekannt 27

28

29

30 31 32

Entsprechende Rücktrittserklärungen an den Kuratoriumsvorsitzenden tragen das Datum des 9. Januar 2000. Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 7. Januar 2000, Artikel „Streit am Dresdner Institut - Minister sucht nach Lösung. Meyer sieht keinen Grund zur Entlassung des Vize-Direktors"; FAZ vom 8. Januar 2000, Artikel „Lösung in aller Stille. Entschärfung am Hannah-ArendtInstitut". FAZ vom 15. Januar 2000, Artikel „Überzeugungstäter"; mit eher resignativem Unterton SZ vom 13. Januar 2000, Artikel „In aller Stille ein Aufruhr"; DIE ZEIT vom 13. Januar 2000, Artikel „Eine Selbstschädigung". Vgl. FAZ vom 28. Januar 2000, Artikel „Überzogen". Peter Graf Kielmansegg, Eine deutsche Affäre, in: FAZ vom 20. März 2000. Vgl. etwa FAZ vom 14. September 2000, Artikel „Stille Lösung".

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war, noch nicht getagt hatte. Er gab im übrigen zu Protokoll, daß er und zwei weitere Beiratsmitglieder für eine neue Amtsperiode nicht zur Verfügung stünden. Anstelle der „stillen Lösung" Meyers war somit die „laute" Rößlers getreten, denn es war unschwer vorauszusehen, daß die Abwahl Henkes, namentlich auch die Umstände ihres Zustandekommens, ein entsprechendes Echo finden würden. Auch mußte der Verzicht auf jedwede Begründung „der Spekulation Tür und T o r " öffnen.33 Das lebhafte Echo in den Medien ist hier nicht nachzuzeichnen.34 Der in der Frankfurter Allgemeinen geäußerte Verdacht, es solle nun versucht werden, „das Institut in aller Stille umzuwandeln und unmittelbar für die (Tages-)Politik zu nutzen", 35 wurde in einer späteren Ausgabe des Blattes noch zu der Behauptung zugespitzt, nirgendwo rede die Politik so selbstherrlich in die wissenschaftlichen Angelegenheiten hinein w i e in Sachsen.36 Dies mag den gelegentlich des Aachener Historikertages zusammengetretenen Verband der Historiker Deutschlands bewogen haben, auch seinerseits „mit Befremden" festzustellen, daß das Kuratorium seine Entscheidung getroffen habe, „ohne zuvor das Votum des Wissenschaftlichen Beirats oder eine anderweitige Evaluierung der wissenschaftlichen Arbeit des Instituts eingeholt zu haben." 37 Angesichts dieser vorzeitigen Weichenstellungen war die Beiratssitzung am 6. Oktober 2000 nicht mehr als ein Abgesang, der nach der satzungsgemäßen Bewertung der Institutsarbeit, einem eingehenden Lagebericht und anschließender Aussprache mit dem Rücktritt der Beiratsmehrheit endete. Sie begründete ihren Schritt in einer vorbereiteten Erklärung, die noch einmal unterstrich, daß der ursprüngliche Konflikt eine Wendung genommen habe, deren Kern „in der Spannung von wissenschaftlicher Autonomie und politischem Interesse" liege, und sie „eine zu enge Bindung des Instituts an die Politik" ablehne.38 Der Vorsitzende hatte diesen Text allen Beiratsmitgliedern im voraus zur Kenntnis gebracht und ein gleiches Maß an Fairneß von den Dissenters erwartet. Davon konnte indes keine Rede sein. Vielmehr überzogen Patzelt und Jesse den Beiratsvorsitzenden in ihrer nachgeschobenen Erklärung erneut wider besseres Wissen mit Beschuldigungen, die anschließend richtigzustellen sich Patzelt gezwungen sah.39 Der Gipfel an Einseitigkeit wurde indessen in der Frankfurter Allgemeinen erreicht, und zwar in einem Beitrag ihres Dresdner Korrespondenten Peter Carstens,

33

Leserbrief Hockerts', F A Z vom 16. Oktober 2000.

34

Für die Rößler-kritische Presse bezeichnend SZ vom 16./17. September 2000, Artikel „Feurige Intrige, eiskalt inszeniert. Der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden wurde entlassen: Ist die Politik schuld daran?"

35

W i e Anm. 32.

36

F A Z vom 21. September 2000, Artikel „Dresdner Stimmung".

37

Resolution des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands vom 28. September

38

Erklärung des Wissenschaftlichen Beirats des Hannah-Arendt-Instituts, 6. Oktober 2000.

39

Erklärung von Prof. Dr. Eckhard Jesse und Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Mitglieder des Wissen-

2000.

schaftlichen Beirats am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 6. Oktober 2000; Patzelt an Hockerts, 7. Oktober 2000, mit berichtigendem Zusatz.

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„Eine deutsche Affare"?

der sich schon im Januar als Sprachrohr des Kuratoriumsvorsitzenden betätigt hatte und seine Pfeile, kaum zufällig, am Morgen des Sitzungstages abschoß.40 Carstens präsentierte seine Lagebeschreibung in auffalliger Schieflage, die bis in den Tonfall, die Verzerrungen, Überzeichnungen und Unterstellungen hinein die Tendenz ihrer Informationsbasis offenbart. Eine unverzüglich abgesandte Richtigstellung in Leserbriefform wurde erst mit auffalliger Verspätung gebracht.41 Zu den gegen den Beirat erhobenen Vorwürfen gehörte auch die Unterstellung, die satzungsmäßig gebotene Evaluierung der Institutsarbeit verweigert zu haben. In der Tat hatte der Beirat vor Bekanntwerden des Konflikts beschlossen, sich dieser Aufgabe am 31. März/1. April 2000 zu unterziehen. Er hatte damit auf einen gegenläufigen Vorstoß aus dem Kuratorium reagiert, der - satzungswidrig - die generelle Vergabe der Evaluation „nach außen" verlangt hatte.42 Mitte März ergab sich indessen per Rundfrage, daß die Mehrheit des Beirats angesichts der inzwischen eingetretenen Lage für eine Verschiebung plädierte. Hierfür war ein ganzes Bündel von Erwägungen ausschlaggebend: die öffentlich erfolgte Präjudizierung eines negativen Evaluierungsergebnisses durch das Beiratsmitglied Patzelt, das gestörte Vertrauensverhältnis im Beirat infolge des Verhaltens zweier Mitglieder, der Rücktritt des Beiratsmitglieds Friedlaender sowie die schwebenden Rücktrittserwägungen dreier weiterer Beiratsmitglieder, die unter den obwaltenden Umständen verständliche Weigerung eines um Mitwirkung gebetenen auswärtigen Fachkollegen, endlich auch das offenkundige Desinteresse des Kuratoriums und der Aufsichtsbehörde, die auf entsprechende Vorschläge des Beiratsvorsitzenden nicht reagiert hatten.43 Auch das Kuratoriumsmitglied, das im Spätsommer 1999 mit Vehemenz für eine auswärtige Evaluierung plädiert hatte, äußerte sich nicht.44 Ohnehin war nicht anzunehmen, daß auch die bestmögliche Evaluierung an den Absichten des Kuratoriumsvorsitzenden etwas hätte ändern können. Schon die Reihenfolge der Tagesordnung der Kuratoriumssitzung vom 11. September 2000 zeigt, daß man erst „Henke loswerden, danach über Verfahren und Zeitplan der Evaluierung nachdenken [wollte]", denn niemand konnte bezweifeln, „daß das Institut unter Henkes Leitung ein hohes Forschungsniveau und zu Recht viel Ansehen in der nationalen wie internationalen Scientific Community gewonnen hat."45

40

41 42

43

44 45

Peter Carstens, Unsichere Zukunft. Der Streit über das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, in: FAZ vom 6. Oktober 2000. WieAnm. 33. Der diesem Vorgang folgende Briefwechsel ist ein weiterer Beleg für nie offen ausgesprochene Kommunikationsstörungen zwischen Kuratorium und Beirat. Der Beiratsvorsitzende hatte dem Wissenschaftsminister „drei alternative Möglichkeiten der Evaluierung" unterbreitet: „(1) rasche Besetzung der drei bzw. vier vakanten Plätze des Beirats, damit hauptsächlich neue, [, d. h. durch den laufenden Streit unbelastete] Mitglieder evaluieren, (2) Evaluierung durch den für März 2001 neu zu berufenden Beirat, (3) eine externe Evaluierung". Vgl. Anm. 42. Wie Anm. 33.

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Während die zurückgetretenen Beiratsmitglieder ihren Schritt gegenüber dem Kuratoriumsvorsitzenden in persönlichen Schreiben begründet hatten,46 erfuhren sie dessen Reaktion nur aus der Presse. So sah sich der zurückgetretene Beiratsvorsitzende Hockerts von Rößler durch einen Beitrag der Süddeutschen Zeitung aufgefordert, doch „mal ein Beispiel" für politische Einflußnahme zu nennen.47 „Das", hieß es später im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen spitz, „hätte der Minister besser nicht getan",48 denn Hockerts nannte nun brieflich, also wiederum nicht öffentlich, gleich fünf Beschwerdepunkte: 1. die ständigen Versuche des Kuratoriums, den Beirat zu gängeln oder zu umgehen; 2. die Knüpfung der Stelle eines zweiten Stellvertretenden Direktors an politische Bedingungen; 3. befremdliche Auslassungen auf der Kuratoriumssitzung vom 11. September 2000, die auf stärkeren Einfluß des Kuratoriums auf die wissenschaftliche Institutsarbeit zielten; 4. die satzungswidrige Abwahl Henkes vor Einholung des Votums des Wissenschaftlichen Beirats; 5. die Beschränkung des Kuratoriumsvorsitzes auf einen Landtagsabgeordneten und die dubiosen Umstände von Rößlers „Wahl". Da im Verlauf des Konflikts die Vertraulichkeit immer nur einseitig, nämlich von der Beiratsmehrheit, gewahrt worden war, bat Hockerts abschließend darum, von ihr entbunden zu werden, um der öffentlichen Aufforderung des Kuratoriumsvorsitzenden auch öffentlich nachkommen zu können. Man wird die Antwort des Ministers als ein Beispiel „politischen" Reagierens bezeichnen dürfen: Er ließ Hockerts eine Pressemitteilung49 zugehen, in welcher der Direktor auf Abruf Henke mit den Worten zitiert wurde: „Es hat auf die inhaltliche wissenschaftliche Arbeit seitens des Kuratoriums keine politische Einflußnahme gegeben. Das Kuratorium hat mir in der Vergangenheit kein wissenschaftliches Thema vorgegeben" - was allerdings auch niemand behauptet hatte. Die Erklärung selbst, unter gleichfalls eigenartigen Umständen zustande gekommen, war von Henke nicht autorisiert. Die Bitte um Entbindung von der Vertraulichkeit hatte Rößler ohne Antwort gelassen. Dennoch sah Hockerts auch nach dieser neuerlichen Brüskierung davon ab, an die Presse zu gehen. Er unterrichtete lediglich eine „begrenzte Öffentlichkeit", nämlich das Professorium der Philosophischen Fakultät der TU Dresden, das die Vorgänge schon seit langem wegen der institutionellen Verbindung von TU und HAIT mit einiger Sorge verfolgt hatte. Dessen Sprecher Rehberg entwarf daraufhin ein Diskussionspapier, das im Plenum eingehend erörtert wurde. Wegen gleichzeitiger politischer Gerüchte, die mit dem zeitweiligen Interesse Rößlers an der Übernahme des Fraktionsvorsitzes und den ihm nachgesagten Ambitionen auf die Nachfolge Biedenkopfs zusammenhingen,50 fanden die Beratungen 46 47 48

49 50

Die entsprechenden Schreiben tragen das Datum des 9. Oktober 2000. SZ vom 10. November 2000, Artikel „Geschichtsstunden im Geisterhaus". FAZ vom 10. Januar 2001, Artikel „Vorhang zu! Das Hannah-Arendt-Institut im Griff der Politik". Pressemitteilung vom 10. November 2000. Vgl. SPIEGEL ONLINE vom 10. Dezember 2000, Artikel „Stolpert Minister Rößler über geforderte Beispiele?"

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auch öffentliches Interesse, zumal mit Henke und Patzelt zwei Antipoden des Streites dem Professorium angehören. Der Kuratoriumsvorsitzende fühlte sich sogar veranlaßt, seine Sicht dem Gremium persönlich vorzutragen. Indessen vermochten er wie in Sonderheit auch Patzelt die vorherrschende Skepsis nicht zu entkräften: Am 8. Januar 2001 wurde „mit mehr als einer Zweidrittelmehrheit" eine Stellungnahme verabschiedet, die das Vorgehen des Kuratoriums „mit Befremden" zur Kenntnis nahm, Orientierung „an seinen satzungsmäßigen Aufgaben" verlangte sowie ,jede Dominanz politischer Gesichtspunkte oder eine unangemessene Durchdringung politischer und wissenschaftlicher Zielsetzungen" zu vermeiden empfahl. „Vor allem" seien „gerade bei inhaltlichen Fragestellungen und Konflikten auch die Rechte des Wissenschaftlichen Beirates zu wahren". Immerhin glaubte das Gremium nach den Erklärungen des Kuratoriumsvorsitzenden „zu der Hoffnung Anlaß" zu haben, „daß die wissenschaftliche Unabhängigkeit des HAIT künftig gewahrt bleiben wird."51 Zu welchem Kurswert diese Erklärungen zu nehmen sind, bleibt allerdings abzuwarten. Man hat inzwischen zu registrieren,52 daß durch Neuberufungen in den Beirat dessen historischer Sachverstand auf einen Historiker reduziert und daß zum neuen Vertreter des Beirats im Kuratorium einer der Antipoden des alten Konflikts ernannt worden ist. Sollen dies alles Indizien für einen „Neuanfang" sein?

VI. Katzenjammer Kurz vor dem vorläufigen (?) Schlußpunkt der Auseinandersetzungen am HannahArendt-Institut hat die Sächsische Zeitung zur Kennzeichnung des Streits tief in den Fundus der abendländischen Bildungstradition gegriffen und ihn eine „griechische Tragödie" genannt.53 Betrachtet man indessen die Akteure, die in Haupt- oder Nebenrollen den Streit auf die öffentliche Bühne brachten, prüft man ihre Argumente und Vorbringungen, gewichtet man das mitunter beklagenswerte Niveau der Beschuldigungen und Unterstellungen, fragt man ferner nach den zugrunde liegenden Motiven und sucht man endlich das Geflecht einander überkreuzender Interessen zu entwirren, so wird man doch eher von einem - allerdings gründlich unheiteren - Satyrspiel sprechen. Der ursprüngliche Anlaß der Auseinandersetzungen, die Sorge um den guten Ruf des Instituts und die unverkürzte Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit, die in der Tat allen Einsatzes wert ist, ist durch die Eskalation des Streites und die Einmischung der Politik völlig in den Hintergrund 51

52 53

Stellungnahme des Professoriums zur Entscheidung des Kuratoriums des Hannah-ArendtInstitutes für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden (HAIT) gegen eine Verlängerung des Vertrages mit dem Direktor Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke, [8. Januar 2001]; Begleitschreiben Rehbergs, 9. Januar 2001. FAZ vom 23. Dezember 2000, Artikel „Drei neue Beiräte am Hannah-Arendt-Institut". Sächsische Zeitung vom 5. Oktober 2000, Artikel „Eine griechische Tragödie. Der Streit am Hannah-Arendt-Institut geht weiter".

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des Streites und die Einmischung der Politik völlig in den Hintergrund getreten. Man erkennt dies bereits an den Formveränderungen des Konflikts: Der „Fall Fritze" wurde schon rasch zum „Fall Backes", mutierte mit wachsender Publizität zum „Fall Henke" und dieser schließlich wandelte sich mit wachsender Aktivität des Kuratoriumsvorsitzenden zu einem Fall offenkundiger Infragestellung der wissenschaftlichen Autonomie des Instituts durch die Politik. Ebenso irrig ist aber auch die Meinung jenes anderen Kommentators, der, ein halbes Jahr zuvor, geglaubt hatte, die Vorgänge am HAIT als „deutsche Affäre" in die Geschichte deutscher Vergangenheitsneurosen einordnen zu können. 54 „Neurotisch" waren sie allenfalls am Rande und lediglich zu Beginn, als die Rücktrittsdrohung Friedlaenders und daran anknüpfende Erwägungen hinsichtlich möglicher Folgen für das Institut und seine Projekte in Teilen der Presse für Aufregung sorgten, die von Überzogenheiten nicht frei waren. „Neurotische" Züge wären indessen auch Backes' Kreuzzug gegen Zeitgeist-Anwandlungen zu attestieren, der mit Fritzes deplorablem Artikel allerdings an einem gänzlich ungeeigneten Gegenstand exerziert wurde. Das eigentlich Kennzeichnende des Konflikts liegt jedoch m. E. in etwas anderem: Der Umgang mit einem zwar „privat" zu verantwortenden, aber mit dem Institut in Verbindung gebrachten und zu Mißverständnissen geradezu einladenden Beitrag eines Mitarbeiters offenbart unterschwellige Spannungen im Institut zwischen Direktor und einem Teil der (ostdeutschen) Mitarbeiter. Diese Spannungen werden von einem (westdeutschen) stellvertretenden Direktor zu einem handfesten Richtungsstreit umgemünzt und unter Umständen, in denen Rechthaberei und missionarischer Bekenntniseifer eine eigentümliche ost-/westdeutsche Mischung eingehen, mit der Profilierungsfrage des Instituts verknüpft. Nachdem die internen Auseinandersetzungen durch Fritzes Uneinsichtigkeit, Backes' Illoyalität und Jesses Züngeln hinter den Kulissen in die Öffentlichkeit getragen und der Name des Instituts in die Schlagzeilen geraten sind, entgleitet die auch von Henke und Patzelt forcierte Entwicklung mehr und mehr der Kontrolle, zumal beide Seiten die Medien für ihre Zwecke zu nutzen suchen, indessen nur zu Opfern von Sensationsmache und Effekthascherei werden. Der Skandal fängt indessen erst an, als - frei nach Karl Kraus - die Politik ihm ein Ende macht. Der Kuratoriumsvorsitzende und die ihn stützende Kuratoriumsmehrheit zeigen nämlich vom Bekanntwerden des Konflikts an keine Neigung, sich mit den gravierenden Vorbringungen gegen Fritzes Artikel und Backes' Verhalten ernsthaft auseinanderzusetzen und dem Direktor in dem schwebenden Führungsstreit den Rücken zu stärken. Vielmehr enthüllt die Krise ein latentes Mißtrauen des Kuratoriums gegenüber dem Direktor, seiner Personalpolitik und seinem wissenschaftlichen Kurs; sie offenbart ferner ein distanziertes Verhältnis zum Wissenschaftlichen Beirat, dessen Rat vom Kuratoriumsvorsitzenden nicht gesucht wird. Überhaupt verkörpert bei diesem „Drama" der Wissenschaftliche Beirat, näherhin die Beiratsmehrheit, den Part des ahnungslosen und zu spät informierten Außenseiters. Der Beirat kann nicht mit einer Stimme sprechen, da das Mitglied Jesse von 54

Wie Anm. 31.

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„Eine deutsche Affare"?

vornherein auf der „anderen" Seite steht, ein Mitglied (Friedlaender) sich durch ein unglücklich formuliertes Ultimatum frühzeitig selbst aus dem Geschehen hinauskatapultiert hat und ein weiteres (Patzelt) bald zu Jesse übertritt. Die verbliebenen Mitglieder um den Vorsitzenden geben sich im dringenden Interesse des HAIT der Hoffnung hin, es könne durch Orientierung an praktischer Vernunft, Einhaltung von Absprachen, Fairneß und Bewahrung der Vertraulichkeit gelingen, den Konflikt aus den Schlagzeilen zu holen und einen Ausweg aus der Krise zu finden, wie ihn der die Fachaufsicht führende Wissenschaftsminister in Aussicht gestellt hat. Außer Zweifel steht, daß der Kampagnencharakter, den die Presseberichterstattung um die Jahreswende 1999/2000 angenommen hat, daß auch Vorwürfe hinsichtlich der tatsächlichen oder vermuteten Art der Informationsstreuung, die in diesem Zusammenhang gegen den Direktor, aber merkwürdigerweise nur gegen diesen, laut werden, „bei einem Teil des Kuratoriums Sorge allmählich in stille Wut verwandelte." 55 Am 7. Januar 2000 wird es öffentlich: Die Kuratoriumsmehrheit ist entschlossen, Henkes Vertrag nicht mehr zu verlängern. Die alsbald nachgeschobene Ankündigung des Wissenschaftsministers, doch noch eine „stille Lösung" zu suchen, ergibt unter diesen Umständen nur dann noch einen Sinn, wenn dahinter die Absicht steht, neben Henke auch Backes aus dem Institut zu entfernen. Der Versuch des Beiratsvorsitzenden, durch eine öffentliche Erklärung den ursprünglichen Konflikt in Erinnerung zu rufen, die alte „Schlachtordnung" also wieder herzustellen und auf Lösungen zu sinnen, die das Ansehen des Instituts nicht noch mehr beschädigten und eine Fortsetzung seiner erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit ermöglichen, muß durch Rößlers Festlegung wirkungslos bleiben. Ohnehin durch die Parteinahme der dissentierenden Minderheit an einheitlichem Auftreten gehindert, wird der Beirat überdies vom Kuratorium brüskiert und muß durch die demonstrativ frühe Abwahl des Direktors zur Kenntnis nehmen, daß selbst die satzungsmäßig gebotene Bewertung der Institutsarbeit für entbehrlich gehalten wird. Nachdem das Kuratorium mit der denkwürdigen Sitzung vom 11. September 2000 den Charakter des Konflikts ein weiteres Mal verändert und sich selbst ins Unrecht gesetzt hat, hat es zugleich den Streit auf seinen eigentlichen, wenngleich zu Beginn noch verborgenen Kern gebracht: die Spannung zwischen wissenschaftlicher Autonomie und politischem Interesse. Dies ist ihm durch das Verhalten derer erleichtert worden, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in diesem Konflikt ihre Lunten in Richtung Öffentlichkeit gelegt hatten. Als das Zündeln sich zum Flächenbrand ausgeweitet hatte, war es zu spät. Neben einem stark beschädigten Institut und allgemeinem Katzenjammer bleibt am Ende nur noch die Suche nach den vermeintlich „Schuldigen". In diesem Zusammenhang sollen die Beteiligten aus ministeriellem Mund als „fensterlose Monaden" bezeichnet worden sein.56 Das Wort wäre durch den Hinweis zu ergänzen, daß bei Leibniz von Monaden in prästabilierter Harmonie die Rede ist. 55 56

FAZ vom 10. Januar 2000, Artikel „Am Rand der Selbstzerstörung". Vgl. Peter Carstens, Der Beirat ist handlungsunfähig. Drei Rücktritte am Hannah-ArendtInstitut. Wechselseitige Vorwürfe, in: FAZ vom 9. Oktober 2000.

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Franz-Reiner Erkens

Von Paderborn nach Rom: Ein Kaiserweg?

Der König hatte, während die festlich gewandete Geistlichkeit in drei Gruppen Aufstellung nahm und das waffengeschmückte Heer sich zu einem offenen Kreise formierte, die Mitte des Runds aufgesucht und erwartete, einen goldenen Helm auf dem Haupt und sein Gefolge überragend (wenn wir den Worten des Dichters glauben wollen 1 ), den hohen Gast, dem er seinen Sohn Pippin, den König von Italien, 1

KAROLUS MAGNUS ET LEO PAPA. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799, Paderborn 1966, zu den folgenden Ausführungen bes. V. 426-536. Zu dem hier beschriebenen Zeremoniell vgl. grundsätzlich Achim Thomas Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen PapstKaiser-Treffen, Köln 1999, 446-58, sowie ders., Das Zeremoniell des Papstempfangs 799 in Paderborn, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hg. v. Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff, Mainz 1999, 19-33. - Zu diesen wie allen weiteren erwähnten Ereignissen aus der Regierungszeit Karls des Großen vgl. auch J.F. Böhmer, Regesta Imperii. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751 -918. Nach Johann Friedrich Böhmer neubearbeitet v. Engelbert Mühlbacher, nach Mühlbachers Tode vollendet v. Johann Lechner. Mit einem Vorwort, Konkordanztabellen und Ergänzungen v. Carlrichard Brühl und Hans H. Kaminsky, Hildesheim 1966; Sigurd Abel/Bernhard Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, 2 Bde., Leipzig 18882/83; Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Berlin 1994; Rudolf Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart 19972 (sowie dessen ebenso souveräne wie prägnante Darstellung von Karls Herrschaft im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, XVI (2000), 244-51, bes. 248f.). Als neuere Arbeiten vgl. Hubert Mordek, Von Paderborn nach Rom - der Weg zur Kaiserkrönung, in: 799 (wie oben), 47-54; Evangelos Chrysos, Das Ereignis von 799 aus byzantinischer Sicht, in: ebd., 7-12, sowie Lutz E. von Padberg, Das Paderborner Treffen 799 im Kontext der Geschichte Karls des Großen, in: Wilhelm Hentze (Hg.), De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser, Paderborn 1999, 9-104; Matthias Becher, Karl der Große und Papst Leo III. Die Ereignisse der Jahre 799 und 800 aus der Sicht der Zeitgenossen, in: 799 (wie oben), 22-36 (dessen neue Deutung des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse [vgl. dazu jetzt auch ders., Karl der Große, München 1999, 14-17] freilich von kaum oder nur schwer verifizierbaren Prämissen ausgeht, weswegen auch die von der neuen Chronologie abhängigen historischen Schlußfolgerungen unsicher bleiben), und die neuen „Biographien" von: Roger Collins, Charlemagne, London 1998 (bes. „Chapter 9: The Imperial Coronation of 800, and its Aftermath"); Jean Favier, Charlemagne, [Paris] 1999 (bes. „Chapitre XVIII: L'Empire"), und Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin 2000 (bes. das Kapitel: „Auf dem Weg zum Kaisertum. 794 bis 800"), aber auch Jörg Jarnut, 799 und die Folgen. Fakten, Hypothesen und Spekulationen, in: Westfälische Zeitschrift 150 (2000), 191-209, der eine neue, den folgenden Ausführungen in zentralen Bereichen entgegengesetzte Deutung des Geschehens vorlegt und u. a. zu erwägen gibt, ob nicht Karl der Große selbst hinter den römischen Ereignissen vom April 799 stand. Dazu wiederum vgl. Johannes Fried, Papst Leo III. besucht Karl den Großen in Paderborn oder Einhards Schweigen, in: HZ 272 (2001), 281-326, bes. 289 mit Anm. 17 und 298 mit Anm. 44. - Zu den herangezogenen Quellen vgl. Wilhelm Levison/Heinz Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger.

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zum Geleit entgegengesandt hatte - so, wie ihn selbst der Vater vor annähernd fünfundvierzig Jahren dem Papst Stephan II., einem Amtsvorgänger des erwarteten Besuchs, entgegenziehen geheißen hatte.2 Es ist die erste Begegnung des kampferprobten und erfolggewohnten Herrschers mit Leo III., der zweieinhalb Jahre zuvor, Ende Dezember 795, die cathedra Petri bestiegen hatte. „Vater Karl", „pater Karolus", wie Karl der Große im Epos genannt wird,3 empfängt den Heiligen Vater mit allen Ehren, vollführt vielleicht sogar die Proskynese, umarmt den Pontifex und tauscht mit ihm den Friedenskuß; und auch das Heer wirft sich zusammen mit dem übrigen Volk dreimal auf die Knie. Gemeinsam ziehen König Karl, der „pater Europae", wie er nun bezeichnet wird,4 und Leo III., der „summus pastor in orbe" (der oberste Seelenhirte auf Erden5), danach hinauf zur Pfalz Paderborn, vor deren Toren die Begrüßung stattfand, in deren Mauern aber, wo zum Willkommen die Messe gesungen und ein Festmahl gefeiert wurde, die denkwürdige Zusammenkunft über Tage, vielleicht sogar über Wochen hinweg fortgesetzt wurde und schließlich bedeutende Folgen zeitigte. Leo konnte mit dieser formvollendeten Begrüßung, die ihm von Karl dem Großen bereitet wurde und die vielleicht ein Augenzeuge, zumindest jedoch ein Zeitgenosse wohl wenige Jahre später6 (und nicht - wie gelegentlich vermutet7 - schon aus Anlaß des Empfangs selbst) in epischer Breite und mit poetischem Geschick beschrieb und dabei in Hexameter goß, mehr als zufrieden sein, bedeutete sie doch unübersehbar die Anerkennung als Nachfolger Petri durch den fränkischen Herrscher, obwohl gerade diese Stellung im Sommer 799 nicht unangefochten war und Leo sich wie schon sein Vorgänger Stephan II. im Jahre 754 in höchster Bedrängnis

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II. Heft: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, Weimar 1953, sowie Harald Zimmermann, Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie, Stuttgart 1981. Vgl. Ludwig Oelsner, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter König Pippin (752-768), Leipzig 1871, 121 ff. Epos V. 487. Ebd., V. 504. Ebd. Vgl. dazu Dieter Schaller, Das Aachener Epos für Karl den Kaiser, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), 134-68, und ders., ,De Karolo rege et Leone papa' (,Aachener Karlsepos'), in: Verfasserlexikon IV (1983 2 ), 1041-45, sowie Christine Ratkowitsch, Karolus Magnus - alter Aeneas, alter Martinus, alter lustinus. Zu Intention und Datierung des ,Aachener Karlsepos' (Wiener Studien, Beiheft 24, = Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philologie 4), Wien 1997. - Mit der Spätdatierung stellt sich freilich auch die Frage nach der Authentizität der Schilderung des Paderborner Empfangszeremoniells. Alle Quellen, die überhaupt von dem Ereignis berichten, betonen jedoch den ehrenvollen Empfang des Papstes, so daß - auch wenn man einerseits dichterische Freiheiten und andererseits politische Absichten in Rechnung stellt - wohl an der Tatsache festgehalten werden darf, daß Leo in Paderborn als Papst empfangen worden ist. Vgl. dazu auch Hack, Zeremoniell (wie Anm. 1), 29. Vgl. dazu etwa Helmut Beumann, Das Paderborner Epos und die Kaiseridee Karls des Großen, in: KAROLUS MAGNUS ET LEO PAPA (wie Anm. 1), 1-54 [ND in: ders., Wissenschaft vom Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, Köln 1972, 290-345], bes. 295-303, oder Carl Erdmann, Forschungen zur politischen Ideenwelt des Frühmittelalters. Aus dem Nachlass des Verfassers hg. v. Friedrich Baethgen, Berlin 1951, 21 f.

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Von Paderborn nach Rom

persönlich an den Frankenkönig um Hilfe und Schutz wandte. 753/754 freilich war die römische Kirche in Not und ging die Gefahr vom Langobardenkönig aus8, diesmal war es allein die Person des Papstes, die zum Ziel von Angriffen geworden war und der besonderen Aufmerksamkeit des „patricius Romanorum" und Beschützers der „ecclesia Romana" bedurfte. Am 25. April 799 nämlich war dem Papst in Rom eine völlig andere Behandlung widerfahren9 als einige Monate später in Paderborn. Während der Vorbereitung zur großen Bittprozession, die traditionsgemäß am Tage des Hl. Markus stattfand, fiel auf der Via Flaminia eine Schar Bewaffneter aus dem Hinterhalt über ihn her. Als der Papst in der Nähe des Klosters San Silvestro in Capite angelangt war, zerrte sie ihn von seinem Reittier, traktierte ihn mit Schlägen, bis er blutüberströmt und halbtot war, und setzte ihn schließlich auf dem Monte Celio in dem Kloster San Erasmo gefangen. Die Rädelsführer dieser Verschwörung waren - neben dem nur beiläufig erwähnten Bischof Maurus aus dem nördlich von Rom gelegenen Orte Nepi 10 - hohe Amtsträger des päpstlichen Hofes: der Vorsteher der Schreiber („primicerius") Paschalis, der als Neffe von Leos Vorgänger Hadrian I. zudem ein hervorragender Vertreter der stadtrömischen Aristokratie war, sowie der als Mitglied der päpstlichen Finanzverwaltung einflußreiche „saccellarius" Campulus, der ebenfalls schon unter Hadrian Karriere gemacht hatte11. Beide begleiteten Leo, als dieser sich San Silvestro in Capite näherte: Paschalis ritt vor, Campulus hinter ihm. Sie deckten ihn bei dem Überfall aber nicht vor den Angreifern, sondern schirmten ihn allenfalls von herbeieilender Hilfe ab, wenn eine solche überhaupt in Sicht gewesen sein sollte, während die überraschten Prozessionsteilnehmer und die nichtsahnenden Zuschauer voller Entsetzen auseinanderstoben. Was für die Verschwörer jedoch so erfolgversprechend begonnen hatte, endete für sie in einem Desaster, denn Leo vermochte eines nachts (nach wieviel Tagen der Gefangenschaft ist freilich unbekannt) mit Hilfe einiger Getreuer aus der Klosterhaft zu entkommen und in den Petersdom zu fliehen, wo er die wohl auf die Kunde vom Attentat herbeigeeilten und als Sachwalter Karls des Großen in Italien tätigen Königsboten, den Abt Wirund von Stablo und den Herzog Winigis von Spoleto, antraf. Diese nahmen sich seiner an und brachten ihn nach Spoleto in Sicherheit. 8

Vgl. Oelsner, Jbb. Pippins (wie Anm. 2), 115ff. Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, II, hg. v. Louis Duchesne, Paris 1892, 4f. 10 Vgl. ebd. 5. 11 Zu diesen beiden Verschwörern vgl. Erich Caspar, Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54 (1935), 132-264 (Separatdruck: Darmstadt 1965), bes. 122f. (im Separatdruck), sowie Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz 1968, 12f.; Othmar Hageneder, Das .crimen maiestatis', der Prozeß gegen die Attentäter Papst Leos III. und die Kaiserkrönung Karls des Großen, in: Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem funfundsiebzigsten Geburtstag und fünfzigjährigen Doktoijubiläum, hg. v. Hubert Mordek, Sigmaringen 1983, 55-79, bes. 56f.; Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums. Nach dem Handexemplar des Verfassers hg. v. Horst Fuhrmann/Claudia Märtl (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 9), Sigmaringen 19853, 45f.

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Franz-Reiner Erkens

Die Motive der Verschwörer sind ebenso unklar wie der Zweck ihres Vorgehens. Töten wollten sie den Papst offenbar nicht, denn dazu hätten sie leichte Gelegenheit gehabt. Leo das Augenlicht zu rauben und seine Zunge zu verstümmeln, um ihn auf gleiche Weise wie 768 oder 769 den zuvor bereits gestürzten und abgesetzten Konstantin II. amtsunfahig zu machen,12 könnte geplant gewesen sein, wie der Papst später selbst beteuerte,13 unterblieb aber letztlich auch (vielleicht allerdings nur deshalb, weil man ihn wie seinen Vorgänger 768 zunächst des hohen Amtes in aller Form entheben14 und keinesfalls ein seit einigen Jahren anerkanntes Oberhaupt der römischen Kirche einfach verstümmeln wollte); ein formliches Absetzungsverfahren aber wurde offenbar nicht eingeleitet, obwohl Leos Vertreibung von der cathedra Petri das eigentliche Ziel der Attentäter gewesen sein muß - zumindest wurde es in späteren Verhandlungen mit Karl dem Großen von ihnen verfolgt.15 Ein Verfahren zur Amtsenthebung konnte von ihnen selbst allerdings auch nicht mehr eröffnet werden, seitdem sich der Papst in fränkischer Obhut befand. Ebenso wie die Ziele können die Motive für den Anschlag nur noch vermutet werden. Sie gründeten zweifellos nicht in einem politischen Kurswechsel, denn der

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Vgl. den Lib. pont. (wie Anm. 9), 1,471 f. Epistolae selectae pontificum Romanorum Carolo Magno et Ludowico Pio regnantibus scriptae Nr. 6, hg. v. Karl Hampe, MGH Epistolae V (Epistolae Karolini Aevi III), Berlin 1899, 63. Vgl. Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 295 mit Anm. 26. Vgl. den Lib. pont. I (wie Anm. 9), 471f., 475, sowie dazu Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 11), 17f. Vgl. Anm. 60. - Was mit dem Papst am Tag des Attentats geschah, stellt ein unlösbares Problem der Forschung dar: Sicher ist nur, daß Leo III. schwer mißhandelt wurde. Ob man ihn aber auch verstümmeln wollte, das ist weniger klar erkennbar. Es fallt schwer zu glauben, daß ein solches Vorhaben nicht auch verwirklicht worden wäre - jedenfalls hatte man alle Zeit und jede Möglichkeit dazu. Eine Verstümmelung hätte die Amtsunfähigkeit des Papstes bewirkt. Von ihr zu unterscheiden ist die förmliche Amtsenthebung: die durch Richterspruch und nicht nur symbolisch oder via facti vollzogene Absetzung. Beide Handlungen mußten nicht zusammenfallen, konnten sich aber, wie das Beispiel Konstantins II. lehrt (vgl. Anm. 12), ergänzen. Hätte man Leo III. 799 wirklich amtsunfahig machen wollen, hätte man zugleich aber wohl auch ein weiteres fait accompli schaffen und einen neuen Papst erheben müssen. Dies unterblieb jedoch. Eine förmliche Absetzung, von der in keiner Quelle gesprochen wird, für die aber manche Forscher in den überlieferten Nachrichten Indizien zu finden meinen (zuletzt Fried, Papst Leo III. [wie Anm. 1], 294-297), hätte dagegen ebenso wie eine via facti vollzogene Vertreibung vom Papstthron und mehr noch als eine Verstümmelung Leos, eine rasche Kontaktaufnahme mit Karl nötig gemacht, ohne den eine Neuregelung der römischen Verhältnisse kaum möglich gewesen sein dürfte. Aber auch eine solche Kontaktaufnahme scheint unterlassen worden zu sein. Es bleibt daher an dem Attentat von 799 vieles rätselhaft und undurchsichtig. Möglicherweise hat alleine Leos Flucht in den fränkischen Schutz alle Überlegungen der Attentäter durchkreuzt, doch wissen wir leider nicht genau, wie rasch sie geschehen konnte und wie lange sich der Papst überhaupt in der Gewalt seiner Widersacher befand. Letztlich bleibt hauptsächlich der Eindruck von einer Unentschiedenheit oder gar Unfähigkeit der Attentäter, den Papst blenden und / oder in einem sicheren Gefängnis verwahren zu lassen, während auf der Gegenseite schließlich das angebliche, nur in den Mißhandlungen Leos einen realen Kern besitzende Heilungswunder bedenkenlos gegen sie ins Feld geführt werden konnte.

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Von Paderborn nach Rom

neue Papst war frankenfreundlich wie sein Vorgänger,16 zu dessen engen Mitarbeitern die Attentäter zählten. Eine Wiederannäherung an Byzanz war von Leo III. nicht zu befurchten, hatte er Karl dem Großen doch nicht nur seine Wahl angezeigt, sondern dem König dabei zugleich auch die Schlüssel zum Grabe des Hl. Petrus und das Banner („vexillum") der Stadt Rom übersandt,17 um ihn an seine Schutzpflicht zu erinnern. Daher werden die Verschwörer, zu denen mit dem „primicerius" Paschalis ja immerhin auch ein Verwandter des verstorbenen, von Karl tief betrauerten Hadrian I. zählte, am ehesten von der Sorge um einen Verlust ihres Einflusses auf die päpstliche Politik getrieben worden sein,18 denn Leo, der aus einfacheren Verhältnissen stammte als sein Vorgänger, gehörte nicht zu dem bislang in Rom den Ton angebenden Aristokratenverband, dessen Repräsentant sein Vorgänger gewesen war. Er hatte seine kirchliche Laufbahn vielmehr außerhalb der bisherigen Führungsgruppe begonnen und war deshalb wohl auch für andere Einflüsse offen. Außerdem scheint sein Lebenswandel nicht über alle Zweifel erhaben gewesen zu sein,19 wenn die gegen ihn erhobenen Vorwürfe später auch nicht erhärtet werden konnten und die moralischen Verfehlungen, die ihm nachgesagt wurden, von keiner Quelle genauer benannt werden und deshalb äußerst vage bleiben. Als Karl der Große Kunde von dem Attentat auf Leo III. erhielt, scheint er zunächst zum sofortigen Eingriff in die römischen Verhältnisse entschlossen gewesen zu sein.20 Nicht nur seine Stellung als „patricius", die ihn zum Schutz der römischen Kirche verpflichtete und die er seit 754 innehatte sowie von 774 an zunächst gelegentlich und schließlich regelmäßig durch einen Hinweis in seinem Herrschertitel betonte,21 nicht nur die ihm als „defensor" der Kirche zugefallene Aufgabe nötigte ihn dazu, sondern auch das politische Kalkül, das es nicht erlaubte, eine gegen den Willen des fränkischen Königs durchgesetzte Herrschaftsänderung in Rom zu dulden. Nachdem Karl dann allerdings erfahren hatte, daß der Papst den Anschlag, wenn auch nicht unverletzt, so doch ohne bleibende Schädigung, überstanden hatte, daß Leos Stellung in Rom zwar erschüttert, das päpstliche Herrschaftssystem aber grundsätzlich intakt geblieben war, da änderte er seine Absicht und kehrte zu seiner

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Zu Hadrian II. und Leo III. vgl. etwa die Artikel im Lexikon des Mittelalters (und die dort verzeichnete Literatur), IV (1989), 1821 f. (Rudolf Schieffer, s. v. H[adrian] I.), und V (1991), 1877f. (Hubert Mordek, s. v. L[eo] III.), sowie zu Leo auch Klaus Herbers, Der Pontifikat Papst Leos III. (795-816), in: 799 (wie Anm. 1), Beiträge, 13-18. Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses majores et Einhardi, hg. v. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ. [6.], Hannover 1895, 98f. (ad a. 796). Vgl. dazu und zum folgenden Hageneder, Crimen (wie Anm. 11), 58 und Classen, Karl (wie Anm. 11), 46. Vgl. Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart 19952, 353. Epistolae Karolini Aevi Tomus II, hg. v. Ernst Dümmler (MGH Epistolae IV), Berlin 1895, 292-296, Nr. 177f. Vgl. dazu Classen, Karl (wie Anm. 11), 21 sowie Wilhelm Erben, Die Kaiser- und Königsurkunden des Mittelalters in Deutschland, Frankreich und Italien, München 1907, 310.

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ursprünglichen Jahresplanung zurück.22 Wenn er im Sommer 799 nach Sachsen und nicht nach Rom zog, dann machte er praktisch business as usual und dadurch deutlich, daß die römische Frage für ihn zweitrangig war - zweitrangig in dem Sinne, daß (zumal die Wahl eines Gegenpapstes ausblieb) in ihrem Zusammenhang keine Personalentscheidung getroffen werden mußte, denn der König scheint von Anfang an gewillt gewesen zu sein, an dem umstrittenen Leo als Papst festzuhalten. Der angelsächsische Gelehrte Alkuin, herausragendes Mitglied der sog. Hofakademie Karls des Großen, Abt von Saint-Martin in Tours und gern gehörter Berater des Herrschers vornehmlich in Kirchenfragen, trat unter Berufung 23 auf den um 500 formulierten, dabei aber schon ältere Vorstellungen aufgreifenden Rechtssatz, daß ein Papst von niemandem außer von Gott gerichtet werden könne,24 von Anfang an für eine bedingungslose Unterstützung des schwer gedemütigten Leo ein,25 und Karl machte sich diese Haltung - wenn auch nicht uneingeschränkt, so doch prinzipiell - zu eigen. Indem er dem anreisenden Papst den Grafen Ascarich und vor allem seinen engen Vertrauten Hildebald, der als Erzkaplan des königlichen Hofes und Erzbischof von Köln gleichsam den Rang des ersten Geistlichen im Frankenreich bekleidete, als Begleitung entgegensandte26 und - wie eingangs erwähnt schließlich den eigenen Sohn mit der Einholung Leos III. nach Paderborn betraute, machte er schon frühzeitig deutlich, wie wenig er von dem heftig attackierten und durch schwere Anschuldigungen belasteten Papst abzurücken gedachte. Daß dieser den Anschlag auf seine Person letztlich ohne Verlust des Augenlichts und der Zunge überstanden hatte, konnte dabei wie ein Zeichen des Himmels gedeutet werden27 und ist zu seinen Gunsten daher bald und wohl kaum ohne propagandistische Absicht als ein Heilungswunder Gottes an dem nach Ansicht mancher (nicht hinreichend informierter oder die Zusammenhänge bewußt verschleiernder28) Zeitgenossen grausam geblendeten und sprachlos gemachten Papst verkündet worden, als ein göttliches Votum mithin, das Leos Integrität bezeugte. Nun könnte man es freilich als eine Mißachtung Leos III., ja, sogar als Demütigung verstehen, wenn Karl der Große Roms Bischof zwang, ihm bis in den äußersten Winkel des Frankenreiches, nach Paderborn, in das fernab der römischromanischen Zivilisation liegende sächsische Siedlungsgebiet und ehemalige Bar22 23 24

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Vgl. Caspar, Papsttum (wie Anm. 11), 125. MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 179, S. 296f. Dazu vgl. Angenendt, Frühmittelalter (wie Anm. 19), 141 und Hubert Mordek, Der römische Primat in den Kirchenrechtssammlungen des Westens vom IV. bis VII. Jahrhundert, in: II primato del vescovo di Roma nel primo millennio. Ricerche e testimonianze (Pontificio Comitato di Scienze Storiche. Atti e documenti 4), Città del Vaticano 1991, 523-66, bes. 552. Vgl. neben Anm. 23 auch MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 174. 177. 179. 184, S. 287ff., 292f., 296f., 308ff. Lib. pont. (wie Anm.9), II, 6. Zu Hildebald vgl. Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige I: Grundlegung. Die karolingische Hofkapelle (Schriften der MGH 16/1), Stuttgart 1959, 49ff., und Friedrich Wilhelm Oediger, Das Bistum Köln von den Anfangen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Geschichte des Erzbistums Köln 1), Köln 19722, 85ff. Vgl. dazu und zum folgenden Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 295ff. Vgl. etwa die Sichtung der Quellen bei Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. II (wie Anm. 1 ), 583-87.

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baricum nachzureisen, anstatt - wie ursprünglich beabsichtigt - sofort selbst am Tiber nach dem Rechten zu sehen. Zwar hatte schon Stephan II. in einer Notlage seiner Kirche die Alpen 754 überquert und den fränkischen Königshof aufgesucht,29 und im 9. Jahrhundert nahmen Päpste noch viermal den beschwerlichen Weg ins Frankenreich auf sich: 804 erneut Leo III.,30 8 1 6 sein nur kurz regierender Nachfolger Stephan IV.,31 833 Gregor IV.32 und 878 Johannes VIII.33; aber alle suchten Orte in den fränkischen Kernlanden auf: die Pfalzen Ponthion und Quierzy, die Metropole Reims oder den Bischofssitz Troyes sowie Karls Altersresidenz Aachen. Allein Gregor IV. erreichte nur das elsäßische Colmar, wo er Zeuge des denkwürdigen Konfliktes zwischen Ludwig dem Frommen und seinen drei Söhnen aus erster Ehe sowie eines großen Verrates an dem alten Kaiser wurde.34 Gebiete außerhalb der Grenzen des untergegangenen römischen Reiches jedoch betrat erst wieder Benedikt VIII., als er sich 1020 mit Heinrich II. in Bamberg traf und zusammen mit diesem von dort aus nach Fulda weiterreiste,35 während Hamburg im 10. Jahrhundert lediglich als für einen Südländer romanischer Prägung äußerst unwirtlicher Verbannungsort zu dienen vermochte und den 964 von Otto dem Großen und Leo VIII. abgesetzten Benedikt V. zu beherbergen hatte.36 Den liudolfingischen Hof im sächsischen Pöhlde hingegen suchte 1012 lediglich ein Papabile auf, jener Gregor, der als Kandidat einer stadtrömischen Adelspartei im gleichen Jahr aus einer zwiespältigen Papstwahl hervorgegangen war, letztlich aber nicht als Petrusnachfolger anerkannt wurde.37 Paderborn dagegen sah erst 1996 wieder einen Papst in seinen Mauern, 1197 Jahre nach dem Besuch von Leo III. Dessen Aufenthalt an den Paderquellen besaß daher zweifellos einen besonderen Charakter - allerdings kaum als Akt der Demütigung. Neben Lippspringe war es ja vor allem Paderborn, wo Karl der Große auf seinen zahlreichen Zügen nach Sachsen wiederholt verweilte und sogar Hoftage abhielt. Unverkennbar sollte der Ort zu einem Herrschaftsmittelpunkt im eroberten Sachsenland ausgebaut werden,38 zu ei29

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Vgl. Anm. 2. - Dazu und zum folgenden vgl. auch die Karte in: 799 (wie Anm. 1), Beiträge, 21. Vgl. Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. 11 (wie Anm. 1), 315-20. Vgl. Bernhard Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen, Bd. I (814-830), Leipzig 1874, 67-75, sowie - auch zum folgenden - Hack, Empfangszeremoniell (wie Anm. 1), 458-66. Vgl. Bernhard Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen, Bd. II (831-840), Leipzig 1876, 32-61. Vgl. Ernst Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches III: Die letzten Karolinger. Konrad I., Leipzig 18882, 75-90. Vgl. dazu neben Anm. 32 auch Egon Boshof, Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996, 192-99. Vgl. Siegfried Hirsch, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich II., III, hg. u. vollendet v. Harry Breßlau, Berlin 1875, 159-70; Hack, Empfangszeremoniell (wie Anm. 1), 482-86. Vgl. Rudolf Köpke/Ernst Dümmler, Kaiser Otto der Große, Leipzig 1876, 364, 379. Vgl. Siegfried Hirsch, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich II., II, vollendet v. Hermann Pabst, Berlin 1864, 385, 390f.; Hack, Empfangszeremoniell (wie Anm. 1), 479ff. Vgl. dazu Manfred Balzer, Paderborn als karolingischer Pfalzort, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung 3 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/3), Göttingen 1979, 9-85; ders., Siedlungsgeschichte

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ner repräsentativen Pfalzsiedlung, von deren Bedeutung noch heute die steinernen Überreste karolingischer Baukunst zeugen. Wenn der Baulärm 799 auch unmöglich schon gänzlich verstummt gewesen sein kann und das Siedelgebiet zu guten Teilen noch eine Baustelle gewesen sein mag, so war das ganze Areal insgesamt doch schon so weit architektonisch gestaltet, daß es einen würdigen Rahmen für die Begegnung von König und Papst zu bieten vermochte. Außerdem konnte sich Karl hier dem Papst als glorreicher Überwinder der sächsischen Heiden und als erfolgreicher Wegbereiter des christlichen Glaubens vorstellen, als Schützer der Christenheit - mithin so, wie er seine Aufgabe als Herrscher in einem berühmten Schreiben an Leo III. definiert hatte: in der Glückwunschadresse zu dessen Amtsantritt.39 In dieser beschrieb der König seine Pflicht zur Verteidigung des Glaubens nach außen sowie zur Bewahrung von dessen Reinheit nach innen, wobei er vom Papste allein Gebetshilfe erwartete. Karls Handeln im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts zeigt dabei deutlich, daß dies nicht nur leere Worte waren. Um 799 war der Karolinger unbestritten der Schutzherr der Christenheit; nicht nur seine Siege über die Sachsen kündeten davon, sondern auch seine Kontakte zur Welt des Islams: zu den Muslimen auf der Iberischen Halbinsel,40 zu Harun al Raschid in Bagdad41 und zu dem unter muslimischer Herrschaft stehenden Patriarchen von Jerusalem.42 Der Karolinger war unverkennbar aber auch der Kämpfer für den richtigen, für den korrekten Glauben, für das wahre Christentum, ein Arbeiter im Weinberg des Herrn, der sich 794 in der Frage der schon lange schwebenden Bilderverehrung nicht scheute, zusammen mit den in Frankfurt zur Synode versammelten Geistlichen die (freilich mißverstandene, vom Papst jedoch akzeptierte) Lehrmeinung des Nizänums von 787 zurückzuweisen sowie in den Streit um den sog. Adoptianismus (um das seit der Spätantike zeitweise heftig diskutierte theologische Problem der Göttlichkeit von Christi Menschennatur) einzugreifen,43 und der vor allem aus religiösem Ver-

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und topographische Entwicklung Paderborns im Früh- und Hochmittelalter, in: Stadtkernforschung, hg. v. Helmut Jäger (Städteforschung A 27), Köln 1987, 103-47, bes. 115-20; ders., Paderborn - Zentralort der Karolinger im Sachsen des späten 8. und frühen 9. Jahrhunderts, in: 799 (wie Anm. 1), Katalog I, 116-23. MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 93, S. 136ff.; vgl. dazu Hans Hubert Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Forschungen 32), Bonn 1968, 116ff. Vgl. Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. II (wie Anm. 1), 202f. Vgl. ebd., 254-57. Vgl. ebd., 203 und Aryeh Grabois, Charlemagne, Rome and Jerusalem, in: Revue beige de Philologie et d'histoire 59 (1981), 792-809, dessen Überlegungen zu den von Kaiserplänen geprägten Motiven für Karls Gesandtschaft des Jahres 800 nach Jerusalem (vgl. ebd., 801-809 und dazu Collins, Charlemagne [wie Anm. 1], 146f.) freilich sehr starke spekulative Züge aufweisen. Vgl. dazu Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn 1989, 105-15; Johannes Fried u. a. (Hg.), 794. Karl der Große in Frankfurt am Main. Ein König bei der Arbeit, Sigmaringen 1994; Helmut Nagel, Karl der Große und die theologischen Herausforderungen seiner Zeit. Zur Wechselwirkung zwischen Theologie und Politik im Zeitalter des großen Frankenherrschers (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 12), Frankfurt 1998.

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antwortungsgefühl als Initiator der unter dem Namen ,Karolingische Renaissance' bekannt gewordenen Bildungsreform eintrat für die „norma rectitudinis", für die rechte Norm liturgischen Handelns, geistlicher Verrichtung und theologischen Wissens.44 Als Herrscher war er Stellvertreter Gottes auf Erden,45 näherhin Gottvaters (wie der Priester Cathwulf schon um 775 in einem theologisch nicht unproblematischen Vergleich feststellte, indem er die Bischöfe allein als Stellvertreter Christi charakterisierte46), als Herrscher war er „rex et sacerdos" (König und Priester47) sowie der „gubernator" aller Christen, wie Paulinus von Aquileja 794 betonte,48 und schließlich war er auch ein „pontifex in praedicatione", ein Bischof als Prediger,49 der als „rector" und „doctor" (Leiter und Lehrer) das christliche Volk unterweist und damit Verantwortung trägt für das Seelenheil aller.50 Natürlich konnte Karl der Große den numinosen Glanz seiner sakralen Stellung, die durch die Königssalbung eine zusätzliche Dimension gewonnen hatte und ihren besonderen Ausdruck durch eine intensive Bezugnahme auf den alttestamentlichen König David erhielt, natürlich konnte Karl dieses Davidkönigtum51 an jedem beliebigen Ort seines Reiches zur vollen Entfaltung bringen, aber Paderborn eignete sich dazu besonders gut, befand man sich doch hier mitten in einer dem Christentum neu gewonnenen Provinz. Daher vermochte sich auch leicht die häufig vorgetragene Meinung herausbilden, der König habe den Papst mit voller Absicht nach Paderborn reisen lassen, um sich hier uneingeschränkt als wahrer Herr der Christenheit, gleichsam als Anwärter auf das Kaisertum präsentieren zu können.52 Doch sollte nicht übersehen werden, daß die langwierigen Auseinandersetzungen mit den Sachsen den König häufig dazu gezwungen haben, das sächsische Stammesgebiet aufund heimzusuchen. Noch 792/793 war es zu einem Aufstand gekommen, in dessen Verlauf fränkische Truppen vernichtet, Kirchen zerstört und Priester zur Flucht gezwungen worden waren.53 Erneut schien die karolingische Herrschaft durch diesen Aufruhr aufs Schwerste bedroht, doch vermochten das persönliche Erscheinen des

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Vgl. dazu Franz-Reiner Erkens, Das Erbe der Kulturen - Die karolingische Renaissance, in: Die Weltgeschichte III: Um Glaube und Herrschaft (600-1650) (Brockhaus. Die Bibliothek), Leipzig 1998, 165-70, sowie Johannes Fried, Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische Renaissance, in: Karl der Grosse und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, hg. v. P[aul L.] Butzer, M[ax] Kemer und Wfalter] Oberschelp, Turnhout 1997, 25-42. 45 Vgl. dazu und zum folgenden Franz-Reiner Erkens, Der Herrscher als ,gotes drüt'. Zur Sakralität des ungesalbten ostfränkischen Königs, in: Hist. Jb. 118 (1998), 1-39, bes. 16-24. 46 MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), 503 (Nr. 7). 47 Vgl. dazu Erkens, Herrscher (wie Anm. 45), 21 (und die dort angeführten Belege). 48 Libellus sacrosyllabus episcoporum Italiae, hg. v. Alfred Werminghoff (MGH Concilia II/l), Hannover 1906, 130-42, hier 142. 49 Beati Alcuini contra epistolam sibi ab Elipando Toletano directam libri quatuor, hg. v. J.-P. Migne (Patrologia latina 101), Paris 1851, 231-300, bes. 251 D (I 16). 50 MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 41, S. 84, vgl. Epos (wie Anm. 1), V. 59-64. 5 ' Vgl. dazu etwa Erkens, Herrscher (wie Anm. 45), 22ff. 52 Vgl. etwa Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 293f. 53 Vgl. Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. II (wie Anm. 1), 36-38, 54f.

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Königs und seine gewaltige Autorität die Lage rasch wieder zu stabilisieren. Aber noch 798 wurden jenseits der Elbe, in Nordalbingien, königliche Abgesandte („missi dominici") von aufrührerischen Sachsen erschlagen,54 Karl, der 794 und 795 sowie 797 und 798 mit Heeresmacht nach Sachsen gezogen war und dort sogar den Winter von 797 auf 798 verbrachte,55 hatte demnach allen Grund, das sächsische Problem nicht zu vernachlässigen. Nichts war ihm nach all den vielen Jahren des Kampfes am Ende des 8. Jahrhunderts wichtiger als die endgültige Befriedung der Sachsen und die völlige Integration ihres Siedlungsgebietes in sein Reich.56 Von diesem Ziel ließ er sich nur kurz abbringen, als ihn die Nachricht von dem Attentat auf den Papst erreichte. Als er jedoch erfuhr, daß der Anschlag gescheitert und der Papst in Sicherheit sei, faßte er es sofort wieder ins Auge und ließ sich nun auch nicht mehr durch das Drängen Alkuins beirren, der nachdrücklich zu einem Friedensschluß mit den Sachsen riet, falls dieser möglich sei, und Karls Aufmerksamkeit voll und ganz auf die römische Angelegenheit lenken wollte.57 Der König entschied anders, entschied im Sinne der Politik, die er während der letzten Jahre in Sachsen verfolgt hatte, und bereitete damit den Boden für das Paderborner Treffen vor. Gern wüßte man freilich, was zwischen König und Papst in den Tagen und Wochen des gemeinsamen Verweilens an den Paderquellen verhandelt und besprochen worden ist. Darüber schweigen sich die zeitgenössischen Berichterstatter jedoch aus. Wir erfahren lediglich von einer durch den Papst vollzogenen Altarweihe,58 die später (freilich zu Unrecht) als Gründung des Bistums Paderborn gedeutet werden konnte,59 sowie von der Ankunft seiner Gegner, die nun - allerdings ohne Erfolg Leos Absetzung vor dem König betrieben.60 Zweifellos haben Karl und Leo in Paderborn über das weitere Vorgehen beraten, doch welche Pläne sie entwarfen, wel54 55 56

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Vgl. ebd., 143f. Vgl. ebd., 85-88, 94-97, 133ff., 139-50. Daß er dazu freilich, wie jüngst vermutet wurde (Henry Mayr-Harting, Chariemagne, the Saxons, and the Imperial Coronation of 800, in: EHR 111/2 (1996), 1113-33; ders., Warum 799 in Paderborn?, in: 799 (wie Anm. 1), Beiträge, 2-6), wegen der bekannten Abneigung der Sachsen gegenüber dem Königtum (vgl. dazu zuletzt Matthias Becher, „Non enim habent regem idem Antiqui Saxones ..." Verfassung und Ethnogenese in Sachsen während des 8. Jahrhunderts, in: Studien zur Sachsenforschung 12 [1999], 1-31) den Kaisertitel benötigte, ist doch eher unwahrscheinlich. Woher nämlich hätten die Sachsen ihre imperial-römische Orientierung eigentlich nehmen sollen? MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 174, S. 287ff. Vgl. dazu Balzer, Paderborn (wie Anm. 38), 43. Vgl. ebd. 71ff. sowie ders., Siedlungsgeschichte (wie Anm. 38), 120, und dazu Klemens Honselmann, Die Bistumsgründungen in Sachsen unter Karl dem Großen, mit einem Ausblick auf spätere Bistumsgründungen und einem Exkurs zur Übernahme der christlichen Zeitrechnung im frühmittelalterlichen Sachsen, in: Archiv für Diplomatik 30 (1984), 1-50, aber auch Rudolf Schieffer, Die Anfange der westfälischen Domstifte, in: Westfälische Zs. 138 (1988), 175-91; ders., Papsttum und Bistumsgründung im Frankenreich, in: Studia in honorem eminentissimi cardinalis Alphonsi M. Stickler, hg. v. Rosalius Iosephus Castillo Lara (Studia et Textus Historiae Iuris Canonici 7), Rom 1992, 517-28, bes. 524ff. Lib. pont. II (wie Anm. 9), 6; MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 179, S. 296f.

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che Vorstellungen für die Zukunft sie entwickelten, wissen wir nicht. Ist damals schon über das Kaisertum nachgedacht worden und seine Wiederaufrichtung im abendländischen Westen? Ist in den Tagen von Paderborn schon der Blick gerichtet worden auf jene Entwicklung, die zu den Ereignissen des Weihnachtstages von 800 führte? Dies ist angenommen worden61 - vor allem unter der Prämisse, daß das eingangs zitierte epische Werk vor 800 entstanden sei und man einige seiner Formulierungen im Sinne eines sich allmählich formenden karolingischen Kaisergedankens zu verstehen habe. Doch ist diese Prämisse brüchig geworden, seitdem die Entstehung des Epos erst nach der Jahrhundertwende mehr als wahrscheinlich gemacht werden konnte.62 Und wenn Alkuin vor 800 von einem „imperium christianum" sprach, dann meinte er damit, auch wenn dieses Imperium gelegentlich auf das Reich Karls des Großen zu beziehen ist, eben kein konkretes Kaisertum, sondern vor allem eine spirituelle Größe.63 Inwieweit die späteren römischen Ereignisse ihren Ausgang von den Sommergesprächen in Paderborn nahmen und die sächsische Pfalz dadurch zum Ausgangspunkt weltbewegenden und die Zukunft des Frankenreiches wie schließlich auch Europas mitgestaltenden Geschehens wurde, kann daher allein noch aus den Handlungen der einzelnen Beteiligten erschlossen werden. Auch wenn Karls Biograph und enger Mitarbeiter Einhard Jahrzehnte nach dem Ereignis den Unmut seines Protagonisten überliefert, den dieser anläßlich der Übertragung des kaiserlichen Namens (des „imperatoris et augusti nomen") geäußert und in die Worte gekleidet haben soll:64 Er, Karl, „würde an jenem Tage, obwohl ein hohes Fest [nämlich Weihnachten] war, die Kirche nicht betreten haben, wenn er des Papstes Absicht hätte vorherwissen können", so dürfte sich hinter dieser unwirschen Äußerung doch keine prinzipielle Ablehnung der Kaiserwürde durch den großen Karolinger verbergen,65 sondern eher wohl der Unwille über einzelne (vorher nicht abgesprochene, die Position des Papstes und vielleicht auch der Römer zu sehr betonende) Handlungen Leos III. im Verlauf der Krönungszeremonie. Trotz dieser kaiserlichen Unmutsbekundung kann des weiteren auch kaum von einem päpstlichen Überraschungscoup gegenüber einem ahnungslosen Herrscher auf Weihnachten 800 die Rede sein, denn spätestens seit seinem Einzug in die Ewige Stadt am 24. November 800 muß dem König bewußt gewesen sein, was auf ihn zu61

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Etwa von Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 304-34; Classen, Karl (wie Anm. 11), 52; Mordek, Paderborn (wie Anm. 1), 49; während Fried, Papst Leo III. (wie Anm. 1), 315f., neuerdings solche Beratungen und Pläne verwirft. Vgl. Anm. 6. Vgl. Helmut Beumann, Nomen Imperatoris. Studien zur Kaiseridee Karls d. Gr., in: HZ 185 (1958), 515-549; ND in ders., Wissenschaft (wie Anm. 7), 255-89, bes. 272ff.; sowie Classen, Karl (wie Anm. 11), 49, und Donald E. Bullough, Die Kaiseridee zwischen Antike und Mittelalter, in: 799 (wie Anm. 1), Beiträge, 36-46, bes. 45f. Einhardi Vita Karoli Magni cap. 28, hg. v. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [25.]), Hannover 1911, 32: „adfirmaret se eo die, quamvis praecipua festivitas esset, ecclesiam non intraturum, si pontificis consilium praescire potuisset". Vgl. dazu und zum folgenden Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 316-21; ders., Nomen imperatoris (wie Anm. 63), 261-65; Classen, Karl (wie Anm. 11), 74-77.

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kam. Damals nämlich ist er nicht auf die Weise empfangen worden, wie es ihm als „patricius" zustand, sondern nach Art der Kaiser, ja, sogar mit einem gesteigerten Empfangszeremoniell, denn die römischen Imperatoren wurden vom römischen Bischof gewöhnlich am sechsten Meilenstein vor der Stadt begrüßt, dem Frankenherrscher aber zog Leo III. bis zum zwölften entgegen.66 Außerdem ritt der König - anders als früher, aber dem Basileus vergleichbar - im November 800 hoch zu Roß in Rom ein und stieg erst vor den Stufen des Petersdomes, auf denen der Papst ihn erwartete, aus dem Sattel. Darüber hinaus erwähnen die zeitgenössischen Lorscher Annalen einen Beschluß der in Rom unter der Leitung des Papstes versammelten Geistlichen, Karl die Kaiserwürde anzutragen, und geben damit Nachricht von einer kurz vor der Kaiserkrönung geäußerten Bitte („petitio"), welcher der König voller Demut („cum omni humilitate") entsprochen habe.67 Die definitive Entscheidung über die Wiederaufrichtung des Kaisertums im lateinischen Westen ist mithin nur wenige Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 800 gefallen - gefallen vor dem Hintergrund, daß das oströmisch-byzantinische Kaisertum nach Ansicht der Franken vakant war, weil eine Frau es 797 okkupiert hatte, Irene, die zur Verwirklichung ihrer Machtgelüste den eigenen Sohn hatte blenden und auf diese Weise vom Kaiserthron stoßen lassen;68 gefallen aber auch angesichts der Tatsache, daß die alten Kaiserresidenzen (neben Rom also wohl vor allem Mailand, Ravenna und Trier) ohnehin schon unter fränkischer Herrschaft standen. Freilich muß dieser späte Entschluß, dem ein gewisser formaler Charakter anhaftet, nicht bedeuten, daß man sich nicht schon früher Gedanken über ein karolingisches Kaisertum gemacht hatte, vielleicht sogar schon in Paderborn oder noch früher, doch läßt das Verhalten Karls des Großen in den Jahren 799 und 800 keinen besonderen Drang nach einer Rangerhöhung durch die Übernahme des „nomen imperatoris" erkennen. Im Gegenteil: Der König brauchte lange, bis er sich nach Süden wandte und nach Italien aufbrach. Wenn er das Kaisertum wirklich schon im Sommer 799 in den Blick genommen hat, dann offenbar nur sehr zögerlich und ohne dabei einen besonderen Elan zu entwickeln. Nach dem Ende der Paderborner Gespräche nämlich verabschiedete Karl den Papst und bestimmte eine hochrangige Begleitung, die Leo nach Rom zurückfuhren sollte. Er selbst aber blieb in Sachsen zurück und wandte sich schließlich nach Aachen. 69 Der Erzkaplan Hildebald von Köln aber und Arn, der Erzbischof des erst ein Jahr zuvor eingerichteten Metropolitansitzes Salzburg, sowie weitere Bischöfe und 66

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Vgl. dazu und zum folgenden Josef Deer, Die Vorrechte des Kaisers in Rom (772-800), in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 15 (1957), 5-63, bes. 42-46; sowie Classen, Karl (wie Anm. l l ) , 5 8 f . Annales Laureshamenses a. 801, hg. v. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 1), Hannover 1826, 38. Zu den Vorgängen vgl. Georg Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates (Handbuch der Altertumswissenschaft, 12. Abt. I 2), München 19633, 147-51, sowie Werner Ohnesorge, Das Kaisertum der Eirene und die Kaiserkrönung Karls des Großen, in: Saeculum 14 (1963), 221-47; ND in: ders., Konstantinopel und der Okzident. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums, Darmstadt 1966, 49-92; Classen, Karl (wie Anm. 11), 41 f. Vgl. Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. II (wie Anm. 1), 199.

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Von Paderborn nach Rom

vornehme Franken hatten nicht nur die Aufgabe, Leo nach Rom zurückzubringen; sie sollten vielmehr auch die Vorfalle aus dem Frühjahr untersuchen (ohne dabei freilich über den Papst zu Gericht zu sitzen). Nach Abschluß dieser Untersuchung wurden die Attentäter gefangengenommen und ins Frankenreich gebracht - um dort in Gewahrsam zu bleiben oder vom König abgeurteilt zu werden.70 Leo jedoch blieb unangefochten in seiner Stellung. Karl war währenddessen mit anderen Problemen beschäftigt, die für ihn offenbar eine höhere Dringlichkeit besaßen als die Romfahrt. In der ersten Hälfte des Jahres 800 wandte er sich nach Westen, reiste an die seit kurzem von Normannen heimgesuchte Küste des Ärmelkanals, inspizierte dort die Befestigungen und gab den Bau einer Flotte in Auftrag.71 Dann begab er sich nach Tours, wo seine Gemahlin Liudgard starb und beigesetzt wurde und wo er, ohnehin in Begleitung seiner Söhne Pippin und Karl, auch seinen aus Aquitanien angereisten jüngsten Sohn Ludwig traf und mit diesem Angelegenheiten des südwestlichen Unterkönigreichs besprach.72 Zweifellos nutzte er den Aufenthalt im Martinskloster aber auch dazu, um mit seinem alten Freund und Berater Alkuin, mit dem er zuvor schon am 19. April das Osterfest in Saint-Riquier gefeiert hatte,73 die römische Angelegenheit zu erörtern, doch verraten die Quellen darüber keine Einzelheiten. Erst im August wurde auf einer Versammlung in Mainz der Romzug angesagt.74 Es verging seit dem Paderborner Treffen mithin ein Jahr, bis der König die Reise nach Italien, seine letzte in das südalpine Reich, antrat. Dieser lange Zeitraum erweckt wahrhaftig nicht den Eindruck, als ob Karl es besonders eilig gehabt hätte mit der Romfahrt oder einer in Paderborn möglicherweise in Aussicht genommenen Kaisererhebung. Eine besondere Dringlichkeit ist aus seiner Sicht wohl auch gar nicht geboten gewesen. Der Papst, an dem er von Anfang an festgehalten hatte, residierte ja wieder im Lateran, und er selbst konnte von einer Kaiserkrönung zunächst kaum mehr als einen Titel erwarten, der ihm Schwierigkeiten mit Byzanz bereiten mußte.75 Faktisch war er zudem schon längst ein Kaiser: Seine durch die Sal70

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Ann. Lauresh. a. 799 (wie Anm. 67), 37f.; vgl. dazu Caspar, Papsttum (wie Anm. 11), 129f.; Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 11), 29. Vgl. Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. II (wie Anm. 1), 207-11, sowie die Karte in: 799 (wie Anm. 1), Beiträge, 51. Wenn Becher, Karl der Große und Papst Leo III. (wie Anm. 1), 33, in dieser Rundreise durch den Westen eine „Vorbereitung" auf Karls „Erhebung zum Kaiser" erblickt, dann fragt sich natürlich, was man darunter zu verstehen hat und was genau eigentlich noch vorbereitet werden mußte. Wenn eine Kaisererhebung schon länger geplant gewesen sein sollte, hätte man - gerade auch angesichts von Karls für mittelalterliche Verhältnisse schon fortgeschrittenem Alter von über fünfzig Jahren - wohl eher einen raschen Romzug erwarten dürfen. War aber der Kaisergedanke noch nicht völlig gereift, dann bot diese Reise vor allem auch Zeit zum Nachdenken über das weitere Vorgehen und zur Besprechung mit wichtigen Ratgebern. Vgl. Abel/Simson, Jbb. Karls d. Gr. II (wie Anm. 1), 211-16. Vgl. ebd., 209. Ann. regni Franc, a. 800 (wie Anm. 17), 110f.; Ann. Lauresh. a. 800 (wie Anm. 67), 28. Zu den Schwierigkeiten vgl. Einhardi Vita Karoli Magni cap. 28 (wie Anm. 64); Classen, Karl (wie Anm. 11), 75, 82-87; Heinz Löwe, Eine Kölner Notiz zum Kaisertum Karls des Großen, in: Rhein. Vjbll. 14 (1949), 7-34.

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Franz-Reiner Erkens

bung gesteigerte sakrale Autorität war nicht zuletzt Ausdruck einer besonderen Verantwortung des christlichen Herrschers für die Ausbreitung und Verteidigung des Glaubens nach außen und für die innere Reinheit der Lehre wie auch für ihren liturgisch korrekten Vollzug, und sie war gepaart mit einer annähernd umfassenden Herrschaft über die lateinisch-kontinentale Christenheit. Als Leuchtturm Europas („Europae pharus" 76 ) war er ein Bezugspunkt auch für auswärtige Mächte: für das angelsächsische und asturische Königtum ebenso wie für den Patriarchen von Jerusalem und den Kalifen in Bagdad oder wie für die Bewohner der Balearen.77 Von den drei Gewalten („tres personae"), die nach Alkuin die christliche Herrschaft auf Erden an höchster Stelle („in mundo altissime") verkörperten,78 war 799 und 800 allein der fränkische König (die „regalis dignitas") noch handlungsfähig, konnte dieser allein noch seine Verantwortung für die Christenheit wahrnehmen und zum Rächer der Verbrechen, Lenker der Verirrten, Trost der Trauernden und Rückhalt der Guten („vindex scelerum, rector errantium, consolator maerentium, exaltatio bonorum") werden, während das Papsttum (die „apostolica sublimitas") durch das Attentat auf Leo III. schwer gedemütigt schien und das byzantinische Kaisertum (die „imperialis dignitas et secundae Romae saecularis potentia") durch das moralisch verwerfliche Handeln der Basilissa Irene als erledigt galt. Der fränkische König jedoch war - wie es im Epos heißt79 - unumstritten der „Europae venerandus apex", der verehrungswürdige Gipfel Europas, war für die Völker und Länder das Licht und die Weisheit („lux et sapientia"80), und überragte, wie Alkuin ausdrücklich betont,81 die beiden anderen Gewalten an Macht, Weisheit und Würde: „ceteris praefatis dignitatibus potentia excellentiorem, sapientia clariorem, regni dignitate sublimiorem". Karls unvergleichlicher Vorrang unter den abendländischen Herrschern und (um 800) selbst gegenüber Byzanz, seine imperial zu nennende Stellung harrte am Ende des 8. Jahrhunderts freilich noch der formalen Ausgestaltung und des förmlichen Ausdrucks. So empfindet es der rückblickende Historiker,82 so wird es mancher Zeitgenosse ebenfalls empfunden haben. Nur Karl der Große selbst hat sich in dieser Frage merkwürdig zurückgehalten. Wohl schon 798 hatte er eine byzantinische Gesandtschaft nicht erhört, die ihm das „imperium" übertragen wollte83 - ohne daß freilich klar wird, warum er so entschied und was genau und vor allem: wer hinter dem Angebot „de Grecia" stand (weswegen die versprengte Nachricht genügend

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Epos V. 12. Vgl. dazu Anm. 40-42 sowie Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 322-25. MGH Epistolae IV (wie Anm. 20), Brief Nr. 174, S. 288; vgl. dazu Anton, Fürstenspiegel (wie Anm. 39), 119f.; Beumann, Paderborner Epos (wie Anm. 7), 313; ders., Nomen imperatoris (wie Anm. 63), 275. Epos V. 93. Ebd., V. 56. Vgl. Anm. 77. Vgl. etwa Schieffer, Karolinger (wie Anm. 1), 101. Vgl. dazu und zur chronologischen Einordnung Löwe, Notiz (wie Anm. 75), 7, wo die Nachricht auch ediert ist: „missi venerunt de Grecia ut traderent ei imperium".

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Von Paderborn nach Rom Anlaß zu Spekulationen bietet). 8 4 Zwischen dem Sommer des Jahres 799 und dem Sommer des Jahres 800 besitzen seine Handlungen alle Züge eines Ausweichens vor der römischen Entscheidung. A l s diese unvermeidlich geworden war, akzeptierte er sie allerdings ohne Vorbehalt und aus herrscherlicher Verantwortung. Ein „Kaiser wider Willen" (wie Percy Ernst Schramm ihn nennt 85 ) ist Karl zweifellos nicht g e w e s e n , 8 6 aber er war offenbar ein den Kaisernamen nur zögernd annehmender König. Letztlich hatte der Papst - unter Aufgabe der noch v o n seinen unmittelbaren Vorgängern eifersüchtig behaupteten Unabhängigkeit v o n östlichem wie westlichem Herrschertum - wohl ein deutlicheres Interesse an der Erhöhung des Frankenkönigs als dieser selbst. Leo, der sich 815 nicht scheuen sollte, Verschworene gegen sein Regiment als MajestätsVerbrecher hinrichten zu lassen, und sich damit den freilich folgenlosen Unmut Ludwigs des Frommen zuzog, 8 7 der Papst, der zwar v o m fränkischen H o f ununterbrochen anerkannt worden ist, dessen römische Stellung durch das Attentat von 7 9 9 j e d o c h äußerst schwer erschüttert worden war, der B i s c h o f v o n R o m und Herr des Patrimonium Petri war es, der eines Kaisers bedurfte zur Abrechnung mit seinen Widersachern. 8 8 A l s Inhaber der „prima sedes", des ersten Sitzes der Christenheit, auch nach Ansicht der im Dezember 800 in R o m versammelten Synodalen unrichtbar und allein Gott verantwortlich, 8 9 als

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Löwe, Notiz (wie Anm. 75), 12 u. ö. vermutet, die byzantinische Opposition gegen die Kaiserin Irene könne dem Karolinger das „imperium" angeboten haben; Paul Speck, Kaiser Konstantin VI. Die Legitimation einer fremden und der Versuch einer eigenen Herrschaft. Quellenkritische Darstellung von 25 Jahren byzantinischer Geschichte nach dem ersten Ikonoklasmus, 2 Bde., München 1978, 325-68, bes. 330, 332, 359f., hingegen sieht in Irene selbst den Urheber dieses Plans, da sie das untergegangene Westreich habe wiedererrichten und Karl an dessen Spitze habe stellen wollen. Fried, Papst Leo III. (wie Anm. 1), 308-313, mißt der Nachricht aus Köln schließlich hohe Bedeutung zu und rückt sie ins Zentrum seiner Überlegungen, ohne ihren Inhalt jedoch genau fassen zu können (vgl. ebd., 313: „Doch was auch immer Irene damals, im Jahr 798, dem Frankenkönig offenbart haben mag, man verstand es am fränkischen Hof als Übertragung des Kaisertums,,imperium', an König Karl."). Letztlich bleibt die Nachricht aber zu isoliert, um aus ihr mehr als einige Gedankenfunken schlagen zu können. Percy Ernst Schramm, Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters 1, Stuttgart 1968, 215-302, bes. 267. Vgl. dazu etwa Karl Josef Benz, ,Cum ab oratione surgeret'. Überlegungen zur Kaiserkrönung Karls des Großen, in: Dt. Archiv für Erforschung des Mittelalters 31 (1975), 337-69. Vgl. Ann. regni Franc, a. 815 (wie Anm. 17), 142f.; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris cap. 25, hg. u. übers, v. Ernst Tremp (MGH SS rer. Germ. 64), 358; sowie Simson, Jbb. Ludwigs d. Fr. I (wie Anm. 31), 61 f.; Hageneder, Crimen (wie Anm. 11), 73. Dazu vgl. auch Hageneder, Crimen (wie Anm. 11), 77ff., der freilich auf S. 78 daraufhinweist, daß es „keineswegs die primäre Absicht Papst Leos III. gewesen zu sein [scheint], sich im neuen Kaiser einen Richter über seine Attentäter zu schaffen", und Classen, Karl (wie Anm. 11), 51, der feststellt, daß man in Rom nicht unbedingt einen Kaiser als Richter brauchte. Wenn dies wohl auch prinzipiell zutrifft, so bleibt aber doch festzuhalten, daß der Papst um 800 einen .starken Mann' in Rom benötigte, und den fand er am ehesten in einem Kaiser, der Karl hieß. - Zur Situation in der Tiberstadt vgl. auch Peter Llewellyn, Le contexte romain du couronnement de Charlemagne. Le temps de L'A vent de l'année 800, in: Le Moyen Age 96 (1990), 209-25. Vgl. Anm. 24 sowie Ann. Lauresh. a. 800 (wie Anm. 67); Lib. pont. II (wie Anm. 9), 7.

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Franz-Reiner Erkens

höchster Geistlicher leistete Leo III. daher, obwohl eine erneute Untersuchung wiederum keinen Beweis für irgendeine Schuld erbracht hatte, einen Reinigungseid,90 der jeden Schatten von seiner Papstwürde tilgte und die bald darauf erfolgte Kaiserkrönung auch in der Person des Koronators als makellos erscheinen ließ. Der neue Kaiser jedoch waltete umgehend seines Amtes und verurteilte die Papstattentäter zunächst zum Tode, bevor er sie auf Leos Bitten hin zu Haft und Verbannung ins Frankenreich begnadigte.91 Selbstverständlich ragt die Bedeutung des neuen Kaisertums weit über diesen profanen und eingeschränkten Zweck hinaus, verlieh die Kaiserwürde doch der christlich-lateinischen Einheit des Abendlandes eine unverwechselbare Gestalt und wurde dabei zu einer Größe, die - natürlich nicht ohne Wandlungen - über ein Jahrtausend hinweg Bestand haben und unterschiedliche historische Traditionen und christliche Vorstellungen miteinander verknüpfen sollte. So wenig dieses Ergebnis im Jahre 800 aber voraussehbar war, so wenig scheint die Erneuerung des westlichen Kaisertums planvoll oder konsequent angestrebt worden zu sein. Erst die überraschenden Ereignisse des Jahres 799 dürften jenen Prozeß in Gang gesetzt haben, an dessen Ende die Kaiserkrönung stand, in dessen Verlauf Karl die Verhältnisse aber lange in der Schwebe hielt und eine Weile brauchte, bis er die ihm zufallende kaiserliche Aufgabe annahm und sein imperiales Königtum unter das „nomen imperatoris" stellte. An den Quellen der Pader jedoch können erste Anstöße dazu erfolgt sein, noch nicht im Sinne einer ausgereiften Vorstellung und eines verwirklichungsfähigen Planes, wohl aber als eine in Betracht gezogene Möglichkeit, die im Laufe von knapp anderthalb Jahren immer deutlichere Gestalt gewann und im Dezember 800 schließlich verwirklicht wurde. Von Paderborn als dem möglichen Ort der Initiation dieser Entwicklung im Jahre 799 führt daher ein direkter, wenn auch kein gerader Weg nach Rom und zur Kaiserkrönung des Jahres 800.

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Vgl. dazu neben der vorhergehenden Anm. auch Ann. regni Franc, a. 800 (wie Anm. 17), 112f., sowie Max Kerner, Der Reinigungseid Leos HI. vom Dezember 800. Die Frage nach seiner Echtheit und frühen kanonistischen Überlieferung. Eine Studie zum Problem der päpstlichen Immunität im frühen Mittelalter, in: Zs. d. Aachener Geschichtsvereins 84/85 (Freundesgabe für Bernhard Poll, I) (1977/78), 131-60. Ann. regni Franc, a. 801 (wie Anm. 17), 114; vgl. Hageneder, Crimen (wie Anm. 11), bes. 60f.

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Thomas Vogtherr

Wiprecht von Groitzsch Bemerkungen zur Figur des sozialen Aufsteigers im hohen Mittelalter

„Figuren und Strukturen gehören zusammen. Benachteiligt in den Geschichtsdarstellungen sind zur Zeit die Figuren." So schrieb Hartmut Zwahr in seiner Annäherung an die Sozialgeschichte des Mittelalters, die er unter dem Titel „Herr und Knecht" in den Monaten der Wende des Herbstes 1989 zum Druck brachte.1 Daß dies eine treffende Beobachtung zur sozialgeschichtlichen Forschung der ausgehenden DDR darstellte, ja vielleicht überhaupt einen der wesentlichen Züge der Geschichtswissenschaft dieses Staates gültig bezeichnete, steht heute außer Frage. Freilich ist mehr als ein Jahrzehnt nach der Wende und angesichts veränderter Paradigmen auch der Erforschung der Sozialgeschichte des Mittelalters2 die Frage durchaus naheliegend, ob und wie weit die einstige Feststellung Zwahrs heute noch aktuell ist und ob nicht die Darstellung der Figuren seit einigen Jahren geradezu eine Signatur der Forschung zu werden beginnt. Wenn diese Fragen hier am Beispiel Wiprechts von Groitzsch, einem der geradezu klassischen sozialen Aufsteiger der Zeit um 1100, erörtert werden sollen, so geschieht das einerseits in dem Bewußtsein, dem Jubilar als einem Kenner der Geschichte und des Lebens dieses Mannes kaum Neues an Fakten bieten zu können, andererseits aber doch in der Gewißheit, durch die Darstellung Wiprechts als einer Figur, als des Vertreters eines Typus, den Blick über das individuelle Lebensschicksal hinausgehen zu lassen, hinein in den Bereich des Typischen, wenigstens bis zur Frage danach, ob und inwieweit Wiprecht typisch ist oder sein kann für soziale Aufsteiger seiner Zeit. Der argumentative Weg dieser Skizze wird folgender sein: Zunächst ist die Quellensituation zu bedenken und ihre Einseitigkeit zu charakterisieren, der sich jeder Biograph Wiprechts von Groitzsch ausgesetzt sieht. Sodann wird es um die Herausarbeitung bestimmter Lebenszäsuren gehen, und dies mit einer Ausnahme in der Reihenfolge der Vita Wiprechts: Den königlichen Haudegen im Dienste Heinrichs IV., den Schwiegersohn des böhmischen Königs, den Wallfahrer und Klostergründer, schließlich den adligen Stifter als Mönch auf dem Totenbett gilt es kurz in den Blick zunehmen, um am Ende etwas ausfuhrlicher zu seiner sagenhaften Her1

Hartmut Zwahr, Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte, Leipzig 1990, 7.

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Man vgl. hierzu die freilich nicht unumstrittene Darstellung von Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit (Historische Zeitschrift, Beiheft 22), München 1996.

Thomas Vogtherr

kunft Stellung zu beziehen und damit den Bogen der wesentlichen Leitlinien seiner Lebensbeschreibung nachzuzeichnen, wie sie im ersten Teil der Pegauer Annalen gegeben wird.3

I.

Als „Pegauer Annalen"4 wird ein historiographisches Werk bezeichnet, dessen erste Hälfte den Berichtshorizont etwa von der Jahrtausendwende bis zum Tode Wiprechts von Groitzsch im Jahre 1124 umfaßt und das insoweit eher als „Vita Wicperti" zu bezeichnen wäre, unter welcher Bezeichnung es gelegentlich auch lief.5 Der anschließende, hier nicht zur Debatte stehende Teil dieser Annalen enthält Nachrichten bis zum Berichtsjahr 1227, ist aber in seinen letzten Passagen eher um 1240 geschrieben. Die Lebensbeschreibung des Wiprecht dürfte bald nach 1156 verfaßt worden sein, bietet also eine im einzelnen durchstilisierte und auf einen pragmatischen Zweck hin orientierte Vita des Stifters des Benediktinerklosters Pegau aus dem Abstand von mehr als einer Generation.6 Den einzelnen Lebensstationen Wiprechts nachzugehen, sein Leben zu schildern, wie er es „tam secundum Deum quam secundum seculum liberaliter ac strenue feliciterque" verbrachte, stellt schon der Prolog der Annalen als das Programm der Vita heraus und beruft sich dabei auf Nachrichten, die der Annalist „veredica ... relatione" erfahren habe „tum qui ab aliis audierunt, tum qui viderunt et interfuerunt, quorum plerosque superstites vidimus" 3

Grundlegende Quelle: Annales Pegavienses, hg. v. Georg Heinrich Pertz, in: Monumenta Germaniae histórica. Scriptores, XVI, Hannover 1859, 232-270. - Eine kommentierte und von einer Übersetzung begleitete Neuausgabe dieser Quelle durch den Vf. steht vor dem Abschluß. Von der vollständigen Anführung der überreichen Literatur zu Wiprechts Leben und Wirken wird hier Abstand genommen; zitiert werden lediglich die wörtlich zitierten oder jene anderen Werke, mit denen eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet.

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Vgl. einstweilen die charakterisierenden Bemerkungen bei Wilhelm Wattenbach / Franz-Josef Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen irn Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnums, I, Darmstadt 1976, 415-418 (mit Lit.); anders als hier S. 415 angegeben zählt die Handschrift Leipzig Universitätsbibliothek 1325 keineswegs zu den Kriegsverlusten, sondern ist wohlerhalten. - Ausfuhrlicher vgl. künftig die Einleitung zur Neuedition.

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Dies gilt übrigens auch für die deutschen Übersetzungen, deren erste veröffentlicht wurde als: Die historia des Theuren vnd hoch|berumten heldes Grauen Wei=|prechts / fursten der Soraben / vn(d) ym Oster=|lande Marggrauen zu Lusatz vnd | Burggrauen zu Magdeburg. | Zu Pegaw begraben. | Getruckt zu Leypßgk durch Wolffgang Stockei. 1520. (benutztes Exemplar: UB Leipzig Hist. Sax. 748). Vgl. dazu demnächst Vf., Art. ,Pegau', in: Die Benediktinerklöster Mitteldeutschlands, hg. von Christof Römer (Germania Benedictina 10), St. Ottilien ca. 2002.

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Wiprecht von Groitzsch

(23431.34)7. Nicht eigener Augenzeuge also behauptet der Annalist gewesen zu sein, sondern Berichte solcher Augen- und Ohrenzeugen verarbeitet zu haben. Es ist diese Unschärfe der Quellen des Annalisten einerseits, andererseits aber auch die nachweislich weit gehende Absicht der Stilisierung seines biographischen Gegenstandes zum Helden, die den modernen Historiker zumal dort vor erhebliche quellenkritische Probleme stellt, wo Angaben der Pegauer Annalen durch Parallelquellen nicht gesichert sind. So muß letztlich die Frage danach unentschieden bleiben, ob wirklich, was geschildert wurde, sich so abgespielt hat, wie es der Annalist den Nachgeborenen glauben machen will, oder ob seine Schilderung, sich von den Tatsachen mehr oder weniger weit entfernend, denjenigen Wiprecht zeigen will, der dieser Mann hätte gewesen sein sollen. Dieser grundsätzlichen Aporie auszuweichen, bietet sich im Falle Wiprechts kaum eine realistische Chance. Man muß sich dem Annalisten anvertrauen, wohl wissend, daß die Gefahr, dabei von den Umständen des Lebens Wiprecht entfernt zu sein oder bewußt entfernt zu werden, unausweichlich ist. Dies gilt insbesondere für diejenigen Lebensstationen, denen im folgenden nachgegangen werden wird: Von seiner sagenhaften Abkunft über die Heldentaten während des Italienzuges Heinrichs IV. und die Umstände seiner Heirat mit einer böhmischen Königstochter bis hin zu manchen Details der Klostergründung und zu seinem Tod im Habit des Benediktiners spannt sich der Bogen einer offenkundig anekdotenhaft ausgeschmückten Existenz sehr eigener Prägung, die für niemanden anders von Interesse gewesen sein dürfte als eben für den Verfasser seiner Lebensbeschreibung, einen Mönch des von ihm gestifteten Benediktinerklosters. Folgerichtig ist von diesen Ereignissen in anderen Quellen als ebendieser Vita auch nicht die Rede. Das verstärkt den Eindruck der wahrhaft umfassenden Abhängigkeit des modernen Historikers von einer problematischen Quelle. Es zwingt gleichzeitig zur ständigen Überprüfung der Annalen auf die mögliche Verarbeitung bekannter Argumentationsmuster einerseits der Historiographie, andererseits aber auch der Sagen* und Märchenwelt.

II.

Das Leben des jungen Wiprecht ist von Anfang an das eines Haudegens, jedenfalls in den Augen seines Biographen. Wenn er schreibt, es sei zweifelhaft, ob Wiprecht eher durch seine Urteilskraft als durch seine Taten erfolgreicher wirkte („dubium consilio an actibus efficacior", 23 68.9), wenn er ihm nachsagt, daß ihn seine Feinde wegen seines draufgängerischen Wesens nicht weniger fürchteten als die ihm Be7

Zitate aus den Pegauer Annalen werden hier und im folgenden jeweils durch die Nennung der Seiten- und Zeilenzahlen der in Anm. 1 genannten Edition nachgewiesen.

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Thomas Vogtherr

kannten und Vertrauten („non minus quam hostibus ipsis, sibi notis ac familiaribus esset metuendus", 236io-i 1), wenn er diese Schilderung schließlich in der Sentenz gipfeln läßt, daß die Tapferkeit Wiprechts ihm Lob einbrachte, das Lob aber Neid erzeugte („virtus laudem, laus invidiam pariebat ipsi", 236ii-i2! vgl. dasselbe Sprichwort 24212), dann ist das nicht allein die Achtung vor dem jungen Kriegsmann, die hier durchschlägt. Viel eher wird hier spürbar, daß Wiprechts Auftreten schon in seiner Jugend von seinen militärischen Taten weit mehr bestimmt wurde als von irgendetwas anderem. Als Wiprecht dann in das Gebiet um Groitzsch kam, machte er sich bei seinen adligen Nachbarn sogleich unbeliebt. Wieder lohnt es, auf die Zwischentöne des Annalisten zu hören: Unzufrieden mit dem Frieden und an Schlechtigkeiten gewöhnt („pacis impatiens et in malis assuetus", 23623) habe er es mit den Adligen seiner Gegend aufgenommen und sei bald darauf wegen seines militärischen Ruhms in Kontakt mit dem böhmischen „Herzog" Vratislav gekommen. Allein die bisherigen Leistungen Wiprechts seien es gewesen, die Heinrich IV. angesichts des anstehenden Italienzuges der Jahre 1081-1084 bestimmt hätten, sich der Hilfe dieses Mannes zu versichern. Wenn Wiprecht sich auf diesem Zuge, so versprach er dem König, als unentbehrlich für den Herrscher und das Reich sollte erweisen können, dann wolle er seine Treue belohnt sehen, und dies könne vor allem dadurch geschehen, daß Heinrich den Böhmenfürsten zum König kröne, daß dieser dem herrscherlichen Schatz dafür die immense Summe von 4000 Mark Silber zukommen lasse und 300 Bewaffnete unter Führung Wiprechts und seines eigenen, Vratislavs, Sohn Borwin für den Italienzug stelle. Eine besondere Auszeichnung des Böhmen durch den Salier lag angesichts der Waffenbrüderschaft ohnehin nahe, und es erscheint überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die Rolle Wiprechts von Groitzsch auf dem Weg zur Königskrönung Vratislavs 1085 sonst nirgendwo belegt ist. Überhaupt ist die Chronologie der Abläufe dieser Jahre dem Annalisten gründlich durcheinander gegangen: 8 Die Italienzüge Heinrichs IV. 1081-1084 bzw. 1090-1097 werden nicht unterschieden, die Zusammenhänge der königlichen Politik Heinrichs IV. mit den Böhmen werden fast durchweg verkannt, und es geschieht alles, die Rolle Wiprechts gewissermaßen aus Zeit und Raum zu lösen, um ihm eine tragende Funktion bei diesen Vorgängen zuweisen zu können. Das alles mag für den Annalisten aus der Rückschau auf der Hand gelegen haben, heiratete Wiprecht selber doch eine Tochter Vratislavs. So kam es dem Biographen Wiprechts eher darauf an, seinen Helden als tragende, ja treibende Figur eines in Wahrheit wesentlich komplexeren Vorganges erscheinen zu lassen. Daß die Königserhebung des von den eigenen Brüdern und einer internen Adelsopposition bedrängten Premysliden durch den von Papsttum und Adelsopposition zuneh8

Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., 7 Bde., Leipzig 1890-1909, III, 351 f., Anm. 5 mit einigen der chronologischen und sachlichen Ungereimtheiten.

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Wiprecht von Groitzsch

mend in die Enge getriebenen Salier wesentlich mehr über die politisch grundlegenden Strukturen jener Jahre verrät, als daß sie vom persönlichen Eintreten eines einzelnen, noch dazu nichtfürstlichen Adligen hätte betrieben werden können, steht heute außer Zweifel, geht aber an der Darstellungsabsicht des Autors vorbei. Wiprechts Beteiligung am Italienzug der Jahre 1081-1084 ist nach der Ansicht seines Biographen vorwiegend von militärischer Bedeutung gewesen. Während der Belagerung Roms 9 habe Wiprecht einen Ausfall der Römer aus dem Belagerungsring - ungefähr am Himmelfahrtstag des Jahres 1083 - in einem gewaltigen Blutbad enden lassen, nachdem er wie ein Barbar dreimal die Schlachtordnung der Römer durchstoßen habe, als handle es sich um ein Spinnennetz („barbaricoque more ter Romanorum acies ingrediendo ac regrediendo, quasi tela aranearum caedendo obvios irrumpentes, nimia caede in adversarios debachati sunt", 238]4_]ö). Aber nicht genug: Der mannhaft kämpfende König, dem das Schwert aus der Hand geschlagen wurde, ruft nach Wiprecht, der ihm statt dessen sein Schwert gibt. Der Kampf wendet sich, die Römer werden in den Mauerring zurückgetrieben, und der Kampf endet siegreich. Natürlich ist auch die Überwindung der römischen Stadtmauer Wiprechts Werk, jedenfalls wenn man dem Annalisten glauben will. Mit einigen wenigen Getreuen übersteigt er die Mauer, gleichzeitig kämpft Heinrich IV. um die Öffnung der Tore, und endlich gelingt die Besetzung der sogenannten Leostadt auf dem rechten Tiberufer, ein Vorgang, der für den 3. Juni 1083 verbürgt ist. Gleichen Heldenmut beweist der Recke sodann bei der endgültigen Niederlage Papst Gregors VII. im Kampf um die Peterskirche und die Engelsburg: Ohne ein Schild in seiner Hand, dafür das Schwert beidhändig führend und die Nachfolgenden durch Wort und Beispiel anfeuernd („quamvis clipeo non protectus ... mucronem utraque manu corripiens, tarn voce quam exemplo multitudinem post se irrumpentem animavit", 23 85052) dringt er in die Kirche ein, in der sich die Gregorianer verschanzt haben. Ein gewaltiger Kampf entsteht, viel Blut wird vergossen, und die Kirche muß anschließend neu geweiht werden. Die christliche Sache wurde ungeheuer verspottet, die allerheiligste apostolische Ehre und Autorität wurde zerstört („erat spectare christiani nominis inmane ludibrium, sacratissimi et apostolici honoris et auctoritatis loci excidium", 23853.54). Es bedürfte keiner weiteren Nachweise jener Kombination aus übermenschlichem Heldenmut und bedenkenloser Totschlägermanier, die Wiprecht an den Tag legt. Die Szenen seines Einsatzes für die Sache Heinrichs IV. sind ein ständiges Wechselbad zwischen Bewunderung der offensichtlichen militärischen Fähigkeiten einerseits, durch die Wiprecht glänzte und mit denen er sich in den Augen des Saliers empfahl, und der Überschreitung der im Sinne der Sache hinzunehmenden und anständigen Grenzen andererseits. Wiprechts tragende Bedeutung für den Erfolg der Belagerung und Besetzung Roms sowie der Gefangennahme Gregors VII. ist es, die sein Biograph herausarbeiten will. In ihr sieht er einen der wesentlichen Fak9

Zu diesen Vorgängen vgl. ebd., 474-478.

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Thomas Vogtherr

toren für den Aufstieg Wiprechts zu einem der wesentlichen Reichsfürsten jener Jahre überhaupt. Wenn derselbe Biograph gleichzeitig Kritik am Verhalten seines Heros nicht zurückhält, so bezieht sie sich immer auf die unerlaubten Grenzüberschreitungen, derer sich Wiprecht in seinen Augen schuldig gemacht hat. Überdeutlich wird das in der Schilderung des märchenhaften Löwenkampfes, der im Zusammenhang mit Heinrichs IV. Aufenthalt in Verona im Juni 1084 beschrieben wird. Als Symbolisierung des Dämonischen, des Teuflischen und seiner gewaltigen Stärke ist der Löwe schon im Alten Testament betrachtet worden, und nicht anders ist auch die Situation der Löwenkämpfe zu deuten. Der Löwenkämpfer Wiprecht wird dem biblischen Simson (Richter 14,5-9) und dem antiken Herkules nachgebildet: Während alles flieht, stellt sich allein der Held dem Ungeheuer in den Weg, drängt selbst den bewaffneten König beiseite, bekämpft das Tier zunächst mit dem Schwert in der Hand, dann mit bloßen Fäusten und obsiegt (23933.43). Allein die göttliche Vorsehung läßt den Helden diesen Kampf gewinnen, setzt der Biograph hinzu, weil von diesem Helden noch Großes zu erwarten sei („nil aliud, reor, nisi divinam providentiam, cui cura est de omnibus, possumus animadvertere, ut Wicpertus, cui tanta in futurum praevidit Dei dementia, ab instanti mirabiliter periculo eriperetur", 23941.43).

III.

Auch nach der Rückkehr aus Italien sind es Gewalttaten, mit denen der nun erfahrene, durch die Heirat mit der böhmischen Prinzessin belohnte und sozial erheblich aufgestiegene Kriegsmann und Fürst hervortritt. Man muß die Einseitigkeit der Quelle immer wieder hervorheben: Der Biograph Wiprechts konstruiert sein Bild dieses Mannes zu dem einen Ziele, seine Umkehr zum sündenbewußten, reuigen und bußwilligen Wallfahrer und Klostergründer umso deutlicher herausarbeiten zu können. Auslöser für die Umkehr Wiprechts soll die Tatsache gewesen sein, daß er im Verlaufe einer Fehde mit zwei Adligen die Jakobskirche in Zeitz niedergebrannt hatte, in die sich einer der beiden mit seinen Leuten geflüchtet hatte. Die Herausstürzenden habe Wiprecht sofort geblendet. Diese - wie die übrigen, nur hier überlieferten - Bluttaten passen in das Bild des bedenkenlosen Gewaltmenschen. Umso überraschender erscheint es, daß Wiprecht wenige Jahre später, 1090, zur inneren Umkehr bereit ist. Wiprecht bedenkt, wie er vor Gott angesichts seiner Sünden bestehen könne („qualiter apud Deum posset felix fieri", 24234.35). Er hört Gott mit den Worten „Ihr Übertreter, gehet in euer Herz!" („Praevaricatores, redite ad cor!" [Jesaja 46, 8], 24237) die Umkehr anmahnen. Darauf geht er in sich - reichlich spät („licet se-

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Wiprecht von Groitzsch

ro", 24238), wie der Annalist anmerkt überdenkt, was er getan hat, welche Sünden er durch Raub und Brand, durch Mord und Totschlag auf sich geladen hat, insbesondere aber, wieviel er in Rom an den Schwellen der heiligen Apostel und bei der Niederbrennung der Basilika des heiligen Jakob in Zeitz begangen hat („quantum Romae apud limina beatorum apostolorum, et in exustione basilicae beati Iacobi in Ziza commiserit", 24242-43). Angesichts dieses Übermaßes an Verfehlungen sieht der Annalist das Schriftwort erfüllt, daß die Gnade übermächtig werde, wo die Sünde mächtig gewesen sei („ubi habundavit iniquitas, superhabundaret gratia", 24245.46 [vgl. Römer 5,20: „ubi autem abundavit delictum, superabundavit gratia"]). Diese göttliche Gnade erweicht Wiprechts steinernes Herz („divina voce lapidei cordis eius duritiam penetrante", 24247.4g). Er löst sich aus der tödlichen Gewohnheit der Sünden und wendet sich an Geistliche, denen er den unglaublichen Umfang seiner Verfehlungen und den Willen zur Genugtuung eröffnet („quibus sui reatus enormitatem et satisfaciendi voluntatem aperuit", 24249.50) u n d deren Urteil er sich zu unterwerfen verspricht. Die Kirchenfursten, immerhin der Erzbischof Hartwig von Magdeburg und sein Suffragan Werner von Merseburg, raten dem reuigen Sünder, vom Papst selber Vergebung zu erbitten und dazu nach Rom zu pilgern. Der Papst seinerseits legte Wiprecht eine weitere Bußfahrt auf, die ihn nach Santiago an das Grab des Apostels Jakob führen soll, dessen Kirche in Zeitz er geschädigt habe. Dort erfährt Wiprecht in einem Gespräch mit dem „Patriarchen" der Spanier, daß der beste Weg der Wiedergutmachung die Gründung eines Klosters sei, das ebendiesem Apostel geweiht werden solle.10 Der Bruch in der Persönlichkeitsentwicklung des Helden wird übrigens auch in einem kompositorischen Bruch der Biographie deutlich: Während die Berichte über seine militärischen Heldentaten im wesentlichen undatiert bleiben und die letzte datierte Nachricht auf 1080 gesetzt wird, erscheint der Bericht seiner conversio unter der Jahreszahl 1090, und der zeitliche Zwischenraum wird durch Jahreszahlen aufgefüllt, denen keine Nachrichten zugeordnet werden (24222-24)Und mehr noch: In der Frühphase der Biographie, die den äußeren sozialen Aufstieg des Mannes zeigen soll, werden überwiegend Sprichwörter aus der antiken lateinischen Literatur herangezogen, um Wertungen von Wiprechts Verhalten vornehmen zu können. Als Wiprecht ohne Zögern die römische Stadtmauer zu erklimmen beginnt, wird beiläufig ein Lucan-Zitat aus „De bello civili" - „semper enim nocuit differre paratis" - eingestreut, eines der Vorbilder für das deutsche Sprichwort „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen". In

10

Die Einzelheiten der Schilderung dieser Pilgerfahrt sind ebenso problematisch wie die anderer Passagen der Pegauer Annalen. Vgl. die knappe Darstellung der Probleme bei Ursula Swinarski, Herrschen mit den Heiligen (Geist und Werk der Zeiten 78), Bern u.a. 1991, 71-77 (mit Hinweisen auf die ältere Kontroversliteratur). - Vgl. dazu künftig Vf., Wiprecht von Groitzsch und das Jakobspatrozinium des Klosters Pegau. Ein Beitrag zur Kritik der Pegauer Annalen, in: NASG 72 (2001) [erscheint 2002],

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dem Moment aber, in dem sich Wiprecht als reuiger Sünder erweist und damit seine Bereitschaft zur inneren Umkehr deutlich wird, sind es in reicher Fülle Bibelzitate, die diesen Weg kommentierend begleiten.

IV.

Auf dem Totenbett die Mönchsgelübde abzulegen, die professio in extremis zu leisten, war eine durchaus häufiger belegte Form bewußten Erlebens und Gestaltens des eigenen Todes im Mittelalter.11 Sterbende erhofften sich davon die Teilhabe an den heilssichernden Werken der Angehörigen des Mönchsstandes, auch wohl die Möglichkeit zur Umkehr von einem sündigen Leben, zur conversio, noch angesichts des Todes. Nicht wenige adlige Klostergründer kehrten ihrem durchweg weltlich verbrachten Leben auf diese Weise den Rücken, legten die ewigen Gelübde ab und starben unmittelbar danach. Auch bei diesen Entscheidungen will beachtet sein, daß die Quellen, die über sie berichten, in aller Regel parteiisch sind. Im allgemeinen wird man aus klösterlichen Aufzeichnungen erfahren, daß der verehrte Gründer und Dotator des Klosters auf diese Weise dahingeschieden sei, und es stellt sich die Frage, wie weit den Schilderungen des Todes in dieser Hinsicht zu glauben sein mag. Der Blick auf Wiprecht von Groitzsch einerseits und - als Beispiel aus gleicher Zeit, aber anderer Region Graf Liutold von Achalm, den Gründer des Benediktinerklosters Zwiefalten bei Reutlingen (f 1098), hilft, Stilisierungen der Schilderung zu erkennen und womöglich dennoch das Persönliche hinter der Stilisierung ausfindig zu machen. Wiprechts Tod war Folge eines Unfalles: Bei einem Brand in Halle hatte er sich Verletzungen zugezogen, deren Verschlimmerung über Monate hinweg zu seinem Tod führte. Nach Groitzsch zurückgekehrt, versuchte Wiprecht noch, gegenüber den Pegauer Mönchen seinen Zustand zu verheimlichen, um sie nicht allzu sehr zu belasten. Da sich die Beschwerden aber verschlimmerten, wandte er sich gänzlich Gott zu, der allein die Krankheit des inneren Menschen zu heilen verstehe („totum se convertit ad Deum, qui solus interioris hominis sanat infirmitatem", 255g_9), wie der Chronist berichtet, um das ewige Leben zu erhalten („ut eius ab interitu perpetuo vitam redimeret", 2559). Geistliche Ratgeber, der Magdeburger Erzbischof mit seinen Suffraganen und der Pegauer Abt, die er an sein Krankenbett rufen ließ, rie-

11

Vgl. die knappe Behandlung dieses Themas durch Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 672-674, und die ausführlichere, mit vielen Beispielen versehene Behandlung durch Wolfgang Brückner, Sterben im Mönchsgewand. Zum Funktionswandel einer Totenkleidsitte, in: Kontakte und Grenzen. Festschrift für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag, Göttingen 1969, 259-277.

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ten ihm schließlich dazu, den Mönchshabit zu nehmen. Sofort legte er auf diesen Rat hin seine Waffen ab und verzichtete überhaupt auf alles Weltliche. Sodann ließ sich Wiprecht nach Pegau bringen und wurde dort, wie der klösterliche Verfasser seiner Lebensbeschreibung mit bewegten Worten schildert, unter Trauer empfangen und mit dem Mönchsgewand bekleidet. Dann legte er unter großer Zerknirschung vor dem Hauptaltar die Gelübde ab („cum magna spiritus contricione regularis propositi votum coram altari principali praesentibus fratribus fecit"), eine Tatsache, zu deren Schilderung der Autor nicht ohne Grund das Substantiv „contricio" benutzt, das im Rahmen von Beichte, Reue, Buße und Vergebung eine zentrale Rolle besitzt und durch das an dieser Stelle nochmals auf die sichtbare Umkehr des reuigen Sünders Wiprecht im Angesicht des Todes hingewiesen werden soll. In der Folge ließ sich Wiprecht, so setzt der Bericht fort, durch nichts in seiner Andacht und Hingabe stören, verweigerte das Essen und Trinken, lehnte den Besuch des Sohnes und anderer Verwandter ab und starb schließlich einige Tage später. Beigesetzt wurde er in der Mitte seines Klosters („in medio sui monasterii"), also ohne jeden Zweifel vor dem Hauptaltar der Klosterkirche. Nicht viel anders verhielt es sich mit dem Grafen Liutold von Achalm:12 Im Jahre 1089 hatte er das Kloster Zwiefalten gestiftet, ausgestattet und mit einem Konvent aus Hirsauer Reformmönchen besetzen lassen. Die Stiftung war durch den Erbverzicht seiner Verwandtschaft rechtlich abgesichert, so daß sich der Stifter in unmittelbarer Nähe zum Kloster eine Bleibe für seine letzten Lebensjahre errichten lassen konnte. Am 15. August 1098 legte er angesichts schwerer Krankheit („graviori correptus infirmitate") und des bevorstehenden Todes die Gelübde ab und ließ sich die Mönchsweihe erteilen („se monachica benedictione insigniri"). Drei Tage noch lebte er und ließ nicht nach, Gott zu loben („Deum laudare non cessans benedixit"). Am 18. August 1098 starb Graf Liutold. Anders als im Falle Wiprechts erfahren wir aus der denkbar detailliert berichtenden Klosterchronik sogleich, wie man das Andenken des Stifters beging. Alle Jahre wurde am Todestag des Stifters für ihn das Totenoffizium begangen und die Messe gelesen. Glocken wurden geläutet und Leuchter entzündet. Das Grabmal wurde mit einem Bahrtuch verhüllt, eine Kerze stand daneben. Ein Diakon beweihräucherte das Grab während der Messe. Jeder Priestermönch sang eine Messe, die übrigen Mönche sangen fünfzig Psalmen oder beteten ebensoviele Vaterunser. Anschließend nahmen die Brüder ein reiches Mahl zu sich und speisten zwölf Arme mit Brot, mit Wein und sogar mit Fleisch. Nur am Todestage von Äbten oder eben der Stifter des Klosters verfahre man so, setzt der Klosterchronist sofort hinzu, es 12

Das Folgende nach den grundlegenden Quellen, die 1135/36 bzw. 1137/38 entstanden sind, also ebenso weit von den Geschehnissen entfernt sind wie Wiprechts Lebensbeschreibung: Die Zwiefalter Chroniken Ortliebs und Bertholds, hg. v. Luitpold Wallach u.a. (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2), Sigmaringen 1978, 72-77, 158f. - Zum Vorgang: RolfKuithan, Das Totengedenken für Graf Liutold von Achalm, in: Liutold von Achalm ( t 1098), Graf und Klostergründer, hg. v. Heinz Alfred Gemeinhardt / Sönke Lorenz, Reutlingen 2000, 75-111, hier 94-96.

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sei denn, der Konvent beschließe, diese Auszeichnung auch anderen Wohltätern des Klosters zukommen zu lassen. Die Parallelen liegen auf der Hand: Wiprecht und Liutold als Personen sind Gegenstand über sie hinausweisender Praktiken der Totenmemoria. Indem sie sich am Ende ihres Lebens gleich entschieden haben, wird ihnen Gleiches zuteil: ein Totengedenken, das in dieser prachtvollen Form nur wenigen Angehörigen der Klostergemeinschaft zukommen kann, das sie noch im Tode vor anderen auszeichnet und das die Erwartung der Sterbenden erfüllt, von den Überlebenden in denjenigen Formen bedacht zu werden, die ihnen aufgrund der überragenden Rolle für die geistliche Gemeinschaft zukommen. Es ist wohl kein Zweifel erlaubt, daß die berichtenden Quellen auf das Sichtbare konzentriert sind, auch sein müssen, daß sie das Mentale, den Vorgang der conversio, nur postulieren können, ohne ihn nachweisen zu können oder zu müssen. Wiprecht wie Liutold, beide Klosterstifter und Sterbende im Mönchsgewand, zeigen noch in der Gleichheit des Sterbens die Regelgebundenheit des menschlichen Umgangs mit dem Tode in jener Zeit. Allerdings zeigen beide Todesfälle auch dieses: Das Sterben im Mönchsgewand konnte durchaus auch als rein äußerlich verstandener Akt der Repräsentation der eigenen sozialen Stellung und der eigenen Bedeutung für die Gemeinschaft mißverstanden werden, wie es vielfach dann im späteren Mittelalter der Fall gewesen sein mag. Ob und inwieweit schon Wiprecht und Liutold sich von solchen Gedanken der Repräsentation leiten ließen, steht dahin.

V.

Wer ein Leben hinter sich ließ, wie es für Wiprecht berichtet wird, mit einer geradezu sagenhaften Abfolge von herausragenden Leistungen und Taten, mit einer beispielhaften Wendung vom Haudegen zum Wallfahrer, Klosterstifter und Mönch auf dem Totenbett, der hatte sich allein durch dieses Leben Ehre und Respekt verdient. Wiprecht konnte nicht nur der Erwartung entsprechen, die Angehörigen seines Standes entgegengebracht wurde, sondern er entsprach Erwartungen, durch deren Erfüllung er einen höheren Status sozialer Anerkennung für sich erhoffen mochte und schließlich tatsächlich erwarb. In diesem Zusammenhang spielt nun auch die sagenhafte Abkunft Wiprechts aus einem Geschlecht von Königen eine Rolle, mit der seine Biographie in den Pegauer Annalen beginnt (23436-2355)) und mit der diese skizzenhaften Bemerkungen zum Typus des sozialen Aufsteigers abgeschlossen werden sollen. Wiprechts Biograph weiß von Vorfahren über vier Generationen zu berichten, von denen - um dies gleich hinzuzusetzen - allein die Person des gleichnamigen Vaters sicher auszumachen ist, der vor 1082 gestorben sein muß. Darüber hinaus

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aber geht die Abstammung Wiprechts in das Sagenhafte und Mythische hinein und läßt diese einleitende Passage der Lebensbeschreibung gleichberechtigt neben die zahllosen anderen Herkunfts- und Genealogiefalschungen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung und Biographik treten.13 Insbesondere das durchlaufende Grundschema aus meist drei Brüdern innerhalb einer Generation, von denen der jeweils jüngste das Geschlecht fortsetzt, gehört in den Umkreis gängiger Ursprungsmythen, wie sie sich in den drei Söhnen des biblischen Noah oder des urgermanischen Mannus finden lassen.14 Mit der frühesten Generation setzt der Annalist ein. „Emelricus, rex Theutoniae, Dietmarum Verdunensem et Herlibonem Brandeburgensem fratres habuit" (2343637). In der zweiten Generation werden drei Söhne des jüngsten dieser Brüder, also des Herlibo genannt: Emelricus, Vridelo und wiederum Herlibo (d.J.), der eine Tochter des Königs von „Urwege" (Norwegen?) heiratet (23437.39). Mit ihr hat er zwei Kinder namens Zuetibor und Wolf (23439.40). Zuetibor seinerseits hat einen Sohn namens Scambor sowie weitere, namentlich unbekannt bleibende Söhne (2344o). Der jüngere Bruder Wolf, der den „primatus Pomeranorum" innehat, heiratet eine Tochter des Königs von Dänemark (23440-44) und bringt es nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit seinen Schwägern selber zum dänischen König (23444-235ö); Wolf bleibt übrigens zeit seines Lebens Heide (235 ] 5-1 s)- Mit seiner Ehefrau hat er drei Söhne, die nach dem Tode ihres Vaters das Land verlassen müssen: Otto, der nach Griechenland („Grecia") geht, Hermann, der in Rußland („Rusciam") seinen Erfolg sucht, und den älteren Wiprecht, den gleichnamigen Vater Wiprechts von Groitzsch (235g.g) 18-22)- Dieser ältere Wiprecht läßt sich im Balsamgau nieder, den er von seinem Vater geerbt hat. Es bedarf keines Beweises, daß diese Genealogie vollständig fiktiv ist. Setzt man etwa 3-4 Generationen pro Jahrhundert an, dann wäre man bei den frühesten Vorfahren Wiprechts von Groitzsch frühestens in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, also in einer Zeit, über die genügend prosopographische Kenntnisse vorhanden sind, um die Historizität dieser Vorfahren nachzuweisen. Nur unter Schwierigkeiten und mit einem erheblichen Grad an Beliebigkeit sind darin genannte Personen in der Überlieferung auszumachen. Allerdings kommt es auf den Nachweis der Fiktion im Kern gar nicht an. Entscheidend ist vielmehr ihr Inhalt. Worum ging es dem Biographen Wiprechts? Welche Absicht verfolgte er, indem er diese erfundene Genealogie an die Spitze der Lebensbeschreibung stellte? Welches Bild von der Vergangenheit des Helden wollte er transportieren?

13

Einfuhrend: Gerd Althoff, Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie, in: Fälschungen im Mittelalter, I (Monumenta Germaniae Histórica. Schriften 33, I), Hannover 1988,417-441.

14

Max Lüthi, Art. .Bruder, Brüder', in: Enzyklopädie des Märchens, II, Berlin 1979, 844-861; ders., Art. ,Drei, Dreizahl', in: ebd., III, Berlin 1981, 851-868; Katalin Horn, Art. .Jüngste, Jüngster', in: ebd., VII, Berlin 1993, 801-811.

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Zunächst und zuallererst geht es um den Nachweis der vornehmen Herkunft Wiprechts: Wer wie er eine böhmische Königstochter heiratet, in der Generation des Vaters aber nur einen Grafen eines verhältnismäßig abgelegenen Gaues an der mittleren Elbe aufzuweisen hat, der muß die eigene soziale und ständische Ebenbürtigkeit nachweisen. Folgerichtig findet sich in jeder Generation vor Wiprecht ein Hinweis auf die Königsgleichheit der Vorfahren. Als Gatten von Königstöchtern werden Großvater und Urgroßvater genannt, ersterer zunächst in führender Stellung an der Spitze der Pomoranen, dann nach internen Wirren in Dänemark sogar als König. Bei näherem Hinsehen sind Teile der Vorfahrenliste Wiprechts allerdings sehr wohl zu bestimmen: In der Harlungersage, die mit dem Harlunger Berg (= Marienberg) westlich von Brandenburg verbunden ist, finden sich Personen, die in der frühesten Vorfahrengeneration Wiprechts genannt werden. Neben den Pegauer Annalen ist für diese Harlungersage die der Mitte des 13. Jahrhunderts entstammende skandinavische Thidrekssaga aus dem Stoffkreis der Dietrichsepik die wesentliche und ungleich detailliertere Quelle.15 In diesem Werk werden außerordentlich umfangreich niederdeutsche lokale Traditionen von Sage und Dichtung verarbeitet. Ergänzt wird der Komplex noch durch die schwer deutbare Ballade „Ermenrichs Tod", deren genaue Zeitstellung allerdings kaum auszumachen ist.16 Dieser Sagenkomplex, dessen Namenüberlieferung in der Wiprecht-Vita aufgegriffen wird, liefert die gewünschte heroische Abkunft des Helden Wiprecht. Damit wäre die Herkunft Wiprechts nach der Meinung seines Biographen im Umkreis der Harlungerbrüder zu suchen und mit der Gestalt Dietrichs von Bern zu verbinden. Heroisch also ist schon Wiprechts Abstammung. Folgt man dieser Fiktion weiter, dann ist der Weg zu nordeuropäischen Königshäusern, ob in Dänemark oder in Norwegen, geradezu logisch. Vom Heros zum Königsgleichen und zum König weist der Weg der Vorfahren Wiprechts. Endlich würden die frühesten Wurzeln der Familie Wiprechts in jene Grenzregion im Nordosten des Reiches zurückweisen, in der sich der erste, historisch wirklich faßbare Vorfahr, Wiprechts gleichnamiger Vater, um die Mitte des 11. Jahrhunderts wirklich ausmachen läßt und in der es glaubhaft erscheinen mochte, den politisch tragenden Figuren dieser Gegend eine nordeuropäische Abkunft zuzuschreiben.

15

Edition: Thidriks saga af Bern, hg. v. Henrik Bertelsen, 2 Bde., Kopenhagen 1905-1911; Übersetzung: Die Geschichte Thidreks von Bern, hg. und übers, v. Fine Erichsen (Thüle 22), Jena 1924 (um ein Nachwort von Helmut Voigt erg. N D Düsseldorf 1967). - Vgl. aus historischer Sicht: Gustav Abb / Gottfried Wentz, Das Bistum Brandenburg, Teil 1 (Germania Sacra 1,3,1), Berlin 1929, 197-210.

16

Walter Haug, Art. ,Ennenrikes dot', in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, II, Berlin 1980,611-617.

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Wiprecht von Groitzsch VI.

Der soziale Aufsteiger ist dem Mittelalter keineswegs fremd. Klassischer homo novus, der Wiprecht ist, kann er seine eigene Karriere innerhalb des Reiches, an der Seite Heinrichs IV. und des Böhmen Vratislav, nicht durch eigene Abkunft legitimieren. Jenseits der Generation seines Vaters verschwamm für die Zeitgenossen die Herkunft Wiprechts in jenen Nebelschleiern, die den Blick auf historisch faßbare Personen vor der Mitte des 11. Jahrhunderts im deutsch-slawischen Grenzraum verdecken mochten. So wurde sein Lebensweg vor allem für diejenige Gemeinschaft erklärungswürdig und erklärungsbedürftig, die ihr eigenes Entstehen den Taten dieses Kriegsmannes verdankte: für den Konvent des Benediktinerklosters Pegau. Die Fiktion, mit der man die reichen Leerstellen in Wiprechts Vita ausfüllte, diente der Vergewisserung über die persönliche Entwicklung des Klostergründers. Heroische Urahnen von königsgleicher Abkunft finden ihren Weg in nordeuropäische Königshäuser und verweilen dennoch lange im Heidentum. Ihr Abkömmling Wiprecht erweist sich als ihr Nachkomme in Geist und Tat: heroisch bis zur Rücksichtslosigkeit, bedenkenlos bis zum ständigen Verstoß gegen kirchliche Normen. Erst unter dem Übermaß der Sündhaftigkeit erfüllt sich auch für Wiprecht die biblische Verheißung göttlicher Gnade. In der Gründung des Klosters und im Tod des Gründers im Mönchsgewand findet die Wandlung Wiprechts ihren Ausdruck. Erst dahinter treten die weltlichen Taten Wiprechts zurück und werden in ihrer Bedeutung auf das reduziert, was sie in den Augen seines Biographen allein waren: Mittel zum Zweck des sozialen Aufstiegs, des Aufstiegs in dieser Welt.

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Erzbischof Stefan von Riga (f 1483) Eine biographische Skizze

I. Der Urkundenbestand des Stadtarchivs Leipzig enthält in Kasten 86 ein bemerkenswertes Stück. Es handelt sich um eine am 13. Januar 1483 in Danzig ausgefertigte Urkunde, in der Erzbischof Stefan von Riga auf Bitten des Propstes vom Leipziger Thomasstift, Johannes Falkenhain, für diejenigen, die die Instandsetzung und Erhaltung der Barbarakapelle im Dorf Mölkau befördern, einen Ablaß von 100 Tagen gewährt.1 Die Entstehungsumstände dieser Urkunde blieben lange Zeit rätselhaft, da es zunächst unmöglich schien, eine Verbindung zwischen dem Rigaer Metropoliten und dem östlich von Leipzig gelegenen Dorf herzustellen, das sich am Ende des 15. Jahrhunderts im Besitz des Augustinerchorherrenstifts St. Thomas befand. Erst in den 1930er Jahren gelang es Werner Emmerich, einem Schüler Rudolf Kötzschkes,2 etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Emmerich, der aus Mölkau stammte und zu dieser Zeit noch Student in Leipzig war, beabsichtigte zunächst, eine Dissertation zur Geschichte seines Heimatdorfes zu schreiben. Das Vorhaben gelangte allerdings vorerst nicht zu Ausführung; Emmerich wurde statt dessen 1935 mit einer noch heute oft zitierten Arbeit über den ländlichen Besitz des Leipziger Rates promoviert.3 Bereits drei Jahre zuvor war Emmerich, offenbar mit Vorarbeiten zur Mölkauer Dorfgeschichte befaßt, auf die Ablaßurkunde des Rigaer Erzbischofs von 1483 gestoßen. Er wandte sich daraufhin an das Historische Archiv der Stadt Riga mit der Bitte, genauere Angaben über den Erzbischof Stefan zu erhalten. Die Antwort aus

1 2

3

Stadtarchiv Leipzig (im folgenden: StadtA Leipzig), UK 86/34. Werner Emmerich (1908-1968) arbeitete zunächst als Assistent von Kötzschke am Seminar für Landesgeschichte und wechselte noch in den 1930er Jahren nach Bayreuth, wo er später als Professor an der Pädagogischen Hochschule wirkte. Vgl. Gerhard Pfeiffer, Worte am Grabe von Werner Emmerich, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 28 (1968), 1-4. Vgl. Werner Emmerich, Der ländliche Besitz des Leipziger Rates. Entwicklung, Bewirtschaftung und Verwaltung bis zum 18. Jahrhundert, Phil. Diss., Leipzig 1936, 5. Zur Dissertation vgl. auch Uwe Schirmer, Graduierungsschriften am Leipziger Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde (1906-1950), in: Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte an der Universität Leipzig: Heimstatt sächsischer Landeskunde, hg. v. Wieland Held / Uwe Schirmer, Beucha 1999, 91-144, hier 98f.

Henning Steinfuhrer

Lettland war einigermaßen überraschend.4 Bei Erzbischof Stefan, so teilte man dem Leipziger Studenten mit, handelte es sich um einen gebürtigen Leipziger, dessen voller Name Stefan Grube gelautet habe. Zum Erzbischof von Riga sei er im Jahre 1480 von Papst Sixtus IV. in Rom erhoben worden. Auf dem Weg in seine neue Erzdiözese habe er auch in seiner Heimatstadt Station gemacht, wo der Propst des Leipziger Thomasstifts die Gelegenheit genutzt habe, sich mit der Bitte um die Gewährung eines Ablasses zugunsten der Kapelle im Stiftsdorf Mölkau an ihn zu wenden.5 Emmerich hat auf diesen Sachverhalt in einer Geschichte von MölkauZweinaundorf in aller Kürze hingewiesen, die er 1937 zusammen mit dem Lehrer Ernst Rosenbaum doch noch zum Druck gebracht hatte und die 1995 leicht gekürzt als Nachdruck erschienen ist.6 Diese Dorfgeschichte enthält im Anhang auch einen Abdruck des fraglichen Ablaßbriefs aus dem Jahre 1483, dem Emmerich noch eine deutsche Übersetzung des lateinischen Urkundentextes beifügte.7 Die Identität des Leipziger Bürgersohns Stefan Grube mit dem Rigaer Erzbischof kann also seit Jahrzehnten als bekannt gelten, ist aber dennoch von der Stadtgeschichtsforschung bis heute nicht rezipiert worden. Es scheint daher gerechtfertigt, sich im folgenden etwas ausführlicher dem Aufstieg Stefan Grubes an die Spitze des baltischen Erzbistums zuzuwenden.

II.

Der früheste bekannte Nachweis Stefan Grubes datiert aus dem Jahre 1450. Die Matrikel der Leipziger Universität weist unter den im Wintersemester aufgenom-

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Den Hinweis auf diesen Schriftwechsel verdanke ich dem freundlichen Hinweis von Frau Carla Calov (Stadtarchiv Leipzig). Vgl. dazu Abschrift des Schreibens des Historischen Archivs der Stadt Riga vom 7. September 1932, StadtA Leipzig, Sammlung Ernst Müller, Nr. 237, nicht foliiert. Dortselbst befindet sich auch eine Durchschrift der Antwort Emmerichs vom 18. Oktober desselben Jahres. Da es sich um eine Privatkorrespondenz handelte, ist anzunehmen, daß Emmerich die entsprechenden Kopien an den Archivar Ernst Müller weitergereicht hatte, dessen Unterstützung für seine Nachforschungen er ausdrücklich hervorhob. Müller, der ein ausgezeichneter Kenner der älteren Leipziger Stadtgeschichte war, hatte 1926 als wissenschaftlicher Mitarbeiter seine Tätigkeit am Stadtarchiv Leipzig aufgenommen, dem er zwischen 1945 und 1958 als Direktor vorstand. Zur Biographie von Ernst Müller vgl. Horst Thieme, Nachruf für Ernst Müller, in: Arbeitsberichte zur Geschichte der Stadt Leipzig 1972, Heft 1, 85f. Vgl. Mölkau-Zweinaundorf. Eine Heimatgeschichte. Unter Mitarbeit von Rudolf Moschkau und Peter Sachse verfaßt durch Werner Emmerich und Erich Rosenbaum, Mölkau 1937, Reprint Beucha 1995, llOf. Vgl. ebd., 182-185.

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Erzbischof Stefan von Riga

menen Studenten der Meißner Nation unmittelbar nebeneinander einen „Stepphanus Grube" und einen „Symon Grube" aus.8 Beide stammten aus Leipzig, denn sie werden als „Lipsici" bezeichnet. Während Simon Grube eine ermäßigte Gebühr von 6 Groschen entrichtete, zahlte Stefan Grube die volle Gebühr von 10 Groschen. 9 Da sich die Höhe der Aufnahmegebühr nach den Vermögensverhältnissen richtete, darf man wohl annehmen, daß beide , nicht völlig mittellos waren. Daß Simon, für den weitere Nachweise fehlen, und Stefan Grube miteinander in verwandtschaftlichen Beziehungen standen, ist wahrscheinlich, vielleicht handelte es sich um Brüder, die gemeinsam die Universität bezogen hatten. Endgültige Sicherheit läßt sich in dieser Frage aber nicht gewinnen. Ein „Stephanus Grube de Lipczk" ist wieder im Wintersemester des Jahres 1455 nachzuweisen, als er das Bakkalaureat der philosophischen Fakultät erwarb.10 Die Identität des hier genannten Bakkalars mit dem späteren Rigaer Erzbischof ergibt sich aus einem weiteren Eintrag." Am 11. Oktober des Jahres 1461 wurde Stefan Grube aus Leipzig gemeinsam mit einem gewissen Steffan Hiller12 aus Lauingen 13 wegen Widerspenstigkeit und Ungehorsams excludiert, d.h. auf Dauer von der Universität verwiesen. Beide waren bereits öfter aufgrund von Vergehen gegen die Statuten der Universität vorgeladen und ermahnt worden. 14 Eine spätere Handschrift hat am Rand die Bemerkung nachgetragen, daß Stefan Grube später zunächst Bischof in Apulien, danach Erzbischof von Riga geworden und schließlich in seiner Erzdiözese verstorben sei. 15

8

Vgl. Die Matrikel der Universität Leipzig, hg. v. Georg Erler, 3 Bde. (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, II. Hauptteil, 16-18), Leipzig 1895-1902, hier I, 171 (im folgenden: Matrikel I—III)9 Ursprünglich hatte Stefan Grube wohl auch nur 6 Groschen entrichtet, den Restbetrag von 4 Groschen aber später nachgezahlt. Zur Gebührenerhebung und der Art der Verzeichnung vgl. Georg Erler, Einleitung zu Matrikel I, XLVIII-LVIII. 10 Vgl. Matrikel II, 164. 11 Vgl. Matrikel I, 735. 12

Stefan Hiller war im Sommersemester 1458 in Leipzig immatrikuliert worden. Vgl. Matrikel

13

Lauingen (Donau), etwa 40 km nordwestlich Augsburg. „... Steffanus Grube de Lipczk, in artibus baccalarius, et Steffanus Hiller de Laugingen propter quosdam excessus contra statuta universitatis commissos sepius publice citati, moniti et requisiti propter ipsorum contumaciam et inobedienciam secundum universitatis statuta per deliberacionem et sentenciam dominorum magistrorum et doctorum universitatem tunc representancium ab universitate sunt exclusi." Matrikel I, 735. „Iste Steffanus postea factus episcopus Troianus in Apulia et fa[ctus] archiepiscopus Rigensis mortuus est in suo episcopatu Rigensi." Matrikel I, 735, Anm. 1. Hinweise auf das weitere Schicksal von Studenten, besonders wenn diese später eine hervorragende Stellung bekleideten, finden sich in der Leipziger Matrikel öfter. Bei Stefan Grube handelte es sich aber um den seltenen Fall, daß ein Excludierter in eine so bedeutende Position aufstieg, daß man eine entsprechende Randbemerkung für nötig erachtete. Mit Hinweis auf diese Stelle vgl. auch: Siegfried Hoyer, Die Gerichtsbarkeit der Universität Leipzig bis zum Ende des 15. Jahrhun-

1,211. 14

15

173

Henning Steinfiihrer

Faßt man die Angaben der Matrikel zu Stefan Grube zusammen, so ist zu konstatieren, daß der spätere Erzbischof offenbar Leipziger war, 1450 zusammen mit einem mutmaßlichen Verwandten namens Simon Grube immatrikuliert wurde, 1455 das Bakkalariat der freien Künste erwarb und schließlich wegen nicht genauer benannter Verstöße gegen die Statuten von der Universität verwiesen worden ist. Somit stellt sich die Frage nach der Herkunft Stefans Grubes. Ein Träger dieses Namens ist um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Leipzig weder in Stadtbüchern noch in Urkunden nachzuweisen, überhaupt ist der Name Grube in den sächsischen Städten im Mittelalter nur sehr selten anzutreffen. Daß es aber eine Familie Grube in Leipzig im fraglichen Zeitraum gegeben hat, ist durch einen Hans Grube („Grube", „Gruben", „Gruban") belegt, der zwischen 1437 und 1469 mehrfach in der Leipziger Überlieferung begegnet. Der älteste Beleg stammt aus dem Leipziger Schöffenbuch (1420-1478), in dem unter den Einträgen des Jahres 1437 der Ehevertrag eines Hans Grube mit seiner Frau Ilse überliefert ist.16 Dieser Leipziger Bürger Hans Grube ist noch in einer Reihe weiterer Stadtbucheinträge als Bürge,17 Gläubiger18 oder Zeuge für Rechtsgeschäfte Dritter nachweisbar.19 1466 ließ er dem Leipziger Goldmünzmeister Cuntz Funcke eine Scheune vor dem Peterstor auf.20 Hinweise auf Hans Grubes Beruf enthalten die Quellen leider nicht und auch im Rat ist er nicht nachweisbar. Daß er aber ein verhältnismäßig vermögender Mann gewesen sein muß, legen die Angaben im sogenannten Harnischbuch von 1466 nahe.21 Auch über die Lage des Grubeschen Wohnhauses gibt das Harnischbuch Auskunft. Dieses befand sich im nördlichen Teil der Leipziger Innenstadt, an der Ecke Brühl / Reichsstraße, unmittelbar an der nach Norden führenden Ausfallstraße.22 Zum letzten Mal begegnet Hans Grube im April des Jahres 1469,23 bald

derts, in: Rechtsbücher und Rechtsordnung in Mittelalter und früher Neuzeit, Dresden 1999, 122-142, hier 127. 16

17 18 19

20 21

22

Vgl. StadtA Leipzig, Schöffenbuch (1420-1478), 1437 Juni 11, fol. 34v. Eine ähnliche Regelung stammt aus dem Jahre 1442. Vgl. ebd., fol. 45r. Vgl. StadtA Leipzig, Ratsbuch 1 (1466-1489), fol. 24v/25v (1467). Vgl. StadtA Leipzig, Schöffenbuch (1420-1478), fol. 97v (1462). Vgl. ebd., fol. 90r (1461), fol. 109v(1465); Ratsbuch 1 (1466-1489), fol. 39r/40r (1469), fol. 60r/61r (1469). Vgl. StadtA Leipzig, Schöffenbuch (1420-1478), fol. 113v. Im Harnischbuch sind die von den Leipziger Bürgern und Innungen im Kriegsfall zu stellenden Ausrüstungsgegenstände aufgeführt, wobei der Umfang der aufzubringenden Rüstung wohl von der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhing. Hans Grube lag mit der von ihm bereitzustellenden Ausrüstung („1 krebiß, 2 hüte, 2 paffoßin, 2 kollir, 1 armbrost, 1 bux") im oberen Drittel der Einträge, gehörte also zu den wohlhabenderen Leipziger Bürgern. Vgl. Leipziger Steuerbücher 1466-1529, in: Quellen zur Geschichte Leipzigs, hg. v. Gustav Wustmann, I, Leipzig 1889, 37-192, darin Harnischbuch von 1466, 37-64, hier 63. Vgl. ebd.

174

Erzbischof Stefan von Riga

darauf muß er gestorben sein, denn am 10. Oktober desselben Jahres ließ seine Witwe Ilse ihrem Schwiegersohn Haus und Hof auf.24 Vieles spricht für die Annahme, daß es sich bei diesem Hans Grube, der verglichen mit der spärlichen Leipziger Überlieferung recht häufig belegt ist, um einen Verwandten, vielleicht sogar um den Vater von Stefan Grube handelte. Obgleich eine verwandtschaftliche Verbindung nicht sicher belegt werden kann, bleibt doch festzuhalten, daß Hans, Simon und Stefan Grube die einzigen Träger dieses Namens sind, die in Leipzig im 15. Jahrhundert nachgewiesen werden können. Auch scheint Hans Grube durchaus so vermögend gewesen zu sein, daß er die für das Studium seiner beiden mutmaßlichen Söhne nötigen finanziellen Mittel aufbringen konnte.

III.

Mit dem Eintrag über die Excludierung in der Matrikel verliert sich zunächst die Spur Stefan Grubes in Leipzig. Er hatte sich nach Italien gewandt, wo bereits 1460 ein „Stephanus Grube de Lipczk" unter den deutschen Studenten an der Universität Bologna erscheint.25 Daß Grube schon im Jahr 1460 als Student in Italien belegt ist, aber erst 1461 von der Leipziger Universität verwiesen wurde, könnte damit zu erklären sein, daß er der förmlichen Verweisung von der Universität wegen seiner Verfehlungen zuvorkam und seiner Heimatstadt vielleicht schon im Jahr 1460 den Rücken kehrte. Der Ausschluß von der Universität wäre dann in seiner Abwesenheit erfolgt. Bemerkenswert ist, daß auch das Bologneser Verzeichnis der deutschen Studenten einen Hinweis auf Grubes spätere Erhebung zum Rigaer Erzbischof enthält. 26 Über die Art seiner Studien in Bologna ist nichts bekannt, doch ist es denkbar, daß er sich der Theologie oder dem Kirchenrecht widmete, da er bald darauf erfolgreich eine geistliche Laufbahn beschritten hat. Im Jahre 1474 wurde Stefan Grube Bischof von Troia in Unteritalien.27 Als Kommende erhielt er von Papst 23

Vgl. Wustmann, Quellen, II, Leipzig 1895, 44.

24

Vgl. StadtA Leipzig, Schöffenbuch (1420-1478), fol. I22v. Vgl. Gustav C. Knod, Deutsche Studenten in Bologna (1289-1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Gennanicae universitatis Bononiensis, [Berlin] 1899, 171, Nr. 1235; Philipp Schwartz, Die Livländer auf der Universität Bologna 1289-1562, in: Mittheilungen aus dem Gebiet der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 14 (1890), 410-460, hier 434, Nr. 23. Neben dem Eintrag zu Grube die Bemerkung: „postea factus est episcopus Rigensis." Knod, Deutsche Studenten, 171, Nr. 1235. Vgl. Konrad Eubel, Hierarchia catholica medii aevi, II, Münster 19143, 282. Die einzelnen Lebensstationen Stefan Grubes in Italien, die hier nur im Überblick behandelt werden können, bedürfen noch einer eingehenderen Untersuchung.

25

26

27

175

Henning Steinfuhrer

Sixtus IV. (1471-1484) die Deutschordensballei Apulien,28 um die er sich schon vorher bemüht hatte.29 Schließlich gelang es Grube, das Amt eines Generalprokurators des Deutschen Ordens in Rom zu übernehmen, das er zwischen 1480 und 1482 innehatte.30 Diesen Erfolg hatte Stefan Grube wohl nicht zuletzt der Förderung durch König Ferdinand I. von Neapel (1459-1493) und Sixtus IV. zu verdanken, die die entsprechenden Bemühungen Grabes ausdrücklich unterstützten.3' Ein deutlicher Beleg für die ausgezeichneten Beziehungen, über die Stefan Grube in Italien und speziell zur Kurie offensichtlich verfugte. Am 12. März des Jahres 1480 wurde Stefan Grube durch Papst Sixtus IV. in Rom zum Erzbischof von Riga erhoben.32 Es ist an dieser Stelle notwendig, einen Blick auf die komplizierte Situation in Stadt und Erzbistum Riga zu werfen. Die ursprünglich erzbischöfliche Stadt und auch die Erzbischöfe selbst waren seit langer Zeit in Auseinandersetzungen mit dem Deutschen Orden verwickelt. Im Jahre 1237 hatte Papst Gregor IX. (1227-1241) den Deutschen Orden mit dem Inländischen Schwertbrüderorden vereinigt. Im Ergebnis dieses Zusammenschlusses war der Deutsche Orden in die Rechte und Pflichten des Schwertbrüderordens in Riga als Erbe eingetreten und versuchte seitdem mit wechselndem Erfolg, seine Herrschaft auf Erzbistum und Stadt auszudehnen.33 Es gelang den Ordensrittern im 14. Jahrhundert sogar zeitweilig, Riga völlig ihrem Einfluß zu unterwerfen. Eine lange Phase steter Auseinandersetzungen zwischen Erzbischof, Orden und Stadt endete 1452 mit dem sogenannten Kirchholmer Vertrag, in dem sich Orden und Erzbischof auf eine Doppelherrschaft über Riga einigten.34 Eine Befriedung der Zustände brachte freilich auch dieser Vertrag nicht. So war nahezu die gesamte Regierungszeit von Stefan Grabes Vorgänger Erzbischof Silvester Stodewescher (14481479) von schweren Auseinandersetzungen mit dem Deutschen Orden gekenn-

28 29

30

Vgl. Kurt Forstreuter, Der Deutsche Orden am Mittelmeer, Bonn 1967, 130f. Vgl. ebd., 131; Jan-Erik Beuttel, Der Generalprokurator des Deutschen Ordens an der römischen Kurie. Amt, Funktion, personelles Umfeld und Finanzierung, Marburg 1999, 203, 522, Anm. 159. Vgl. Leonid Arbusow, Livlands Geistlichkeit vom Ende des 12. Jahrhunderts bis ins 16. Jahrhundert [Teil 1], in: Jahrbuch für Genealogie, Heraldik und Sphragistik 10 (1902), 1 75, hier 58; Hennann Freytag, Die Geschäftsträger des Deutschen Ordens an der römischen Kurie von 1309 bis 1525, in: Zeitschrift des Westpreussischen Geschichtsvereins 49 (1907), 185-220, hier212f.; Forstreuter, Mittelmeer, 131, 176; Beuttel, Generalprokurator, 109.

31

Vgl. mit Auszügen der entsprechenden päpstlichen und königlichen Schreiben an den Hochmeister aus dem Jahre 1478: Beuttel, Generalprokurator, 109, bes. Anm. 203.

32

Vgl. K. Eubel, Hierarchia catholica, 246; L. Arbusow, Livlands Geistlichkeit, 58. Manfred Hellmann, Der Deutsche Orden und die Stadt Riga, in: Stadt und Orden. Das Verhältnis des Deutschen Ordens zu den Städten in Livland, Preußen und im Deutschen Reich, hg. v. Udo Arnold, Marburg 1993, 1-33, hier 12f. Vgl. ebd., 24-30.

33

34

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Erzbischof Stefan von Riga

zeichnet. 35 Als der militärisch unterlegene Erzbischof Sylvester 1479 faktisch als Gefangener des Deutschen Ordens in Kokenhusen starb, befanden sich die Ordensritter in einer scheinbar günstigen Position. Der livländische Ordensmeister Bernd v. Borch nutzte die entstandene Situation rücksichtslos zur Machterweiterung. Ziel der Anstrengungen des Meisters über Livland war es, den Widerstand von Erzbistum und Stadt endgültig zu brechen und beide der Hegemonie des Ordens zu unterwerfen. 36 Bernd v. Borch versuchte daher, die Wahl seines Vetters Simon v. Borch, der zugleich Bischof von Reval war, als Erzbischof von Riga durchzusetzen. Um die Postulation Simons zu erreichen, wurde ein Teil der inhaftierten Domherren gefügig gemacht. Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatten, schickte man Boten an die Kurie, die die Anerkennung Simons zum Erzbischof erwirken sollten.37 Doch es kam anders: Wohl nicht zuletzt aufgrund von Berichten über das harte Vorgehen des livländischen Meister, lehnte die Kurie den Vorschlag des Ordens ab. Die von Sixtus IV. mit der Auswahl eines geeigneten Kandidaten betrauten Kardinäle Oliverius Caraffa und Roderico Borgia, der spätere Papst Alexander VI., schlugen den Bischof Stefan von Troia vor. Der Papst erhob Stefan Grube daraufhin im März 1480 zum Erzbischof von Riga und bestätigte ihn ausdrücklich in allen seinen geistlichen und weltlichen Rechten. 38 Welche Gründe letztlich für die Erhebung ausschlaggebend waren, kann hier nur vermutet werden. Möglicherweise verfolgte der Papst die Absicht, dem Orden, dessen Amtsträger Grube ja immerhin war, einen Kompromißkandidaten anzubieten, gleichzeitig aber seinen Einfluß im östlichen Ostseeraum zu sichern. Fest steht, daß der Orden nicht gewillt war, dem päpstlichen Kandidaten widerstandslos das Feld zu überlassen. Die Ordensritter versuchten, über Kaiser Friedrich III. doch noch eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen, diese Bemühungen blieben im Ergebnis jedoch erfolglos. 39 Auch wenn die komplizierte Konfliktlage zwischen den beteiligten Parteien hier nur angedeutet werden kann, so wird doch deutlich, daß Stefan Grube, zurückhaltend formuliert, kein leichtes Amt erwartete.

35

Zum Episkopat des Silvester Stodewescher vgl. Gert Kroeger, Erzbischof Silvester Stodewescher und sein Kampf mit dem Orden um die Herrschaft über Riga, in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 24 (1930), 147-280; Hartmut Boockmann, Der Einzug des Erzbischofs Sylvester Stodewescher von Riga in sein Erzbistum 1449, in: Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986), 1-17; ders., Ein Bürgersohn wird Kirchenfürst, in: ders., Fürsten, Bürger, Edelleute: Lebensbilder aus dem späten Mittelalter, München 1994, 81-103.

36

Vgl. Kroeger, Silvester Stodewescher, 276-278. Vgl. ebd., 276.

37 38 39

Zu den Verhandlungen in Rom vgl. ebd., 278f. Vgl. ebd., 279.

177

Henning Steinführer

IV.

Der neue Erzbischof blieb nach seiner Erhebung zunächst noch längere Zeit in Italien, um von da die weitere Entwicklung in Riga zu beobachten,40 wo es unterdessen zu ernsthaften Kämpfen zwischen dem Deutschen Orden und der Stadt gekommen war.41 Die Reise in seine Diözese trat Stefan Grube im Sommer des Jahres 1482 an.42 In seiner Heimatstadt Leipzig ist der Erzbischof im November des gleichen Jahres nachweisbar. In einem mit dem erzbischöflichen Siegel beglaubigten Notariatsinstrument sichert der Rigaer Metropolit dem Leipziger Ratsherren Jacob Blasbalg43 die Rückzahlung einer Schuld von 100 Rheinischen Gulden bis zum bevorstehenden Weihnachtsfest zu.44 Möglicherweise benötigte er diese Summe zur Aufbesserung seiner Reisekasse. Während dieses Aufenthaltes bot sich wahrscheinlich auch Johannes Falkenhain, dem Propst des Leipziger Thomasstifts, die Gelegenheit, den hohen Gast, der unter Umständen sogar sein Quartier in den Stiftsgebäuden genommen hatte, um die Gewährung eines Ablasses für die Barbarakapelle im Dorf Mölkau zu bitten.45 Bald nach dem 11. November hat der Erzbischof Leipzig dann wieder verlassen. Über Posen und Thorn reiste er nach Danzig, wo er ab dem 10. Dezember 1482 nachzuweisen ist46 und am 13. Januar des folgenden Jahres den bewußten Ablaßbrief für die Mölkauer Kirche durch seinen Sekretär Michael Pauernfeindt 40

41 42 43

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45

46

Zum Itinerar Stefan Grubes vgl. Chronologie der Ordensmeister über Livland, der Erzbischöfe von Riga und der Bischöfe von Leal, Oesel-Wiek, Reval und Dorpat, aus dem Nachlasse von Baron Robert v. Toll hg. v. Philipp Schwartz (Est- und livländische Brieflade, 3), Riga 1879, 189-192 (im folgenden: Brieflade 3). Vgl. Constantin Mettig, Geschichte der Stadt Riga, Riga 1897, ND Hannover 1980, 155-157. Vgl. Brieflade 3, 191. Jacob Blasbalg war Fernkaufmann, stieg später zum ersten albertinischen Landrentmeister auf und gehörte zu den hervorragendsten Vertretern der Leipziger Bürgerschaft. Vgl. Alexander Puff, Die Finanzen Albrechts des Beherzten, Phil. Diss. Leipzig 1911, 42—45. 1 482, November 11, Original StadtA Leipzig UK 18/9, Druck: Urkundenbuch der Stadt Leipzig, I, hg. v. Karl Friedrich v. Posern-Klett (Codex diplomaticus Saxoniae regiae II. Hauptteil, 8), Leipzig 1868, 430f„ Nr. 522. Der 1324 erstmals erwähnte Ort Mölkau gehörte seit 1381 vollständig dem Leipziger Thomasstift. Das kleine Dorf war zunächst nach Leipzig eingepfarrt. Der hier behandelte Ablaßbrief ist zugleich die erste Nachricht über eine Kapelle in Mölkau, die jedoch schon länger bestanden haben muß, denn zu dieser Zeit befand sie sich bereits in Verfall. Mölkau wurde später nach Zweinaundorf eingepfarrt und die Kapelle aufgehoben; ihr Standort ist bis heute nicht bekannt. Vgl. zu Mölkau: Hermann Rothe, Der Besitzstand des Leipziger Thomasklosters und dessen Bewirtschaftung und Verwaltung, Phil. Diss. Leipzig, Dresden 1927, 36-38; zur Barbarakapelle vgl. Emmerich / Rosenbaum, Mölkau-Zweinaundorf, 110112. Vgl. Brieflade 3, 191.

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Erzbischof Stefan von Riga

ausstellen ließ.47 Vielleicht gelangte die Urkunde gemeinsam mit den 100 Gulden, die er Jacob Blasbalg schuldete, nach Leipzig. Nachzuweisen ist dies freilich nicht, die Leipziger Stadtrechnungen48 enthalten keinen Beleg für die Entsendung oder den Empfang eines Boten und ein entsprechendes Rechnungsbuch des Thomasstifts ist nicht überliefert. Stefans Grabes Weiterfahrt von Danzig aus nach Riga gestaltete sich einigermaßen schwierig, da der Orden versuchte, ihm den Weg nach Riga zu versperren. Über Elbing und Heilsberg gelangte er schließlich im April 1483 nach Wilna.49 In Riga konnte Stefan Grube erst einige Monate später, im August 1483, einziehen. Der Erzbischof wurde mit allen Ehren empfangen und bestätigte sogleich Domkapitel und Stadt in ihren Rechten. Der Rigaer Rat hatte ihm den Ratsherren Hermann Helewegh entgegengeschickt, der in Wilna auf den neuen Erzbischof traf und ihn bis nach Riga geleitete. Dieser Helewegh ist zugleich Verfasser einer Chronik, die eine Reihe wichtiger Angaben zur kurzen Regierungszeit von Stefan Grube enthält,50 über die sonst nur wenig bekannt ist.51 Herman Helewegh berich47

48

49 50

Die Urkunde auf hochwertigem Pergament (24,5 x 34 cm; Plica 11 cm) ist mit dem Siegel des Erzbischofs beglaubigt, das sich in einer Holzkapsel an Hanffaden befindet. Die Siegelfarbe ist Rot (vgl. Abb.). Es ist möglich, daß der erzbischöfliche Sekretär Michael Pauernfeindt, der nicht mit dem Erzbischof in Leipzig weilte, die für eine geregelte Kanzleiarbeit nötigen Utensilien mit sich führte und erst in Danzig auf seinen Herrn traf. Dieser Umstand würde zugleich erklären, warum der Erzbischof den Indulgenzbrief nicht gleich in Leipzig ausfertigen ließ. Der erzbischöfliche Sekretär Pauernfeindt, der später Dekan in Dorpat wurde, hatte in Köln, Leipzig und Bologna studiert. Vgl. Knod, Deutsche Studenten, 399, Nr. 2732. In den Leipziger Jahreshauptrechnungen findet sich unter der Rubrik „geschenke und erung den fursten und andern herrn dis jar ausgeben" folgender Vermerk: „Item dem bischove von Riga i vaß Freibergisch [Bier], facit ii ß silbern montz." Der Eintrag befindet sich unter den am 15. Februar 1483 („sabbato post esto mihi") abgerechneten Posten. Da der Erzbischof sich zu dieser Zeit jedoch in Heilsberg befand (Brieflade 3, 192), kann es sich bei dem in der Rechnung angegebenen Datum lediglich um den Zeitpunkt der Abrechnung durch die städtischen Biermeister handeln. Vgl. StadtA Leipzig, Jahreshauptrechnungen Bd. 6 (14811483), fol. 22 Iv. Vgl. Brieflade 3, 192. [Hermann Helewegh], Rotes Buch inter archiepiscopalia, in: Scriptores rerum Livonicarum. Sammlung der wichtigsten Chroniken und Geschichtsdenkmale von Liv-, Est- und Kurland, II, Riga 1848, 729-804 (im folgenden: SS rer. Liv.). Diese Chronik ist nicht im Original, sondern nur in einer hochdeutschen Übersetzung überliefert und wurde lange Zeit fälschlich Melchior Fuchs, einem Rigaer Bürgermeister des 17. Jahrhunderts, zugeschrieben. Der eigentliche Verfasser der Chronik, Hermann Helewegh, war seit 1454 Stadtschreiber und seit 1479 Ratsherr in Riga und hatte 1456 den Auftrag erhalten, eine Darstellung der Verhandlungen um den Vertrag von Kirchholm (1452) zu verfassen, in dem sich Orden und Erzbischof auf eine Doppelherrschaft über Riga einigten. Helewegh hat nicht nur seinen Auftrag ausgeführt, sondern darüber hinaus auch die Chronik bis zu seinem Tod (1489) fortgeführt und damit ein Geschichtswerk von Rang hinterlassen. Vgl. dazu Norbert Angermann, Die mittelalterliche Chronistik, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, hg. v. Georg v. Rauch, Köln 1986, 1-28, hier 17-19.

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Henning Steinfiihrer

tet u.a., daß der Hochmeister Martin Truchseß von Wetzhausen (1477-1489) dem Erzbischof Vorhaltungen gemacht habe, als Prokurator des Ordens für die Verschuldung der Bailei in Apulien und die Verpfandung des Ordenshauses in Rom verantwortlich zu sein. Grube habe auf diese Vorwürfe geantwortet, die Schulden schon begleichen zu wollen, wenn ihn der Orden in Ruhe in seinem Bistum regieren ließe.52 Allerdings waren Stefan Grube nur wenige Wochen als Erzbischof vergönnt, in den er kaum Gelegenheit hatte, nachhaltigen Einfluß auf die sich verschärfenden Auseinandersetzungen mit dem Deutschen Orden zu nehmen.53 Am 20. Dezember 1483, also nur vier Monate nach seiner Ankunft in Riga, ist Stefan Grube gestorben,54 sein Leichnam wurde im Dom beigesetzt.55 Als Erzbischof von Riga folgte ihm Dr. Michael Hildebrandt, der der Kandidat des Deutschen Ordens war. Dem Orden gelang es unter Hildebrandts Episkopat, seine Herrschaftsansprüche über Riga durchzusetzen.56 Als Stefan Grube am Ende des Jahres 1483 starb, hatte er ein wechselvolles Leben und den sozialen Aufstieg vom Leipziger Bürgersohn zum Erzbischof hinter sich. So bemerkenswert diese Biographie auch erscheinen mag, einen Einzelfall stellte sie im 15. Jahrhundert durchaus nicht dar. Als Beispiele seien Grabes Vorgänger und Nachfolger auf dem Stuhl des Rigaer Erzbischofs angeführt, die beide dem Stadtbürgertum entstammten. Silvester Stodewescher kam aus Thorn,57 Dr. Michael Hildebrandt aus Reval.58 Möglich war ein solche Karriere freilich nur im Schoß der römischen Kirche, die unter gewissen Umständen auch Bürgerlichen den Weg bis an die Spitze eines Erzbistums eröffnen konnte. 51

Die Editionslage für die Zeit von Grabes Episkopat ist ungünstig, weil das einschlägige regionale Urkundenwerk, das Liv-, est- und kurländische Urkundenbuch, für die Jahre 14711494 eine Lücke aufweist. Der fehlende 11. Band ist in Bearbeitung, aber noch nicht erschienen. Für die hier behandelten Jahre 1480-1483 vgl. daher immer noch Carl-Eduard Napiersky, Index corporis historico-diplomatici Livoniae, Esthoniae, Curoniae, II, Riga / Dorpat 1835, 66-88 (im folgenden: Index). Zum gegenwärtigen Stand der livländischen Urkundenedition vgl. Klaus Neitmann, Geschichte des Liv-, est-, und kurländischen Urkundenbuches, in: Stand, Aufgaben und Perspektiven territorialer Urkundenbücher im östlichen Mitteleuropa, hg. v. Winfried Irgang / Norbert Kersken, Marburg 1998, 107-121.

52

Vgl. SS rer. Liv. 2, 782f. Die gegen Grube erhobenen Vorwürfe waren nicht unbegründet, sowohl in Apulien als auch in Rom gestaltete sich seine Amtsführung nicht zum wirtschaftlichen Vorteil des Ordens. Vgl. Forsireuter, Mittelmeer, 131, 176f.; Beuttel, Generalprokurator, 434. Vgl. Index, Nr. 2202.

53 54

55 56 57 58

Über den Tod und die offenbar sehr angegriffene Gesundheit Stefan Grabes, dessen Leib man nach seinem Ableben wegen einer starken Schwellung öffnete, vgl. den Bericht von Hermann Helewegh, SS rer. Liv. 2, 783f.; Arbusow, Livlands Geistlichkeit, 58. Vgl. SS rer. Liv. 2, 784. Vgl. Hellmann, Deutsche Orden und Riga, 30f. Vgl. Boockmann, Sylvester Stodewescher, 3. Vgl. Hellmann, Deutsche Orden und Riga, 30.

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Erzbischof Stefan von Riga

•Wit«

Abb. 1: Ablaßurkunde des Erzbischofs Stefan von Riga vom 13. Januar 1483 für die Barbarakapelle in Mölkau

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Uwe Schirmer

Die Hochzeit Georgs des Bärtigen mit der polnischen Prinzessin Barbara von Sandomierz (1496)

I. Vorbemerkungen Am 21. November 1496 wurden der sächsische Herzog Georg und die polnische Königstochter Barbara von Sandomierz in der Thomaskirche zu Leipzig vermählt. Diese Hochzeit, die in der Literatur nur beiläufiges Interesse fand,1 gewährt Aufschlüsse über die dynastischen Verbindungen des europäischen Hochadels und die organisatorische, kulturelle und politische Inszenierung eines spätmittelalterlichen Hoffestes. Die Hochzeitsvorbereitung und -durchfuhrung ist gut überliefert, da der albertinische Landrentmeister Georg von Wiedebach alle nötigen Ausgaben in einem Rechnungsbuch quittiert hat.2 Seine nüchterne und sachliche Niederschrift erlaubt zuverlässige Rückschlüsse zum Fest, obwohl sie keinen erzählenden oder beschreibenden Charakter besitzt.3 Aus des Rentmeisters Einträgen geht hervor, daß die Hochzeit in Leipzig stattfand. Dies bestätigt ebenfalls die Leipziger Jahreshauptrechnung von 1496/97.4 Sie liefert wichtige Ergänzungen zu den Notizen des Landrentmeisters. Allerdings ist der genaue Zeitpunkt der Trauung anhand der beiden Quellen nicht zu erfahren. Indes wird in einem 1534 verfaßten Nekrolog auf Barbara über die Hochzeit lapidar mitgeteilt, „als man zalt sechs und neunzig jar, nach Elisabeth hochzeit war".5 Warum die Vermählung in die vorletzte Novemberwoche des Jahres 1496 fiel, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Weder Geburtstage aus der engeren Verwandt1

Friedrich Albert von Langenn, Herzog Albrecht der Beherzte, Stammvater des königlichen Hauses Sachsen, Leipzig 1838, 488-93; Heinrich von Welck, Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen. Sein Leben und Wirkung, Braunschweig 1900, 13, Karlheinz Blaschke, Sachsen im Zeitalter der Reformation, Gütersloh 1970, 28.

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SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18 Hof- und Haushaltungssachen Herzog Albrechts 1488-1497, fol. 339 r -353 v . Vgl. zum Beispiel den Bericht über die Hochzeit des ernestinischen Herzogs Johann von Sachsen mit Sophie von Mecklenburg. Vgl. Carl August Hugo Burkhardt, Die Vermählung des Herzogs Johann von Sachsen 1. bis 5. März 1500, in: NASG 15 (1894), 283-98. Stadtarchiv Leipzig, Jahreshauptrechnung Nr. 15 (1495-1497). ThürHStA Weimar, Reg. D 216 a , unfol. Der erste Tag nach Elisabeth (19. November) war 1496 Sonntag der 20. - Nach Posse/Kobuch soll die Hochzeit jedoch am 21. November stattgefunden haben. (Otto Posse, Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin. Ernestinischer und Albertinischer Linie mit Einschluß der regierenden Häuser von Großbritanien, Belgien, Portugal und Bulgarien. Mit Berichtigungen und Ergänzungen der Stammtafeln bis 1993 von Manfred Kobuch, Leipzig 1994, Tafel 6).

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Uwe Schinner

schafit der Brautleute noch die nahende Adventszeit kommen dafür in Betracht. Allerdings wird der nur wenige Wochen zurückliegende Michaelismarkt den Termin mit bestimmt haben, da auf diesem Markt bequem die nötigen Güter und Waren beschafft und verrechnet werden konnten. Bis zur Hochzeit verblieb den Dienern, Knechten und Mägden, vor allem jedoch den Hofschneidern noch genügend Zeit, um für das Fest alles tadellos vorbereiten zu können. Für das Jahr 1496 spricht das Alter der Brautleute, Barbara war 18 und Georg 25 Jahre alt. Auf Leipzig fiel die Wahl wegen der wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung der Stadt. An diesem Ort hatten schon Georgs Großvater Friedrich II. (1431) und sein Oheim Kurfürst Ernst (1460) geheiratet. Die Stadt bot sich jedoch nicht nur wegen der Familientradition für derartige Festlichkeiten an. Neben den Jahrmärkten, der mächtigen Pleißenburg, die mit ihren geräumigen Hallen, Kellern und Gewölben ansehnliche Bedingungen für die Versorgung und Bewirtung der Gäste darbot, versprach vor allem das neu erbaute städtische Gewandhaus mit seiner großzügigen und repräsentativen Architektur beste Voraussetzungen für eine Fürstenhochzeit.6 Obendrein stellte Leipzig wie keine andere Stadt im albertinischen Sachsen Unterkünfte für die zahlreichen Hochzeitsgäste bereit. Auf der Pleißenburg konnten niemals alle Gäste samt Musikanten, Dienern, Knechten und Mägden untergebracht werden. Selbst die einheimische Ritterschaft fand keinen Platz auf der Burg. Sie alle wichen in die Leipziger Gasthöfe aus. Die Herbergsbesitzer waren auf so einen Ansturm vorbereitet, besaßen sie doch aufgrund der jährlich stattfindenden drei Messen gute Erfahrungen bei der Unterbringung von hunderten von Menschen aus aller Herren Länder. Obendrein waren die Gasthöfe wohl komfortabler eingerichtet als die Pleißenburg. Leipzig verstand sich zu dieser Zeit als die eigentliche Hauptstadt des albertinischen Sachsens. Die alte Bergbaustadt Freiberg hatte längst an Glanz verloren, die Meißner Burg war noch gänzlich eingerüstet und glich einer Großbaustelle. Und Dresden begann erst während der Regierungszeit des Herzogs Georg zur wichtigsten landesherrlichen Residenz aufzusteigen.7 Jahre nach seiner Hochzeit gab er den Umbau des dortigen Schlosses in Auftrag. Die Leipziger Hochzeitsfeierlichkeiten sollen sich über sechs Tage hingezogen haben.8 Die Höhe der Auslösungen, die Übernachtungskosten für die Musiker in 6

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Der Chronist Heydenreich berichtet, daß das Hochzeitsfest auf dem Gewandhaus stattfand. (Tobias Heydenreich, Leipzigische Cronicke und zum Theil historische Beschreibung (...), Leipzig o. J. [1635], 69). Tatsächlich ist das Leipziger Gewandhaus nach 1477 gründlich aus- und umgebaut worden. Der Entwurf stammt von Arnold von Westfalen, der auch den Bau der Meißner Albrechtsburg leitete; Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, bearbeitet von Cornelius Gurlitt, Bd. XVII (Stadt Leipzig), Dresden 1895, 346-51. Außerdem soll im Herbst 1496 in Dresden die Pest geherrscht haben. Vgl. Welck, Georg der Bärtige, 13. Heydenreich berichtet: „Den 11. December desselben Jahrs [1496] hielt Hertzog Georg sein Beylager uffn Gewandhause zu Leipzig im 24. Jahr seines Alters mit Fräwlein Barbara, Königs Casimiri in Polen Tochter. Sind damals beysammen gewesen 6 286 deutsche und polni-

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den Gasthöfen, aber auch die gezahlte Stallmiete für die Pferde der polnischen Gesandtschaft bestätigen weitgehend, daß das Brautpaar und die zahlreichen Gäste fünf Tage lang gefeiert haben.9 Die Vorbereitungen für die Hochzeit begannen schon im Frühjahr und setzten sich über den Sommer fort. Desgleichen gilt dies für den Erwerb der Speisen, Getränke und Geschenke. Die Anzahl der Gäste kann hingegen nur geschätzt werden. Neben zwei Bischöfen, vier Fürsten und zwei Fürstinnen, zwölf Grafen und Herren waren der albertinische Hof sowie ein Großteil der schriftsässigen Ritterschaft anwesend. Hinzu kamen noch rund 100 Musikanten und Spielleute sowie zahlreiche Knechte und Diener. Es war keine Neuheit, daß ein Wettiner eine Königstochter zum Traualtar führte. Seit dem 13. Jahrhundert hatten die Markgrafen von Meißen und späteren Kurfürsten von Sachsen gelegentlich in die höchsten Kreise des europäischen Hochadels eingeheiratet. Unter den Heimgeführten fanden sich böhmische Königstöchter genauso wie Prinzessinnen aus den Häusern der Staufer, Wittelsbacher und Habsburger. Georgs Mutter, Zedena von Podiebrad, war selbst eine böhmische Prinzessin. Einerseits ist die Vermählung zwischen Georg und Barbara - ihr Bruder Vladislav II. war 1471 zum böhmischen und 1490 zum ungarischen König gewählt worden - mit der sächsischen Böhmenpolitik erklärbar. Die Wettiner strebten eine einvernehmliche und verläßliche Nachbarschaft mit dem böhmischen König an.10 Eine solche Politik wurde seit 1459 praktiziert, als es auf dem Tag zu Eger zum böhmisch-sächsischen Ausgleich kam." Enge familiäre Beziehungen halfen also,

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sehe Pferde. Und ist ausgetruncken worden 99 Läget süßer Wein, 1 300 und etliche Eymer andern Wein und 444 Vaß allerley Bier. Und hat das Beylager gewehret von Sontag bis auff Freytag." Heydenreich, Leipzigische Cronicke, 69. Ihm folgt weitgehend Johann Jakob Vogel, Leipzigisches Geschicht-Buch oder Annales (...), Leipzig 1714, 68. Einen Hinweis auf die Dauer des Festes bietet ein Register, das Cäsar Pflug gefuhrt hat. Pflug nahm die Braut und die polnischen Gäste in Sachsen in Empfang und hat sie bei der Abreise aus Leipzig wieder ein Stück Weges begleitet. Das Register, in dem alle Ausgaben für ihre Verpflegung und Unterkunft verzeichnet waren, überreichte er am 26. November dem Rentmeister: „598 guld. 15 gr 8 d ern Zcesar Pfluge zeur awßrichtunge der konigen under wegen. Hie er fure zur zeyhens und widr auffm weg zeyhens der Polens vorzeert. Innhaidt eynes ober geantwortten registers. Sonnabent nach Katherine" [26. 11. 1496]. SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 340 v . Jedoch bezahlte Wiedebach den Musikanten zehn Tage die Unterkunft (ebd., fol. 3431" f.).

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Georg von Podiebrad, der Schwiegervater Albrechts des Beherzten, war am 22. März 1471 verstorben. Einen Monat später wählten die böhmischen Stände den Jagiellonen Vladislav II., den ältesten Sohn des polnischen Königs Kasimir Andreas IV. zum böhmischen König; vgl. Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München 1997, 158-91. 1 ' Hubert Ermisch, Studien zur Geschichte der sächsisch-böhmischen Beziehungen in den Jahren 1464 bis 1468, in: NASG 1 (1880), 209-266, hier 211 f. Herzog Albrecht heiratete im Herbst 1459 die zehnjährige Zedena. Das Beilager fand 1464 statt. Auf dem Tag zu Eger wurden gleichfalls die Ehen zwischen dem Kurfürsten von Brandenburg, Johann Cicero, und der zehnjährigen Margaretha und zwischen dem Herzog Heinrich von Münsterberg, einem gebo-

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eine Koalition zu festigen. Andererseits orientierten sich die Jagiellonen seit der Mitte des Jahrhunderts heiratspolitisch verstärkt nach Westen.12 Den Ausgangspunkt bildete die Verehelichung von Barbaras Vater Kasimir Andreas mit Elisabeth, einer Tochter des römischen Königs Albrecht II. im Jahr 1454. Dieser Ehe entsprangen fünf Töchter, die alle mit Angehörigen des deutschen Hochadels vermählt worden sind.13 Die Verbindung zwischen Georg und Barbara entsprach somit der politischen Strategie der beiden Familien. Die Häuser Jagiello und Wettin rückten enger zusammen.

II. Die Vorbereitung der Hochzeit Die Aufzeichnungen des Landrentmeisters erlauben kaum eine beschreibende Darstellung der Feierlichkeiten. Sperrig und spröde wirken die weit über dreihundert Einträge, die Auskunft über die Vorbereitung und Durchführung der Hochzeit gewähren.14 Von albertinischer Seite wurde die Vermählung vor allem durch Ritter Heinrich von Schleinitz angebahnt. So zahlte ihm der Rentmeister im Rechnungsjahr 1495/96 300 Gulden aus, weil er am polnischen Königshofe verweilte und dort um die polnische Königstochter geworben hatte.15 Im Winter 1495/96 mußten sich

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renen Podiebrad, und der siebenjährigen Katharina verabredet. Die beiden jungen Mädchen waren die Töchter des wettinischen Herzogs Wilhelm III. Marian Biskup, Die dynastische Politik der Jagiellonen um das Jahr 1475 und ihre Ergebnisse, in: Landshut 1475-1975. Ein Symposium über Bayern, Polen und Europa im Spätmittelalter, Wien 1976, 5-19. Hedwig heiratete Georg den Reichen von Bayern-Landshut, Sophie Markgraf Friedrich d. Ä. von Brandenburg-Ansbach, Anna den Herzog Bogislaw X. von Pommern, Barbara den sächsischen Herzog Georg und Elisabeth Herzog Friedrich II. von Liegnitz; vgl. Jan Jurkiewicz, Stammtafel „Jagiellonen", in: LexMA, Bd. IX, Anhang.

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Vgl. Anm. 2. - Zur Aussagekraft spätmittelalterlicher Rechnungen: Ulf Dirlmeier, Alltag, materielle Kultur, Lebensgewohnheiten im Spiegel spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Abrechnungen, in: Mensch und Objekt im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Leben - Alltag - Kultur, hg. von Gerhard Jaritz, Wien 1990, 157-80; Andräs Kubinyi, Alltag und Fest am ungarischen Königshof der Jagiellonen, 1490-1526, in: Werner Paravicini (Hg.), Alltag bei Hofe, Sigmaringen 1995, 197-215.

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SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 303 v . Im Oktober 1496 reiste Schleinitz nochmals nach Polen. Wiedebach quittierte: „100 gülden Heynrichen von SIeinitz zcerunge gen Polens auf befehl Ern Dietrichs von SIeinitz. Mitwochen nach Dionysii." (ebd., fol. 339 v ). - Ritter Heinrich von Schleinitz zu Tollenstein und Schluckenau war ein enger Vertrauter des Herzogs Georg. Schleinitz, ein Sohn des alten Hugold von Schleinitz, begann seine Karriere als Amtmann von Hohnstein. 1490 war er Rat, seit 1495 Hofrat. Bis zu seinem Tod (1518) besaß er ein sehr enges Vertrauensverhältnis zu seinem Fürsten. Heinrich von Schleinitz war mit einer böhmischen Adelstochter, Ludmilla von Zeltna, verheiratet. Ob er wegen seiner Beziehungen zum böhmischen Adel die Verhandlungen mit dein polnischen Königshaus führte ist

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die Wettiner aber auch um einen päpstlichen Dispens für Georg bemühen, denn dieser war 1482 Domherr der Mainzer Kirche geworden.16 Gleich die ersten Ausgaben Wiedebachs dokumentieren die eifrige Geschäftigkeit, um die Dispensation zu erlangen. Über den Nürnberger Bankier Hans Unbehauen wurden 280 Gulden mittels Wechsel nach Rom transferiert. Zugleich wurde ein Eilbote nach Italien geschickt, um die Bulle sicher über Nürnberg nach Sachsen zu bringen.17 Erst als die Wettiner Anfang Mai die Urkunde in ihren Händen hielten,18 stand der Vermählung nichts mehr im Wege. Die Einladungen zum Hochzeitsfest konnten versandt werden. Die Ladungen an die Fürsten, Herren und Grafen des mitteldeutschen Raumes sind nicht ausdrücklich quittiert worden. Wiedebach notierte nur: „3 gülden 8 gr 4 d bottenlon awsgegeben auff schriftlichen bevehel meynes gnedigen herrn mit etlichen hochzeytbriven gen Anspach, Ynsprugk und gen der Nawestadt."19 In der Wiener Neustadt residierte Maximilian I., der natürlich als römischer König informiert werden mußte. Der Habsburger ließ sich auf dem Fest vertreten. Nach Ansbach ging die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit, um Georgs Tante, Anna - die Witwe von Albrecht Achilles einzuladen. Zu den Feierlichkeiten erschien sie in Begleitung ihres Stiefsohns, des Markgrafen Friedrichs d. Ä. von Brandenburg. In Innsbruck hielt Katharina Hof. Sie war Georgs ältere Schwester und mit dem Herzog Siegmund von Österreich vermählt. Wohl wegen dessen Tod im März des Jahres 1496 erschien sie im Spätherbst nicht zur Hochzeit. Georgs Tante, die Herzoginwitwe Amalia, residierte seit 1482 auf Burg Rochlitz. Dorthin wurde gleichfalls ein Bote geschickt, um die sich ankündigende Vermählung bekannt zu geben.

ebenso ungewiß wie über mögliche Verbindungen zum böhmischen König. Vgl. Hermann Knothe, Geschichte des Schleinitzer Ländchens, in: NeuLausitzMagazin 39 (1862), 401-17. 16

Wilhelm Kisky, Die Domkapitel der geistlichen Kurfürsten in ihrer persönlichen Zusammensetzung im 14. und 15. Jahrhundert, Weimar 1906, 77.

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SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 339 r . „280 gülden in wechssei gen Rome auff schrifft meynes gnedigen herrn, durch Umbehauwen ausgegeben. 65 gülden bottenlon gen Rome, der ylende in acht tagen hyn eyn gelauffen ist, der obgemelten sachens halben. 43 gülden vor eyn bulle, Umbehawen außgegeben, auch in obenberuter sachens." Selbstverständlich ist der Eilbote nicht in acht Tagen von Nürnberg bis nach Rom gelaufen. Im allgemeinen bewältige ein Eilbote um die 80 Kilometer pro Tag. Beispielsweise wurden für den Weg von Leipzig bis nach Nürnberg vier Tage veranschlagt. Der Eilbote hat die Bulle sicherlich in Venedig oder Padua in Empfang genommen. Vgl. zum Botenwesen im Spätmittelalter: Klaus Gerteis, Reisen, Boten, Posten, Korrespondenz in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Hans Pohl (Hg.), Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1989, 19-36, hier 22-26; vgl. auch: Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, hg. von Heinz-Dieter Heimann in Verbindung mit Ivan Hlaväcek, Paderborn 1998.

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SächsHStA Dresden, O.U. 9145. Dispens des Papstes Alexander VI., „daß sich Herzog Georg von Sachsen ins dritte oder vierte Glied der Blutsverwandtschaft verehelichen möge". (Rom 1496 April 22). SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 340 r .

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In der Messestadt selbst wurde seit dem Frühjahr verstärkt am Gewandhaus und an der Pleißenburg gebaut. Zum Ausbau der Burg gaben die Wettiner über 1 300 Gulden aus,20 wobei Wiedebach Kalk und Bauholz vom Leipziger Rat erwarb.21 42 Eichen bezog er aus dem vor den Toren der Stadt gelegenen Dorf Zschocher, und im Rosenthal ließ er vier Acker Holz schlagen. Auch die Ratsväter sorgten sich um das Aussehen ihrer Stadt, denn unmittelbar vor der Hochzeit bestellten sie 25 Geschirre, die einen Tag und eine Nacht Schlamm und Unrat aus der Stadt schaffen mußten.22 Die Stiftsherren von St. Thomas richteten gleichfalls ihre Kirche für die Trauung her, allerdings beglich der Rentmeister deren Rechnungen.23 Neben solchen Maßnahmen dachten die wettinischen Räte selbstverständlich an die Verköstigung der Gäste. Spezerei aus der Levante, aber auch kostbare Stoffe und vieles andere mehr mußte gekauft werden. Zu einem nicht geringen Teil erwarb die albertinische Administration solche Güter über den Nürnberger Kaufmann Hans Unbehauen.24 Über ihn wurden vor allem Seide und Tuche, Gewürze und südländische Weine bezogen. Allein an Hans Unbehauen bezahlte der Landrentmeister über 2 750 Gulden. Wenn bedacht wird, daß für die gesamte Hochzeit rund 24 651 Gulden ausgegeben worden sind,25 dann wird die herausragende Stellung des Nürnbergers deutlich. Die anderen Kaufleute, bei denen man ebenfalls Luxuswaren bestellt hatte, treten merklich zurück. Am ehesten konnte Martin Leubel mit Unbehauen konkurrieren. Über das Kaufhaus Leubel wurden hauptsächlich Perlen, Kleinode,

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Wiedebach quittierte: „1 348 gülden 1 gr 1 d vor den bawe zcu Lipczk, am sloße gescheen, ausgegeben. Als das nawe haus gen der Stadt gesatz, der quinger [Zwinger] ausgefurt und gegraben, auch gemauert und sunsten allenthalben auf die hochzceyt zcugericht." SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 338r. Der Landrentmeister kaufte 193 Scheffel Kalk und 21 Schock Latten. Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Jahreshauptrechnung Nr. 15 (1495-1497), fol. 126 v , 134r. Stadtarchiv Leipzig, Jahreshauptrechnung Nr. 15 (1495-1497), fol. I66 v („Item 25 geschir 1 tag und 1 nacht in unser, g. h. hertzog Georgen hochzeit. Ein nacht slam aus der Stadt und mist uff die bau gefurt. In allem nach lawt einer zedel, geben 5 ß 8 gr"). SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 348 r . Hans Unbehauen besaß enge Kontakte zum emestinischen und albertinischen Hof. Fast alle bargeldlosen Geldgeschäfte der Wettiner nach Italien liefen über ihn. Er belieferte sie gleichfalls mit Luxuswaren aus der Levante und Italien. Vgl. Helmut Frhr. Haller von Hallerstein, Größe und Quelle des Vermögens von hundert Nürnberger Bürgern um 1500, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, hg. vom Stadtarchiv Nürnberg, Nürnberg 1967, 117-76, hier 139f.; Theodor Gustav Werner, Das fremde Kapital im Annaberger Bergbau und Metallhandel des 16. Jahrhunderts, in: NASG 57 (1936), 113-79, hier 149; NASG 58 (1937), 1-47, hier 28. Für die eigentliche Hochzeit gaben die Albertiner 21 085 fl. aus. Jedoch stattete der Landrentmeister darüber hinaus sowohl den emestinischen Kurfürsten Friedrich als auch den Herzog Heinrich, Georgs jüngeren Bruder, für dieses Fest glanzvoll aus. Wenn die Ausgaben für diese beiden mit einbezogen werden, errechnet man die Summe von 24 651 fl. Der Hinweis ist wichtig, daß die emestinischen Wettiner für diese Hochzeit ebenfalls noch 19 665 fl. aufbrachten. (ThürHStA Weimar, Reg. D 43, fol. 9 r -10 v ).

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Seidenwaren und Zucker im Wert von 2 100 Gulden gekauft.26 Die namentlich nicht genannten Goldschmiede zu Leipzig, Erfurt, Dresden und Torgau wurden für ihr kunstvolles Schaffen mit rund 670 Gulden entlohnt. Der von ihnen angefertigte Schmuck war freilich viel wertvoller, da Wiedebach Gold, Silber, Perlen und Edelsteine zum einen bei den Kaufleuten erworben hatte und zum anderen sich auch selbst um den Bezug kümmern mußte.27 Martin Richter war ein geachteter Rauchwarenhändler. Uber ihn wurden 450 fl. umgesetzt, freilich nicht für Pelze, sondern für jeweils vier lebende Zobel und Marder.28 Die Raubtiere waren zur Unterhaltung der Hochzeitsgesellschaft herbeigeholt worden. Kunz Keller, der sich später im Metallhandel engagieren sollte, besorgte zusammen mit seinem Kompagnon Heinrich Heine für 390 fl. Rheinischen, Elsässer und Kötzschenbrodaer Wein. Johannes Tollart (Dollart), der 1494 von Aachen nach Leipzig gekommen war und eine Galmeihandlung betrieb, ließ für 280 fl. rote Tuche aus Mecheln nach Leipzig bringen.29 Über die Geschäftsleute Lorenz Mordeisen d. Ä. und Simon Bräutigam wurden 200 bzw. 140 Gulden umgesetzt. Mordeisen handelte mit Wachs, Tüchern und Wein, während Bräutigam Fische, Rosinen, Baumöl und Reis heranschaffte. Ebenfalls mit Wein handelte Kunz Preußer, er besorgte Rainfal und Malvasia für 113 fl. Vom Ratsherrn Tilmann Gunterrode kaufte Wiedebach für über 63 fl. Mehl, Semmeln und Roggenbrot. Junghansen, einem Viehhändler, zahlte der Rentmeister 605 Vi fl. für Schlachtvieh. Dem Preis nach werden es 150 Ochsen gewesen sein. Bei einem Schlachtgewicht von rund 150 kg je Rind entsprach dies der respektablen Menge von 22,5 Tonnen Fleisch! Dieses Quantum wurde noch durch 13,5 Zentner Hecht ergänzt, die der Obermarschall von Heinrich von Starschedel gekauft hatte. Für die Zubereitung der Speisen benötigten die Köche etliche Bratspieße, die der „eyssenschreyber awf bevehel meines gnedigsten herren hat machen lassen". Der Kannengießer fertigte aus zehn Zentnern (!) Zinn Schüsseln an,30 damit alle Gäste standesgemäß speisen konnten. Und auf Be26

Martin (Merten) Leubel stammte wie so viele Leipziger Kaufleute aus Nürnberg. 1484 erwarb er das Bürgerrecht der Messestadt. 1499 gehörte er zu den 33 vermögendsten Bürgern der Stadt. Vgl. Gerhard Fischer, Aus zwei Jahrhunderten Leipziger Handelsgeschichte 14701650, Leipzig 1929, 106-8.

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Das Gold stammte aus 253 ungarischen Dukaten, die eingeschmolzen worden sind. Das Silber kam aus dem Erzgebirge. Bezeichnenderweise hat Wiedebach diese Edelmetalle alle zum Goldschmied nach Dresden bringen lassen. (SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 3 4 8 v ) .

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SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 342 r . Martin Richter war ein Rauchwarenhändler, der gute Geschäftskontakte zu Martin Leubel, Lorenz Mordeisen und Veit Wiedemann besaß. Er war seit 1485 Leipziger Bürger und seit 1504 Ratsherr. Vgl. Fischer, Leipziger Handelsgeschichte, 103.

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Zu Johannes Tollart vgl. Franz Irsigler, Rheinisches Kapital in mitteleuropäischen Montanunternehmen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: ZHF 3 (1976), 145-64, hier 161; Fischer, Leipziger Handelsgeschichte, 15,24.

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„29 gülden 1 gr von 10 cent. zcen zcuvor machen zcw schusseln meynes gnedigen herrns auf die hochzceyt vom cent. 2 Vi fl. Dar zw sindt 34 Ib. des kandelgissers zcen komens. Eyn lb. vor 2 Vi gr." SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 349 r . Anscheinend war diese Menge

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fehl des Mundschenks wurden 2 730 Biergläser und 630 Weingläser gekauft.31 Da die Festlichkeiten sicherlich jedesmal bis weit in die Nacht hinein gingen, mußte auch für Beleuchtung gesorgt werden. Wohl zu diesem Zweck erwarb der Kammermeister, Georg Meyer, neun Zentner und 78 Pfund Wachs. Kleider machen Leute. Die Kleidung kann Identität ausdrücken, aber auch ausund abgrenzen.32 Die Macht- und Rangdemonstration des wettinischen Hofes, der Versuch, die einheimische Ritterschaft unter „meißnisch-sächsischer" Farbe und Bekleidung mit der Absicht zu subsumieren, einen gemeinsamen Korpsgeist zu schaffen, schloß zugleich auch all diejenigen aus, die sich zur Hochzeit nicht mit dem uniformen Rot dekorierten. Neben der nicht belanglosen Kleiderfarbe stach die albertinische Klientel durch eine einheitliche Garderobe hervor, die aus gleichen Stoffen bestand und einen konformen Schnitt aufwies.33 Dies dokumentieren die gezahlten Löhne für die Schneider und der immense Einkauf kostbarer Textilien. Wiedebach hatte immerhin für über 3 270 Gulden Stoffe aus Italien, England, den Niederlanden und Oberdeutschland eingekauft. Aus Brügge und Venedig waren 112 Ellen leberfarbener, roter, schwarzer und gelber Atlas besorgt worden. 277 Ellen Damast, in roten, schwarzen, grauen und braunen Farben, war aus Oberitalien über die Kaufleute Unbehauen und Leubel angeschafft worden. Aus Avignon, Florenz oder Venedig stammten 40 Ellen roter und 7 Ellen brauner Karmesin sowie 24 Ellen schillernder Kartek.34 Der Landrentmeister erwarb außerdem 280 V% Ellen mailändischen und venezianischen Samt sowie 16 Ellen roten Scharlach.35 Es ist aufschlußreich, welche Farben den Wettinem zugesagt haben.36 Wegen der hohen Herstellungskosten wird zurecht angenommen, daß kräftige Rottöne soZinn nicht ausreichend, denn die Wettiner borgten sich noch vom Leipziger Rat Zinngeschirr. Es w o g 54 lb. 6 Lot. Wiedebach mußte dieses Geschirr bezahlen, da es „verloren" und wohl auch zerbrochen wurde (ebd., fol. 349 v ). Er mußte auch einen eisernen Kessel bezahlen, der gleichfalls während des Festes „verloren" ging (ebd., fol. 348 r ). Es dürfte kaum bezweifelt werden, daß nicht wenige Hochzeitsgäste bzw. ihr Gesinde forsch gestohlen haben. 31

„ 102 gülden 9 gr vor 45 'A schogk biergleser, das schogk zw 24 gr, dem glaßfurer bezcalt. Und vor 10 I/2 schogk weyngleßer, kreuße und kandeln, auch vor etliche eychen vaß in keller. Der schengk angegebens, inhalt eines zcedel." SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 3 4 0 v .

32

Martin Dinges, Der „feine Unterschied". Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: ZHF 19 (1992), 49-79.

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Die Hochzeitsbeschreibung fiir die Vermählung des Herzogs Johann (1500) zeigt deutlich, daß sich die verschiedenen Gefolgschaften auffallend durch ihre Kleidung unterschieden. S o war das G e f o l g e des Bräutigams - w i e auch 1496 - in Rot gekleidet. Auf die rechten Ärmel waren die Worte „Glück zu mit Freuden" gestickt worden. Burkhardt, Vermählung, 288 f.

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Eine besonders feines Gewebe, dem Atlas vergleichbar, welches vorrangig in Brügge hergestellt wurde; Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. XI: KKyrieeleison, bearb. von Rudolf Hildebrand, Leipzig 1873, Spalte 238f.

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Scharlach war ein kostbares Wollzeug, das vorrangig aus England und Flandern stammte; Grimm, Wörterbuch, Bd. XIV, Spalte 2000f.

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Zur Aussagekraft von Kleiderfarben: Hans Medick, Eine Kultur des Ansehens. Kleidung und Kleiderfarben in Laichingen 1750-1820, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 193-212.

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wie satte dunkle Farben dominierten. Dies bestätigt das Farbenspektrum der eingekauften Textilien. Zwar hatte der Rentmeister bei 130 der insgesamt 756 Vi Ellen die Färbung der Stoffe nicht mit angegeben oder nur recht indifferent vom schillernden Kartek gesprochen, indessen überrascht es kaum, daß neben dem Rot das Schwarz dominierte (266 Ellen). Zwar hatte besonders Georgs Mutter schwarze Textilien einholen lassen,37 aber trotzdem kann diese Kolorierung als Modefarbe angesehen werden. Nicht erst der spanische Einfluß unter Karl V. ließ das Schwarz zur alles beherrschenden Kleiderfarbe aufsteigen. 236 Ellen Stoffs waren rot gefärbt. Mit deutlichem Abstand folgen braun (44 Ellen), leberfarben (41 V2), grau (31) und gelb (8). Die waidfarbenen Grün und Blau fehlten ebenso wie das Weiß. Die besonders leichten Seidenstoffe wie Taffet und Zindeltaft,38 welche die Kaufleute nicht nach Ellen, sondern nach Gewicht verkauften, bestätigen die Vorliebe für die kräftigen roten, dunkelbraunen und schwarzen Farben, obgleich der Rentmeister auch acht Lot weiße und vier Lot gelbe Seide erworben hatte. Was zur Seide gesagt wurde, gilt auch für das englische und niederländische Tuch. Vergoldete Borten und rotes Goldgewand ergänzten die luxuriösen Textilien. Schließlich kaufte Wiedebach 900 Ellen Leinwand, die aus Schwaben, der Schweiz und den Niederlanden stammten. Sie war zum Beziehen der Betten und Kissen bestimmt.39 Auch das Himmelbett der Brautleute wurde damit ausstaffiert.40 Letztlich bekam Heinrich Pack knapp 2 500 Gulden ausgehändigt, die er zur Ausrichtung des Festes verwenden sollte. Offenbar kaufte er mit diesem Geld Waren und Güter ein, die auf

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Zedena ließ für 177 fl. Textilien einkaufen, die ihr nach Tharandt geliefert worden sind: „177 gülden 2 gr 6 d vor seyden gewandt meyner gnedigen alden frawen. Nemlich 22 'A gülden vor 15 elen swartzen damaschken zu 1 Vi fl.; 22 Vi gülden aber vor swartzen damsken nach heyliger tage, 72 gülden vor 48 elen swarczen damska von Kitzeler genommen, 20 gülden vor 2 tafiendt [Taffet] im margk Kitzler genommen. 21 gülden vor 1 'A ledisch tuch, 17 Vi gülden vor zwey zwigksche tuch im margket. 1 gülden 13 gr von dem oben genannten seyden und anderen gewande gen Tharandt zw füren verlont." SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 342 r . - Damast und Taffet sowie die Tuche aus Leiden und Zwickau waren bei dem Leipziger Ratsmann und Tuchhändler Nikolaus Kitzler („Kitzeler", „Ketzler", „Kotzler") eingekauft worden.

38

Johann Georg Krünitz, Ökonomisch-technologische Encyklopädie, Berlin 1826-1849, Teil 179, 368-383. „88 gülden 5 gr 4 d vor 12 [Ballen] leybandt, kolczen genannt, ye eyne zw 3 gülden 3 ortern bezcalt. Halden 75 eilen. Und vor 16 galler leynbandt, ye eynne vor 2 gülden Vi ort. Zw zcychen, ober pfolle und kissens, auch zw pettetucher." SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 340 r . - Golsch stammte aus dem Raum Ulm. Es war eine Art blau-weiß gestreifter Barchent. Galler Leinwand kam aus der Schweiz. Krünitz, Encyklopädie, Teil 17, 584. „3 gülden 17 gr eynem schneyder, Dictus Fundt genant, von der decken ober das brauth bethe zw machens. Auch von zweyen pfolen und 6 kissen zw machens." SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 347 v .

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dem Leipziger Markt und den umliegenden Wochenmärkten angeboten worden sind (Brot, Mehl, Graupen und Getreide, Butter, Schmalz, Fett und Eier).41

III. Die Hochzeitsgäste Einige Hinweise erlauben es, Überlegungen über die Anzahl der Hochzeitsgäste vorzunehmen. Dies ist deshalb notwendig, weil sich über die Vielzahl der Gäste und über die Größe der Gefolgschaften Rückschlüsse über das fürstliche und hochadlige Rangdenken herleiten lassen. Letztlich ging es bei den Hoffesten auch um Statusdenken und Statuszeigen.42 Einerseits dokumentierten die geladenen Gäste mit der Größe ihrer Gefolgschaft ihren Rang, den sie in der Herrschaftswelt einzunehmen gedachten. Es gehörte zum hochadligen Selbstverständnis, daß man entsprechend von Dienstmännern begleitet wurde. Je umfangreicher die Gefolgschaft war, um so nachhaltiger forderten die Fürsten und Grafen Geltung in der Rangordnung ein.43 Andererseits wollten und mußten die Gastgeber beweisen, daß es ihnen weder organisatorische noch finanzielle Mühe bereitete, hunderte von Personen zu beköstigen, unterzubringen und obendrein mit teuren Geschenken zu überhäufen. Ganz zu schweigen davon, daß auch die Fütterung von einigen tausend Pferden zu bewältigen war. Der Chronist Heydenreich erzählt, daß die Stallknechte 6 286 Pferde versorgt haben. Dies scheint zwar übertrieben zu sein, indessen ist zu bedenken, daß sich in Begleitung der Grafen und Herren jederzeit einige Dutzend Dienstmänner befanden. Zum Troß - dies belegen die Futterverzeichnisse der Vögte in den wettinischen Ämtern des 15. Jahrhunderts - gehörten grundsätzlich mehr Pferde als Reiter. Daß der Hochadel zu einem repräsentativen Hoffest von seinen Räten, Dienern und Gefolgsmannen eskortiert wurde, also mit einem ganzen Troß von Pferden erschien, ist Gemeingut. Zur Hochzeit Herzog Johanns von Sachsen sollen beispiels-

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SächsHStA Dresden, Loc. 8678/18, fol. 339 r . Wiedebach notierte: „Inhaldt eynns oberantworten registers." Dieses Register gilt als verloren. Da der Landrentmeister nur wenig Brot, Butter usw. gekauft hat, ist anzunehmen, daß dies Heinrich Pack besorgt hatte. Die Familie Pack gehörte zum alten meißnischen Dienstadel.

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Vgl. Karl-Heinz Spieß, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, in: Werner Paravicini Hg., Zeremoniell und Raum, Sigmaringen 1997, 39-61, bes. 52-54. Selbstverständlich verfolgten auch die Wettiner so eine Strategie. Bei der Vermählung des pfälzischen Thronfolgers Philipp mit der Tochter Herzog Ludwigs des Reichen von Niederbayern, Margarethe, zogen 400 Berittene in Gefolge des Kurfürsten Ernst und des Herzogs Albrecht in Amberg am 20. Februar 1474 ein. Das gesamte sächsische Gefolge war in ein repräsentatives Rot gekleidet. Vgl. Maximilian Buchner, Quellen zur Amberger Hochzeit von 1474, in: AKG 6 (1908), 385-438.

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Die Hochzeit Georgs des Bärtigen

weise 4 283 Pferde verpflegt worden sein.44 Allein die erwähnte Herzogin Amalia von Bayern, die Schwester Albrechts des Beherzten, sei mit ihrem gesamten Hofstaat (inklusive 400 Pferden) Ende Februar 1500 in Torgau angerückt.45 Die Versorgung der 400 Pferde konnte dort allein nicht bewältigt werden, so daß ihr Hofstaat für vier Tage in die ernestinische Nebenresidenz Grimma ausweichen mußte. Tatsächlich belegen die Angaben des dortigen Schössers, daß die Stallknechte 45 Scheffel Hafer, das sind rund 2 000 Kilogramm, an die Pferde der Witwe des Herzogs Ludwig des Reichen von Bayem-Landshut gefüttert hatten.46 Amalia von Bayern war auch Jahre zuvor auf der Hochzeit von Georg zugegen. Allerdings hatte sie sich bei dieser Hochzeit nicht in eine vergleichbare Szene gesetzt. Bereits am 20. Oktober 1496 übernachtete sie in Eilenburg. Zu ihrem Gefolge gehörten indes nur 26 Pferde.47 Wohl einige Tage zuvor hatte die Herzogin in Grimma residiert. Offensichtlich reiste sie von dort über Eilenburg nach Torgau, um auf Schloß Hartenfels an der Hochzeit von Hans Hundt teilzunehmen. Hundt besaß eine Funktion am kursächsischen Hof, verwaltete er doch die Privatschatulle des Kurfürsten. 48 Die Aktivitäten in den kursächsischen Ämtern dokumentieren deutlich, welche Anstrengungen unternommen worden sind, um alle Hochzeitsgäste (sowie die Pferde) gut zu versorgen. Aus dem Amt Beizig transportierte man 4 676 Scheffel Korn nach Wittenberg und Torgau. Von Colditz schafften die Bediensteten Gänse, Würze, Schweine, Schafe und Wachs nach Grimma. In jene Amtsburg lieferte man auch aus dem Amt Leisnig Speisen, Betten, Bettzeug, Leinwand und Kissen sowie

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Burkhardt, Vermählung, 288. Auf 297 spricht Burkhardt freilich davon, daß 6500 Pferde gefüttert worden sind. Burkhardt, Vermählung, 287 f. ThürHStA Weimar, Reg. Bb 1363, fol. 46^. Das Scheffelmaß beträgt 104 Liter und das Litergewicht des Hafers 0,43 kg. Der Futterverbrauch eines Pferdes pro Tag wurde mit zweieinhalb Pfund Hafer veranschlagt. Selbstverständlich wurden die Pferde auch mit Rauhfutter versorgt. Es kommt hinzu - und dies spricht in der Tat für die große Zahl von Pferden daß der Schösser auf Befehl des Fürsten allein aus dem Amt Grimma 277 Scheffel Hafer zu des „hertzogs Hansen ehlichen beylager gefurt" hatte. ThürHStA Weimar, Reg. Bb 1139, unfol. „Donnerstag nach Galli ist m. gn. fraw, die hertzogin von Beyern gen Eylenborgk uffs abendt essen kommen, ubir nachte uff den freytag, das mall gessen." Die Gesellschaft verspeiste u. a. 20 Hühner, zwei Gänse, 50 Fische, 22 Hechte, je ein Schaf und Kalb sowie ein halbes Rind und eine Seite Speck. Alles war reichlich mit Pfeffer, Ingwer, Nelken und Safran gewürzt. Dazu tranken sie eine Viertel Bier, acht Kannen rheinischen Wein sowie eine halbe Tonne Wein. 26 Pferde wurden mit 13 Scheffel Hafer gefüttert. ThürHStA Weimar, Reg. Bb 1362, fol. 43 v . Der Amtsschösser von Grimma notierte: „9 scheffel usrichtung m. gn. frau von Beiern, ire hin und wiederweg uf Hans Hundts hochzeit." Ritter Hans Hundt von Wenckheim zum Altenstein, stammte aus einem fränkisches Adelsgeschlecht, das im Coburgischen und Meiningischen begütert war. Seine Hochzeit fand 1496 in Torgau statt.

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„anders hausgeräth". 49 Die Kornböden in Grimma wurden ferner mit Getreide gefüllt, das aus dem Amt Torgau angeliefert worden war.50 Und in der Muldenstadt selbst gab der Kornvogt zur Ausrichtung von Georgs Hochzeit 86 Scheffel Korn und 840 Scheffel Hafer aus. Das Getreide brachten Fuhrleute nun nach Leipzig.51 Ganz offensichtlich fand ein Teil der Hochzeitsgesellschaft in Grimma eine Unterkunft; dies werden vorrangig die Diener, Knechte und Mägde sowie die Pferde gewesen sein. - Es war außerdem ein Brauch des wettinischen Dienstadels, daß er wenn er am Hof der Fürsten weilte oder auf den Landtagen zugegen war - prinzipiell mit mehreren Pferden vorritt. Diese Gewohnheit schränkte die wettinische Administration um 1470 ein. Sie teilte den niederen Adel in Ein-, Zwei-, Drei-, Vierund Fünfrösser ein. Letztere durften demnach mit maximal fünf Pferden am Hof erscheinen, die dann tatsächlich auf Kosten der Kammer versorgt worden sind.52 Das Haus Wittelsbach war allein durch Amalia vertreten. Die Hohenzollern erschienenen in Gestalt Annas von Sachsen und des Markgrafen Friedrich des Älteren. Da Anna und Amalia wie auch der Erzbischof Ernst von Magdeburg, der Kurfürst Friedrich der Weise und Herzog Johann aus dem Haus Wettin stammten, war Markgraf Friedrich der einzige nicht-wettinische Fürst auf dem Fest. Freilich war er durch seine Ehe mit Sophie, der Schwester der Braut, mit den Wettinern verwandtschaftlich verbunden. In diesem Kontext kann die Absenz der Habsburger und Wittelsbacher durchaus als ein Zeichen der geltenden Rangordnung angesehen werden. Als vermeintlich Ranghöhere haben sie infolge ihres Fernbleibens eine nachdrückliche Wertschätzung des Hauses Wettin vermieden. Der Pfalzgraf Philipp der Aufrichtige schickte, wie auch der Landgraf von Hessen und die geforsteten Grafen von Henneberg, Botschafter nach Leipzig. Namentlich das Fehlen der Henneberger signalisiert, daß man zu dieser Zeit die Albertiner eben nicht zur obersten Spitze des deutschen Hochadels rechnen wollte. Das Argument, daß sie nun einmal nur Herzöge waren und keine Kurfürsten, überzeugt nicht gänzlich, denn zur Hochzeit des Ernestiners Johann sah es ähnlich aus.53 Noch standen die Wettiner gegenüber

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ThürHStA Weimar, Reg. Bb 449 (Amt Beizig), fol. 14""; Reg. Bb 934 (Amt Colditz), unfol.; Reg. Bb 1539 (Amt Leisnig), fol. 3 1 v .

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Ausgabe Korn, Grimma: „4 scheffel dem vehrmann zu Drebissen [Trebsen] über zu fuhren von m. gn. h. wayn [Wagen], szo sie wider und fuer faren. Zwei ussm ambt uf die usrichtung meines gned. h e i m hertzog Jorgen gemalen. So man vorrath von Torgau gein Grym gefurt hat." (ThürHStA Weimar, Reg. Bb 1362, fol. 42^).

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ThürHStA Weimar, Reg. Bb 1362, fol. 42