Führung und ihre Herausforderungen: Neue Führungskontexte erfolgreich meistern und zukunftsfähig agieren [1. Aufl. 2019] 978-3-658-25277-9, 978-3-658-25278-6

Dieses Buch geht der Frage nach, welche Rolle Führung spielt im Kontext aktueller und künftiger Herausforderungen wie Di

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German Pages XXII, 395 [397] Year 2019

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Führung und ihre Herausforderungen: Neue Führungskontexte erfolgreich meistern und zukunftsfähig agieren [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-25277-9, 978-3-658-25278-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXII
Front Matter ....Pages 1-1
Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte (Sonja Sackmann)....Pages 3-20
Front Matter ....Pages 21-21
Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen (Michael Koch, Alexander Richter, Bernhard Katzy)....Pages 23-39
Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0 (Thomas Sattelberger)....Pages 41-64
Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen für wirksame Führung und Zusammenarbeit (Nicola Spickenreither, Sonja Sackmann)....Pages 65-82
Müssen wir Führung neu erfinden? (Martin Schütte)....Pages 83-97
Front Matter ....Pages 99-99
Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern (Hans-Joachim Preuß)....Pages 101-114
Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen (Jérôme Fuchs, Sonja Sackmann)....Pages 115-125
Führung in Unternehmenskrisen (Frank Richter)....Pages 127-153
Front Matter ....Pages 155-155
Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen (Sonja Sackmann)....Pages 157-173
Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung (Sonja Sackmann, Verena Eichel, Claudia Schmidt)....Pages 175-200
Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition (Karl Stoss, Sonja Sackmann)....Pages 201-217
Front Matter ....Pages 219-219
Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten (Regina Anna-Maria Palmer)....Pages 221-261
Frauenfreundliche Arbeitskontexte (Heike Götz)....Pages 263-287
Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne (Erika Franke, Sonja Sackmann)....Pages 289-297
Front Matter ....Pages 299-299
Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen (Rita Süssmuth)....Pages 301-311
Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für Organisationen dysfunktional geworden sind (Klaus Eidenschink)....Pages 313-327
Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der Aesculap AG und Führen im betrieblichen Gesundheitsmanagement (Hermann Steinkamp)....Pages 329-339
Front Matter ....Pages 341-341
Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World) (Markus Strangmüller)....Pages 343-352
Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen (Erna Herzfeldt, Sonja Sackmann)....Pages 353-369
Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch Management Support GmbH (Karl-Heinz Schrödl, Georg Hanen)....Pages 371-382
Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen (Stephan Kaiser, Arjan Kozica, Georg Loscher)....Pages 383-396

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Sonja Sackmann Hrsg.

Führung und ihre Herausforderungen Neue Führungskontexte erfolgreich meistern und zukunftsfähig agieren

Führung und ihre Herausforderungen

Sonja Sackmann Hrsg.

Führung und ihre Herausforderungen Neue Führungskontexte erfolgreich meistern und zukunftsfähig agieren

Hrsg. Sonja Sackmann München-Neubiberg, Deutschland

ISBN 978-3-658-25277-9    ISBN 978-3-658-25278-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Stefanie Winter, Walburga Himmel Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Das Thema Führung hat mit Blick auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen, mit denen Unternehmen, ihre Führung und ihre Führungskräfte konfrontiert sind, eine ganz neue Aktualität erhalten. Um die Chancen der technologischen Herausforderungen wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nutzen zu können, müssen diese erst erkannt und entsprechend umgesetzt werden. Wenn sich mit diesen neuen Technologien die Arbeit selbst und die Art, wie wir arbeiten und zusammenarbeiten, verändern, was bedeutet dies für die Führung von Unternehmen? Wie müssen sich Organisationen, ihre Strukturen und Prozesse ändern, um einerseits die Chancen dieser neuen Technologien zu nutzen? Welche Art der Führung ist hierfür notwendig? Der demografische Knick führt schon heute dazu, dass offene Stellen nicht besetzt werden können. Inwieweit können hier die neuen Technologien mit ihren Tools für den Mangel an Arbeitskräften genutzt werden? Politische Entwicklungen wie der Austritt Großbritanniens aus der EU und die Wahl von Spitzenpolitikern, die, wie im Falle der USA, mit Twitter-Botschaften die Welt fast täglich in Überraschungen versetzen, langjährig bestehende bi- und multilaterale Abkommen infrage stellen oder gar aufkündigen und neue Handelshemmnisse einführen, bringen für Unternehmen und ihre Führung ganz neue Unsicherheiten. Auch die Folgen von Natur-­ ereignissen wie Überflutungen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Dürren und Flächenbränden fordern Unternehmen und ihre Führungskräfte in den betroffenen Regionen heraus. Gesellschaftliche Veränderungen machen sich einerseits über die Demografie und andererseits über Wertewandel für Unternehmen bemerkbar. Inzwischen arbeiten verschiedene Generationen in Unternehmen, die recht unterschiedliche Vorstellungen von und Erwartungen an ihre Arbeit, ihren Arbeitgeber, ihr Arbeitsumfeld, die Unternehmenskultur und ihre Führung haben. Speziell wenn ein Mangel an qualifizierten Fachkräften, aber auch an Lehrlingen herrscht, stellt sich die Frage, wie sich Unternehmen und ihre Führung mit ihrem Führungsverhalten ändern müssen, um weiterhin für potenzielle Mitarbeiter und Führungskräfte attraktiv zu sein und zu bleiben. Das vorliegende Buch zeigt mit seinen Beiträgen einerseits verschiedene Herausforderungen der Führung detaillierter mit ihren Implikationen für Führungskräfte auf und andererseits werden mögliche Ansatzpunkte, Strategien und Lösungsmöglichkeiten im Umgang mit diesen Herausforderungen vorgestellt. Dies erfolgt aus unterschiedlichen V

VI

Vorwort

Perspektiven: Namhafte Wissenschaftler stellen zu den jeweiligen Herausforderungen den aktuellen Stand der Wissenschaft dar, Praktiker und Führungskräfte charakterisieren die Herausforderungen aus ihrer Perspektive, sie zeigen innovative Beispiele aus der Praxis auf, und erfahrene Führungskräfte reflektieren ihre Führungspraxis im Umgang mit den Herausforderungen der Führung. Das Einführungskapitel (Teil I) spannt den Bogen von den aktuellen und sich abzeichnenden Herausforderungen für die Führung von Unternehmen hin zu ihren Implikationen für Führungskräfte. Dabei wird in der Diskussion auch Bezug auf die nachfolgenden Beiträge genommen. Teil II widmet sich dem wandelnden Führungskontext mit jeweils einem Beitrag zu den Themen Unternehmen 2.0 und seinen Herausforderungen, die vielfältig und damit diverser werdende Arbeitswelt sowie die Generation Millennials bzw. Generation Y mit ihren Spezifika und den damit verbundenen Herausforderungen für ihre Führung. Der letzte Beitrag in diesem Teil II wirft die Frage auf, ob der sich wandelnde Kontext eine neue Art der Mitarbeiterführung erfordert, und skizziert diese. Die Beiträge in Teil III befassen sich mit Führung in fragilen Kontexten und Krisensituationen. Der erste Beitrag schildert die Schwierigkeiten und Herausforderungen der Führung, wenn Mitarbeiter in politisch instabilen und fragilen Ländern arbeiten. Auch das Führen in Krisensituationen, das Tagesgeschäft des Sondereinsatzkommandos der Polizei, die GSG 9, wie auch das Führen im Sanierungsprozess, erfordern eine spezifische Art der Führung, die jeweils detailliert charakterisiert wird. Teil  IV zeigt im ersten Beitrag auf, mit welchen Strategien Führung in komplexen Nichtrouinesituationen gelingen kann. Der zweite Beitrag berichtet über den aktuellen Stand der Change-Fitness in Unternehmen Deutschlands und zeigt Bereiche auf, in denen viele Organisationen weiterhin Verbesserungsbedarf im Umgang mit Veränderungen haben. Im letzten Beitrag reflektiert eine Top-Führungskraft über die Herausforderungen und das wirksame Führen in solch einer oberen Führungsposition. Das aktuell heiß diskutierte Thema Frauen und Führung wird in Teil V adressiert. Der erste Beitrag legt den aktuellen Stand der Forschung zum Thema dar mit den vermeintlichen Unterschieden von Männern und Frauen, ihrem Führungsverhalten und möglichen Erfolgsfaktoren, aber auch mit den noch immer zur Benachteiligung führenden Aspekten. Der zweite Beitrag adressiert die verschiedenen Facetten frauenfreundlicher Arbeitskontexte, und der letzte Beitrag beinhaltet wiederum die Reflexion einer weiblichen Top-­ Führungskraft, die es in einer nach wie vor doch sehr männlich geprägten Bundeswehr nach ganz oben geschafft hat. Teil VI widmet sich dem aktuellen Thema Führung und Gesundheit. Im ersten Beitrag wird aus gesellschaftspolitischer Sicht die Rolle der Gesundheit für Unternehmen und ihre Führung beleuchtet. Ein erfahrener Coach adressiert im zweiten Beitrag das wichtige Thema Burnout bei Führungskräften mit seinen möglichen Ursachen und gibt damit auch Hinweise für eine Vermeidung von Burnout. Der letzte Beitrag berichtet über ein innovatives Präventionskonzept bei der Aesculap AG – einer Firma, die einen Preis für ihr Gesundheitsmanagement erhalten hat.

Vorwort

VII

Im letzten Teil VII werden künftig notwendige Qualifikationen von Führungskräften, noch wenig genutzte Ressourcen für Unternehmen und unterstützende Rahmenbedingungen für die Führung durch das Personalmanagement behandelt. Der erste Beitrag berichtet über ein innovatives Führungskräfteentwicklungsprogramm, bei dem junge Führungskräfte auf die künftigen Herausforderungen vorbereitet werden. Da Führungskräfte aufgrund des diversen Arbeitsumfeldes verstärkt über interkulturelle Kompetenzen verfügen müssen, werden diese im zweiten Beitrag behandelt. Der dritte Beitrag beschreibt eine innovative Nutzung der Erfahrungen von Senior Experts, d. h. Fachkräften, die schon im Ruhestand sind, doch weiterhin noch einen Beitrag leisten wollen und dies auch dürfen bzw. können. Der letzte Beitrag diskutiert die Anforderungen an ein künftiges Personalmanagement, das Führungskräfte in ihrer dualen Anforderung – einerseits das Tagesgeschäft möglichst effizient und effektiv zu führen und andererseits die für eine Zukunftssicherung notwendigen Innovationen zu initiieren unterstützt. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Beitragsautorinnen und -autoren bedanken, ohne die dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Ein ganz besonderer Dank gilt meinem Team, das mir während meines Forschungsfreiraumes den Rücken frei gehalten hat, sowie meiner Fakultät und Universitätsleitung für die Gewährung des Forschungsfreiraumes, der die Fertigstellung des Buches ermöglicht hat. Auch möchte ich meinen Dank Frau Stefanie Winter vom Verlag Springer Gabler aussprechen, die sich sofort für die Herausgabe dieses Buches begeistern konnte, und Frau Walburga Himmel, die sich um das Lektorat sowie die technische Erstellung gekümmert hat. Ich wünsche Ihnen wertvolle Einsichten beim Lesen! München und St. Gallen, im Juni 2019

Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Einführung Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte������������������������������������������������������������������������������������������������������������   3 Sonja Sackmann Teil II  Der sich wandelnde Führungskontext Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen������������������������������������������  23 Michael Koch, Alexander Richter und Bernhard Katzy Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0. . . . . . . . .   41 Thomas Sattelberger Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen für wirksame Führung und Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Nicola Spickenreither und Sonja Sackmann Müssen wir Führung neu erfinden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 Martin Schütte Teil III  Führung in fragilen Kontexten und Krisensituationen Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Hans-Joachim Preuß Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Jérôme Fuchs und Sonja Sackmann Führung in Unternehmenskrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Frank Richter

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Inhaltsverzeichnis

Teil IV  Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen und im Change Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sonja Sackmann Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung. . . . . . . . . . . 175 Sonja Sackmann, Verena Eichel und Claudia Schmidt Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition. . . . . . 201 Karl Stoss und Sonja Sackmann Teil V  Frauen und Führung Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Regina Anna-Maria Palmer Frauenfreundliche Arbeitskontexte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Heike Götz Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Erika Franke und Sonja Sackmann Teil VI  Führung und Gesundheit Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Rita Süssmuth Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für Organisationen dysfunktional geworden sind. . . . . . . . . . . . . . 313 Klaus Eidenschink Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der Aesculap AG und Führen im betrieblichen Gesundheitsmanagement. . . . . . . 329 Hermann Steinkamp Teil VII  Qualifizierung, Ressourcen und Rahmenbedingungen künftiger Führung Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World). . . . . . . . . 343 Markus Strangmüller Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen . . . . . . . . . . 353 Erna Herzfeldt und Sonja Sackmann Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch Management Support GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Karl-Heinz Schrödl und Georg Hanen Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen . . . . . . . . . . . . . . 383 Stephan Kaiser, Arjan Kozica und Georg Loscher

Über die Herausgeberin und die Autoren

Die Herausgeberin Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD  ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Konstanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

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Über die Herausgeberin und die Autoren

Die Autoren Dr. Verena Eichel  studierte von 2008 bis 2013 Psychologie an der Universität Koblenz-Landau mit den Schwerpunkten Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie sowie Pädagogische Psychologie. Während des Studiums absolvierte sie einschlägige Praktika im Bereich Forschung, Organisationsberatung sowie Eignungsdiagnostik. Von 2014–2018 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität der Bundeswehr München, an der sie 2018 zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. Ihre Dissertation befasst sich mit dem Einfluss der Diskrepanz zwischen externem und internem Branding auf das Organizational Citizenship Behavior unter Berücksichtigung der Unternehmenskultur, der organisationalen Identifikation und der Arbeitszufriedenheit. Klaus Eidenschink  Senior Coach (DBVC), Organisationsberater, Coachingausbilder, Leiter eines psychotherapeutischen Instituts Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie Ausbildungen in humanistischen und psychoanalytischen Psychotherapieverfahren, Systemtheorie, Gruppendynamik, Organisationstheorie und Konfliktforschung Gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt ist eine Metatheorie der Veränderung von Personen, Teams und Organisationen. www.metatheorie-der-veraenderung.info www.eidenschink.de www.hephaistos.org www.gestalttherapeutisches-zentrum.de Dr. med. Erika Franke,  Generalstabsarzt a.D., bis 31. Mai 2016 Kommandeurin Sanitätsakademie der Bundeswehr, München, verheiratet, zwei Kinder, fünf Enkel, ist Fachärztin für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie. Zunächst im Krankenhaus der Volkspolizei in Berlin tätig und seit 1991 Sanitätsoffizier der Bundeswehr, hat sie als Spezialistin an zwei Auslandseinsätzen teilgenommen. Bis zu ihrer Pensionierung 2016 übte sie verschiedene Führungsfunktionen aus. Unter anderem leitete sie das Bundeswehrkrankenhaus Ulm und zuletzt die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München. Sie war die erste Frau im Rang eines Zwei-Sterne-Generals in der Bundeswehr und ist Trägerin des Bayerischen Verdienstordens.

Über die Herausgeberin und die Autoren

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Jérôme  Fuchs  ist Kommandeur der GSG 9 und Leitender Polizeidirektor. Er befehligt seit 2014 die Eliteeinheit der Bundespolizei.

Heike Götz  war nach ihrem Studium der Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Unternehmensführung, Organisationsentwicklung, Personalmanagement und Arbeitsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg über zehn Jahre in Industrieunternehmen als Personal- und Projektreferentin tätig. Seit 2008 arbeitet sie freiberuflich als Personalberaterin und Karrierecoach. Ihre Beratungsschwerpunkte liegen im Bereich Personalentwicklung, Mitarbeiterführung und Motivation. Im Jahr 2012 wurde Heike Götz als Lehrkraft für besondere Aufgaben an die Technische Hochschule Ingolstadt berufen. Dort lehrt sie in den Fachgebieten Unternehmensführung, Personalmanagement und Mitarbeiterführung, Rechnungswesen und Interkulturelle Kompetenz. Dr. Georg  Hanen  trat mit seinem Abschluss als Diplomkaufmann im Oktober 1980 in die Robert Bosch GmbH ein und war mit Fach- und Führungsaufgaben im In- und Ausland im Bereich Controlling, Logistik und Einkauf betraut. Im Jahr 1993 wurde er zum Bereichsvorstand für kaufmännische Aufgaben in den Divisions Maschinenbau und Automotive und 1998 zum Direktor der Bosch-Zentralabteilung Planung und Controlling ernannt; 2002 wurde er Mitglied des Vorstands der Bosch Rexroth AG, zuständig für Controlling, Einkauf, Logistik, IT, Personal und Arbeitsdirektor. Seit April 2013 ist er in Teilzeit Geschäftsführer der Bosch Management Support GmbH und seit Januar 2018 Freiberuflicher Berater der HMC-Hanen Management Consulting.

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Über die Herausgeberin und die Autoren

Erna Herzfeldt, Diplomkulturwirtin,  hat an der Universität Passau und Universidad de Buenos Aires Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien studiert und war anschließend im Bereich Global Mobility Services bei der Deloitte & Touche GmbH tätig. Aktuell arbeitet sie als w ­ issenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München und promoviert zum Thema „Multikulturelle Teams“. Die Schwerpunkte ihrer Forschung liegen im Bereich Interkulturelles Management, Kommunikation und Organisational ­Behavior. Univ.-Prof. Dr. Stephan Kaiser  ist seit dem Jahr 2009 Inhaber der Professur für ABWL, Personalmanagement und Organisation und im Vorstand des Instituts für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München. Seine Promotion und Habilitation erfolgten an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, sein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Regensburg sowie an der University of Wales, Swansea. Professor Kaiser ist aktuell Mitglied im Arbeitskreis Unternehmensführung der Schmalenbachgesellschaft e. V. und ist Vorsitzender der wissenschaftlichen Kommission Personalwesen im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB). Die Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Personal, Organisation und Unternehmensführung. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Katzy  war Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der Universität der Bundeswehr München sowie Gründer und Geschäftsführer des universitären Entrepreneurship Centers CeTIM.  Professor Katzys primäres Forschungsinteresse lag im Innovationsmanagement mit Fokus im Bereich wachstumsintensiver Technologieunternehmen. Nach seiner Promotion im Bereich der Ingenieurwissenschaften an der RWTH Aachen habilitierte Professor Katzy an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Von 1990 bis 1994 war er im Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen in der Forschung tätig. Im Anschluss begann er eine Lehrtätigkeit am Institut für Technologie und Management an der Universität St. Gallen.

Über die Herausgeberin und die Autoren

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­ eben seiner Professur an der Universität der Bundeswehr N München. die er seit 1999 innehatte, lehrte Professor Katzy seit 2003 an der Leiden University in den Niederlanden. Professor Katzy verstarb im November 2015. Univ.-Prof. Dr. Michael Koch  hat an der TU München Informatik studiert und in diesem Fach promoviert. Nach einem Industrieaufenthalt am Xerox Research Centre Europe und darauf folgender Habilitation in Informatik wieder an der TU München lehrt er jetzt an der Universität der Bundeswehr München, wo er die Forschungsgruppe Kooperationssysteme leitet und die Professur für Mensch-­Computer-­Interaktion bekleidet. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der interdisziplinären und praxisorientierten Unterstützung von Zusammenarbeit in Teams, Communities und Netzwerken und dabei speziell in Aspekten der Anforderungsanalyse und Einführung, der Softwarearchitektur sowie ubiquitären ­Benutzungsschnittstellen. Prof. Dr. habil. Arjan Kozica  hat an der Universität der Bundeswehr München Wirtschafts- und Organisationswissenschaften studiert, über eine Arbeit zum Thema „Personalethik“ promoviert und über das Thema „Paradoxien in Organisationen“ habilitiert. Er war als Fach- und Führungskraft mehrere Jahre in der Bundeswehr tätig, u. a. als wissenschaftlicher Referent und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr (Hamburg). Seit September 2015 ist er als Professor für Organisation und Leadership an der ESB Business School (Reutlingen) tätig. Schwerpunkte seiner Forschung liegen in den Bereichen Organisation, Personal und Nachhaltigkeit. Dr. Georg Loscher  hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Betriebswirtschaftslehre studiert und an der Universität der Bundeswehr München über die „Steuerung von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften“ promoviert. Aktuell arbeitet er als Postdoc am Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen im Bereich Personal, Organisation und Unternehmensführung.

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Über die Herausgeberin und die Autoren

Regina Palmer  studierte Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspsychologie an der Universität zu Köln und der San Diego State University in Kalifornien. Sie arbeitete bei den Unternehmensberatungen Accenture, Capgemini Consulting und IRI und ist seit 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im ­Bereich Gender und Management sowie Organisationskultur.

Hans-Joachim  Preuß  absolvierte nach seiner kaufmännischen Ausbildung und dem Studium der Agrarwissenschaften ein Postgraduiertenstudium am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Seine berufliche Tätigkeit in der internationalen Zusammenarbeit startete er 1986 bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH (GTZ) und war dort in Afrika und in der Eschborner Zentrale tätig. Von 1991 bis 1994 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für regionale Entwicklungsforschung der Justus-Liebig-Universität in Gießen, wo er mit einer Fallstudie zur zielgruppenorientierten Agrarforschung in Entwicklungsländern promovierte. Nach seiner Rückkehr in die GTZ 1994 gehörte er bis 1996 der Stabsstelle Unternehmensentwicklung an. Im Jahr 1996 wechselte Preuß zur Welthungerhilfe in Bonn, wo er als Leiter des Bereichs Programme und Projekte und als Generalsekretär tätig war. Zwischen 2009 und 2018 war er Geschäftsführer der GTZ, Mitglied des Vorstands der GIZ und Arbeitsdirektor. Seit Mitte 2018 vertritt Preuß die Friedrich-­Ebert-Stiftung in Cotonou/ Benin. Preuß ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher und Beiträge zu Fragen der ländlichen Entwicklung, der Welternährung und fragiler Staatlichkeit. Er engagiert sich ehrenamtlich u.  a. als Lehrbeauftragter am Institut für Po­ litische Wissenschaften und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-­Universität Bonn und als Mitglied des Beirats der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik.

Über die Herausgeberin und die Autoren

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Univ.-Prof. Dr. Alexander  Richter  ist Associate Professor für Workplace Studies an der IT-Universität Kopenhagen und leitet die Forschungseinheit Digital Work Design an der Universität Zürich. Vorhergehend hat er mit einer Arbeit zu Enterprise Social Networking an der Universität der Bundeswehr München promoviert. Aktuell leitet er die Anforderungsanalyse im Europäischen Forschungsprojekt Facts4Workers, das darauf abzielt, mensch-zentrierte Zusammenarbeit in der Industrie zu ermöglichen. Daneben treibt er verschiedene Projekte im Themenbereich Innovation und Collaboration voran. Er ist Sprecher der Fachgruppe CSCW & Social Computing in der Gesellschaft für Informatik und in dieser Funktion auch Mitglied der Fachbereichsleitungsgremien Mensch-Maschine-Interaktion und Wirtschaftsinformatik. Prof. Dr.-Ing. Frank Richter  studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann Wirtschaftswissenschaften an der Universität Regensburg. Er arbeitete im In- und Ausland, u. a. für Bertelsmann, Siemens und PriceWaterhouseCoopers in unterschiedlichen Stabs- und Leitungsfunktionen sowie in der Strategie- und Mergers-and-Acquisitions(M&A)-Beratung. Während seiner Tätigkeit bei Siemens studierte er am MIT Sloan School of Management in Boston, an der Stanford University sowie an der CEIBS Shanghai im Rahmen eines Siemens-internen Executive Programs. Parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit promovierte er zum Doktoringenieur. Professor Richter ist u. a. CEO bei der Swiss Global Investment Group AG. Er steht Unternehmen als Interimsmanager sowie als Strategie- und Sanierungsberater zur Verfügung. Der Schwerpunkt seiner Erfahrung liegt in der Strukturierung komplexer M&A-­ Transaktionen, im Turnaround-Management, in der Reorganisation von Unternehmen sowie in der Strategieentwicklung und -umsetzung.

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Über die Herausgeberin und die Autoren

Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD  ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Konstanz und war Managing-­ Partnerin am MZSG Management Zentrum St.  Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management. Thomas  Sattelberger  ist seit Oktober 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags und seit Anfang 2018 Sprecher seiner FDP-­Fraktion für Forschung und Innovation. Er war lange Jahre Vorstandsmitglied in deutschen Dax-Unternehmen: als Personalvorstand und Arbeitsdirektor für die Deutsche Telekom (2007–2012) und für den Automobilzulieferer Continental (2003–2007). Ab 1994 war Sattelberger bei der Lufthansa, von 1999 bis 2003 als operativer Airline-Vorstand. Zwischen 1975 und 1994 hat er in unterschiedlichsten Managementaufgaben und Geschäftsfeldern für den heutigen Daimler-Konzern gearbeitet. Der Diplom-Betriebswirt hält einen Dr. rer. pol. h.c. der Universität Siegen. Er ist Fellow der International Academy of Management (IAOM) und Beiratsvorsitzender der Hochschulallianz für den Mittelstand. Gemeinsam mit dem Acatech-Präsidenten Prof. Dr. Henning Kagermann hat Sattelberger das Nationale MINT Forum gegründet und war bis zu seiner Wahl in den Deutschen Bundestag dessen ehrenamtlicher Sprecher. Zuvor hatte Sattelberger 2008 die BDA/BDI-­ Initiative „MINT Zukunft“ gegründet, deren Vorsitzender er bis heute ist. Als BDA/ BDI-Vertreter gehörte er dem Akkreditierungsrat der Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland an. Bis zu seiner Wahl in den Bundestag war er Beiratsvorsitzender

Über die Herausgeberin und die Autoren

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des Deutschlandstipendiums und Mitglied des Beirats für Innere Führung der Bundeswehr. Er erhielt diverse Auszeichnungen, u. a. für das von ihm mit herausgegebene Buch Das demokratische Unternehmen. Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft (Managementbuch des Jahres 2015). Eine Handelsblatt-Jury kürte Sattelberger im Jahr 2010 zum „Reformer des Jahres“. Der Bonner Medien-Club zeichnete ihn 2012 für „non-konformistisches gegen den Stachel löcken“ mit dem begehrten Bröckemännche-­ Preis aus. Claudia Schmidt  ist Geschäftsführerin der Mutaree GmbH. Ihr Weg führte sie über Hoechst, Seagram, Deutsche Bank Leben und die VR-LEASING, wo sie u. a. die Bereiche Personal, Organisationsentwicklung, Market Development & Communication verantwortete und für den Konzern ein Consulting-Start-up mit dem Schwerpunkt Transformationsmanagement aufbaute. Sie ist als Beraterin an Universitäten wie der Frankfurt School of Finance & Management, der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) und der EBS Business School tätig. Dr. Karl-Heinz  Schrödl  ist seit Februar 2016 Geschäftsführer der Bosch Management Support GmbH und arbeitet gleichzeitig als „senior expert“ in dieser Gesellschaft. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften begann er sein Berufsleben in der Robert Bosch GmbH im Personalwesen. Unter anderem leitete er die Arbeitsrechtliche Abteilung von Bosch. Danach war er für Bosch in diversen Funktionen und in unterschiedlichen Gesellschaften im In- und Ausland tätig. So hatte er z. B. die Gesamtverantwortung für die Entwicklung, die Fertigung und den Vertrieb von Autoradios in Südostasien und war Geschäftsführer eines Gemeinschaftsunternehmens zwischen Bosch und der ZF AG. In seiner letzten Station vor seinem Eintritt in die Bosch Management Support GmbH war er weltweit bei Bosch für das Personalwesen verantwortlich. In dieser Funktion begleitete er u.  a. die Entwicklung der Bosch Management Support GmbH als deren Beirat und setzte „senior experts“ für Aufgaben und Projekte im Human-Resources-­Bereich erfolgreich ein.

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Über die Herausgeberin und die Autoren

Prof. Dr. Martin Schütte  wurde im Februar 2006 zum Honorarprofessor für Personalpsychologie an der LudwigMaximilians-­Universität (LMU) München ernannt. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der LMU sowie den Universitäten Berlin und Hamburg. Im Jahr 1970 promovierte Schütte an der Universität Kiel und absolvierte ein Jahr später sein zweites juristisches Staats­ examen in München. Von 1971 bis 1998 arbeitete er in verschiedenen Funktionen der Hypo-Bank und wurde 1984 Mitglied des Vorstands. In dieser Position zeichnete er v. a. für Personal sowie regionale Filialbereiche verantwortlich. Bis 1999 war er Mitglied des Vorstands der fusionierten Hypovereinsbank. Mit dem Eintritt in den Ruhestand 2001 betreute Schütte als Business Angel junge Unternehmen und war Gründungsvorstand des Human Capital Club e. V. München. Zudem war er als Lehrbeauftragter in der Fakultät für Psychologie und Pädagogik sowie für Betriebswirtschaft an der LMU tätig. Seine Lehrveranstaltungen beschäftigten sich mit den verschiedenen Aspekten der Mitarbeiter- und Unternehmensführung, insbesondere Personalmanagement, Change Management, Strategieentwicklung und Fusionen. Er unterrichtet v. a. Studierende der Psychologie, der Pädagogik sowie der Betriebswirtschaftslehre. Dr. Nicola  Spickenreither  hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München und University of Adelaide ihr Diplomstudium der Psychologie absolviert und an der Universität der Bundeswehr München über „Kreativität bei virtueller Zusammenarbeit“ promoviert. Inzwischen arbeitet sie am Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe im Internationalen Trainings- und Ausbildungszentrum Flugpsychologie und Stressmanagement. Ihre aktuellen Forschungsinteressen liegen im Bereich Human Performance Enhancement, insbesondere Achtsamkeit.

Über die Herausgeberin und die Autoren

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Hermann Steinkamp  hat sich nach Abschluss seines Diplomsportstudiums und des zweiten Staatsexamens (Lehramt Sport und Sozialwissenschaften) in Köln schon früh mit betrieblichem Gesundheitsmanagement beschäftigt. Die Teilnahme am Pilotprojekt „Ganzheitliche Betriebliche Gesundheitsförderung“ vom Landesverband der Betriebskrankenkassen in Baden-Württemberg öffnete ihm 1991 den Einstieg bei der BKK Aesculap. Diese war Initiator des ersten Arbeitskreises Gesundheit bei der Aesculap AG. Im Jahr 2010 war Steinkamp dann maßgeblich an der Konzeptentwicklung für das neue Gesundheitszentrum beteiligt. Dr. Karl Stoss  war nach seiner Promotion 1986–1996 Partner und Bereichsleiter am MZSG Management Zentrum St. Gallen sowie Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck. Im Jahr 1997 wurde er stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Österreichischen Postsparkasse AG, ehe er 2001  in den Vorstand der Raiffeisen Zentralbank AG wechselte; 2005 wurde er Generaldirektor der Generali Versicherung AG und der Generali Holding Vienna AG. Von 2007 bis 2017 war er Generaldirektor der Casinos Austria AG und Österreichischen Lotterien. Im September 2009 wurde Dr. Stoss zum Präsidenten des Österreichischen Olympischen Comités gewählt und 2016 als bislang zehnter Österreicher Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Im Jahr 2016 erhielt Dr. Stoss das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich in Würdigung seiner engagierten Arbeit für die Casinos Austria und Österreichische Lotterien Gruppe sowie für das Österreichische Olympische Comité. Zudem ist Dr. Stoss seit 2008 Präsident der Österreichisch-Liechtensteinischen Gesellschaft. Für sein Engagement um die Pflege und Förderung der österreichisch-liechtensteinischen Beziehungen überreichte ihm S.D.  Erbprinz Alois von und zu Liechtenstein am 18. Januar 2017 das Komturkreuz mit dem Stein des Fürstlich Liechtensteinischen Verdienstordens.

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Über die Herausgeberin und die Autoren

Markus  Strangmüller  Vice President Sustainability Management, Siemens AG, ist eine international erfahrene Führungskraft mit über 25 Jahren Führungserfahrung im Weltkonzern Siemens, wo er in verschiedenen Funktionen, Industrien sowie Ländern tätig war. Im Jahr 2011 hat er zusammen mit Kolleginnen das Programm Siemens@OneYoungWorld pilotiert und erfolgreich in der Organisation verankert. Er ist ein Business Humanizer und sein Motto ist „Purpose – Trust – Legacy“, was auch seine Grundhaltung in Bezug auf Führung widerspiegelt. Seit 2009 ist er mitverantwortlich für das Management und die Umsetzung von Nachhaltigkeit im Konzern, und seit 2014 fokussiert er sich auf die Wirkung der Siemens Geschäftsaktivitäten in den verschiedenen Ländern, in denen Siemens tätig ist, auch genannt Business to Society. Prof. Dr. Rita Süssmuth  Präsidentin Enterprise for Health, ist eine deutsche Politikerin und Wissenschaftlerin. Sie war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestags. Zuvor war sie Professorin für Erziehungswissenschaften an den Universitäten Bochum und Dortmund und Direktorin des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft in Hannover. Als Expertin für Migration wurde Rita Süssmuth u. a. im Jahr 2000 vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily zur Vorsitzenden der unabhängigen Kommission Zuwanderung berufen. Sie ist heute Präsidentin des Konsortiums, das den deutschen Beitrag zum Aufbau der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul koordiniert. Darüber hinaus engagiert sie sich in zahlreichen Gremien für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, u.  a. als Präsidentin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt und als Vorsitzende des Vorstands der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung. Seit 2017 gehört sie dem World Refugee Council zur Verbesserung der weltweiten Flüchtlingsbewegungen an.

Teil I Einführung

Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Herausforderungen des Unternehmensumfelds  3  Implikationen für Unternehmen und ihre Führung  4  Fazit Literatur 

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden zunächst die Herausforderungen mit ihren Implikationen für Führungskräfte diskutiert, die sich für Personen in Führungsverantwortung aus ihrem externen Unternehmensumfeld ergeben und zu unternehmensinternen Herausforderungen führen. Zu den externen Herausforderungen gehören die Globalisierung, das politisch-­rechtliche Umfeld, die Digitalisierung sowie gesellschaftliche Veränderungen, die sich aus der demografischen Entwicklung und dem Wertewandel ergeben. Zentrale Implikationen für Führungskräfte sind Strategien zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit in einem turbulenten Umfeld, künftig notwendige Führungsqualifikationen sowie Möglichkeiten der künftigen Qualifizierung und der eigenen Gesundheit und Balance. Der Beitrag schließt mit Ausführungen bezüglich eines unterstützenden Führungskontexts und einem Fazit. Wo immer relevant, wird für eine tiefere Betrachtung auf Beiträge in diesem Band verwiesen.

S. Sackmann (*) Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_1

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S. Sackmann

Einführung

Führung gab es schon immer – sowohl in der Tierwelt als auch bei uns Menschen. Trotz dieser langen Historie hat das Thema nichts an Aktualität verloren – ganz im Gegenteil. Eine Eingabe des Begriffs Führung bei Google am 30.12.2018 hat in weniger als einer Sekunde (exakt 0,47 Sekunden) 70.500.000 Ergebnisse generiert. Was macht das Thema nach wie vor so aktuell? In seiner allgemeinsten Form kann Führung mit Einflussnahme definiert werden, wobei die möglichen Formen der direkten (nicht technisch vermittelten) Einflussnahme im sozialen Kontext im Grunde genommen über die Jahrtausende gleich geblieben sind. Was sich jedoch über die Zeit geändert hat, ist der Führungskontext, in dem Führung ausgeübt wird, inklusive der Charakteristika beteiligter Personen. Wie sieht nun dieser Führungskontext aus, in dem Führungskräfte heute und in Zukunft möglichst erfolgreich navigieren sollten? Da Führung speziell in turbulenten Zeiten und kritischen Situationen wichtig wird, stellt sich die Frage, welche speziellen Herausforderungen aus diesem Kontext resultieren, mit denen sich Führungskräfte konfrontiert sehen, und welche Implikationen dies für sie selbst und ihr Führungsverhalten hat. Dieser Beitrag diskutiert zunächst einige der zentralen Herausforderungen aus dem externen Unternehmensumfeld, die zu unternehmensinternen Herausforderungen für die Führung führen und letztendlich zu persönlichen Herausforderungen werden können, mit denen Führungskräfte lernen müssen, wirksam umzugehen. Dabei nehme ich auch Bezug auf die Beiträge in diesem Sammelband, die einzelne dieser Herausforderungen fokussieren und zudem Beispiele und Hinweise im Umgang mit diesen Herausforderungen für die Praxis enthalten.

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Herausforderungen des Unternehmensumfelds

Das Umfeld, in dem sich heutige Unternehmen bewegen, ist von einer Reihe Faktoren geprägt, die zu Unsicherheiten und Komplexität beitragen. Sie stellen daher eine zentrale Herausforderung für die Planung und das Design von Unternehmen dar und damit auch für ihre Führung. Das heutige und künftige Unternehmensumfeld ist nach wie vor geprägt von der Globalisierung, von technologischen Entwicklungen und ihren möglichen Substitutionen, wobei die Digitalisierung mit ihren vielfältigen Implikationen für Unternehmen und Führung in aller Munde ist. Auch politische Rahmenbedingungen, zu denen u.  a. Regulierungen, der Austritt Großbritanniens aus der EU sowie wenig berechenbare Spitzenpolitiker gehören, stellen sich als Herausforderung dar, mit denen Führungskräfte konfrontiert sind. Zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen gehören neben der demografischen Entwicklung eine Werteverschiebung und eine Wertevielfalt, die sich in den unterschiedlichen Präferenzen und Erwartungen der verschiedenen Generationen manifestieren. Diese externen Faktoren werden nachfolgend ausführlicher beleuchtet.

Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte

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Globalisierung

Die Globalisierung geht heute jeden an. Ermöglicht durch die Informations- und Kommunikationstechnologien spielt für die meisten Unternehmen nicht mehr nur der unmittelbar heimische Markt eine Rolle. Potenzielle Zulieferer, Kunden und Wettbewerber befinden sich auf dem gesamten Globus und müssen zumindest auf dem strategischen Radar von Führungskräften sein. Auch wenn beispielsweise Agrarprodukte primär lokal verkauft werden, so diktiert doch der Weltmarkt die Preise. Kunden haben nicht nur die ­Möglichkeit, Preise weltweit zu vergleichen, sondern Waren von Wettbewerbern des globalen Markts per Mausklick nach Hause bringen zu lassen. Mitarbeiter können sich über Unternehmen, deren Reputation und Kultur an ihrem Smartphone informieren und je nach Personenfreizügigkeit in unterschiedlichen Ländern und Wirtschaftsräumen einen Arbeitsplatz suchen. Auch führte die Globalisierung zu einer weiteren Welle von Akquisitionen und Joint Ventures, die eine Expansion in zusätzliche Märkte ermöglichten (Müller-­Stewens und Spanninger 2012). Allerdings zeigen auch globale Märkte in manchen Bereichen lokale Präferenzen, auf die die Führung eines Unternehmens mit seinen Produkten und Dienstleistungen Antworten braucht. So haben Kunden in verschiedenen Regionen und Ländern unterschiedliche Geschmackspräferenzen – sei es bei Getränken, Fertigprodukten, der Mode oder auch der Erbringung von Dienstleistungen. Auf diese Unterschiedlichkeiten müssen sich Unternehmen, die in diesen Märkten erfolgreich sein wollen, einstellen. Eine Reihe gut gemeinter Marketingkampagnen zeigt beispielsweise, welche Probleme entstehen können, wenn man sich nicht auf die lokalen Spezifika der Kunden einer Region oder eines Landes einlässt bzw. diese nicht kennt (vgl. Grey 2014; White 2009). Eine zentrale Herausforderung ist daher, die richtige Balance zwischen globalen Herausforderungen und Möglichkeiten sowie lokalen Spezifika zu finden und damit als Unternehmen glokal zu agieren. Ganz neue Herausforderungen für unsere Gesellschaft resultieren aus der auch durch die Globalisierung bedingten Migration. Für Unternehmen könnten sich hieraus durchaus Chancen im Hinblick auf die Demografie und den schon aktuell vorhandenen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften ergeben.

2.2

Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen

In Zeiten von Brexit, „America first“, wachsenden Handelshemmnissen, der Wiedereinführung von Zöllen und der Rückbesinnung auf nationale Identitäten aufgrund der negativen Effekte der Globalisierung müssen Führungskräfte trotz aller Unsicherheiten Entscheidungen treffen, wie ihr Unternehmen mit diesen neuen Herausforderungen umgehen soll. Dies betrifft u. a. Standortentscheide und damit Investitionen und/oder Desinvestitionen, die sich v. a. auch auf den Erhalt, den Transfer oder die Neugewinnung qualifizierter Arbeitskräfte auswirken.

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S. Sackmann

Im Zuge der Globalisierung und im Nachgang der Spekulationen, die zum Platzen der Dot-Com-Blase im Jahr 2000 führten, der Bilanzfälschungen, die im Zuge dieser New Economy erfolgten, sowie der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, die durch die Subprime-­ Krise und die Lehman-Brothers-Pleite in den USA ausgelöst wurde, sind die Compliance-­ Anforderungen an Unternehmen seither ständig gestiegen. Aufgrund internationaler Geschäftstätigkeit und einer zunehmend multikulturellen Belegschaft haben Unternehmen seit der Jahrtausendwende Regeln der Corporate Governance und Verhaltenskodizes erstellt, die als Richtlinie für richtiges bzw. gutes und damit gesetz- und regelgetreues ­Verhalten sowohl für das Unternehmen als auch für die Mitarbeiter dienen und die das Unternehmen, seine Führungskräfte und alle Mitarbeiter auch einhalten sollen. Trotz all dieser Bemühungen treten Regelverstöße auf, da Unternehmen zwar diese Kodizes eingeführt haben, doch deren Einhaltung wohl weniger überprüfen. So decken die Ergebnisse einer Befragung in Deutschland auf, dass anscheinend nur 36 % der Befragten von den bestehenden Compliance-Regeln im Unternehmen wissen und sich auch daran halten; 25 % gaben zu, dass es zwar ein Regelwerk gebe, sich aber aufgrund mangelnder Kontrollen ein eher lockerer Umgang mit bestehenden Vorschriften eingeschlichen habe; 17 % äußerten, dass es in ihrem Unternehmen keine Compliance-Richtlinien gebe, und 23  % der Befragten konnten sich unter dem Begriff Compliance nichts vorstellen. Bei kleineren Firmen waren dies 53 % (Czycholl 2015). Da die Umsetzung solcher Compliance-Regeln mit erheblichen Kosten verbunden ist und große Firmen wie beispielsweise die Telekom inzwischen die Funktion eines Compliance Officers haben, verwundern diese Zahlen weniger. So werden die administrativen Zusatzkosten des 2002 in den USA verabschiedeten Sarbanes-Oxley Acts, durch den die Wirksamkeit des internen Kontrollsystems sowohl durch die Geschäftsleitung als auch durch einen externen Wirtschaftsprüfer nachgewiesen werden muss, mit rund 40 % beziffert. Mit Blick auf Schmiergeldaffären, Bilanzfälschungen und Diesel-Gate scheinen diese Investitionen in gute Corporate Governance sinnvoll und notwendig zu sein, jedoch tragen sie nicht zur direkten Wertschöpfung bei und müssen erst erwirtschaftet werden. Bei einer entsprechenden Unternehmenskultur, die Wert auf eine gute Corporate Governance legt, könnten solche nichtproduktiven Kosten eventuell vermieden oder zumindest reduziert werden (Sackmann 2017).

2.3

Digitalisierung und neue Technologien

Dieses Jahrhundert begann mit der breiteren kommerziellen Nutzung des Internets, die durch Tools wie Mobiltelefon, Laptop und Handheld-Computer den Beginn einer neuen Ära der technisch vermittelten Information und Kommunikation einleitete. Diese ermöglichte damit neue Formen der Arbeit und Zusammenarbeit wie auch ganz neue Geschäftsmodelle. So werden nach einer Schätzung bis zum Jahr 2020 etwa 50 % der Arbeitnehmer mobil arbeiten und schon heute befinden sich etwa 40 % der Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (Berison 2016). Der Einsatz von Social Software ermöglicht den direkten Austausch zwischen Kollegen sowie zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, egal wo man sich gerade auf der Welt befindet, solange eine Internetverbindung ­vorhanden ist. Zudem erlaubt das Internet weltweiten Zugang zu Informationen, die einerseits

Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte

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ganz neue Formen örtlich und zeitlich unabhängiger Aus-, Weiter- und Fortbildung ermöglichen und andererseits Unternehmen und ganze Gesellschaften durch diesen direkten Zugriff auf Informationen revolutionieren. Denn durch diese direkte Zugriffsmöglichkeit bleibt Information nicht mehr länger eine Machtquelle, sondern fördert und fordert Demokratisierungsprozesse auch in Unternehmen (Sattelberger et al. 2015). Wie der Beitrag von Michael Koch, Alexander Richter und Bernhard Katzy in diesem Band aufzeigt, erfordert damit das Unternehmen 2.0 ganz neue Strukturen und eine Führung, die den Mitarbeitern Freiräume gewähren und dennoch Orientierung und Unterstützung geben (Teil II, Kap. ­„Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen“). Die Führungskraft im Unternehmen 2.0 sollte eher als Facilitator und „Primus inter pares“ agieren. Für dieses neue Führen 2.0 einer mobil und damit virtuell arbeitenden Belegschaft werden allerdings neues Wissen und neue Fähigkeiten nicht nur im technischen Umgang mit den neuen digitalen Medien von allen Beteiligten benötigt, sondern auch Fähigkeiten, die den Aufbau von Vertrauen und Beziehungen über digitale Kanäle betreffen (z. B. McGonagill und Doerffer 2011). Neue Technologien wie beispielsweise Blockchain ermöglichen neue Geschäftsmodelle und Organisationsformen, die Intermediäre ausschalten und damit Bestätigungsprozesse zwischen dezentralen Akteuren beschleunigen. Auch der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Robotern wird zu neuen Formen der Arbeit und Arbeitsplätzen führen, die neue, flexiblere und agilere organisationale Designs wie auch neue Qualifikationen erfordern. So geht eine Forschungsarbeit davon aus, dass etwa 42  % der Beschäftigten in Deutschland in Berufen arbeiten, die in den nächsten 20 Jahren ein hohes technisch mögliches Automatisierungspotenzial aufweisen (Bonin et al. 2015). Dies erfordert auch von den betroffenen Menschen Offenheit und Flexibilität bezüglich des Erlernens neuer Fähigkeiten. Andererseits müssen Führungskräfte aber auch die Chancen und Gefahren der vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten zunächst erkennen können, um deren Potenzial im Unternehmen zu nutzen, und dann wirksam mit diesen umzugehen lernen. Diese neuen Fähigkeiten beinhalten auch eine realistische Einschätzung des Gefahrenpotenzials, das mit der weiter wachsenden digitalen Vernetzung einhergeht. Sie erfordern eine entsprechende Aufmerksamkeit gegenüber Cyber-Attacken und daher eine Investition in den Bereich der Cyper-Security. Gemäß einer aktuellen Studie, bei der über 1.000 Senior Professionals aus insgesamt 13 Ländern in Westeuropa, dem Mittleren Osten und Japan befragt wurden, werden Cyber-Attacken und damit Cyber-Security inzwischen mit einer Zustimmung von 45 % gegenüber 26 % im Jahr 2017 als die größte Herausforderung für Unternehmen und Führungskräfte gesehen. Damit hat Cyper-Security die He­ rausforderung Digitalisierung überholt, die im Jahr 2017 von 25 % und 2018 von 35 % der Befragten als eine der fünf größten Herausforderungen betrachtet wurde (Financial Times und IE Business School Corporate Learning Alliance 2018).

2.4

Gesellschaftlicher Wandel: Demografie und Wertewandel

Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich permanent und zeichnet sich durch vielfältige Facetten aus. Wichtige Treiber des gesellschaftlichen Wandels sind die Demografie und der Wertewandel.

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S. Sackmann

2.4.1 Demografie und ihre Implikationen Die Mitarbeiter und Führungskräfte der nächsten 25 Jahre sind heute schon geboren und die birnenförmige Entwicklung der Altersstruktur der westlichen Länder ist bekannt: Den immer älter werdenden „Grauen Panthern“ steht eine wesentlich geringere Anzahl an j­ungen Menschen gegenüber, die trotz zunehmender Automatisierung von Organisationen und der Gesellschaft gebraucht werden. Lehrstellen können nicht besetzt werden und der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bremst schon heute so manches Unternehmen in seiner weiteren Entwicklung. Gemäß einer aktuellen Studie der Deutschen Industrie- und Handelskammer DIHK kann fast jedes zweite Unternehmen offene Stellen längerfristig nicht besetzen und es fehlen im Jahr 2018 etwa 440.000 qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland. Dieser Fachkräftemangel reduziere die Wirtschaftsleistung um 0,9  %, was etwa 30 Mrd. € entspricht (DIHK 2018). Weitere Konsequenzen sind eine Mehrbelastung der vorhandenen Belegschaft sowie ein Verlust an Innovationsfähigkeit. Daher wird auch das Potenzial der qualifizierten Fachkräfte im Ruhestand künftig stärker zum Einsatz gebracht werden müssen. Wie dies funktionieren kann und welche Chancen mit der weiteren Einbindung dieser Senior-Experten für sie selbst, für das Unternehmen und für unsere Volkswirtschaft verbunden sind, wird im Beitrag von Karl-Heinz Schrödl und Georg Hanen (Teil VI, Kap. „Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch Management Support GmbH“) anhand der Bosch Management Support GmbH beschrieben. Frauen würden gern mehr arbeiten wollen, doch dieses Potenzial, an Mehrarbeit wird durch den Wunsch der Männer, weniger arbeiten zu wollen, ausgeglichen (DIW 2018). Laut den Angaben des Statistischen Bundesamts ist der Anteil an erwerbstätigen Frauen seit 1997 um nur 3,6 % gestiegen – von 41,9 % im Jahr 1997 auf 46,5 % im Jahr 2017. Dabei nahm die Vollzeitbeschäftigung nur marginal um 0,4 % auf 34,1 % bis zum Jahr 2017 zu, während die Teilzeitbeschäftigung von 83,3 % auf 78,1 % sank (Statistisches Bundesamt 2018). Nach wie vor bekommen Frauen – mit Ausnahme einiger Top-Managementpositionen – weniger bezahlt als Männer in gleichen Funktionen und Positionen, und auf Führungsebenen sind Frauen in Deutschland immer noch in der großen Minderheit. Daran haben die vielen Bekundungen, Forderungen und Förderungen über die Jahre wenig geändert. Im Jahr 2017 lag der Frauenanteil unter den Führungskräften in Deutschland bei 29,2 % – gerade einmal um 2,6 % höher als 1997 mit 26,6 %, wobei der Anteil je nach Branche und Altersgruppe sehr unterschiedlich ist. Während in den Bereichen Erziehung/Unterricht sowie Gesundheits- und Sozialwesen 60  % der Führungspositionen von Frauen besetzt sind, liegt ihr Anteil in der Industrie nur bei 16,9 % und im Baugewerbe bei nur 11 %. Auch war der Anteil an jüngeren Frauen (25- bis 34-Jährige) in Führungspositionen mit 36,8 % deutlich höher als bei den 35- bis 44-jährigen Frauen (27,7 %). Der Beitrag von Regina Palmer (Teil V, Kap. „Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten“) zieht anhand aktueller Forschungserkenntnisse Bilanz über die Situation von Frauen in Führungspositionen. Dies beinhaltet u. a. vermeintliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern, mögliche Gründe für das Gender Gap in Führungspositionen wie auch notwendige Schritte, um dieses Gap zu reduzieren. Sie resümiert, dass nach wie vor „weibliche Führungskräfte weniger wahrscheinlich eingestellt, schlechter in ihrer Leistung beurteilt und weniger gemocht werden als männliche Führungskräfte“, und fordert eine radikale Veränderung der Unternehmens- und Führungskulturen in deutschen Unternehmen.

Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte

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Der Beitrag von Heike Götz (Teil V, Kap. „Frauenfreundliche Arbeitskontexte“) nimmt sich dieser Forderung an, indem sie frauenfreundliche Arbeitskontexte skizziert und diskutiert. Diese umfassen u. a. eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch flexible Arbeitszeit- und Arbeitsortmodelle sowie eine Überwindung der nach wie vor vorherrschenden traditionellen Rollenstereotypen. Wie man dennoch in einer von Männern dominierten Arbeitswelt zur Top-­Führungskraft wird, schildert Dr. Erika Franke, Generalstabsärztin der Bundeswehr (Teil V, Kap. „He­ rausforderungen der Führung in einer Männerdomäne“). Ihr Werdegang hat sie von der Fachärztin bis hin zu dieser bisher höchsten von einer Frau in der Bundeswehr besetzten Führungsposition geführt. Sie charakterisiert aus ihrer Sicht gute und schlechte Führung wie auch ihr persönlich gewähltes und praktiziertes Führungsverhalten, das ihr zum Erfolg in ihrer Führungspositionen verholfen hat.

2.4.2 Wertewandel Eine Reihe von Studien belegt den Wertewandel von einer materialistischen hin zu einer postmaterialistischen Gesellschaft (vgl. Inglehart 1997; Inglehart und Baker 2000; Rosenstiel et al. 1993). Traditionelle, materielle Werte wie Versorgung, Sicherheit, Arbeit als Pflicht mit Loyalität gegenüber der Arbeitsorganisation wurden in den letzten Jahrzehnten zunehmend durch postmaterielle Werte ergänzt und auch verdrängt. Zu Letzteren zählen Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, Autonomie sich selbst gegenüber, Individualität, Lebensqualität, Unabhängigkeit, Anspruch auf Selbstverwirklichung, Freizeit und Natur. So zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Befragung zu den Zielen Studierender, dass sich diese im Jahr 2018 im Vergleich zu 2006 doch in einigen Lebensbereichen geändert haben. Nach wie vor wollen sie v.  a. das Leben genießen (80,1 % vs. 82 %),1 gefolgt von Anerkennung im Beruf (78,3 %), die allerdings weniger wichtig ist als im Jahr 2006 (83,0 %). Dafür ist es wichtiger geworden, Zeit für die Familie zu haben (72,2  % vs. 67,0  %). Fachlich Überdurchschnittliches leisten wollen nur noch gut die Hälfte (56,9 % vs. 70,0 %) der befragten Studenten – ähnlich häufig wie Sich-für-andere-Einsetzen (55,7 % vs. 76,0 %). Eine leitende Funktion wollen nur noch knapp die Hälfte (47,4 % vs. 57,5 %) und an einem politischen Engagement besteht inzwischen recht wenig Interesse (14,3 % vs. 27,5 %; Fischer 2006; Statista 2018). Zudem wird die Werteverschiebung ergänzt durch eine über die Jahrzehnte zunehmende Wertevielfalt. So charakterisiert Klages (1984) in seiner Studie zu Werteorientierungen im Wandel vier verschiedene gesellschaftliche Wertetypen. Die aktuellere Studie von BMAS & nextpractice (2016) identifiziert auf der Basis von 1.200 individuellen Interviews sieben Wertewelten, die sie folgendermaßen benennen: • • • • 1

sorgenfrei von der Arbeit leben können; in einer starken Solidargemeinschaft arbeiten; den Wohlstand hart erarbeiten; engagiert Höchstleistungen erzielen;

 Die erste Prozentzahl bezieht sich auf das Jahr 2018, die zweite auf 2006.

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• sich in der Arbeit selbst verwirklichen; • Balance zwischen Arbeit und Leben finden; • Sinn außerhalb seiner Arbeit suchen. Diese sieben Lebenswelten decken sich z. T. mit den Karriereankern von Schein (2005). Je nach präferierter Lebenswelt bzw. Karriereanker spielt die Arbeit eine unterschiedlich wichtige Rolle für Personen in ihrem Leben und damit verbunden haben sie auch unterschiedliche Erwartungen an Unternehmen und an ihre Führung. Bei der Charakterisierung der Arbeitswelt 2030 in Deutschland zeigen sich im Vergleich zur heutigen Arbeitswelt die größten Diskrepanzen bezüglich der Faktoren, wesentlich mehr weitreichende Eigenverantwortung erleben zu wollen, alle individuellen Ansprüche realisieren zu können, sein eigenes Berufsbild kreativ zu gestalten, Ideale in der Arbeitswelt verwirklichen und Partizipation auf der Basis mündiger Individuen praktizieren zu können (BMAS und nextpractice 2016). Diese Ergebnisse decken sich auch mit unserer Befragung der Generation (Y) Millennials, die heute schon meist im Arbeitsleben stehen und damit einen Teil der Belegschaft ausmachen. Der Beitrag von Nicola Spickenreither und Sonja Sackmann (Teil II, Kap. „Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen für wirksame Führung und Zusammenarbeit“) charakterisiert zunächst diese Generation von Mitarbeitern und ihre Erwartungen an Unternehmen, Arbeit und Führung. Gemäß den Befragungsergebnissen wollen Millennials alles – spannende Arbeit, Mitsprache, Gestaltungsmöglichkeiten und Spaß bei der Arbeit, eine Balance zwischen Arbeits- und Privatleben; aber sie wollen auch Arbeitsplatzsicherheit. Dementsprechend sind ihre Erwartungen an Führungskräfte hoch und vielfältig. Vor allem wünschen sie sich einen fairen Vorgesetzten, der mit ihnen auf Augenhöhe offen umgeht. Wie unser Beitrag zeigt, ist die Wunsch- und Erwartungsliste lang, nur Perfektionismus ist weniger angesagt. Werden Millennials in ihren Erwartungen enttäuscht, sind sie eher bereit als ihre Vorgängergenerationen, den Arbeitgeber zu wechseln. Doch zu den Millennials gibt es auch noch die Generation der Babyboomer, die sich langsam dem Ruhestandsalter nähert, und die Generationen X und Z. Diese verschiedenen Generationen haben, z. T. auch alters- und lebensphasenbedingt unterschiedliche Vorstellungen von und Erwartungen an Arbeit, Führung sowie die Rolle von Arbeit in ihrem Leben. Diese Vielfalt wird weiter bereichert durch Frauen und Männer sowie Mitarbeiter aus unterschiedlichen Regionen und Ländern. Wie der Beitrag von Thomas Sattelberger (Teil II, Kap. „Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0“) aufzeigt, wird diese Vielfalt ein ständiger Begleiter von und auch eine Herausforderung für Führungskräfte sein. Diese Vielfalt wird in unserer künftigen Arbeitswelt eher zu- als abnehmen. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie zur Führung in multikulturellen Teams zeigen auf, dass gerade in solchen Teams, die meist auch noch virtuell zusammenarbeiten, Führung ganz besonders gefragt ist, diese jedoch für eine produktive Zusammenarbeit andere Schwerpunkte setzen und zusätzliche Qualitäten aufweisen sollte. Zu den bekannten Formen des partizipativen, ergebnisorientierten, transaktionalen und transformationalen Führungsverhaltens zeigten sich Flex Style und Sensing Leadership in solchen Arbeitskonstellationen als wichtig. Durch den Flex Style erfolgt eine dynamische Anpassung des Führungsverhaltens in der jeweiligen Situation, und das Sensing erfordert empathisches

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und antizipatives Verhalten aufseiten einer Führungsperson, um zwischen den Zeilen lesen und das nicht Ausgesprochene antizipieren zu können (Fajen 2017). Auch die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber Unternehmen als Corporate Citizens haben sich – wohl auch aufgrund von Skandalen, Bilanzfälschungen und unethischem Gebaren  – geändert. Ethisch vorbildliches Verhalten wird von Staaten, von Organisationen und ihren Vertretern erwartet und ein Fehlverhalten aufgrund der Informationsvernetzung schneller aufgedeckt, viral über soziale Medien und Internet verbreitet und an den Pranger gestellt. Beispiele sind die Enthüllungen von Edward Snowden, der Facebook-Datenmissbrauch von Cambridge Analytica während der Präsidentschaftswahlen in den USA 2016, wie auch die #me-too-Bewegung, durch die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz speziell gegenüber Personen in Machtpositionen sprech- und ahndungsfähig wurde. Ökologie und Gesundheit im weitesten Sinn haben gerade bei Jüngeren einen stärkeren Stellenwert erhalten. So wird zunehmend eine gesunde Arbeitsumgebung erwartet. Dies betrifft einerseits die Arbeitsplatzgestaltung wie Ergonomie, Ausstattung, Anordnung und Materialien der Möblierung, aber auch mögliche Reduzierungen von vermeidbarem Abfall sowie Produkte und Dienstleistungen, die aus ökologischer Sicht akzeptabel sind. Was die Gesundheit betrifft, hat sich in der bildungsnahen Bevölkerung ein neues Bewusstsein etabliert bezüglich gesunder Ernährung, Bewegung und psychischen Ausgleichs. Zwar sind die Fehltage 2017 insgesamt stabil geblieben, doch haben die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2007 konstant zugenommen und zwar bis zum Jahr 2017 um 67,5 %. Diese Erkrankungen dauern mit durchschnittlich 26,1 Tagen je Fall mehr als doppelt so lang wie der Durchschnitt sämtlicher Erkrankungen (Badura et  al. 2018). Gerade Führungskräfte sind mit ihrer überdurchschnittlichen Arbeitsbelastung gefordert. So zeigt eine Befragung von 2018, dass Führungskräfte in Deutschland im Lauf ihrer Karriere 15.430 Überstunden leisten, dies sind 7,4 Arbeitsjahre (Compensation Partner 2018). Zu dieser zeitlichen Belastung kommen die vielfältigen Ansprüche, die an sie in ihrer Rolle gestellt werden, sowie ihre eigenen Ansprüche an sich selbst. Diese Faktoren bergen die Gefahr, unbemerkt ­Burnout-Symptomatiken zu entwickeln. Deren vielfältige Wurzeln, Wirkungen und Gefahren behandelt der Beitrag von Klaus Eidenschink mit Hinweisen für eine resilienzfördernde und gut funktionierende Selbstregulation (Teil VI, Kap. „Burnout  – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für Organisationen dysfunktional geworden sind“). All diese Herausforderungen im externen Umfeld eines Unternehmens haben Implikationen für Unternehmen und führen zu einer Reihe von unternehmensinternen Herausforderungen, denen sich Führungskräfte gegenübersehen.

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Implikationen für Unternehmen und ihre Führung

Diese voranstehend geschilderten externen Herausforderungen machen das Unternehmensumfeld volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutig. Vorhersagen sind daher schwierig zu treffen und Planungen sind mit Unsicherheiten belastet. So waren die von McKinsey befragten Executives im ersten Halbjahr 2018 aufgrund der Veränderungen in den Handelsbeziehungen sowohl in allen Regionen der entwickelten als auch der Entwicklungsländer

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wesentlich vorsichtiger in ihren aktuellen Einschätzungen zur globalen Wirtschaft als in früheren Befragungen, und alle suchen nach geeigneten Strategien im Umgang mit diesen neuen Herausforderungen (McKinsey 2018). Eine Reihe von Fragen wollen richtungsweisende Antworten: Wie lässt sich in solch einem turbulenten und fragilen Unternehmenskontext die Wettbewerbsfähigkeit erhalten, damit das Unternehmen nicht zum Sanierungsfall wird? Wie kann mit der hohen Volatilität und der damit verbundenen Unsicherheit und Komplexität wirksam umgegangen werden? Wie können die notwendigen Veränderungen frühzeitig erkannt, eingeleitet und umgesetzt werden und dabei dennoch eine gewisse Stabilität und Kontinuität erhalten bleiben? Welche Qualifikationen brauchen Führungskräfte von morgen und wie können sie entwickelt werden? Welche Art von Personalmanagement braucht es, um Führungskräfte bei ihrer herausfordernden Führungsarbeit bestmöglich zu unterstützen?

3.1

Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit

Um in der oben skizzierten VUKA-Welt, die gekennzeichnet ist von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, braucht es eine Reihe von Führungskompetenzen in Kombination und Abstimmung mit den notwendigen Ressourcen, qualifizierten Mitarbeitern, Organisationsdesigns und Führungsinstrumenten. Die Führungskompetenzen betreffen Kompetenzen der Unternehmens- wie auch der Mitarbeiterführung. Hierzu gehört u. a. Sensoren zu haben, die frühzeitig Informationen über Änderungen im Unternehmensumfeld liefern. Diese müssen dann bezüglich ihrer möglichen Implikationen diskutiert werden, und es braucht die Fähigkeit, schwache Si­ gnale zu deuten und darin Muster zu erkennen. Wie Studienergebnisse im Bereich strategischer Forschung zeigen, geraten viele Unternehmen in eine Krise, weil sie die Veränderungen im unternehmensrelevanten Umfeld nicht oder nicht rechtzeitig sehen oder erkennen wollen, da sie ja bedrohlich sind (vgl. Starbuck und Hedberg 2001). Mithilfe strategischer Kompetenzen fließen diese Signale und Muster in ein Zukunftsbild ein, an dem sich Führungskräfte und Mitarbeiter in ihrer Arbeit ausrichten. Für die Umsetzung des Zukunftsbilds braucht es aber auch finanzielle, zeitliche und menschliche Ressourcen. Nur mit entsprechend qualifizierten und engagierten Mitarbeitern und den geeigneten Führungsinstrumenten lässt sich eine Strategie auch implementieren. Hierbei sind zeitgerechte Entscheidungen, offene und direkte Kommunikation, ein angemessenes Controlling und professionelles Personalmanagement unabdingbar. Die Beispiele im Beitrag von Frank Richter zu Führung im Sanierungsprozess (Teil II, Kap. „Führung in Unternehmenskrisen“) zeigen, dass ein Vernachlässigen eines dieser Aspekte wie auch eine mangelnde Wahrnehmung der Führungsverantwortung zur Existenzbedrohung führen können und gerade in Krisensituationen wie einer Sanierung qualifizierte Führung gefragt ist. Diese basiert laut Richter auf einer systemischen und damit ganzheitlichen Perspektive, sie umfasst Entscheidungsstärke, Glaubwürdigkeit in der Kommunikation und im Verhalten und ist sich der Bedeutung der Unternehmenskultur bewusst.

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Für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit in einem VUKA-Umfeld ist zudem das entsprechende Organisationsdesign von Bedeutung. Wie die Bespiele von IBM, Continental Airlines und Löwe im Beitrag von Frank Richter und auch die Studie von Probst und Raisch (2004) zeigen, sind gerade ältere Organisationen in ihren Strukturen und Prozessen oft zu schwerfällig, um sich schnell auf neue Bedingungen einzustellen. Angesagt sind vielmehr agile und flexible Organisationsdesigns, die auf dem Paradigma der Systemtheorie basieren und Prinzipien der Selbstorganisation, Holografie, Ambidextrie und losen Koppelung berücksichtigen. Bei einem zu einseitigen Fokus auf effiziente Prozesse werden häufig die Notwendigkeit für Innovation und die Entwicklung von Neuem vernachlässigt. Wie Schumpeter (2006/1912) schon Anfang des 20. Jahrhunderts ausführte, ist Innovation für eine Weiterentwicklung zentral. Die gleichzeitige Berücksichtigung beider Aspekte, inzwischen auch Ambidextrie genannt (Benner und Tushman 2003), ist für die Überlebensfähigkeit von Unternehmen unabdingbar (O’Reilly und Tushman 2004, 2013, 2016) und erfordert laut Probst et al. (2011) „ambidextrous leadership“, eine Führung, die beide Aspekte ausreichend berücksichtigt. Zusätzlich braucht es auf individueller und organisationaler Ebene die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen (Sackmann 1999) sowie mit Komplexität, Nicht-Routine- und Krisensituationen ­wirksam umgehen zu können. Der Beitrag von Sonja Sackmann (Teil IV, Kap. „Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen“) im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen ­beschreibt auf der Basis der Analyse 150 solcher Situationen, die 50 Top-­Executives in persönlichen Interviews schilderten, vier Verhaltensstrategien in Kombination mit einer sog. relationalen Führung, die ihnen geholfen haben, wirksam mit solchen Situationen umzugehen. Auch wenn Zukunftsprognosen schwierig und mit Fehlern behaftet sind, so lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Organisationen weiterhin mit Veränderungsprozessen konfrontiert sind. Hierfür braucht es nicht nur eine Change Readiness auf individueller und organisationaler Ebene, sondern auch eine Change-Fitness. Der Beitrag von Sonja Sackmann, Verena Eichel und Claudia Schmidt (Teil IV, Kap. „Change-Fitness – eine besondere He­ rausforderung für die Führung“) erklärt zunächst das Konzept, das zur Change Readiness auch die für Change-Prozesse notwendigen Umsetzungskompetenzen, Ressourcen und Kontextfaktoren sowie die tatsächliche Umsetzung umfasst, und berichtet über einige der aktuellen Ergebnisse aus unserer Befragung, wie es mit der Change-Fitness in vorwiegend deutschen Unternehmen aussieht und welche Aspekte in Change-Prozessen stärker berücksichtigt werden sollen. Auch Resilienz wird künftig für Personen und Organisationen im Umgang mit den Herausforderungen wichtiger werden. Diese beinhaltet neben der Agilität auch eine gewisse Robustheit im Umgang mit Stress auslösenden Situationen. Wie die beiden Beiträge zu Führen und Arbeiten in fragilen Ländern (Hans-Joachim Preuß, Geschäftsführer GIZ; Teil III, Kap. „Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern“) und Führen in Krisensituationen (Jérôme Fuchs, Leiter Sondereinsatzkommando GSG 9; Teil III, Kap. „Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen“) schildern, ist neben einer Reihe weiterer Faktoren die Resilienz ein zentraler Aspekt im Umgang mit Situationen, bei denen auch das eigene Leben und das der Mitarbeiter in Gefahr sein kann.

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Müssen wir Führung in diesem sich wandelnden Kontext neu erfinden? Diese Frage stellt Martin Schütte in seinem Beitrag (Teil II, Kap. „Müssen wir Führung neu erfinden?“) und plädiert für eine mitarbeiterorientierte Führung, die „ermächtigte Eigeninitiative“ erlaubt und praktiziert und dabei die Mitarbeiter als zentrale Akteure im Unternehmen in den Mittelpunkt stellt. Dies erfordert laut Schütte einen Paradigmenwechsel in den Köpfen der Manager, die bisher immer noch nicht die zentrale Bedeutung der Mitarbeiter für den Erfolg eines Unternehmens erkennen. Die Beispiele in den Beiträgen zu den Themen Führung in Nicht-Routine-Situationen, Führung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern sowie in Krisensituationen zeigen, dass es schon Führungskräfte gibt, die sich der Bedeutung ihrer Mitarbeiter bewusst sind. Gerade in solchen Situationen, die die Qualität der Führung auf den Prüfstand stellen, braucht es eine entsprechende Mitarbeiterführung, die auch auf den dafür notwendigen Kontext achtet. Wie diese Beispiele auch zeigen, spielen hierbei eine entsprechende Selektion und Qualifikation eine zentrale Rolle.

3.2

Künftig notwendige Führungsqualifikationen

Die sich abzeichnenden Herausforderungen, mit denen Führungskräfte konfrontiert sind und sein werden, erfordern eine Leidenschaft für Führung, basierend auf einem neuen Selbstverständnis der eigenen Führungsrolle. Wie die Beiträge über Führung in Nicht-Routine- und Krisensituationen aufzeigen, braucht es im Umgang mit diesen Situationen ein eingespieltes Team, bei dem eine Führungsperson ihre Mitarbeiter einbindet, mit ihnen gemeinsam agiert und auch entsprechende Freiräume gewährt. Dies ist nur möglich auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen, offener, direkter Kommunikation und Feedback, aus dem alle Beteiligten lernen und das Gelernte auch in die Arbeitspraxis umsetzen. Wie die genannten Beiträge auch zeigen, spielt hierbei eine sorgfältige Selektion eine wichtige Rolle, bei der nicht nur auf die fachlichen Qualifikationen der Mitarbeiter und Führungskräfte geachtet wird, sondern auch auf Persönlichkeitsmerkmale wie beispielsweise der Umgang mit Stress und Ambiguität, aber auch auf die persönliche Passung bzw. die Passung ins Team und in die Organisation und deren Kultur. So ist bei einem bewussten Umgang mit Unternehmenskultur die entsprechend bewusste Selektion von Mitarbeitern das zentrale Kriterium für den Erhalt einer bestehenden Unternehmenskultur oder auch deren Veränderung (Sackmann 2017). Wie können Mitarbeiter und Führungskräfte auf die vielfältigen Herausforderungen wirksam vorbereitet und entwickelt werden? Einen möglichen Ansatz für eine zukunftsweisende Führungskräfteentwicklung beschreibt Markus Strangmüller in seinem Beitrag mit dem Programm „One Young World“ und der Nutzung dieser Not-for-Profit-­Or­ga­ni­sa­ tion für die Entwicklung künftiger Führungskräfte von und für die Siemens AG (Teil VII, Kap. „Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World)“). Auch hier sind die Auswahl und Vorbereitung der Teilnehmer von zentraler Bedeutung, um dann ­gemeinsam mit anderen jungen Führungskräften unter 30 Jahren aus der ganzen Welt in

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einer selbst gewählten oder schon bestehenden Initiative Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln und daraus für die Führungspraxis in Unternehmen zu lernen. Eine künftig absolut notwendige fachliche Qualifikation von Führungspersonen wird der Umgang mit kultureller Vielfalt sein. Wie der Beitrag von Thomas Sattelberger zeigt (Teil II, Kap. „Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0“), ist und wird der Führungskontext zunehmend vielfältiger. Hierzu tragen nicht nur Frauen und Männer am Arbeitsplatz bei, sondern auch die verschiedenen Mitarbeitergenerationen, die, wie oben schon diskutiert, unterschiedliche Erwartungen an Arbeit, Arbeitsorganisationen, Führung und die Unternehmenskultur haben. Auch die zunehmend regional und national divers zusammengesetzte Belegschaft  – sei es am eigenen Standort oder auch geografisch verteilt v. a. bei inter- und multinationalen Organisationen oder Netzwerken – erfordern einen Flex Style kombiniert mit Sensing Leadership (Fajen 2017) sowie digitale und interkulturelle Kompetenzen, die damit zunehmend zu einer Schlüsselqualifikation werden. Was interkulturelle Kompetenz beinhaltet und wie sie entwickelt und gefördert werden kann, wird im Beitrag von Erna Herzfeldt und Sonja Sackmann (Teil VII, Kap. „Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen“) aufgezeigt. Eine teambasierte, relationale Führung, die interkulturell sensibel und kompetent ist, erfordert ein neues Selbstverständnis der eigenen Führungsrolle. Auch wenn die Führungskraft mit ihren Teammitgliedern von vorn agiert, wie es Jérôme Fuchs bei der GSG 9 praktiziert, hat die heroische Führung ausgedient. Der von Behörden erzwungene Rücktritt Elon Musks von seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender des von ihm gegründeten Automobilherstellers Tesla Ende September 2018 kann als aktuelles Beispiel für die Probleme und Konsequenzen aufgeführt werden, die ein Agieren im Schnell- und Alleingang als Führungskraft in unserem heutigen Umfeld mit sich bringen kann. Eine teambasierte, relationale Führung beinhaltet, dass die Person in Führungsverantwortung im Regelfall Entscheidungen mit dem hierfür qualifizierten Team bespricht, gemeinsam Best- und ­ Worst-Case-Szenarien entwirft, Chancen und Gefahren diskutiert, zuhören und sich auch zurücknehmen kann, eine durchdachte Entscheidung trifft und dann entsprechend agiert. Dies schließt nicht aus, dass in Krisen- und Sanierungssituationen auch schwierige, meist Personalentscheide selbst getroffen werden müssen, wie einige der Beispiele in den Beiträgen von Frank Richter (Teil III, Kap. „Führung in Unternehmenskrisen“) und Karl Stoss (Teil IV, Kap. „Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition“) zeigen. Künftige Führung beinhaltet auch, dass sich die Person in Führungsverantwortung ihrer eigenen Ressourcen bewusst ist und diese entsprechend einsetzt. Zu diesen persönlichen Ressourcen gehört Zeit, die in unserer westlichen Welt nach wie vor gleich verteilt ist, und bei der daher die Art und Weise, wie sie eingesetzt bzw. genutzt wird, den großen Unterschied macht. So hat schon Peter F. Drucker (1974) aufgezeigt, dass die Arbeit einer Führungskraft nie ausgeht und daher eine bewusste Prioritätensetzung in Kombination mit einer geeigneten Delegation wichtig ist. Erfolgt dies nicht oder unzulänglich, kann eine Führungskraft aufgrund der vielfältigen Anforderungen, die von außen an sie herangetragen werden, die aber auch von ihr selbst kommen können, Burnout-Symptomatiken entwickeln, deren vielfältige Ursprünge und Problematiken in dem Beitrag von Klaus

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­Eidenschink (Teil VI, Kap. „Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für Organisationen dysfunktional geworden sind“) behandelt werden. Um solche Burnout-Symptomatiken zu vermeiden, ist es daher für Führungspersonen ebenso wichtig, bewusst mit ihrer Ressource Gesundheit umzugehen und auf eine angemessene Lebensbalance zu achten – eine Balance zwischen Arbeit, Familie und Freizeit mit körperlichem und geistigem Ausgleich. Hierbei hilft es auch, den unternehmensinternen Führungskontext unterstützend zu gestalten und entsprechend zu nutzen.

3.3

Ein unterstützender Führungskontext

Qualifizierte, engagierte Mitarbeiter sind die zentralen Ressourcen einer Führungsperson, wie die Beiträge von Jérôme Fuchs, Martin Schütte, Sonja Sackmann und Karl Stoss in diesem Band aufzeigen. Zusätzlich gibt es noch Organisationseinheiten, die für Führungspersonen eine wesentliche Stütze sein sollten bei entsprechender Gestaltung und Nutzung durch die Führungspersonen. Diese sind das Personalmanagement sowie das Gesundheitsmanagement. Um die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter und Führungskräfte zu erhalten, sollte sich das betriebliche Gesundheitsmanagement nicht nur um gesundheitlich kritische Fälle und deren Nachsorge kümmern. Wichtig sind v. a. auch Angebote der Gesundheitserhaltung, die auch die jeweils unterschiedlichen Zielgruppen mit ihren Bedürfnissen fokussieren. Hierzu gehören einerseits eine Aufklärung bezüglich gesunder Lebensweise, die sowohl die Ernährung als auch die körperliche und geistige Fitness umfasst, und andererseits entsprechend konzipierte Angebote im Unternehmen und deren Umsetzung. So deckt eine aktuelle Evaluationsstudie eines Achtsamkeitsprogramms positive Wirkungen bei den Teilnehmern auf. Hierzu gehören eine positivere Lebenseinstellung und Lebensbalance. Durch eine stärker fokussierte Zielsetzung wirkte sich das Training auch positiv auf die Arbeitsergebnisse aus (Spickenreither und Sackmann 2018). Wie eine umfassende Gesundheitsförderung aussehen kann, schildert der Beitrag von Hermann Steinkamp, Gesundheitsberater bei der Aesculap AG (Teil II, Kap. „Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der Aesculap AG und Führen im betrieblichen Gesundheitsmanagement“). Manche Unternehmen wie Google setzen u. a. auch auf die Initiative der Mitarbeiter, die von sich aus entsprechende Angebote konzipieren und anbieten (Kohl-­Boas 2017). Ein qualifiziertes und fortschrittliches Personalmanagement unterstützt Führungskräfte in ihrer Führungsarbeit. Dieses beschränkt sich nicht auf die effektive und effiziente Bearbeitung der Kernaufgaben des Personalmanagements, sondern agiert auch als strategischer Businesspartner für die Führung (Ulrich et al. 2009). In dieser Sparringspartner-Rolle berät und unterstützt das Personalmanagement die Führungskräfte bei der Umsetzung ihrer strategischen Geschäftsziele durch geeignete Human-Resources(HR)-Maßnahmen. Hierzu gehören auch die Unterstützung bei der Leistungserbringung, der Weiterentwicklung und der Zufriedenheit der Belegschaft sowie die Unterstützung bei der Planung, Gestaltung und Umsetzung von Veränderungsprozessen. Aufgrund der aktuellen und künfti-

Herausforderungen der Führung und ihre Implikationen für Führungskräfte

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gen Herausforderungen fordern Stephan Kaiser, Arjan Kozica und Georg Loscher (Teil VII, Kap. „Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen“) in ihrem Beitrag zudem, dass ein zukunftsfähiges Personalmanagement einerseits die Flexibilisierung der Personalausstattung sowie auch der Organisation hin zu mehr Agilität unterstützt. Andererseits entwickelt solch ein zukunftsweisendes Personalmanagement selbst eine neue Arbeitsweise, indem es zu den stabilen Prozessen eine Agilitätsdimension entwickelt und somit die Führung bei ihrer innovativen, explorativen Arbeit besser unterstützen kann.

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Fazit

Wie die Ausführungen zeigen, werden künftig die Herausforderungen für Führungskräfte eher zunehmen und z. T. anderer Art sein als bisher. Sie stellen insgesamt hohe Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung von Führungspersonen und ihre Führungsqualität. Eine Kenntnis über und der professionelle Umgang mit den Aufgaben und Werkzeugen einer Führungskraft wie auch die Grundsätze wirksamer Führung (Drucker 2006; Malik 2014) sind dabei das Basishandwerkszeug. Zu diesen Grundsätzen gehören das Wissen um den eigenen Beitrag und die persönlichen Stärken, die im Sinne der zu erreichenden Ziele eingesetzt werden. Aufgrund der vielfältigen Anforderungen und Aufgaben ist es wichtig, sich dabei auf das Wesentliche zu konzentrieren, was auch einen bewussten und effektiven Umgang mit den eigenen Ressourcen wie der körperlichen und geistigen Fitness sowie der zur Verfügung stehenden Zeit erfordert. Konstruktives Denken hilft, auch schwierige Situationen eher zu meistern, und gegenseitiges Vertrauen kann als Schmiermittel zwischenmenschlicher Beziehungen gesehen werden. Zur Kür gehören der wirksame Umgang mit Nicht-Routine- und Krisensituationen, der u. a. eine relationale Führung erfordert, sowie der Umgang mit interkultureller Vielfalt. Bei all diesen Anforderungen und Herausforderungen und deren Jonglieren ist es wichtig, sich selbst und die eigene Balance nicht zu verlieren. Bei der Aufzählung all dieser Anforderungen drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob künftige Führungskräfte zu einer „eierlegenden Wollmilchsau“ mutieren müssen – einem Wesen, das alles können und noch dazu gut schmecken sollte, doch das es gar nicht gibt. Ein Blick darauf, was künftig weniger oder nicht mehr von Führungskräften erbracht werden muss, gibt Entwarnung. Da die heroische Führung in einem VUKA-Umfeld ausgedient hat, können sich Personen in Führungsverantwortung auf ihr sorgfältig ausgewähltes und qualifiziertes Team verlassen, mit dem sie gemeinsam die vielfältigen, sich ändernden Herausforderungen identifizieren, diskutieren, Entscheidungen fällen, und in dem sich die Umsetzung dieser Entscheide sowie deren Kontrolle auf viele Personen verteilt. Da bei solch einer teambasierten Führung im Kontext eines agilen und flexiblen Organisationsdesigns, das auf Selbstorganisationsmechanismen beruht, Mikropolitik und Machtspiele keinen Platz mehr haben, können sich alle Beteiligten mit all ihren Ressourcen auf ihre wertschöpfende Arbeit konzentrieren. Diese verteilte Führung, bei der sich alle Beteiligten für Prozesse und Ergebnisse verantwortlich fühlen, bedeutet auch eine Entschlackung und Entlastung der Personen in Führungsverantwortung.

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S. Sackmann Univ.-Prof. Sonja Sackmann  PhD, ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St.  Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St.  Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

Teil II Der sich wandelnde Führungskontext

Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen Michael Koch, Alexander Richter und Bernhard Katzy

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Enterprise 2.0  3  Freiräume schaffen  4  Orientierung geben  5  Führung 2.0  6  Fazit  Literatur 

 24  25  28  30  31  35  36

Zusammenfassung

Der Begriff Enterprise 2.0 fasst verschiedene Entwicklungen in Organisationen zusammen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass Informationshierarchien durch die Förderung von freiem Austausch in hierarchieunabhängigen Netzwerken bei gleichzeitiger aktiver Beteiligung aller Mitarbeiter ersetzt werden. Zur Umsetzung dieser Ideen leistet Social Software einen wichtigen Beitrag. Neben der Verfügbarkeit der Software sind aber v. a. die Ermöglichung eines einfachen Zugangs sowie die Schaffung von Freiräumen und von Orientierungspunkten notwendig, um Enterprise 2.0 zu implementieren. Die Bereitstellung dieser Freiräume und Orientierungspunkte ist eine der zentralen Aufgaben für die Führung von Wissensarbeitern in Unternehmen. In diesem Kapitel motivieren wir kurz die Entwicklungen hinter Enterprise 2.0 und gehen v. a. auf die Bedeutung dieser Entwicklungen für die Führung ein. M. Koch (*) · B. Katzy Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] A. Richter IT-Universität, Kopenhagen, Dänemark E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_2

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M. Koch et al.

Einführung

Technologische Entwicklungen waren schon häufig der Ausgangspunkt für grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen. Ein Beispiel dafür aus dem Bereich Bildung ist die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg um 1450, die es ermöglichte, Texte schnell und in hoher Auflage zu vervielfältigen. Dadurch, dass Information breit verteilt und damit auch Wissen einer großen Zahl von Menschen zugänglich wurde, verloren kirchliche und adelige Autoritäten einen Teil ihrer Vormachtstellung. Dies katalysierte die Französische Revolution und das Zeitalter der Aufklärung.1 Auch heute sorgen technische Entwicklungen dafür, dass neue Wege der Informationsverteilung und Kommunikation möglich werden. Besonders relevant sind dabei technische Entwicklungen, die Änderungen bei möglichen Zusammenarbeitsszenarien (in und zwischen Unternehmen) ermöglichen. Schon im Jahr 1996 haben Picot, Reichwald und Wigand in ihrem Buch Die grenzenlose Unternehmung (Picot et al. 1996) ausgeführt, dass die zunehmende Verbreitung von Informationstechnologie in und zwischen Unternehmen durch die Senkung von Transaktionskosten zu neuen Zusammenarbeitsmodellen (zwischen Unternehmen) führt, die ohne die Technologie aufgrund der zu hohen Transaktionskosten nicht möglich gewesen wären. Aber zuerst einmal sind viele dieser Entwicklungen gar nicht in den Unternehmen zu sehen gewesen, sondern in der Gesellschaft. Ein besonders Beispiel dafür sind die technologiegestützten Revolutionen in vielen Teilen der Welt. Dezentrale Kommunikationsstrukturen erlaubten es der breiten Bevölkerung, sich auszutauschen und abzustimmen. Im sog. Arabischen Frühling protestierten ab Ende 2010 Millionen Menschen in Nordafrika und dem Nahen Osten in sozialen Medien gegen die dort herrschenden Regime. In mehreren Fällen stolperte die Regierung darüber, dass sie die sog. Graswurzelbewegungen unterschätzte (Badr und Demmelhuber 2014; Tufekci und Wilson 2012). Etwa zeitgleich wurde auch in Deutschland (primär von der Piratenpartei getrieben) diskutiert, wie neue Technologien zu mehr Demokratie beitragen können (Alter 2014). Neben leicht verfügbaren (mobilen) Zugängen zum Internet hat zu den im vorherigen Absatz angesprochenen Bewegungen auch und v. a. das Web 2.0 beigetragen. Zum Web 2.0 ist die am meisten zitierte Beschreibung die von Tim O’Reilly in seinem Beitrag „What is the Web 2.0“ (O’Reilly 2005). O’Reilly fasst das Web 2.0 (im Vergleich zum Web 1.0) darin zusammen als • eine Architektur der Beteiligung, • frei kombinierbare Datenquellen und • einfach konfigurierbare und kombinierbare Dienste anstelle von monolithischen Softwarepaketen.  Siehe z. B. Eisenstein (1997 – s. Weiterführende Literatur) für eine ausführliche Beschreibung des entsprechenden technologischen Wandels und der dadurch ermöglichten Entwicklungen. 1

Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen

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Das wichtigste Konzept ist dabei die Beteiligung, was eine freie Zusammenarbeit von möglichst vielen bedeutet, ohne Einschränkungen von Organisationen, Prozessen, Technologien oder bestimmten Plattformen. Social Software wird häufig als Untermenge des Web 2.0 dargestellt  – als Software oder Dienste, die „support, extend or derive added value from human social behavior“ (Coates 2005). McAfee (2006) fasst die (charakterisierenden) Eigenschaften von Social Software in dem Akronym SLATES („search, links, authoring, tags, extensibility, signals“) zusammen. Wir selbst verwenden eine leicht angepasst Version dieser Eigenschaften (Koch und Richter 2009, S. 14): • So einfach wie möglich selbst Beiträge veröffentlichen oder Inhalte editieren können („authoring“) • Durch Tagging einfach strukturierende Metadaten beitragen können („tags“) • Durch Annotations- und Verlinkungsmöglichkeiten einfach zusätzliche Inhalte und Metadaten bereitstellen können („authoring“, „links“) • Durch Abonnierungsmöglichkeiten einfach auf neue Inhalte aufmerksam gemacht werden können („signals“) • Inhalte einfach auffindbar machen („search“, „tags“) • Modularer, dienstorientierter Aufbau der Anwendungen („extensions“) Diese Kerneigenschaften sind heute in verschiedenen Anwendungsklassen wie Wikis, Blogs oder Microblogs sowohl im öffentlichen Internet als auch in Software zur Kommunikation im Unternehmen verfügbar. Natürlich gibt es die Diskussion der Verwendung von Computern als soziales Medium und zur Ermöglichung einer Kommunikation ohne zentrale Knoten oder Hierarchien nicht erst seit den 2000er-Jahren. Die Grundideen gehen auf die Anfangszeit des Internets zurück – z. B. in den Arbeiten von Busch, Engelbart und Licklider (Busch 1945; Engelbart 1963; Licklider und Taylor 1968). Auch die Motivation hinter dem Design des Internets (und der Internetprotokolle) selbst war schon Ende der 1960er-Jahre, ein System ohne zentrale Knoten zu schaffen (Hafner und Lyon 1996).

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Enterprise 2.0

In seinem Beitrag „Enterprise 2.0: The Dawn of Emergent Collaboration“ beschreibt Andrew McAfee bereits 2006, wie Social Software im Unternehmenskontext eingesetzt werden kann, um die Zusammenarbeit der Mitarbeiter zu unterstützen (McAfee 2006). McAfee verwendet dabei den Begriff Enterprise 2.0, um im Bereich Web 2.0 auf Plattformen zu fokussieren, die von Unternehmen eingesetzt werden, um die Praktiken und Ergebnisse ihrer Wissensarbeiter sichtbar zu machen.

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M. Koch et al.

Die Neuerung bei Enterprise 2.0 ist, dass Informationshierarchien durch die Förderung von freiem Austausch in hierarchieunabhängigen Netzwerken bei gleichzeitiger aktiver Beteiligung aller Mitarbeiter ersetzt werden – ermöglicht durch Social Software. Das erste sichtbare Zeichen für die Adoption von Social Software in Unternehmen waren unternehmensinterne Weblogs und Wikis. Insbesondere in Softwareprojekten wurden Wikis früh als zusätzliche Möglichkeit der Kommunikation ohne große Formalismen eingeführt. Gegenüber anderen Werkzeugen zur Kommunikationsunterstützung oder zum Wissensmanagement bietet Social Software laut McAfee bessere Möglichkeiten, implizites Wissen („tacit knowledge“) und Best Practices unternehmensweit verfügbar zu machen. In diesem Zusammenhang nennt McAfee seine Anforderungen, damit Enterprise 2.0 funktionieren kann: • Das Schaffen einer offenen Unternehmenskultur („Create a receptive culture“) • Eine Plattform (im Intranet), auf der die Zusammenarbeit möglich wird („A common platform must be created to allow for a collaboration infrastructure“) • Change Management, das auf die Bedürfnisse der Nutzer eingeht, statt an formalen Prozessen festzuhalten („An informal rollout of the technologies may be preferred to a more formal procedural change“) • Commitment von der Unternehmensführung („Managerial support and leadership is crucial“) Social Software (und die sich verändernden Unternehmenskulturen) bieten einen ausgezeichneten Ausgangspunkt, um die Zusammenarbeit in einem Unternehmen zu verbessern. Ein Unternehmen kommt jedoch nicht umhin, sich mit seinen Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen. Enterprise 2.0 bedeutet nicht: Installieren wir ein Wiki hier und zwei Weblogs da und dann schauen wir einmal. Das kann außerhalb eines Unternehmens funktionieren – im Unternehmen muss die Einführung aber klarer in den Unternehmenskontext eingebettet sein und mit organisatorischen oder kulturellen Maßnahmen begleitet werden.2 Ein Artikel in der Zeitschrift InformationWeek beschreibt dies sehr anschaulich: […] Enterprise 2.0 can’t just be about a wiki here, a blog there forever. Taken together, the emergence and convergence of Web 2.0 and IP communications is what will determine whether there’s truly an Enterprise 2.0. It’s a new architecture defined by easier, faster, and contextual organization of and access to information, expertise, and business contacts – whether co-workers, partners, or customers. And all with a degree of personalization sprinkled in. (Hoover 2007)

Im weiteren Verlauf des Kapitels gehen wir zuerst auf Technologien zur Ermöglichung von Enterprise 2.0 und die damit verbundenen Herausforderungen für Unternehmen ein. Dann diskutieren wir die Querschnittskonzepte Freiräume und Orientierungspunkte, die uns für die erfolgreiche Umsetzung von Enterprise 2.0 zentral erscheinen, und führen diese Diskussion zu einer Diskussion einer Führung 2.0 fort.  Beispiele zur erfolgreichen Umsetzung von Enterprise 2.0 in Unternehmen können in verschiedenen Büchern zum Thema (z. B. Koch und Richter 2009 sowie Richter 2014) oder auch auf der Fallstudienplattform www.e20cases.org gefunden werden. 2

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Technologien zur Ermöglichung von Enterprise 2.0 Das öffentliche Mitmach-Web wurde möglich durch verschiedene technische Entwicklungen aufseiten der Client-Programme, der Server-Programme bzw. -Protokolle und aufseiten der Infrastruktur; neben interaktiven Web-Benutzungsschnittstellen und dem Fokus auf Modularität und Datenzentriertheit von Diensten waren das v. a. die bezahlbare Verfügbarkeit von breitbandigen Internetzugängen, die Verfügbarkeit breitbandiger mobiler Internetzugänge und neue Geräteklassen zum mobilen Zugriff (Smartphones und Tablets). Während die Verfügbarkeit von Internetzugängen zu Hause schon einen großen Zuwachs an Mitarbeitspotenzial gebracht hat, steigt dieses durch die Verfügbarkeit günstiger, breitbandiger mobiler Internetzugänge weiter an. So wird 2013 eine weitere Steigerung der täglichen Nutzungsdauer des Internets von 133 auf 169 Minuten festgestellt, die hauptsächlich der gestiegenen Nutzung mobiler Endgeräte und der zunehmenden Bedeutung von Unterwegsnutzung geschuldet ist (Eimeren 2013; Eimeren und Frees 2013). Wichtig dabei war neben der Verfügbarkeit breitbandiger mobiler Internetzugänge (zu bezahlbaren Pauschaltarifen) v. a. die Entwicklung neuer Geräteklassen zum mobilen Zugriff – konkret die Geräteklassen der Smartphones und (Media-)Tablets. Anstelle nur eines PC stehen heute in jedem Onliner-Haushalt durchschnittlich 5,3 internetfähige Endgeräte zur Verfügung. Insgesamt verfügen 56 % aller deutschen Online-Nutzer über ein Smartphone und 19 % über ein Tablet (Eimeren 2013). Der Begriff Onliner-Haushalt wird in den ARD/ZDF-Online-Studien benutzt, um Haushalte zu kennzeichnen, deren befragte Mitglieder das Internet nutzen. In der Studie 2013 waren das 77,2 % der befragten Haushalte (Eimeren und Frees 2013). Die neuen Geräte zeichnet neben der Personengebundenheit und der Möglichkeit zum Zugriff auf personenbezogene Daten wie Terminkalender- und Kontaktinformation insbesondere die Kontextsensitivität aus, d. h. die Möglichkeit, den aktuellen Standort (des Geräts und damit des Benutzers) zu bestimmen oder über andere Sensoren wie z. B. für Beschleunigung oder Helligkeit verschieden auf die Umgebung reagieren zu können. Interessant im Zusammenhang mit mobilen Endgeräten ist weiterhin, dass die neuen Geräte inzwischen nicht nur für private Nutzung verwendet werden, sondern auch für die Arbeit. So kam in einer aktuellen Studie (Kempf 2013) heraus, dass 87 % der Befragten Computer für ihre tägliche Arbeit nutzen – und immerhin 67 % Handys oder Smartphones und 79 % andere mobile Geräte. Die Verfügbarkeit breitbandiger mobiler Internetzugänge zusammen mit den neuen mobilen Zugangsgeräten haben es also möglich gemacht, dass man auch außerhalb klassischer Arbeitsplätze im Internet aktiv sein und damit auch an Kommunikationskanälen mitwirken kann. Damit ist eine Arbeit außerhalb des Arbeitsplatzes möglich geworden. Dazu werden wieder und verstärkt bisher nicht genutzte Zeitbudgets angezapft – Shirky (2010) spricht von Freizeit-Zeitbudgets, in der ARD/ZDF-Online-Studie ist beispielsweise von Unterwegsnutzung die Rede (Eimeren 2013). In der oben genannten Studie (Kempf 2013) gaben z. B. von 400 Berufstätigen, die mobile Geräte für die Arbeit nutzen, 62 % an, dass sie zumindest hin und wieder von zu Hause aus arbeiten; 55 % arbeiten zumindest hin und wieder unterwegs (also im Auto, im Zug, im Hotel oder sonstigen Orten). Und nur 25 % der Befragten gaben an, gar nicht abseits des festen Arbeitsplatzes zu arbeiten.

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Zu den Vorteilen der Verfügbarkeit von dauerhaftem mobilen Zugang zum Internet und allgemein zu Informationsströmen schreiben Sarker et al. (2012): • • • • • •

Potenzial einer ununterbrochenen Verbindung zu Menschen und Informationsressourcen Erhöhte Flexibilität Verbesserte Koordination Erhöhte Produktivität durch Flexibilität im Zeitmanagement Vergnügen und Freude (freudvolle Nutzung) Verfügbarkeit verschiedener Medien und Kommunikationsmöglichkeiten für unterschiedliche Kommunikationsszenarien

Im Institut eines der Autoren dieses Beitrags wurden die angesprochenen Möglichkeiten beispielsweise schon 2000 genutzt, um eine weitgehend ortsunabhängige Zusammenarbeit zu realisieren  – und zwar nicht nur für einzelne Mitarbeiter, sondern auch für die Führung des Instituts. Der Leiter des Instituts hat daraufhin sogar sein persönliches Büro aufgegeben. Dies stellte sich allerdings als großes Problem für die Organisation heraus. Denn ein Professor muss ein Büro haben. Eine Telefonnummer bekommt man nur für einen Büroraum. Und ohne Raumnummer und Telefonnummer ist man für die Organisation nicht existent. Hier mussten viele Anstrengungen unternommen werden, um die sinnvolle Entwicklung auch tatsächlich gehen zu können.

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Freiräume schaffen

Eine Gemeinsamkeit aller im Kontext von Enterprise 2.0 angesprochenen Veränderungen ist, dass für ihre erfolgreiche Implementierung mehr Freiräume für Mitarbeiter geschaffen werden müssen – Freiräume, wie ein Informationssystem genutzt werden und wann und wie der eigene Beitrag zur gemeinsamen Arbeit geleistet werden kann. Freiräume sind dabei sowohl das explizite Erlauben der Nutzung an sich als auch die Ermöglichung der Nutzung durch Aufbrechen der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit durch die Möglichkeit, eigene Geräte und Dienste (BYOD, BYOS) auch für Arbeitstätigkeiten zu verwenden. Zum Erlauben der Nutzung an sich gehört auch die Freiheit (Möglichkeit), die passende Anwendung oder Information für den eigenen Bedarf zu finden  – gern auch mit Long Tail bezeichnet. Hierunter versteht man den langen hinteren Teil der nach Zahl der Interessenten sortierten Informations- oder Anwendungsangebote in einem Kontext. Während ohne die technischen Entwicklungen die Kosten dazu geführt haben, dass nur Informationsangebote bereitgestellt worden sind, die eine hohe Zahl von Interessenten aufweisen, hat die Reduktion der (Transaktions-)Kosten durch die neuen Technologien dazu geführt, dass auch Angebote befriedigt werden, die nur sehr wenige Interessenten (Nutznießer) haben.

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The theory of the Long Tail is that our culture and economy is increasingly shifting away from a focus on a relatively small number of „hits“ (mainstream products and markets) at the head of the demand curve and toward a huge number of niches in the tail. (Anderson 2006)

Die in den bisherigen Abschnitten vorgestellten technologischen Entwicklungen haben aber noch weiteres Potenzial zur Schaffung von Freiräumen. Eine große Erleichterung bei der Nutzung von IT-Systemen (v. a. zur Kommunikation und Kooperation miteinander) wird beispielsweise durch die Öffnung von Firmennetzen erreicht. Dazu gehört auch die Ermöglichung der Nutzung über Mobilgeräte. Eine weitere Vereinfachung wird durch die Ermöglichung des Einbringens von bevorzugten Geräten und Diensten in das Firmenumfeld erreicht. Viele Unternehmen versprechen sich davon „better productivity, better satisfaction“ (Harris et al. 2011). Mit diesen Aktivitäten wird erreicht, dass Benutzer zufriedener mit ihrer IT sind und neue Dienste schneller nutzen können als mit klassischen Informationsmanagementstrukturen in Unternehmen möglich. Auch wenn noch nicht überall erlaubt, so ist dies schon weitverbreitet. Die beiden gerade besprochenen Freiräume zielen beide darauf ab, die Entscheidung über Medium, Zeit und Ort der Kommunikation und Kooperation dem Nutzer zu überlassen. Auch im Unternehmen ist die bevorzugte Zeit hierfür meist nicht die Zeit, wenn konzentriert am Rechner gearbeitet wird, sondern wenn man sich abseits von Desktop-­Rechnern aufhält. Hierauf zielt der verstärkte Einsatz von ubiquitären Schnittstellen ab. Neben mobilen Schnittstellen erlauben Schnittstellen wie große interaktive Wände oder interaktive Tische, dass Mitarbeiter in halböffentlichen sozialen Kontexten Informationen finden und damit interagieren, die sie sonst nie gesucht hätten (Koch und Ott 2011; Ott und Koch 2012). Interessant bei der Betrachtung des in den letzten Abschnitten angesprochenen technologischen Wandels ist, dass sich die Initiative für die Nutzung von technologischen Neuerungen von den Unternehmen zu den Mitarbeitern verlagert hat. Das bedeutet nicht nur, dass Mitarbeiter für ihre privaten Aktivitäten bessere und modernere Geräte nutzen, als sie von ihren Unternehmen für die Arbeit bereitgestellt bekommen, sondern dass die Mitarbeiter diese Geräte auch zur Erledigung ihrer Arbeit nutzen. Neuerdings betrifft dies nicht nur Geräte, sondern auch Dienste. Begriffe in diesem Zusammenhang sind Bring-Your-Own-Device (BYOD) und Bring-­ Your-­Own-Service (BYOS) oder allgemein „consumerization“. „Consumerization“ von Informationstechnologie verweist auf einen aktuellen Trend, dass Medien und Werkzeuge aus dem „consumer sector“ immer mehr das berufliche Umfeld infiltrieren (Weiß und Leimeister 2012). In einer Umfrage Ende 2011 bei 500 Führungskräften in Europa, dem Mittleren Osten und Afrika antworteten 70 % der Befragten, dass ihr Unternehmen den Mitarbeitern die Nutzung eigener mobiler Geräte erlaubt; 54 % sagten sogar, dass explizite Unterstützung für fremde Geräte geboten wird; immerhin 40 % können Produktivitätsanwendung selbst wählen, wenn sie der Meinung sind, dass es bessere Alternativen gibt (Watson 2011). Eine weitere Umfrage hat 2011 ermittelt, dass 67 % der deutschen Angestellten ihre persönlichen Geräte für berufliche Zwecke nutzten. In anderen Ländern lag diese Rate teilweise noch höher (Harris et al. 2011).

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Einschränkend kann hier noch angeführt werden, dass zwar häufig aus dem privaten Umfeld neueste Technologien bekannt sind und genutzt werden, dies aber nicht automatisch zu einem nutzbringenden Einsatz im Unternehmen befähigt (Watson 2011). Weiterhin sind manche Technologien auch erst durch Netzwerkeffekte in Organisationen nutzbringend einsetzbar. Hier ist also noch Potenzial für Steuerung und Optimierung in Unternehmen. Daneben gibt es noch die schon bei der Besprechung der mobilen Technologien angesprochenen Probleme mit Trennung von Arbeit und Freizeit (s. z. B. Sarker et al. 2012).

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Orientierung geben

Auch wenn es widersprüchlich erscheint: Damit sich dynamische Arbeitsformen und Organisationsstrukturen in Unternehmen entwickeln können, sind insbesondere feste Regeln (z.  B.  Weisungen) und flexible Regeln (z.  B.  Social Guidelines) hilfreich. Sie schaffen Sicherheit für Mitarbeiter sowie Führungspersonal. In den Unternehmen umfassen die festen Regeln, die oftmals Weisungen oder Verordnungen genannt werden und von der Geschäftsführung oder den Zentralabteilungen initiiert werden, folgende Themen: • Ausgangslage/Motivation: Welche Ziele werden verfolgt? Zum Beispiel bessere Vereinbarkeit von Beruf mit Familie, Gesundheit, Wohnort • Voraussetzungen, Umfang und Ablauf: Was muss ein Mitarbeiter tun, um die neuen Arbeitsformen nutzen zu können? • Arbeitszeit und Rahmen: Zu welchen Anlässen kann der Mitarbeiter die Form der Arbeit wählen? Gibt es Kernarbeitszeiten? Welche Versicherungen regeln den Schutz der Mitarbeiter bei den unterschiedlichen Formen der Arbeit? • Nebenbedingungen: Wer übernimmt welche Kosten? Gültigkeit und Möglichkeiten der Änderungen der Regelungen? • Die etwas informelleren flexiblen Regeln, die meist von den Mitarbeitern bereits gelebt und z. T. dokumentiert sind, umfassen die Themenschwerpunkte: –– Erwartungshaltung: Umgangsformen mit den neuen Medien (Netiquette) und Reaktionszeiten –– Umgang mit der Entgrenzung der privaten und beruflichen Welt im Zuge der Nutzung neuer Arbeitsformen –– Aufbereitung von Best Practices bei der Nutzung von unterschiedlichen Kommunikationskanälen und Kollaborationsmöglichkeiten Ein großer Teil der Regeln beschäftigt sich mit der Verminderung der Unsicherheit aufseiten der Nutzer: Unsicherheit darüber, was gemacht werden darf und was nicht; Unsicherheit darüber, wie die neuen Möglichkeiten von direktem Nutzen für einen selbst sein können. Die Notwendigkeit zur Verminderung von Unsicherheit hat mit der Nutzungsoffenheit

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von Social Software zu tun (Richter und Riemer 2013). Die Software ist nicht in klare Prozesse eingebunden, die vorschreiben, wie und für was sie genutzt werden soll, sondern es steht den Nutzern offen, wie sie die Software nutzen. Zumindest als ein Teil der angesprochenen Orientierungshilfen sehen wir deshalb eine nutzenorientierte Dokumentation: also nicht eine Dokumentation der einzelnen Features der Social Software, sondern eine Dokumentation dazu, wie die Nutzer aus der Social Software Nutzen für ihre Aufgaben ziehen können. Verschiedene Möglichkeiten einer nutzenorientierten Dokumentation sind z. B.: • Berichte über Nutzungsmöglichkeiten der Plattform (in On- oder Offline-­ Veröffentlichungen). Hier spielen auch Mechanismen wie Mund-zu-Mund-Propaganda oder Virales Marketing sowie die Glaubwürdigkeit und Authentizität von Promotoren und Key Usern eine große Rolle. • Sammlung von konkreten Nutzungsbeispielen in Form von Berichten, in denen Nutzer von eigenen Erfolgen mit der Plattform berichten, z. B. in Beiträgen in der Mitarbeiterzeitung, als Teil der Online-Dokumentation, in Anwenderblogs oder auch als simpler Post eines Mitarbeiters mit einem Hashtag markiert (z. B. #bestpractice). Beides kann entweder in Textform, als Podcast oder auch in Form von Szenarienplakaten oder Comics umgesetzt werden. Beide Arten von Regeln wurden insbesondere dann gut angenommen, wenn sie entweder mit den Mitarbeitern oder direkt von ihnen selbst entwickelt wurden (partizipativer Entstehungs- und Entscheidungsprozess). Als ein erprobtes Vorgehen hat sich in größeren Organisationen gezeigt, zuerst eine breite Sammlung von Ideen und Anregungen in Bezug auf das Regelwerk durch eine Umfrage vorzunehmen und diese Ergebnisse in Workshops mit Kleingruppen zu verfeinern. Die größte Barriere sind das Verständnis und die Akzeptanz für die Regelwerke. Wenn die Mitarbeiter die Notwendigkeit der Regeln nicht verstehen oder die Regeln unklar sind, können diese nicht die gewünschten Effekte erzielen. Es bedarf eines offenen Kommunikationsprozesses und der nötigen Zeit, die Regelwerke zu erklären. Die Akzeptanz kann durch hohe Partizipation der Mitarbeiter im Entstehungsprozess signifikant gesteigert werden.

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Führung 2.0

In den letzten Abschnitten kam schon immer wieder am Rande das Thema Führung zur Sprache: Mit der Loslösung von zentralen Strukturen ist erst mal keine Führung über Informationsmanagement mehr möglich. Auch die Freiräume stellen neue bzw. geschärfte Anforderungen an die Führung. Und auch die im Abschnitt zu Orientierung angesprochenen Anforderungen sind aktuell nicht immer im Führungsrepertoire vorhanden. Eine neue Art der Führung wird durch die Veränderungen möglich und – vor dem Hintergrund dieses Wandels – auch notwendig. Im Folgenden wird ein Paradigmenwechsel in

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der Führungsforschung erläutert und auf Grundlage dessen aufgezeigt, wie sich das Rollenrepertoire einer Führungskraft 2.0 verändert.3 Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, bedarf es neuer Führungsparadigmen. Dabei sehen wir die Führungskraft 2.0 in drei neuen Rollen: Die Führungskraft lebt als Facilitator Werte und Einstellungen im Unternehmen vor und unterstützt diese, um die Zusammenarbeit über Social Software zu fördern. In den neuen Organisationsstrukturen meistert sie als Primus inter Pares den Spagat zwischen netzwerkorientierter Zusammenarbeit und klassischer Unternehmenshierarchie. Als Virtual Leader beweist sie ihre Führungsqualitäten auch auf Distanz.

5.1

Führungskraft 2.0: Facilitator

Viele Versuche, Veränderungen in einem Unternehmen herbeizuführen – seien sie noch so gut geplant –, scheitern, weil die Führungskräfte den eingeschlagenen Weg nicht konsequent weiterverfolgen (Henry 2013). Aus diesem Grund sind alle Führungskräfte in der Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen, Veränderungen vorzuleben und die Mitarbeiter ebenfalls zu mehr Offenheit zu motivieren, indem sie zeigen, dass hierarchielose Zusammenarbeit, Geben von Feedback etc. gewünscht sind (Li 2010). Eine Kultur des Teilens und der Transparenz ist eine wichtige Grundlage für die erfolgreiche Zusammenarbeit – egal, ob mit oder ohne Social Software – und diese kann durch eine transformationale Führung realisiert werden (Avolio et al. 2000). Ist eine offene Unternehmenskultur erst einmal etabliert, hat sie eine stärker leitende Wirkung auf die Mitarbeiter und vereinfacht transaktionale Führungsprozesse. Es wird ein Rahmen geschaffen, der Mitarbeitern in einem unsicheren Umfeld Halt und Orientierung gibt (Hartnell und Walumbwa 2011). Um die Kultur zu prägen, sollten Ziele und Visionen der gewünschten Unternehmenskultur durch die Führungskraft getragen werden (Hartnell und Walumga 20110). Die Führungskraft tritt als Leitfigur auf. Durch das Kommunizieren ihrer Visionen begeistert die Führungskraft ihre Mitarbeiter für die Einführung der Social Software („inspirational motivation“) und gewinnt sie durch vorbildliches Verhalten auf der Plattform als motivierte Nutzer („idealized influence“). Durch berechenbares Handeln und offene Kommunikation eigener Entscheidungen und Handlungen im Netzwerk ist sie in der Lage, Transparenz zu schaffen und damit den Grundstein für ein Vertrauensverhältnis zu legen (Brake 2006; Tapscott und Ticoll 2003). Je authentischer die Führungskraft dabei auftritt, desto mehr Vertrauen generiert sie (Gardner et al. 2009; Walumbwa et al. 2008). Der mündige Mitarbeiter begrüßt diese Authentizität und erwartet sie von allen Führungsebenen. Aus diesem Grund ist auch das Management gut beraten, sich von formalisierten Mitteilungen, verfasst von Kommunikationsexperten, abzuwenden und den Fokus auf einen persönlicheren Dialog mit der Mitarbeiterschaft zu legen. Gewicht und Relevanz von Aussagen sind […] in sozialen Netzwerken nicht von der Stellung in der Hierarchie als vielmehr von der persönlichen Glaubwürdigkeit abhängig. (Nonnast 2011) 3

 Siehe auch Richter und Zagst (2014) für eine ausführlichere Darstellung dieses Themas.

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Ebenso ist es Aufgabe der Führungskraft, im Wandlungsprozess entstehende Lücken durch entsprechendes Führungsverhalten auszubalancieren („complementary fit“) und den Mitarbeitern dadurch Orientierung zu geben. So muss sich etwa Selbstorganisation und mehr Verantwortung der Mitarbeiter erst in der Unternehmenskultur etablieren und sollte daher von der Führungskraft aktiv (ein-)gefordert werden (Burns et al. 2013; Malhotra et al. 2007). Die Kultur des Teilens und der Transparenz bringt natürlich auch Risiken mit sich: Die Informationstransparenz und Schnelllebigkeit der Social Software üben Druck auf die Führungskräfte aus, da sich Informationen rasant verteilen können und der Informationsfluss dabei weitaus weniger gesteuert werden kann (Avolio und Kahai 2003). Äußerungen und Handlungen können im Netzwerk von einer breiten Masse hinterfragt werden – die Führungskraft muss jederzeit in der Lage sein, darauf zu reagieren. Ein aktives Management der eigenen Authentizität und Transparenz ist daher wichtig: Authentizität darf nicht übertrieben und Transparenz nicht als völlige unkontrollierte Offenheit verstanden werden (Li 2010).

5.2

Führungskraft 2.0: Primus inter Pares

Effektives Führen von Spezialisten bedeutet Delegation und Koordination sowie das Einbinden der Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse (Hersey und Blanchard 1977; von Rosenstiel 2009). In diesem Zusammenhang weicht das klassische Command-andControl-­ Führungsparadigma einem neuen Rollenverständnis (McGonagill und Doerffer 2011). Dabei wird der Vorgesetzte nach Wunderer (2011, S. 170) zum Primus inter Pares – zum Kollegen des Mitarbeiters, ohne dabei die Chef-Rolle aufzugeben. Vernetzte Führung ist kollektive Führung, [sie] entsteht durch gemeinsames Handeln von Individuen, die an der Entwicklung einer neuen Vision oder an der Lösung von Problemen arbeiten. (Tapscott 1996, S. 294)

Führung wird dabei weniger als Rolle und mehr als Tätigkeit verstanden (Fletcher 2004; McGonagill und Doerffer 2011). Die Führungskraft 2.0 versteht sich dabei einerseits als Dienstleister für die Mitarbeiter. Sie schafft die nötigen Rahmenbedingungen für die Arbeit ihres Teams und führt es erfolgreich zum Ziel (Buhse 2010). Vor dem Hintergrund neuer Formen der Zusammenarbeit, insbesondere den großen Freiräumen, die die Zusammenarbeit über Social Software bietet, fördert die Führungskraft die Selbstorganisation der Mitarbeiter (Wunderer 2011) und agiert als Richtungsgeber, Koordinator und Moderator (Avolio und Kahai 2003; Haeckel 1999; Zaccaro und Bader 2003). Weiterhin ist sie Coach und Mentor, zeigt ein hohes Maß an Empathie gegenüber ihren Mitarbeitern, greift ihnen bei Bedarf unter die Arme und ist in Verantwortung für deren Weiterentwicklung (Kayworth und Leidner 2002; Walumbwa et al. 2008). Andererseits ist ein hoher Grad an Partizipation selbstorganisierter Mitarbeiter nicht in jeder Führungssituation sinnvoll (McGonagill und Doerffer 2011). Die Führungskraft muss ebenso in der Lage sein, Chef zu sein, Kontrolle zu behalten und mithilfe ihrer Position in der Organisationshierarchie Entscheidungen zu treffen und diese auch gegen Widerstand durchzusetzen (Wunderer 2011). Weiterhin bietet rein partizipative Führung

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bei komplexen Herausforderungen und fluiden Systemstrukturen – wie sie in der Zusammenarbeit über Social Software vorzufinden sind – zu wenig Halt. Quistorp (2011, S. 82) empfiehlt den Führungskräften in diesem Zusammenhang eine „konstruktive Autorität“, die sie wie folgt definiert: „Halt und Orientierung geben, Fordern und Fördern, Grenzmarkierungen für Handlungsspielräume und gelebter Präsenz, Ein- und Zusammenstehen für die vertretenen Prioritäten sowie Zielsetzungen und Anforderungen“. Die Führungskraft 2.0 muss je nach Führungssituation festlegen, wie viel Kontrolle sie abgibt. Sie muss in der Lage sein, zwischen Führung in hierarchischen Organisationsstrukturen und Führung in der netzwerkorientierten Zusammenarbeit umzuschalten. Dazu bedarf es eines ambivalenten Rollenrepertoires, das sowohl die Rollen des Kollegen also auch des Chefs abdeckt und sowohl transformationales als auch transaktionales Führungsverhalten umfasst.

5.3

Führungskraft 2.0: Virtual Leader

Aufgrund des Wandels hin zur virtuellen Führung benötigt eine Führungskraft neues Wissen und neue Fähigkeiten, darunter die Fähigkeit, digital zu kommunizieren, und die Fähigkeit, Vertrauen und Beziehungen über digitale Kanäle aufzubauen (DasGupta 2011; McGonagill und Doerffer 2011). Um als Führungskraft eine effiziente virtuelle Zusammenarbeit zu ermöglichen, aber auch um als Führungskraft im virtuellen Umfeld akzeptiert zu werden, sind gute schriftliche Kommunikationsfähigkeiten über digitale Medien notwendig (Kayworth und Leidner 2002). Da nutzungsoffene Anwendungssysteme wie Social Software ein vielseitigeres und reichhaltigeres Kommunikationsrepertoire bieten, sollten ihre Nutzer im zielorientierten Umgang mit dem geeigneten Kommunikationskanal versiert sein (McGonagill und Doerffer 2011). Führungsqualitäten nützen nichts, solange diese nicht ins virtuelle Umfeld projiziert werden (können). Wichtig ist dabei nicht nur, sich klar und präzise auszudrücken, sondern auch die nötigen Kontextinformationen mitzuliefern (Brake 2006). Dazu ist eine regelmäßige, offene Kommunikation vonseiten der Führungskraft vonnöten (Kayworth und Leidner 2002). Weiterhin ist es Aufgabe der Führungskraft, ihre Mitarbeiter im Aneignungsprozess der eingesetzten Technologie zu unterstützen und die Verständigung zwischen den Mitarbeitern eines virtuellen Teams zu optimieren (Brake 2006). Dazu empfiehlt sich ein aktives Management der Kommunikation (z. B. durch Aufstellen von Kommunikationsleitfäden oder -regeln) durch die Führungskraft (Brake 2006). Digitale Kommunikation dient nicht nur der Koordination, sondern auch dazu, Vertrauen im Team und gegenüber der Führungskraft aufzubauen (Jarvenpaa und Leidner 1999). Im virtuellen Umfeld ist die Vertrauensbildung aufgrund des geminderten persönlichen Kontakts jedoch erschwert und erfordert daher vermehrte Anstrengungen der Führungskraft (Jarvenpaa und Leidner 1999). Digitale Kommunikationsfähigkeiten sind eine wesentliche Voraussetzung, Vertrauen im virtuellen Umfeld zu generieren. Die Führungskraft sollte über das Medium erreichbar sein und regelmäßig Feedback geben (Brake 2006; Kayworth und Leidner 2002). Eigene Handlungen und Vorhaben sollte sie im virtuellen Arbeitsumfeld transparent machen und die Mitarbeiter stets auf dem Laufenden

Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen

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halten (Brake 2006). Dabei gilt im Allgemeinen: je reichhaltiger das genutzte Medium, desto höher das erzeugte Vertrauen (Avolio et al. 2000). Dem Management sozialer Beziehungen kommt im virtuellen Umfeld ebenfalls größere Bedeutung zu, da Beziehungen zu und zwischen den Mitarbeitern ebenfalls unter der räumlichen Trennung leiden (Avolio et al. 2000). Das Erkennen von fachlichen Problemen der Mitarbeiter wie auch von schwelenden sozialen Konflikten wird schwerer (Hofmann und Regnet 2009). Aus diesem Grund ist emotionale Intelligenz für eine Führungskraft im virtuellen Umfeld noch relevanter und beziehungsorientierte Aufgaben gewinnen an ­Gewicht (Zaccaro und Bader 2003). Die Führungskraft ist in der Pflicht, den Zusammenhalt und die Identifikation mit dem Team zu stärken und „awareness“ für Teammitglieder und deren Aktivitäten zu schaffen (Avolio et al. 2000; Kayworth und Leidner 2002). Problemfelder muss sie rechtzeitig erkennen und sie muss in der Lage sein, die Kooperation ihres Teams (Wie ist der Informationsfluss? Wird ausreichend kommuniziert?) einzuschätzen (Hofmann und Regnet 2009). Der regelmäßige persönliche Kontakt darf dabei nicht vernachlässigt werden (Malhotra et al. 2007). Da die Führungskraft ihren Status und ihre Präsenz im virtuellen Umfeld nicht wie gewohnt ausdrücken kann (z. B. durch ihr Büro, Kleidung, Sitzplatz in Meetings oder Körpersprache), muss sie zudem lernen, eine Telepräsenz innerhalb des Mediums zu entwickeln (Zigurs 2003). Diese kann – wie die Steigerung des Vertrauens  – durch regelmäßige Kommunikation und Nutzung reichhaltiger Kommunikationskanäle erreicht werden (Zigurs 2003).

6

Fazit

In diesem Beitrag haben wir die durch verschiedene technologische Entwicklungen möglich gewordene Dezentralisierung von Informations- und Kommunikationsstrukturen in Organisationen vorgestellt. Enterprise 2.0 bietet durch den Einsatz von Social Software die Möglichkeit, Informationshierarchien in Unternehmen durch die Förderung von freiem Austausch in hierarchieunabhängigen Netzwerken bei gleichzeitiger aktiver Beteiligung aller Mitarbeiter zu ersetzen oder zu ergänzen. Bei der erfolgreichen Umsetzung von Enterprise 2.0 sind neben der Bereitstellung der Social Software allerdings mehrere Anforderungen zu berücksichtigen. Wir haben in diesem Beitrag dabei v. a. die Notwendigkeit zur Schaffung und Kommunikation von Freiräumen für die Mitarbeiter bei gleichzeitiger Bereitstellung von Orientierungshilfen herausgestellt. Enterprise 2.0 ist also normalerweise keine Revolution von unten, die Führung unnötig macht, sondern eine Weiterentwicklung von Organisationen, die neue Anforderungen an Führung stellt. Auf das Führungsparadigma Einfluss haben dabei vor allem folgende drei Veränderungen: der kulturelle Wandel auf individueller und organisationaler Ebene, neue Organisationsstrukturen und der Übergang ins Virtuelle. Ausgehend von diesen Betrachtungen haben wir die drei Rollen einer Führungskraft 2.0 identifiziert: Als Facilitator prägt sie eine Unternehmenskultur, die einen offenen Informationsaustausch zwischen intrinsisch motivierten, mitgestaltenden Mitarbeitern fördert. Als Primus inter Pares meistert sie den Spagat zwischen netzwerkorientierter

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Zusammenarbeit und klassischer Unternehmenshierarchie, indem sie aus einem ambivalenten Rollenrepertoire schöpft und je nach Situation als unterstützender Kollege oder verantwortungstragender Chef auftritt. Die klassischen Führungsrollen transportiert sie als Virtual Leader ins Virtuelle, adressiert die Problemfelder der räumlich und zeitlich verteilten Zusammenarbeit auf Distanz und nutzt Social Software als gewinnbringendes ­Führungsunterstützungswerkzeug. Danksagung  Dieser Beitrag entstand basierend auf einem Vortrag von Prof. Dr.-Ing. Bernhard Katzy im Münchner LeadershipDialog. An der Ausformulierung des Beitrags konnte Bernhard Katzy leider nicht mehr mitwirken, da er am 12. November 2015 leider viel zu früh verstorben ist.

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Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen

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Enterprise 2.0 – Herausforderungen für Unternehmen

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Univ.-Prof. Dr. Michael Koch  hat an der TU München Informatik studiert und in diesem Fach promoviert. Nach einem Industrieaufenthalt am Xerox Research Centre Europe und darauf folgender Habilitation in Informatik wieder an der TU München lehrt er jetzt an der Universität der Bundeswehr München, wo er die Forschungsgruppe Kooperationssysteme leitet und die Professur für Mensch-Computer-Interaktion bekleidet. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der interdisziplinären und praxisorientierten Unterstützung von Zusammenarbeit in Teams, Communities und Netzwerken und dabei speziell in Aspekten der Anforderungsanalyse und Einführung, der Softwarearchitektur sowie ubiquitären Benutzungsschnittstellen.

Univ.-Prof. Dr. Alexander Richter  ist Associate Professor für Workplace Studies an der IT-Universität Kopenhagen und leitet die Forschungseinheit Digital Work Design an der Universität Zürich. Vorhergehend hat er mit einer Arbeit zu Enterprise Social Networking an der Universität der Bundeswehr München promoviert. ­Aktuell ­leitet er die Anforderungsanalyse im Europäischen Forschungsprojekt Facts4Workers, das darauf abzielt, mensch-zentrierte Zusammenarbeit in der Industrie zu ermöglichen. Daneben treibt er verschiedene Projekte im Themenbereich Innovation und Collaboration voran. Er ist Sprecher der Fachgruppe CSCW & Social Computing in der ­Gesellschaft für Informatik und in dieser Funktion auch Mitglied der Fachbereichsleitungsgremien Mensch-Maschine-Interaktion und Wirtschaftsinformatik. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Katzy  war Professor für Technologieund Innovationsmanagement an der Universität der Bundeswehr München sowie Gründer und Geschäftsführer des universitären Entrepreneurship Centers CeTIM.  ­ Professor Katzys primäres Forschungsinteresse lag im Innovationsmanagement mit Fokus im Bereich wachstumsintensiver Technologieunternehmen. Nach seiner Promotion im Bereich der Ingenieurwissenschaften an der RWTH Aachen habilitierte Professor Katzy an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Von 1990 bis 1994 war er im Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen in der Forschung tätig. Im Anschluss begann er eine Lehrtätigkeit am Institut für Technologie und Management an der Universität St. Gallen. Neben seiner Professur an der Universität der Bundeswehr München, die er seit 1999 innehatte, lehrte Professor Katzy seit 2003 an der Leiden University in den Niederlanden. Professor Katzy verstarb im November 2015.

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0 Thomas Sattelberger

Inhaltsverzeichnis 1  Gesellschaft und Unternehmen im Wandel  2  Vielfalt  3  Das Problem geschlossener Systeme – eine soziologische Betrachtung  4  Mehr Vielfalt beginnt mit dem Kampf gegen geschlossene Systeme  5  Talentphilosophien kluger Unternehmen: Vielfalt statt Einfalt  6  Stellhebel zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen  7  Wenn Elefanten das Tanzen lernen: Kultureller Wandel für unternehmerische Vielfalt  8  Fazit: „A rich environment requires a rich response“  Literatur 

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag behandelt zunächst fünf zentrale Trends, die den Wandel in der Gesellschaft und in Unternehmen hin zu mehr Vielfalt treiben. Anschließend wird Vielfalt mit ihren drei wesentlichen Formen kurz beschrieben und die Notwendigkeit des Umgangs mit Vielfalt für unsere Gesellschaft, für Unternehmen und für Einzelpersonen aufgezeigt. Da geschlossene Systeme wesentliche Verhinderer für Vielfalt sind, werden diese zunächst aus soziologischer Sicht charakterisiert, verschiedene Beispiele geschlossener Systeme mit ihren Konsequenzen aufgezeigt und vier theoretische Ansätze vorgestellt, die erklären können, weshalb geschlossene Systeme geschlossen bleiben und sich weiter tradieren. Daher beginnt die Förderung von mehr Vielfalt mit dem Kampf gegen geschlossene Systeme. Kluge Unternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt.

T. Sattelberger (*) Bundestagsabgeordneter (FDP), München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_3

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T. Sattelberger

Es werden drei zentrale Stellhebel zur Förderung von Vielfalt diskutiert wie auch die vier Ts für einen kulturellen Wandel in Unternehmen. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit und dem notwendigen Plädoyer nach mehr Vielfalt.

1

Gesellschaft und Unternehmen im Wandel

Fünf Trends treiben gesellschaftliche Vielfalt. Diese sind Demografie, Globalisierung, Individualisierung durch Wertewandel, Digitalisierung und Migration.

1.1

Demografie

Durch das demografiebedingte Schrumpfen des Talentnachwuchspools erhöht sich auf natürliche Weise – sozusagen reaktiv aus der Not bzw. proaktiv aus der Klugheit heraus – die Vielfalt unter den Talenten. Zunehmend wird aus unterschiedlichen und bisher vernachlässigten, ausgegrenzten oder auch übersehenen Talentquellen geschöpft. Zu letzteren Talentquellen zählen beispielsweise Talente aus bildungsferneren Schichten, mit Hartz-IV-­Hintergrund, Frauen in Technik- und naturwissenschaftlichen Feldern, Menschen mit Mi­grationshin­ tergrund, ältere Mitarbeiter, aber auch die neuen Freelancer und Digital Natives. Außerdem rücken durch die schrumpfende Bevölkerung die Vielfalt des Alters selbst und die der unterschiedlichen Generationen in den Vordergrund. Gleichzeitig müssen immer weniger Junge die älteren Generationen sozioökonomisch finanzieren. Der in Deutschland tradierte Generationenvertrag kann so nicht aufrechterhalten werden. Die Lebensarbeitszeit verlängert sich dadurch unweigerlich.

1.2

Globalisierung

Weltweite Integration von Märkten und die Vernetzung von Wissensgesellschaften führen zu Kommunikation und Zusammenarbeit über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. Kulturelle Vielfalt wird in einer ganz anderen Qualität in Medien, Unterhaltung, Kultur, Bildung und Arbeitswelt spürbar und erlebbar.

1.3

Individualisierung durch Wertewandel

Die auf den Arbeitsmarkt drängende sog. Generation Y bringt eine zunehmende Ausdifferenzierung von Lebensformen mit sich: Sie drängt auf mehr Individualität und entzieht sich immer mehr der Kollektivität und Fremdbestimmung der Menschen durch Gesetze, Vorschriften, ausufernde Bürokratie, Sozialsysteme, aber auch der Einengung durch Hierarchien, Statussymbole und ausgrenzende Unternehmensphilosophien. Diese Entwicklungen sind in der nachfolgenden Generation Z, geformt durch virtuelle Communities, digitale Freundschaften, Cyberspace, Gaming und Open-Source-Paradigmen noch weiter forciert.

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

1.4

43

Digitalisierung

Digitalisierung bedeutet gleichzeitig Entgrenzung. So entstehen Netzcommunities, die offen für alle sind, jenseits von Nationalität, Alter, Kultur, Religion oder Geschlecht. Das Paradigma des Enterprise 2.0 steht für viel mehr als den Einsatz von sozialen Medien in Unternehmen – Enterprise 2.0 ermöglicht Kollaborationen jenseits juristischer Grenzen, wie uns beispielsweise Open Innovation oder Open Sourcing zeigen. In Wissenscommunities entsteht eine neue diverse Freelancer-Kultur mit komplett anderen Lebensentwürfen, deren Mitglieder Proteus-ähnliche Karriereverläufe haben und die ganz andere kulturelle Bindungs- und Entkoppelungsmechanismen ausweisen.

1.5

Migration

Obwohl Migration schon immer Teil der Menschheitsgeschichte war, sehen wir heute Wanderungsbewegungen ungewohnten Ausmaßes. Bisher eher homogene Gesellschaften werden in ihrem Selbstverständnis durch eine neue Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Religionen und Rechtsverständnissen herausgefordert. Die Leitkulturdebatte in Deutschland stellt harte Fragen: Unter welchem mentalen Schirm leben wir? Wie viel Unterschied verträgt eine Kultur, wie viel Vielfalt ist unter wie viel Einheit möglich? Und mit der die Bundesrepublik Deutschland erzittern lassenden Sarrazin-Debatte gestellten Frage: Wer soll überhaupt einwandern dürfen? Beide Debatten, die nicht einmal zu einem vorläufigen Ende geführt wurden, sind beste Beispiele für die fehlenden Antworten auf Migration und Integration. Diese fünf Trends beeinflussen unsere Lebens- und Arbeitswelt sowie die Gesellschaft hin zu mehr Vielfalt – ganz unabhängig davon, ob wir mehr Diversität persönlich für zwingend notwendig halten oder nicht. Doch wodurch ist Vielfalt gekennzeichnet?

2

Vielfalt

Es lassen sich grundsätzlich drei verschiedene Formen von Vielfalt unterscheiden, die zunächst kurz skizziert werden, bevor auf den Umgang mit Vielfalt eingegangen wird.

2.1

Drei Formen von Vielfalt

Generell lassen sich drei Formen von Vielfalt unterscheiden: . Biologische Vielfalt (Rasse, Geschlecht, Größe, Alter etc.) 1 2. Soziale Vielfalt (soziales Milieu, Bildungsstand, Ethnie, Religion) 3. Personale Vielfalt (Vielfalt an Ideen, Denkmustern, Lebensentwürfen, Lebensformen, Lebensstilen, Wissensvernetzungen)

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T. Sattelberger

Zur biologischen Vielfalt zählen Rasse, Geschlecht, Größe, Alter etc. Soziale Vielfalt zeichnet sich durch verschiedene soziale Milieus, einen unterschiedlichen Bildungsstand, verschiedene Ethnien und Religionen aus. Personale Vielfalt ist gekennzeichnet durch verschiedene Ideen, Denkmuster, Lebensentwürfe, Lebensformen und Lebensstile. Vielfalt ist ein Haupttreiber von Komplexität. Vielfalt kann belastend oder beflügelnd wirken. Um das kreative Potenzial, das Vielfalt inneliegt, zu nutzen, will der Umgang mit ihr erlernt sein und zwar auf allen Ebenen.

2.2

Umgang mit Vielfalt

Das Lernen im Umgang mit Vielfalt ist sowohl für Unternehmen als auch für die Gesellschaft und für Einzelpersonen notwendig.

2.2.1 Umgang mit Vielfalt von Unternehmen Es gilt, für Unternehmen eine offene und inklusive Unternehmenskultur zu gestalten. Dafür ist zunächst eine konsequente Kulturarbeit an den „Graswurzeln“ notwendig und im Zweifelsfall durch das Setzen eines ordnungspolitischen Rahmens wie beispielsweise einer Internationalitätsquote und Frauenquote. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass Prozesse entlang des Talentlebenszyklus von der Rekrutierung über die Vergütung – ein Beispiel ist „equal pay“ – bis hin zur Karrierepolitik und Altersversorgung vorurteilsfrei und neutral gehandhabt werden. Unternehmen stehen zudem in der Pflicht, den diversen Ansprüchen nach Work-­Life-­ Balance durch flexible Kontraktformen und Arbeitszeitmodelle zu entsprechen. Ein Unternehmen, das die Förderung von Vielfalt ernst nimmt, ermöglicht seinen Mitarbeitern Auszeiten, Sabaticals, Step-out-step-in-Möglichkeiten. Damit müssen sich Unternehmen die Fragen stellen: Wie gut ist der Umgang mit den klassischen Diversity-Dimensionen und wie spiegelt sich dieser in den Personalprozessen und Kontraktformen?

2.3

Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft

Auf gesellschaftlicher Ebene ist geboten, dass Länder mit hohem Immigrationsaufkommen ihrem Integrationsauftrag nachkommen, d. h. sowohl wirtschaftliche Integration als auch gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Das sind zentrale Elemente auf dem Weg von Vielfalt in der Einheit und mehr Einheit in der Vielfalt, v. a. im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in den Unternehmenskulturen.

2.4

Umgang mit Vielfalt durch Einzelpersonen

Um personale Vielfalt zu unterstützen, müssen sich Unternehmen der Herausforderung stellen, das Individuum in seiner Vielseitigkeit zu fordern und zu fördern. Respekt vor

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

45

Individualität und Akzeptanz von Wertepluralismus dürfen keine hohlen Phrasen sein. Andersartigkeit muss vielmehr genutzt und geschätzt werden und mit personalpolitischen Instrumenten in der Unternehmenskultur verankert sein. Der Mitarbeiter ist auch kein austauschbarer Handlanger mehr im Getriebe eines anonymen Unternehmens. Mitarbeiter werden Mitglieder einer Sinngemeinschaft. Sie verstehen sich als Unternehmensbürger mit Teilhabe auf Augenhöhe. Statt Gefolgsmann/-frau zu sein, fordern sie den Gestaltungsfreiraum, die Orts- und Zeitsouveränität, um diesem Selbstverständnis gerecht zu werden. Vielfalt ist unausweichlich, Trendbrüche sind nicht ersichtlich. Doch was fördert bzw. behindert den guten Umgang mit Vielfalt? Welche Rolle spielen Homogenität vs. Diversität, Uniformität vs. Varietät in sozialen Systemen? Eine zentrale Rolle spielen hierbei geschlossene Systeme, die nachfolgend charakterisiert werden.

3

 as Problem geschlossener Systeme – eine soziologische D Betrachtung

Wenn wir über die Notwendigkeit eines neuen Umgangs mit Vielfalt sprechen, so ist die intellektuelle Einsicht, dass sich etwas ändern muss, längst vorhanden, dennoch tut sich wenig. Auf die Einsicht folgt keine oder nur in überlangen Zeiträumen die faktische gesellschaftliche Veränderung. Wir haben es in diesem Fall mit hartnäckigen Gegnern zu tun: tief verwurzelte, oft als selbstverständlich angesehene Gesellschaftsstrukturen, tradierte Stereotypen und Mentalitäten – sog. geschlossene Systeme, die nachfolgend kurz charakterisiert werden.

3.1

Charakterisierung geschlossener Systeme

Geschlossene Systeme sind mental wie faktisch geschlossen im Sinne von Verweigerung von Zugangsberechtigung für neue Ideen oder andersartige Mitglieder. Die mentalen Schranken sind behäbig und es bedarf eines Paradigmenwechsels, eines radikalen Umdenkens. Doch wie Thomas Kuhn (1962) bereits feststellen musste, dauern diese oft jahrzehntelang. Man kennt das paralysierende Verhaften in tradierten Denkmustern besonders in der Wissenschaft; in den Worten von Max Planck: „Wissenschaft entwickelt sich von Beerdigung zu Beerdigung weiter. Es bedarf der Beerdigung von festgefahrenem Wissen damit neues entsteht“. Geschlossene Systeme folgen in ihrer Existenzsicherung einer bestimmten Logik und gewissen Gesetzmäßigkeiten. Es handelt sich dabei selten um offizielle Codes oder offene, für jedermann einsehbare Regeln. Geschlossene Systeme funktionieren viel subtiler und sind deshalb umso schwerer zu öffnen. Viel wirkungsvoller als explizite Codes und in Stein gemeißelte Regeln ist das nie Ausgesprochene, das stillschweigende Handeln, das instinkthafte Verhalten in geschlossenen Systemen. Geschlossene Systeme sind janusköpfige Geschöpfe: Sie können Treiber und Verhinderer von Veränderung sein, oft sogar beides gleichzeitig, wie Abb. 1 und die nachfolgenden

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T. Sattelberger

Bis ins späte Mittelalter: Christliche Ordensgemeinschaften als Kulturbewahrer Ludwik Fleck

Thomas Kuhn

1930-1960er Jahre: Systeme als Träger von Weltanschauungen

1951: Systeme als Handlungswegweiser

Systeme als Gemeinschaften von “Überzeugungstätern”

1967: Aufruf zum 1984: 68-Bewegung Kampf gegen Veränderungsresistenz repressive geschlossene Systeme Systeme

Karl Marx Friedrich Engels

19. Jhd: Klassenkampf des Proletariats um Macht

Talcott Parsons

Rudi Dutschke Herbert Marcuse

Niklas Luhmann

Abb. 1  Janusköpfigkeit geschlossener Systeme: Treiber und Verhinderer von Veränderung

Beispiele zeigen. Bis ins späte Mittelalter wurden christliche Ordensgemeinschaften zu Kulturbewahrern durch Überlieferung abendländischer Kultur und Wissen. Bildung war ein Privileg Weniger, insbesondere der Mönche. Dieser im guten Sinn bewahrenden Funktion steht die grausame Inquisition der Jesuiten gegen Andersdenkende bzw. Andersgläubige gegenüber – eine pervertierte Form des Kontinuitätsgedankens. Im 19. Jahrhundert, das u. a. durch den politischen und ökonomischen Klassenkampf des Proletariats um Macht (Marx 1818–1883, Engels 1820–1895) gekennzeichnet war, wurden geschlossene Systeme zu Hütern und Konservierern einer Gesellschaftsordnung, die sich in der Klassenlehre manifestierte. Die geschlossenen Systeme der Bourgeoisie führten zum Ausschluss des Proletariats. Die dieses System umstürzende bolschewistische Oktoberrevolution pervertierte zur stalinistischen Vernichtung des Bürgertums und der Intelligenz. Im letzten Jahrhundert wurde das Wesen sozialer Systeme intensiver wissenschaftlich untersucht, insbesondere ihre Funktion als Träger von Weltanschauungen, Normierungen und Wahrnehmungsmustern, die wie Brillen fungieren können. So haben Thomas Kuhn (1962) in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und Ludwik Fleck (1935) in Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache die Relativität dessen, was wir als Wahrheit und Tatsache bezeichnen, entlarvt. Fleck stellte fest, dass innerhalb eines gegebenen Systems festgelegt ist, was als wahr und falsch gilt. In diesem System sind die Mitglieder fast dogmatische Anhänger einer Theorie oder einer wissenschaftlichen Methode. In so einem Umfeld geschieht wissenschaftlicher Fortschritt, wenn sich konkurrierende Denkkollektive öffnen und

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

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durch Austausch von Argumenten gegenseitig befruchten. Oder, so Kuhn (1962), wenn die Überzeugungskraft eines neuen Paradigmas stark genug wird, um ein altes zu beerdigen. Das galt nicht nur in Zeiten von Max Planck, sondern gilt auch noch heute. So konstatiert Paul Krugman (2013) in seinem Blog treffend, dass der wissenschaftliche Fortschritt von Beerdigung zu Beerdigung erfolgt. Was in der Wissenschaft bekannt war und für das Wissenschaftssystem galt, konnte auch für das Individuum festgestellt werden. Das System bestimmt die Handlungsweisen des Individuums. Nach Talcott Parsons (1951) sind solche Systeme Handlungswegweiser des Individuums, das Stabilität in einer sich ändernden Umwelt gewährleistet. Das System bestimmt das Handeln seiner Mitglieder  – der Mensch folgt, soweit er sich nicht ­abweichend verhält, zwanglos den normativen Vorgaben der ihm übergeordneten Systemstrukturen. Er wird quasi zum Mitläufer – ohne Chance zum Ausbruch. Ein Versuch, diese Systeme aufzubrechen, stellt die Studentenrevolte 1966 dar. Startend waren ein Fanal und ein Aufruf zum Kampf gegen repressive Systeme der Nachkriegsgesellschaft. Der Philosoph Herbert Marcuse erklärte 1967 auf dem Kongress über Dialectics of Liberation in London die Studenten zu Katalysatoren, um einem repressiven System entkommen zu können. Geschlossene Systeme können durchaus auch Treiber von Veränderung sein: Systeme wie Greenpeace und PETA werden im gemeinsamen Kampf für die gute Sache zu Katalysatoren und Multiplikatoren von gemeinsamen Werten und Überzeugungen. So sind die Gründung der Grünen 1980, Greenpeace 1971, PETA 1980 Beispiele normativ geschlossener Systeme als Gemeinschaft von Überzeugungstätern, die Fortschritt bewirken. Niklas Luhmann (1984) war einer der modernen Soziologen, die sich mit der Veränderungsresistenz geschlossener Systeme befassten. Er beschreibt in seiner Systemtheorie die Grundprinzipien geschlossener Systeme folgendermaßen. Geschlossene Systeme sind gekennzeichnet durch • gemeinsam ausgerichtete Kommunikation, Handeln und Entscheidungen, vereint durch starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb des Systems; • außerhalb des Systems steht für Bedeutungs- und Zusammenhangslosigkeit, aber auch für Andersartigkeit, Zukunft, Chancen und Möglichkeiten, und • geschlossene Systeme lassen keine Innovation oder eine Störung der Ordnung zu. Trotz Deutschem Corporate Governance Kodex (o. J.) folgen unterschiedliche Systeme unterschiedlichen, spezifischen Codes, die von Außenstehenden nicht verstanden werden und somit Ausschließung bedeuten. Beispiele hierfür sind der Code Recht/Unrecht im Rechtssystem, wahr/falsch im Wissenschaftssystem, Allokation/Nichtallokation im Wirtschaftssystem, Immanenz/Transzendenz im Religionssystem oder Regierung/Opposition im politischen System. Geschlossene Systeme sind hartnäckige Gegner von Vielfalt, weil sie hohe Beharrungstendenz aufweisen – verantwortlich dafür sind implizite und subtile Mechanismen, die unausgesprochen, aber dafür umso wirksamer sind, wie nachfolgend ausgeführt wird.

48

3.2

T. Sattelberger

 heorieansätze zur Erklärung der Verschlusstendenz T geschlossener Systeme

Warum haben geschlossene Systeme die Tendenz, geschlossen zu bleiben? Vier Theorieansätze geben hierauf eine Antwort. Diese sind Tradierung, selektive Wahrnehmung, homosoziale Reproduktion sowie Ultra- bzw. Patend-Lösungen.

3.2.1 Tradiertes System eingeschliffener Sozialmechanismen In seinem Buch Social Systems beschreibt Talcott Parsons (1951) die Mechanismen, die zur Verschlossenheit und deren Aufrechterhaltung führen. So entsteht und besteht in geschlossenen Systemen eine Glaubensbrüderschaft, die oft als unbewusstes Immunsystem zur Exklusion und damit Abwehr fremder Einflüsse, fremder Werte und andersartiger Perspektiven führt. Das eigene Selbst wird häufig als Übermensch gedeutet, als Mythos des Heroischen. Daraus folgt ein Ausschluss des Zugangs für sog. Emporkömmlinge und Parvenüs. Die Mitglieder eines geschlossenen Systems sind natürlich motiviert durch Erfolgsverwöhntheit und exzellente Beherrschung von Routinen, die dazu dienen, den Status quo zu erhalten. Zudem besteht ein Austausch von Gefälligkeiten in Kombination mit einem internen Nepotismus, durch den Nahestehende bzw. Gleichgesinnte be- und gefördert werden im Sinn von: Ich gebe, damit du gibst. Diese Mechanismen, zu denen oft auch ausgrenzende Rituale gehören, führen dazu, dass der Korpsgeist gefördert und stabilisiert wird, wie es häufig beim Militär, Kirchen, Eliteschulen oder Burschenschaften erfolgt. Ein aktuelleres Beispiel sind die Geschehnisse auf dem militärischen Segelschulschiff Gorch Fock. Analysen haben gezeigt, dass die Kultur der Gorch Fock geprägt war von: • Befehl und Gehorsam in Kombination mit einer absoluten Hierarchie; • Drill in Kombination mit einer Verherrlichung von Stärke als Tugend sowie • rigiden Selektionsmechanismen. Veraltete, patriarchalisch geprägte Rituale, Traditionen und ausgrenzende Bräuche sind der innere subtile Klebstoff für ein geschlossenes System. So gab es auf der Gorch Fock Vorwürfe, dass sich „Offiziere hemmungslos besoffen hätten“ und die Kadetten hernach „auf dem Deck Erbrochenes der Offiziere wegputzen müssen“. Diese Anschuldigungen erforderten laut eines Berichts im Spiegel vom 7. Mai 2011 (Goetz et al. 2011) „eine differenzierte Betrachtung“ und einen genaueren Blick auf die Geschehnisse. So waren selbst die „Wäscheleine mit Damenschlüpfern im Maschinenraum“ für die Militärführung nicht kritikwürdig, „welche in der Abwägung unter Führungsaspekten nicht zu beanstanden ist und als ‚Brauchtumsstück‘ betrachtet werden muss“. Die Ansätze und Methoden in der Ausbildung, geprägt von Werten und Erziehungsvorstellungen, die noch aus der kaiserlichen Marine stammen, waren unzeitgemäß. So sprach der legendäre Gorch-Fock-Kommandant Hans Freiherr von Stackelberg im Alter von 89 über die Vorzüge, an Bord „in relativ kurzer Zeit ‚Spreu von Weizen‘ in unmissverständlicher Weise zu trennen“. Kritiker sind für ihn „Angstbeißer“ und „Nestbeschmutzer“. Vorwürfe kämen meist von jenen, „die aufgrund von körperlicher, vor allem aber mentaler

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

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Überforderung nichts Besseres zu tun haben“. Typisch für geschlossene Systeme, wurden kritische Stimmen als Bedrohung des Systems gesehen. So wurde die Kritik an Ausbildern nach dem Unfalltod der Kadettin als Unruhestiftung und Meuterei abgetan. Demgegenüber steht seit den 1960er-Jahren eine andere Kultur, die Ideale einer „neuen Bundeswehr“, geprägt durch Graf Baudissin und von Kielmansegg. Sie basiert auf folgenden Prinzipien: • • • •

Innere Führung zur Orientierung Ausbildung zum Staatsbürger in Uniform Fürsorge, Schutz des Schwächeren Den kritischen Dialog ermöglichen, ohne die Loyalität und Wahrung der Autorität zu untergraben • Aufgeschlossenheit und Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen und der Stimme der Basis • Regelmäßiges Reflektieren und Hinterfragen des Handelns und der dahinterliegenden Überzeugungen • Anerkennen des Individuums innerhalb des Korps Doch wie viele große Unternehmen haben trotz eines verschriftlichten Wertekanons tendenziell noch eine Organisationskultur, die jener der oben geschilderten Gorch Fock ähnelt?

3.2.2 Selektive Wahrnehmung und blinde Wahrnehmungsflecken Der nicht bösartige, sondern eben spezifische Korpsgeist innerhalb geschlossener Systeme macht blind für anderes, für Fremdes. Der Einzelne sucht bei der Wahrnehmung seiner Umwelt stets nach bekannten, seiner Weltanschauung ähnlichen Mustern und blendet dabei dissonante und fremdartige Realitätsfelder aus und damit alles, was bei einer differenzierten Wahrnehmung dazu zwingen würde, gewisse Ansichten infrage zu stellen. Durch die Tatsache, dass die Suchfelder eingeschränkt sind, stabilisieren sich unweigerlich die eigenen Urteile, Maßstäbe und Weltbilder. Die Beurteilung von Güte und Qualifikation erfolgt somit nicht objektiv, sondern nur noch beeinflusst durch die eigene Brille, wie in den Arbeiten von Joseph Luft und Harry Ingham (Luft und Ingham 1955) beschrieben wird. Beispiele, wie selektive Wahrnehmung zum Fortbestand geschlossener Systeme beiträgt, sind sog. Elitestudiengänge insbesondere an angelsächsischen MBA-Schmieden, den Grandes Écoles wie der ENA in Frankreich, vielen Privathochschulen oder den TU 9 in Deutschland. Sie alle bilden einförmige Eliten aus: einförmig in der Herkunft, homogen in der Ausbildung und standardisiert im Ausblick. In Frankreich offenbart sich die Suche nach bekannten und damit ähnlichen Mustern im Phänomen des Enarchentums. Frankreichs Elite ist ein geschlossenes Korps: Die Macht konzentriert sich bei den Mandarins der Politik, der Wirtschaft und der Kultur – diese haben meist die renommierte ENA absolviert, die wichtigste der „Großen Schulen“. Sie bilden eine Bastion der Bourgeoisie bestehend aus Regierungschefs, Ministern und hohen Ministerialbürokraten. Die ENA spielt eine ähnliche Netzwerkrolle wie die deutschen Burschenschaften  – nur wesentlich effizienter. Man kennt sich also mindestens schon aus der Studienzeit. Wer kein Diplom einer „Großen Schule“ aufweisen kann, stößt selten vor in die Zirkel der wirklich Mächtigen. Innerhalb dieser exklusiven Kreise wird das Weltbild der Grande Nation zelebriert und damit die eigene Besonderheit der Elite gefeiert.

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T. Sattelberger

Ähnlich dienen die MBA-Kaderschmieden dazu, eine Elite hervorzubringen, die dem Weltbild des neoliberalen Kapitalismus huldigt. Dies geht so weit, dass 60 % der Harvard-­ Absolventen eines Jahrgangs den Eid ethischen Managerhandelns verweigern. Selektive Wahrnehmung führt letztlich auch dazu, dass soziale, ökologische, ethisch-moralische Dimensionen des Wirtschaftlichen als dissonante und fremdartige Realitätsfelder nicht nur nicht in Betracht gezogen, sondern schlicht ausgeblendet werden.

3.2.3 Homosoziale Reproduktion Ein dritter Erklärungsansatz, warum geschlossene Systeme geschlossen bleiben, basiert auf ihrer Tendenz, sich selbst zu stabilisieren, wie Rosabeth Moss Kanter (1993) treffend beschreibt. Homosoziale Reproduktion ist ein soziologischer Begriff für das, was wir als Old Boys Networks kennen. In diesen besteht ein starker Selbsterhaltungstrieb gekoppelt mit einer Selbstregulierung durch die Attraktion von Ähnlichkeit, die das System am Leben erhält. Dabei sorgen elitäre Selbstbestätigungsmechanismen für die nötige Legitimation. Nach diesem Erklärungsansatz funktionieren geschlossene Systeme nach dem in­ stinktiven Herdenprinzip „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, wodurch jede soziale Durchlässigkeit im Keim erstickt wird. Solch ein geschlossenes System kann fatale Folgen haben, wie das Beispiel der Atomkatastrophe in Fukushima zeigt. So existiert in Japan das sog. Atomdorf: Mit dieser Chiffre wird in Japan eine abgeschottete Elite bezeichnet, die sich rund um den Nuklearkomplex des Landes gebildet hat. Zu den Mitgliedern dieses geschlossenen Systems gehören die Atomabteilungen von Tepco ebenso wie die zuständigen Bereiche des Industrieministeriums. Aber auch Forscher und Journalisten sind Mitglieder im exklusiven Atomclub. Externe „Check and Balance“ findet nicht statt. Der Kitt, der sie alle zusammenhält, sind ein überaus starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit und verblüffenden Ähnlichkeiten im Lebenslauf. Sie kommen alle gleichförmig von derselben Top-Universität in Tokio – der Keio-Universität – und hinterher arbeiten sie bei Tepco oder eben bei der Behörde, die Tepco überwachen soll. Damit erfolgt ein Wechsel vom Kontrollierten zum Kontrolleur und vice versa. Viele Tausende von Opfern hat die Klüngelei der japanischen Polit- und Wirtschaftselite gefordert. Und das Schlimmste ist, dass die Verantwortlichen keine Konsequenzen befürchten müssen. Der Kampf um Ämter und Pfründe läuft wie eh und je in diesem gut geschmierten System der Seilschaften und des Nepotismus. Christoph Neidhart (2011) resümiert prägnant in der Süddeutschen Zeitung: „Japan hat nichts gelernt.“ 3.2.4 Ultra- bzw. Patend-Lösung Watzlawick (1998) bietet mit der Ultra- bzw. Patend-Lösung einen vierten Erklärungsansatz für die Aufrechterhaltung geschlossener Systeme und damit die Vermeidung von Vielfalt in Organisationen. Geprägt durch langjährige Routinen, ist das System unfähig, neue Lösungswege einzuschlagen. Wie ein Hamster im Rad dreht man sich stattdessen immer schneller, macht immer mehr vom Gleichen, multipliziert die Anstrengungen, obwohl der erwartete Erfolg ausbleibt.

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

51

So offenbaren beispielsweise 50 Jahre Rhetorik zur Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems eine bitterlich gescheiterte Patend-Lösung: Während von 100 Akademikerkindern ­in Deutschland 73 ein Studium aufnehmen, sind es unter den Kindern von Nichtakademikern gerade einmal 24 und nur 17 von 100 Arbeiterkindern finden den Weg an eine Hochschule – das ist halb so viel wie der Landesdurchschnitt, der bei 34 von 100 Kindern liegt (Abb. 2). Dabei sind die Studienabbrecher noch gar nicht berücksichtigt, die insbesondere aus den sozial niedrigen Schichten kommen (Abb. 3). Durchschnitt in Deutschland 100

Kinder von Akademikern 100

Kinder von Nicht-Akademikern 100

Kinder von Arbeitern 100

51

81

45

33

34

73

24

17

Eintritt in Sekundarstufe II

Studienaufnahme

Hochschul24 abschluss 16

Abb. 2  Beispiel: Patend-Lösung: Rhetorik des durchlässigen Bildungssystems vs. Realität: Bildungsbürger produzieren Bildungsbürger (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010) Wer hat, dem wird gegeben…

Sag mir wo du herkommst und ich sag Dir, wer du wirst…

Hoher & gehobener sozialer Status bei 72 % der Stipendiaten der Begabtenförderungswerke

Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und eigenem sozialen Status

9% niedrig 19 % mittel 21 % gehoben

20 51 % hoch

Männer

Frauen

10

Einkommensverteilung Deutschland

0 -10

22 % niedrig 60 % mittel

18 % hoch

-20 -30 -40

DE FR IT GB SE PL NL

DE FR IT GB SE PL NL

Abb. 3  Auch Deutschland: Förderung und höherer Sozialstatus gehen Hand in Hand. Soziale Immobilität ist hässliche Realität (Grolle 2010; Goebel et al. 2010; Pollak 2010)

52

3.3

T. Sattelberger

„Nur die Harten kommen in’ Garten“

Dies ist ein geflügeltes Wort, das noch immer die Denke vieler Entscheider in Politik, Bildung und Wirtschaft prägt: Qualität setzt sich durch eine Selektion durch, die zwar hart, aber fair ist. Auswahl- und Fördermechanismen seien dazu da, um Chancenfairness zu gewährleisten und begabten jungen Studierenden, egal welchen sozioökonomischen Hintergrund sie haben, dieselben Start- und Erfolgschancen zu geben. Doch selbst die Begabtenförderungswerke in Deutschland funktionieren nach dem Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. So gehen in Deutschland Förderung und höherer Sozialstatus Hand in Hand, wie die nachfolgenden Zahlen sowie die Abbildungen Abb.  4 und 5 zeigen: • Von Förderungen gehen 9 % an Personen mit sozial niedrigem Status. • Nur einer von 20 Geförderten kommt bei der Studienstiftung aus sozial schwachen Verhältnissen (Grolle 2010). • Dem steht eine seit über einem Jahrzehnt stetig wachsende Armutsgefährdungsquote in Deutschland gegenüber (Abb.  4, Statistisches Bundesamt 2018a). Zurzeit sind in Deutschland knapp 20 % der Bevölkerung von Armut betroffen (Abb. 5, Statistisches Bundesamt 2018b).

16% 15,8% 15,7% 15,7%

15,75% 15,5% 15,4%

Armutsgefährdungsquote

15,5% 15,25% 15%

15%

15% 14,75%

14,7% 14,6% 14,5% 14,4%

14,5% 14,3% 14,25% 14% 14% 2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Abb. 4  Armutsgefährdungsquote in Deutschland von 2005 bis 2017 (Statistisches Bundesamt 2018a)

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

53

25%

Anteil der Bevölkerung

20%

19,6%

19%

18% 16,1%

17,7% 16%

15,2%

15%

10%

17%

9,3%

8,7% 6,8%

5%

0%

3,4%

Insgesamt*

3,3%

Unter 18-jährige

Von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen

3,8% 2,2%

18- bis unter 65-jährige**

65- jährige und Ältere

darunter: armutsgefährdet***

darunter: erheblich materiell depriviert**** darunter: in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung*****

Abb. 5  Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffenen Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2017 (Statistisches Bundesamt 2018b)

Hart, aber fair – eine Schwindelrhetorik, die den Mechanismus einer typischen Patend-­ Lösung aufzeigt: Um mehr Studenten mit niedrigem sozialen Hintergrund ein Studium zu ermöglichen und damit mehr Durchlässigkeit zu generieren, werden Stipendienprogramme und Begabtenförderungswerke ausgeweitet, die dann wiederum nur den Studenten, die ohnehin aus guten Verhältnissen sind, zugutekommen. Mehr desselben als Lösung eben. Damit ist soziale Immobilität in Deutschland hässliche Realität. Sag mir, wo du herkommst, und ich sag dir, wer du wirst – so lautet offensichtlich die Gesetzmäßigkeit, der den sozialen Status deutscher Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Studien offenbaren, dass Deutschland an der europäischen Spitze steht in puncto soziale Immobilität (Pollak 2010). Wie lässt sich das ändern?

4

 ehr Vielfalt beginnt mit dem Kampf gegen geschlossene M Systeme

Das Aufbrechen geschlossener, sich selbstreproduzierender Systeme und das darin enthaltene Sich-Auflehnen gegen ungerechte Ordnung ist selten etwas gewesen, das nur top-­ down oder nur bottom-up geschah. Geschichtlich gesehen ist das Ringen um offene, inklusive und damit vielfältige Gesellschaftsformen stets eine Kombination des Aufbe-

54

T. Sattelberger

gehrens vermeintlicher Minderheiten oder Unterdrückter bzw. Ausgegrenzter mit der Unterstützung einer Minderheit an Mächtigen gewesen. Im globalen Kontext waren es einerseits umfassende gesellschaftliche Bewegungen mit dem Ziel des Umsturzes des bestehenden Systems und andererseits das Aufbegehren von Minderheiten mit dem Ziel der Teilhabe. Zu den Bewegungen mit dem Ziel des Umsturzes gehören: • • • • •

1789: Französische Revolution 1956: Ungarischer Volksaufstand 1989: Volksaufstand China 2007: Demokratiebewegung der Mönche in Burma 2010: Islamische Revolution

Zu den Bewegungen des Aufbegehrens von Minderheiten mit dem Ziel der Teilhabe zählen: • • • • •

135–171 v. Chr.: Die Sklavenaufstände im Römischen Reich 1903–1928: Sufragetten-Bewegung (USA, GB) 1955–1968: Civil Rights Movement (USA) 1960er-Jahre: Studentenbewegungen 1970er-Jahre: Homosexuellenbewegung (USA und Europa)

Ebenso hat es im nationalen Kontext immer wieder gesellschaftliche Bewegungen mit dem Ziel des Umsturzes des bestehenden Systems gegeben. Hierzu zählen: • • • • •

1517: Reformationsbewegung 1848: Märzrevolution 1953: Volksaufstand DDR 1967: 68er-Bewegung, die dem Aufruf zum Kampf gegen repressive Systeme folgte 1989: der zweite große Volksaufstand der DDR im Kampf gegen das SED-System

Zudem ist Deutschlands Gesellschaft geprägt vom Ringen um die Teilhabe und Chancenfairness nicht nur generell von Minderheiten, sondern insbesondere auch von Frauen. Beispiele für die Ermöglichung einer Chancenfairness für Minderheiten sind • die Homosexuellenbewegung der 1970er-Jahre, • die erste große Frauenbewegung in den 1970er-Jahren, • die vom Bundesministerium für Justiz eingesetzte Regierungskommission verabschiedet 2002 den Deutschen Corporate Governance Kodex, • die Gründung der Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung 2006, • das Aufheizen der Migrationsdebatte seit 2010,

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

55

• Beginn der zweiten deutschen Frauenbewegung mit der Einführung der Frauenquote in der Telekom am 15. März 2010. Welche Implikationen haben diese Überlegungen für Unternehmen?

5

 alentphilosophien kluger Unternehmen: Vielfalt statt T Einfalt

Unternehmen bzw. Betriebswirtschaften sind Spiegelbilder großer makrogesellschaftlicher Themenstellungen. Sie sind Betroffene, sozusagen Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen, Mittäter gesellschaftlicher Entwicklungen, proaktive Problemlöser oder Blockierer gesellschaftlichen Fortschritts. Letzteres haben die oben aufgeführten Beispiele des Gorch-Fock-Kultur-Clashs, des inzestuösen japanischen Atomdorfs, der elitären Kaderentwicklung sowie der Fiktion der Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems gezeigt. Eine Reihe von Business Cases legen nahe, dass es durchaus betriebswirtschaftliche Argumente für mehr Vielfalt in Unternehmen gibt. Fünf werden nachfolgend aufgeführt.

5.1

Case – Geschäftlicher Erfolg

Eine Reihe von Untersuchungen zeigt, dass gemischte Teams nicht nur innovativer, sondern auch produktiver sind (z. B. Badal und Harter 2014; Hoogendoorn et al. 2013; Miller und del Carmen Triana 2009). Auch Unternehmen mit gemischten Teams bestehend aus männlichen und weiblichen Führungskräften oder ethnisch gemischt schaffen im Wortsinne Mehrwert, sind erfolgreicher bei der Umsatzrendite als auch dem ROCE bzw. der Eigenkapitalrendite.

5.2

Case – Talentmärkte

Demografie und Nachwuchskräftemangel zwingen uns, in puncto Talentstrategie neue Segmente zu erschließen und bereits vorhandene besser auszuschöpfen. Denn schon heute zeichnet sich eine Fachkräftelücke ab: Laut Prognosen werden im Jahr 2020 2 Mio. Fachkräfte benötigt und davon etwa 7–8 %, d. h. 140.000–150.000 Führungskräfte. Dies bedeutet, dass wir eine sinnvolle, faire und nachhaltige Erweiterung des Talentpools benötigen, aus dem wir für die Wissensunternehmen von morgen die Führung von morgen gewinnen.

56

5.3

T. Sattelberger

 ase – Öffentliche Reputation und Anspruch an den eigenen C guten Ruf

Corporate-Social-Responsibility(CSR)-Rankings, Nichtregierungsorgansiationen (NGO) und Medien durchschauen Unternehmen, die dadurch gläsern und „nackt“ werden. NGO, Medien und die Gesellschaft erwarten, dass Unternehmen die gesellschaftlichen Strukturen, Anliegen und Trends widerspiegeln. und prangern Fehlentwicklung beißend an. Positive Beispiele aus Skandinavien und Frankreich, die gelebte Diversity-Praxis in den USA und vieler süd- und osteuropäischer Länder wie auch die mediale Öffentlichkeit und die Vorbilder der Parteien setzen einfach Reputationsstandards.

5.4

Case – Investorenerwartungen

Für immer größere Investorensegmente gewinnt Diversity im Management immer mehr an Bedeutung. So waren 2007 bereits 2 % der Aktionäre und Aktionärinnen der Deutschen Telekom sog. nachhaltige bzw. „social responsible“ -Investoren. Ein Jahr später hatte sich dieser Wert bereits auf 5,4 % verdoppelt. Im Jahr 2011 hatte er sich mit 10,3 % fast vervierfacht mit wachsender Tendenz. Diversity ist ein relevanter Faktor für Investmententscheidungen geworden, wie ein namhaftes Wirtschaftsmagazin im Zuge des Zusammenschlusses von Pax World, Calvert und Walden Asset Management veranschaulichte. Gemeinsam verfügten diese drei Fonds über 73 Mrd.  US-$ Investitionsmasse beim Zusammenschluss und sie nutzen ihre Macht. So forderten sie 54 Konzerne nachdrücklich auf, für eine bessere Geschlechterbilanz in ihren Organisationen zu sorgen.

5.5

Eine vielfältige Umwelt braucht auch vielfältige Antworten

Dieses fünfte Beispiel ist eher ein organisationssoziologisches. Viele Untersuchungen deuten darauf hin, dass geschlossene, Ähnlichkeit reproduzierende Systeme zwar zu exzellenten Routinen im Status quo führen, aber keine Sensorik und Reaktionsfähigkeit für disruptiven Wandel aufbringen. Doch: „A rich environment requires a rich response.“ Homogenisierte Kulturen haben eben nur homogene Antworten. Daher wage ich, die These aufzuwerfen, dass Diversität auch eine Frage der Unternehmensphilosophie ist: Je Shareholder-orientierter, desto männlich-homogener zeigen sich Unternehmen. Dieses Credo hat sich anscheinend die Finanzbranche auf die Fahne geschrieben. Nachfolgend ein paar unbequeme Wahrheiten über diese Branche: • Nimmt man die Gesamtzahl der weiblichen Mitarbeiter und den Anteil der Frauen in Führungspositionen, dann ist das Verhältnis dieser beiden Werte – Proportion weibliche Mitarbeiter zu Frauen in Führungspositionen – in keiner Branche so schlecht wie in der Finanzbranche.

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

57

• Bei der Deutschen Bank – dem einzigen Finanzdienstleister, der Zahlen zu Frauen in Führungspositionen im Unternehmen veröffentlicht hat  – sind 50  % der Mitarbeiter Frauen, aber nur 8 % der Führungspositionen gehen an Frauen. • Selbst in sog. typischen Männerbranchen wie dem Baugewerbe oder im Bergbau ist das Verhältnis erheblich ausgewogener: Im Baugewerbe arbeiten 13 % Frauen – der Anteil an Frauen in Führungspositionen beträgt 17,2 %. • Die Finanzbranche glänzt darüber hinaus mit dem niedrigsten Ausländeranteil aller Berufsgruppen: Gerade einmal 2,1 % sind Nichtdeutsche. Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der meine These einer Korrelation zwischen homogener, männlich-dominierter Kultur und Kapitalmachtorientierung untermauert, zeigt sich in der Aussage des Goldman-Sachs-CEO Lloyd Blankfein über die Bedeutung von „diversity“ auf der Firmenwebseite: „Diversity is at the very core of our ability to serve our clients well and to maximize return for our shareholders.“ Kluge Unternehmen sind sich der Bedeutung von Vielfalt statt Einfalt bewusst. Doch wie lässt sich Vielfalt in Unternehmen stärker fördern?

6

Stellhebel zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen

Beim Fördern von mehr Vielfalt in Unternehmen besitzt speziell das Personalmanagement vier große Stellhebel. Diese sind • • • •

die Schaffung eines inklusiven, nicht elitären Talentbiotops; vorurteilsfreie und neutrale Prozesse entlang des Talentlebenszyklus; flexible und individualisierte Kontaktformen sowie eine offene und tolerante Unternehmenskultur.

6.1

I nklusives Talentbiotop statt elitärer Talentpipeline auf allen Ebenen

Zentrale Voraussetzung für die Förderung von mehr Vielfalt ist die Entwicklung eines entsprechend förderlichen Biotops. Dies beginnt in der Berufsausbildung und endet in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats (Miller und del Carmen Triana 2009) gemäß dem schon oben erwähnten Grundsatz: „A rich environment requires a rich response.“ Häufig gehorchen Talentphilosophien von Unternehmen der Goldfischteichlogik mit ihren eher elitären und steilen Talentpipelines. Diese sind charakterisiert durch homogenisierte Lebensläufe und damit ähnlichen Sozialisations- und Bildungsprozessen in jungen Jahren; glatte, bruchlose, lineare Karriereverläufe nach der Logik: „If it’s not up then it’s down.“ Das Ergebnis solcher Sozialisationsprozesse sind stereotyp rekrutierte

58

T. Sattelberger

Idealkandidaten insbesondere in höheren Positionen, die einem „self cloning“ entsprechen. Unterstützt haben hierbei der ausgeprägte MBA-Hype bis Mitte des letzten Jahrzehnts sowie der Fokus von Unternehmen auf ausgewählte Hochschulen und Disziplinen. Dadurch befinden sich in der Karrierepipeline von Unternehmen oft überwiegend männliche Talente mit einem ethnisch homogen geprägten Hintergrund. Um ein Nährboden von Vielfalt zu sein, müssen Unternehmen jedoch Talentbiotope sein, in denen sich Talente aus verschiedensten und neuen Talentquellen finden. Es braucht mehr Einsteiger und Quereinsteiger aus untypischen Studienfächern und Erfahrungsfeldern. Dabei können Querdenker als konstruktive Störenfriede genutzt werden. Auch potenzielle Bewerber mit gebrochenen Lebensläufen, Wiedereinsteiger nach einer Auszeit sowie Rückkehrer wie beispielsweise Alumni, Mütter und Väter können sich als wertvolle und gewinnbringende Talente entpuppen. Hierbei ist nicht die sofortige Passung, sondern die Differenz ein Gütemerkmal.

6.2

Vorurteilsfreie Talentprozesse

Vorurteilsfreie und neutrale Prozesse entlang des Talentlebenszyklus klingen schön, doch bleiben sie nach wie vor meist Theorie. Um ein Talentbiotop in der Praxis zu ermöglichen, müssen Unternehmen unbequemen Wahrheiten ins Auge blicken  – den „moments of truth“. Hierunter fallen beispielsweise Auswahlverfahren und Rekrutierungsverhalten. Die meisten Auswahlprozesse produzieren Ähnlichkeit. Im Kern beantworten sie die Frage nach dem Wie der homosozialen Reproduktion. Die gegensätzliche Philosophie lautet: Brücken bauen statt Mauern errichten und somit Potenziale auswählen statt Standards zementieren. Beispiele hierfür sind: • • • • • • • • •

Arbeiterkinder an die Hochschulen Beruflich Qualifizierte an die Hochschulen (auch ohne Abitur) Anerkennung ausländischer Schul-, Hochschul- und Berufsabschlüsse Frauen in MINT-Berufe Junge Menschen mit Migrations-/Hartz-IV-Hintergrund in die Ausbildung Leistungsstarke Kinder aus bildungsferner Schicht an die Gymnasien Menschen mit Behinderungen wirtschaftliche und soziale Teilhabe ermöglichen Frauen: Führungspositionen Multidisziplinäre Rekrutierung von Hochschulabsolventen z.  B. auch aus kritischen Disziplinen

Der Auswahlprozess ist der härteste „moment of truth“. Um diesen so vorurteilsfrei wie möglich zu gestalten, haben führende Orchester das Prinzip der „blind audition“ eingeführt: Das Vorspielen findet ausschließlich hinter einem Sichtschutz statt, um Faktoren jenseits der Musik, die eine Besetzungsentscheidung bewusst oder unbewusst

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

59

beeinflussen können, auszublenden. Dieses Prinzip ist auch auf Unternehmen übertragbar. So kann man ein Pilotprojekt „Anonyme Bewerbungen“ starten und testen. Allerdings zeigen auch solche Bewerbungsverfahren, die bezüglich Persönlichkeitsmerkmalen wie Nationalität, Alter und Geschlecht sog. anonym durchgeführt werden, Schwachstellen. Denn anonymisierte Rekrutierungsverfahren besitzen neue Gefahrenquellen. So können Bewerber mit Migrationshintergrund, die durch die Anonymisierung nicht als solche erkennbar sind, schlechter abschneiden, weil Lebensläufe mit ungewöhnlicher inhaltlicher Darstellung und Rechtschreibfehlern negativ bewertet werden. Auch anonyme Lebensläufe lassen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu durch Hobbys, Sprachkenntnisse und Berufserfahrungen. Dennoch sollten sich Unternehmen der Herausforderung stellen, nach mehr Vielfalt zu rekrutieren. So waren wir bei der Telekom mit der Herausforderung konfrontiert, bei unserer Entscheidung im Pilot jährlich etwa 200 junge Menschen mit Migrations- und Hartz-IV-Hintergrund auszuwählen. Die jungen Menschen, die normalerweise durch Auswahlverfahren hinausselektiert worden wären, entpuppten sich z. T. als Spitzentalente und befinden sich im oberen Zehntel der Ausbildung. Um blinde Flecken bei der Auswahl und Bewertung von Kandidaten und Kandidatinnen zu vermeiden, wird bei der DTAG im Bereich Ausbildung ein multimodales Interviewverfahren mit Step-by-step-Beurteilungen angewendet. Dies soll verhindern, dass Kandidaten durch „die eigene Brille“ bewertet werden.

6.3

Flexibilisierung und Individualisierung von Kontraktformen

Management von Vielfalt heißt auch, dass diverse Präferenzen während eines Erwerbslebens personalpolitisch durch entsprechend flexible, individuelle Kontraktformen unterstützt werden. Hierzu gehören flexible Arbeitszeitmodelle bis hin zu Job Sharing bei Führungskräften, Angebote von Auszeiten und Sabbaticals, hochindividualisierte Re­ integration von Eltern und insbesondere von Frauen nach der Elternzeit, die Möglichkeit von Telearbeit oder Homeoffice, flexible Karrieremodelle, die nicht alle demselben Strickmuster folgen. Beispiele hierfür sind Projektkarrieren, Karrieren für Wissensarbeiter, Pro-­bono-­Karrieren sowie eine Step-in-step-out-step-in-Kultur.

7

 enn Elefanten das Tanzen lernen: Kultureller Wandel für W unternehmerische Vielfalt

Bislang wurden Maßnahmen behandelt, die Vielfalt fördern, wie Prozesse, Kontaktformen und Auswahlphilosophie. Eine vielfältige, tolerante und offene Unternehmenskultur ist für die Maßnahmen zur Förderung und dem Erhalt von mehr Vielfalt in Unternehmen eine hinreichende und notwendige Bedingung zugleich. Der Soziologieprofessor Richard

60

T. Sattelberger

Florida (2014) beschäftigt sich mit gesellschaftlichem Umbruch von der Industrie- zur Kreativ- und Wissensgesellschaft. Er mahnt, nicht in alten Industrielogiken zu denken und nicht in Industrieroutinen zu agieren, die implizit den Menschen als beliebig verfügbaren und zu standardisierenden Produktionsfaktor sehen. Denn im 21. Jahrhundert sind nicht Boden und Kapital die Engpassfaktoren, sondern Talente. In diesem Zusammenhang spricht er auch ganz speziell vom „rise of the creative class“, dem Entstehen einer neuen, kreativen Klasse. Diese „creative class“ wird von einem ganz bestimmten Kreativitätsund Lebensvielfaltmilieu angezogen. Laut Richard Florida (2014) sind das die drei Ts Technologie, Talente und Toleranz. Bei der Telekom haben wir noch ein viertes T hinzugefügt: Teilhabe. Nachfolgend werden diese vier Ts näher beleuchtet.

7.1

Technologie

Voraussetzung und Begleiterscheinung, ja Eintrittsgebühr für ein kreatives Milieu ist stets der überdurchschnittliche Umgang mit den entsprechenden Technologien. Offenheit für und der richtige Umgang mit Technologien ist nicht nur für IT-Firmen, Biotech-Pioniere und Entertainment-Unternehmen als grundlegendes Fundament relevant. Auch in anderen Branchen ist die Öffnung für modernste Kommunikationstechnologien und Möglichkeiten der Digitalisierung wichtig.

7.2

Talente

Bei Talenten herrscht ein einfacher Magnetismus: Talente ziehen Talente an und Talente bleiben da, wenn Talente auch wie Talente behandelt werden. Dabei sollte nicht nur auf frischgebackene Ingenieure und IT-Spezialisten abgezielt werden, sondern auch auf das Umfeld im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in der Kunst und Unterhaltungsindustrie. Denn gute Kultur-, Sozial- und Bildungseinrichtungen bringen entsprechende Talente hervor.

7.3

Toleranz

Für die Bindung kreativer Nomaden ist nicht nur Respekt vor, sondern kluger Umgang mit „diversity“ zentral. Denn Borniertheit und Intoleranz, ganz gleich, ob gegen gesellschaftliche Minderheiten oder Intellektuelle, sind Faktoren, die diese Attraktion massiv behindern. Die Toleranz eines kreativen Nukleus charakterisiert Richard Florida (2014) mit Offenheit, Integrationswillen und Verschiedenheit der Ethnien, Rassen und Lebensstile. Am besten arbeitet die kreative Klasse in einem Milieu der Unterschiede. Hierfür ist Toleranz heute der Sonnenschirmbegriff, der Inhalte wie Führungsvarietät, „diversity“ und Respekt, Wertschätzung von Unterschied und Andersartigkeit überspannt.

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

7.4

61

Teilhabe

Dieses vierte T für Teilhabe wurde zu meiner Zeit bei der Telekom zu den drei oben beschriebenen Ts hinzugefügt. Gerade traditionsreiche Industrienationen wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien tun sich mit dem Übergang zu wissensgesellschaftlichen Arbeits- und Organisationsformen extrem schwer, weil dabei stets auch überkommene Machtverhältnisse und Privilegien tangiert sind. Daher haben wir Teilhabe bei der Telekom folgendermaßen charakterisiert: • • • •

Hierarchieärmere Kommunikation Behandlung auf Augenhöhe Stimme des Volkes Souveränität bei der Arbeitszeit und dem Arbeitsort von Mitarbeitern –– Einführung der Frauenquote als Symbol für das gesamte Diversity-Konzept –– „Diversity“ in der gesamten Talentpipeline mit entsprechenden Quoten –– Neue Kontraktformen für Vielfalt –– Massive Erweiterung des Talentpools

Das Sprichwort „Schwerter zu Pflugscharen machen“ – das Kredo der Friedensbewegung – symbolisiert das Niederlegen der Waffen und den friedlichen Neuanfang. Mit der freiwilligen Selbstverpflichtung, bis Ende 2015 30 % Frauen in Führungspositionen bei der Telekom zu besetzen, hat die Telekom aus Pflugscharen Schwerter gemacht: Sie hat sich nicht mit einer Grass-roots-Lösung zufriedengegeben, sondern hat aufgrund der oben aufgeführten Business Cases dem geschlossenen Karrieresystem bei der Telekom radikal den Kampf angesagt. In diesem Sinn schlägt auch der Steinwurf der Frauenquote Wellen und führt zu einer neuen Diskussion über die Arbeitswelt 2.0. Auf der Basis des Prinzips, dass sich Souveränität und Individualität gegenseitig fördern, zeichnet sich die diverse Arbeitswelt 2.0 durch vier kulturelle Ankerpunkte aus. Wie Abb. 6 zeigt, bestehen diese aus Zeitsouveränität, Ortsunabhängigkeit, Meritokratie statt Seniorität und einer Lebensphasenorientierung. Bei der Umsetzung dieser vier kulturellen Ankerpunkte wird berücksichtigt, dass auch junge Väter Zeitsouveränität beanspruchen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollen ihre Zeit nicht durch eine Stechuhrmentalität reglementiert sehen, sondern ihr Zeitmanagement selbst definieren. Zusätzlich können Männer und Frauen Auszeiten einfordern. In einer diversen Arbeitswelt 2.0 braucht es Menschen, die sich Führung anders vorstellen können. Hierbei ersetzt Meritokratie das Senioritätsprinzip. Führung ist auch auf Zeit möglich, entgegen der bisherigen Besitzstandswahrung. Was zählt, ist Performance und nicht mehr die Hierarchie. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei den Diskussionen um das Unternehmen und die Arbeitswelt 2.0 eine Kultur gefordert wird, die durch zeitliche und örtliche Souveränität sowie eine individualisierte, lebensphasenorientierte Personalpolitik charakterisiert ist. Damit ist die Frauenquote letztlich nicht das ultimative Ziel, sondern nur ein Baustein für eine diversere Unternehmenskultur.

62

T. Sattelberger

Arbeitswelt 2.0

Zeitsouveränität

Ortsunabhängigkeit

 Selbstdefiniertes Zeitmanagement vs. Stechuhrmentalität

 Sitzfleisch vs. Ortsunabhängigkeit

 Auszeiten

Meritocracy statt Seniorität

 Führung auf Zeit vs. Besitzstandswahrung  Performance vs. Hierarchie

Lebensphasenorientierung  Individualisierung vs. „One size fits all“

Abb. 6  Kulturelle Ankerpunkte einer diversen Arbeitswelt 2.0: Souveränität fördert Individualität und vice versa

Dies bedeutet für Personalverantwortliche, dass sie sich die Gretchenfrage stellen müssen: Will ich Klone, „blaue Ameisen“ oder Charaktere? Hierbei ist zu bedenken, dass ein Unternehmen der Klone Gleichförmigkeit im Stil und Denken aufweist und fördert. Auch „blaue Ameisen“ fördern Uniformität im Verhalten. Ein Unternehmen allerdings, das auf Charakter setzt und selbst Charakter besitzt, unterstützt Individualität, Unterschied, Profil und Querdenken und stärkt so die Wettbewerbsfähigkeit des Systems.

8

Fazit: „A rich environment requires a rich response“

Unsere idealistische Vision ist es, hierarchieärmere, offenere und vielfältigere Unternehmenskulturen zu schaffen. Diese wären letztendlich vergleichbar mit einer Freiwilligenkonföderation, die durch eine neue und starke Kultur der Widerstandsfähigkeit gekennzeichnet ist. Diese Vision fußt auf vier grundlegenden Einsichten: 1. Unternehmen müssen sich als Talentbiotope verstehen, als Nährboden für Vielfalt, der nicht nur verschiedene Talente anzieht, sondern sie auch vielfältig fördert. 2. Unternehmen können von Freiwilligenkonföderationen lernen. Das heißt, Mitarbeiter werden mehr: Sie werden Mitglieder des Unternehmens und fühlen sich durch einen tieferen Sinn an das Unternehmen gebunden. 3. Eine Organisation der Zukunft sieht demokratischere Führung als Dienstleistung. Das Unternehmen als geschlossene, autoritär geführte Organisation hat ausgedient.

Alle Signale stehen auf Vielfalt: Der Weg zur diversen Arbeitswelt 2.0

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4. Letztlich ist für das visionäre Unternehmen Wissen Unternehmenskapital und Gemeingut. Daraus resultiert ein Open-source-Unternehmen.

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T. Sattelberger Thomas Sattelberger  ist seit Oktober 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags und seit Anfang 2018 Sprecher seiner FDP-Fraktion für Forschung und Innovation. Er war lange Jahre Vorstandsmitglied in deutschen Dax-Unternehmen: als Personalvorstand und Arbeitsdirektor für die Deutsche Telekom (2007–2012) und für den Automobilzulieferer Continental (2003–2007). Ab 1994 war Sattelberger bei der Lufthansa, von 1999 bis 2003 als operativer Airline-Vorstand. Zwischen 1975 und 1994 hat er in unterschiedlichsten Managementaufgaben und Geschäftsfeldern für den heutigen Daimler-Konzern gearbeitet. Der Diplom-Betriebswirt hält einen Dr. rer. pol. h.c. der Universität Siegen. Er ist Fellow der International Academy of Management (IAOM) und Beiratsvorsitzender der Hochschulallianz für den Mittelstand. Gemeinsam mit dem Acatech-Präsidenten Prof. Dr. Henning Kagermann hat Sattelberger das Nationale MINT Forum gegründet und war bis zu seiner Wahl in den Deutschen Bundestag dessen ehrenamtlicher Sprecher. Zuvor hatte Sattelberger 2008 die BDA/BDI-Initiative „MINT Zukunft“ gegründet, deren Vorsitzender er bis heute ist. Als BDA/BDI-Vertreter gehörte er dem Akkreditierungsrat der Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland an. Bis zu seiner Wahl in den Bundestag war er Beiratsvorsitzender des Deutschlandstipendiums und Mitglied des Beirats für Innere Führung der Bundeswehr. Er erhielt diverse Auszeichnungen, u. a. für das von ihm mit herausgegebene Buch Das demokratische Unternehmen. Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft (Managementbuch des Jahres 2015). Eine Handelsblatt-Jury kürte Sattelberger im Jahr 2010 zum „Reformer des Jahres“. Der ­Bonner Medien-Club zeichnete ihn 2012 für „non-konformistisches gegen den Stachel löcken“ mit dem begehrten Bröckemännche-Preis aus.

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen für wirksame Führung und Zusammenarbeit Nicola Spickenreither und Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  D  er Arbeitsmarkt der Millennials  2  Millennials als zukünftige Mitarbeiter und Führungskräfte – das Potenzial von morgen  3  Erwartungen von deutschsprachigen Millennials an künftige Arbeitgeber und Vorgesetzte  4  Implikationen für Praxis und Forschung  Literatur 

 66  67  72  77  80

Zusammenfassung

Vertreter der Generation Y machen schon heute bis zu 50 % der Belegschaft aus (Deloitte 2016) und wurden mehr untersucht als je eine Generation vor ihnen (Schofield et al. 2009). Geboren zwischen 1980 und 1995 ist diese Generation geprägt von Ereignissen wie dem 11. September 2001, der Entwicklung von Smartphones und der Wirtschaftskrise. Millennials sind stets mit ihrem sozialen Netzwerk verbunden, unterhalten sich bevorzugt schriftlich über verschiedenste Messaging-Plattformen und arbeiten meist gut mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammen. Millennials bringen sich mit

N. Spickenreither (*) Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe, Fürstenfeldbruck, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Sackmann Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_4

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N. Spickenreither und S. Sackmann

Kompetenz, Dynamik und Motivation in die Arbeitswelt ein, haben jedoch gleichzeitig auch hohe Erwartungen an Arbeitgeber, Vorgesetzte und Kollegen und weisen häufig nur kurze Verweildauern in einem Unternehmen auf. So stellt sich die Frage, wie eine hohe Fluktuation an Arbeitnehmern der Generation Y und dem damit verbundenen „brain drain“ eingedämmt werden kann. Zudem sind häufig auf Missverständnis und Überraschung basierende Zusammenstöße zwischen Arbeitskräften unterschiedlicher Generationen zu beobachten. Für Führungskräfte stellen diese Diskrepanzen eine ganz besondere Herausforderung dar. Schließlich sind sie nicht nur dafür zuständig, eine produktive und möglichst konfliktarme Arbeitsatmosphäre zu ermöglichen, sondern sie sind gleichzeitig natürlich auch selbst einer bestimmten Generation zugehörig. Dennoch müssen sie sich so gut wie möglich auf Mitarbeiter aus anderen Altersgruppen einstellen. In diesem Kapitel werden die besonderen Eigenschaften der Generation Y und ihre Bedeutung für den Arbeits- und Führungsalltag dargestellt. Es wird aufgezeigt, wie Führungskräfte mit dieser immer größer werdenden Gruppe von Arbeitnehmern und künftigen Führungskräften fördernd und erfolgreich umgehen können, um mit ihnen gemeinsam nachhaltig wertschöpfend zu arbeiten.

1

Der Arbeitsmarkt der Millennials

Nach Prognosen der Bundesagentur für Arbeit sowie von McKinsey (2011) wird der demografische Wandel bis 2030 für einen Fachkräftemangel verantwortlich sein, der um die 6 Mio. Stellen betreffen wird. Für Unternehmen ist es daher wichtiger als je zuvor, für potenzielle Arbeitnehmer attraktiv zu sein. Die Gruppe der Millennials macht weltweit z. T. bereits die Hälfte der auf dem Arbeitsmarkt verfügbaren Arbeitskräfte aus (Deloitte 2016) und stellt eine gut qualifizierte Gruppe von Bewerbern dar, die bezüglich der dynamisch-­veränderlichen und hoch technisierten Welt auf dem Laufenden ist (Bieber 2013). Sie ist somit einer der wichtigsten Adressaten für Bemühungen von Unternehmen, ihre Attraktivität nachhaltig zu steigern. Allein diese Tatsache unterstreicht die Notwendigkeit für Organisationen, sich damit auseinanderzusetzen, was Arbeitnehmer der Generation Y umtreibt, welche Art von Arbeitgeber für sie attraktiv ist und wie diese flexiblen und ehrgeizigen Individuen dazu motiviert werden können, möglichst lange im Unternehmen zu bleiben. Millennials sind sich dieses Kampfes der Unternehmen um die jungen Kompetenzträger durchaus bewusst, was häufig in überzogenen Vorstellungen hinsichtlich des Einstiegsgehalts oder der ersten Arbeitstätigkeiten resultiert (Bieber 2013). Hier ist es also wichtig, realistische Erwartungen zu schüren – und diese natürlich dann auch zu erfüllen, die für die potenziellen Arbeitnehmer trotzdem attraktiv sind. Das Rekrutieren und v. a. Halten von Millennials wird zusätzlich erschwert durch die proteische Ausrichtung der Generation Y, die eine geringe Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber mit sich bringt. Die Ergebnisse der Studie von Kingl (2014) legen nahe, dass ­Millennials im Lauf ihrer individuellen Karriere durchschnittlich 15–16 unterschiedliche

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen …

67

Arbeitgeber haben werden. In seiner Langzeitstudie gaben bis zu 90 % der befragten Millennials an, in den kommenden fünf Jahren ihren Arbeitgeber wechseln zu wollen. In Westeuropa liegt diese Zahl nach einer internationalen Studie von Deloitte (2016) bei immerhin 60 %; 25 % würden sogar sofort ihren aktuellen Job kündigen, wenn sich ein attraktives Alternativangebot ergäbe, und 30–45 % geben ihrer aktuellen Anstellung nicht länger als zwei Jahre. An ihren nächsten Karriereschritt denken schon 40 % der ­Millennials, wenn sie eine neue Stelle antreten, und 54 % geben an, eher ihren Teammitgliedern gegenüber loyal zu sein als ihrem Unternehmen (Deloitte 2016; Kingl 2014). Wie können Unternehmen auf diese Gefahr der starken Fluktuation reagieren, die immerhin bis zu 50 % ihrer gesamten Belegschaft betrifft? Welche Chance haben Unternehmen, wechselwillige Millennials zum Verbleib zu motivieren? Neben diesen ganz pragmatischen Überlegungen, die Parameter der Arbeits- und Organisationsgestaltung betreffen, stellen auch Generationenkonflikte Führungskräfte heute vor Herausforderungen. Vertreter anderer Generationen, wie der unabhängigen, eher pessimistischen Generation X oder der arbeitsamen Babyboomer arbeiten häufig auf ganz andere Art und haben ganz andere Werte und Erwartungen als die Newcomer aus der Generation Y. Nicht zuletzt durch negative Berichterstattung perpetuierte Vorurteile schüren so lähmende Konflikte, deren Beilegung häufig viel Zeit und auch emotionale Ressourcen erfordert (Appel und Michel-Dittgen 2013). Ältere Mitarbeiter sehen Millennials häufig als beifallheischende Opportunisten, die mehr Zeit mit der Pflege ihrer sozialen Netzwerke verbringen, als zu arbeiten, und nur noch über Emojis und Hashtags kommunizieren können. Andererseits fühlen sich Millennials von ihren erfahreneren, aber technologisch weniger versierten Kollegen oft nicht ernst genommen, von Vorgesetzten zu wenig gefordert und gefördert. In diesem Kapitel soll daher der Stand der Forschung zu Besonderheiten der Generation Y präsentiert werden, um ein möglichst hohes Maß an Verständnis zu schaffen und somit bessere Zusammenarbeit und letztlich auch Förderung zu ermöglichen. Dies ist nicht nur relevant, um Konflikte zu vermeiden. Einer Gallup-Studie zufolge wird das Engagement von Mitarbeitern zu 70 % durch die direkten Führungskräfte beeinflusst. Um auch Millennials effektiv in die Wertschöpfungskette des Unternehmens einbinden zu können, ist es daher besonders für Führungskräfte wichtig, ihre Erwartungen und Werte zu kennen und nach Möglichkeit zu erfüllen.

2

 illennials als zukünftige Mitarbeiter und Führungskräfte – M das Potenzial von morgen

2.1

Was sind eigentlich Millennials?

Die Einteilung in Generationenkohorten stellt eine von vielen Möglichkeiten dar, Personen mit ähnlichen Eigenschaften zu gruppieren. Es mag zunächst wie eine unzulässige Verallgemeinerung erscheinen, einer ganzen Generation von jungen Menschen eine bestimmte Menge von Eigenschaften zuzuschreiben. Selbstverständlich ist jeder einzelne Vertreter der

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N. Spickenreither und S. Sackmann

Generation Y ein Individuum mit eigener Persönlichkeit und Wahlmöglichkeiten. Es hat sich allerdings gezeigt, dass wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklungen eines bestimmten Zeitalters sich auf die Kultur und Eigenschaften der Personen auswirken, die in diesem Zeitalter aufwachsen und so diese typischen Entwicklungen als Kinder und Jugendliche erleben. So kommen Ähnlichkeiten zustande, die letztlich eine Generation formen. Als meisterforschte Generation hat sich für Millennials eine Vielzahl an unterschiedlichen Bezeichnungen entwickelt, die sich auf unterschiedliche Eigenschaften und Vorurteile ­beziehen. Neben Generation Y nennt man sie z. B. Digital Natives, da sie mit neuen Technologien aufgewachsen sind; Playstation Generation, u. a. weil sie Herausforderungen lieben und bevorzugt Dinge tun, die ihnen wichtig sind und Spaß machen; Curling Kids, weil ihre Eltern ihnen den Weg freiräumen, wie die Wischer beim Curling, oder Attention-deficit-disorder(ADD)-Generation, weil sie leicht ablenkbar sind. In diesem Beitrag, wie meist in der wissenschaftlichen und Praxisliteratur, werden Millennials danach kategorisiert, wann sie geboren wurden. Es gibt bis zu 21 unterschiedliche Ansichten darüber, welche Geburtenjahrgänge den Millennials zugeschrieben werden. Für dieses Kapitel bezeichnen wir Personen als Millennials, die zwischen 1980 und 1999 geboren wurden. Unmittelbar vor dieser Generation, zwischen 1965 und 1979, wird üblicherweise die Generation X verortet, noch früher, von 1946 bis 1964, gab es die Babyboomer (National Chamber Foundation 2012). Die chronologisch neueste Generation wird nach X und Y folgerichtig Generation Z genannt und betrifft Geburtenjahrgänge ab etwa 1995 (Scholz 2014), wobei es auch Autoren gibt, die die Generation Z bereits ab dem Jahrgang 1991 zuordnen (z. B. Tulgan 2009) und andere erst ab dem Jahr 2002 (Lecturio 2016). Wie man hieran gut sieht, sollte man sich bei der Betrachtung der unterschiedlichen Generationen nicht allzu sehr auf Jahreszahlen versteifen, sondern den zugrunde liegenden Werten und spezifischen Eigenschaften mehr Aufmerksamkeit schenken. Wie jede andere Generation auch, teilen viele Vertreter der Generation Y bestimmte Eigenschaften und Werte, die in einem gewissen Ausmaß für das Arbeitsleben relevant sind. Im Folgenden werden einige der wichtigsten Werte und Eigenschaften betrachtet und ihre Relevanz für den Umgang mit Millennials am Arbeitsplatz dargestellt. Dabei wird zunächst der Stand der Forschung anhand internationaler Studien, meist aus dem englischsprachigen Raum, präsentiert. Anschließend zeigt Abschn. 3 Ergebnisse unserer eigenen Studie mit Studierenden aus dem deutschsprachigen Raum auf.

2.2

Welche Werte vertreten Millennials?

Nach Klaffke (2014) prägten elektronische Medien die Generation Y von früher Jugend an, was Werte wie Autonomie, Flexibilität und den Wunsch nach Transparenz gefördert haben mag (National Chamber Foundation 2012). Aufgrund der Veränderung des Schulund Universitätswesens können Vertreter der Generation Y früher in das Erwerbsleben einsteigen als vorherige Generationen. Es ist daher wahrscheinlich, dass persönliche Reifeprozesse auch während des Arbeitslebens voranschreiten. Darüber hinaus zeigt die

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen …

69

­ eneration Y neben Leistungsorientierung, Ehrgeiz und dem Wunsch nach persönlicher G Entfaltung und Abwechslung auch Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Toleranz und Orientierung (Bieber 2013; DGFP 2011; Klaffke 2014). Millennials sagen von sich selbst oft, dass sie Wegbereiter sein und bahnbrechende Entwicklungen vorantreiben möchten. Einer Vielzahl von ihnen ist dabei besonders die eigene Entwicklung, persönlich und professionell, sehr wichtig (DGFP 2011; National Chamber Foundation 2012). Entsprechend sind Vertreter der Generation Y sehr stolz auf ihre Expertise und Erfolge. Sie tragen gern zum Unternehmen bei, wenn sie gleichzeitig Gelegenheit erhalten, neue Lernerfahrungen zu machen. Somit suchen sie auch aktiv nach Experten, von denen sie lernen können (de Janasz 2013). Persönliche Lebensziele von Millennials umfassen weiterhin eine gute Work-Life-Balance, eine positive Arbeitsumgebung, ein Eigenheim, einen Lebenspartner, gute Eltern zu sein und finanzielle Sicherheit (nicht notwendigerweise Reichtum), auch im Alter, sowie ein Beitrag zum Erfolg ihrer Organisation und/oder der Welt im Allgemeinen – eher traditionelle Lebensziele also (Bieber 2013; Deloitte 2016; Kingl 2014; National Chamber Foundation 2012; Wottawa et al. 2011). Work-Life-Balance wird in der Literatur häufig besonders herausgestellt (Twenge et al. 2010). Die Wichtigkeit dieses Aspekts ergibt sich z. T. vielleicht daraus, dass die Arbeit für Millennials oft eine Erweiterung ihres Privatlebens darstellt. Diese Sphären werden also weit weniger häufig als getrennt erlebt, als es in anderen Generationen der Fall ist. Persönliche Werte werden vor Organisationsziele gestellt und potenzielle Arbeitgeber (und häufig auch Aufgaben), die mit den eigenen Werten nicht übereinstimmen, werden abgelehnt (Deloitte 2016). In der Studie von Kingl (2014) geben 43 % der Befragten an, es sei ihnen wichtiger, ihre Organisation oder die Welt im Allgemeinen besser zu machen, als viel Geld zu verdienen. In den Münchner Wertestudien zeigten von Rosenstiel und Kollegen (Maier et al. 2009; von Rosenstiel und Nerdinger 2000), dass die damaligen Studierenden dem sog. alternativen Engagement vor der Karriereorientierung den Vorzug gaben. Allerdings fand die Forschergruppe um von Rosenstiel für diese Kohorte heraus, dass mit längerer Berufserfahrung und Aufstieg im Unternehmen das alternative Engagement immer mehr der Karriereorientierung Platz zu machen begann. Für die Generation Y scheint dies, dem aktuellen Forschungsstand zufolge, zunächst nicht zuzutreffen. Millennials nehmen ihre eben beschriebenen Werte wohl auch mit in die Führungsetagen, auf denen sie bereits heute immer stärker präsent sind. Diese Werte äußern sich in Führungspositionen beispielsweise als Fokus auf Wohlbefinden und persönliches Wachstum der Arbeitnehmer sowie das Schaffen einer bestmöglichen Arbeitsumgebung (Deloitte 2016). Twenge et  al. (2010) widersprechen allerdings diesem Befund und kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass Millennials sich weniger für andere und soziales Engagement interessieren als andere Generationen.

2.3

Welchen Beitrag leisten Millennials auf dem Arbeitsmarkt?

Einer internationalen Studie von Randstad (2014a) zufolge streben bis zu 17 % der Millennials die Gründung eines eigenen Unternehmens an. Andere Studien geben diesen Prozentsatz dagegen mit 50–66  % an (National Chamber Foundation 2012). Ein solches

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N. Spickenreither und S. Sackmann

­ ntrepreneurship bzw. Intrapreneurship wird wegen seiner Assoziation mit Innovation E von Unternehmen häufig als erstrebenswerte Eigenschaft bei Arbeitnehmern betrachtet. Ihre viel zitierte Abhängigkeit von mobiler Kommunikationstechnik und sozialen Netzwerken sorgt gleichzeitig dafür, dass Millennials integriert handeln und denken. Dies betrifft ihre Work-Life-Balance, aber auch ihre diversen Netzwerke. Facebook wird ebenso für das berufliche Netzwerk genutzt wie LinkedIn für das private, was für verbesserte Produktivität und mehr Wissenstransfer sorgt (National Chamber Foundation 2012). Zudem sind sie durch ihre Fokussierung auf mobile Kommunikation oft bereitwillig jederzeit erreichbar und geübt darin, mehrere Dinge parallel zu tun (Randstad 2014a). Millennials arbeiten am liebsten in Teams und bevorzugen es, Entscheidungen unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven in der Gruppe zu treffen (National Chamber Foundation 2012). Dies alles macht sie zu sehr flexiblen Mitarbeitern, die nicht nur technologisch versiert sind, sondern auch gern Neues lernen (DGFP 2011). Allerdings zeigen Studien, dass Millennials gegenüber Ablenkung besonders empfindlich sind, was sich negativ auf ihre Leistung und z. B. auch auf den Kundenservice auswirken kann (Ophira et al. 2009; National Chamber Foundation 2012). Millennials sind geübt im Umgang mit neuen Medien und daher in der Lage, dem Information Overload im Internet zielgerichtete Recherchefähigkeiten und das schnelle Herausfiltern relevanter Informationen entgegenzusetzen (Bieber 2013; DGFP 2011). Auch erleichtert der ständige Umgang mit Technologien die Adaption an Neuentwicklungen, sodass Millennials auf dem Laufenden bleiben und immer effektiver arbeiten können (Randstad 2014a). Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass die Generation Y mit langsamen Prozessen schlecht umgehen kann (National Chamber Foundation 2012). Da sie gern lernen und sehr stolz auf ihre Erfolge sind, bringen Millennials ein hohes Maß an Kompetenz, Dynamik und Motivation mit, v. a. wenn sie praktische und unabhängige Arbeit an einem Projekt leisten können (Randstad 2014a, b; National Chamber Foundation 2012). Auch Optimismus und Leistungsorientierung zeichnen Vertreter der Generation Y aus, auch wenn dies z.  T. in einem gewissen Opportunismus mündet (Scholz 2014) und Kritik oft nicht gut aufgenommen wird (Levit und Licina 2011). Gleichzeitig haben Millennials jedoch auch hohe Erwartungen an ihren Arbeitsplatz, die im Folgenden vorgestellt werden.

2.4

Was erwarten Millennials von ihrem Arbeitgeber?

Millennials sehen den Einfluss von Unternehmen auf die Gesellschaft oft positiver als frühere Generationen. Sie äußern aber auch die Ansicht, dass Unternehmen neben der reinen Ausrichtung auf den Profit auch andere Ziele verfolgen sollten, wie etwa Arbeitszufriedenheit, Produkt- und Servicequalität, Kundenzufriedenheit, Innovation, Nachhaltigkeit und Effizienz (Bieber 2013; Deloitte 2016; Robert Half International Inc. 2016). Um nachhaltigen Erfolg zu sichern, erachten Millennials es als unabdingbar, die Menschen im Unternehmen an die erste Stelle zu setzen, eine solide Basis von Vertrauen und Integrität zu schaffen, sich um Kunden und Produktqualität zu kümmern und auch auf Umwelt und soziale Verantwortung zu achten (4P – „profit, people, products, purpose“).

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen …

71

Millennials wollen teilhaben an dem positiven Einfluss auf die Gesellschaft, den Unternehmen ihrer Ansicht nach ausüben können. Gleichzeitig ist ihnen, wie weiter oben beschrieben, wichtig, ihre persönlichen Werte mit in die Arbeit nehmen zu können. In der Deloitte-Studie (2016) berichten 70 %, dass ihre eigenen Werte mit denen des Unternehmens übereinstimmen. Wo die Werte nicht übereinstimmen und wo Millennials eine Unternehmensausrichtung rein auf den Profit wahrnehmen, ist die Kündigungsabsicht besonders hoch. Während Millennials durchaus sehen, dass Profit und Unternehmenswachstum wichtige Pfeiler des Erfolgs darstellen – in dieser Hinsicht sind sie also nicht naiv –, sehen sie dies jedoch v. a. als wichtige Vorbedingung dafür, dass Unternehmen bestehende Jobs weitertragen und neue Arbeitsplätze schaffen können. Aufgrund ihrer Affinität zu mobilen Kommunikationsmitteln und dem Internet im Allgemeinen erwarten Millennials, dass Informationen und Ressourcen immer und überall unmittelbar verfügbar sind. Sie legen hohen Wert auf Flexibilität, die sie ja auch selbst ins Unternehmen einbringen. Dies betrifft z. B. Arbeitszeit und Arbeitsort sowie auch Freiräume, um z.  B. ihre Arbeitsweise so weit wie möglich selbst bestimmen zu können (DGFP 2011; Randstad 2014a). Training und Entwicklung sind Millennials nach eigener Aussage wichtiger als hohe Bezahlung (Robert Half International Inc. 2016). Nur 42 % der Befragten gaben in der Studie von Randstad (2014a) an, dass Geld sie motivieren würde, bei einem Unternehmen zu verweilen und härter zu arbeiten. Die oben angesprochene fehlende Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber könnte daher stammen, dass Millennials sich häufig von der Organisation vernachlässigt fühlen, was ihre Weiterentwicklung betrifft: 71 % der Millennials, die planen, ihren Arbeitsplatz zu wechseln, sind in der Studie von Deloitte (2016) unzufrieden mit der Förderung ihrer Weiterentwicklung; 63 % erklären, ihre Führungsfähigkeiten werden nicht voll entwickelt, nur 28 % haben den Eindruck, dass ihre Fähigkeiten in der Organisation voll ausgeschöpft werden. Ihnen ist bewusst, dass Führungsfähigkeiten von Organisationen absolut erwünscht, ja gefordert werden, bemerken aber kaum Engagement seitens der Unternehmen, die nächste Generation von Führungskräften heranzuziehen. Was die Organisationskultur betrifft, empfinden Millennials eine stark reglementierte und von Kontrolle geprägte Arbeitsumgebung als unangenehm. Gleichzeitig legen sie Wert auf die Übernahme von Verantwortung für eigenes Verhalten und die eigene Leistung. In diesem Zusammenhang sind ihnen auch angemessene Herausforderung, Anerkennung, Wertschätzung sowie häufiges und sofortiges Feedback wichtig (National Chamber Foundation 2012). Von guten Führungskräften erwarten Millennials neben Authentizität v.  a. gute Kommunikationsfähigkeit und das Vermitteln einer Vision (Randstad 2014a). Auch eine enge Beziehung zum Vorgesetzten ist ihnen wichtig (Myers und Sadaghiani 2010). Hinsichtlich der Arbeitgeberattraktivität zeigte die Studie von Deloitte, dass Bezahlung und finanzielle Incentives die Wahl des Arbeitgebers zu 22 % beeinflussen – völlig unwichtig ist das Geld also auch für Millennials nicht. Auch wenn finanzielle Aspekte 20 % der Entscheidung für einen Arbeitgeber ausmachen, ist es ein ganzer Strauß an Ansprüchen an einen potenziellen Arbeitgeber, die es zu verstehen und möglichst zu erfüllen gilt, wenn Millennials angezogen und im Unternehmen gehalten werden sollen. Zusammenfassend

72

N. Spickenreither und S. Sackmann

stehen Work-Life-Balance sowie professionelle Weiterentwicklung und Aufstiegschancen weit vorn. Flexibilität, Sinnhaftigkeit und der positive Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes rangieren ebenfalls unter den wichtigsten Ansprüchen. Weitere Anforderungen umfassen schließlich Produktqualität, Zielgerichtetheit, internationale Reisen, Dynamik, Prestige, Nutzung neuer Technologien und der Ruf der obersten Führung (Deloitte 2016; DGFP 2011; Randstad 2016; Robert Half International Inc. 2016). Was Millennials offenbar weniger wichtig zu sein scheint ist, für eine schnell wachsende Unternehmung zu arbeiten (Randstad 2014a).

3

 rwartungen von deutschsprachigen Millennials an künftige E Arbeitgeber und Vorgesetzte

Die in Abschn. 2 besprochenen Erkenntnisse aus der einschlägigen Literatur zeichnen bereits ein umfassendes Bild von Werten, Eigenschaften und Erwartungen der Generation Y. In diesem Abschnitt soll besonderes Augenmerk auf Millennials aus dem deutschsprachigen Raum gelegt werden. Ziel unserer hier präsentierten Studie mit 359 Studierenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es, die Erwartungen von jungen Menschen aus der Generation Y an ihre künftigen Arbeitgeber kurz vor dem Eintritt ins Erwerbsleben zu erfassen. Zentrale Fragestellungen umfassen wichtigste Merkmale des künftigen Arbeitgebers, direkten Vorgesetzten und Aufgabengebiets. Der Fragebogen wurde online verschickt und basierte auf den 16 zentralen Lebensmotiven nach Reiss (2009), dem Karriereankerfragebogen nach Schein (1996), dem integrierten Modell zur Arbeitsmotivation von Locke und Latham (2004), dem Führungsfragebogen von Sackmann (2014) sowie einer Skala zu Erwartungen an die Arbeit von Jasper et al. (2001).

3.1

Stichprobe

Mit 359 befragten Studierenden fußt unsere Studie auf einer breiten Datenbasis, die zwar keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann, jedoch eine gewisse Generalisierung der Ergebnisse erlaubt. Der Altersdurchschnitt in unserer Stichprobe beträgt 25,35 Jahre; 63  % der Befragten sind Frauen; 65  % der Befragten sind Deutsche, knapp 29  % sind Österreicher. Außerdem befanden sich Schweizer, Osteuropäer sowie vereinzelt Personen mit afrikanischem und asiatischem Hintergrund in der Stichprobe. Die Studienteilnehmer hatten zum Erhebungszeitpunkt im Mittel 6,9 Semester studiert, davon 97,5 % an einer Hochschule, der Rest an einer Fachhochschule. Ein gutes Drittel der Befragten studiert Wirtschaftswissenschaften, knapp 20 % Sozial- oder Geisteswissenschaften. Natur- und Geowissenschaften sind mit 13 % in der Stichprobe vertreten. Der Rest verteilt sich auf Human- und Tiermedizin, Ingenieurwesen, Sprach- und Kulturwissenschaften, Lehramt, Informatik, Jura und Wirtschaftsrecht sowie Theologie. Hier wird die breite Perspektive deutlich, auf der unsere Ergebnisse basieren.

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen …

3.2

73

Wichtige Merkmale und Idealbild des künftigen Arbeitgebers

Merkmale, die den befragten Millennials bei ihrem künftigen Arbeitgeber besonders wichtig sind, wurden mithilfe eines Polaritätenprofils mit einer sechsstufigen Skala erhoben. Wie Abb. 1 zeigt, ist den Studierenden die Mitverantwortung des Unternehmens für die Gesundheit seiner Arbeitnehmer besonders wichtig. Dies reflektiert z. B. die Ergebnisse der Studie von Deloitte (2016), wonach auch Millennials selbst als Führungskräften das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter wichtig ist. Wie erwartet ist auch sozialer Austausch den Befragten sehr wichtig, ebenso wie das Treffen gemeinsamer Entscheidungen. Auch hier stimmen unsere Ergebnisse mit der Literatur überein (National Chamber Foundation 2012). Auch Mitarbeiterorientierung sowie eine Mitverantwortung des Unternehmens für die Gesundheit sind wichtig, während der Wunsch nach einer Führungskraft als Coach sich mit Befunden von Myers und Sadaghiani (2010) deckt, aber zusätzlich das Bedürfnis nach Mentoring und Führung unterstreicht. Die oben mehrfach angesprochene Work-­Life-­ Balance findet sich in unserer Studie ebenfalls wieder: Die Befragten empfinden ein geregeltes Privatleben als sehr wichtig. Allerdings widerspricht dies tendenziell der häufig geäußerten Erkenntnis, dass sich Berufs- und Privatleben bei Millennials weitgehend ­vermischen. Diese Diskrepanz mag jedoch durch die Formulierung des Gegenpols Karriere (mit hohem zeitlichen Einsatz) entstanden sein. Auch die Punkte, die eine mittlere Wichtigkeit aufweisen, finden sich in der Literatur jeweils wieder: Freiraum für Eigeninitiative ebenso wie Herausforderung durch Neues. Einrichtungen für Kinder/Mütter sind für unsere Befragten wichtiger als die Gleichbehandlung aller Mitarbeiter, was den Befund aus der Literatur stärkt, dass Work-Life-­ Balance besondere Wichtigkeit besitzt. Toleranz ist den Befragten dabei ebenso wichtig

Abb. 1  Welche Merkmale sind Ihnen bei Ihrem künftigen Arbeitgeber wie wichtig?

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N. Spickenreither und S. Sackmann

wie Einrichtungen für Kinder/Mütter. Anerkennung wünschen sich die Studienteilnehmer eher im Privaten als öffentlich, was für ehrliches Interesse an Feedback und gegen den häufig geäußerten Vorwurf des Opportunismus sprechen mag. Weniger deutlich als die zuvor genannten Punkte wird ein anregendes Betriebsklima der Fürsorge durch das Unternehmen vorgezogen. Auch Internationalität wird keine he­ rausragende Wichtigkeit beigemessen. Interessanterweise bevorzugen die Millennials in unserer Studie das klassische Büro sowie ein sicheres, planbares Gehalt. Moderne Bürokonzepte und leistungsangepasste Bezahlung werden heute von vielen Unternehmen eingeführt, um gerade für Millennials attraktiver zu sein. Unsere Studie liefert hier einen Hinweis darauf, dass diese Strategie nicht unbedingt aufgehen muss. Dass der freizügige Umgang mit Informationen Verschwiegenheit vorgezogen wird, verwundert nicht. Aber auch die geringe Abweichung von der Mitte, was bedeutet, dass beide Pole in etwa gleich wichtig sind, lässt sich gut erklären: Durch die Versiertheit mit technischen Kommunikationsmitteln und dem Internet ist vielen Millennials der Schutz persönlicher Daten und Informationen ein wichtiges Anliegen. Der Möglichkeit zum Aufstieg im Unternehmen wurde in anderen Studien mehr Gewicht zugemessen, als es in unserer Studie den Anschein hat (Deloitte 2016; Randstad 2016). Da hier jedoch Arbeitsplatzsicherheit den Gegenpol darstellt, verwundert es kaum, dass die karriereorientierten, gleichzeitig jedoch an Sicherheit interessierten Millennials hier keine sehr deutliche Entscheidung treffen. Übereinstimmend mit Ergebnissen von Randstad (2014a) ist auch unseren Teilnehmern nicht ausnehmend wichtig, für ein schnell wachsendes, aufstrebendes Jungunternehmen zu arbeiten – aber auch für ein etabliertes Traditionsunternehmen mögen sie sich nicht deutlich entscheiden. Insgesamt stimmen unsere Ergebnisse hier im Wesentlichen mit der Literatur überein, können jedoch den einen oder anderen Punkt noch etwas differenzierter beleuchten. Beim Polaritätenprofil zum Idealbild des künftigen Arbeitgebers, das in Abb. 2 metaphorisch mit Charaktereigenschaften dargestellt ist, werden auch v. a. die typischen Eigenschaften der Generation Y deutlich, die unsere Teilnehmer auf ihren idealen künftigen Arbeitgeber übertragen: selbstsicher, gesellig, teamorientiert.

3.3

Wichtige Merkmale des künftigen direkten Vorgesetzten

Die Abb. 3 zu wichtigen Merkmalen des künftigen Vorgesetzten zeigt auf den ersten Blick v. a. eines: Die Generation Y ist anspruchsvoll und will eigentlich alles. Hier gab es keine Gegenpole, die Wichtigkeit der jeweiligen Eigenschaften wurde auf einer fünfstufigen Skala erhoben. Ganz oben auf der Wunschliste stehen bei unseren Teilnehmern Fairness, Verlässlichkeit und Anerkennung, während Perfektionismus vergleichsweise weit abgeschlagen ist. Die hohe Bewertung von Kompetenz deckt sich mit dem Befund, dass Millennials sich gern von Experten neues Wissen holen (de Janasz 2013). Der Wunsch nach Förderung wurde ebenfalls mit über vier bewertet, was sich wieder gut mit der Literatur deckt.

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen …

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Abb. 2  Wie gut beschreiben die folgenden Charakteristika Ihr Idealbild eines künftigen Arbeitgebers?

Abb. 3  Wie wichtig sind Ihnen die folgenden Merkmale bei Ihrem künftigen direkten Vorgesetzten?

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3.4

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Wichtige Merkmale des künftigen Aufgabengebiets

Auf die gleiche Weise wie Merkmale des Vorgesetzten wurden auch die wichtigsten Merkmale des künftigen Aufgabengebiets erhoben. Sie sind in Abb. 4 dargestellt. Entwicklungsmöglichkeiten stehen an erster Stelle, dicht gefolgt von der Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen. Beiden Punkten wird auch in der Literatur große Bedeutung beigemessen. An dritter Stelle folgt Spaß, was der stereotypen Playstation-Generation sowie Ergebnissen von Wottawa et al. (2011) entspricht. Gegen das Vorurteil, die Generation Y sei faul und suche nach dem leichtesten Weg, spricht hingegen der Punkt der (intellektuell) herausfordernden Tätigkeit, dessen Wichtigkeit ebenfalls sehr hoch bewertet wurde. In der Literatur wurde dies jedoch ebenfalls dargestellt, denn nach Deloitte (2016) fühlen sich viele Millennials in der Arbeit nicht ihrem Potenzial entsprechend eingesetzt. Auch die weiteren Punkte bis hin zur doch recht unbeliebten Routine tragen dazu bei, Erkenntnisse aus der Literatur weiter zu erhellen.

3.5

Weitere Erkenntnisse

Wir fragten die Teilnehmer unserer Studie mit einem dichotomen Item, ob sie es insgesamt bevorzugen würden, angestellt zu sein oder sich selbstständig zu machen. Mit 31,4 %, die sich selbstständig machen möchten, liegt unser Ergebnis etwa mittig zwischen den Befunden von Randstad (2014a; 17 %) und National Chamber Foundation (2012; 50 %).

Abb. 4  Wie wichtig sind Ihnen die folgenden Merkmale Ihres künftigen Aufgabengebiets?

Herausforderung Millennials – ihre Charakteristika und Erwartungen mit Implikationen …

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Beim Vergleich zwischen Männern und Frauen ergab sich ein statistisch signifikanter Unterschied, was den Wunsch nach einem team- und konsensorientierten künftigen Arbeitgeber betrifft. Dieser Wunsch ist bei Frauen signifikant stärker ausgeprägt. Studierende der Wirtschaftswissenschaften stechen bei der Frage nach Karriere vs. geregeltes Privatleben heraus. Sie geben zwar auch dem geregelten Privatleben leicht den Vorzug, mit 3,81 (auf der Skala von 1 bis 5) jedoch signifikant weniger deutlich als Sozial- und Naturwissenschaftler sowie Medizinstudenten. Ebenfalls signifikant unterschiedlich von Sozialwissenschaftsstudenten wünschen sich Wirtschaftsstudenten von ihrem künftigen Unternehmen eher eine ausgeprägte Wettbewerbsorientierung als Harmonieorientierung.

4

Implikationen für Praxis und Forschung

Aus den bis hierher erarbeiteten Erkenntnissen werden im Folgenden Implikationen für die Praxis sowie für weitere Forschung abgeleitet. Dies wird, jenseits von mittlerweile bewährten und weitverbreiteten Maßnahmen wie flexiblen Arbeitszeiten, leistungsorientierter Entlohnung und flexiblen Bürokonzepten neue Anregungen liefern, effektiv und fördernd mit Millennials zusammenzuarbeiten. Wie oben bereits erwähnt, stellt unsere Studie die Notwendigkeit und Wirksamkeit von leistungsorientierter Entlohnung und modernen Bürokonzepten infrage. Hier böte sich also ein potenziell lohnender Ansatz für die Forschung zur Evaluation des Erfolgs solcher Maßnahmen. Aus unserer Studie ergibt sich ein Idealbild des zukunftsfähigen Unternehmens, das für deutschsprachige Millennials maximal attraktiv ist. Das Unternehmen der Zukunft ist demnach offen, tolerant, kritikfähig, wettbewerbs- und teamorientiert. Es herrscht dort reger sozialer Austausch, Mitarbeiter werden an Entscheidungen beteiligt, es gibt Herausforderungen für Neues, Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten. Wissens- und Erfahrungsaustausch werden nicht nur zugelassen, sondern aktiv gefördert, Mitarbeiter können ihre Ideen einbringen und Spaß an ihren Aufgaben haben. Im Unternehmen der Zukunft wird partnerschaftlich gecoacht und auf die Gesundheit sowie Work-Life-Balance g­ eachtet. Einige dieser Punkte werden im Folgenden unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus der Literatur weiter ausgeführt und mit konkreten Empfehlungen für Forschung und Praxis ergänzt. Nach der Studie von Deloitte (2016) besteht ein Zusammenhang zwischen der Loyalität von Millennials und deren Überzeugungen, was nachhaltiger Erfolg für ein Unternehmen bedeuten sollte. Unter anderem wurden hier Werte wie soziale Verantwortung, aber auch Produktqualität genannt. Unternehmen, die demnach das Richtige tun, können der Millennial-Fluktuation und dem damit verbundenen „brain-drain“ durch sechs wesentliche Maßnahmen präventiv begegnen: 1. Schon bei der Rekrutierung sollte darauf geachtet werden, dass die für Millennials wichtigen Werte auch mit denen des Unternehmens übereinstimmen – es sei denn, man will mit neuen Mitarbeitern bewusst einen Kulturwandel unterstützen.

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2. Das Unternehmen sollte sich auf die Erwartungen der Millennials an ihre Arbeitgeber einstellen und im Selektionsprozess offen ansprechen, inwieweit diese im Unternehmen erfüllt werden können. 3. Unternehmen sollten den Wunsch nach professioneller Weiterbildung unterstützen. 4. In Unternehmen sollte eine partnerschaftliche Führung praktiziert werden, die regelmäßiges Feedback gibt und eher coacht als aufzeigt. 5. Die Arbeitsmittel sollten dem erwarteten technischen Stand entsprechen. 6. Unternehmen brauchen eine Kultur, die durch offenen, direkten und regen fachlichen und sozialen Austausch auf und zwischen den Hierarchieebenen gekennzeichnet ist. Es kann u. a. sehr hilfreich sein, Millennials Mentoren zur Seite zu stellen. Millennials mit einem Mentor beschreiben die Qualität der Ratschläge zu 94 % sowie 91 % das Ausmaß an gezeigtem Interesse an ihrer Weiterentwicklung als gut; 83 % dieser Millennials sind mit diesem Aspekt ihres Arbeitslebens zufrieden (Deloitte 2016). Mentoren dienen als Personen, an die man sich mit Fragen wenden kann, und helfen bei der Entwicklung der Führungsfähigkeiten. Es ist hierzu ein Setting hilfreich, in dem eine auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung entstehen kann, in der idealerweise voneinander gelernt wird. Wissensweitergabe über Prozesse und Gepflogenheiten am Arbeitsplatz einerseits kann z. B. durch Weitergabe von Wissen über neue Technologien vergolten werden. Millennials haben z. T. Schwierigkeiten, ihre Ziele und Ansprüche an die Realität anzupassen, der sie im Arbeitsleben begegnen. Mentoren können ihnen helfen, die Gegebenheiten fokussierter und realistischer zu betrachten. Durch eine wohlwollende Förderung durch den Mentor hinein in verantwortungsvollere Aufgaben sowie Führungsaufgaben wird nicht nur die Karriere des Mentees vorangebracht. Auch der Mentor und das Unternehmen profitieren davon, da der Mentee ermutigt wird, sich selbst und seine Ideen in das Unternehmen einzubringen, sodass u. a. die bei Millenials eher schwer erreichbare Loyalität gestärkt werden kann (Deloitte 2016). Wichtige Mentoring-Aufgaben umfassen konstruktives Feedback, Denkanstöße und Unterstützung im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten. Hierbei sind eine beiderseits offene Kommunikation und eine klare Bekundung der jeweiligen Bedürfnisse und Erwartungen besonders wichtig. Durch ein Mentoring-Programm bei Sun Microsystems blieben 23 % mehr Arbeitnehmer dem Unternehmen erhalten, was der Firma geschätzte 6,7 Mio. US-$ einsparte ­(Nekuda 2011). Nekuda kam darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass Mentoring-Programme das Vertrauen in die Organisationsführung erhöhen. Nach de Janasz (2013) ist Mentoring mit Millennials auch virtuell, vermittelt über Skype oder andere Messenger-Dienste, gut machbar. In Deutschland wurde allerdings nur geringes Engagement für Mentoring festgestellt (Deloitte 2016). Ein möglicher Ansatz für die Forschung wäre zu untersuchen, ob sich die international festgestellten positiven Effekte von Mentoring für Millennials und Unternehmen in Deutschland replizieren lassen. Weiterhin wäre zu überlegen, wie das Engagement von deutschen Unternehmen für Mentoring-Maßnahmen gestärkt werden kann. Eine Übereinstimmung der persönlichen Werte mit denen des Unternehmens und eine als positiv empfundene Organisationskultur stärken ebenfalls die Loyalität (Deloitte 2016).

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Eine solche Organisationskultur beinhaltet z.  B. offene Kommunikation, gegenseitige Unterstützung und Toleranz, neben den wirtschaftlichen Zielen auch ein Fokus auf gesellschaftliche Ziele, Ermutigung, eigene Ideen zu entwickeln und zu äußern, sowie Betonung von Gleichberechtigung. Entgegen der landläufigen Meinung zieht die Hälfte der Millennials persönliche Kommunikation der technikvermittelten Kommunikation vor (Randstad 2014a). Weiterbildungsmöglichkeiten zu schaffen ist ein weiterer wichtiger Faktor. Wo Millennials mit ihren Möglichkeiten zur professionellen Entwicklung zufrieden sind, bleiben sie auch länger (Deloitte 2016). Dies lässt sich u. a. mit einem höheren Maß an Interaktion mit anderen Teams, geteilten Werten und größerer Kontrolle über die eigene Karriereentwicklung unterstützen. Während viele Unternehmen Flexibilität ihrer Arbeitnehmer für wichtig erachten und gerade Millennials diese Flexibilität ins Unternehmen einbringen, wird sie de facto verhältnismäßig selten tatsächlich gewährt. Zwar werden E-Mails und relevante Programme von den meisten Arbeitnehmern auch außerhalb ihres Arbeitsplatzes empfangen und bearbeitet, allerdings hatten in der Studie von Deloitte (2016) nur 43 % die Erlaubnis seitens des Unternehmens, von zu Hause oder anderswo außerhalb des Büros zu arbeiten. Diese örtliche und zeitliche Flexibilität ist 88 % der Millennials sehr wichtig und geht mit größerer Loyalität und Arbeitszufriedenheit einher. Millennials erwarten, am Arbeitsplatz mindestens den gleichen technologischen Standard in ihrer Arbeitsausrüstung vorzufinden, wie sie ihn zu Hause haben. Dies stellt im Grunde eine Mindestanforderung dar. Schon bei der Rekrutierung von Millennials per Stellenanzeige ist es wichtig, ihre Erwartungen zu berücksichtigen (für einen Überblick s. Bieber 2013). Das beginnt bei der Verwendung von fachspezifischen E-Recruiting-Maßnahmen und -Plattformen (was u. a. die sinnvolle Nutzung von Google beinhaltet). Wichtig sind auch eine deutliche Abgrenzung zu Wettbewerbern und die Betonung des (tatsächlich gelebten) sozialen ­Engagements des Unternehmens. Neben dem konkreten Job sollten zudem mögliche weiterführende berufliche Perspektiven aufgezeigt werden, die sich dem Bewerber künftig im Unternehmen eröffnen können. Dabei ist die Wahrung der Authentizität in einer Stellenanzeige zentral. Übertriebene Floskeln wie Sales Manager oder Accounts Payable Manager ziehen weit weniger als eine verständliche Formulierung der konkreten Erwartungen an die Qualifikation des Bewerbers. Ebenso gehört es dazu, die Unternehmenswebseite als E-Recruiting-Kanal zu verwenden, da Millennials vorwiegend online nach potenziellen Arbeitgebern suchen und einen professionellen, umfassenden Webauftritt erwarten. Auch für die Führung von Millennials gilt es, einige Grundsätze zu beachten, um sie angemessen fordern und fördern zu können und ihnen Gelegenheit zu geben, motiviert ihren Aufgaben nachzukommen. Zum einen sollte die Befähigung von Millennials (im Sinne von „enabling“) der Kontrolle vorgezogen werden. Konkrete Zielvereinbarungen und Deadlines werden eher geschätzt und respektiert als genaue Vorgaben über die Arbeitsweise. Innovation sollte enthusiastisch unterstützt und gelobt werden. Ebenso selbstverständlich sollte unmittelbares und regelmäßiges Feedback zum Vorgehen bei der Arbeit

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und zur erbrachten Leistung gegeben werden. Ein gesunder Umgang mit Fehlern, bei dem Fehler v. a. als Zeichen dafür gewertet werden, dass jemand versucht hat, etwas Neues auszuprobieren, trägt ebenfalls zur Motivation der Millennials bei. Aus ihrer Erziehung sind sie eher gewohnt, für ihre Anstrengungen und nicht nur ihre Leistung gelobt zu werden, und reagieren bei solch einem Vorgehen entsprechend positiv (de Janasz 2013). Da sich in unserer Studie z. T. signifikante Unterschiede zwischen Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen sowie zwischen den Geschlechtern zeigten, wäre es für die weitere Forschung interessant, verschiedene Subgruppen innerhalb der Generation Y noch genauer zu untersuchen – immerhin gilt sie bisher als eine der diversesten Generationen. Dies bedeutet, neben all den oben ausgeführten Empfehlungen für die Praxis im Umgang mit Millenials, dass auch die Erwartungen und Verhaltensweisen einzelner Vertreter dieser Generation durchaus unterschiedlich sein können. Damit eröffnet sich eine spannende und bunte Arbeitswelt.

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N. Spickenreither und S. Sackmann Dr. Nicola Spickenreither  hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München und University of Adelaide ihr Diplomstudium der Psychologie absolviert und an der Universität der Bundeswehr München über „Kreativität bei virtueller Zusammenarbeit“ promoviert. Inzwischen arbeitet sie am Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe im Internationalen Trainings- und Ausbildungszentrum Flugpsychologie und Stressmanagement. Ihre aktuellen Forschungsinteressen liegen im Bereich Human Performance Enhancement, insbesondere Achtsamkeit.

Univ.-Prof. Sonja Sackmann,  PhD, ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre ­Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles ­Management.

Müssen wir Führung neu erfinden? Martin Schütte

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Die Bedeutung von Führung für den Unternehmenserfolg  3  Was verstehen wir unter Führung?  4  Was bestimmt die Leistung der Mitarbeiter?  5  Das prinzipienbasierte Führungskonzept  6  Management des Wandels/Change Management  7  Warum tun wir uns so schwer mit mitarbeiterorientierter Führung?  8  Was ist zu tun?  Literatur 

 84  84  85  91  92  93  94  95  96

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird in der Einführung der sich wandelnde Führungskontext skizziert, für den es eine neue Führung braucht. Dieser bedingt ein neues Bild von Unternehmen, Mitarbeitern, der Führungskraft und Führung. Die neue, prinzipienbasierte Führung ist an den Grundbedürfnissen der Mitarbeiter orientiert mit Konsequenzen für die Strukturen und Systeme von Unternehmen. Es braucht flache Hierarchien mit konsequenter Delegation von Verantwortung und Kompetenzen, die Förderung von Projektarbeit, die laufende Überprüfung und Reduzierung interner Vorschriften und Richtlinien auf ein Mindestmaß und v. a. eine offene und intensive Kommunikations- bzw. Dialogkultur. Ein regelmäßiges Controlling der Umsetzung und der gelebten Unternehmenspraxis mit regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen,

M. Schütte (*) LMU Ludwig Maximilian Universität München, Gräfelfing, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_5

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M. Schütte

Erhebungen zum Umfang der Projektarbeit und Reduktion von internen Vorschriften und Verwaltungsroutinen sorgt für den Wandel hin zu einer mitarbeiterorientierten Führung, bei der der Homo oeconomicus sich mit dem Homo psychologicus verbrüdert oder diesen gar ersetzt.

1

Einführung

Das einzig Konstante ist der Wandel mit den Auswirkungen: permanenter Veränderungsdruck, dramatische Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit, ständig steigende Komplexität und Mehrdeutigkeit der Folgen. Die Stichworte sind: Globalisierung mit weltweitem Kosten- und Qualitätswettbewerb, Entstehen virtueller Netzwerke und Organisationen, Entgrenzung der Arbeitszeit, Reduzierung staatlicher Regulierungsmacht, die ­demografische Entwicklung mit Rückgang und Überalterung der Bevölkerung in den entwickelten Ländern, Wertewandel der Generationen (Generation Y) sowie die digitale Revolution mit Internet, Big Data, Industrie 4.0, künstlicher Intelligenz und was sich daraus alles noch ergeben wird. Diese Stichworte werfen jetzt schon existenzielle Fragen auf. Wird es überhaupt noch feste Organisationen wie Unternehmen geben, in denen Menschen an gemeinsamen Orten zusammenarbeiten? Wird es noch Instanzen geben, die für einheitliche Regeln und Normen sorgen können? Oder wird sich die Arbeitswelt in ein Netz von selbstständigen Nomaden auflösen, die durch anonyme Strukturen verbunden und gesteuert werden? Brauchen wir dann überhaupt noch Führung oder müssen wir sie neu erfinden? Eindeutige Antworten gibt es nicht, aber die Fragen lassen die allgemeine Richtung erkennen. Feste Strukturen werden sich tendenziell auflösen in Richtung Netzwerke, die örtlich und zeitlich verteilt und unabhängig sind. Der Veränderungsdruck wird nochmals zunehmen und sich weiter beschleunigen. Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit in jeder Beziehung werden zum Schlüssel, um in diesem Umfeld bestehen zu können. Dasselbe gilt für Qualifikation und Leistungsfähigkeit. Lebenslange Arbeit wird durch lebenslanges Lernen ersetzt und ermöglicht. Was bedeutet das für Führung?

2

Die Bedeutung von Führung für den Unternehmenserfolg

Die Qualität der Führung hat entscheidenden Einfluss auf den Unternehmenserfolg und das Unternehmensergebnis. Das entspricht der Erfahrung und ist auf den verschiedensten Ebenen empirisch nachgewiesen. Die Versuche, das Humankapital insgesamt zu messen und zu bewerten, weisen die Führung als einen der Schlüsselfaktoren aus (Überblick bei Gebauer 2005, S. 35 ff.). Dasselbe gilt für die Bestimmung der für das Unternehmensergebnis entscheidenden Werttreiber, z. B. nach Wucknitz (2009, S. 81 ff.) oder dem EFQM-­Modell der

Müssen wir Führung neu erfinden?

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European Foundation for Quality Management (EFQM 1999). Der Einfluss ist auch konkretisiert nachgewiesen in Korrelationsanalysen auf verschiedensten Ebenen, universitären Studien (z. B. Peus et al. 2004), öffentlich geförderten Forschungsprojekten, wie dem Human Potential Index (HPI: Große-Jäger et  al. 2009) oder auch auf Unternehmensebene, z. B. dem Employee Value Index der ehemaligen Hypo-Bank (EVL: Friederichs und Sattler 2004), Bertelsmann und anderen Unternehmen.

3

Was verstehen wir unter Führung?

Überall, wo Menschen zusammenleben, gibt und gab es Führung. In unserem Kontext, der Wirtschaft, wird es Führung so lange geben, wie Menschen an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten oder zusammenwirken. Dabei bleiben die grundsätzlichen Aufgaben und Merkmale der Führung gleich. Lediglich die Umsetzung in konkrete Maßnahmen und Verhaltensweisen ändert sich entsprechend veränderten Umfeldbedingungen. Das entspricht auch meiner eigenen beruflichen Erfahrung. Das Verständnis von Führung und die daraus abgeleiteten Führungsgrundsätze, die wir in den 1980er-Jahren für richtig hielten (in der ehemaligen Hypo-Bank), gelten auch heute noch, wenn auch häufig unter neuer Bezeichnung. Die Überschrift war auch damals schon „Management des Wandels“. Führung ist ein sehr weit gefasster Begriff, der für alle Prozesse der Zusammenarbeit steht, bei denen Personen (die Führungskräfte) auf andere Personen gezielt Einfluss nehmen, um gemeinsame Aufgaben zu erfüllen (s. von Rosenstiel und Wegge 2004, S. 495). Dabei werden drei verschiedene Ebenen unterschieden, die Unternehmensführung, d. h. die Organisation als Ganzes, das Personalmanagement als Gestaltung der Prozesse und die eigentliche Mitarbeiterführung, d.  h. das direkte Einwirken auf die Mitarbeiter (von ­Rosenstiel und Wegge 2004). Zentrale Bestandteile sind damit ein gemeinsames Ziel, das Zusammenwirken zur Erreichung der Ziele und die Beeinflussung der Mitwirkenden, ihren Beitrag zur Zielerreichung zu leisten. Das sind die Kernbestandteile jeder Situation, in der es Führung gibt.

3.1

Ziele

Führung ist kein Selbstzweck, sondern verlangt ein Ziel. Das sagt schon das allgemeine Verständnis des Wortes Führen im Sinne von den Weg weisen oder hinführen zu einem Ziel. Das gilt wiederum auf allen Ebenen. Das Unternehmen muss wissen, was es als Unternehmen erreichen will (Vision, Strategie); jede Führungskraft muss das in konkrete Ziele für den eigenen Verantwortungsbereich herunterbrechen und für jeden Mitarbeiter als persönliche Ziele formulieren.

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3.2

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Mein wichtigstes Kapital: die Mitarbeiter

Aus den Zielen muss ich ableiten, welche Ressourcen und Prozesse ich brauche, um diese Ziele zu erreichen. Als Ressourcen stehen mir die Mitarbeiter, das Humankapital, materielle Güter, das Sachkapital und Finanzkapital zur Verfügung. Mit Abstand die wichtigste Ressource sind die Mitarbeiter, da sie die Einzigen sind, die aktiv agieren und damit Wert für das Unternehmen schaffen können. Diese Aussage ist banal und trifft für jede Form der wirtschaftlichen Tätigkeit zu, und zwar umso mehr, je größer die Anforderungen an Qualifikation, Leistungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit sind. Trotzdem ist sie in den Köpfen der meisten Manager nicht verankert, die den Großteil ihrer Zeit der Beschäftigung mit dem Sach- und Finanzkapital widmen. Das gilt umso mehr, je höher man in der Hierarchie des Unternehmens angesiedelt ist. Das gefährdet die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen. Die Führung auf allen Ebenen muss ihre Prioritäten ändern und den Mitarbeiter bzw. das Humankapital in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken. Das betrifft alle Aspekte des Humankapitals. Das sind zunächst die Qualifikationen und Potenziale der Mitarbeiter selbst. Darunter verstehen wir (entsprechend der Definition des Human Capital Club, s. Friederichs 2004, S. 35) ihr intellektuelles Potenzial, wie Wissen, Fähigkeiten, Erfahrung, Kreativität, ihr motivationales Potenzial, d. h. ihre Motivation, Identifikation und Commitment im Sinne einer emotionalen Bindung an das Unternehmen, ihr integratives Potenzial, wie Führungskompetenz, Loyalität, Kooperationsbereitschaft und Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, und schließlich ihre physische und psychische Gesundheit. Dazu gehören aber auch die Prozesse und Systeme im Unternehmen, die die Entfaltung, Entwicklung und den Erhalt dieser Potenziale unterstützen. Das sind die Systeme der Führung, Kommunikation und Zusammenarbeit im Unternehmen, die Personalfunktion und Personalsysteme selbst und schließlich die Unternehmenskultur. Neben der Frage, wie viele und welche Mitarbeiter mit welchen Qualifikationen und Profilen das Unternehmen braucht, muss sich die Unternehmensführung darauf konzen­ trieren, die genannten Prozesse und Systeme einzurichten und zu erhalten, die zur Unterstützung der Mitarbeiter und Entfaltung ihrer Potenziale nötig sind.

3.2.1 Wie kann das Potenzial der Mitarbeiter erschlossen werden? Die volle Entfaltung des Potenzials der Mitarbeiter ist eine hochkomplexe Aufgabe. Denn sie verlangt, dass alle beschriebenen Faktoren des Humankapitals positiv sind, d. h. nicht nur die Fähigkeiten, Motivation und Gesundheit des Mitarbeiters selbst, sondern auch die Prozesse und Systeme, die die Entfaltung des Potenzials unterstützen. Dabei muss sich die Unternehmensführung bewusst sein, dass sie letztlich keinen direkten Einfluss auf das Verhalten der Mitarbeiter hat, sondern sich darauf konzentrieren muss, positive Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Mitarbeitern erlauben und erleichtern, ihr Potenzial voll und ganz für das Unternehmen einzubringen. Dabei ist der Schlüsselfaktor die Motivation bzw. das Commitment der Mitarbeiter. Darauf hat wiederum das Verhalten der ­direkten Führungskraft den größten Einfluss (Wood et al. 2004, S. 355). Das unterstreicht die zentrale Bedeutung von Führung.

Müssen wir Führung neu erfinden?

3.3

87

Zusammenarbeit

Neben klaren Zielen ist der zweite Aspekt der Führung die Art und Weise, wie im Unternehmen zusammengearbeitet werden soll. Das ist umso wichtiger, je differenzierter, verteilter und selbstständiger das Unternehmen aufgestellt ist. Das stellt die Frage nach der Rollen- und Aufgabenverteilung innerhalb des Unternehmens. Wenn man die Binsenweisheit ernst nimmt, dass die Mitarbeiter im Unternehmen die wichtigste Ressource, das eigentliche Kapital des Unternehmens und der Erfolgsfaktor Nr. 1 sind, muss die Unternehmensführung ihr vorherrschendes Selbstbild, ihr Bild vom Unternehmen, den Mitarbeitern und den Führungskräften grundlegend ändern.

3.4

Das Bild vom Unternehmen

Das nach wie vor dominierende Bild des Unternehmens ist das einer fest gefügten, hierarchischen Organisation, die aus den verschiedenen Funktionen und Einheiten besteht, die im Sinne eines mechanistischen Räderwerks ineinandergreifen und nach festen Regeln funktionieren. Die typischen Sprüche knackiger Manager geben das wieder: „Der Laden läuft wie geschmiert“, „da ist Sand im Getriebe“, „wir müssen mal den Hebel umlegen“ oder „die Stellschrauben anziehen“, „da greift ein Rad ins andere“ usw. Dazu dient der ganze Apparat an Zuständigkeiten, Organisationscharts, Hierarchien, Handbüchern, Revisionsvorschriften usw., die heute noch den Alltag der meisten Unternehmen beherrschen. Diese hierarchischen Strukturen waren und sind geeignet für ein Umfeld stabiler Absatzmärkte mit geringem Veränderungsdruck, einfachen Produktions- und Fertigungsprozessen und einem ausreichenden Angebot an leicht zu qualifizierenden Arbeitskräften, in dem es in erster Linie auf die Optimierung der Produktions- und Arbeitsprozesse, Rationalisierung und Ressourcenoptimierung ankommt. Dieses Umfeld ist in unseren entwickelten Industrieländern nicht mehr gegeben. Es wird gekennzeichnet von gesättigten Märkten, hoher Volatilität der Umfeldbedingungen, hohem Innovationsdruck, globalem Wettbewerb und einem hohem Bildungs- und Qualifikationsniveau. Hier sind Eigenschaften wie Kreativität, Innovationsfähigkeit, Flexibilität und Selbstverantwortung auf allen Ebenen gefordert. Die hierarchischen Regeln und Normierungen der heutigen Organisationen sind dabei ein „Anschlag“ (Sprenger 2001, S. 282) auf genau diese geforderten Eigenschaften und Kompetenzen. Gefordert ist deswegen ein Bild vom Unternehmen als Organismus, d. h. einer lebendigen Einheit, die aus der Summe von Personen und Potenzialträgern besteht, die miteinander agieren und ein dynamisches, sich selbst organisierendes System bilden, das nach den Gesetzen der Systemtheorie und nicht der Mechanik funktioniert. Stichworte sind, dass jedes System seinerseits aus Systemen besteht und Teil eines größeren Systems ist, in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis mit diesen Systemen steht, nach einem stabilen Gleichgewicht strebt und sich selbst steuert durch permanente Rückkoppelung („Kommunikation ist Blut der Systeme“). Wichtig im Umfeld permanenter Veränderung

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ist auch, dass Einflüsse von außen als Störungen wahrgenommen und möglichst absorbiert werden, um das System stabil zu halten. Wenn die Störungen zu stark sind, ändert sich das System, um auf einem anderen Niveau wieder zur Stabilität zu finden. Dieser Perspektivenwechsel führt zu einer Umkehr der bisherigen Strukturen und Abläufe. Das Unternehmen muss von den Mitarbeitern her gedacht, aufgebaut und geführt werden, sozusagen von unten nach oben. Die Pyramide wird auf den Kopf gestellt. Leitgedanken sind Abbau von Hierarchien, Delegation, Eigenverantwortung und permanente Kommunikation im Sinne eines echten Dialogs zwischen allen Beteiligten. John P. Kotter prophezeite deshalb schon vor mehr als 20 Jahren, dass „if environmental volatility continues to increase, the standard organization of the twentieth century will likely become a dinosaur“ (Kotter 1996, S. 161).

3.5

Das Bild vom Mitarbeiter

Das verlangt auch nach einem anderen Bild vom Mitarbeiter und einem Überdenken der Rolle der Führungskraft. Das Bild vom Mitarbeiter hat sich seit Beginn der Industrialisierung laufend verändert. Am Anfang, bei Einführung der Fließbandarbeit, stand die Scientific-­Management-Theorie des Taylorismus, nach der der Arbeiter allein durch die Steigerung seines Lohns motiviert werden kann, da das sein alleiniges Interesse sei. Die Human-Relations-Theorie, die auf Studien von Elton Mayo in den 1920er-Jahren zurückgeht, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Sie stellt die Bedeutung der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz für die Leistung der Mitarbeiter heraus, v. a. die Gruppenzugehörigkeit und persönliche Aufmerksamkeit. Weiterentwickelt wurde sie durch die Theorie der Arbeitszufriedenheit, die abhängig ist von den persönlichen Bedürfnissen, die hierarchisch aufgebaut sind, gemäß der Maslowschen Bedürfnispyramide, von der Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnung über Sicherheit, soziale Einbindung, Anerkennung bis zur Selbstverwirklichung. Entsprechend der Befriedigung dieser Grundbedürfnisse steigen die Anforderungen an die Motivation. Diese Theorien konzentrieren sich auf die Motivation der Mitarbeiter, ihre Leistung für das Unternehmen zu erbringen. Das reicht nicht mehr aus. Gefordert ist eine Erweiterung des Blicks auf die strategische Bedeutung des Mitarbeiters als der Erfolgsfaktor Nummer 1 eines jeden Unternehmens, d. h. seiner Rolle als das entscheidende Kapital, das Humankapital. Der notwendige Paradigmenwechsel ist, den Mitarbeiter nicht mehr als reinen Funktionsträger zu betrachten, sondern als Potenzialträger und eigenständige Persönlichkeit. Als Funktionsträger interessiert mich nur, dass er in seiner jeweiligen Aufgabe funktioniert, und meine Grundeinstellung ist, dass er von allein nicht seine volle Leistung erbringt, sondern dazu speziell motiviert und kontrolliert werden muss. Als Persönlichkeit interessieren mich dagegen seine Individualität, insbesondere seine zusätzlichen Fähigkeiten und sein Potenzial, diese zu entwickeln und auch andere Aufgaben

Müssen wir Führung neu erfinden?

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übernehmen zu können. Meine Einstellung ist, dass er grundsätzlich engagiert ist und von sich aus Leistung erbringen will, dass er in der Regel weiß, was erforderlich ist, und bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Diese Einstellung und dieses Vertrauen sind in aller Regel auch gerechtfertigt. Der Paradigmenwechsel führt zu einer grundlegenden Veränderung und Umgestaltung der Organisation, der Abläufe, Aufgabenverteilung und Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens. Das betrifft v. a. auch die Rolle und das Aufgabenverständnis der F ­ ührungs­kraft.

3.6

Das Bild der Führungskraft

Um die Veränderung des Bilds der Führungskraft und des dahinterliegenden Führungsverständnisses deutlich zu machen, bietet sich die Polarisierung der Begriffe Management/ Manager und Führung/Führungskraft an. Der Manager versteht sich als der Macher, ohne den nichts richtig läuft. Er führt indirekt über die Stufen der Hierarchie. Seine Ansprechpartner sind die Stäbe, Fachabteilungen und Berater. Seine Instrumente sind die Management-Tools, wie Organisations-Charts, detaillierte Budgets und Ziele mit regelmäßigen Soll-Ist-Vergleichen, Kennzahlen und Bonus-Malus-Systeme. Er denkt rein rational, analytisch und objektiv. Das führt zu seiner Fixierung auf Zahlen und die Organisation. Sein Selbstverständnis ist, dass er grundsätzlich mehr weiß und besser beurteilen kann, was zu tun ist, als seine unterstellten Mitarbeiter und deswegen auf Anweisungen und Kontrolle setzt. Für die Führungskraft steht der Mitarbeiter als Person im Mittelpunkt. Sie anerkennt und berücksichtigt Subjektivität und Emotionen als wesentliche Bestimmungsfaktoren des Verhaltens. Die Führungskraft führt die Mitarbeiter direkt und versteht sich mehr als Coach oder Spielertrainer, der direkt mit dem Mitarbeiter kommuniziert, ihn beobachtet, motiviert und aus seiner Erfahrung heraus berät. Das war unser Führungsverständnis bei der Hypovereinsbank, das in den Führungsgrundsätzen die Aspekte Ermutigen, Unterstützen und Bewerten des Erfolgs noch weiter konkretisierte. Die Führungskraft fordert den Mitarbeiter durch die Vereinbarung anspruchsvoller Ziele und Verlangen von Eigenverantwortung. Sie ermutigt und fördert den Mitarbeiter, indem sie ihm zeigt, dass sie ihm die Leistung und Eigenverantwortung zutraut. Sie unterstützt ihn dadurch, dass sie die erforderlichen Rahmenbedingungen schafft, die erforderliche Ausbildung ermöglicht und den Ideen und Vorschlägen der Mitarbeiter zum Durchbruch innerhalb des Unternehmens verhilft. Schließlich bewertet sie den Erfolg nach vorher vereinbarten Bewertungsmaßstäben, die fair und transparent sind, und coacht den Mitarbeiter, indem sie ihn beobachtet, kritische Rückmeldung gibt und den Erfolg honoriert. Ihr wichtigstes Führungsinstrument ist der Dialog, d. h. die laufende Kommunikation im Sinne eines echten Austauschs von Meinungen und Erfahrungen mit dem Ziel, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen.

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M. Schütte

Kets de Vries, Professor am INSEAD in Fontainebleau, schilderte das gegensätzliche Rollenverständnis so, dass der Manager fokussiert ist auf die Gegenwart, kurzfristige Erfolge, Stabilität und die Belange der Organisation. Er setzt auf Anweisungen, wie etwas zu machen ist, und Kontrolle und bezieht seine Autorität aus seiner Position in der Hierarchie. Dagegen konzentriert sich die Führungskraft auf die künftige Entwicklung und die notwendigen Veränderungen. Das Wie, d. h. die Gestaltung des laufenden Geschäfts, überlässt sie dem Mitarbeiter in Eigenverantwortung. Sie setzt nicht auf Kontrolle, sondern auf Ertüchtigung des Mitarbeiters und Vermittlung des Warum, d. h. der Ziele und der Einordnung der Tätigkeit der Mitarbeiter in den Gesamtzusammenhang des Unternehmens. Ihre Autorität bezieht sie nicht aus ihrer Position, sondern ihrer Persönlichkeit. Sie hat neben den Belangen des Unternehmens die des Mitarbeiters gleichgewichtig im Blick.

3.7

Das Prinzip der ermächtigten Eigeninitiative

Diese unterschiedlichen Bilder vom Unternehmen, vom Mitarbeiter und von der Rolle der Führungskraft haben enorme Auswirkungen auf die Unternehmensstruktur, die Unternehmensprozesse und v. a. die Zusammenarbeit in dem Unternehmen. Das Managementprinzip setzt auf eine hierarchische Organisation, in der die Impulse und Initiativen von oben nach unten (top-down) kommen und das Prinzip von Anweisung und Kontrolle vorherrschen. Die ermächtigte Eigeninitiative dreht die Richtung um und sieht den Mitarbeiter als den zentralen Akteur im Unternehmen, der am besten weiß, was vor Ort zu tun und zu verändern ist. Unser Slogan bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank war, dass jeder Mitarbeiter der Spezialist seines Arbeitsplatzes ist. Er weiß am besten, was zu tun und zu verändern ist, und Erfährt als Erster von Veränderungen im Markt und bei den Kunden in seinem Verantwortungsbereich. Deswegen sollten die Unternehmensprozesse so gestaltet sein, dass dieses Wissen und die Ideen laufend erfasst werden und in die Entscheidungsprozesse einfließen. Die Richtung wird umgekehrt und das Unternehmen von unten nach oben gedacht. Das erfordert eine völlig andere Unternehmenskultur. Zentrale Merkmale und Grundsätze sind die konsequente Delegation von Aufgaben und Verantwortung mit der Reduktion der Hierarchie auf ein Minimum sowie eine Dialogkultur der laufenden und systematischen Kommunikation innerhalb der Einheiten des Unternehmens und über die hierarchischen Ebenen hinweg. Das verändert den Charakter und das Selbstverständnis des Unternehmens. Leidvolle Erfahrung ist, dass bei Fusionen die unterschiedlichen Unternehmenskulturen ein Stolperstein sind, der einen Großteil der Fusionen scheitern lässt. So war es auch bei der Fusion der beiden bayerischen Banken. Die Bayerische Vereinsbank hatte die klassische Unternehmenskultur einer straff geführten Top-down-Organisation, während die Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank die beschriebene dezentrale Führungskultur mit den beiden Markenzeichen Dialogkultur und Rolle der Führungskraft als Coach bzw. Spielertrainer pflegte. Auf der ersten Führungskräftetagung der fusionierten Bank verkündete der Sprecher der neuen Bank ex cathedra genau diese beiden Begriffe zu Unworten,

Müssen wir Führung neu erfinden?

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die für die neue Bank ersetzt wurden durch den Begriff Ergebniskommunikation und die Rolle der Führungskraft als Vorarbeiter und Vorbild. Das war der Beginn eines internen Kultur- und Machtkampfs, der die Fusion wie so häufig aus dem Gleis warf und letztlich scheitern ließ. Das Grundmuster dieser Unternehmens- und Führungskultur, die auf dezentrale Organisation mit möglichst selbstständig und eigenverantwortlich handelnden Mitarbeitern und dezentralen Einheiten setzt, die durch gemeinsam getragene Ziele und einen intensiven, laufenden Dialog verbunden sind, ist genau das Modell, das ein Umfeld ständigen Wandels und dezentraler selbstständiger Einheiten erfordert. Dabei ist Führung kein Selbstzweck. Sie soll bewirken, dass die Mitarbeiter ihr Potenzial voll für die Erreichung der Unternehmensziele einbringen.

4

Was bestimmt die Leistung der Mitarbeiter?

Damit die Mitarbeiter ihr Potenzial voll für die Erreichung der Unternehmensziele einbringen, ist es wichtig, dass man die Faktoren kennt, die die Leistung der Mitarbeiter bestimmen. Das sind deren Leistungsfähigkeit, insbesondere ihre Qualifikationen, ihr Potenzial und ihre Gesundheit, aber mindestens gleichgewichtig auch ihre Leistungsbereitschaft. Dabei zeigt alle Erfahrung, dass der Grund für Probleme bei der Leistungserbringung i. d. R. nicht fehlende Leistungsfähigkeit auf der Mitarbeiterseite ist, sondern mangelnde Leistungsbereitschaft, sprich Motivation. Das sagt schon der gesunde Menschenverstand, der weiß, dass motivierte Mitarbeiter mehr leisten als nicht oder demotivierte Mitarbeiter. Es wird entsprechend bestätigt durch wissenschaftliche Studien, die den direkten Zusammenhang von Motivation und Leistung feststellen. Dabei ist erschreckend, dass Befragungen und Untersuchungen, z. B. der regelmäßig erhobene Engagement-Index des Gallup Instituts, konstant ein geringes Maß an hoher emotionaler Bindung der Mitarbeiter auch in deutschen Unternehmen feststellen (auch 2016 in Deutschland nur 15 %, s. Gallup 2016). Deswegen muss die Frage, was die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter bestimmt und wie sie gefördert und erhalten werden kann, ein zentrales Thema für die Unternehmensführung sein.

4.1

Motivation und Commitment

Antworten zur Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter gibt die Motivationsforschung. Dabei wird unter Motivation die Antriebskraft verstanden, die zu einem Handeln führt, während das Commitment mehr auf die Identifikation des Handelnden mit der Aufgabe, der Organisation oder mit den Bezugspersonen abstellt. Beide unterscheiden verschiedene Quellen, v. a. die von innen heraus kommende intrinsische Motivation, das affektive wie auch das normative Commitment, wie Freude, Bedürfnis, innere Einstellung, Werte oder Pflichtgefühl. Die von außen bestimmte extrinsische Motivation oder das kalkulatorische

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M. Schütte

Commitment basiert beispielsweise auf Belohnung, Bestrafung oder reinen Kosten-­ Nutzen-­Überlegungen. Den stärksten Antrieb bringen die von innen kommenden Aspekte, da sie als Bestandteile und Merkmale der Persönlichkeit langfristig und dauerhaft wirken. Nach der beschriebenen Polarisierung der Begriffe arbeitet das Management allerdings eher mit extrinsischen Faktoren, während Führung versucht, die intrinsische Motivation und die emotionale Seite der Mitarbeiter zu erreichen. Dasselbe gilt für die heute vorherrschende Unterscheidung zwischen transaktionaler und transformaler Führung. Die transaktionale Führung setzt nur auf den Austausch von Leistungen nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung, während die transformale Führung versucht, die Ziele durch Eingehen auf die Bedürfnisse und Bestrebungen der Mitarbeiter zu erreichen (s. Jonas et al. 2007, S. 476). Für die Praxis eignet sich besonders das Prinzipienmodell der Führung von Dieter Frey, das auf die Grundbedürfnisse abstellt, die das Handeln und Verhalten von uns allen bestimmen (Frey et al. 2001, S. 118). Sie haben den großen Vorzug, dass sie verständlich und einleuchtend sind, weil sie jeder an sich selbst abprüfen kann und bestätigen wird. Das sind die Grundbedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie, sozialer Eingebundenheit, Selbstwert, Sinn und das Bedürfnis nach Fairness. Kompetenz steht für das Gefühl, kompetent zu sein und v. a. auch als kompetent von seiner Umgebung, insbesondere auch dem eigenen Vorgesetzten, wahrgenommen und anerkannt zu werden. Autonomie heißt, dass ich den Freiraum habe, selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln zu können. Soziales Eingebundensein bedeutet, dass ich mit anderen zusammenarbeiten möchte, die mir auch Unterstützung geben. Selbstwert wird gestärkt, wenn ich das Gefühl habe, als Person akzeptiert und anerkannt zu werden. Sinn erlebe ich, wenn ich das Gefühl habe, dass das, was ich mache, für mich von Bedeutung ist. Das Verlangen nach Fairness, d. h. fairer Behandlung, spricht am direktesten das Verhalten der Führungskraft an. Es fordert eine gerechte Beurteilung der Ergebnisse (Ergebnisfairness), als fair empfundene Vorgehens- und Verfahrensweisen (prozedurale Fairness), ehrliche, offene und umfassende Information (informationale Fairness) sowie persönliche Wertschätzung und Respekt (interaktionale Fairness).

5

Das prinzipienbasierte Führungskonzept

Das Eingehen auf diese Grundbedürfnisse der Mitarbeiter verlangt das beschriebene Bild von der Führungskraft. Dieses Führungsverständnis muss konkretisiert werden in einem Führungskonzept mit klar formulierten Führungsaufgaben und Führungsgrundsätzen, die für alle Führungskräfte verbindlich sind, z.  B. nach dem beschriebenen Prinzip der ermächtigten Eigeninitiative. Verantwortung der Unternehmensleitung ist es sicherzustellen, dass diese Grundsätze auch praktisch gelebt und eingehalten werden. Sie werden Bestandteil von Zielen, Beurteilung und Kompensation auf allen Führungsebenen und Verstöße dagegen müssen auch zu Konsequenzen führen und sanktioniert werden. Das Eingehen auf diese Grundbedürfnisse hat auch Folgen für die Ausrichtung der Strukturen und Systeme im Unternehmen. Es verlangt eine flache Hierarchie, d. h. i. d. R.

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einen Abbau von bestehenden Führungsebenen, mit konsequenter Delegation von Verantwortung und Kompetenzen, die generelle Förderung von Projektarbeit, laufende Überprüfung und Reduzierung interner Vorschriften und Richtlinien auf ein Mindestmaß und v. a. eine offene und intensive Kommunikations- bzw. Dialogkultur. Schließlich gehört dazu ein regelmäßiges Controlling der Umsetzung und gelebten Unternehmenspraxis mit regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen, Erhebungen zum Umfang der Projektarbeit und Reduktion von internen Vorschriften und Verwaltungsroutinen. Wir hatten bei der Hypovereinsbank die Führungsgrundsätze konzentriert auf das Führen durch Ziele, konsequente Delegation und intensive Kommunikation im Sinne eines Dialogs. Ansonsten konzentriert sich die Führungskraft auf das Schaffen der Rahmenbedingungen, die die Mitarbeiter benötigen, um ihre Aufgaben möglichst eigenverantwortlich bewältigen zu können. Diese Grundbedürfnisse entsprechen genau den Anforderungen, die die Arbeitswelt der Zukunft an alle stellen wird: Flexibilität, Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und v. a. die Bereitschaft und Fähigkeit, sich noch schneller und stärker an veränderte Umstände anzupassen, als das bisher schon notwendig war. Das heißt Bereitschaft und Fähigkeit zum permanenten Wandel.

6

Management des Wandels/Change Management

Schon heute ist die Bewältigung des permanenten Wandels die größte Herausforderung für die Unternehmen. Dabei sieht die Erfolgsbilanz durchwachsen aus. Nach wie vor machen wir die Erfahrung, dass viel zu viele strukturelle Veränderungsprojekte ihre Ziele nicht erreichen oder sogar vollständig scheitern. Der zentrale Grund ist die fehlende oder ungenügende Einbindung der Mitarbeiter. Die meisten Veränderungsprozesse, v. a. in den großen Unternehmen, werden technokratisch gemanagt. Planung und Entscheidung erfolgen zentral ohne ausreichende Einbindung der von den Veränderungen Betroffenen, d. h. vom Top-Management zusammen mit zentralen Planungsstäben und externen Beratern. Die Umsetzung wird dann ebenfalls top-­down durchgesetzt. Das Wissen und die Erfahrung der betroffenen Mitarbeiter als den jeweiligen Spezialisten ihres Arbeitsplatzes werden ungenügend eingebunden und damit der Grundstein gelegt für falsche oder unrealistische Lösungen. Das typische, rein rational-technokratische Denken und Vorgehen des Managements berücksichtigt nicht die entscheidende emotionale Seite von Veränderungsprozessen, denn Veränderung heißt immer Verhaltensänderung und greift in die persönliche Situation und das Beziehungsgeflecht der Betroffenen ein. Dabei gilt die Binsenweisheit, dass niemand sein Verhalten gern ändert nach dem Motto „the only person who likes change is a wet baby“. Daher ist Widerstand bei Veränderungsprozessen eine natürliche Reaktion oder, wie es Klaus Doppler einmal ausdrückte: Widerstand ist der siamesische Zwilling von Veränderung. Deswegen können Verhaltensänderungen nicht angeordnet werden, sondern setzen die Bereitschaft der Betroffenen und ihre Einsicht voraus, dass die Veränderung

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notwendig ist im Sinne eines „need for change“. Die Führung muss Widerstand als natürliche Reaktion anerkennen und ernst nehmen, denn es gilt das Grundgesetz des Widerstands. Nach Dieter Frey gibt es keine substanzielle Veränderung ohne Widerstand, Widerstand enthält immer eine verschlüsselte Botschaft und auf Widerstand muss eingegangen werden, da eine Nichtbeachtung zu Blockaden führt. Widerstand leisten die Aktiven und Engagierten und genau an denen und deren Gründen für ihr Verhalten muss die Führungskraft interessiert sein und ihr Engagement in positive Energie umwandeln. Denn jeder Führungskraft muss bewusst sein, dass es der einzelne Mitarbeiter ist, der die Veränderung realisieren muss. Dafür muss sie die Gründe verstanden haben und sie auch akzeptieren. Nur dann wird sich der Mitarbeiter für die Umsetzung engagieren. Das verlangt intensive Kommunikation der Führungskraft mit den Mitarbeitern. Denn der Kommunikationsbedarf aufseiten der Mitarbeiter steigt in Veränderungsprozessen exponentiell, gerade wenn es um für die Mitarbeiter belastende Veränderungen geht. Dabei ist die durchgehende Erfahrung, dass viel zu wenig und falsch kommuniziert wird. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem Aufwand für die Planung und Entscheidungsfindung von Veränderungsprojekten und dem Aufwand für die anschließende Kommunikation und Umsetzung. Aufwand und Zeit für die Umsetzung sollten etwa das Zehnfache des Planungsaufwands betragen. Tatsächlich ist es meist umgekehrt. Darüber hinaus wird häufig nicht in der Sprache und aus Sicht der Betroffenen gesprochen, sondern in unverständlichem Planerkauderwelsch und Fachchinesisch, das die Akzeptanz bei den Betroffenen nochmals reduziert. Auch dieses, die Zukunft noch stärker prägende Umfeld des permanenten und sich beschleunigenden Wandels verlangt von der Führung ein Eingehen auf die beschriebenen Grundbedürfnisse der Mitarbeiter, wie Kompetenz, Sinn, Eingebundensein, Fairness und Autonomie.

7

 arum tun wir uns so schwer mit mitarbeiterorientierter W Führung?

Eigentlich ist der Gedankengang ganz einfach und entspricht dem gesunden Menschenverstand: Die Mitarbeiter sind das größte Kapital des Unternehmens, wenn sie motiviert sind, leisten sie mehr, als wenn sie demotiviert sind, deswegen muss man sich damit beschäftigen, was sie motiviert, und Bedingungen schaffen, die das gewährleisten. Trotzdem sieht die Wirklichkeit häufig noch anders aus und das Bekenntnis zu der Bedeutung der Mitarbeiter bleibt ein Thema für Sonntagsreden und Festvorträge. Michael Scholz fasst es so zusammen: „In guten Zeiten wird der Mitarbeiter unverbindlich als Kapital gewürdigt und in schlechten Zeiten verbindlich als Kostenfaktor wegrationalisiert.“ Es herrschen häufig noch Rahmenbedingungen in den Unternehmen vor, die die Entfaltung des Potenzials der Mitarbeiter be- oder verhindern, wie z. B. strenge Hierarchien, autoritärer Führungsstil, Top-down-Entscheidungen, Anweisungs- und Kontrollsysteme und eine von Misstrauen geprägte Unternehmenskultur. Ein Umdenken greift nur

Müssen wir Führung neu erfinden?

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langsam und wird zwingend gefordert von den zu erwartenden Umwälzungen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Die Gründe für diese Situation sind vielschichtig. Der wichtigste Grund ist, dass all die Faktoren, die den Wert und das Potenzial der Mitarbeiter ausmachen, wie Engagement, Fähigkeiten, Kompetenz, Erfahrung, Kreativität oder Loyalität sog. weiche Faktoren sind, die sich einem Messen und Bewerten mit den üblichen betriebswirtschaftlichen Instrumenten und Methoden entziehen. Diese sind auf Zahlen fixiert und spiegeln das Credo der Manager wider: „What you can’t measure, you can’t manage.“ Tatsächlich aber gilt die Aussage von Albert Einstein, dass „not everything, that counts, can be counted, and not everything, that can be counted, counts“. Genau das trifft auf die weichen Faktoren zu. Sie sind extrem wichtig, können aber nicht gezählt und gewogen werden. Deswegen kommen sie auch bislang in der Ausbildung der Manager kaum vor und entsprechen auch nicht dem Selbstbild eines typischen harten Managers, für den emotionale Kategorien in seiner Welt nichts zu suchen haben.

8

Was ist zu tun?

Genau diese grundlegende Einstellung muss sich ändern und verlangt einen wirklichen Paradigmenwechsel in den Köpfen der Manager. Sie müssen sich der zentralen Bedeutung der Mitarbeiter und des in ihnen verkörperten Humankapitals für den Erfolg des Unternehmens bewusst werden und die Konsequenzen daraus ziehen. Gefordert ist ein neues Führungsverständnis in dem beschriebenen Sinne, d. h. weniger Beschäftigung mit den Zahlen (Management), sondern direkt mit den Menschen, die die Zahlen und Ergebnisse bewirken (Führung). Das verlangt eine intensive Beschäftigung mit dem Verhalten der Mitarbeiter und wie ich es als Führungskraft beeinflussen kann. Was muss ich z. B. tun, dass die Mitarbeiter Eigeninitiative zeigen und nicht Dienst nach Vorschrift machen oder die Geschäftspolitik und Strategie des Unternehmens akzeptieren und umsetzen, statt sie zu blockieren und Widerstand zu leisten? Das verlangt von der Führungskraft, Subjektivität und Emotionen zu akzeptieren, da sich Menschen nicht nur rational verhalten. Das sind die Botschaften der neurobiologischen und neuropsychologischen Forschungen, die zunehmend auch Eingang finden in die Betriebswirtschaft in Form der Verhaltensökonomie. Bekanntlich hat der Psychologe Daniel Kahneman 2002 den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten für seine Arbeiten zur Integration der Erkenntnisse der psychologischen Forschung in die klassische Betriebswirtschaftslehre. Kernaussagen sind, dass die Menschen in wirtschaftlichen Fragen durchaus auch unwirtschaftlich und unvernünftig, d. h. emotional, handeln und menschliche Entscheidungen systematisch von den Vorhersagen der klassischen Ökonomie abweichen. Auch das entspricht dem gesunden Menschenverstand und der täglichen Erfahrung. Im Ergebnis muss sich das Management von der Fixierung auf Zahlen und nur quantitative Instrumente lösen und sich qualitativen Instrumenten und Verfahren öffnen. Beispiele hierfür sind Befragungen, systematische Interviews und Gespräche, Beobachtungen und empirische Untersuchungen. Denn auch Meinungen, Stimmungen und Emotionen der

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M. Schütte

Mitarbeiter und Führungskräfte sind harte Fakten. Diese qualitativen Verfahren sind die Instrumente der Psychologen und Soziologen, von denen das Management lernen muss. Dabei wusste schon John Maynard Keynes, dass „many decisions can only been taken as animal spirits“ (Akerlof und Shiller 2009, S. 128). Und der große Menschenkenner Macchiavelli sagte, dass „alles, was wir tun, eine Nachahmung der Natur ist“ (1977, S. 176). Es wird also Zeit, dass der Homo oeconomicus sich mit dem Homo psychologicus verbrüdert oder ihm sogar den Platz räumt. Als Ergebnis bleibt, dass es auch in der sich sicherlich dramatisch ändernden Arbeitswelt der Zukunft Führung geben wird und muss. Dabei werden die Grundsätze einer mitarbeiterorientierten Führung weiter für den Erfolg entscheidend sein.

Literatur Akerlof, G.A., & Shiller, R.J. (2009). How ‘animal spirits’ destabilize economies. McKinsey Quarterly 3/2009, 128. www.mckinsey.com/featured-insights/employment-and-growth/how-animal­spirits-destabilize-economies. Aufgerufen: 10.10.2018. EFQM European Foundation for Quality Management (1999). EFQM, Broschüre des Brussels Representative Office, ISBN 90-5236-074-X Frey, D., Kerschreiter, R., & Mojzisch, A. (2001). Führung im Center of Excellence. In: P. Friedrichs, & U. Althauser (Hrsg.), Personalentwicklung in der Globalisierung. München: Luchterhand, S. 114 ff. Friederichs, P. (2004). Die Human-Capital-Bewegung. In: M. Dürndorfer, & P. Friederichs (Hrsg.), Human Capital Leadership. Hamburg: Murmann, S. 27 ff. Friederichs, P., & Sattler, A. (2004). Der Employee-Value-Index (E.V.I.). In: M.  Dürndorfer, & P. Friederichs (Hrsg.), Human Capital Leadership. Hamburg: Murmann, S. 443 ff. Gallup (2016). Engagement Index Deutschland. www.gallup.de/183104/engagement-index-deutschland.aspx. Aufgerufen: 10.10.2018. Gebauer, M. (2005). Unternehmensbewertung auf der Basis von Humankapital. Lohmar: Eul. Große-Jäger, A., Friederichs, P., & Schubert, A. (2009), Der Human-Potential-Index. personalmagazin 05/2009, 22 ff. Jonas, K., Stroebe, W., & Hewstone, M. (Hrsg.) (2007). Sozialpsychologie. 5. Aufl., Berlin, Heidelberg: Springer. Kotter, J.P. (1996). Leading Change. Boston, MA: Harvard Business School Press. Macchiavelli, N. (1977). Discorsi. 2. Aufl., Stuttgart: Kröner. Peus, C., Traut-Mattausch, E., Kerschreiter, R., & Frey, D. (2004). Ökonomische Auswirkungen professioneller Führung. In: M. Dürndorfer, & P. Friederichs (Hrsg.), Human Capital Leadership. Hamburg: Murmann, S. 193 ff. Rosenstiel, L.v., & Wegge, J. (2004). Führung. In: H. Schuler (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D Praxisgebiete, Serie III Wirtschafts-, Organisations- und Arbeitspsychologie, Band 4 Organisationspsychologie  – Gruppe und Organisation. Göttingen: Hogrefe, S. 493–558. Sprenger, R. K. (2001). Aufstand des Individuums. Franfurt/Main: Campus. Wood, G., Fleming, J., & Nink, M. (2004). Human Sigma  – Die wirtschaftliche Bedeutung von emotional gebundenen Mitarbeitern und Kunden für das Unternehmen. In: M.  Dürndorfer, & P. Friederichs (Hrsg.), Human Capital Leadership. Hamburg: Murmann, S. 354 ff. Wucknitz, U. (2009). Handbuch Personalbewertung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Müssen wir Führung neu erfinden?

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Prof. Dr. Martin Schütte  wurde im Februar 2006 zum Honorarprofessor für Personalpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München ernannt. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der LMU sowie den Universitäten Berlin und Hamburg. Im Jahr 1970 promovierte Schütte an der Universität Kiel und absolvierte ein Jahr später sein zweites juristisches Staatsexamen in München. Von 1971 bis 1998 arbeitete er in verschiedenen Funktionen der Hypo-Bank und wurde 1984 Mitglied des Vorstands. In dieser Position zeichnete er v.  a. für Personal sowie regionale Filialbereiche verantwortlich. Bis 1999 war er Mitglied des Vorstands der fusionierten Hypovereinsbank. Mit dem Eintritt in den Ruhestand 2001 betreute Schütte als Business Angel junge Unternehmen und war Gründungsvorstand des Human Capital Club e. V. München. Zudem war er als Lehrbeauftragter in der Fakultät für Psychologie und Pädagogik sowie für Betriebswirtschaft an der LMU tätig. Seine Lehrveranstaltungen beschäftigten sich mit den verschiedenen Aspekten der Mitarbeiter- und Unternehmensführung, insbesondere Personalmanagement, Change Management, Strategieentwicklung und Fusionen. Er unterrichtet v. a. Studierende der Psychologie, der Pädagogik sowie der Betriebswirtschaftslehre.

Teil III Führung in fragilen Kontexten und Krisensituationen

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern Hans-Joachim Preuß

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Entwicklungszusammenarbeit und fragile Staatlichkeit  3  Personal- und Führungskräfteentwicklung in fragilen Kontexten  4  Fazit und Ausblick  Literatur 

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag behandelt Fragen von Personal- und Führungskräfteentwicklung bei der Entsendung von Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit in schwache, scheiternde oder gescheiterte Staaten, die unter dem Begriff fragile Länder zusammengefasst werden. Nach einleitenden Ausführungen zur Natur solcher Staaten wie den besonderen Anforderungen, die diese an das entsandte Personal stellen, werden die personalpolitischen Instrumente der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit für die Entsendung in diese Länder vorgestellt. Rekrutierung, sorgfältige Auswahl und intensive Vorbereitung dieser Fach- und Führungskräfte in Deutschland und im Partnerland sind neben einem vor Ort aufgebauten Security-and-Risk-­Management-System wichtige Voraussetzungen, die Führungsherausforderung zu meistern. Spezielle Angebote für Führungskräfte runden das Personalentwicklungsangebot ab.

H.-J. Preuß (*) Friedrich-Ebert-Stiftung, Cotonou, Benin E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_6

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H.-J. Preuß

Einführung

Verlässliche und regelmäßig erscheinende Statistiken darüber, wie viele Fachkräfte aus OECD-Ländern in Entwicklungs- und Schwellenländern arbeiten, gibt es nicht. Auch in Deutschland beschränken sich statistische Angaben lediglich auf diejenigen Expertinnen und Experten, die von den Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit – wie z. B. der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) oder dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), humanitären Akteuren wie dem Technischen Hilfswerk (THW) oder dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), Nichtregierungsorganisationen wie der Deutschen Welthungerhilfe, der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH), dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) oder Dienste in Übersee (DÜ) sowie den politischen Stiftungen – entsandt werden. Demnach arbeiteten 2014 mehr als 10.000 aus Deutschland entsandte Fachkräfte in Entwicklungs- und Schwellenländern (Arbeitskreis Lernen und Helfen in Übersee 2015). Nicht berücksichtigt ist dabei die wesentlich höhere, steigende Zahl von Fachleuten privater Unternehmen, die im Zuge von Direktinvestitionen, der Durchführung von Aufträgen der öffentlichen Hand und der Gründung von Niederlassungen in diese Länder abgeordnet werden. Ihre Aufgaben sind dabei nicht nur fachlicher Natur. Da die meisten von ihnen in größeren Teams, im Rahmen eines Länderprogramms oder in Betrieben arbeiten, oder aber mit einer wachsenden Zahl von nationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kooperieren, diese anleiten und disziplinarisch führen, spielt die Frage der Personalführung eine immer wichtiger werdende Rolle. Der folgende Beitrag setzt sich mit Erfahrungen der Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern auseinander, die der Autor als das für Personal und Personalentwicklung verantwortliche Mitglied des Vorstands der GIZ aus eigener Anschauung sammeln konnte. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt dabei auf einem praxisorientierten Einblick in die Realität der Führungsaufgabe unter den erschwerten Bedingungen schwacher, scheiternder oder gescheiterter Staaten und den Herausforderungen, die Personalentsendung an solche Kontexte stellt.

2

Entwicklungszusammenarbeit und fragile Staatlichkeit

2.1

Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit

Die GIZ ist eine staatliche Durchführungsorganisation, die privatwirtschaftlich als gemeinnützige GmbH verfasst ist und im Wesentlichen – auf der Grundlage von völkerrechtlich bindenden Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Partnerländern deutscher Entwicklungszusammenarbeit (EZ) – Maßnahmen der technischen Zusammenarbeit im Auftrag der Bundesregierung gemeinsam mit Partnern in Entwicklungs- und Schwellenländern konzipiert, begleitet und durchführt. Technische Zusammenarbeit besteht dabei v. a. in der Beratung und Unterstützung einheimischer Einrichtungen mit dem

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern

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Ziel der Befähigung von Organisationen und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vorwiegend armen Menschen dieser Partnerländer eine Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Die notwendige Hilfestellung reicht dabei von kurz-, mittel- und langfristigen Beratungseinsätzen bis zu einer nahezu vollständigen Übernahme exekutiver Funktionen, abhängig vom jeweils erreichten Entwicklungsniveau und den Umständen vor Ort. Im Jahr 2015 verfügte das Unternehmen GIZ über ein Projektvolumen von etwa 2,1 Mrd. €, das mithilfe von insgesamt 17.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – 12.000 davon sind vor Ort angestellte nationale Fachkräfte – vorrangig in etwa 100 Entwicklungsund Schwellenländern investiert wurde (GIZ 2016). Daneben arbeiten in den unterschiedlichen Vorhaben etwa 800 Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, die sich ohne Erwerbsabsicht für einen begrenzten Zeitraum in der EZ engagieren, etwa 500 sog. integrierte Fachkräfte, die zu lokalen Anstellungskonditionen an nationale Arbeitgeber vermittelt werden und einen zusätzlichen Gehaltszuschuss bekommen, sowie etwa 450 rückkehrende Fachkräfte, die nach der Ausbildung in Deutschland eine zeitlich begrenzte Starthilfe erhalten. Die Beschäftigten arbeiten normalerweise in interdisziplinären, soziokulturell heterogenen Teams zusammen, und dies in Ländern in verschiedenen Entwicklungsstadien und mit sehr spezifischen Arbeits- und Lebensbedingungen.

2.2

 ragile Staatlichkeit und ihre Auswirkungen auf die F Entwicklungszusammenarbeit

Fragile Staatlichkeit hat sich innerhalb der letzten Dekade zu einem wichtigen Handlungsfeld der EZ entwickelt. Es gibt zwar keinen internationalen oder wissenschaftlichen Konsens darüber, was jeweils unter einem fragilen, schwachen, scheiternden oder gescheiterten Staat zu verstehen ist, dennoch beruhen trotz unterschiedlicher methodischer Ansätze der Messung von Fragilität fast alle Konzepte auf der Bewertung der (eingeschränkten) Fähigkeit eines Staats, eine leistungsfähige Verwaltung, Rechtssicherheit, positive wirtschaftliche Rahmenbedingungen, den Schutz der eigenen Bevölkerung und ihre Versorgung mit essenziellen Dienstleistungen sicherzustellen (für einen regelmäßigen und systematischen Überblick vgl. Fund for Peace o. J.). Für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik stellt diese Ländergruppe ein zunehmendes Problem dar. Nicht nur, dass dem Großteil ihrer Bürger wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Fortschritt verwehrt sind; fragile Staaten beeinträchtigen darüber hinaus die Entwicklung ihrer Nachbarländer, leisten Kriminalität, Terrorismus und religiösem Extremismus Vorschub und provozieren nach gewaltsamen Entladungen interner und externer Spannungen kostspielige und langwierige militärische Operationen der internationalen Gemeinschaft (im Rahmen von UN- oder NATO-Einsätzen) oder supranationaler Zusammenschlüsse wie z. B. der Afrikanischen Union. Zur Vermeidung des Ausbruchs interner Konflikte, zur Sicherung des Überlebens bedrohter Bevölkerungsgruppen im Krisenfall und zur Wiederherstellung eines existenzsichernden Umfelds nach dem Ende gewaltsamer Auseinandersetzungen stellt die internationale

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H.-J. Preuß

Gemeinschaft Entwicklungshilfemittel in erheblichem Umfang zur Verfügung. Mehr als 40 % der internationalen öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit, im Jahr 2012 über 50 Mrd. US-$, fließen in fragile Staaten (OECD 2015), ohne dass maßgebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte, beispielsweise bei der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele, zu konstatieren wären (Preuß 2013). Gleichzeitig kommt es zu einer zunehmenden Differenzierung der früher gesamthaft als Dritte Welt bezeichneten Ländergruppe. Einerseits ist eine langsame, aber k­ ontinuierliche Verringerung der Zahl der Empfänger öffentlicher Entwicklungshilfeleistungen festzustellen. Andererseits steigen damit die relative Bedeutung und der Anteil fragiler Staaten; es kommt zu einer erheblichen Veränderung des Länderportfolios der in der EZ engagierten Organisationen mit entsprechenden Konsequenzen für das bei ihnen eingesetzte Personal.

2.3

 ersonelle Entwicklungszusammenarbeit unter zunehmendem P Stress

Besonders bedrückend ist der Sachverhalt, dass die mit einem humanitären oder Entwicklungsauftrag entsandten Fachkräfte und ihre nationalen Kolleginnen und Kollegen mehr und mehr ins Fadenkreuz fundamentalistischer Oppositionsgruppen oder krimineller Gewaltakteure geraten. Nach Untersuchungen der Aid Worker Security Database (Aid Worker Security Database 2016) haben Morde, Verletzungen und Entführungen in dieser Personengruppe seit den 1990er-Jahren erheblich zugenommen: 2013 war mit 156 Toten, 178 Verwundeten und 141 Entführungen das Jahr mit der höchsten Zahl an bewaffneten Angriffen auf Entwicklungshelfer; seit den 1990er-Jahren hat sich die Zahl der gewaltsamen Vorfälle mit gravierenden Folgen damit um das Sechs- bis Siebenfache erhöht. Doch nicht nur das persönliche Risiko stellt die Fachkräfte der Entwicklungs- und humanitären Organisationen vor große Herausforderungen. Häufig verhindern die latenten Bedrohungen für Leib und Leben die Ausreise von Lebenspartnern und Kindern. Falls es die Familien dennoch versuchen, fehlt es häufig an ausreichenden Bewegungs- und Freizeitmöglichkeiten, von schulischen Angeboten ganz zu schweigen. Nicht alle Paare überstehen die durch diese Situation aufgezwungenen Belastungen oder Fernbeziehungen unbeschadet; und auch die Einschränkungen des täglichen Lebens, die u. a. auf einem sehr limitierten sozialen Netz außerhalb der Arbeitswelt beruhen, führen zu einer Abnahme der persönlichen Lebenszufriedenheit. Innerhalb des eigenen Arbeitskontexts führt die politisch und wirtschaftlich instabile Situation in vielen Ländern zu einem häufigen Wechsel von Partnerpersonal und brüsken Veränderungen bereits verabredeter Vorgehensweisen oder zur Revision entscheidender Weichenstellungen, sodass als erledigt angesehene erreichte Ergebnisse wieder infrage gestellt sind. Die Tätigkeit in der EZ bedarf im Regelfall keiner zusätzlichen Sinngebung oder Werteaufladung durch den Arbeitgeber. Viele Fachkräfte sind von ihrer Aufgabe überzeugt; intrinsische Motivation überwiegt, da sich eigene Wertehaltung und Zielsetzung des Einsatzes weitgehend decken. Bei Störungen dieses kognitiven Gleichklangs, wenn Sicherheitsorgane

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern

105

mit subtilen Machtdemonstrationen die lokale Bevölkerung demütigen wie in Palästina, wenn mit Entwicklungshilfegeldern errichtete Infrastrukturen zerstört werden wie im Jemen oder in Syrien, wenn Rechtsbeugung zum Alltag gehört wie im Kongo, wenn nach Jahren massiven Engagements Zukunftsperspektiven ins Wanken geraten wie in Afghanistan: Dann fühlen sich diese hoch motivierten Fachkräfte um ihr Engagement betrogen und geraten in einen Loyalitätskonflikt, da sich solche Widersprüche nicht einfach auflösen lassen. Fachkräfte der internationalen Zusammenarbeit werden darüber hinaus oftmals Zeugen von Repression, roher Gewalt und großem menschlichen Elend, ohne direkt eingreifen zu können. Psychische Stressreaktionen als Folge empfundener Ohnmacht bleiben da nicht aus. Bei Evakuierungen aufgrund der Zuspitzung von internen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und bewaffneten Oppositionsgruppen, wie das 2016 im Südsudan und Burundi der Fall war, muss man Partnerpersonal und nationale Kolleginnen und Kollegen in einer prekären Situation zurücklassen, da diese (von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie beispielsweise bei lokalem Personal der Bundeswehr in Afghanistan) kein Anrecht auf Aufnahme in Deutschland haben. Angesichts der oft über viele Jahre gewachsenen vertrauensvollen und nicht selten freundschaftlichen Zusammenarbeit führen solche Situationen zu Frust, Enttäuschung und manchmal Verbitterung. Schließlich resultiert die mangelnde Attraktivität solcher Standorte in der Verzögerung von Stellenbesetzungen, was längere Vakanzen und auch Führungslücken nach sich zieht und die Belastungen des vor Ort verbleibenden Personals zusätzlich erhöht.

3

Personal- und Führungskräfteentwicklung in fragilen Kontexten

Trotz einer Reihe von Unterstützungsleistungen aus der Heimat bildet sich das gesamte Unternehmen letztlich auch in den aufgebauten Projekt- und Programmstrukturen in den Partnerländern ab. Funktionen wie Rechnungslegung, Procurement, Personalrekrutierung und -betreuung, Öffentlichkeitsarbeit und lokale Vernetzung, Akquisition etc. werden vor Ort ebenfalls wahrgenommen. Die im Vergleich zur deutschen Zentrale wesentlich geringere Personalstärke lässt jedoch eine ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen Fach-, Management- und Führungsfunktionen meist nur eingeschränkt zu. Da auch die Führungskräfte von den oben beschriebenen Belastungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichermaßen betroffen sind, stehen für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben nicht immer ausreichende zeitliche Kapazitäten zur Verfügung. Dieser Gemengelage trägt die GIZ auf dreierlei Weise Rechnung: erstens mit dem Aufund Ausbau von Security-and-Risk-Management-Strukturen in Deutschland und in den Partnerländern, dem Angebot psychosozialer Betreuung für Fach- und Führungskräfte im Auslandseinsatz sowie einer direkten fachlichen Ansprechstruktur der Personalabteilungen der Zentrale für die HR-Verantwortlichen vor Ort. Zweitens werden die entsandten Fachkräfte sorgfältig ausgewählt und auf einen Einsatz in fragilen Kontexten vorbereitet. Und drittens gibt es spezielle Unterstützungsangebote für Führungskräfte, die sie in ihrer Führungsaufgabe unterstützen.

106

3.1

H.-J. Preuß

 er institutionelle Rahmen für eine Auslandstätigkeit unter D Bedingungen fragiler Staatlichkeit

Der 11. September 2001 und die daran anschließende Vertreibung der Taliban von der Macht in Afghanistan gab letztendlich auch den Startschuss für die Entwicklung von „Security and Risk Management Systems“ (SRMS). Denn neben der militärischen Intervention musste auch die zivile Komponente der ausländischen Unterstützung vor gezielten Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen geschützt werden, ohne dass man durch eine allzu enge Kooperation mit den internationalen und afghanischen Streitkräften humanitäre Prinzipien wie Unparteilichkeit und Neutralität zur Disposition stellen musste. Solche Systeme wurden in der Folge in vielen fragilen Ländern aufgebaut. SRMS sind kein Bindeglied für eine intensivere zivil-militärische Zusammenarbeit oder ein Zeichen für eine zunehmende Militarisierung humanitären und entwicklungspolitischen Engagements, sondern eine von zivilen Akteuren entwickelte und gesteuerte, aktive Form der Herstellung personeller Sicherheit für ausländische und nationale Fachkräfte, die unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit arbeiten. Nahezu alle Maßnahmen im Rahmen des SRMS dienen dazu, das Entstehen kritischer Situationen zu verhindern und – falls sie dennoch eintreten – durch Deeskalation zu entschärfen. Oberstes Ziel ist die Fürsorge für internationales und nationales Personal. Aufgaben des SRMS werden je nach Lage von einem (oder mehreren) spezialisierten Risk-Managern wahrgenommen und folgen einem Standardzyklus, der für alle Krisenstandorte verbindlich ist, der aber an die lokalen Gegebenheiten flexibel angepasst werden kann. Innerhalb des Zyklus folgt auf eine Analyse von Kontext und Konfliktakteuren die konkrete Bewertung der Risikosituation, auf deren Grundlage eine spezifische Risikomanagementstrategie erarbeitet wird. Standardarbeitsweisen sind für verschiedene Stadien der personellen Bedrohung vorgeschrieben. Kommt es zu einem Krisenfall, dann werden Krisenreaktionsmaßnahmen eingeleitet, wobei die GIZ aufgrund ihres Auftrags auch immer reflektiert, ob und auf welcher Stufe die „business continuity“ sichergestellt werden kann. In erster Linie geht es um reine Schadensvorsorge und Compliance. Wenn möglich, soll natürlich der normale Geschäftsbetrieb weitestgehend abgesichert werden. Bei einem hohen Reifegrad des SRMS ist es darüber hinaus durchaus möglich, Geschäftsopportunitäten zu nutzen, die sich aus dem Standortvorteil einerseits und der Krisensituation andererseits ergeben. Die interne Kommunikation für das eigene Personal muss gewährleistet sein, um dem gesamten Personal jederzeit eine Einschätzung der Sicherheitslage zu erlauben. Aufgrund des öffentlichen Auftrags der GIZ und der politischen Sensibilität ihrer Interventionen ist auch die mit der Bundesregierung abgestimmte externe Krisenkommunikation von Bedeutung. Monitoring und Evaluierung inklusive der Aufarbeitung gemachter Erfahrungen schließen den Zyklus ab. Vor der Ausreise werden den Risk-Managern zusätzlich Inhalte vermittelt, die speziell auf die jeweiligen Kontexte ausgerichtet sind. Wichtigstes Element ist der Kurs „Security Risk Management“, dessen Inhalte in Tab. 1. abgebildet sind.

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern

107

Tab. 1  Übersicht über die Inhalte des Kurses „Security Risk Management“ Morgen

Montag Welcome and Introduction Introduction to Workshop

Security Risk Management Review – Findings Security Management – Concepts and Framework Nachmittag Roles and Responsibilities Introduction to Context

Mittwoch Situational Awareness Security Indicators

GIZ Risk Analysis Tools Security Strategies

Emergency and HRE Planning

Risk Mitigation GIZ Minimum Security Standards

Site Security Assessment

Sexual Security Planning and Aggression Standard Operating Procedures NRC Case Study Free Security Briefing and Homework

Actor Analysis

Abend

Dienstag Risk and Risk Analysis

Donnerstag Security Briefing -Group Presentation and Feedback Crisis Management Simulation Crisis Management Simulation

Freitag Developing a Security Culture

Crisis Management Simulation Crisis Management Debrief and Theory Business Continuity Management Clear Communication and Reporting

Advisory and Communication Skills

Advisory and Communication Skills

Wrap-up and Course Feedback

Free and/or trip to Self-Learning Centre

Quelle: Eigener Entwurf auf der Grundlage von Kursmaterialien der Akademie für Internationale Zusammenarbeit

Die Risk-Manager sind wie andere administrative Funktionen (Rechnungswesen, Personal etc.) in die Struktur der Landesbüros eingebunden. Zur Sicherung eines einheitlichen Vorgehens hat sich die GIZ aber im Rahmen einer Reorganisation dafür entschieden, neben der disziplinarischen Verantwortung eine „dotted line“ der fachlichen Zuständigkeit zu etablieren. Der unmittelbare Rekurs der für Personal, Finanzen und Unternehmenssicherheit verantwortlichen Organisationseinheiten der Zentrale auf die entsprechenden Funktionen im Ausland sichert nicht nur Informationsfluss und Erfahrungsaustausch in beide Richtungen, sondern erlaubt auch die Sicherung des jeweiligen State of the Art und einheitlicher Verfahren in der Außenstruktur.

108

H.-J. Preuß

Das Arbeiten in fragilen Kontexten stellt für das Auslandspersonal der GIZ auch mental eine besondere Herausforderung dar. Um das psychische Wohlergehen der entsandten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schützen, hat die GIZ bereits im Jahr 1999 mit Cooperation with Personnel in Stress, Conflict and Crisis (COPE) ein internes psychosoziales Unterstützungsangebot ins Leben gerufen. So unterstützt die Gruppe COPE die Fachkräfte bei der Vorbeugung und Bewältigung von möglichen Belastungserfahrungen. Dabei gehören zu den typischen Unterstützungsleistungen sowohl die Aufarbeitung individueller Krisen als auch die Begleitung gesamter Teams, wie etwa bei notwendigen Evakuierungen. Außerdem steht COPE den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Bewältigung anderer Belastungen und persönlicher Krisen, wie z. B. arbeitsbedingtem Stress, Teamkonflikten oder familiären Problemen, unterstützend zur Seite. COPE hat zu einigen relevanten Themen Ratgeber erstellt, die den Fach- und Führungskräften Hilfestellung bei der Handhabung der Herausforderungen im fragilen Umfeld geben sollen (Handlungshilfe „Gesundes Führen“, „Selbstcoaching Stressmanagement“, „Umgang mit Stress, Krise und Konflikten“ etc.). Das unternehmensinterne „Network Working in International Conflict and Disasters“ dient dem Austausch der Erfahrungen und der Dokumentation von „lessons learned“.

3.2

 uswahl und Vorbereitung entsandter Fachkräfte für fragile A Länder

Die wichtigsten Stellschrauben für einen erfolgreichen Personaleinsatz in fragilen Ländern sind die Auswahl der Fachkräfte und ihre Vorbereitung auf einen längeren Aufenthalt in krisenbelasteten Kontexten – u. a. auch deshalb, weil ein längeres Learning by Doing vor Ort oder eine intensive Betreuung entweder durch die vorgesetzte Führungskraft oder die Risk-Manager während der Einarbeitung in aller Regel nicht gewährleistet werden kann. In den Einstellungsgesprächen werden Besonderheiten auf den zu besetzenden Positionen thematisiert. Dazu gehört der Umgang mit Belastungen, die z. B. mit der geringen Sichtbarkeit von Ergebnissen trotz hohen Arbeitseinsatzes zu tun haben. Die permanente Erreichbarkeit, die aus Sicherheitsgründen gefordert werden muss, sowie gesellschaftliche Verpflichtungen, denen die Fachkräfte auch außerhalb der regulären Arbeitszeit nachkommen müssen, sind kaum mit den normalen Bedingungen an deutschen Arbeitsplätzen zu vergleichen und müssen daher angesprochen werden. Auch an Physis und Gesundheit stellen fragile Standorte besondere Anforderungen. Meist verfügen diese Länder über eine rudimentäre medizinische Versorgung bei gleichzeitig hohem Krankheits- und Verletzungsrisiko wegen mangelnder Hygiene, endemischen Krankheiten oder den Gefahren des Straßenverkehrs. Daher wird auf die vorbereitende Gesundheitsuntersuchung  – gemeinhin Tropentauglichkeitstest genannt  – großer Wert gelegt; bei Vorliegen ernsthafter gesundheitlicher Einschränkungen ist die Anzahl möglicher Einsatzländer erheblich reduziert oder ein Einsatz im Ausland gar nicht möglich.

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern

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Dies betrifft auch die Tätigkeit erfahrener Fach- und Führungskräfte im fortgeschrittenen Alter, auf deren Expertise man gerade in schwierigen Situationen angewiesen wäre. Mental belastend wirken häufig archaische gesellschaftliche Normen oder patriarchale Strukturen, da sich Werte von Partnern und Zielgruppen erheblich von westlichen bzw. europäischen Wertvorstellungen unterscheiden. Moralische Prinzipien wie die Ablehnung von Korruption lassen sich zwar persönlich vertreten, machen aber nicht immer Schule im Partnerland. Hinzu kommen eingeschränkte Bewegungsfreiheiten, die Gefahr von Entführungen und eine latent hohe Alltagskriminalität. Im Gespräch mit Psychologen werden Bewerberinnen und Bewerber mit diesen Gegebenheiten konfrontiert und zeigen im Dialog, wie sie sich ihre Arbeit unter solchen Bedingungen vorstellen. Außerdem werden Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften thematisiert, die erfahrungsgemäß die Anpassung des entsandten Personals an fragile und sicherheitskritische Kontexte erhöhen und das Ausmaß der erlebten Belastung reduzieren können. Dazu gehören: • • • • • • • • • • • •

Offene Haltung im Umgang mit Risiken, geringes Sicherheitsbedürfnis Aktive Informationssuche Genügsamkeit (die Lebensumstände betreffend) Fähigkeit, sich an Standorten ohne Freizeitangebote selbst zu beschäftigen Ungebundenheit/Unabhängigkeit, Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung mit Angehörigen und Freunden über die Distanz Frustrationstoleranz Ambiguitätstoleranz Fähigkeit zur Selbstreflexion Proaktive Auseinandersetzung mit eigenen Grenzen Lösungsorientierung Selbstmanagementkompetenz Optimistische, konstruktive Grundhaltung

Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden nach der Einstellung und vor ihrer Ausreise in die Partnerländer der deutschen EZ intensiv vorbereitet, ebenso wie Personal, das entweder nach einem Inlandsaufenthalt wieder ins Ausland wechselt, oder sog. Umsetzer, die von einem Standort zu einem anderen wechseln. Das modular aufgebaute Vorbereitungsprogramm besteht aus verbindlichen und fakultativen Einheiten, die je nach den Anforderungen der Mission individuell zusammengestellt werden können und Länderkunde, Sprachübungen, soziokulturelle Besonderheiten des Gastlands sowie Spezifika des GIZ-Auftragsmanagements und administrative Regularien umfassen. Weitestgehend deckt die GIZ-eigene Akademie für internationale Zusammenarbeit die Bedarfe der Vorbereitung ab. Bei der Entsendung in fragile Kontexte fügen sich zusätzliche Trainingsmodule in die Vorbereitung ein. Zentrale Einheit ist das fünftägige Training „Safety and Security“, das vor Kurzem pilotiert wurde und seit 2017 (nach den bisher zweieinhalbtägigen Kursen) monatlich angeboten wird – übrigens auch für Ausreisende anderer Entsendeorganisationen. Die Tab. 2 gibt einen Überblick über die spezifischen Inhalte dieses Trainings.

Montag Einführung: Risikoanalyse und Risk-Management-­ Prozesse

Mittwoch Abfahrt zum Projektstandort; Übung Radio Communication; Empfang und Frühstück bei der Partnerorganisation Besichtigung des Projektstandorts

Umgang mit Stress I: Persönliche Reaktion in schwierigen Situationen Vorbereitung auf Projektfahrt: Radio Communication, Kartenkunde Lagebesprechung: Projektkontext

Fortsetzung: Umgang mit Stress

Grundlagen Geiselnahme Umgang mit Stress II: Umgang mit erlebter Gefahr und Traumata

Sexualisierte Gewalt

Dienstag Sicherung von Haus und Hof; sicheres Hotel; zu Fuß unterwegs

Fortsetzung Erste Hilfe

Fortsetzung Erste Hilfe

Freitag Erste Hilfe inklusive „medical health“ im Projektkontext

Gemeinsames Abendessen; Reflexion

Risikoanalyse im Überblick: Wichtigste Strategien; Matrix; Worst-­ Erkenntnisse: Case-­Szenario Brückenschlag in den eigenen Kontext

Fortsetzung Lernstationen

Donnerstag Lernstationen: Umgang mit Demonstrationen/Mob inklusive Radio Communication Verhalten bei Anschlagsgefahr und unter Beschuss; Brandbekämpfung

Quelle: Eigener Entwurf auf der Grundlage von Kursmaterialien der Akademie für Internationale Zusammenarbeit

Abend

Überlandfahrt I: Vorbereitung Fahrzeug inklusive Instruktion Fahrer Nachmittag Überlandfahrt II: Diverse Checkpoints; Umgang mit Korruption Fragilität, Konflikt und Gewalt: Zusammenhänge, interkulturelle Spezifika

Morgen

Tab. 2  Übersicht über die Inhalte des Kurses „Safety and Security“

110 H.-J. Preuß

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern

3.3

111

Als Führungskraft in fragilen Kontexten

Die Anforderungen an Führungskräfte, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in fragilen Kontexten führen, sind äußerst hoch. Führungskompetenzen, die in fragilen Kontexten als besonders wichtig erachtet werden, liegen in der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne sich nach allen Seiten absichern zu können. Führungskräfte sind Vorbilder, die im Rahmen der Mitarbeiterführung Belastungen thematisieren und sich nicht scheuen, private Probleme mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzusprechen, um deren Hemmschwelle zu senken, sich ihren Vorgesetzten zu offenbaren, wenn es ihnen nicht gut geht. Im Rahmen der Teamführung müssen sie dafür sorgen, dass die verschiedenen Mitarbeitergruppen gut kooperieren, da besonders in diesen Kontexten eine erfolgreiche Arbeit ohne das Wissen der nationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht möglich ist. Auch in Sachen Führungsstil sind die Erwartungen an die Führungskräfte hoch. Während nationale Beschäftigte häufig einen autoritären Führungsstil gewohnt sind, bevorzugen entsandte Fachkräfte eine kooperative Führung. In sicherheitskritischen Situationen wäre dieser Führungsstil aber zu zeitaufwendig und nicht zielführend. Die Führungskraft muss dann in der Lage sein, schnell auf eine direktivere Führung umzuschalten. Damit dies gelingt, ist neben einer Reflexion des eigenen Führungsstils und der Kenntnis unterschiedlicher Formen der Führung auch genügend Handlungssicherheit nötig, also das Wissen, was in außergewöhnlichen Situationen zu tun ist. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reagieren unterschiedlich auf ein tendenziell bedrohliches Umfeld. Einige befinden sich in einem Zustand permanenter Unsicherheit; andere ignorieren Gefahrenpotenziale und versuchen, einen gewissen Grad an Normalität zu wahren, der sie allerdings einem höheren Risiko aussetzt. Da Führungskräfte im Krisenkontext eine hohe Verantwortung für die Sicherheit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht haben, muss zum einen den individuellen Reaktionen Rechnung getragen werden, zum anderen muss das Personal realistisch über die Gefahren, aber auch über die präventiven und risikomindernden Maßnahmen des Unternehmens und des SRMS vor Ort informiert und sensibilisiert werden. Oberste Maxime für jede Fachkraft ist: Ich selbst trage Verantwortung für meine Sicherheit und die der anderen! Wer sich nicht an die Sicherheitsvorkehrungen hält, muss mit Nachdruck und gegebenenfalls der Androhung von Sanktionen an seine Verpflichtungen erinnert werden. Disziplinarische Maßnahmen fallen dem Vorgesetzten natürlich dann besonders schwer, wenn die Nachbesetzung von Positionen in Projekten und Programmen ein zeitraubendes Unterfangen ist, das nicht immer von Erfolg gekrönt wird. Alle Führungskräfte streben danach, für ihre Vorhaben exzellente Fachkräfte zu gewinnen; in der Realität gibt es aber einen mehr oder weniger großen Gegensatz zwischen einer Bestenauslese und dem vorhandenen Stellenbesetzungs- und -implementierungsdruck. So führt die latente Bedrohungssituation in fragilen Ländern zu erhöhtem physischen Stress. An einigen Standorten werden entsandte Fachkräfte durch die Unterbringung in „compounds“ quasi kaserniert und leben und arbeiten 24 Stunden am Tag und sieben Tage

112

H.-J. Preuß

in der Woche auf engstem Raum zusammen. Dies birgt ein Konfliktpotenzial, und dem müssen Führungskräfte dadurch entsprechen, dass sich mögliche Aggressionen nicht aufbauen oder entladen können. Kommt es dennoch dazu, sind die Mediationsfähigkeiten der Vorgesetzten gefragt. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt wurde, ist die Frage nach dem Sinn der Tätigkeit unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit nicht immer eindeutig zu beantworten. Die Leute hier bei der Stange zu halten, selbst wenn sich Enttäuschung und Frustration breitmachen, erfordert Authentizität und Überzeugungsfähigkeit. Auch Führungskräfte nehmen vor der (Wieder-)Entsendung an den im letzten Abschnitt beschriebenen vorbereitenden Kursen teil; dies gilt auch für die speziell auf Krisenstandorte bezogenen Elemente. Gelegentlich lässt sich beobachten, dass gerade erfahrene Führungskräfte die Bedeutung der Vorbereitung unterschätzen: Dann muss erstens verdeutlicht werden, dass die Bedingungen, unter denen in fragilen Kontexten gearbeitet wird, einem kontinuierlichen Wandel unterliegen. Zweitens stehen gerade Führungskräfte unter genauer Beobachtung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; entziehen sie sich aufgrund einer anderen Prioritätensetzung ganz oder teilweise den notwendigen Fortbildungen, dient dies gerade nicht als Vorbild für andere, insbesondere neue Kolleginnen und Kollegen. Alle Führungskräfte der GIZ werden auf ihre künftige Verantwortung in einem internen Entwicklungsprogramm vorbereitet und zwar unabhängig davon, ob sie im Inland oder im Ausland, in einem Krisenland oder nicht eingesetzt werden. Die Inhalte dieser Führungskräfteentwicklung entsprechen also nicht vollständig den Bedarfen an die Personalführung in einem krisenbehafteten Kontext und werden durch spezifische Angebote ergänzt. Bislang gehörte ein dreitägiges Sicherheitsmodul zur Standardvorbereitung. Dies wurde nunmehr erweitert durch ein neues, innovatives Element der Vorbereitung auf die Personalführung in Krisenkontexten. Es handelt sich hierbei um eine aus zwei Modulen bestehende Werkstatt, die sowohl in Deutschland (vor der Ausreise) als auch im Ausland (für bereits im Ausland befindliche Führungskräfte, deren Länder eine krisenhafte Entwicklung nehmen) wahlweise in deutscher und englischer Sprache angeboten wird. Es ist ebenfalls möglich, die Werkstatt auf das komplette Führungsteam der GIZ eines fragilen Landes zuzuschneiden. Zu den vermittelten Inhalten gehört z. B. das Thema „Gesundes Führen“, das sowohl Aspekte der Salutogenese (Schlüsselfaktoren für Leistungsfähigkeit und Gesundheit in der Führung), der Stressbewältigung und des Resilienzaufbaus (Methoden zum Stressabbau, zum Selbstcoaching) als auch das Erkennen von Stresssymptomen und Signalen für psychosoziale Krisen umfasst. Im Themenfeld Kommunikation und Konfliktklärung erlernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Prozesse und Muster in Konflikten zwischen Menschen zu erkennen und wie Führungskräfte mithilfe von Interessenintegration zur Deeskalation beitragen zu können. Schließlich geht es auch um die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, wie Führungskräfte bei Gewalteskalation und Evakuierung mit ihren Teams umgehen sollen

Personalführung in fragilen Kontexten von Entwicklungs- und Schwellenländern

113

und wie – teilweise mit Methoden des „remote leadership“ – das Business Continuity Management ausgeübt werden kann. Coaching-Angebote speziell für Führungskräfte runden das Angebot ab.

4

Fazit und Ausblick

Die Personalentsendung in schwache, scheiternde oder gescheiterte Staaten wird in Zukunft nicht nur in der Entwicklungszusammenarbeit eine wachsende Bedeutung erfahren. Auch private Unternehmen werden aus Motiven einer sicheren Versorgung mit Rohstoffen für ihre weiterverarbeitenden Produktionsanlagen oder zur Absatzsicherung in sehr dynamisch wachsenden Märkten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Krisenstandorten einsetzen. Die GIZ hat sich aufgrund langjähriger Erfahrungen und des systematischen Aufbaus von SRMS sowie mit der intensiven Vorbereitung von Fach- und Führungskräften eine Wissensbasis erarbeitet, die auch mit anderen geteilt werden kann. Führung in solchen Kontexten ist eine besonders herausfordernde Aufgabe. Ob sie für exzellente Köpfe weiterhin attraktiv ist, hängt davon ab, ob es gelingt, die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Programme und Projekte auch künftig in den Vordergrund zu stellen, der schwierigen Arbeit seitens der Arbeitgeber eine hohe Wertschätzung entgegenzubringen sowie sicherzustellen, dass im Anschluss an den Aufenthalt in einem fragilen Kontext weitere Karriereschritte innerhalb und außerhalb des Unternehmens erleichtert werden. Danksagung  Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit Sonja Hannappel, Patricia Seeliger, Kai Leonhardt, Paul Soemer, Arthur Wallach und Lutz Zimmermann für die kritische Durchsicht des Beitrags und hilfreichen Hinweise.

Literatur Aid Worker Security Database (2016). Major attacks on aid workers: Summary statistics (2005– 2015). https://aidworkersecurity.org/incidents/report/summary (zugegriffen am 06.06.2019). Arbeitskreis Lernen und Helfen in Übersee (2015). 2014. Fachkräfte in der Personellen Entwicklungszusammenarbeit. Bonn: AKLHÜ. www.entwicklungsdienst.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen_AK/_15/Statistik_Fachkraefte_15.pdf (zugegriffen am 06.06.2019). Fund for Peace (o. J.). Fragile States Index. Washington, D.C.: Foreign Policy. https://fragilestatesindex.org; https://fundforpeace.org (zugegriffen am 06.06.2019). GIZ (2016). Lösungen, die wirken. Integrierter Unternehmensbericht 2015. Bonn und Eschborn: GIZ. https://issuu.com/deutschegiz/docs/rz_giz_15001_iub_150dpi_es?e=25378438/36891459 (zugegriffen am 06.06.2019). OECD (2015). States of Fragility 2015. Meeting Post-2015 Ambitions. Paris: OECD. www.keepeek. com/Digital-Asset-Management/oecd/development/states-of-fragility-2015_9789264227699-en (zugegriffen am 06.06.2019). Preuß, H.-J. (2013). Fragile Staatlichkeit in Afrika. Was kann Entwicklungszusammenarbeit leisten? Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 6 (2), 309–318.

114

H.-J. Preuß Hans-Joachim Preuß  absolvierte nach seiner kaufmännischen Ausbildung und dem Studium der Agrarwissenschaften ein Postgraduiertenstudium am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Seine berufliche Tätigkeit in der internationalen Zusammenarbeit startete er 1986 bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH (GTZ) und war dort in Afrika und in der Eschborner Zentrale tätig. Von 1991 bis 1994 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für regionale Entwicklungsforschung der Justus-Liebig-Universität in Gießen, wo er mit einer Fallstudie zur zielgruppenorientierten Agrarforschung in Entwicklungsländern promovierte. Nach seiner Rückkehr in die GTZ 1994 gehörte er bis 1996 der Stabsstelle Unternehmensentwicklung an. Im Jahr 1996 wechselte Preuß zur Welthungerhilfe in Bonn, wo er als Leiter des Bereichs Programme und Projekte und als Generalsekretär tätig war. Zwischen 2009 und 2018 war er Geschäftsführer der GTZ, Mitglied des Vorstands der GIZ und Arbeitsdirektor. Seit Mitte 2018 vertritt Preuß die Friedrich-Ebert-Stiftung in Cotonou/Benin. Preuß ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher und Beiträge zu Fragen der ländlichen Entwicklung, der Welternährung und fragiler Staatlichkeit. Er engagiert sich ehrenamtlich u. a. als Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaften und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und als Mitglied des Beirats der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik.

Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen Jérôme Fuchs und Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4  5  6  7  8 

 harakteristika guter Führung in Krisensituationen  C Die Rolle von Vertrauen und Akzeptanz bei Entscheidungen  Qualifikationen einer Führungskraft einer Spezialeinheit  Charakteristika eines gut funktionierenden Einsatzteams  Ablauf und Charakteristika eines Einsatzes  Einmal dabei – lange dabei  Die besondere Herausforderung motiviert  Autoreninformationen 

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag berichtet Jérôme Fuchs, der Kommandeur der GSG 9, über die Herausforderungen der Führung der Spezialeinheit der Bundespolizei zur Bekämpfung von Terrorismus und schwerster Gewaltkriminalität, die auch unter Gefahr für das eigene Leben einsatzbereit sein muss. Gute Führung zeichnet sich in dieser Spezialeinheit u.  a. durch Führung von vorn aus, durch offene Kommunikation, gegenseitige Akzeptanz und partnerschaftlichen Umgang. Dabei muss eine Reihe von Leiter der GSG 9, im Gespräch mit Sonja Sackmann

J. Fuchs (*) GSG 9, Sankt Augustin, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Sackmann Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_7

115

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J. Fuchs und S. Sackmann

Voraussetzungen erfüllt sein wie Teamfähigkeit, gegenseitiges Vertrauen, Intelligenz, physische und psychische Eignung sowie die intrinsische Motivation, Besonderes leisten zu wollen.

1

cc

Charakteristika guter Führung in Krisensituationen Was beinhaltet für Sie gute Führung?  Jérôme Fuchs: Für mich bedeutet gute

Führung zum einen die Übernahme von Verantwortung der Führungskraft für das eigene Handeln, zum anderen die Übernahme von Verantwortung für die Mitarbeiter. Vertrauen in die nachgeordneten Führungskräfte und Mitarbeiter ist ein ganz zentraler Aspekt und der enge Austausch, wann immer das möglich ist, um Entscheidungen transparent zu machen. Das ist aus verschiedenen Gründen nicht immer sofort leistbar, gerade bei den polizeilichen Lagen, bei denen zeitlicher Druck herrscht. Dann muss man sich sofort auf die Situation einstellen – die Transparenz muss im Nachgang geschaffen werden. Im Grunde wird gute Führung für mich durch die Elemente des kooperativen Führungssystems beschrieben. cc

Wie würden Sie die Kommunikation einer guten Führung charakterisieren? Die geht ja auch über Hierarchien hinweg. Wie viel Offenheit ist da möglich bzw. nötig?  Jérôme Fuchs: Wir gehen so offen wie möglich miteinander um. Die

GSG 9 ist zwar eine hierarchische Organisation, aber die Kommunikation verläuft bei uns hierarchieübergreifend. Im Einsatzfall muss es möglich sein, dass der Einheitsführer unmittelbar mit dem jüngsten Mann in der Einheit kommuniziert und umgekehrt genauso. Ein offener Austausch, offene Kommunikation und Kritikfähigkeit in beide Richtungen ist essenziell. cc

Wenn Kommunikation in beide Richtungen gehen soll, dann muss es auch möglich sein, dass ein jüngerer Mitarbeiter seinem Chef auch etwas Kritisches sagen kann?  Jérôme Fuchs: Ja, selbstverständlich. Natürlich muss die Form gewahrt

sein, aber jede Führungskraft muss auch bereit sein, sich Kritik anzuhören. cc

Bei der Bundespolizei gibt es Führung in Extrem- und Krisensituationen, für die die GSG 9 zuständig ist. Dann gibt es die BFE+1 und noch die Spezialeinheiten der einzelnen Bundesländer. Worin sehen Sie jeweils die Unterschiede in der Führung?  Jérôme Fuchs: Ich sehe nur bedingt Unterschiede. Auch in Extrem- und

Krisensituationen werden die Grundsätze, über die wir eben gesprochen haben,

 BFE+ sind Einheiten spezialisierter Polizeikräfte der deutschen Bundespolizei, die im Sommer 2015 für die Terrorismusbekämpfung aufgestellt wurden. Die Abkürzung BFE steht für Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit. 1

Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen

nicht ausgehebelt. Es gibt gerade im Bereich der Spezialeinheiten eine wesentliche Führungstaktik, die Auftragstaktik, und die gilt wann immer möglich. Das heißt, es wird ein Auftrag formuliert und eine linke und rechte Grenze festgelegt. Die einsatztaktische Umsetzung obliegt dann den nachgeordneten Führungskräften auf der taktisch-operativen Ebene. cc

Was verstehen Sie unter linke und rechte Grenze?  Jérôme Fuchs: Dass ein Rah-

men vorgegeben wird. Das sind beispielsweise Leitlinien eines Polizeiführers, rechtliche Rahmenbedingungen, Freigaben zum Schusswaffengebrauch. Das sind bindende Parameter. Was die tatsächliche Durchführung des Auftrags angeht, das Wie – das heißt, wie geht man einen Auftrag taktisch an –, da sind die Kräfte sehr frei. Das müssen sie auch sein, denn es kann nicht der gesamte A ­ blauf von A bis Z befohlen werden. Das gilt für die Spezialeinheiten und in etwas abgestufter Form auch für die BFE+ und für den allgemeinen Polizeibeamten. cc

Zu anderer Gelegenheit hatten Sie über das Führen von vorn gesprochen. Bezieht sich dies auf den erwähnten großen Freiraum bei der taktischen Umsetzung?  Jérôme Fuchs: Führung von vorn ist ein zentraler Aspekt bei der GSG 9

und unter zwei Gesichtspunkten zu verstehen. Wir haben in größeren Lagen einen sog. On-scene Commander, ein vorgeschobenes Führungselement, das sich bei den Einsatzkräften befindet. Es ist also nicht so, dass sich der taktische Führer irgendwo weit abgesetzt von den Einsatzkräften befindet, dann einen Befehl gibt und danach davon im Prinzip nichts mehr real wahrnimmt. Führen von vorn bedeutet aber auch, dass wesentliche Entscheidungen von dem Einsatzbeamten getroffen werden können, der z. B. unmittelbaren Täterkontakt hat. Sein Handeln beeinflusst das gesamte Team, er kann damit eine Führungsentscheidung treffen – auch wenn er der jüngste Mann im Team ist.

2 cc

Die Rolle von Vertrauen und Akzeptanz bei Entscheidungen Was sind für Sie die größten Herausforderungen bei der Führung von Spezialeinheiten?  Jérôme Fuchs: Eine große Herausforderung ist es, die entspre-

chende Akzeptanz und das Verständnis für Entscheidungen von nachgeordneten Führungskräften und den Einsatzkräften zu bekommen. Da Entscheidungen getroffen werden, die auch ein persönliches Risiko für Leib und Leben bedeuten können, ist es von zentraler Bedeutung, dass sie nachvollziehbar sind und akzeptiert werden. Das fängt mit der Person des Führenden an. Ist sie grundsätzlich akzeptiert, dann wird es in der Regel auch seine Entscheidung sein. cc

Dies bedeutet ja, dass ein großes Vertrauen in den Führenden vorhanden ist, in seine entsprechenden Fähigkeiten und Kompetenzen, damit man auch die Entscheidung als eine gute akzeptieren kann.  Jérôme Fuchs: Ja, das ist absolut richtig.

Solch ein Vertrauen muss vorhanden sein.

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J. Fuchs und S. Sackmann

3

Qualifikationen einer Führungskraft einer Spezialeinheit

cc

Was qualifiziert eine Person zum Führen einer Spezialeinheit?  Jérôme Fuchs: Vertrauen in die Fähigkeiten und Kompetenzen des Führers einer Spezialeinheit ist ein zentraler Punkt. Solch ein Vertrauen kann dann entstehen, wenn die Mitarbeiter wissen, dass der jeweilige Führer das, was er fordert, auch selbst erlebt und selbst durchlebt hat. Von daher ist es aus meiner Sicht hilfreich, wenn man eine Vorverwendung in einer Spezialeinheit als Führungskraft oder Teammitglied vorweisen kann. Auf Basis dieser Erfahrungen, aus eigenem Erleben, kann bestmöglich eingeschätzt werden, was den Einsatzkräften abverlangt wird. Man ist dadurch authentisch.

cc

Dies bedeutet, dass man sich selber bewährt haben muss und dass man einen entsprechenden Ruf hat, um überhaupt eine Akzeptanz zu erhalten?  Jérôme

Fuchs: Aus meiner Sicht erleichtert es die Akzeptanz ungemein. Ich sage nicht, dass es anders nicht möglich wäre, aber es ist, glaube ich, ungleich schwieriger für jemanden, der diese Vorverwendung nicht hat. cc

Welche Qualifikationen erachten Sie als extrem wichtig? Worauf achten Sie bei der Selektion von Bewerbern für die GSG 9? Welche Charakteristika und Kompetenzen müssen absolut vorhanden sein und welche Kompetenzen lassen sich trainieren?  Jérôme Fuchs: Zu den elementarsten Kriterien gehört erst einmal

Teamfähigkeit. Die meisten Aufgaben werden bei uns in einem Team erledigt. Gleichwohl muss der Einsatzbeamte auch alleine agieren können. Das erscheint möglicherweise widersprüchlich, wir fordern aber beides. Zudem braucht ein potenzieller Bewerber Stressresistenz. Er muss in Ausnahmesituationen einen kühlen Kopf bewahren können. Das wird im Training immer wieder simuliert, daher wird auch bei der Personalauswahl ganz besonders darauf geachtet. Über Kritikfähigkeit in beide Richtungen hatten wir schon gesprochen. Sowohl Mitarbeiter bzw. Auszubildender als auch Vorgesetzter müssen kritikfähig sein. Dabei ist es immer hilfreich, wenn konstruktiv, das heißt verbunden mit einem konkreten Verbesserungsvorschlag, kritisiert wird. Gesunder Ehrgeiz muss spürbar sein. Man muss Besonderes leisten wollen. Und dieser Ehrgeiz muss auf einer intrinsischen Motivation begründet sein. Er kann nicht von außen befohlen werden, das wird nicht funktionieren. Auch Reaktionsfähigkeit ist sehr wichtig. Diese Fähigkeit lässt sich nur be­ dingt trainieren. Sie muss schon in einem hohen Maße vorhanden sein – wie eine schnelle Auffassungsgabe und eine insgesamt hohe psychische und physische Belastbarkeit. Gut trainierbare Aspekte sind aus meiner Sicht die physischen Fähigkeiten. Was die Sportlichkeit angeht, muss eine gesunde Basis vorhanden sein, auf der dann aufgebaut werden kann. Die Bewerber, die zu uns kommen, sind fertig

Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen

ausgebildete Polizeibeamte. Das heißt, wir bauen auf deren Fähigkeiten auf, da erwarten wir bei der Bewerbung noch keine Perfektion in den für die GSG  9 relevanten Bereichen. Auch sollte der Bewerber ein gewisses taktisches Grundverständnis aufweisen, das heißt, er muss verstehen, wie sich ein Team taktisch im Einsatzraum bewegt. cc

Sie haben ständig eine Einheit, die einsatzbereit ist. Wie groß ist eine solche Einsatzeinheit?  Jérôme Fuchs: Es gibt derzeit drei Einsatzeinheiten in der GSG 9

und eine vierte ist im Aufbau. Die genaue Größe kann ich Ihnen nicht sagen, da wir uns mit taktischen Einsatzzahlen und -größen zurückhalten. Aber wie Sie richtig bemerken, es immer eine Einsatzeinheit in Bereitschaft. Wie viele Einsatzkräfte tatsächlich in den jeweiligen Einsatz gehen, wird immer individuell festgelegt. Das hängt von der Größe des Zielobjekts, von möglichen Anschlussaufträgen und Spezialisierungen ab, die im Einsatz gebraucht werden.

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Charakteristika eines gut funktionierenden Einsatzteams

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Worauf achten Sie bei der Zusammenstellung einer Einsatzeinheit? Welches sind die zentralen Charakteristika eines gut funktionierenden Einsatzteams?  Jérôme

Fuchs: Es ist zunächst wichtig, dass die Mischung von erfahrenen Beamten und jungen Einsatzkräften stimmt. Und damit das Team auch gut im Einsatz funktioniert, gelten genau die gleichen Grundsätze, wie sie für den taktischen Führer gelten. cc

Nehmen Sie auch Leute mit nichtdeutscher Nationalität auf?  Jérôme Fuchs:

Ja, auch eine EU-Staatsangehörigkeit ist möglich. cc

Im zivilen Bereich ist es für die Bearbeitung komplexer Situationen wichtig, dass man eine gute Mischung von Unterschiedlichkeit hat. Hat das auch eine Bedeutung bei Ihren Einsatzkräften?  Jérôme Fuchs: Eine gewisse unterschiedliche Zu-

sammensetzung ergibt sich bei der Zusammenstellung der Teams. Nur sind bei uns nicht völlig unterschiedliche Charaktere. Den Typ Einzelgänger werden Sie bei uns nicht finden. Darauf wird bei der Personalauswahl geachtet. Und ein gemeinsamer Nenner zieht sich durch alle Einheiten durch. Durchweg sind hier sehr leistungsbereite und leistungswillige Mitarbeiter. cc

Wird auch auf psychische Aspekte und Kenntnisse anderer Religionen und deren Verhaltensweisen bei der Zusammenstellung eines Teams geachtet?  Jé-

rôme Fuchs: Das berücksichtigen wir insbesondere in der Vorbereitungsphase eines Einsatzes. Wir stellen uns darauf ein, mit welchem Gegenüber und welchen Gepflogenheiten wir es zu tun haben werden.

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J. Fuchs und S. Sackmann Wie bereiten Sie sich da vor? Schauen Sie, ob Sie jemanden haben, der sich da speziell auskennt, oder überlegen Sie, was Sie tun können, um sich das Wissen beispielsweise bezüglich eines speziellen Kulturkreises anzueignen?  Jérôme

Fuchs: Interkulturelle Kompetenz ist bei uns sehr wichtig. Unsere Kameraden sind viel im Ausland unterwegs  – bei Übungen, aber auch im Einsatz. Dies sind gute Gelegenheiten, Wissen über fremde Kulturkreise zu erwerben. Insofern ist in der GSG 9 bereits eine gute Basis vorhanden. cc

Bleibt die gleiche Teamzusammenstellung über mehrere Einsätze bestehen oder variieren Sie, und wenn ja, nach welchen Kriterien?  Jérôme Fuchs: Im Grunde

stehen die Teams fest. Aber es muss jeder Einsatzbeamte bei uns mit jedem anderen Kameraden im Verband arbeiten können. Das gilt insbesondere, wenn Kräfte der Einsatzeinheit mit Spezialisten wie Einsatztechnikern oder Einsatzaufklärern bei uns zusammenarbeiten. cc

Gibt es bei der GSG 9 auch Frauen?  Jérôme Fuchs: Nicht im operativen Bereich

bzw. den Einsatzeinheiten. Die Zugangsvoraussetzungen sind für Bewerber und Bewerberinnen die gleichen. Es gibt nicht wie beim Sportabzeichen die Anforderungen für Frauen, die sich von denen für Männer unterscheiden. Die Frauen müssen bei uns im Test genau die gleichen Werte bringen wie die Männer. Das ist einfach physisch sehr schwierig. cc

Die GSG 9 muss ja innerhalb einer Stunde einsatzbereit sein. Wird dann bei einem Anruf die Einsatzeinheit nochmals in Abhängigkeit der konkreten Krisensituation bzw. Lage umbesetzt?  Jérôme Fuchs: Grundsätzlich stehen die Bereit-

schaftskräfte fest. Das gilt auch für die Spezialisten. Wenn spezielle Fähigkeiten gefordert werden, verstärken sie das Team. Wir können daher immer ein Komplettpaket anbieten.

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Ablauf und Charakteristika eines Einsatzes Was charakterisiert aus Ihrer Sicht einen guten Einsatz?  Jérôme Fuchs: Ein guter Einsatz ist aus meiner Sicht, wenn das klar definierte Einsatzziel erreicht wurde und wenn die Einsatzkräfte unversehrt geblieben sind. Einen schlechten Einsatz gibt es meines Erachtens nicht. Es gibt aber sehr wohl planerische oder individuelle Fehler, die gravierende Folgen haben können. Das gilt für Führungskräfte, aber auch für jeden einzelnen Beamten. Damit fällt es bei uns schwer, Teammitglieder nach Wichtigkeit im Einsatz zu differenzieren. Auch der jüngste Einsatzbeamte kann bei uns an einer ganz entscheidenden Position stehen und so gesehen über Einsatzerfolg oder Misserfolg entscheiden.

Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen

cc

Wie sieht denn ein typischer GSG-9-Einsatz vom ersten Anruf bis zum Abschluss aus?  Jérôme Fuchs: Je nach Vorlaufzeit unterscheiden wir in planbare und in

Ad-hoc-Einsätze. Der Einsatz beginnt in der Regel mit der Information unserer Koordinierungsstelle. Dann brauchen wir unmittelbar eine Freigabe unserer übergeordneten Behörden. Der Auftraggeber schildert uns die Situation und übermittelt uns die entsprechenden Unterlagen dazu. Wir werten die Unterlagen aus und fordern entsprechend noch fehlende Informationen nach. Wenn die Einsatzfreigabe da ist, können wir umfassend anfangen zu arbeiten. Ohne in taktische Details zu gehen, befassen wir uns dann intensiv mit dem Zielobjekt, das heißt, wir klären es auf. Parallel dazu werden die Einsatzkräfte festgelegt, die den Einsatz durchführen sollen. Es kommt zur Durchführungsphase und anschließend wird der Einsatz im Rahmen eines Debriefings ausgewertet. Bei einem Ad-hoc-Einsatz läuft es im Grunde ähnlich, nur dass die einzelnen Phasen deutlich verkürzt sind. cc

Wie kommen GSG-9-Führungskräfte ihrer Fürsorgepflicht nach, wenn sie ihre Leute in die Einsatzsituation schicken? Was passiert, wenn ein Konflikt zwischen Fürsorgepflicht und Befehl von oben erfolgt?  Jérôme Fuchs: Es besteht ein stän-

diger Kontakt zwischen Führungskräften und Einsatzbeamten im Einsatz, so wie ich es eingangs geschildert habe. Dadurch, dass die Führungskräfte vorn mit dabei sind, kann dieser Fürsorgepflicht, natürlich in gewissen Grenzen, auch immer nachgekommen werden. Aber was auch klar sein muss: Es werden auch Entscheidungen getroffen, die ein entsprechendes Risiko für die Einsatzkräfte beinhalten können, das jeder bereit sein muss zu tragen. cc

Da Sie ständig innerhalb einer Stunde einsatzbereit sein müssen: Wie konzen­ trieren Sie sich außerhalb eines Einsatzes auf einen möglichen Einsatz?  Jérôme

Fuchs: Wenn ich es zunächst einmal auf mich persönlich beziehe, ist die Einsatzbereitschaft ein nahezu ständiger Begleiter. Diese in meiner Position auszublenden geht nicht. Einsätze laufen das ganze Jahr über, es kann immer irgendetwas Unvorhergesehenes passieren, und ich muss dann sprechfähig sein. Für meine Einsatzkräfte gilt das natürlich immer dann, wenn sie in Rufbereitschaft sind. Sind sie außerhalb der Rufbereitschaft und werden dann noch in den Einsatz nachgefordert – auch das kann passieren –, kann auch das schnell gehen. cc

Was passiert in einer privaten Situation, im Restaurant oder so, wenn etwas passiert?  Jérôme Fuchs: Wenn ein entsprechender Anruf kommt, kann ich schlecht

sagen, wir sind hier gerade beim zweiten Gang und würden gern noch das Abendessen zu Ende bringen. Das funktioniert dann natürlich nicht.

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J. Fuchs und S. Sackmann

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Und wenn jetzt direkt in dem Lokal was passiert?  Jérôme Fuchs: Das muss man situationsabhängig entscheiden. Kann ich allein jetzt etwas ausrichten? Sind andere Gäste da, die ich ansprechen kann, die helfen würden? Auch für uns gilt in bestimmten Situationen, nicht den Helden zu spielen und Ruhe zu bewahren. Auf jeden Fall reagiert ein GSG-9-Beamter aufgrund seines Trainingsstands sicher schneller.

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Was wäre aus Ihrer Sicht eine geeignete Metapher, die Beziehung zwischen Führungskraft und Einsatzmitgliedern/Einsatzeinheit bei der GSG 9 zu charakterisieren?  Jérôme Fuchs: Ganz ehrlich, mit der Frage tue ich mich schwer. Fürein-

ander einzustehen gilt natürlich insbesondere im Einsatz, aber auch im Alltag in persönlichen Extremsituationen, die der ein oder andere auch im Privatleben durchlebt. Das spielt bei uns auch mit hinein. Wir sind eine vertraute Gemeinschaft. cc

Gibt es so etwas wie einen normalen Tagesablauf für Sie oder die Männer in Ihrem Team? Können Sie ganz abschalten?  Jérôme Fuchs: Neben den Einsätzen gibt es

einen normalen Tagesablauf, geregelt durch einen Dienstplan. Ergänzend ­finden Schwerpunktwochen statt, bei denen bestimmte Einsatztaktiken oder Spezialisierungen trainiert werden. Und es gibt große Verbandsübungen, bei denen die gesamte GSG 9 gemeinsam trainiert. cc

Also eigentlich immer im Einsatz – real oder im Training.  Jérôme Fuchs: Wir ver-

suchen das, was im Einsatz aktuell gefordert wird, im Training zu simulieren. cc

Was passiert nach einem Einsatz? Wie erholt man sich von einem Einsatz?  Jérôme Fuchs: Wenn man so will, haben auch wir ein ganz normales Familienleben, wie es jeder in einem anderen Beruf auch führt. Mit der Partnerin oder der Familie zu entspannen und Zeit zu verbringen, das ist, glaube ich, für den Großteil der Kameraden hier im Verband auch die beste Entspannung nach einem Einsatz.

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Kann man sich sofort vom Einsatz und der Anspannung verabschieden und sich voll auf die Familie konzentrieren?  Jérôme Fuchs: Wie schnell es mit der Ent-

spannung klappt, ist sicherlich individuell unterschiedlich. cc

Welches sind Möglichkeiten und Grenzen von Routinen bei Ihrer Arbeit in der GSG 9?  Jérôme Fuchs: Es gibt Handlungsabläufe, die bei uns routiniert und

damit automatisiert ablaufen. Dies betrifft beispielsweise die Schießfertigkeiten, das taktische Grundverständnis, die medizinische Erstversorgung. Routine endet dann, wenn wir uns gezielt und individuell auf einen Einsatz vorbereiten.

Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen

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Einmal dabei – lange dabei

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Wie lange bleibt jemand generell bei der GSG 9?  Jérôme Fuchs: Die Fluktuation bei uns ist nicht sehr hoch. Beamte mit 15, 20 Jahren und auch mehr Verwendungszeit in der GSG  9 sind keine Seltenheit. Und wir versuchen, besonders verdiente Mitarbeiter hier auch weiter im Stab oder im Unterstützungsbereich zu verwenden.

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Wie lange kann man in der Regel aktiv im Einsatz sein?  Jérôme Fuchs: In der Einsatzeinheit haben wir ein Limit bei 45 Jahren. Beamte, die e­ insatzunterstützende Tätigkeiten wahrnehmen, können dies theoretisch bis zur Pensionsgrenze tun.

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Wie alt war der Jüngste, der je zu Ihnen gestoßen ist?  Jérôme Fuchs: Der Jüngste

war Anfang 20, aber das ist eine Ausnahme.

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Die besondere Herausforderung motiviert Was hat Sie persönlich gereizt, zur GSG 9 zu gehen? Was motiviert Sie bei Ihrer Arbeit?  Jérôme Fuchs: Mich hat die Möglichkeit gereizt, in einer ganz besonde-

ren Einheit Dienst machen zu dürfen, besonders gefordert zu werden, Besonderes leisten zu dürfen und zu müssen. Für mich ist es derzeit die interessanteste Aufgabe, die die Bundespolizei bietet. cc

Haben die Einsatzkräfte Mitsprache, wer GSG-9-Leiter wird?  Jérôme Fuchs: Das direkte Mitspracherecht haben die Einsatzkräfte nicht. Letztendlich ist es eine Entscheidung, die im Bundesinnenministerium getroffen wird. Aber sicherlich lässt sich auch ein Minister bei dieser Entscheidung entsprechend beraten.

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Was motiviert Ihre Mannschaft?  Jérôme Fuchs: Ich denke, für die Mannschaft gelten die gleichen Aspekte wie für mich. Es ist einfach der Reiz des Besonderen.

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Wie lange wollen Sie Ihre aktuelle Führungsaufgabe noch behalten bzw. woran würden Sie erkennen, dass es Zeit für einen Wechsel wäre?   Jérôme

Fuchs: Da ich das ohnehin nicht beeinflussen kann, versuche ich, hier jeden Tag mein B ­ estmögliches zu geben. Wenn dann die Entscheidung kommt, dass ein neuer Kommandeur eingesetzt wird, werde ich sie natürlich akzeptieren. cc

Da gibt es also keine Altersgrenze?  Jérôme Fuchs: Nein, die gibt es so nicht.

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J. Fuchs und S. Sackmann Gab es schon einmal den Fall, wo sich jemand ausgebrannt gefühlt hat und gesagt hat, ich mag jetzt eigentlich nicht mehr?  Jérôme Fuchs: In diesen Fällen su-

chen die Vorgesetzten bei uns in jedem Fall zunächst das Gespräch und versuchen genau zu ergründen, warum der Beamte besonders belastet ist. Meist setzt sich in den wenigen extremen Fällen die Belastung aus dienstlicher und privater zusammen. Dass der Beamte aufgrund der besonderen Belastung kündigt oder den Verband verlässt, kommt selten vor. Meistens gelingt es, eine Lösung zu finden. cc

Ich kann mir vorstellen, dass es für die Familie eine besondere Anspannung ist, jemanden in der GSG 9 zu haben.  Jérôme Fuchs: Ja, das ist es schon, aber auch

bei den Angehörigen tritt nach mehreren Jahren eine gewisse Gewohnheit ein. Die Familie spielt bei den meisten Kameraden eine ganz besondere Rolle, sie ist bei vielen Beamten der GSG 9 eine wesentliche Stütze, die persönlichen Rückhalt gibt. cc

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Informationen, Ihre Offenheit und die Zeit, die Sie sich für dieses Gespräch genommen haben!  Das Interview führte

Sonja Sackmann. Tipp: Mediathek Planet Wissen SWR: Aktuelles Interview mit Jérôme Fuchs und dem Psychologen der GSG 9 (Eingabe bei der Mediathek: GSG 9)

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Autoreninformationen

Seine Verwendungen 1990–1992: 1996: 1998: 1999: 2000–2001: 2001–2008: 10/2010–10/2012: 11/2012–08/2013: 09/2013–11/2013: 11/2013–09/2014 Seit 09/2014

Gruppenführer und Zugführer bei der Bundeswehr, Geb.Jg. Btl. 233 Teammitglied beim Mobilen Einsatzkommando des BKA SET-Führer bei der 2. Einsatzeinheit GSG 9 Ausbilder bei der Ausbildungseinheit GSG 9 Stellvertretender Einheitsführer der 2. Einsatzeinheit GSG 9 Einheitsführer der 2. Einsatzeinheit GSG 9 Stellvertretender Stabsbereichsleiter Einsatz GSG 9 Verbindungsbeamter beim Hostage Rescue Team des FBI in den USA Stabsbereichsleiter Einsatz GSG 9 Stellvertretender Kommandeur GSG 9 Kommandeur GSG  9 und bis 10/2016 Präsident des ATLAS-­ Verbunds der Europäischen Union

Führen von Spezialeinheiten in Krisensituationen

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Ausbildungen 1990–1992 Reserveoffizierslaufbahn bei der Bundeswehr, Leutnant der Reserve 1992–1995 Studium an der Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung zum Diplom-Verwaltungswirt für den gehobenen Polizeivollzugsdienst beim BKA 1997–1998 Basis- und Spezialausbildung der GSG 9 1998 Ausbildung zum Einsatztaucher beim Bundesgrenzschutz und bei den Kampfschwimmern der Bundeswehr 1999 Fallschirmspringerausbildung bei der Bundeswehr 2008–2010 Masterstudiengang für den höheren Polizeivollzugsdienst Öffentliche Verwaltung – Polizeimanagement an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster Jérôme Fuchs  ist Kommandeur der GSG 9 und Leitender Polizeidirektor. Er befehligt seit 2014 die Eliteeinheit der Bundespolizei.

Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD,  ist Inhaberin der Professur für ­ rbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für WirtschaftsA und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St.  Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Konstanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

Führung in Unternehmenskrisen Frank Richter

Inhaltsverzeichnis 1  Einleitende Gedanken  2  Typische Muster bei Unternehmen in einer Krisensituation  3  Wirksame Führung in Krisensituationen  4  Fazit  Literatur 

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Zusammenfassung

Selbst gestandene Top-Manager scheitern nicht selten an ihrer Führungsaufgabe, wenn es im Unternehmen zu Krisensituationen kommt. Es fällt ihnen schwer, bisherige Routinen und in der Vergangenheit bewährte Pfade zu verlassen und auf die Krisensituation zielgerichtet zu reagieren. Erfolgsfaktoren in Unternehmenskrisen sind u. a. die Geschwindigkeit, Entscheidungen trotz ungewohnt großer Unsicherheit verbunden mit einer möglichen unvollständigen Informationslage zu treffen, deren Güte zu beurteilen und deren unverzügliche, stringente Umsetzung zu verfolgen, Erfolge, aber auch Misserfolge offen zu kommunizieren, die Belegschaft hinter sich zu bringen und trotz Krise zu motivieren. Unabdingbar ist auch ein adäquates Change Management, das die Menschen im Unternehmen während eines Veränderungsprozesses, der mit Krisen verbunden ist, aktiv begleitet. Die hierfür notwendigen Skills sind in unserer Welt, die stark von Daten und Fakten getrieben ist, zu wenig ausgeprägt. Nicht zuletzt, weil für die typischen Führungskräfte keine ausreichende Gelegenheit besteht, den Umgang mit Krisen rechtzeitig zu erlernen und zu trainieren. Wie Unternehmen mit der richtigen Führung Krisen überstehen können und was dies im Einzelnen bedingt, greift der folgende Beitrag auf. F. Richter (*) Swiss Global Investment Group, Hüneberg, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_8

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F. Richter

Einleitende Gedanken

Krisensituationen in Unternehmen sind typische Phänomene unseres Wirtschaftslebens. Vor Krisen sind auch alteingesessene Unternehmen, die über viele Jahre im Wettbewerb erfolgreich waren, per se nicht geschützt. Denken Sie dabei an Unternehmen wie IBM, Continental Airlines, Enron, Arcandor, Nixdorf, Nokia, Loewe oder Escada (Richter 2013a). Allein in den Jahren 2010–2015 gab es in Deutschland 163.597 Insolvenzen (Statistisches Bundesamt 2019). Unternehmenskrisen können in verschiedene Stadien eingeteilt werden. Das erste Stadium ist die Strategiekrise. Hier gehen Probleme mit wesentlichen Stakeholdern, aber auch mit drohendem (schleichendem) Verlust der Wettbewerbsfähigkeit einher, nicht selten ursächlich bedingt durch mangelnde Anpassungsfähigkeit an veränderte Marktgegebenheiten. Die Strategiekrise ist die frühe Phase im Krisenverlauf. In der Erfolgs- bzw. Ertragskrise1 werden die Probleme bereits in den Unternehmenskennzahlen sichtbar.2 Verknappen sich die Zahlungsmittel infolge einer andauernden Erfolgskrise, droht als Nächstes die Liquiditätskrise, die die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens gefährdet. Gelingt es nicht, aus der Liquiditätskrise auszubrechen, ist die Insolvenz als finales Krisenstadium – gefolgt von einem Insolvenzantrag – früher oder später unvermeidbar (vgl. u. a. IDW S6 nF 2012; Krystek und Evertz 2010, S. 21 ff.; Lintemeier 2014, S. 58 ff.; Müller 1986). Für den vorliegenden Beitrag soll es genügen, wenn wir den Krisenbegriff dahingehend definieren, dass die Krise eine möglicherweise weiter in der Zukunft liegende oder auch akute Existenzgefährdung eines Unternehmens beschreibt, mit deren Umgang die handelnden Personen im Unternehmen – insbesondere die Führungskräfte – überfordert sind, weil sie die Krise entweder nicht erkennen oder aber keine zielführenden Lösungen herbeiführen, um die Krise rechtzeitig zu beenden. Dass übrigens gerade in Krisensituationen die Schuld nicht selten dem Markt gegeben wird und in erfolgreichen Zeiten interessanterweise die sog. Top-Führungskräfte den Ruhm für den Unternehmenserfolg weitgehend für sich selbst beanspruchen, kann durchaus als Phänomen bezeichnet werden – könnte man doch denken, dass solche Führungskräfte somit (fast) unfehlbar sind. Aber das nur am Rande. Auch bleibt zu erwähnen, dass nicht selten Leader, die seit vielen Jahren an der Spitze eines Unternehmens stehen und dieses möglicherweise ähnlich lange (vermeintlich?) erfolgreich geführt haben, mit eben solchen Krisensituationen wie oben skizziert plötzlich überfordert und mit ihrer Führung bzw. ihrem Führungsstil während der Krise nicht mehr erfolgreich sind. Gute Führung wird oft gleichgesetzt mit einer guten Performance des Unternehmens, das die betreffenden Führungskräfte lenken. Hierbei wird auf Quartals- und Jahreszahlen zurückgegriffen, die nichts anderes darstellen als eine Art Momentaufnahme für einen doch recht überschaubaren Zeitraum, bedenkt man, dass Unternehmen langfristig Bestand haben  Auch als operative Krise bezeichnet.  Zum Beispiel ungewollte Rückgänge des Umsatzes und der Auftragseingänge, operative Verluste, ungewollt steigender Verschuldungsgrad. 1 2

Führung in Unternehmenskrisen

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sollten. Ob finanzielle Zahlen im Rahmen gesetzlicher Möglichkeiten optimiert wurden und ob das Handeln der Unternehmensleitung auch eine nachhaltig positive Auswirkung auf das Unternehmen hat, wird nicht hinterfragt. Erfolgreiches Führen bedeutet aber eben nicht, nur kurzfristig wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, sondern eine langfristige Basis als fundierten Beitrag zur nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu schaffen. Nun gibt es in diesem Zusammenhang unterschiedliche Diskussionen, ob und inwieweit Leader einen direkten Einfluss auf Unternehmen haben können und somit das Führen als Handlung an sich Wirkung zeigt. Das eine Extrem behauptet, dass Leader einen signifikanten Einfluss auf die Unternehmensperformance haben. Zu ihnen gehörte – als einer der Ersten – beispielsweise Chester Barnard (1938). Das andere Extrem legt nahe, dass Leader durch von ihnen nicht steuerbare exogene Einflüsse, aber auch durch unternehmensinterne Faktoren, wie z. B. die Unternehmenskultur und die Kapitalausstattung des jeweiligen Unternehmens, so stark in ihrem Wirken limitiert sind, dass sie nur (sehr) bedingt die Performance ihres Unternehmens beeinflussen können. Hier liegt der Fokus der Argumentation also auf den existierenden Beschränkungen des Führens eines Unternehmens (Hall 1977; Hannan und Freeman 1989; Lieberson und O’Connor 1972; Meindl 1990). Eine differenziertere Betrachtung legt nahe, dass der Einfluss von (guten) Unternehmensführern gerade dann signifikant sein kann, wenn die Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Anders ausgedrückt: Gute Führung zeigt sich v. a. in Krisen, in denen die Unternehmenslenker z. B. aufgrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten nicht mehr so frei walten können, wie sie es vielleicht gewohnt waren. Losgelöst von den oben dargestellten Ansätzen können die Machtbefugnisse, die Menschen haben, den Einfluss, den sie mit ihrer Führung auf ein Unternehmen ausüben können, begrenzen. Hinzu kommt, dass der Effekt des Führens in Branchen mit ohnehin signifikantem Wachstum kleiner ist als in Branchen, die langsam wachsen oder gar stagnieren. Dass Führung und die damit verbundenen Entscheidungen in Krisensituationen einen signifikanten Einfluss auf das jeweilige Unternehmen haben und dies zweifelsfrei auch von der Person des Leaders selbst abhängt, soll anhand zweier Beispiele aufgezeigt werden. Krise und Turnaround bei IBM3 Anfang der 1990er-Jahre schrieb IBM Milliardenverluste4 und geriet in eine existenzbedrohende Krise. IBM hatte seine Innovationskraft eingebüßt. Der damalige CEO John Fellows Akers versuchte, durch massiven Mitarbeiterabbau und das Aufteilen des Konzerns in kleinere, vermeintlich schlagkräftigere Einheiten (Business Units) dem agileren Wettbewerb standzuhalten und das erodierende Geschäft der Mainframes nicht zuletzt durch Preisverfall und die zunehmende Entwicklung in Richtung Personalcomputer5 und Client-Server-Architekturen abzufangen – ohne Erfolg. Als er 1992 IBM verlassen musste,  An dieser Stelle werden aufgrund des Umfangs nur einige der Themen, die Teil der damaligen Turnaround-Strategie waren, herausgegriffen. Es wird somit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. 4  Jahresfehlbetrag („net income“) in Mio. US-$: 1991: –2.861; 1992: –4.965; 1993: –8.101 5  Mit deutlich geringeren Margen, als dies bei den Mainframes der Fall war. 3

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war er bereits seit 1985 CEO und insgesamt 33 Jahre bei IBM. Erstmals seit 1914 holte man den Nachfolger von extern zu IBM: Lou Gerstner. Gerstner kam nicht aus der Computer- bzw. Technologiebranche und hatte somit bis dahin in dieser Branche keine speziellen Erfahrungen sammeln können. Er war darauf angewiesen, gut zuzuhören. Und das tat er. Er führte diverse Gespräche mit Schlüsselkunden, um zu verstehen, wie IBM ihnen helfen konnte. Gleiches verlangte er von seinen Mitarbeitern. Jedes Mitglied des Senior-­Management-­Teams musste mindestens fünf große Kunden innerhalb von drei Monaten besuchen. Gleiches galt wiederum für deren direkt unterstellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.6 Das Kundenfeedback brachte die Erwartungshaltung auf den Punkt. Sinngemäß war die Kernaussage, dass die Kunden keine weitere Firma bräuchten, die Festplattenlaufwerke herstellt oder Datenbanksysteme und Unix-Server vertreibt. Kunden verlangten nach integrierten Lösungen und einem Partner, der weltweit präsent und somit vor Ort war. So kam Gerstner schnell zu folgendem naheliegenden Schluss: Gerade die Größe von IBM macht es möglich, Kunden integrierte Lösungen anzubieten und somit einen echten Mehrwert zu schaffen, indem die verschiedenen Technologien auf Kundenseite zusammengeführt und auch globale Lösungen angeboten werden.7 Gerstner machte die eingeschlagene Strategie seines Vorgängers, IBM in kleinere Business Units aufzuteilen, rückgängig (Gerstner 2002; Applegate et al. 2009). Um wichtige Personen in Schlüsselfunktionen zu halten, verbesserte er das Aktienoptionsprogramm von IBM, um diesen Personen einen Anreiz zu geben, trotz Krise bei IBM zu bleiben. Die Mitarbeiter erkannten, dass Leistung belohnt wird und nicht die Betriebszugehörigkeit oder die Position, die jemand im Unternehmen besaß, was in der Vergangenheit der Fall war. Eine weitere Maßnahme von Gerstner war die globale Standardisierung von Prozessen – nicht zuletzt um sinnvoll Kosten einzusparen. Zu den sicherlich größten Herausforderungen gehörten das Herbeiführen eines Kulturwandels8 und die Verschlankung der ausgeprägten bürokratischen und hierarchischen Strukturen. Die Maßnahmen Gerstners begannen bereits im vierten Quartal 1993 erste Früchte zu tragen: IBM schloss dieses Quartal mit einem Gewinn ab. Gerstner gelang es, IBM aus der Krise zu führen, obwohl er ohne spezielle Branchenkenntnisse angetreten war. Die Geschwindigkeit, mit der er Veränderungen umsetzte, seine Performance-Orientierung und die ersten kleineren Erfolge, die sich schon nach relativ kurzer Zeit einstellten und die Beschäftigten motivierten, weiterzumachen, waren sicherlich Teil des Schlüssels zum Erfolg unter seiner Führung. Kommen wir zu einem zweiten Beispiel,9 das ebenfalls zeigt, wie wichtig Führung in der Krise ist.  Gerstner nannte es „Operation Bear Hug“.  Es galt die Devise: „Going to market as one IBM“. 8  IBMs Kultur galt als extrem konsensorientiert und schwerfällig, wenn es um das Treffen von Entscheidungen ging. 9  Aufgrund des Umfangs der Thematik erfolgt auch hier die Fokussierung auf ausgewählte Aspekte des Turnarounds von Continental Airlines. 6 7

Führung in Unternehmenskrisen

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Continental Airlines’ Turnaround Continental gehörte einst zu den zehn größten amerikanischen Fluglinien. Zweimal musste Continental Airlines Insolvenz anmelden: 1983 und 1990. Zwischen 1981 und 1990 hatte die Fluggesellschaft zehn verschiedene CEO.10 In Sachen Unpünktlichkeit,11 nicht korrekt befördertes Gepäck12 sowie Fluggäste, die wegen Überbuchung der Maschinen ihren Flug nicht antreten konnten, nahm Continental Airlines zeitweise einen Spitzenplatz unter den schlechtesten Fluggesellschaften ein. Im Jahr 1994 übernahm Gordon Bethune die Position des CEO bei Continental Airlines (Nohria et al. 2016). Bethune entwickelte u. a. gemeinsam mit Greg Brenneman, Unternehmensberater und späterer COO von Continental Airlines, seinen sog. Go Forward Plan (Bethune 1998; Brenneman 1998). Dieser hatte vier Säulen: „Fly to Win“ zielte darauf ab, nicht nur Kunden zu haben, die nach Billigflügen suchten, sondern auch Geschäftsreisende. Es ging letztlich um den Ausbau und die Optimierung des Kundenmix. Mit „Fund the Future“ sollten die Bilanz restrukturiert und nichtstrategische Vermögensgegenstände verkauft werden, um zusätzliche Liquidität zu bekommen. Eine weitere Maßnahme war die Restrukturierung der Flotte.13 „Make Reliability a Reality“ sollte positive Kundenerfahrungen mit der Airline schaffen, indem Fluggäste samt ihrem Gepäck pünktlich zu ihren Destinationen gelangen, in einem sauberen Flugzeug sitzen und eine vernünftige Mahlzeit bekommen. „Working Together“ sollte die Unternehmenskultur dahingehend verändern, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder Spaß an der Arbeit haben, das Vertrauen ins Unternehmen zurückgewinnen und die gesteckten Unternehmensziele erreichen. Die vier Säulen fokussierten somit auf den Wettbewerb, die Finanzen, das Produkt und die beteiligten Menschen im Unternehmen. Bethune und Brenneman legten Wert darauf, eine für alle verständliche und nachvollziehbare Strategie zu entwickeln, diese mit einfachen Worten zu beschreiben und v. a. auch unverzüglich umzusetzen. Gerade mit Letzterem scheitern nicht selten Unternehmen in Krisensituationen (Richter 2013a, S. 9, 12; Richter 2013b, S. 402, 404, 406). Sie bringen – etwas salopp ausgedrückt – die PS nicht auf die Straße, weil die Unternehmensleitung die Umsetzung nicht zielorientiert genug verfolgt. Das Beispiel von Continental Airlines zeigt, dass ein pragmatischer und für alle im Unternehmen verständlicher strategischer Ansatz mehr bringt als irgendwelche langwierig ausgeknobelten strategischen Konzepte, die in typischem Beraterjargon verfasst und auf mehreren Hundert Hochglanzfolien ausgebreitet sind. Als unter Führung von Bethune analysiert wurde, welche Flüge überhaupt profitabel sind, stellte sich heraus, dass etwa 18 % der angebotenen Flüge cash-negativ waren. Warum solche Flüge nicht längst vom Flugplan gestrichen wurden, begründeten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seinerzeit damit, dass dies eine strategische Entscheidung

 Chief Executive Officer  „On-time flights“ 12  „Mishandled package“ 13  Die Anzahl unterschiedlicher Flugzeugtypen wurde reduziert, die Größe der Flugzeuge wurde in Bezug auf die jeweiligen Strecken der Nachfrage nach Flügen angepasst. 10 11

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Tab. 1  Ausgewählte Kennzahlen von Continental Airlines (Platzierung von Continental/Gesamtanzahl US-basierter Fluglinien) Pünktlichkeit Nicht korrekt befördertes Gepäck Zurückgewiesene Fluggäste Beschwerden

1994 10/10 10/10 7/9 9/9

1995 4/10 2/10 4/10 9/10

1996 2/10 2/10 1/10 3/10

1997 5/10 2/10 1/10 4/10

1998 6/10 2/10 1/10 5/10

1999 5/10 3/10 2/10 4/10

2000 1/10 6/10 8/10 6/10

2001 3/11 6/11 10/11 7/11

2002 3/10 3/10 7/10 7/10

Vom U.S. Department of Transportationnfür den Air Travel Consumer Report ermittelte Kennzahlen

gewesen sei. Das neue Top-Management unter Bethune entschied daraufhin, solche unnötigen Flüge umgehend zu streichen, und setzte dies unverzüglich in die Tat um. Interessant ist auch, wie Bethune und seine Managementkollegen seinerzeit mit der Unzufriedenheit bei Fluggästen umgingen: Sie erkannten, dass die festgelegten Sanierungsmaßnahmen nur dann Momentum bekommen würden, wenn Kunden die Fehler der Vergangenheit verzeihen würden und Wohlwollen zeigten. Sie starteten eine „forgiveness campaign“, indem, angefangen bei den Executives und den Vice Presidents von Continental Airlines, diejenigen Kunden angerufen wurden, die sich massiv über die Fluggesellschaft beschwert hatten. Trotz der Unzufriedenheit dieser Kunden zeigte sich ein Großteil positiv überrascht, dass sich die Gesellschaft bei ihnen persönlich entschuldigte. Continental gelang es unter Führung von Gordon Bethune, die Krise erfolgreich zu überstehen. Die Tab. 1 zeigt die erzielten Verbesserungen im Zeitablauf zwischen 1994 und 2002 (Ranking der US-Airlines untereinander) bezüglich der Pünktlichkeit, nicht korrekt beförderten Gepäcks, wegen Überbuchung zurückgewiesener Fluggäste und eingegangener Beschwerden. Die finanziellen Ergebnisse stabilisierten sich rasch. Bereits im Jahr 1995 erzielte Continental Airlines wieder einen positiven Jahresüberschuss. Auch in diesem Fallbeispiel zeigt sich, dass nur mit der entsprechenden Führung die Unternehmenskrise überwunden werden konnte. Die Beispiele von IBM und Continental Airlines unterstreichen, dass es gerade in Krisensituationen auf die Führung ankommt und hier der Einfluss der Leader durchaus signifikant sein kann. Was ihre Vorgänger nicht vermochten, haben Gerstner und Bethune geschafft: Sie haben die Unternehmen aus der Krise geführt.

2

Typische Muster bei Unternehmen in einer Krisensituation

Wir werden uns nun typischen Mustern des Führungsverhaltens zuwenden, die bei Unternehmenslenkern, die mit einer Krisensituation überfordert sind, zu beobachten sind. Hierzu werden reale Beispiele aus der Unternehmenspraxis herangezogen. Bei der Darstellung der Beispiele liegt der Fokus auf wesentlichen Auffälligkeiten im Führungsverhalten während der Krisensituation und deren Folgen für das Unternehmen.

Führung in Unternehmenskrisen

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Die Erkenntnisse wurden primär durch Beobachtungen der betroffenen Top-­ Führungskräfte während ihrer Arbeit gewonnen und teils durch Interviews ergänzt. Befragungen in Form von Fragebögen sind aus meiner persönlichen Sicht für solche Themen wenig zielführend. Dies fängt schon damit an, dass Menschen bewusst oder unbewusst dazu neigen können, Antworten zu geben, die für sie selbst opportun erscheinen oder von denen sie glauben, dass der Fragesteller sie gern hören möchte. Zudem besteht die Verlockung, sich vorab auf eine Befragung vorzubereiten, was die Ergebnisse ebenfalls unbrauchbar machen kann. Und last, but not least ist es meiner Meinung nach unmöglich, im Vorfeld schon alle Fragen, auf die es vermeintlich ankommt, niederzuschreiben  – vom Umfang des dann entstehenden Fragebogens ganz abgesehen. Selbst Interviews sind mit gewisser Vorsicht einzusetzen, da sich eine ähnliche Problematik ergeben kann wie oben geschildert. Dennoch können sie eine sinnvolle Ergänzung zur reinen Beobachtung sein. Letztlich kommt es aber nur darauf an, wie sich die Führungskräfte in der Realität tatsächlich geben, also was sie tun und wie sie es tun, und nicht, wie sie sich vielleicht selbst am liebsten sehen oder von anderen gesehen werden möchten. Nun könnte man kritisch entgegnen, dass sich Führungskräfte, während sie von einem Dritten beobachtet werden, in ihrer täglichen Arbeit verstellen könnten. Mag sein, dass dies vielleicht eine Zeit lang gelingt. Ich bin aber noch keiner Führungskraft begegnet, der es gelungen ist, sich über mehrere Stunden oder gar Tage völlig zu verstellen. Dafür wird sie viel zu schnell vom Unternehmensalltag eingeholt und denkt nicht mehr daran, dass er oder sie gerade von jemandem beobachtet wird. Zu analogen bzw. ähnlichen Einschätzungen bezüglich Beobachtung, Interview und Fragebögen kommen übrigens auch Malik (2014, S. 39 f.); Schein (1992, S. 184 ff.) und Jenewein und Heidbrink (2011, S. 12 ff.). Je nach Typus des Leaders nimmt das Führungsverhalten unterschiedliche  – i.  d.  R. extreme – Ausprägungen an, was wir anhand der nachfolgenden Beispiele gleich sehen. Wir werden in dem Zusammenhang v. a. das Entscheidungsverhalten der Führungskräfte näher betrachten. Entscheidungen zu treffen ist eine der Kernaufgaben der Führung, in Krisen vielleicht sogar eine der wichtigsten.

2.1

 eispiel 1: International tätiges Unternehmen im Bereich B Anlagenbau und Anlagenautomation

Das Unternehmen – wir nennen es Automation GmbH14 – hat seinen Schwerpunkt im Bereich der Automation von Fertigungsprozessen. Dazu gehören neben Entwicklung und Projektierung auch Montage und Inbetriebnahme der Anlagen sowie der After-Sales-­ Service. Die Projekte sind international, Kunden i. d. R. Konzernunternehmen.

 Fiktiver Unternehmensname

14

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Im Jahr 2007 erzielte das Unternehmen eine negative Umsatzrendite in Höhe von etwa 7 %. Im Geschäftsjahr 2008 konnten die Verluste zwar halbiert werden, dennoch bestand noch immer Existenzgefährdung: Das Eigenkapital war bereits negativ, die Gesellschaft musste weiterhin durch den Mutterkonzern gestützt werden. Auch im Jahr 2009 wies die Automation GmbH erneut ein negatives Jahresergebnis aus. Einer der Gründe für die Verluste der Automation GmbH war, dass praktisch kaum eines der Projekte innerhalb der vertraglich vereinbarten Zeit, der geplanten Kosten und der nötigen Qualität abgeschlossen werden konnte. Aus unternehmenskultureller Sicht hatte sich im Unternehmen bereits die Grundeinstellung verankert, dass „egal was wir tun, sowieso kein Projekt vernünftig zu Ende gebracht wird“, so die Aussage15 eines leitenden Angestellten des Unternehmens. Die Geschäftsleitung bestand ursprünglich aus drei Geschäftsführern, von denen einer den Vorsitz innehatte. Zwischenzeitlich wurde sie auf einen Geschäftsführer verkleinert. Diskussionen in Besprechungen liefen i.  d.  R. durchaus harmonisch ab. Eine aktive Führung war im Unternehmen jedoch kaum zu erkennen. Entscheidungen, die getroffen wurden, bezogen sich primär auf das operative Geschäft, im Speziellen auf das Troubleshooting in den laufenden Projekten und auf Vertriebsaktivitäten einschließlich Projektkalkulationen. Es schien fast so, als ob sich die Geschäftsleitung mit den schlecht laufenden Projekten und den daraus resultierenden Verlusten abgefunden hatte. In dem Bewusstsein, dass der solvente Mutterkonzern durch eine Patronatserklärung finanziell unterstützen muss, konnte das Unternehmen faktisch zunächst auch nicht insolvent gehen. Um den im Vergleich zum Umsatz deutlich zu hohen Kosten  – insbesondere Personalkosten  – entgegenzuwirken, wurde nichts unternommen. Wesentliche, notwendige Entscheidungen zur Sanierung des Unternehmens blieben aus. Stattdessen wurde versucht, durch einen expansiven Vertrieb den Umsatz zu steigern, was schlussendlich die existierenden Probleme noch verstärkte.16 In diesem Beispiel zeigt sich das erste der möglichen Muster, das in Bezug auf das Entscheidungsverhalten als Teilaspekt der Führung in Unternehmenskrisen beobachtet werden kann: Das Top-Management ist in wichtigen strategischen Entscheidungen ­gelähmt17 und konzentriert sich – vermeintlich erfolgreich – auf das operative Geschäft. „Abwarten und Tee trinken“ könnte hier das Motto lauten. Doch auch wer keine Entscheidungen trifft, hat sich an und für sich dennoch zu etwas entschieden: und zwar abzuwarten – was eben auch eine Entscheidung ist. Einer der Gründe, warum erfolgsverwöhnte Führungskräfte mit Krisensituationen überfordert sind, liegt daran, dass die bisher zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen, u.  a. durch die knappe Liquidität, deutlich eingeschränkt sind. Das kratzt am Selbstbewusstsein. Führungskräfte beginnen dann, die Situation zu verdrängen, zu leugnen,  Diese Aussage spiegelte auch die Aussagen der anderen Beschäftigten wider.  Die Erfahrung mit Krisenunternehmen zeigt, dass eine Erhöhung des Umsatzes in der Krise nicht selten die existierenden Probleme potenziert. 17  Es trifft quasi überhaupt keine. 15 16

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zu beschönigen oder zu bagatellisieren. Denn sie spüren insgeheim, dass sie die Kontrolle über die Situation verloren haben (Richter 2013a, S. 16 ff.). Gerade in Krisensituationen müssen zielführende Entscheidungen aber zeitnah getroffen und v. a. auch stringent umgesetzt werden. Abzuwarten oder eine anstehende Entscheidung aussitzen zu wollen führt lediglich dazu, dass die Zeit einem die Entscheidung irgendwann abnimmt, und dies zumeist mit negativen Folgen für das Unternehmen.

2.2

 eispiel 2: International tätiges Unternehmen im Bereich des B Maschinenbaus

Bei dem hier betrachteten Unternehmen handelt es sich um einen Zulieferer von Komponenten für die Maschinenbaubranche. Diese Komponenten haben besondere Anforderungen in Bezug auf die Passgenauigkeit, weshalb präzise Fertigungsprozesse und ein ausgereiftes Qualitätsmanagement benötigt werden. Wir werden das Unternehmen im Folgenden als Komponenten GmbH18 bezeichnen. Im Rahmen des beabsichtigten Verkaufs einer der Geschäftsbereiche19 wurden verschiedene potenzielle Käufer angesprochen. Bereits in der Vergangenheit wurde der Verkauf der Unternehmenseinheit mehrfach beschlossen, jedoch dann nicht mehr weiterverfolgt, was zu erheblicher Unsicherheit in der Belegschaft führte. Um dies beim erneuten Versuch des Verkaufs zu vermeiden, wurde die Belegschaft darüber vorerst nicht informiert. Erst als die Verhandlungen mit einem potenziellen Käufer schon fortgeschritten waren und sich eine Einigung zwischen der Komponenten GmbH und dem Käufer abzeichnete, wurde die gesamte Belegschaft informiert. Es kam kurz darauf zu einem Treffen mit der Geschäftsleitung der Komponenten GmbH, dem Kaufinteressenten und den Beschäftigten des betroffenen Geschäftsbereichs. Der Kaufinteressent sollte sich vorstellen und sein Konzept der Betriebsweiterführung darlegen. Schon nach wenigen Minuten war die Stimmung derart aufgeheizt, dass es zu regelrechten Beschimpfungen und verbalen Entgleisungen insbesondere durch den Betriebsrat kam. Dem Management wurde vorgeworfen, den Geschäftsbereich „günstig entsorgen zu wollen“,20 was jedoch nicht der Realität entsprach, da u.  a. entsprechende Sicherheitsleistungen21 angeboten und diverse Zugeständnisse22 von der Komponenten GmbH zugunsten der Belegschaft gemacht wurden. Kaum jemand aus der Belegschaft schien sich zudem für das ausgearbeitete Fortführungskonzept23 des Käufers zu interessieren.  Fiktiver Unternehmensname  Rechtlich nicht selbstständige Einheit des Unternehmens. 20  So die Kernaussage des Betriebsrats am Fertigungsstandort. 21  Hinterlegung von Geldern auf einem Sperrkonto zur Sicherung von Ansprüchen der Belegschaft im Fall einer möglichen Insolvenz des verkauften Unternehmensteils. Später wurden sogar zusätzlich noch Einmalzahlungen angeboten, wenn die Mitarbeiter den Betriebsübergang akzeptieren. 22  Z. B. eine Auslastungsgarantie des Standortes für zwei Jahre sowie zugesicherte Investitionen in neue Maschinen. 23  Es sah u.a. vor, dass alle Beschäftigten ihre Arbeitsplätze behalten. 18 19

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Als der Unternehmensteil schließlich im Rahmen eines Asset Deals veräußert wurde, widersprachen – den Beobachtungen zufolge durch den Betriebsrat aufgewiegelt und ins­ trumentalisiert  – sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fristgerecht dem Betriebsübergang24 und verblieben somit bei ihrem ursprünglichen Arbeitgeber, der Komponenten GmbH. Dass dies die Entlassung sämtlicher Beschäftigter bedeutete, schien der Betriebsrat, der zu diesem Schritt geraten hatte, billigend in Kauf zu nehmen. Der Käufer hatte somit zwar die Vermögensgegenstände erworben, er hatte aber keine eigenen Mitarbeiter. Als kurzfristige Lösung wurden die veräußerten Vermögensgegenstände an die Komponenten GmbH zurückverpachtet, sodass diese zumindest kurzfristig in der Lage war, die benötigten Teile mit ihren eigenen Beschäftigten weiter zu produzieren. Dennoch war die Lage bedrohlich, da nicht sicher war, inwieweit die Produktion unter solchen Bedingungen überhaupt aufrechterhalten werden konnte – von den Streikandrohungen ganz abgesehen. In dieser nachgelagerten Phase des Verkaufsprozesses wurde die Führungsschwäche des Managements der Komponenten GmbH besonders deutlich: Die Unternehmensleitung schien mit einer solchen für sie völlig neuen, fremden und nicht erwarteten Situation, die die Lieferfähigkeit der Komponenten GmbH signifikant beeinträchtigen und somit auch deren Existenz gefährden konnte, überfordert.25 Sie befanden sich in einer plötzlich aufgetretenen und unerwarteten Krisensituation. Nun wurden Fachanwälte für Arbeitsund Gesellschaftsrecht mit der Lösung der eingetretenen Situation beauftragt. Es entstand der Eindruck, dass ohne eine Art Zustimmung der beauftragten Rechtsanwälte praktisch keine relevanten unternehmerischen Entscheidungen mehr getroffen wurden, obwohl diese zur Herbeiführung einer sinnvollen Lösung dringend notwendig gewesen wären und nur sehr bedingt juristischer Natur waren. Die Stimmung in der Belegschaft heizte sich deshalb noch weiter auf. Die Produktivität am Werkstandort sank signifikant, die Krankheitsquote ging merklich nach oben. Statt sich der Sache persönlich anzunehmen, delegierte die Geschäftsleitung der Komponenten GmbH die folgenden Gespräche mit der Belegschaft auf den damaligen ­Standortleiter,26 der zwar ein insgesamt gutes Verhältnis mit der Belegschaft hatte, jedoch selbst auch nicht befugt war, dringend anstehende Entscheidungen eigenständig zu treffen und diese dann auch umzusetzen. Die Frustration des Standortleiters wuchs. Erschwerend kam noch hinzu, dass sich der kaufmännische Leiter der Komponenten GmbH ab und an unkontrolliert einmischte und durch seine teils konfrontative und ungeschickte Art für noch mehr Unruhe sorgte, indem er nicht nur den Käufer des Unternehmensbereichs, sondern mit seinem Verhandlungs(un)geschick auch den Standortleiter zunehmend verärgerte. Anstehende wichtige Entscheidungen traf er allerdings auch keine. „To keep a long story short“: Am Ende musste die Komponenten GmbH derart hohe Abfindungen im Rahmen des ausgehandelten Sozialplans und Interessenausgleichs bezahlen – von den angefallenen Anwaltskosten ganz zu schweigen, dass sich der Verkauf  Siehe hierzu § 613a BGB.  Von den finanziellen Folgen ganz abgesehen. 26  Er war für mehrere Produktionsstandorte der Komponenten GmbH verantwortlich. 24 25

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des Unternehmensteils aus finanzieller Sicht nicht mehr gerechnet hat. Vom Reputationsschaden und dem Risiko des Produktionsstillstands ganz abgesehen. Welche typischen Muster lassen sich hier nun beobachten? Zunächst einmal zeigt sich die Angst, (vermeintlich) schlechte Nachrichten frühzeitig zu kommunizieren. Die Führungsmannschaft der Komponenten GmbH zog es vor, den Verkauf so lange wie möglich zu verschweigen. Gerade in derartigen Situationen ist es aber unabdinglich, transparent zu kommunizieren, die Betroffenen frühzeitig einzubeziehen und gemeinsam nach verträglichen Lösungen zu suchen. Dieser Prozess blieb völlig aus. Zwar mag es auf den ersten Blick logisch erscheinen, Nachrichten über einen Unternehmensverkauf möglichst lange zu verschweigen. Bei genauer Betrachtung gibt es aber für Menschen nichts Schlimmeres als die Ungewissheit über ihre Zukunft. Besser also Klarheit schaffen statt Verunsicherung. Besser gemeinsam eine (Kompromiss-)Lösung27 suchen, als gleich im Streit zu enden und Schaden für alle Beteiligten zu verursachen. Und eines zeigt die Erfahrung: Eine geplante Veräußerung von Unternehmensteilen lässt sich nicht allzu lang geheim halten. Irgendwann sickert irgendetwas durch und führt zu Verunsicherung und Verärgerung. Ein weiteres typisches Merkmal in solchen Situationen ist die Einschaltung externer Berater, die dann der Unternehmensführung die Entscheidungen abzunehmen scheinen. Frei nach dem Motto „Die werden es schon richten“. Leider ist es ein schlechtes Signal der Führung, wenn in Krisen praktisch eine Delegation wesentlicher Führungsaufgaben an Dritte stattfindet. Natürlich ist es unbestritten sinnvoll, sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auch von außen zu holen. Entscheidungen zu treffen, ist aber elementarer Teil der Führung eines Unternehmens. Es ist gerade nicht Aufgabe der hinzugezogenen Berater, dem Management die Entscheidung abzunehmen. Berater können lediglich nachvollziehbare und fundierte Lösungsalternativen unterbreiten. In diesem Fallbeispiel wurden die Vorschläge der Rechtsanwälte blindlings umgesetzt. Die besagten Vorschläge waren aber aus rein juristischer Sicht28 erarbeitet, ohne das große Ganze zu sehen.29 Sie wurden nicht einmal kritisch im Gesamtkontext hinterfragt. Ebendies führte in vorliegendem Fall zu unnötig hohen Abfindungszahlungen und dem latenten Risiko eines vollständigen Produktionsstillstands. Die Psychologie hinter solchen Verhaltensmustern scheint auf den ersten Blick einfach: Geht etwas schief, sind die Berater schuld, denn die haben ja dazu geraten. Geht es gut, kann sich das Management mit dem Erfolg rühmen. Ob dies ein adäquates Führungsverhalten in Krisensituationen ist, mag jeder selbst beurteilen. Auch die Delegation der Gesprächsführung mit dem Betriebsrat auf den Standortleiter ist in einer solchen Situation wenig zielführend. Hier darf sich das Top-Management nicht aus der Verantwortung ziehen, sondern muss selbst aktiv Hand anlegen. Das schafft Nähe, Respekt und kann vertrauensbildend wirken. Wird das Gegenteil gemacht, so wie in dem  Natürlich sollte auch kein fauler Kompromiss geschlossen werden, denn dann sind wieder alle Beteiligten unzufrieden. 28  Was in der Natur der Sache liegt: Rechtsanwälte haben eben eine juristische Brille auf. 29  Also ohne eine systemische Betrachtung zu haben. 27

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vorliegenden Fall, läuft man Gefahr, falsche Signale an die betroffene Belegschaft zu senden. Es könnte der Eindruck entstehen, dass an dem Schicksal der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kein wirkliches Interesse besteht, da sich die Unternehmensführung nicht selbst darum kümmert. Und eine solche Wahrnehmung ist nicht förderlich, eine Krisensituation zu meistern. Der Standortleiter hat nebenbei bemerkt sein Arbeitsverhältnis mit der Komponenten GmbH mittlerweile gekündigt und das Unternehmen verlassen, primär weil er selbst kein Vertrauen mehr in die Unternehmensführung hatte.

2.3

 eispiel 3: Mittelständisches Unternehmen im Bereich B Daten- und Informationsmanagement

In dem jetzt folgenden Beispiel werden wir das dritte Extrem der Führung in Krisen nebst entsprechendem Entscheidungsverhalten kennenlernen. Wir nennen das Unternehmen die Info Management GmbH.30 Das Unternehmen bietet Lösungen für eine zielgerichtete, individualisierte Kundenansprache und Kundensegmentierung31 sowie Kampagnenmanagement an. Einer der Schwerpunkte ist die Analyse des Kaufverhaltens von Kunden mithilfe von Data Mining. Die Info Management GmbH besteht aus einer Holding und mehreren operativen Tochtergesellschaften im In- und Ausland. Sie war über Jahrzehnte profitabel. In den Jahren 2005 und 2006 erodierten die Jahresüberschüsse deutlich. Im Geschäftsjahr 2007 wurden die ersten Verluste in Höhe von mehreren Millionen Euro ausgewiesen. So auch in den Folgejahren. Durch die entstandenen Verluste wurde das Eigenkapital aufgebraucht. Das Unternehmen konnte nur durch Gesellschafterdarlehen32 am Leben erhalten werden. Zwischen 2006 und 2013 brach der Umsatz der Info Management GmbH um insgesamt etwa 50 % ein, obwohl die Umsätze der Branche stiegen. Etwa ab dem Jahr 2000 begann die Info Management GmbH verstärkt, sich an anderen Unternehmen zu beteiligen, diese zu erwerben sowie neue Gesellschaften, u. a. auch im Ausland, zu gründen. Schon ab 2011 drehte sich der Prozess um: Das Management begann mit der Schließung und dem Verkauf ebendieser Gesellschaften. Zeitgleich wurden in den Jahren 2012 und 2013 erneut Gesellschaften im Ausland gegründet. Im Jahr 2014 kündigte ein langjähriger Mitarbeiter, zugleich der kaufmännische Geschäftsführer der operativen Tochtergesellschaften im In- und Ausland. Er galt bei den Beschäftigten als kompetenter, angenehmer Kollege und Vorgesetzter. Bezeichnend für das Unternehmen ist auch, dass verschiedene Personen, die eine Vollzeitfunktion in einem der Geschäftsbereiche bekleiden, zusätzlich noch andere Funktionen haben, die für sich genommen ebenso Vollzeitstellen wären.  Fiktiver Unternehmensname  Zielgruppenmanagement 32  Versehen mit einem qualifizierten Rangrücktritt. 30 31

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In der sich zuspitzenden Krisensituation holte der geschäftsführende Gesellschafter zudem (sog.) Experten ins Unternehmen, die helfen sollten, die Krisensituation zu meistern. Leider bis dato ohne Erfolg, da keine dieser Personen je selbst in einem Unternehmen gearbeitet hatte, das sich in einer Krise befand. Sie waren nicht erfahren im Umgang mit Krisensituationen. Im Unternehmen wurden diese Personen als selbst ernannte Experten wahrgenommen, die mit vermeintlich schlauen Ratschlägen sowie Hochglanzfolien und Standardphrasen aufwarteten und sich in Sachen Implementierung von Maßnahmen vornehm zurückhielten. Der geschäftsführende Gesellschafter wird als Patriarch gesehen. Seit der Krise gilt er praktisch als nicht mehr kritikfähig – von einigen Ausnahmen abgesehen. Gemacht wird, was er sagt. Die Personen um ihn herum wirken wie Ja-Sager-Zwerge – losgelöst von ihrer fachlichen Kompetenz, die einige durchaus hatten. Ihre Meinungen äußern sie nur zaghaft und zurückhaltend. Funktioniert etwas nicht so, wie es sich der geschäftsführende Gesellschafter vorgestellt hat, tragen andere die Schuld. Seit etwa Mitte des Jahres 2016 übernimmt der Gesellschafter die alleinige Geschäftsführung in der größten operativen Tochtergesellschaft; übrigens nicht der einzige Geschäftsführerwechsel im Unternehmensverbund innerhalb doch recht überschaubarer Zeitspannen. Die obige Darstellung soll uns an dieser Stelle genügen, um jetzt das Führungsverhalten während der Unternehmenskrise zusammenzufassen: Zunächst einmal verkennt der geschäftsführende Gesellschafter der Info Management GmbH, dass er selbst Teil des Problems ist; ich spreche hier gern von einem totalen Realitätsverlust. Die wirklichen Ursachen der Krise hinterfragt er nicht. Es fehlt die Reflexion des eigenen Verhaltens und damit die Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten. Erfolgreiches Führen hat aber mit einer realistischen Selbsteinschätzung und ständigem kritischen Hinterfragen zu tun. Meetings werden von ihm übermäßig dominiert. Menschen wirken bei solchen Zusammentreffen geradezu schüchtern. Zu selten greift er die Meinungen anderer auf. Entscheidungen des geschäftsführenden Gesellschafters werden nicht öffentlich hinterfragt. Hypothesen über die möglichen Auswirkungen seiner Entscheidungen stellt er nicht auf. Bekommt der geschäftsführende Gesellschafter nicht das, was er sich vorstellt, ist Konfrontation vorprogrammiert und er gibt noch stärker vor, was zu tun ist und was nicht. Insgesamt kann dieser Führungsstil als autoritär und streng hierarchisch bezeichnet werden. Frei nach dem Motto „L’Etat ce moi“. Nun muss ein solcher Führungsstil per se nicht schlecht sein.33 In Unternehmen, die sich in einer Krisensituation befinden und es in besonderem Maß auf die Motivation, die aktive Unterstützung und die kreativen Ideen der Beschäftigten ankommt, ist ein solcher extremer und ausschließlicher Führungsstil denkbar ungeeignet und verschärft die Krise.  Man denke nur an Kriegseinsätze. Hier kann nicht unter Einbeziehung aller Beteiligten eine ausführliche, konsensorientierte Diskussion über taktische Themen erfolgen. Aber auch in Unternehmen kann ein solcher Führungsstil grundsätzlich Erfolg haben, aber nur, wenn die Dosierung stimmt und dieser Stil nicht der einzige ist, der zum Vorschein tritt. 33

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2.4

Entscheidungsverhalten und Krise

Ich möchte an dieser Stelle nochmals das Entscheidungsverhalten von Führungskräften aufgreifen, da es im Zusammenhang mit der Überwindung von Unternehmenskrisen ein kritischer Erfolgsfaktor ist und deshalb entsprechende Aufmerksamkeit verdient. Wir haben anhand der obigen Beispiele gesehen, dass die drei dargestellten Arten des Entscheidungsverhaltens Krisen nicht beseitigen können – und selbst wenn, dann nur teuer bezahlt und unter Inkaufnahme bedrohlicher Risiken, deren Eintrittswahrscheinlichkeit nicht vorhergesehen werden kann. So im Fallbeispiel 2 der nicht auszuschließende Produktionsstillstand. Im Fallbeispiel 1 erfolgte eine Konzentration auf das operative Geschäft: Das Top-­ Management widmete sich fast ausschließlich dem Beseitigen von Problemen in den Projekten. Überlebenswichtige strategische Entscheidungen, die längst überfällig waren, wurden nicht getroffen. Es kam zu einem Entscheidungsvakuum. Im Fallbeispiel 2 wurden Entscheidungen, die eigentlich die Unternehmensleitung hätte treffen sollen und eindeutig in deren Kompetenzbereich lagen, weitgehend an Dritte delegiert. Die verantwortliche Unternehmensleitung saß nicht mehr im „driver seat“. Sie segnete die Entscheidungsvorlagen im Endeffekt nur noch ab. Es kam zu einer Entscheidungsdelegation. Im Fallbeispiel 3 wurden Entscheidungen primär nur noch vom geschäftsführenden Gesellschafter getroffen. Kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen wurden nicht adäquat in die Entscheidungsfindung einbezogen. Entscheidungen durften nicht kritisch hinterfragt werden. Es kam zu einem Entscheidungspatriarchat. Diese drei typischen Muster des Entscheidungsverhaltens sind in Abb. 1 bildhaft dargestellt. Kann das Entscheidungsverhalten34 in Unternehmen mit irgendeinem Punkt auf der Dreiecksfläche beschrieben werden, ist es für die effiziente und nachhaltige Überwindung einer Krise kontraproduktiv. Entscheidungspatriarchat

Entscheidungsvakuum

Entscheidungsdelegation

Abb. 1  Bermuda-Dreieck des Untergangs  Es können auch Kombinationen dieser Entscheidungsmuster in Unternehmen auftreten.

34

Führung in Unternehmenskrisen

3

Wirksame Führung in Krisensituationen

3.1

Das Versagen klassischer Führungsparadigmen

141

Ein rein lineares, sozusagen geradliniges Denken in singulären Ursache-Wirkung-­ Zusammenhängen hat in Unternehmen keine Zukunft: Trends setzen sich nicht immer so fort, wie es in der Vergangenheit vielleicht der Fall war. Es ist nicht immer so, dass etwas, was schon länger angedauert hat, so bleiben wird.35 Lineares Denken lässt keine neuen, kreativen Lösungsideen zu, sondern versucht, mit bekannten, früher bereits erfolgreichen Lösungen und Methoden geradewegs auf ein bestimmtes Ziel zuzusteuern. Hat Altbewährtes aber unbegrenzte Gültigkeit? Wohl kaum. Schon gar nicht in einer Zeit, in der Wandel mit teils disruptiven Veränderungen allgegenwärtig ist. Solche Denkmuster führen nicht nur zu Unternehmenskrisen, sie verhindern auch, eine Krise zu überstehen und den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Zur Bewältigung von Komplexität und Dynamik in einer mittlerweile global vernetzten Welt sind neue Herangehensweisen nötig (Malik 2015, S. 25). Um Unternehmenskrisen erfolgreich zu überstehen, sind laterales (divergentes),36 also nicht lineares Denken (de Bono 1967) und eine systemische Betrachtung von Unternehmen entscheidend. Im Kern geht es darum, gewohnte (Denk-)Pfade zu verlassen, neue, kreative, unkonventionelle Sichtweisen zu entwickeln und die möglichen Auswirkungen der gefundenen Lösungsalternativen auf das Gesamtsystem zu berücksichtigen. Die Idee einer systemischen und somit auch interdisziplinären Betrachtungsweise von Unternehmen ist nicht neu. Sie entstand bereits in den 1960er-Jahren mit einem Vorstoß von Hans Ulrich, der 1972 schließlich zur Vorstellung des St.-Galler-Managementmodells führte (Ulrich und Krieg 1972; vgl. auch Krieg 1971; Ulrich 1968). Und obwohl in Führungsetagen von Unternehmen der Begriff der systemischen Betrachtungsweise längst angekommen ist, sind es doch die reinen Lippenbekenntnisse, die hier noch überwiegen. Dies lässt sich anhand eines einfachen, in der Realität aber typischen Beispiels aufzeigen: Verschlechtert sich die finanzielle Situation eines Unternehmens, kommt früher oder später der Zeitpunkt der Personalanpassungen. Eine solche Entscheidung scheint per se erst einmal vernünftig und notwendig, um einen Beitrag zur Kostenreduktion37 zu leisten. Dennoch ist dies ein typischer linearer Denkansatz: Eine vermeintlich bewährte Lösung, die zunächst das angestrebte Ziel durch Reduktion von Kosten erreichen wird. Da das Management in Krisenzeiten unter Erfolgsund Zeitdruck steht, werden i. d. R. diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen, die die geringste Betriebszugehörigkeit haben. Hier ist der Widerstand – sei es seitens des  Denken Sie z. B. an die Nixdorf Computer AG in Paderborn, die den Siegeszug der Personalcomputer schlichtweg verschlafen hatte und weiterhin auf ihre bestehenden Technologien setzte, mit denen das Unternehmen viele Jahre sehr erfolgreich war. 36  Den Begriff des divergenten Denkens prägte der Amerikaner Joy Paul Guilford. 37  Zu zahlende Abfindungen verschieben den Effekt faktisch wirksam werdender Kosteneinsparungen zeitlich nach hinten. 35

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Betriebsrats, der Gewerkschaften aber auch der Betroffenen selbst – am geringsten. Mögliche unerwünschte Nebeneffekte werden nur zu selten bei einer solchen Entscheidung berücksichtigt: Werden primär Personen mit geringer Betriebszugehörigkeit gekündigt, läuft das Unternehmen Gefahr, dass ein dringend notwendiger Kulturwandel zunächst einmal verlangsamt oder gar blockiert wird. Und ein Wandel der Organisationskultur ist bei Unternehmen, die in eine Krise geraten sind, einer der Bestandteile, um die Krise auch langfristig zu überstehen.38 Jüngere Mitarbeiter mit Ambitionen und Potenzial kündigen möglicherweise von selbst und gehen im Worst Case zum Wettbewerber, wenn sich die Führungskräfte nicht rechtzeitig um sie bemühen und alles daran setzen, die betreffenden Personen im Unternehmen zu halten. Auch ist es selten zu beobachten, dass sich größere Unternehmen und insbesondere international tätige Konzerne ausreichend Gedanken darum machen, welche Skills sie für den Erhalt der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit und das Erreichen strategischer Ziele tatsächlich benötigen. Wenn überhaupt passiert dies in irgendwelchen zentralen Abteilungen, die sich teils völlig entkoppelt vom operativen Geschäft mit sich selbst beschäftigen – so zumindest der Eindruck. Ebenso wenig funktioniert in der Krise das lehrbuchmäßige Vorgehen der Entwicklung einer Unternehmensstrategie: Im Normalfall würde – vereinfacht dargestellt – als Produkt einer externen39 und internen Analyse eine Darstellung der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken entstehen. Darauffolgend würden strategische (Lösungs-)Alternativen unter Berücksichtigung der Unternehmensvision und -mission entwickelt. Nach deren Bewertung erfolgt die Auswahl einer probaten Strategie, die – mit entsprechenden Maßnahmen unterfüttert – dann operationalisiert und schlussendlich implementiert wird. Eine Unternehmenskrise in fortgeschrittenem Stadium entsteht aber immer dann, wenn das Unternehmen nicht mehr in der Lage ist, die Bedürfnisse potenzieller Käufer zu befriedigen. Sei es, weil die angebotenen Leistungen zu teuer sind, die geforderte Qualität nicht geliefert werden kann, die Lieferzeiten zu lang sind oder die angebotenen Produkte schlichtweg nicht mehr angenommen werden, weil sich z. B. Technologien verändert haben. In einer solchen Situation muss sich das Unternehmen möglicherweise neu erfinden. Strategien zu entwickeln, die das veraltete Geschäftsmodell bedienen, helfen nicht weiter. Hier ist eine Veränderung der Organisationskultur nötig, um die aktive Unterstützung der Belegschaft für eine Kursänderung zu bekommen. Erfolgt die Initiierung der Kulturveränderung nicht rechtzeitig, wird jede noch so gut durchdachte Strategie bei deren Implementierung entweder gänzlich scheitern oder die Umsetzung wird aufgrund interner Widerstände40 zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Und Zeit ist in Krisen ein noch kritischeres Gut. Selbstverständlich vollzieht sich ein Kulturwandel nicht von heute auf morgen – im Gegenteil: Es ist ein langfristiger Prozess. Wird dieser in einer Krise nicht als eine der ersten Maßnahmen unverzüglich initiiert, ist die mögliche Rückkehr zum Erfolg eher von kurzer Dauer, sofern sie denn überhaupt gelingt.  Wir werden auf das Thema der Organisationskultur an anderer Stelle nochmals zurückkommen.  Umwelt und Trends 40  Das Prinzip: „Wir haben das schon immer so gemacht. Warum sollen wir es jetzt plötzlich anders machen?“ 38 39

Führung in Unternehmenskrisen

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Sehen wir uns ein Beispiel an: Die Firma Loewe wurde 1923 in Berlin gegründet und war lange Zeit ein erfolgreicher deutscher Hersteller von Unterhaltungs- und Kommunikationstechnik im oberen Preissegment. Dem damaligen Chefingenieur Manfred von Ardenne war es gelungen, unter Verwendung der sog. Braunschen Röhre das erste elektronische Fernsehgerät zu entwickeln.41 Seit 2008 nahmen die Umsätze des damals noch unter dem Namen Loewe AG firmierten Unternehmens stetig ab. Ursache der Krise war das rasante Aufkommen von Flachdisplaygeräten und der damit verbundene Preisverfall, worauf das bis dato erfolgsverwöhnte Unternehmen nicht adäquat und schnell genug reagierte. Die Marke Loewe hatte zudem schon so weit an Glanz verloren, dass sich keine ausreichend große Käuferschicht mehr für die hochpreisigen Geräte der Marke Loewe fand. Im Jahr 2013 geriet das Unternehmen finanziell so stark unter Druck, dass es im Oktober 2013 einen Insolvenzantrag42 stellen musste. Das Unternehmen war nicht agil und ­innovativ genug, sich den neuen Marktgegebenheiten rechtzeitig anzupassen. Zu sehr setzte die Unternehmensleitung auf ein in der Vergangenheit erfolgreiches Geschäftsmodell sowie die typischen Lehrbuchmethoden, die eben in einer Unternehmenskrise nicht funktionieren. So war in einer von Loewe am 27. Februar 2013 veröffentlichten Pressemeldung zu lesen: Um einerseits noch effizienter und fokussierter den Kernmarkt Deutschland zu bearbeiten und andererseits den internationalen Vertrieb neu auszurichten, hat Loewe die Vertriebsorganisation neu strukturiert. […] Darüber hinaus ist er [Anm. d. Verf.: gemeint ist der Leiter Vertrieb International) für die weitere Geschäftsentwicklung mit internationalen Kooperationen und die Erschließung globaler Wachstumsmärkte wie zum Beispiel in Indien und Russland zuständig.

Teil des strategischen Plans, aus der Krise zu kommen, war also Wachstum. Nichts Untypisches für Unternehmen in Krisensituationen. Wir bekommen in unserem Leben immer wieder vorgegaukelt, dass mehr besser ist. Alles ist auf immer mehr Wachstum getrimmt, selten auf Konsolidierung. Gerade bei Krisenunternehmen potenzieren sich erfahrungsgemäß die Unzulänglichkeiten, wenn Umsätze gepuscht werden, statt sich einer Phase der Konsolidierung zu unterziehen und die ursächlichen Probleme zu beseitigen. So zeigte sich auch bei Loewe sehr schnell, dass diese Strategie nicht von Erfolg gekrönt war. Eine grundlegende Fehlentscheidung des seinerzeit neu ins Unternehmen geholten Vorstandsvorsitzenden, der u.  a. den Vertrieb und das Marketing von Loewe verantwortete. Der Unternehmensführung gelang es nicht, Loewe neu zu erfinden.

3.2

Glaubwürdigkeit der Führung

Glaubwürdigkeit ist ein weiterer elementarer Bestandteil erfolgreicher Führung in Krisen. Glaubwürdigkeit hat nicht nur etwas damit zu tun, ehrlich zu sein, und das, was man sagt, letztlich zu tun. Glaubwürdigkeit hat meiner Meinung nach auch damit zu tun,  Auf der 8. Berliner Funkausstellung im Jahr 1931 präsentierte die damalige Radio AG D. S. Loewe die erste elektronische Filmübertragung der Welt. 42  Antrag auf Gläubigerschutz im Rahmen eines Schutzschirmverfahrens nach § 270b InsO. 41

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­ ffen, verständlich und nachvollziehbar zu kommunizieren. Und offene Kommunikation beo deutet auch zeitnahe Kommunikation. Sie werden dann für andere in gewisser Weise berechenbarer und nehmen den Menschen zu einem gewissen Grad die Unsicherheit in Krisen. Krisensituationen in Unternehmen verursachen bei vielen Menschen Angst, verbunden mit Unsicherheit über die Zukunft. Nichts ist für den Menschen so schlimm wie Unsicherheit. In Unkenntnis darüber zu bleiben, wie es weitergeht, verursacht längere Lähmungserscheinungen in Unternehmen, als wenn die ungeschönte Wahrheit transparent gemacht und umgehend ein Maß an Sicherheit geschaffen wird, indem Maßnahmen zur Krisenbeseitigung unverzüglich implementiert werden. Auch und gerade in Bezug auf Personalanpassungen ist aus meiner Erfahrung eine transparente Vorgehensweise wichtig. Jeder auch nur halbwegs kluge Mensch wird davon ausgehen, dass es in Unternehmenskrisen zu Mitarbeiterabbau kommen kann und i. d. R. auch wird. Dauern in einem solchen Szenario die offizielle Verkündung des Abbaus sowie die konkrete Benennung der betroffenen M ­ enschen zu lange, wird die Produktivität der Belegschaft signifikant darunter leiden. Denn es kann theoretisch jeden treffen. Angst und Unsicherheit steigen. Die Menschen in Unternehmen beginnen, sich mehr und mehr mit dem Thema des Personalabbaus zu beschäftigen, in Gesprächen beim Mittagessen, auf den Gängen und in den Büros. Das drückt auf die Motivation und ist nicht zielführend, um eine Krise zu überstehen. Die Führung ist deshalb besonders gefordert, ein solches Thema wirklich ernst zu nehmen, die emotionale Komponente nicht zu unterschätzen und den Personalabbau unverzüglich und mit aller Transparenz umzusetzen. Sehen wir uns auch in diesem Kontext nochmals die Firma Loewe an. Die Kommunikation der Führungsmannschaft von Loewe war in der Krise weder transparent noch glaubhaft: In einer Pressemitteilung vom 21. März 2013 (Bilanz-Pressekonferenz der Loewe AG, 21. März 2013) wird mitgeteilt, dass die „Maßnahmen zur Restrukturierung im Plan“ liegen. Als strategisches Ziel nennt Loewe die System- und Marktführerschaft im Bereich Smart Home Entertainment. Nur einen Monat später, am 25. April 2013, veröffentlichte Loewe folgende Ad-hoc-­ Meldung nach § 15 Gesetz über den Wertpapierhandel (WpHG; Auszug): „Loewe AG: 1. Quartal 2013 mit Verlust abgeschlossen/Hälftiger Verlust des Grundkapitals gemäß § 92 Abs. 1 Aktiengesetz (AktG) Ende Mai 2013 erwartet“ (Loewe AG, Ad-hoc-Meldung nach § 15 WpHG, 25. April 2013). Nach nur weiteren drei Monaten kam folgende Ad-hoc-Meldung der Loewe AG nach § 15 WpHG (Auszug): „Der Vorstand der Loewe AG hat beschlossen […] beim zuständigen Amtsgericht Coburg einen Antrag auf Einleitung eines Schutzschirmverfahrens in Eigenverwaltung für die Loewe AG und ihre Tochtergesellschaft Loewe Opta GmbH zu stellen“ (Ad-hoc-Meldung nach § 15 WpHG, 16. Juli 2013). Interessant erscheint in dem Zusammenhang, dass der damalige Vorstandsvorsitzende der Loewe AG auf einer Veranstaltung in München am 20. März 2013, auf der er vorgetragen hatte, u. a. folgende Aussage tätigte (Harsch 2013): Die Ausgangssituation der Loewe AG zum Turnaround ist derzeit nicht gut. Loewe wird allgemein als starke Marke gesehen, allerdings ohne die notwendige Schlagkraft […]

Glauben Sie, dass ein solches Vorgehen Glaubwürdigkeit schafft und Vertrauen fördert?

Führung in Unternehmenskrisen

3.3

145

 ie Veränderung der Organisationskultur als Teil einer D nachhaltigen Krisenbewältigung

Die Organisationskultur gilt mittlerweile unstrittig als einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren von Unternehmen (vgl. u. a. Schein 1992; Gordon und DiTomaso 1992; Kotter und Heskett 1992; Flamholtz und Randle 2011); Baschera 2015; Probst und Raisch 2004). Meist trägt auch die Organisationskultur ihren Teil dazu bei, wenn ein Unternehmen in die Krise gerät. So können Unternehmen aufgrund langjährigen Erfolgs derart resistent – da überheblich(?) – gegen sich verändernde Marktbedingungen sein, dass sie in eine Schieflage kommen, weil ihre Produkte oder Dienstleistungen nicht mehr ausreichend nachgefragt werden. Befindet sich ein Unternehmen in einer Krise und bleibt eine Anpassung der Kultur43 eines Unternehmens aus, so ist es entweder nicht möglich, die Krise zu überstehen44 oder aber ein Erfolg wird nur von kurzer Dauer sein. Die Veränderung einer Organisationskultur kann aus meiner Sicht nur top-down angestoßen, also initiiert werden. Denn wenn die Führungskräfte nicht bereit sind, sich zu verändern und dies aktiv betreiben, warum sollten es dann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun? Damit der Prozess einer Kulturveränderung überhaupt in Gang kommt, muss den Menschen im Unternehmen zunächst bewusst werden, dass eine Veränderung zwingend notwendig ist, um die Krise zu überstehen.45 Dieses Bewusstsein muss die Unternehmensführung schaffen. Um den Veränderungsprozess in die richtige Richtung zu dirigieren, wird eine klare Vision, das Big Picture, benötigt. Eine solche Beschreibung eines möglichst einzigartigen Zukunftsbilds soll den Menschen im Unternehmen die Identifikation mit dem Unternehmen erleichtern und sie motivieren, das gezeichnete Zukunftsbild des Unternehmens gemeinsam und zielstrebig zu verfolgen. Leider machen Unternehmen immer noch den Fehler, eine Vision einfach nur auf deren Internetseiten zu schreiben und sie in Newslettern und internen Rundschreiben zu kommunizieren. Das allein reicht nicht aus. Die Unternehmensführung muss hier findig sein, welche Kommunikationskanäle sie wie nutzt bzw. sinnvoll einsetzt. Sie muss selbst wieder und wieder über die Vision sprechen und erläutern, warum gerade diese Unternehmensvision entstanden ist. Fast könnte man hier vom Einprägen durch Wiederholen sprechen. Das geht natürlich nur, wenn die Führungsmannschaft geschlossen hinter der Vision steht. Tut sie das nicht, wird dies den Beschäftigten im Unternehmen früher oder später auffallen. Keiner kann glaubhaft eine Vision kommunizieren, hinter der er bzw. sie nicht wirklich steht. In größeren Organisationen kann die Unternehmensführung nicht jeden einzelnen Mitarbeiter persönlich erreichen. Somit werden Menschen gebraucht, die helfen, den Veränderungsprozess im gesamten Unternehmen zu verankern und nach vorn zu bringen. Sog. Change Agents sind die Multiplikatoren eines Veränderungsprozesses. Hier kommt es ganz besonders darauf an, die richtigen Personen dafür auszuwählen und durchaus auf  Und etwaiger Subkulturen.  Es folgt also im Worst Case die Insolvenz. 45  Ich finde hier den englischen Begriff „sense of urgency“ treffend. 43 44

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Heterogenität und Querdenkertum zu achten. Werden die üblichen Verdächtigen im Unternehmen als Change Agents ausgewählt, bleibt ein Wandel der Organisationskultur eher aus. Unterstützung kann hier von neu eingestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommen. Sie sind hinsichtlich der existierenden Unternehmenskultur nicht vorbelastet. Allerdings macht es aus meiner Sicht wenig Sinn, in einer solchen Situation mit den üblichen Stellenausschreibungen aufzuwarten, die unter dem Strich alle die gleichen allgemeingültigen Phrasen enthalten, die letztlich nichtssagend sind. So bekommt man nicht den richtigen Mix an Menschen ins Unternehmen. Wie wäre es mit folgendem Text (Richter 2015, S. 67)? Sie haben Erfahrungen in unterschiedlichen Branchen und Funktionen gesammelt. Als Querdenker hinterfragen Sie kritisch bestehende Prozesse und Geschäftsmodelle. Sie stellen sich auch unbequemen Wahrheiten, sind fähig, logisch-analytisch zu denken und setzen diese Fähigkeit auch ein, um sich selbst und Ihren Arbeitgeber weiterzuentwickeln. Die Erfahrungen aus unterschiedlichen Branchen können Sie zielstrebig auf unser Unternehmen übertragen. Sie trauen sich, Fehler zu machen, und auch anders zu sein als andere. Sie lassen sich durch gemachte Fehler nicht demotivieren, sondern empfinden dies eher als weiteren Ansporn.

Ein Wandel bedingt auch entsprechende Rahmenbedingungen. Hindernisse müssen durch die Unternehmensführung systematisch aus dem Weg geräumt werden. Hierzu gehören z.  B.  Incentive-Systeme, die Fehlanreize bieten und dazu führen, dass sich Menschen selbst optimieren statt das Unternehmen; Führungskräfte, die sich dem Wandel in den Weg stellen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daran hindern, sich im Sinne des Unternehmens zu entfalten und einzubringen. Es muss den Menschen im Unternehmen gestattet sein, auch unkonventionelle Ideen vorzutragen, die entsprechend ernsthaft d­ iskutiert werden. Ergebnisorientierung muss vorbehaltlos belohnt werden, aber bitte nicht nur monetär, sondern v. a. auch mit Lob und anderen Arten der Wertschätzung. Um einen Veränderungsprozess aufrechtzuerhalten und möglichst zu beschleunigen, ist es wichtig, dass auch kurzfristig (kleinere) Erfolge erzielt, diese honoriert und auch zelebriert werden. Dies motiviert Menschen, im Veränderungsprozess weiter nach vorn zu gehen. Gerade in Zeiten von Krisen, die einhergehen mit Demotivation, ist dies ein nicht zu unterschätzender Erfolgsfaktor. Auch hier ist die Führung wieder gefordert: Es müssen klare Ziele im Einklang mit der Unternehmensvision formuliert sein, die realistischerweise auch in der vorgegebenen Zeit und mit verfügbaren Ressourcen erreicht werden können. Besser kleine Schritte mit kurzfristig messbaren Erfolgen als der große Rundumschlag, der vielleicht viele Monate oder gar Jahre dauert. Die Abb.  2 verdeutlicht den schematischen Verlauf von erfolgreichen und nicht erfolgreichen Veränderungsprozessen. Keiner der oben genannten Schritte ist übrigens einfach – obwohl es auf den ersten Blick so erscheinen mag. Es ist immer leichter, etwas theoretisch zu erklären, als es dann in die Praxis umzusetzen. Nicht wenige Unternehmen scheitern schon damit, die notwendige Aufbruchstimmung zu erzeugen – geschweige denn eine ansprechende und sinnvolle Vision zu entwickeln. Ein Veränderungsprozess muss immer proaktiv von den Führungskräften aufgegriffen werden. Durch reine Lippenbekenntnisse der (Top-)Führungskräfte bleiben Unternehmen schon zu Beginn eines Change-Prozesses stecken. Hier können externe

Ausmaß des Anstiegs der Intensität wird weniger, dennoch weiterhin positiver Anstieg

147

Weiterer deutlicher Anstieg der Intensität durch messbare Erfolge

Führung in Unternehmenskrisen

Intensität von Veränderungsprozessen

Idealtypischer Verlauf innerhalb eines Veränderungsprozesses

Unerwünschter Verlauf bei zu intensiven Analysephasen und ausbleibenden kurzfristig messbaren und im Unternehmen als positiv wahrgenommenen Erfolgen

(Starker) Abfall der Intensität des Veränderungsprozesses

Unzufriedenheit aufgrund mangelnder messbarer Erfolge breitet sich allmählich aus; die Intensitätszuwächse werden kleiner

Auf bau von Vertrauen; erhöhte Motivation der Beteiligten und damit Anstieg der Intensität

Zögern; Unsicherheit; verhaltene Unterstützung; moderater Anstieg der Intensität

Zeitlicher Verlauf

Abb. 2  Intensität von Veränderungsprozessen (Prinzipdarstellung)

Berater meiner Erfahrung nach übrigens nur sehr bedingt helfen. Wenn in Zeiten der Veränderung teure Berater eingekauft werden, die mit Folienschlachten, endlosen Analysen und zeitraubenden Meetings helfen wollen, eine Krise zu überstehen, ist das schädlich. Nicht zuletzt verhindert auch eine übertriebene Risikoaversion den Weg aus der Krise: Entscheidungen müssen in Krisensituationen unter deutlich höherem Zeitdruck und deshalb i. d. R. mit weniger zur Verfügung stehenden Informationen getroffen werden als in Zeiten gut gehender Geschäfte. Wer sich als Führungskraft davor scheut und mit dem Zeitdruck nicht umzugehen vermag, wird in der Krise scheitern.

3.4

 ersönlichkeit und Einstellung des Leaders im Kontext einer P wirksamen Führung in der Krise

Allein diesem Thema könnte man mehrere Bücher widmen. Dennoch möchte ich nicht versäumen, an dieser Stelle zumindest in Grundzügen noch weitere ausgewählte Aspekte einer wirksamen Führung in der Krise anzusprechen. Die folgenden Punkte sind selbstverständlich auch für die Führung in stabileren Zeiten relevant. In Unternehmenskrisen sind sie aber entscheidend.

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Flexibilität In der Fachliteratur begegnet uns immer wieder die Aussage, dass Flexibilität wichtig sei, um Erfolg zu haben. Zumeist bleiben die Autoren aber schuldig zu erläutern, was genau denn Flexibilität in diesem Zusammenhang bedeutet. Zweifelsfrei ist Flexibilität meiner Erfahrung und Beobachtung nach auch ein Merkmal erfolgreichen Führens in Unternehmenskrisen. Flexible Führung bedeutet in diesem Zusammenhang u. a., nicht rigoros an einmal erstellten Planungen festzuhalten, Entscheidungen ohne zu zögern anzupassen, wenn sie sich als nicht zielführend erweisen. Dies ist letztlich nichts anderes als der offene Umgang mit Fehlern, nicht immer wieder monoton die gleichen Lösungen für vermeintlich gleiche Probleme einzusetzen, das Anpassen von Strukturen und Prozessen, wenn es eine veränderte Situation erfordert, sich selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen und unterschiedliche Szenarien sowie deren Konsequenzen durchzuspielen. Auch Sackmann (1990) kommt in einer durchgeführten Studie zu analogen Ergebnissen (vgl. Chatman und Kennedy 2010, S. 162 f.). Man könnte das oben beschriebene Führungsverhalten als eine Art kontinuierlicher Diskurs mit sich selbst bezeichnen, in dem durch das Gegenüberstellen von Thesen und Antithesen durch spätere Synthese eine neue Lösung durch ein besseres Verständnis der Situation entsteht. Klarheit über das Problem Führungskräfte, die aufgrund ihrer Erfahrung dazu neigen zu glauben, ein Problem sei sofort klar, können schnell einem fatalen Irrtum unterliegen und mit ihren dann getroffenen Entscheidungen eine Krise noch verstärken. Warum Problemstellungen und deren Lösungen nicht immer gleich auf der Hand liegen, zeigen die zwei folgenden Beispiele: 1. Ein Unternehmen verliert an Innovationskraft. Soll jetzt Personal aufgestockt werden? Soll ein Innovationsprozess eingeführt oder verändert werden? Wird überhaupt ein formaler Innovationsprozess benötigt oder schränkt er gar die Kreativität zu sehr ein? Liegt es an der Innovationskultur? Am Budget? An den Skills des Personals? An der Umgebung? Braucht es mehr Workshops? Mehr interdisziplinäre Teams? Oder, oder, oder. 2. Ein Unternehmen verzeichnet sinkende Umsätze. Ist der Vertrieb oder das Marketing schlecht? Ist die Qualität der Produkte nicht mehr ausreichend, um die Kundenbedürfnisse zu erfüllen? Ist es der Preis? Die Lieferzeit? Die allgemeine Wirtschaftslage? Die unzureichende Präsenz des Unternehmens vor Ort? Der Vertriebskanalmix? Die Sättigung des Markts? Die Reputation? Oder, oder, oder. Natürlich lassen sich solche Dinge grundsätzlich untersuchen. Jedoch sind diese Probleme nicht monokausal, sondern haben einen Mix an Ursachen mit unterschiedlich starkem Einfluss. Trägt man diesen Gedanken weiter, kommt man früher oder später an den Themen der Komplexität von Unternehmen sowie der Systemtheorie und Kybernetik nicht vorbei.46 Komplexität  Unternehmen gelten als Systeme im Sinne der Systemtheorie und Kybernetik.

46

Führung in Unternehmenskrisen

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in Systemen – Unternehmen sind nichts anderes als Systeme – entsteht z. B. dann, wenn die Vernetzungen einzelner Komponenten, deren Wirkungsweise oder aber deren Wechselwirkungen untereinander, deren Intensität, mit der sie andere Komponenten beeinflussen, das, was ihnen Stabilität verleiht oder sie anpassungsfähig macht, nicht oder nicht ausreichend bekannt sind. Nur wer das versteht, kann auch die Komplexität in Unternehmen zu einem gewissen Grad beherrschen und zielgerichtet steuernd und regelnd eingreifen. Die bloße Kenntnis einzelner Komponenten reicht nicht aus. Ashby (1957) hat im Hinblick auf die Beherrschung von Komplexität folgendes Gesetz47 formuliert: „Only variety can destroy variety.“ Es besagt, dass derjenige, der ein System (im Kontext dieses Beitrags also ein Unternehmen) unter Kontrolle bringen möchte, mindestens so viel Varietät (im Sinne von Komplexität) benötigt wie das System selbst. Mit anderen Worten: Wer als Unternehmenslenker kein ausreichendes Repertoire an Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzt und diese nicht bedarfsorientiert einsetzt, kann ein Unternehmen auch nur bedingt kontrollieren (und somit führen). Führungsstil und Authentizität Diskussionen, Bücher und Fachbeiträge in Bezug auf die Möglichkeiten der Kategorisierung von Führungsstilen gibt es reichlich und schon seit Jahrzehnten. Denken Sie beispielsweise an den Soziologen Max Weber (1922, S. 122–176),48 den Psychologen Kurt Lewin49 (Lewin et al. 1939) oder an The Managerial Grid50 von Blake und Mouton (1964). Losgelöst davon, welchen Führungsstil man letztlich präferieren mag – in Krisen ist nur entscheidend, ob der Führungsstil erfolgreich ist oder nicht. In meiner Zusammenarbeit mit Führungskräften sowie in meiner eigenen Tätigkeit als Interims-CEO habe ich die Erfahrung gemacht, dass zwei Dinge wichtig sind: Erstens: Es reicht nicht aus, nur stur einen einzigen Führungsstil anzuwenden, weil man ihn vielleicht gut findet oder irgendwo gelernt hat. Unterschiedliche Situationen bedingen den Einsatz unterschiedlicher Stile. Unterschiedliche Menschen wollen unterschiedlich geführt werden. Natürlich ist Letzteres in der Praxis nicht immer ganz so einfach. Gute Führung braucht dennoch eine gewisse Bandbreite an Führungsstilen, die situativ eingesetzt werden.

 Law of requisite variety  Er untersuchte seinerzeit unter dem Begriff der Herrschaft, warum Menschen sich beherrschen lassen, und stellte drei Grundformen („reine Typen“) der Herrschaft auf: (1) legale Herrschaft (eine Art bürokratischer Stil basierend auf Vorgaben, Gesetzen, Ordnungen); (2) Herrschaft traditionalen Charakters (autoritäre bzw. patriarchalische Führung) und (3) Herrschaft durch charismatischen Charakter (charismatische Führung). 49  Lewin unterscheidet autoritäre Führung, demokratische Führung (kooperativer Führungsstil) und Laissez-faire-Führungsstil. 50  In dem zweidimensionalen Verhaltensgitter werden aus den Dimensionen Mitarbeiterorientierung und sachlich-rationale Orientierung (also ergebnisbezogen) (Führungs-)Kombinationen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Zusammenarbeit und das Arbeitsergebnis gebildet. 47 48

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Zweitens: Eine Führungskraft hat – losgelöst von dem oder den eingesetzten Führungsstilen – nur dann Erfolg, wenn sie auch authentisch bleibt (Avolio und Walumbwa 2014). Es macht also wenig Sinn, einen Führungsstil anzutrainieren und sich dann zu verbiegen, um ihm treu zu bleiben. So ein Verhalten fällt den Menschen im Unternehmen früher oder später auf. Und dann wird die Führungskraft unglaubwürdig. Oder würden Sie einem Schauspieler in einer Krisensituation glauben und vertrauen? Ergebnisorientierung Vermutlich würde jede Führungskraft in einer Befragung antworten, dass Ergebnisorientierung in Krisenzeiten sehr wichtig ist. Die Realität kann da durchaus etwas anders aussehen. Krisenunerfahrene Führungskräfte – damit meine ich Personen, die noch nie aktiv an der erfolgreichen Überwindung einer Krise mitgewirkt haben  – neigen dazu, unter Stress v.  a. aktionsgetrieben zu agieren: Die Anzahl der Meetings steigt signifikant. Es wird unkontrolliert kommuniziert – sowohl inhaltlich als auch bezogen auf Kanäle und Frequenz. Die Anzahl der ins Leben gerufenen Projekte übersteigt bei Weitem die Fähigkeit der Beschäftigten, diese Projekte auch zielgerichtet durchzuführen. Man will am besten sofort alles ändern. Das ist unter Garantie zum Scheitern verurteilt. Natürlich neigt der Mensch dazu, am liebsten alles gleichzeitig in die Wege zu leiten, um die Krise zu überstehen und damit die Probleme zu lösen. Damit verzettelt man sich. Erfolgreiche Führung in Krisen ist durch Konzentration auf das Wesentliche, durch Setzen von klaren, nachvollziehbaren Schwerpunkten gekennzeichnet. Durch kontinuierliche Kontrolle der Zielerreichung und gegebenenfalls sofortiges Gegensteuern bzw. Anpassen der Strategie, wenn nötig. Auch das Prinzip Hoffnung und ein übermäßiges Selbstvertrauen von Führungskräften helfen nicht, ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen. Selbstvertrauen ist wichtig, aber bitte in gesundem Maß: Wenn eine Führungskraft glaubt, dass ein bestimmtes gewünschtes Ergebnis sicher kommen wird, obwohl die Fakten letztlich ein anderes Bild zeigen, dann ist dies kontraproduktiv für die Überwindung einer Krise (Useem 2010, S. 512 f.).

4

Fazit

In einer Krise reichen Lehrbuchwissen und das reine Führen auf Basis von Zahlen, Daten, Fakten nicht aus, um Unternehmen wieder langfristig erfolgreich zu machen. Führung in der Krise bedeutet mehr: • • • •

eine systemische Betrachtung des Unternehmens; aktives Gestalten; Mut, Fehler zu machen und kalkuliertes Risiko einzugehen; multidirektionales Beziehungsmanagement  – denn ohne getreue Anhänger gibt es keine erfolgreiche Führung;

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• transparente und zielgerichtete Kommunikation; • die Bereitschaft, zu verändern, aber auch sich selbst zu verändern, und nicht nur die anderen – ein breiter Fundus an Fähigkeiten und Fertigkeiten, der je nach Bedarf situativ und somit flexibel eingesetzt wird. Letztlich beginnt erfolgreiche Führung damit, dass Unternehmen in stabilen Phasen zukunftssicher gemacht werden und nicht erst in der Krise.

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Führung in Unternehmenskrisen

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Prof. Dr.-Ing. Frank Richter  studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann Wirtschaftswissenschaften an der Universität Regensburg. Er arbeitete im In- und Ausland, u. a. für Bertelsmann, Siemens und PriceWaterhouseCoopers in unterschiedlichen Stabsund Leitungsfunktionen sowie in der Strategie- und Mergers-and-­ Acquisitions(M&A)-Beratung. Während seiner Tätigkeit bei Siemens studierte er am MIT Sloan School of Management in Boston, an der Stanford University sowie an der CEIBS Shanghai im Rahmen eines Siemens-internen Executive Programs. Parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit promovierte er zum Doktoringenieur. Professor Richter ist u. a. CEO bei der Swiss Global Investment Group AG. Er steht Unternehmen als Interimsmanager sowie als Strategie- und Sanierungsberater zur Verfügung. Der Schwerpunkt seiner Erfahrung liegt in der Strukturierung komplexer M&A-Transaktionen, im Turnaround-Management, in der Reorganisation von Unternehmen sowie in der Strategieentwicklung und ­-umsetzung.

Teil IV Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen und im Change

Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Schwierigkeiten im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen  3  Forschungsansatz  4  Strategien im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen  5  Abschließende Diskussion  Literatur 

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden zunächst zentrale Herausforderungen aufgeführt, die zu komplexen, Nicht-Routine-Situationen führen, deren Charakteristika skizziert werden. Da der wirksame Umgang mit solchen Situationen für die Überlebensfähigkeit von Organisationen zentral ist, wurde ein Forschungsprojekt zur systematischen Untersuchung erfolgreicher Strategien im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen durchgeführt. Nach einer kurzen Beschreibung der qualitativen Forschungsmethodik werden die zentralen Ergebnisse der Studie, bei der die Strategien von 50 Top-Executives im Umgang mit insgesamt 150 komplexen, Nicht-Routine-Situationen analysiert wurden, berichtet. Als zentral im wirksamen Umgang mit solchen Situationen haben sich vier Strategien he­rauskristallisiert: der flexible Einsatz von Flexibilität, relationale Führung, das Planen und Agieren auf der Basis einer fehlerbehafteten Welt sowie das Einnehmen und Agieren im Rahmen einer dynamischen Systemperspektive. Der Beitrag schließt mit einer kurzen Diskussion. S. Sackmann (*) Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_9

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S. Sackmann

Einführung

Das unternehmerische Umfeld hat sich schon immer geändert und wird sich auch weiterhin ändern. Die Kommerzialisierung des Internets, die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie mit ihren Tools wie Laptop, Handheld-Computer und Smartphone in Kombination mit der Globalisierung haben Unternehmen seit Mitte der 1990erJahre leichter den weltweiten Markt eröffnet. Viele Unternehmen versuchten, diesen entweder mit einer internationalen Expansion, mit Joint Ventures oder Akquisitionen abzudecken, mit dem Ergebnis, dass die Akquisitionstätigkeit seit der Jahrtausendwende weltweit weiter zugenommen hat. Digitalisierung und künstliche Intelligenz eröffnen Chancen für neue Geschäftsaktivitäten und Geschäftsfelder, allerdings werden mit ihr auch viele der herkömmlichen Arbeitsweisen obsolet. Start-ups, die die Chancen der Digitalisierung für ihr Geschäftsmodell nutzen und von etablierten Unternehmen oft zunächst gar nicht bemerkt werden, hinterfragen etablierte Geschäftsprozesse wie beispielsweise Fintechs im Bereich der Zahlungsabwicklung oder der Kreditvergabe. Damit haben sich mit diesen technischen und unternehmerischen Möglichkeiten auch der Wettbewerb und die Volatilität im Markt erhöht. Zur Volatilität tragen zudem wirtschaftliche Unvernunft und politische Instabilitäten bei. Die Überhitzung des Technologiemarkts zur Jahrtausendwende wurde zwar von einigen erkannt, doch hinterließen die Insolvenzen hochgejubelter Technologiefirmen in der Weltwirtschaft tiefe Spuren. Auch die lockere Kreditvergabe an eigentlich nicht zahlungsfähige Immobilienkäufer in den USA, die zur Subprime-Krise und letztendlich zur Finanzund Wirtschaftskrise führte, von der sich Staaten noch immer nicht voll und ganz erholt haben, trug zu einem turbulenten Wirtschaftsumfeld bei. Unberechenbar agierende Politiker, die ausgehandelte multilaterale Handelsabkommen hinterfragen und aufkündigen, Zölle und damit Handelsbarrieren wieder einführen, stellen Politiker und Unternehmenslenker vor nicht geplante, neue Herausforderungen. Auch mit dem knappen Referendum zum Austritt Großbritanniens aus der EU hatte eigentlich vor der Wahl niemand gerechnet. Ebenso tragen zu all diesen Entwicklungen noch Umweltkatastrophen großen Ausmaßes wie Vulkanausbrüche, Feuerbrände, Überflutungen, Erdbeben und Tsunamis zu einem sog. VUKA-Umfeld bei, in dem Unternehmen trotz aller Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität dennoch möglichst erfolgreich navigieren sollten. Einige Autoren sprechen inzwischen vom Komplexitätszeitalter (vgl. Holt et al. 2010). Welche Fähigkeiten braucht es aufseiten der Unternehmenslenker und Führungskräfte, um in diesem VUKA-Umfeld agieren zu können? Was können sie tun, um das Überleben einer Firma zu gewährleisten? Welche Strategien gibt es, die sie in diesem Unterfangen unterstützen können? Auf traditionelle Managementtheorien und -methoden kann hier nicht zurückgegriffen werden, da sich diese vorwiegend auf Routine- bzw. programmierbare Situationen beziehen. Dies sind Situationen mit einem geringen Grad an Komplexität, die analytisch erfassbar sind, regelmäßig auftreten und bei denen es im Umgang mit ihnen schon bekannte oder existente Lösungen gibt. Um diesen Fragen nachzugehen, wurde ein Forschungsprojekt zur Untersuchung im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen durchgeführt. Solche Situationen sind durch ein ­hohes Maß an Komplexität charakterisiert, und es gibt für sie weder vorgefertigte Lösungen noch

Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen

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bekannte Lösungswege. Diese Situationen treten nie regelmäßig auf, sie haben mit Bekanntem keine Ähnlichkeit, sie sind nicht vollständig analysierbar oder gar programmierbar. Insgesamt wurden 150 solcher Situationen in persönlichen Interviews mit Top-Execu­ tives exploriert und inhaltsanalytisch ausgewertet. Bei der Auswertung dieser Daten lag der Fokus auf Faktoren, die im Umgang mit diesen komplexen, Nicht-Routine-Situationen hilfreich und zum Erfolg, d.  h. zu einer zufriedenstellenden Lösung für die Beteiligten führen. Aus der inhaltsanalytischen Auswertung dieser 150 Situationen ergaben sich vier Handlungsstrategien, die von den Top-Executives erfolgreich im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen eingesetzt werden. Diese sind . der flexible Einsatz von Flexibilität, 1 2. relationale Führung mit guten Leuten, 3. das Akzeptieren von und Handeln in einer fehlerbehafteten Welt, 4. das Agieren auf der Basis einer dynamischen Systemperspektive. Der Schwerpunkt der nachstehenden Ausführung liegt auf der Beschreibung der Untersuchungsergebnisse, da die Charakteristika von Komplexität in der Literatur gut dokumentiert sind (vgl. Arthur 1995; Kappelhoff 2000; Reither 1996). Zunächst werden die Schwierigkeiten im Umgang mit komplexen Situationen aufgezeigt und die Untersuchungsmethode und Stichprobe beschrieben, bevor die Handlungsstrategien charakterisiert werden mit Beispielen aus den Interviews zur Illustration.1

2

 chwierigkeiten im Umgang mit komplexen, S Nicht-Routine-Situationen

Um sich ein besseres Bild von komplexen, Nicht-Routine-Situationen zu machen, werden nachfolgend zwei Charakterisierungen aus den Interviews gegeben. Das Unerwartete ist Routine, das heißt, nicht antizipierbare Probleme treten morgens, nachmittags und abends auf. Und gerade dann, wenn man glaubt, dass man alles im Griff hat, tritt ein neues Problem auf. Die meisten unserer Probleme sind unstrukturiert  – es gibt keine Harvard-­Business-School-Lösung für die Probleme, mit denen wir in einer Firma wie der unseren uns täglich befassen müssen. Wie zum Teufel können wir planen, dass einer unserer Hauptgeschäftszweige vor der gesamten Welt in der Luft explodiert“? (Robert Anderson, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Rockwell International) Vierzehn Jahre lang haben wir in einer regulierten Umwelt gearbeitet. Und dann wurden wir plötzlich fast über Nacht dereguliert und betraten die Welt des freien Wettbewerbs. Es war genauso, wie mir ein Vorstandskollege aus der Luftfahrtindustrie erzählt hatte: Egal, wie sehr man an Deregulierung glaubt, sie unterstützt und glaubt, man sei darauf vorbereitet – man ist es nicht. Wenn sie dann tatsächlich kommt, wird einem bewusst, dass man gar nicht weiß, was die Veränderung wirklich für einen bedeutet (Dr. Thomas Fist, ehemaliger Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender von HCA Health Corporation of America).  Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des in Fisch und Boos (1990) veröffentlichten Beitrags. Die Zitate wurden von der Autorin aus dem Englischen übersetzt. 1

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Diese komplexen, Nicht-Routine-Situationen können entweder vorhersehbar sein, wie im Fall der Deregulierung, oder unvorhersehbar, wie im Fall des Challenger-Unglücks. Charakteristisch ist, dass eine solche Situation bisher noch nie aufgetreten ist und es daher auch noch keine bewährten Lösungswege gibt. Ihre wesentlichste Eigenschaft ist ein hohes Ausmaß an Komplexität. Analog zu komplexen Systemen kann Komplexität durch fünf Aspekte charakterisiert werden (Dörner et  al. 1983; Lopez Moreno 2009; Reither 1996). Diese sind • • • • •

ein hohes Ausmaß an interdependenten Beziehungen, eine systeminhärente Dynamik, Informationsüberladung, Undurchsichtigkeit sowie Probabilität.

Aufgrund dieser Eigenschaften von komplexen, Nicht-Routine-Situationen ist der Umgang mit ihnen so schwierig, wie Beispiele aus der Praxis zeigen. Sei dies Dieselgate, das Brexit-Votum, die durch die Subprime-Krise ausgelöste Insolvenz von Lehman Brothers, Terroranschläge wie 9/11 auf die World Trade Towers in Manhattan oder die Nuklearkatas­ trophe in Fukushima. Auch experimentelle Studien, bei denen Simulationsspiele eingesetzt wurden, haben gezeigt, dass selbst erfahrene Führungskräfte Probleme im Umgang mit komplexen Situationen haben (Reither 1996). Diese Schwierigkeiten treten auf der kognitiven, der emotionalen und der Handlungsebene auf. Kognitive Schwierigkeiten ergeben sich bei der Situationsanalyse und in der Planungsphase. Bei der Situationsanalyse werden z.  T.  Entwicklungen nicht berücksichtigt oder falsch eingeschätzt, z. B. mit stationären Beschreibungen oder in der Annahme linearer Trends. In der Planungsphase werden z. T. Prioritäten nicht oder falsch gesetzt und/oder die Planung erfolgt eher reaktiv mit einem Mangel an Flexibilität. Dabei wird oft aus emotionalen Gründen an einer einmal bezogenen Position hartnäckig festgehalten, obwohl viele Faktoren dagegensprechen und neue Entwicklungen nicht mehr berücksichtigt werden, die aufgrund der systeminhärenten Dynamik einer Situation entstehen. Auf der Handlungsebene werden beim Entscheidungsverhalten Zusammenhänge und Nebeneffekte, die aus der Dynamik menschlicher Systeme entstehen, oft kaum beachtet. Außerdem besteht eine Tendenz zur Systemübersteuerung und zu isolierten Aktionen. Schwierigkeiten im emotionalen Bereich ergeben sich auch aus dem Gefühl heraus, die Kontrolle über die komplexe Situation zu verlieren, was sowohl bei den oben ­genannten Praxisbeispielen als auch in den Simulationsspielen häufig auch tatsächlich der Fall war. Aus diesem wahrgenommenen Verlust an Kontrolle über die Situation resultieren häufig Tendenzen zum Dominanzverhalten und zu Radikalaktionen, um das wahrgenommene Pro­blem dann eben mit Gewalt zu lösen. Dabei wird die Ergebniskontrolle häufig vergessen. Diese genannten Tendenzen werden zudem durch gruppendynamische Prozesse im Team bzw. in der gesamten Organisation verstärkt.

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Die Ergebnisse der genannten Studien zeigen, dass der Umgang mit komplexen Situationen schon bei ihrer Simulation äußerst schwierig ist. In realen Situationen treten diese Tendenzen auf kognitiver, emotionaler und Verhaltensebene eher noch verstärkt auf. Uns interessierte daher, welche Strategien Top-Executives, die nachweislich mit einer Reihe solcher komplexen, Nicht-Routine-Situationen in ihrer Führungspraxis erfolgreich umgegangen sind, dabei geholfen haben.

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Forschungsansatz

Um mehr aus der aktuellen Praxis von Unternehmenslenkern im wirksamen Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen zu erfahren, wählten wir mithilfe einer Kombination von Desk-Recherche und Schneeballsystem 50 Führungskräfte auf der Top-­Management-­ Ebene aus, die in der Funktion eines CEO und/oder Chairman of the Board eines Unternehmens waren. Das Auswahlkriterium war, dass jede der befragten Top-Führungskräfte nachweislich eine Reihe komplexer Situationen schon gemeistert hatte. Obwohl keine der ausgewählten Führungskräfte ausschließlich erfolgreich im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen war, so überwog bei jeder von ihnen jedoch insgesamt der nachweislich erfolgreiche Umgang mit solchen komplexen Situationen zum Zeitpunkt der Forschung. Die Autorin führte mit jedem der 50 Unternehmenslenker ein persönliches Interview. Nach einer kurzen Charakterisierung von komplexen, Nicht-Routine-Situationen wurden die Interviewpartner gebeten, zunächst drei Nicht-Routine-Situationen aus der persönlichen Führungspraxis zu benennen, mit denen sie in der Vergangenheit konfrontiert gewesen waren. Diese drei selbst genannten Situationen wurden dann anhand eines Leitfadens mit all ihren Facetten im Rahmen eines phänomenologischen Ansatzes vertiefend exploriert. Ziel dieses sehr offenen Vorgehens war es, sich so gut wie möglich in die Sicht- und Denkweise des Gesprächspartners hineinzuversetzen und die Welt aus seiner bzw. ihrer2 Perspektive zu verstehen. Die Gesprächsdauer lag zwischen einer und vier Stunden. Mit Ausnahme eines Interviews wurden alle Gespräche vollständig auf Tonband aufgezeichnet, wörtlich transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet. Bei dieser inhaltsanalytischen Auswertung wurde auf der Sinnebene nach Ähnlichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten sowie nach Unterschieden gesucht (Carney 1972). In drei iterativen Schritten wurden aus dem Text thematisch ähnliche Aussagen zusammengefasst und daraus zentrale Themen bzw. Kategorien entwickelt, die sukzessive mit der weiteren Analyse verfeinert wurden. Ein Computerprogramm wurde zur systematischen Kennzeichnung und Katalogisierung der Texte und Themen bzw. Kategorien jedes einzelnen Interviews benutzt. In einem nächsten Schritt wurden dann die Auswertungen der drei von einem Interviewpartner genannten Situationen miteinander verglichen, entsprechend detailliert und für die jeweilige Person kalibriert. In einem letzten Schritt wurden die Auswertungen aller dreimal 2

 Drei der 50 Gesprächspartner waren Frauen.

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50 Situationen miteinander verglichen und dabei Strategien im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen identifiziert.

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 trategien im Umgang mit komplexen, S Nicht-Routine-Situationen

Die inhaltsanalytische Auswertung der transkribierten Interviews ergab vier zentrale Strategien, die die 50 Top-Executives im Umgang mit komplexen Situationen gemeinsam aufwiesen. Diese sind • eine flexible Handhabung von Flexibilität, die sowohl ihre Wahrnehmung, ihr Denken als auch ihr Handeln durchdringt; • relationale Führung, bei der gute Mitarbeiter entsprechend eingesetzt und Bedingungen geschaffen werden, damit diese guten Mitarbeiter sich auch mit ihren Stärken einbringen können (die Bedeutung von gut wird weiter unten spezifiziert); • das Planen und Handeln angesichts einer fehlerbehafteten Welt, wobei eine spezielle Art von Mut und Risikoverhalten gezeigt wird; • das Einnehmen einer Systemperspektive und das Agieren in einer Welt, die sich ständig dynamisch entwickelt und verändert. Diese vier Strategien werden nachfolgend ausführlich charakterisiert.

4.1

Flexible Handhabung von Flexibilität

Die folgenden fünf Beispiele sind exemplarisch für diese Strategie: Es gibt keine Formel, der man [in Nicht-Routine-Situationen] folgen kann. (John McConnel, Gründer und ehemaliger CEO und Chairman of the Board, Worthington Industries, Inc. Es gibt kaum etwas, das unmöglich ist. (Fred O’Green, ehemaliger CEO und Chairman of the Board, Litton Industries) Ich glaube, dass wir herausgefunden haben, dass wir immer einen Weg finden, wenn wir etwas machen wollen. (Dr. Thomas Frist, ehemaliger CEO und Chairman of the Board, Health Corporation of America) Man hält sich immer seine Möglichkeiten offen – so viele wie möglich. Sich ja nie auf eine vorgefertigte Sache versteifen. Es passiert dafür zu viel, und man muss diese ­Veränderungen erkennen. (Arjay Miller, emeritierter Dekan, Stanford Graduate School of Business und ehemaliger Direktor der Ford Motor Company) Nichts bleibt gleich. Man muss sich ständig verändern. Man muss sich ständig selbst evaluieren, man muss sich ständig selbst hinterfragen, ob man das Richtige macht. (C. Joseph LaBone, ehemaliger CEO, Reebok International, Ltd.)

Diese Aussagen sind repräsentativ für jeden der 50 interviewten Top-Executives. Flexibilität ist für sie nicht nur ein Wort oder eine Aktivität im Umgang mit komplexen Situationen –

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sie ist eine Lebensauffassung. Flexibilität durchdringt ihre Wahrnehmung, ihr Denken und ihr Handeln. Diese Top-Führungskräfte agieren auf der Basis der Annahme, dass nichts gleich bleibt oder gleich bleiben wird. Ihre Antwort auf diesen dauernden Wandel sind Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität in jeder Hinsicht. Nichts bleibt unangetastet, falls sich eine bessere oder angemessenere Vorgehensweise ergibt. Dies trifft auch auf einmal von ihnen getroffene Entscheidungen zu. Sie insistieren nicht auf ihrer Meinung oder der getroffenen Entscheidung, sondern berücksichtigen sofort geänderte Bedingungen. Selbst in der Handhabung ihrer Flexibilität sind sie flexibel. Dabei wenden sie die kognitiven „executive functions“ an, die nach Chan et al. (in Press) helfen, die Aufmerksamkeit zu steuern.

4.1.1 Flexibilität in der Wahrnehmung Schon das Aufnehmen, Speichern und Kategorisieren von Informationen erfolgt bei diesen Führungskräften flexibel. Sie lassen sich nicht von ihren früheren Erfahrungen derart vorprogrammieren, dass sie ihre schon vorhandenen kognitiven Strukturen unreflektiert zum Kategorisieren der neuen Informationen benutzen. Stattdessen probieren sie verschiedene Möglichkeiten aus, um den neuen, noch unstrukturierten Daten Sinn zu verleihen. Sie experimentieren erst mit verschiedenen Perspektiven, ehe sie sich entscheiden, wie sie eine Information auslegen und wie sie weiter vorgehen wollen. Dieser Prozess wird von einer grundlegenden Skepsis geleitet, die auf der Annahme basiert, dass die Welt voller Überraschungen ist und dass Interpretationen ständig hinterfragt werden müssen. Daraus resultiert eine Art positives Besorgtsein, wie es Martin Davis, ehemaliger CEO und Chairman of the Board von Gulf + Western, ausdrückt: Die Firma hat keine fundamentalen Schwächen. Das ist eine wahre Aussage. Aber es reicht nicht aus, sich zurückzulehnen und sich zu sagen: Das ist ja fantastisch! Wir müssen gar nichts mehr machen. Falls das unsere Auffassung wäre, würden wir nämlich Schwächen entwickeln. Man muss besorgt sein. Aber das ist nichts Schlechtes. Es gibt ein positives Besorgtsein [im Sinn von Hinterfragen] und ein negatives. Wir fragen uns immer, wohin gehen wir von hier aus weiter? Wie werden wir besser? Wie werden wir wachsen? Wo sind unsere Chancen? Es ist ein ständiges Besorgtsein.

Die befragten Führungskräfte bohren nach dem fast Unmöglichen. Sie spielen mit Ideen und betrachten sie aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Fred O’Green drückt dies mit dem Satz aus: Warum bringen Sie mir keine Idee, zu der ich Nein sagen kann?

Sie suchen nach neuen Chancen, wenn sie mit einer Nicht-Routine-Situation konfrontiert werden. Aber sie warten nicht nur auf diese Chancen, sondern schaffen sich selbst auch welche. Vier persönliche Attribute helfen ihnen dabei: gründliche Planung, ständige Neugierde, das Offensein aller ihrer Sinne sowie ständiges Lernen. Für das Unvorhersehbare vorbereitet zu sein, bedeutet für diese Führungskräfte, dass sie alle möglichen Alternativen grundlegend durchdenken, verschiedene Szenarien entwickeln und diese dann durchspielen.

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Sie interessieren sich für alles und jeden. Sie nehmen mit ihren Sinnen alle möglichen Informationen auf, bevor sie ein Urteil fällen, denn sie wissen, dass sie neue Dinge ständig lernen können und müssen. Diese Flexibilität in der Wahrnehmung ist eng mit ihrer analytischen Flexibilität verbunden.

4.1.2 Analytische Flexibilität Analytische Flexibilität bezieht sich auf jene Flexibilität, die nach der Informationsaufnahme bei der Informationsverarbeitung in Aktion tritt. Die wahrgenommene Information wird auf alle möglichen Arten kombiniert und zu schon bestehender Information in Beziehung gesetzt. Dabei werden keine monokausalen Verbindungen zwischen den verschiedenen Informationen gezogen. Vielmehr wird eine Art dialektischer Prozess in Gang gesetzt, in dem durch das Explorieren verschiedener Extreme und möglicher Verknüpfungen neue Synthesen gesucht werden. Diese Prozesse sind durch ständiges Hinterfragen und durch eine vielfältige Verknüpfung unterschiedlicher Ideen gekennzeichnet. Nichts wird mit der naheliegendsten Interpretation abgeschlossen und als gegeben hingenommen. Vielmehr wird alles ständig auf alternative Interpretationen und mögliche Konsequenzen hin untersucht. Phil Hawley beschrieb einen solchen Prozess, als er CEO wurde, folgendermaßen: Ein Jahr lang versuchte ich mir die Frage zu beantworten: Was ist eigentlich das Problem, welche Fragen werden auf uns zukommen? Wie werden wir mit diesen umgehen? Was sollte die Industrie machen, und was sind unsere besonderen Bedürfnisse, bedingt durch unser spezielles Wachstum und unsere Waren? Warum wir damit begonnen haben, in unsere Leute zu investieren? Es war das Geschäft, und was ist wichtiger, als den Umgang mit den Kunden zu verbessern. Was ist wichtiger, als über Möglichkeiten und Mittel nachzudenken, die Dinge besser zu machen, und ob das wirklich auch für uns den Unterschied macht.

Vermutungen, die bei der Konfrontation mit einer Nicht-Routine-Situation spontan entstehen, werden als Ankerpunkt für eine ausgedehnte Informationssuche und -verarbeitung genommen und flexibel gehandhabt. Jede Teilinformation wird mit diesem Ankerpunkt in Beziehung gesetzt und, falls die ursprüngliche Vermutung den Test nicht übersteht, wird sie modifiziert oder völlig geändert, wie Sandra Kurtzig, Gründerin der ASK Computer Systems, erklärt: Ich glaube, im Geschäftsleben ist es wesentlich, dass, wenn jemand mit einem Problem kommt, ich eine Intuition oder ein Bauchgefühl habe, wie das Problem gelöst werden könnte. Ich nehme dann diese Intuition und suche nach sämtlichen Fakten, die untermauern, dass mein Bauchgefühl richtig ist. Dies kann dann geändert werden, obwohl ich eine spontane Einsicht habe, wie ein Problem gelöst werden könnte. Ich höre mir die Fakten an, und falls die Fakten beweisen, dass die Antwort oder meine erste Reaktion falsch war, ändere ich natürlich meine Meinung.

Dieser Problemlösungsprozess verläuft also rückwärts, indem von einer Arbeitshypothese aus nach unterstützenden oder verwerfenden Belegen oder Beweisen gesucht wird. Es ist

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ein ganzheitlicher Ansatz, bei dem die in der Konfrontation mit der komplexen Situation plötzlich auftretenden Ideen oder Vermutungen als Ankerpunkt für einen systematischen Informationssuch- und Analyseprozess genommen werden. Diese Vermutungen, die als Arbeitshypothesen fungieren, basieren auf einer Vielzahl von unbewusst ablaufenden Verknüpfungen zwischen Informationen, die im Langzeitgedächtnis der betreffenden Person gespeichert sind. Diese erste Reaktion, die auch als Intuition bezeichnet wird (Harteis und Billett 2013), wird von den hier befragten Führungskräften sehr ernst genommen und strengen analytischen Untersuchungsprozessen unterzogen. Dabei bleiben sie offen und sind bereit, ihre ursprüngliche Meinung zu ändern. Diese Führungskräfte verlieren sich jedoch nicht in langwierigen Gedankenspielen. Sind genügend Belege für oder gegen ihre Vermutung gesammelt, handeln sie. Und auch ihre Aktionen demonstrieren Flexibilität.

4.1.3 Handlungsflexibilität „Wenn du Zweifel hast, dann mach das Richtige.“ Diese Aussage, die die wichtigste Handlungsmaxime in den frühen Tagen von Litton Industries war, charakterisiert das Verhalten der untersuchten Führungskräfte gegenüber Nicht-Routine-Situationen. Nichts ist ihnen heilig, wenn es nicht mehr das Beste zu sein scheint – egal, ob es um ihre Strategien, Pläne, Ziele, Maßnahmen, das Organisationsdesign oder um Kontrollen geht. Jede ihrer Aktionen basiert auf der Prämisse von Flexibilität – im Rahmen guter Corporate Governance. „Man muss bereit sein, sich zu entwickeln, ja nicht zu rigide sein“, ist die Empfehlung von Dr. Thomas First. Einmal gefasste Pläne werden nicht in Stein gemeißelt. Sie dienen als Landkarten zur Orientierung, die auch alternative Wege oder Szenarien beinhalten, und ihre Angemessenheit wird ständig überprüft. Wenn sich die Bedingungen ändern und damit die bestehenden Wege oder Landkarten veralten, werden neue Wege und Landkarten entwickelt. „Wenn man im Geschäftsleben von Punkt A zu Punkt B will, gibt es nie eine gerade Linie“, beschreibt dies Bill Ahmanson, der frühere Chairman of the Board von H.F. Ahmanson. Und Dr. First erklärt: Wir haben eingesehen, dass wir nicht mehr auf der Basis eines Jahresplans operieren können. Selbst eine sechsmonatige Planung ist in einem deregulierten Gesundheitswesen zu lange. Wir ändern monatlich. Allerdings benutzen wir dabei den gleichen Planungsprozess.

Ein weiteres Beispiel für die Handlungsflexibilität dieser Führungskräfte stellt ihr Umgang mit Organisationsstrukturen dar. Alle Interviewpartner passen ihr Organisationsdesign häufig an, um einer geänderten Situation gerecht zu werden oder um bestehende Prozesse zu verbessern. Außerdem evaluieren diese Führungskräfte ihre eigenen Handlungen und den Erfolg der Firma im Umgang mit komplexen Situationen ständig. Dafür benutzen sie eine Reihe verschiedener Instrumente, um aus unterschiedlichen Quellen über die jeweiligen Ergebnisse informiert zu werden, sodass sie – falls notwendig – rechtzeitig den Kurs wechseln können.

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Diese Flexibilität, die die Wahrnehmung, die Denkprozesse und die Handlungen der Führungskräfte durchdringt, wird jedoch nicht unflexibel flexibel eingesetzt. Im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen sind sie sogar in ihrer Flexibilität flexibel. Sie wissen, wann sie ihre Wahrnehmung, ihre Informationsverarbeitungsprozesse oder ihre Handlungen an veränderte Situationen anpassen und wann sie stur daran festhalten müssen. William Woodside, der frühere CEO und Chairman of the Board von American Can, drückte dies folgendermaßen aus: Es ist ganz in Ordnung, einen theoretischen Spielplan zu entwickeln, welche Firmen man akquirieren will. Aber wenn sie nicht zur Akquisition stehen oder wenn sie zu teuer sind und man sie sich nicht leisten kann, dann muss man sich von der Idee verabschieden.

4.2

Relationale Führung mit guten Leuten

Der Schlüssel zum Erfolg heißt Identifizierung, Einstellung, Belohnung und Aufrechterhaltung der Loyalität von Mitarbeitern und Führungskräften. Wenn man mit den Leuten erfolgreich umgehen kann, dann hat man auch ein erfolgreiches Unternehmen, denn in einer komplexen Situation ist man es nicht selbst, der den Erfolg herbeiführt. Es sind die Mitarbeiter. (Franklin Murphy, ehemaliger CEO und Chairman, Times Mirror Company)

Gute Leute und die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden und zusammenarbeiten, sind wesentlich für einen wirksamen Umgang mit Nicht-Routine-Situationen. Alle befragten Führungskräfte waren der festen Überzeugung, dass eine Person allein – sich selbst eingeschlossen – begrenzt ist im Umgang mit komplexen Situationen. Das Attribut gut wurde dabei recht unterschiedlich ausgelegt. Die Führungskräfte suchen bei Leuten in Schlüsselpositionen nach einer Vielzahl verschiedener Fähigkeiten, gekoppelt mit einer sog. philosophischen Kompatibilität. Mit philosophischer Kompatibilität bezeichne ich eine ähnliche Einstellung und Denkweise. Dies impliziert, dass diese Top-Führungskräfte nach Leuten suchen und selektionieren, die ähnlich denken wie sie selbst, aber keine Ja-Sager sind. Dazu schaffen sie Bedingungen, unter denen diese befähigten Personen frei sind, das zu tun, was sie in der Konfrontation mit komplexen Situationen für richtig halten. Daraus resultiert ein äußerst interaktiver Prozess, der durch multiple, überlappende Teambemühungen gekennzeichnet ist. Der Begriff relationale Führung umfasst diesen gesamten Prozess. Interessanterweise sprachen die Gesprächspartner kaum von ihren Mitarbeitern („employee“), sondern meist von ihren Leuten („people“), was auch ein Ausdruck des Miteinanderumgehens auf Augenhöhe ist (Sackmann 2007). Zur Präzisierung benutze ich dennoch nachfolgend ab und zu den Begriff Mitarbeiter.

4.2.1 Gute Leute Das Attribut gut ist je nach Situation und Führungskraft unterschiedlich ausgeprägt. Die Liste der genannten Eigenschaften und Verhaltensweisen ist lang und bis auf zwei Kernpunkte wenig aussagekräftig. Zum einen machen gute Leute das Beste aus einer gegebenen Situation, zum anderen spiegelt gut bei einem Mitarbeiter die Selbsteinschätzung der

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jeweilig befragten Führungskraft wider. Gute Leute bewegen Dinge. Sie „gehen in den Wald und schauen, was sie finden“, wie es Roy Ash, Mitbegründer und ehemaliger Direktor von Litton Industries, ausdrückte. Diese Personen führen und organisieren sich selbst. Zudem achten die befragten Führungskräfte aber auch auf eine Mischung verschiedener Fähigkeiten bei ihren Mitarbeitern und Führungskräften, um ein möglichst breites Spektrum an Qualifikationen abzudecken, da man ja im Voraus nicht wissen kann, welche spezifischen Fähigkeiten im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen gefragt sein werden. Dabei konzentrieren sie sich auf die Stärken einer jeden Person und komplementieren damit Schwächen, ihre eigenen mit eingeschlossen. So erläutert Jim Collins von Collins Food International: Das Geheimnis meines Erfolgs ist, sicherzustellen, dass ich mich mit den gescheitesten Leuten umgebe, die Stärken haben, die ich selbst nicht habe.

Die Vielzahl unterschiedlicher Qualifikationen und die Motivation, etwas bewegen zu wollen, werden durch philosophische Kompatibilität in synergetische Bahnen gelenkt. Die befragten Führungskräfte sind sehr vorsichtig bei der Auswahl ihrer Leute, v. a. in Schlüsselpositionen, und sie achten darauf, dass die in die engere Wahl kommenden Personen auch zur Unternehmenskultur passen. Dazu gehört, dass die Mitarbeiter die gleichen Prioritäten setzen, dass sie eine ähnliche Orientierung oder Grundeinstellung und eine ähnliche Denkweise wie die Führungskraft selbst haben. Ist dies nicht gegeben, kann ein Umgang miteinander sehr schwierig werden: Man braucht Leute, die in die Art des Umgangs, den man im Unternehmen hat, passen […]. Mit Leuten, die nicht hineinpassen, wird es äußerst schwierig, etwas zu erreichen. (Robert Erburu, ehemaliger CEO und Chairman, Times Mirror Company)

Die Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum trägt auch dazu bei, eine gemeinsame Orientierung zu erlangen. Dies führt dazu, dass Führungskräfte z. T. Leute um sich haben, die sie aus früheren Projekten kennen. Die Gefahr eines möglichen „group think“ (Janis 1982) oder des Scheuklappendenkens umgehen diese Führungskräfte damit, dass sie auf eine wichtige zusätzliche Qualifikation bei ihren Leuten achten, und zwar auf Offenheit und Direktheit. Sie wollen keine Ja-Sager um sich herum haben. Vielmehr suchen sie nach Leuten, die offen ihre Meinung äußern, egal, wie populär oder unpopulär in einem gegebenen Kontext diese sein mag. Dies wird durch die nachfolgenden Aussagen ­illustriert. Ich versuche, um mich herum Leute zu sammeln, die vortreten und frei heraus ihre ehrliche Meinung äußern. Für mich ist es wertlos, Manager zu haben, die mir nach dem Mund reden. Dies kann für das obere Management zu einem großen Problem werden. Also, wenn ich daher Leute aussuche, um Strategien zu entwickeln oder Schlüsselentscheidungen zu treffen, ist es entscheidend, dass die ausgewählten Leute frei von sich aus reden, ohne Rücksicht auf das interne politische Geschehen in der Organisation. (Thomas Frist) Man braucht Leute, die die eigenen Ideen und Konzepte hinterfragen, sie zerstören oder verbessern. (George Kozmetsky, IC2 Institute und ehemaliger Professor und Dean, University of Texas)

Die Qualität „gut“ braucht zur Entfaltung allerdings ein entsprechendes Führungsumfeld, das ich mit relationaler Führung bezeichne.

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4.2.2 Relationale Führung Guten Leuten werden Chancen gegeben und es wird von ihnen erwartet, dass sie das Richtige tun. Ihre Vorgesetzten geben ihnen einen großen Handlungsfreiraum sowie die notwendige materielle und psychische Unterstützung – und sie werden nicht enttäuscht. Die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter ist ein ständiges Geben und Nehmen, das auf gegenseitigem Vertrauen, auf hohen positiven Erwartungen seitens der Top-­ Führungskraft beruht und zu großem Engagement bei den Mitarbeitern führt. Die ganze Organisation kommt ins Laufen, wenn man für seine Leute Erwartungen hat. Sie begrüßen hohe Erwartungen und das Letzte, das sie tun wollen, ist, einen zu enttäuschen. Wenn sie die Fähigkeiten, die Autorität und die Verantwortung haben, dann sollen sie auch die Entscheidungen treffen. (George Moody, ehemaliger Präsident der Security Pacific Corporation)

Relationale Führung besteht im aktiven Einbeziehen von guten Leuten, die sorgfältig ausgesucht und im Verlauf mehrerer Aufgaben getestet worden sind. Diese Mitarbeiter werden dann mit dem entsprechenden Verantwortungsspielraum und den notwendigen Ressourcen ausgestattet. Ihnen wird die allgemeine Richtung vorgegeben mit dem Schwerpunkt, Ergebnisse zu bringen. Wie sie zu diesen Ergebnissen kommen, ist ihnen im Rahmen von guter Governance weitgehend freigestellt. Die befragten Führungskräfte wissen, dass traditionelle Personalmanagementsysteme, die auf der Basis früherer Erfahrungen entwickelt wurden, im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen nicht ausreichen. Daher werden multiple Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt, Vertrauen und hohen Erwartungen der Führungskraft basieren und die dann zu hohem Engagement bei den Mitarbeitern führen, zu den grundlegenden Bausteinen dieser relationalen Führung. Auf der gesamtorganisatorischen Ebene ergeben sich aus der relationalen Führung vielfache Teamanstrengungen auf allen hierarchischen Ebenen sowie auch hierarchieübergreifend. Die Führungskräfte wissen, dass der wirksame Umgang mit Nicht-Routine-Situationen für eine Person allein zu komplex ist: Keine Person ist alleine qualifiziert genug, um immer oder meistens die richtige Antwort zu haben. (Don Crisp, Präsident der Rosewood Corporation)

Offenheit, Direktheit und kritisches Feedback zwischen den Teammitgliedern sind dabei wichtige Aspekte ihrer Zusammenarbeit. Unterschiedliches Wissen und Meinungen, die bei gegenseitigem Respekt in Entscheidungsprozesse einfließen, werden in einer dialektischen Auseinandersetzung kritisch diskutiert. Die resultierenden Synergieeffekte führen zu neuen Ideen sowie zu einem wachsenden Engagement für die Zusammenarbeit und für gemeinsame Entscheidungen, hinter denen jeder Einzelne steht.

4.3

Akzeptieren einer fehlerbehafteten Welt

Der erfolgreiche Umgang mit Nicht-Routine-Situationen erfordert Entscheidungen und Aktionen trotz Informationsmangel und Informationsundurchsichtigkeit und trotz nicht vorhersehbarer Ergebnisse. In solch einem unsicheren Umfeld müssen Handlungen eingeleitet

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werden, obwohl sie mit großer Unsicherheit behaftet sind und daraus Fehler resultieren können. Im Vergleich zu programmierbaren Routine-Situationen gibt es keine Vorerfahrung, aus der Handlungsstrategien oder -anweisungen abgeleitet werden könnten, um Fehler zu vermeiden. Das Handeln in der Konfrontation mit Nicht-Routine-Situationen erfordert ein gewisses Maß an Risikobereitschaft, Mut oder gar Kühnheit sowie die Einsicht, dass es einfach keine fehlerfreie Welt gibt. So erklärt Robert McNamara, der frühere Präsident der Weltbank, der Ford Motor Company sowie Verteidigungsminister unter John F. Kennedy: […] man kann die Zukunft immer falsch einschätzen. Daher sollte man schon, ehe man überhaupt anfängt, die Möglichkeit, Fehler zu machen, mit einbeziehen. […] man sollte nicht der Überzeugung sein, dass die Welt fehlerfrei ist, und man sollte nicht den Maßstab eines fehlerfreien Lebens oder einer fehlerfreien Leistung setzen. Dies erfordert natürlich eine gewisse Einstellung gegenüber dem Risiko. Man ist viel eher dazu bereit, ein Risiko einzugehen, wenn man nicht von sich erwartet, perfekt zu sein. Ich glaube, dass man in jeder Situation, sei es im öffentlichen oder im privaten Leben, die Möglichkeit von Fehlern erkennen und dies bei jeder Art von Planung mit einbeziehen sollte.

So selbstverständlich sich dies anhören mag, so schwierig ist es auch in der Durchführung, da es ein neues Verständnis von Perfektion voraussetzt. Was bedeutet Perfektion in komplexen Situationen? Keiner kann hier eine Antwort geben, da man die Zukunft ja nicht vorhersehen kann und damit auch nicht weiß, was in einer bestimmten Situation optimal oder gar perfekt wäre. Man weiß nur, dass z. B. auch die Natur trotz Fehlern erfolgreich funktioniert, und dass diese Fehler unter Umständen sogar zu einer evolutionären Weiterentwicklung führen. Wichtig wird dabei, nicht Fehler zu vermeiden, sondern der entsprechende Umgang mit Fehlern. Die befragten Führungskräfte haben keine Angst davor, Fehler zu machen. Sie wissen, dass sie im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen diese Gefahr eingehen müssen, wenn sie nicht paralysiert sein wollen. Daher evaluieren sie ihre Handlungen genau und bringen sofort, wenn ihnen die Ergebnisse nicht passen, Veränderungen an. Dies können sie aufgrund ihrer Flexibilität leicht tun, da sie den Umgang mit Fehlern als Chance zum Lernen benutzen. Frank Cary beschriebt dies folgendermaßen: Es ist sehr schwierig, immer richtigzuliegen. Man hat selten all jene Informationen, die man gerne für das Treffen einer Entscheidung hätte, und dann gibt es so viele Dinge, die eine Entscheidung beeinflussen können. Wenn man eine falsche Entscheidung trifft, ist es auch nicht immer gleich klar, dass sie falsch ist. Aber wenn es klar wird, dann ist es wichtig, dies zu erkennen und entsprechend zu ändern. Es gibt immer eine Tendenz, einmal gefällten Entscheidungen zu verteidigen. Aber wenn man so viele Entscheidungen getroffen hat wie ich, dann erwartet man schon von einigen, dass sie falsch sein werden, und dann ist man auch dazu bereit, sie zu korrigieren.

Wie auch schon Bennis und Nanus (1988) in ihrer Studie von 90 Führungskräften beobachteten, ist es manchmal schwierig, überhaupt von einem Fehler zu reden, da Fehler sich ja erst im Nachhinein als solche erweisen. Wird im Umgang mit komplexen Situationen akzeptiert, dass man zwangsläufig Fehler macht, die Fehlentwicklung jedoch rechtzeitig erkannt und entsprechend gehandelt, dann können solche sog. Fehler sogar zu Erfolgen werden, wie Sandra Kurtzig über eine Akquisition berichtet:

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Alle meine Mitarbeiter wollten diese Firma kaufen, doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass wir sie nicht kaufen sollten. Aber wie ich schon erwähnte, höre ich auf meine Leute. Wenn sie mir die Gründe aufzeigen können, warum die Schlussfolgerungen anders als meine sein sollten, dann akzeptiere ich das. Das tat ich auch in diesem Fall, und wir kauften die Firma. […] Ich glaube, dass meine Leute und ich ungefähr neun Monate brauchten, um zu erkennen, dass wir eine richtige Problemfirma gekauft hatten. Glücklicherweise sind wir da herausgekommen und schauten sogar wie Helden aus. Wir schlossen die gesamte Firma und verkauften einige der Software auf Auktionsbasis. Diese Idee war uns in unseren Diskussionen gekommen, als wir nach Möglichkeiten suchten, wie wir am besten aus dieser schwierigen Situation herauskommen könnten.

4.4

Dynamische Systemperspektive

Jede Entscheidung ist mit anderen verbunden und verknüpft. […] Ich glaube, dass es wichtig ist, den Unterschied zwischen dem großen und dem kleinen Bild zu erkennen. Das große Bild war, Wickes zu retten und damit von 40.000 Arbeitsplätzen so viele wie möglich. Ich musste Entscheidungen treffen, die letztendlich dazu führen sollten, die Firma aus der Insolvenz herauszuführen, ohne wirtschaftlich verkrüppelt zu sein. (Sanford Sigoloff, ehemaliger CEO und Chairman of the Board, The Wickes Corporation)

Die befragten Führungskräfte benutzen in ihren Denk- und Handlungsprozessen eine dynamische Systemperspektive. Sie kennen, erkennen und akzeptieren die Charakteristika komplexer Systeme und handeln entsprechend. Diese Handlungen basieren auf der weiteren Annahme, dass Systeme ständig im Fluss sind, sich weiterentwickeln und auch von außen in ihren Entwicklungen beeinflusst werden. Die wesentlichen inhaltlichen Aspekte eines bestimmen Systems können sich daher in kurzer Zeit grundlegend verändern. Zwar stehen die Erkenntnisse von Systemtheorien schon lange zur Verfügung (vgl. von Bertalanffy 1968; Luhmann 1984; Malik 1984), doch werden sie in der Praxis von Führungskräften nicht unbedingt angewandt. Je nach Größe und Umfeld steigt der Komplexitätsgrad eines Systems. Das System, das die befragten Führungskräfte im Auge haben, ist recht umfassend. Sie betrachten nicht nur das System Organisation, sondern sehen ihr Unternehmen eingebettet in ein komplexes Umfeld, bestehend aus geografischer Lage, Märkten, Wettbewerb, Technologien, Politik, sozialem Umfeld, Ressourcen etc. mit all den da­ raus resultierenden Beziehungen und der entsprechenden Eigendynamik. Sie wissen, dass sie für die Überlebensfähigkeit eines solchen Systems sowohl auf Effizienz und Effektivität achten als auch in Innovationen investieren müssen und damit eine ambidextre Leadership zeigen (Probst et al. 2011). Aufgrund dieser Systemperspektive haben die Führungskräfte auch den Mut, kurzfristig unpopuläre Entscheidungen zu treffen, um dafür das langfristige Überleben der Firma zu sichern, wie das obige Zitat von Sanford Sigoloff aufzeigt. Auch Walter Wriston, ehemaliger CEO und Chairman der Citicorp und Citibank, erklärt: Ich habe übers Investieren jahrelang nachgedacht. John Reed hatte absolut recht. Zuerst habe ich es nicht richtig verstanden, aber was er meinte war, dass in einer Finanzinstitution mit all den Citicorp-Gebäuden usw. die großen Ausgaben in Investitionen bestehen, die nur Kosten verursachen und nicht kapitalisiert werden, wie beispielsweise Leute, Software, Training,

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Zeit zum Nachdenken etc. Selbst als wir im Mengengeschäft unser Hemd verloren, haben wir mehrere Millionen Dollar für Investitionen auf die Seite gelegt. Das hat ganz schön viel Mut gebraucht. Selbst auf unserer Ebene war’s nicht gerade lustig. Aber jemand muss diese Art von Entscheidungen treffen, welche die Weichen für die Zukunft des Unternehmens stellen.

Die Systemperspektive, die diese Führungskräfte einnehmen, bleibt, wie umfassend sie auch sein mag, nicht gleich. Sie hinterfragen ständig die Bestandteile ihres Systems und deren Beziehungen. Sie evaluieren deren Bedeutung und halten Ausschau nach neuen Aspekten, die bisher noch nicht beachtet wurden oder die bisher noch nicht relevant waren. Damit handeln sie auf der Basis eines dynamischen Systems, das ständig im Fluss ist und sich verändert. Die oben beschriebenen drei Strategien, die die Führungskräfte im Umgang mit Nicht-Routine-Situationen einsetzen, fließen in diese dynamische Systemperspektive mit ein und ermöglichen sie überhaupt erst. Ohne ihre alles durchdringende Flexibilität, ihre relationale Führung und die Annahme einer fehlerbehafteten Welt wären diese Führungskräfte nicht in der Lage, ihr dynamisches System Unternehmen mit seiner relevanten Umwelt ständig zu hinterfragen und den sich abzeichnenden Veränderungen anzupassen. Sie setzen sich mit ihren Leuten zusammen und entwickeln mit ihnen Zukunftsszenarien. Sie versuchen, diese Szenarien so gut wie möglich zu visualisieren, und spielen sie mit allen, zum jeweiligen Zeitpunkt nur denkbaren Konsequenzen durch. Sie hinterfragen das Selbstverständliche und suchen nach dem Unvorstellbaren, da sie wissen, dass sich die Welt ständig ändert und entwickelt – und sie wollen daran Anteil nehmen, wie Willian E. Lenhard, CEO und Chairman der Parsons Corporation, beschreibt: Ich glaube, wir müssen uns erst darüber klar werden, dass das, was wir heute machen, in fünf Jahren für uns nicht mehr funktionieren wird. Der Markt verändert sich aufgrund von politischen, ökonomischen und anderen Ereignissen. Und wenn man mit der Erkenntnis beginnt, dass das Morgen anders aussieht als das Heute, dann muss man seine Aufmerksamkeit auf die Chancen lenken, von denen man glaubt, dass sie sich bis in fünf Jahren bieten könnten.

5

Abschließende Diskussion

Die voranstehend vorgestellten vier Handlungsstrategien haben sich für die befragten Top-Führungskräfte im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen als zentral erwiesen und haben den Charakter von Kompetenzen. In der Abb. 1 sind sie nochmals im Überblick dargestellt. Jede einzelne dieser Handlungsstrategien oder Kompetenzen beinhaltet in sich wiederum ein vielschichtiges System von miteinander verknüpften Fähigkeiten. Das Vorhandensein dieser Kompetenzen und ihre Anwendung hat bei den befragten Top-Executives die Erfolgswahrscheinlichkeit im Umgang mit komplexen Situationen erhöht. Aufgrund der Charakteristika komplexer Situationen garantieren diese vier Kompetenzen jedoch keine hundertprozentige Erfolgsrate. Künftig werden mit großer Wahrscheinlichkeit für neue, bisher noch unbekannte Probleme zusätzliche Kompetenzen erforderlich werden, die zum

172

S. Sackmann Flexibler Einsatz von Flexibilität • In der Wahrnehmung • Im Denken • Im Handeln

Einnehmen und Agieren im Rahmen einer dynamischen Systemperspektive

Wirksamer Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen

Relationale Führung

Planen und Handeln auf der Basis einer fehlerbehafteten Welt

Abb. 1  Wirksame Strategien im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen

heutigen Zeitpunkt noch nicht relevant oder heute vielleicht sogar noch unbekannt sind, und die Abbildung müsste entsprechend verändert bzw. ergänzt werden. Daher sind die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht als das Rezept für den Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen zu verstehen. Vielmehr sollten sie zu weiteren Überlegungen und Handlungsalternativen anregen. Sie sollten zu nicht rigider Flexibilität im Denken und Handeln auffordern, um neue, bisher noch undenkbare Ansatzpunkte zu entwickeln. Sie sollten zu alternativen oder zusätzlichen Möglichkeiten der beschriebenen relationalen Führung anregen. Und sie sollten ein gewisses Maß an Mut oder Kühnheit provozieren, um das noch Undenkbare zu denken und das noch Unbekannte zu tun. Weiter sollte die Notwendigkeit einer Systemperspektive nicht nur akzeptiert und diese häufiger praktiziert werden, sondern sie sollte auch den dynamischen, sich in ständigem Wandel befindlichen Aspekt berücksichtigen; denn nichts ist so beständig wie der Wandel. Unsere heutige Wirtschaft und Gesellschaft werden sich in noch ungeahnten Szenarien weiterentwickeln. Diesen zukünftigen Szenarien müssen sich Unternehmen und ihre Führung und Führungskräfte zum einen stellen, um zu überleben, zum anderen können sie diese Entwicklungen aber auch z.  T. mit beeinflussen, indem sie die entsprechenden Weichen setzen. Solche proaktiven Schritte zu tun bedeutet, sowohl über die oben beschriebenen Strategien bzw. Kompetenzen zu verfügen und diese anzuwenden als auch die Fähigkeit, neue zu schaffen und zu entwickeln. Denn das einzige Prinzip oder Rezept, das im Umgang mit komplexen, Nicht-Routine-Situationen anwendbar ist, heißt, dass es dafür kein Managementprinzip gibt.

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Führung in komplexen, Nicht-Routine-Situationen

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Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD,   ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung Sonja Sackmann, Verena Eichel und Claudia Schmidt

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4 

Einführung   hange-Konzepte  C Informationen zu den Change-Fitness-Studien  Erkenntnisse zu Erfolgsquote, positiven und kritischen Aspekten im Umgang mit Change  5  Unterschiedliche Perspektiven auf Change-Projekte und Change-Prozesse  6  Diskussion der Ergebnisse mit ihren Implikationen für Führungskräfte  7  Fazit  Literatur 

 176  177  180  182  185  193  195  196

Zusammenfassung

Die meisten Unternehmen sind mit Veränderungen konfrontiert und müssen diese wirksam meistern, um überlebensfähig zu bleiben. In diesem Beitrag stellen wir zunächst das ganzheitliche Konzept der Change-Fitness vor, das die in der Literatur bekannte Change-Readiness beinhaltet, doch über diese hinausgeht. Anschließend geben wir einen Überblick über die bisher durchgeführten fünf Change-Fitness-Studien und berichten einige die speziell für Führungskräfte zentralen Ergebnisse über den Zeitraum von 2010 bis 2018. im Gespräch mit Sonja Sackmann S. Sackmann (*) · V. Eichel Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] C. Schmidt Mutaree GmbH, Wiesbaden-Igstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_10

175

176

S. Sackmann et al.

Dies betrifft die Erfolgsrate durchgeführter Veränderungsprozesse, positive und kritische Aspekte von Change-Prozessen sowie die sich durchziehenden unterschiedlichen Perspektiven auf die Change-Fitness der drei Funktionen Unternehmensleitung, mittlere Führungskräfte und Mitarbeiter. Für Letztere werden Ergebnisse der Change-Fitness-Studie 2016 dargestellt und im Anschluss mit ihren Implikationen für Führung diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem Fazit, das neben einer kurzen Zusammenfassung auch Implikationen für die zukünftige Forschung und Empfehlungen für die Praxis enthält.

1

Einführung

Das Thema Change hat sowohl für Unternehmen als auch für die Forschung eine große Bedeutung. Enormer Kostendruck, steigender Wettbewerb und ein komplexeres Umfeld heben die Relevanz von Change für Unternehmen von heute hervor (Fugate et al. 2012; Sackmann et al. 2009). Unternehmen müssen sich schnell anpassen, entwickeln und verändern können, um innovativ und flexibel zu sein (Kok und Driessen 2012). Nur diejenigen Unternehmen, die in der Lage sind, diese Herausforderungen effektiv zu bewältigen, sind überlebensfähig (Rafferty et al. 2013). Sowohl Forscher als auch Praktiker und speziell Führungskräfte schreiben dem organisationalen Change eine hohe Relevanz zu (Schwarz und Huber 2008). Dies belegt auch die Existenz zahlreicher Change-Konzepte und -Theorien (für einen Überblick: Todnem By 2005) sowie die Ergebnisse einer Reihe von Studien, die besagen, dass fast jedes Unternehmen von Change betroffen ist. Der Begriff Change bezeichnet nach Ulich (1994) eine tief greifende Veränderung einer Organisation in einem kontinuierlichen Prozess. Es gibt eine Reihe theoretischer Grundlagen zu Change, die Frage ist jedoch, ob diese in Unternehmen tatsächlich auch berücksichtigt und umgesetzt werden (Balogun und Johnson 2004), was von einigen Studien z. T. bezweifelt wird (Appelbaum et al. 2012; Change-Fitness-Studien: Sackmann et al. 2014, 2016, 2018). Eine Reihe von empirischen Ergebnissen legt nahe, dass ein hoher Prozentsatz der Veränderungsprozesse nicht erfolgreich ist (Kotter 1996). So scheitern laut Fay und Lührmann (2004) ungefähr 75 % der angestrebten Veränderungen. Organisationaler Change wird definiert als kontinuierlicher Erneuerungsprozess der Struktur und der Fähigkeiten einer Organisation, um den Bedürfnissen externer und interner Beteiligter gerecht zu werden (Moran und Brightman 2001). Organisationaler Change führt zu Spannungen zwischen Altem und Neuem (Balogun und Johnson 2004) wie auch zu Konflikten zwischen Kontinuität und Veränderung auf Mitarbeiterebene (Huy 2002). Change erfordert verschiedene Kompetenzen, wie beispielsweise eine entsprechende Führung und Kommunikation (Stewart und Kringas 2003). Führung ist hierbei besonders hervorzuheben, da das Erkennen notwendiger Veränderungen und deren Initiierung zur Umsetzung zentrale Voraussetzungen für einen Veränderungsprozess sind. So haben Studien gezeigt, dass beispielsweise strategisch notwendiger Change häufig viel zu spät erkannt wird (Starbuck und Hedberg 2001). Für die Umsetzung von Veränderungsprozessen braucht es zudem eine geeignete Organisation und entsprechende Change-Kompetenzen. Hierarchieebenen sind für Veränderungsprozesse nicht immer hilfreich, da i. d. R. eine Veränderung von der oberen Managementebene angekündigt, jedoch von den nachfolgenden

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

177

Ebenen ausgeführt wird. Daher bestimmen in Verbindung mit der Hierarchieebene auch Funktion und Aufgabe die Sichtweise auf Change-Prozesse. Schwarz (2012) resümiert, dass die steigende Zahl an Veröffentlichungen zum Thema Change nicht mit der Entwicklung neuen Wissens einhergeht. Auch die Implementierung von Change ist in der Praxis immer noch schwierig und nicht so gelungen wie gewünscht: Change wird häufig nicht erfolgreich implementiert (Shea et  al. 2014). Während es eine große Anzahl an theoretischen und empirischen Studien zu verschiedenen Facetten des organisationalen Wandels gibt (Schwarz 2012; Smollan 2015), ist die jeweilige Umsetzung von geplantem Wandel in diesen Konzepten wenig verankert (Tsoukas und Chia 2002). Dies liegt vermutlich daran, dass neuere Konzepte, wie die Change-Readiness, v. a. die kognitive Bereitschaft und Motivation zu Wandel betonen und weniger seine Implementierung (Rafferty et  al. 2013). Change-Readiness ist als kognitiver und motivationaler Vorläufer eines Change-Prozesses anzusehen (Armenakis et  al. 1993), doch für die Change-­Implementierung braucht es noch zusätzliche Umsetzungskompetenzen. Hier besteht eine Forschungslücke, die sich im Mangel eines allumfassenden Change-­ Konzepts zeigt. Darin sehen die Autorinnen den Beitrag des Konzepts der Change-Fitness, deren Mehrwert darin liegt, dass sie alle Phasen des Change-Prozesses (Judge 2011) mit ihren jeweils notwendigen Kompetenzen für eine erfolgreiche Umsetzung abdeckt und als Gesamtheit berücksichtigt. In diesem Beitrag erläutern wir zunächst das ganzheitliche Konzept der Change-Fitness in Ergänzung zur bekannten Change-Readiness. Im Anschluss wird ein Überblick zu den Change-Fitness-Studien mit Fokus auf Ziele, Datenerhebung, Stichprobe und Datenauswertung gegeben. Danach werden einige der für Führung zentralen Erkenntnisse aus den fünf bisher durchgeführten Studien berichtet. Ein besonderer Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der unterschiedlichen Wahrnehmung von Change-relevanten Themen zwischen den Funktions- bzw. Hierarchieebenen. Es werden zentrale Ergebnisse aus dem Blickwinkel Top-Management, Führungskräfte und Mitarbeiter beleuchtet und ihre Implikationen für die Führung diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit, das auch Hinweise für zukünftige Forschung enthält.

2

Change-Konzepte

In der Literatur existiert eine Reihe von Konzepten, Modellen und Theorien zum geplanten Change, die sich direkt oder indirekt auf das wegweisende Drei-Phasen-Modell von Lewin (1952) beziehen. Daher stellen wir dieses mit seinen verschiedenen Facetten der einzelnen Phasen kurz vor, bevor wir das Konzept der Change-Readiness und der Change-­ Fitness charakterisieren.

2.1

Das Drei-Phasen-Modell von Kurt Lewin

Nach Lewin (1952) läuft eine Veränderung in drei Phasen ab: Unfreezing, Changing und Freezing: • Unfreezing bezeichnet er dabei als das Auftauen der gegenwärtigen Situation. Das aktuelle Gleichgewicht soll aufgeweicht und Motivation für die Veränderung hergestellt werden.

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S. Sackmann et al.

• Changing ist die Durchführung der Veränderung, d.  h. die Bewegung hin zu einem neuen Gleichgewicht. • Freezing bezeichnet das Einfrieren der neuen, veränderten Situation bzw. des neuen Gleichgewichts und die Verankerung in Routinen. Vorhandene Modelle, Konzepte und Studien sind hauptsächlich auf die Phase Unfreezing fokussiert, teilweise auch auf die Phase Changing, kaum jedoch auf das Freezing und damit die eigentlich nachhaltige Implementierung einer Change-Initiative (Cummings et al. 2016; Krüger 2002). Aufbauend auf Lewins Modell wurde eine Reihe differenzierterer Change-Modelle entwickelt (Kotter 1996; Krüger 2002; Lippitt et al. 1958), die ebenfalls viel Aufmerksamkeit in Forschung und Praxis erfahren haben, sich jedoch vorwiegend auf die kognitive Bereitschaft und Motivation für Veränderung und damit die Change-Readiness konzentrieren – mit der entsprechenden Einschränkung. Ein Grund hierfür mag sein, dass das Thema Widerstand gegenüber Veränderungen in der Literatur wie auch in der Praxis ein großes Problem darstellt (Stanley et al. 2005). Das Konzept der Change-Readiness fokussiert daher die für eine Veränderung notwendige Offenheit und Bereitschaft.

2.2

Change-Readiness

Change-Readiness ist allgemein definiert als kognitiver Vorläufer des Verhaltens, der sich entweder in eine Bereitschaft für den Wandel oder in Widerstand gegenüber oder Unterstützung für eine Veränderung zeigt (Armenakis et al. 1993). Change-Readiness umfasst mehrere Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit anzeigen, dass sich eine Person bzw. eine Organisation für eine Veränderung einsetzt und diese unterstützt (Vakola 2013). Sie bezieht sich auf folgende drei Facetten (Shea et al. 2014): • Individuelle Change-Readiness: Diese umfasst das Selbstvertrauen einer Person, eine Veränderung erfolgreich umsetzen zu können. • Wahrgenommene organisationale Change-Readiness: Hierunter wird die kollektive, organisationale Überzeugung verstanden, eine Veränderung effektiv implementieren zu können. • Aktuelle Change-Readiness: Diese beschreibt die aktuelle Bereitschaft eines Unternehmens – einschließlich aller Hierarchieebenen –, eine Veränderung im Unternehmen zu initiieren und zu verankern. In Anlehnung an Rafferty et al. (2013) sowie Felfe und Bittner (2014) wird das Vorhandensein von Change-Readiness als Anreiz und damit als Motivation zum Wandel gesehen. Sie wird als einer der wichtigsten Faktoren erachtet, wenn es um die Unterstützung von Change-Initiativen geht (Armenakis et al. 1993). Die Bedeutung der Change-­Readiness wird auch von zahlreichen Studien belegt (Holt et al. 2007; Oreg et al. 2011). So plädieren Holt und Kollegen (2007) für das Herstellen eines Readiness-Zustands, bevor eine Veränderung initiiert wird, denn häufig versuchen Unternehmen, eine Veränderung zu imple-

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

179

mentieren, bevor die Mitarbeiter dazu bereit sind (Jones et al. 2005). Allerdings fokussiert das Konzept der Change-Readiness v. a. die erste Phase des Wandels und weniger dessen Umsetzung, die im Konzept der Change-Fitness beinhaltet ist.

2.3

Change-Fitness

Ein veränderungsfähiges und damit veränderungsfittes Unternehmen ist flexibler und agiler als ein veränderungsbereites (Kok und Driessen 2012). Motivationale Bereitschaft und Absichtserklärungen sagen noch nichts über eine tatsächliche Umsetzung geplanter und angekündigter Veränderungen aus. Wie auch Pfeffer und Sutton (1999) aufzeigen, wissen viele Unternehmen eigentlich, dass sie sich und was sie verändern sollten, dennoch verharren sie in ihrem aktuellen Zustand. So gehen die beiden Autoren der Frage nach, warum es große Unterschiede gibt zwischen dem, was Unternehmen tun sollten, und dem, was sie stattdessen tun. Warum besteht in vielen Organisationen eine Kluft zwischen vorhandenem Wissen und Expertise und deren Umsetzung in Handlungen und damit Veränderungen, die objektive Resultate erzeugen? Sydow et al. (2009) geben hierauf eine mögliche Antwort: Eine der Ursachen könnte in der Pfadabhängigkeit von Unternehmen und damit der Unternehmenskultur liegen, da die bestehenden Routinen im Denken und Handeln u. U. so stark etabliert und dominant sind, dass trotz vorhandenen Wissens, dass ein Change notwendig wäre, oftmals keine Veränderung initiiert wird. Judge (2011) definiert die organisationale Fähigkeit für Change als eine dynamische, multidimensionale Fähigkeit einer Organisation, deren vorhandene Kompetenzen zu verbessern und so deren Überleben zu sichern. Dem Anspruch kommt unser Konzept der Change-Fitness nach. Als Konzept deckt die Change-Fitness alle Phasen eines Veränderungsprozesses ab, die hierfür notwendigen Kompetenzen und den Kontext für eine erfolgreiche Umsetzung, unter Berücksichtigung verschiedener Funktionsebenen. Somit beinhaltet sie die Fähigkeit eines frühzeitigen Erkennens, ob und wann eine Veränderung notwendig ist; sie umfasst den Veränderungsprozess selbst mit den für eine erfolgreiche Implementierung notwendigen Kompetenzen und den für eine Veränderungsimplementierung förderlichen organisationalen Kontext. Zudem inkludiert das Konzept der Change-­ Fitness die Verstetigung einer erzielten Veränderung, die dann die Basis für einen neuerlichen Veränderungsprozess bildet. Damit beinhaltet das Konzept der Change-Fitness die zentralen Aspekte der Change-Readiness, doch geht Change-Fitness über das etablierte Konzept der Change-Readiness hinaus (Glor 2015). Denn zu den Fragen nach der Bereitschaft zur Veränderung (Rafferty et  al. 2013; Weiner 2009) und dem Umgang mit Widerständen im Veränderungsprozess (Ford und Ford 2010; Hon et al. 2014) hat sich in den letzten Jahren immer stärker die Frage nach der wirksamen Umsetzung gestellt (Shea et  al. 2014). Der erfolgreichen Implementierung kommt nach Huy et al. (2014) eine besondere Relevanz im Veränderungsprozess zu. Erst durch die erfolgreiche Umsetzung zeigt ein Veränderungsprozess seine Wirkung (Schwarz und Huber 2008). Da das Konzept der Change-Readiness die Umsetzungskompetenz nicht in ausreichendem Maß abdeckt (Shea et  al. 2014), gewinnt speziell die Fähigkeit der

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S. Sackmann et al.

­ irksamen Implementierung einer Veränderung in Organisationen zunehmend an Bedeuw tung (Walinga 2008). In der Praxis mag die zu geringe Berücksichtigung der Implementierung daran liegen, dass die Verantwortlichen das entsprechende Handwerkszeug nicht kennen (Buchanan und Boddy 1992). Werden die bestehenden Denk- und Verhaltensroutinen überwunden und werden beobachtbare Veränderungen implementiert, so müssen diese neu erprobten und angewendeten Denk- und Verhaltensweisen auch wieder in eine Routine überführt werden und damit zu einer Institutionalisierung der Neuerungen führen (Schulz 2003). Denn nur auf der Basis neuer Routinen bleiben Energie und Kapazität, weitere notwendige Change-Prozesse zu erkennen und diese umzusetzen. Diese, die Veränderungen abschließende Phase (Freezing) wird sowohl in der Praxis als auch in der Forschung wenig beachtet. Mögliche Gründe hierfür sind aufseiten der Praxis einerseits der ständige Veränderungsdruck und die häufige Ankündigung neuerlicher Veränderungsprozesse, andererseits besteht in dieser letzten Phase einer Veränderung die Gefahr, dass die noch wenig praktizierten neuen Denk- und Verhaltensweisen durch die etablierten und damit auch dominanten alten Routinen – speziell in Stresssituationen – verdrängt werden. Aufseiten der Forschung wird diese letzte Phase häufig nicht operationalisiert (Armenakis et al. 1993; Cummings et al. 2016) und damit auch nicht beachtet. Ein Grund hierfür könnte in der Schwierigkeit einer Operationalisierung liegen. Aus den voranstehenden Gründen ergibt sich die Notwendigkeit für ein Konzept, das alle Phasen eines Change-Prozesses gleichermaßen berücksichtigt und damit zur Change-­ Readiness die Umsetzung bzw. Implementierung mit einschließt, wie auch die letzte Phase der Institutionalisierung und damit der Verankerung bzw. Routinisierung von Veränderungen. All diese Aspekte sind im Konzept der Change-Fitness integriert. Die Institutionalisierung wird durch eine Erfolgsdimension berücksichtigt, mit der überprüft wird, inwieweit initiierte Veränderungsprozesse über einen definierten Zeitraum erfolgreich umgesetzt wurden. Denn nicht jeder Veränderungsprozess führt automatisch zu einer Verbesserung der Situation und nicht jeder Veränderungsprozess wird erfolgreich umgesetzt. Was bedeutet dies nun für die Führung und für Führungskräfte, die ihr Unternehmen Change-fit machen und halten wollen? Welche Herausforderungen ergeben sich aus den obigen Überlegungen für das Führungsverhalten? Diese Fragen werden wir nun auf der Basis der Ergebnisse und Erkenntnisse aus den Change-Fitness-Studien beleuchten. Nachfolgend werden zunächst Informationen zu unseren Studien gegeben und dann einige der daraus resultierenden zentralen Erkenntnisse für die Führung und für Führungskräfte dargestellt und diskutiert.

3

Informationen zu den Change-Fitness-Studien

Um einen Einblick in die Fähigkeit des wirksamen Umgangs mit Veränderungen bei Unternehmen im deutschsprachigen Raum mit Fokus auf Deutschland zu erhalten, führte das ­Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen der Universität der Bundeswehr München in Zusammenarbeit mit der Mutaree GmbH bisher vier von fünf Studien in den

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

181

Jahren 20101, 2012, 2014, 2016 und 2018 durch (s. Mutaree 2010, 2012, 2014, 2016, 2018). Auf der Basis der oben genannten Ausführungen operationalisierten wir zunächst das Konzept der Change-Fitness in Form eines Fragebogens, der alle Phasen eines Change-Prozesses abdeckt. Es wurde u. a. nach der Fähigkeit der frühzeitigen Erkennung notwendiger Veränderungen, den vorhandenen Change-­Kompetenzen der Organisation, der Führungskräfte und der Mitarbeiter, dem Controlling von Change-Prozessen, den Kontextbedingungen wie Strukturen, Prozesse, Systeme, Kultur und Ressourcen wie auch nach dem Erfolg bisher durchgeführter Veränderungsprozesse gefragt. Die Befragung war in fünf Teilbereiche mit rund 60 Fragen gegliedert. Die Datenerhebung basiert daher auf Einschätzungen und Erfahrungen von Mitgliedern der an der Studie teilnehmenden Unternehmen. Die Befragten sollten aus ihrer Sicht angeben, inwieweit sie den genannten Aussagen auf einer sechsstufigen Skala (1: stimme überhaupt nicht zu, 6: stimme voll und ganz zu) zustimmen. Zusätzlich enthielt der Fragebogen einige offene Fragen wie beispielsweise zu künftigen Herausforderungen. Nach einer telefonischen Kontaktaufnahme und der Bitte um Beteiligung wurde der Fragebogen anschließend mit einer Information zur Studie per E-Mail verschickt und die Befragten wurden zudem gebeten, den Link für den Fragebogen auch an weitere Personen und andere Hierarchieebenen in ihrem Unternehmen weiterzuleiten, um Antworten aus unterschiedlichen Perspektiven zu erhalten. Für ein Unternehmen sollte die Beantwortung der Fragen jeweils von einem Mitglied der Unternehmensleitung, von drei Führungskräften direkt unterhalb der Unternehmensleitung und von fünf Mitarbeitern vorgenommen werden, um die Zahlenverhältnisse in Organisationen zu replizieren. Um ein konkreteres Bild über die Stichprobe zu erhalten, stellen wir diese beispielhaft für die Studie 2016 mit einer Gesamtstichprobe von N = 408 vor. Bezüglich der Mitarbeiteranzahl bildeten sich drei Schwerpunkte: 26  % der Unternehmen hatten 1.000–5.000 Mitarbeiter, gefolgt von Unternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl von über 25.000 Mitarbeitern (23 %). Platz drei belegten kleinere Unternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl von unter 500 Mitarbeitern (20  %). Unternehmen mit einem Umsatzvolumen von über 1 Mrd. € (53 %) bildeten daher die Spitzengruppe, gefolgt von Unternehmen mit einem Umsatzvolumen von 45 Mio. bis 1 Mrd. € (32 %). Die Verteilung nach Branchen zeigte einen Schwerpunkt im Bereich Telekommunikation/Informationstechnologie/Medien/Entertainment (18 %), daran schlossen sich Kreditinstitute (14 %), Transport und Logistik (12 %) sowie Versicherungen (9 %) an. Die Gesundheitsbranche und der Maschinenbau waren auf gleicher Höhe mit jeweils 7 %, Energie- und Wasserversorgung sowie Fahrzeugbau (jeweils 5 %), Chemie und Pharma (3 %), Groß- und Einzelhandel (2 %) und Öffentliche Verwaltung (2 %). Die ­Konsumgüterindustrie (1 %) bildete das Schlusslicht. Die restlichen 15 % verteilten sich auf andere Branchen wie Unternehmens-/Rechts-/Steuerberatung, Verkehr (öffentlich und Luftfahrt, Finanzdienstleistung der öffentlichen Hand, Elektrotechnik, Dienstleistung allgemein).  Die Studie 2010 wurde von der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) betreut. 1

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Mit 127 Antworten (45 %; Studie 2014: 30 %) zeigte die Mitarbeitergruppe wie geplant die höchste Beteiligung, gefolgt von den Führungskräften unterhalb der ersten Führungsebene mit 118 Antworten (41 %; Studie 2014: 47 %) und der Unternehmensleitung mit 40 Antworten (14 %; Studie 2014: 23 %). Die Altersgruppen zwischen 35 und 45 Jahren (35 %) und >45–55 Jahren (37 %) bilden den demografischen Schwerpunkt in der Altersstruktur der Antwortenden, wobei 54 der Studienteilnehmer gerade schon zur Generation Y zu zählen sind, d. h. zu denjenigen, die nach 1980 geboren sind. Darüber hinaus gaben über die Hälfte der Antwortenden (55 %) eine Betriebszugehörigkeit von bis zu zehn Jahren an. Insgesamt haben über die fünf Messzeitpunkte 1.603 Personen den Fragebogen beantwortet (2010: 184; 2012: 298; 2014: 345; 2016: 408; 2018: 368). Die Auswertung der Daten erfolgte mit Microsoft Excel 2010 und der Statistik-­Software SPSS für Windows, Version 22. Berechnet wurden deskriptive Statistiken (Mittelwerte, Standardabweichungen und Häufigkeiten) sowie einfaktorielle Varianzanalysen als Signifikanztests, um mögliche Mittelwertunterschiede zwischen verschiedenen Gruppen wie beispielsweise den drei Hierarchieebenen Unternehmensleitung, Führungskraft, Mitarbeiter aufzudecken.

4

 rkenntnisse zu Erfolgsquote, positiven und kritischen E Aspekten im Umgang mit Change

Im Kontext dieses Beitrags fokussieren wir die Ergebnisse und Erkenntnisse aus den Change-Fitness-Studien, die von besonderer Bedeutung für die Führung und für Führungskräfte sind, um ihr Unternehmen Change-fit zu machen oder zu erhalten. Dies betrifft die konkret durchgeführten Veränderungen und deren Erfolg, die Stärken und Schwächen in Change-Prozessen sowie die unterschiedliche Sichtweise der drei Hierarchieebenen gegenüber zentralen Change-Themen inklusive der künftigen Herausforderungen. Da sich diese unterschiedliche Sichtweise in allen fünf durchgeführten Studien zeigt, liegt der Schwerpunkt in diesem Beitrag hierauf.

4.1

 ie sieht es mit dem Erfolg von Change-Prozessen und den W wichtigsten Veränderungen aus?

Alle fünf Studien belegen die Bedeutung von Change für Unternehmen. So zeigen die Ergebnisse über den Zeitraum von acht Jahren, dass fast alle Unternehmen, die sich an den Studien beteiligten, von Change-Prozessen betroffen waren. Daher ist es umso erstaunlicher, dass die Erfolgsquoten der durchgeführten Veränderungsprozesse im Schnitt über die Jahre nicht sonderlich hoch eingeschätzt wird, wie Abb. 1 zu entnehmen ist. Die Prozentsätze der Befragten, die eine Erfolgsquote von 50 % und höher angaben, sind für die Jahre • 2010: 49 % • 2012: 56 % • 2014: 63 %

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

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Abb. 1  Erfolgsquote der im Unternehmen in den letzten zwei Jahren durchgeführten Veränderungen

• 2016: 51 % • 2018: 51 % In Anbetracht der Bedeutung von Change für Unternehmen sollten daher Führungskräfte dem nachhaltigen Umsetzungsprozess von Change-Initiativen und der Verstetigung der erzielten Veränderungen eine größere Bedeutung beimessen, als dies bisher erfolgte. Bezüglich der durchgeführten Change-Initiativen zeigt sich, dass die Prioritäten über die Jahre wie auch über Unternehmen und Branchen, bedingt durch Herausforderungen des Unternehmensumfelds, wechseln. So waren strategische Neuerungen besonders 2010 (nach der Finanz- und Wirtschaftskrise) von Bedeutung. Im Jahr 2012 waren Outsourcing, Prozessoptimierung, neue Unternehmensleitung und speziell bei größeren Firmen Merger und Akquisitionen angesagt. Die Einführung neuer Unternehmenswerte war neben der Reorganisation und Prozessoptimierung für viele der an der Studie beteiligten Unternehmen ein Thema im Jahr 2014. Auch 2016 stellten Prozessoptimierung, Reorganisation und strategische Neuausrichtung die wichtigsten Veränderungsprozesse dar. Interessanterweise zeigen die Studien von 2016 und 2018, dass sich Firmen, die eher erfolgreich im Umgang mit Veränderungen sind, u. a. durch ihre strategische Neuausrichtung von weniger erfolgreichen Unternehmen im Umgang mit Change-Prozessen abheben.2 Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der im Hinblick auf das externe Unternehmensumfeld frühzeitigen Erkennung notwendiger Veränderungsprozesse und eine damit verbundene strategische Neuausrichtung.

4.2

Positive Aspekte im Umgang mit Change

Mit Blick auf die Ergebnisse der Change-Fitness-Befragung von 2016 fallen einige positive Aspekte auf. Unter positiven Aspekten werden solche aufgeführt, denen auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 6 (stimme voll und ganz zu) ein Wert mit und  Unternehmen, die eher erfolgreich im Umgang mit Veränderungen sind, wurden als solche definiert, die ihre Erfolgsquote bei Veränderungen mit mehr als 75 % angegeben haben; weniger erfolgreiche Unternehmen wurden als solche definiert, die bei erfolgreich abgeschlossenen Veränderungen mit weniger als 25 % geantwortet haben. 2

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S. Sackmann et al.

über 4 gegeben wurde. So wurden Veränderungen vorwiegend top-down initiiert. Bei der Kommunikation wurde v. a. schriftliche Kommunikation im Change-Prozess eingesetzt. Kommuniziert wurden vorwiegend die Ziele und Chancen von Change-Prozessen. Workshops stellen das Instrument der ersten Wahl bei Change-Prozessen dar. Den Führungskräften wurde konstatiert, dass sie den Nutzen und die Ziele der geplanten Veränderungen verstehen. Laut Studienteilnehmern verfügen die Unternehmen über generell qualifizierte Mitarbeiter, die ihre Anliegen in individuellen Gesprächen mit dem Vorgesetzten bei Change-­Prozessen vorbringen können. Allerdings bestand bei letztem Punkt ein großer Unterschied in der Beantwortung durch die unterschiedlichen Ebenen, auf den wir weiter unten ausführlicher eingehen werden. Im Hinblick auf die Anzahl der Fragen der Change-Fitness-Studien wird deutlich, dass vorwiegend traditionelles Wissen um Change eingesetzt wird, und dass trotz all dieser positiven Aspekte nach wie vor ein großes Verbesserungspotenzial im Umgang mit Veränderungsprozessen besteht.

4.3

Besonders kritische Aspekte im Umgang mit Veränderungen

Als besonders kritisch wurden solche Themen eingestuft, deren Beantwortung unter 3 auf der oben genannten Skala von 1 bis 6 lag. Hier fällt auf, dass Veränderungen in Unternehmen kaum bottom-up initiiert werden. Im Hinblick auf die Herausforderungen der Digitalisierung und die entsprechende Qualifikation jüngerer Mitarbeiter sowie den Ruf nach Agilität könnte dieser Top-down-Fokus künftig ein Problem darstellen. Obwohl Widerstand ein Thema bei jedem Veränderungsprozess darstellt, werden im Vorfeld kaum Maßnahmen entwickelt, wie man diesem bei einem Change-Prozess begegnen kann. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass der Umgang mit Widerstand als wenig wirksam eingeschätzt wird. Informelle Netzwerke werden kaum als Veränderungsinstrument genutzt. Auch die Abstimmung von Systemen, Instrumenten, Strukturen und Arbeitsprozessen in und mit einem gegebenen Veränderungsprozess wird als ­verbesserungswürdig betrachtet. Für den Veränderungsprozess selbst fehlt es an adäquat ausgebildeten Change-Management-Teams, und obwohl die Mitarbeiter als qualifiziert eingeschätzt wurden, sind sie bei einer Veränderung zu wenig mit den passenden Problemlösungsmethoden vertraut. Dieses Manko an Qualifikationen im Umgang mit Change wird auch nicht häufig genug durch den Einsatz externer Change Agents ausgeglichen. Für die Anliegen der Mitarbeiter werden eher traditionelle Methoden wie das direkte Gespräch mit dem Vorgesetzten eingesetzt, doch kaum hierarchiefreie Dialogprozesse, informelle Netzwerke, dialogorientierte Großgruppen oder moderierte Online-Foren. Nach wie vor fühlen sich Mitarbeiter nicht ausreichend in Veränderungsprozesse einbezogen, obwohl die Change-Literatur seit den späten 1950er-Jahren regelmäßig darauf hinweist, dass gerade eine frühzeitige Einbindung der Mitarbeiter, die von einem Veränderungsprozess betroffen sind, einen positiven Einfluss auf eine nachhaltig wirksame Umsetzung hat. Veränderungsunterstützendes Verhalten wird zu wenig belohnt und Anreizsysteme werden auch kaum als Veränderungsinstrument eingesetzt, da sie teilweise auch nicht als hierfür sinnvoll angesehen werden.

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

185

Laut Studienteilnehmern gelingt es den Führungskräften zu wenig, ein Zukunftsbild zu entwickeln sowie die bestehenden Denkmuster ihrer Mitarbeiter aufzubrechen und neue Einsichten zu vermitteln. Ähnlich wie bei den Mitarbeitern wird auch bei den Führungskräften bemängelt, dass sie zu wenig mit den für einen Veränderungsprozess passenden Problemlösungsmethoden vertraut sind. Insgesamt zeigen die Ergebnisse über die Jahre der durchgeführten Studien, dass die Kompetenzen im Umgang mit Veränderungsprozessen, die gerade für eine nachhaltige Implementierung wichtig sind, trotz allem vorhandenen Wissen Handlungsspielraum für Verbesserung geben. Herausstechend sind weiter die sich über die Jahre durchziehenden unterschiedlichen Sichtweisen des Top-Managements, der mittleren Ebene der Führungskräfte sowie der Mitarbeiter. Letztere beide Themen werden nachfolgend behandelt.

5

 nterschiedliche Perspektiven auf Change-Projekte und U Change-­Prozesse

Über alle fünf Studien zeigen sich signifikante Unterschiede in der Wahrnehmung von Change-relevanten Themen zwischen dem oberen Management, der mittleren Führungsebene und den Mitarbeitern. Diese funktions- bzw. hierarchiebedingten Wahrnehmungsunterschiede betreffen sämtliche Themenfelder der Change-Fitness. Diese sind organisationale Fähigkeiten zur Identifikation von Veränderungsnotwendigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit, die Kontextbedingungen für Veränderungsprojekte mit dem entsprechenden Projektmanagement sowie die Führung in Change-Prozessen inklusive der Kommunikation und der Beteiligung von Mitarbeitern. Nachfolgend werden zunächst die Ergebnisse aus der Studie 2016 dargestellt und anschließend mögliche Gründe für diese unterschiedliche Wahrnehmung zwischen den Hierarchieebenen mit ihren Implikationen diskutiert.

5.1

 rgebnisse zu den Wahrnehmungsunterschieden von E Unternehmensleitung, mittlerer Führungsebene und Mitarbeitern

Die nachfolgende Ergebnispräsentation und die entsprechenden Grafiken sind nach den zentralen Change-Themen geordnet und zeigen die weitgehend – auch statistisch signifikanten  – unterschiedlichen Sichtweisen der Unternehmensleitung, der mittleren Führungskräfte und der Mitarbeiter bezüglich der Change-Fitness.

5.1.1 F  rühzeitiges Erkennen der Notwendigkeit einer Veränderung und schnelle Reaktion des Unternehmens Ein frühzeitiges Erkennen notwendiger Veränderungen kombiniert mit der entsprechenden Umsetzung ist wichtig für Unternehmen, um ihre Überlebensfähigkeit erhalten zu können. Die Abb. 2 zeigt die unterschiedlichen Sichtweisen der drei Funktionsebenen und die wesentlich positivere Einschätzung der Unternehmensleitung mit 69 % im Vergleich zu

186

S. Sackmann et al.

46% Wenn in unserem Unternehmen eine Veränderung stattfindet, dann wird die Notwendigkeit hierfür frühzeitig erkannt

54% 69%

57% Unser Unternehmen reagiert schnell auf notwendige Veränderungen

64% 65%

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Mitarbeiter

Führungskraft

Unternehmensleitung

Abb. 2  Frühzeitiges Erkennen notwendiger Veränderungen und die Reaktionsgeschwindigkeit der Unternehmen darauf

den Führungskräften mit 54 % und den Mitarbeitern mit 46 %. Bei der Frage nach der Reaktionsgeschwindigkeit des Unternehmens auf notwendige Veränderungen deckt sich die Wahrnehmung der Führungskräfte (Zustimmung 64 %) fast mit derjenigen der Unternehmensleitung (Zustimmung 65 %) und liegt damit höher als die Einschätzung der Mitarbeiter mit 57 % Zustimmung. Diese unterschiedliche Sichtweise der Mitarbeiter könnte auch ein Indiz dafür sein, dass sie mehr Veränderungsbedarf erkennen als die Führungskräfte und die Unternehmensleitung.

5.1.2 Change-förderliche Kontextbedingungen Für einen wirksamen Umgang mit Veränderungen braucht es eine unterstützende Unternehmenskultur, die sich auch im entsprechenden Umgang mit Fehlern manifestiert sowie den Werten des Managements. Die Abb. 3 zeigt die unterschiedliche Sichtweise von Unternehmensleitung, mittlerem Management und Mitarbeitern zu diesen Themenbereichen. Die Unternehmensleitung sieht mit 73 % Zustimmung die Unterstützung von Veränderungen durch die Unternehmensleitung wesentlich positiver als die mittleren Führungskräfte (58 % Zustimmung) und die Mitarbeiter (52 % Zustimmung). Wesentlich weiter entfernt von der Sichtweise der Mitarbeiter und Führungskräfte ist das Top-Management beim Umgang mit Fehlern. Während 77  % der Unternehmensleitung davon überzeugt sind, dass in der Vergangenheit aus Fehlern gelernt wurde, stimmen dem nur 47 % der Führungskräfte und 43 % der Mitarbeiter zu. Ähnlich groß ist der Abstand zwischen den drei Hierarchieebenen bei der Auffassung, dass die Entscheidungen des Managements bei Veränderungsprozessen im Einklang mit den Werten des Unternehmens standen. Die geringe Ausprägung der Zustimmung von 28 % bei den Mitarbeitern, 34 % bei den Führungskräften und selbst nur 56 % bei der Unternehmensleitung sollte bedenklich stimmen, da dies ein Anzeichen für die Unglaubwürdigkeit initiierter Veränderungsprozesse sein könnte.

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

187

52%

In der Vergangenheit hat unsere Unternehmenskultur Veränderungen unterstützt

58%

43% 47%

In der Vergangenheit wurden Fehler genutzt, um aus ihnen zu lernen In der Vergangenheit standen in den Veränderungsprozessen die Entscheidungen des Managements im Einklang mit den Werten unseres Unternehmens

28%

In der Vergangenheit verfügen wir über die für die erfolgreiche Umsetzung einer Veränderung notwendigen Voraussetzungen... [... geeignete Strukturen und Arbeitsprozesse]

34%

33%

In der Vergangenheit fördern die vorhandenen Rahmenbedingungen Veränderungsprozesse durch ...ausreichende Ressourcenbereitstellung

30%

0%

20% Mitarbeiter

73%

77%

56%

52%

38%

40% Führungskraft

74%

54% 60%

80%

100%

Unternehmensleitung

Abb. 3  Kontextbedingungen von Change-Prozessen

Bezüglich der für eine Umsetzung geeigneten Instrumente, Systeme, Strukturen und Arbeitsprozesse liegt die Einschätzung der drei Funktionsbereiche weit auseinander. Nur für 33 % der Mitarbeiter sind diese Umsetzungsvoraussetzungen gegeben im Vergleich zu 52 % der Einschätzung von Führungskräften und 74  % Zustimmung bei der Unternehmensleitung. Bei der Ressourcenbereitstellung liegt die Unternehmensleitung mit 54 % Einschätzung etwas näher bei den Führungskräften (38 % Zustimmung) und den Mitarbeitern (30 % Zustimmung), die hier jeweils einen großen Handlungsbedarf sehen.

5.1.3 Befähigung der Mitarbeiter und ihr Umgang mit Belastungen Auch bei der Befähigung der Mitarbeiter im Umgang mit den Belastungen, die ein Veränderungsprozess mit sich bringt, klaffen die Sichtweisen der drei Funktionen bzw. Ebenen auseinander, wie Abb. 4 verdeutlicht. Während die Unternehmensleitung mit einer Zustimmung von 90 % ein sehr positives Bild von der Befähigung ihrer Mitarbeiter hat, den künftigen Anforderungen gerecht zu werden, sehen dies die Führungskräfte und Mitarbeiter wohl realistischer, wobei sie mit ihren Einschätzungen von 65 % und 64 % nah beieinanderliegen. Bei der Zustimmung bezüglich der Befähigung einer Umsetzung der Veränderungen zeigt die Unternehmensleitung mit 61 % ein etwas realistischeres Bild, doch liegt diese Einschätzung auch über derjenigen der Führungskräfte mit 54 % und weit über der Einschätzung der Mitarbeiter mit 41 %. Auch hier wäre angesagt, die Mitarbeiter aktiver nach deren notwendigen Qualifikationen für Change-Prozesse zu befragen und eine entsprechende Qualifizierung einzuleiten. Den Umgang mit Belastungen sehen die Mitarbeiter mit ihrer Einschätzung von 52 % positiver, doch wesentlich geringer als die Einschätzung der Unternehmensleitung von 72 %.

188

S. Sackmann et al.

64%

In Change-Prozessen werden die Mitarbeiter befähigt, den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden

65% 90%

41%

In Change-Prozessen fühlen sich die Beteiligten befähigt, die Veränderungen umzusetzen

54% 61%

52%

In Change-Prozessen können die Mitarbeiter mit den im Veränderungsprozess entstehenden Belastungen umgehen

0%

47% 72%

20% Mitarbeiter

40% Führungskraft

60%

80%

100%

Unternehmensleitung

Abb. 4  Befähigung der Mitarbeiter und ihr Umgang mit Belastungen in Change-Prozessen

Interessanterweise liegt hier die Zustimmung der Führungskräfte mit 47 % unter derjenigen der Mitarbeiter selbst (52 %), die ihnen wohl weniger zutrauen.

5.1.4 Projektmanagement im Change Geplante Veränderungsprozesse bedürfen eines guten Projektmanagements, das eine realistische Planung, wirksame Steuerung und auch ein Controlling umfasst. In Abb. 5 sind die Einschätzungen zu neun der in diesem Bereich gestellten Fragen aufgeführt. Interessanterweise besteht bei den drei Funktionsgruppen mit 74 % bzw. 73 % Zustimmung eine große Übereinstimmung darüber, dass in der Vergangenheit Veränderungen durch einen klar definierten Prozess gesteuert wurden. Doch dann weichen die Einschätzungen voneinander ab, allerdings bis auf die Verbesserung der Ausgangssituation nicht so stark wie bei den anderen Change-relevanten Themenbereichen. Die Entwicklung von Maßnahmenplänen im Umgang mit Widerstand wird von den Mitarbeitern (41 % Zustimmung) und Führungskräften (43 % Zustimmung) ähnlich, doch niedriger eingeschätzt als von der Unternehmensleitung mit 54 %. Der Abschluss von Veränderungen im geplanten Zeitraum wird von den drei Funktionsbereichen wieder unterschiedlich eingeschätzt: von Mitarbeitern mit 46 % am niedrigsten, gefolgt von den Führungskräften mit 54 % und der Unternehmensleitung mit 60 %. Ähnlich wird der Umgang mit dem Budget von der Unternehmensleitung (60 % Zustimmung) und den Führungskräften (56 % Zustimmung) gesehen, doch die Mitarbeiter stufen die Einhaltung des Budgets nur bei 40 % ein. Auch bei der Einschätzung der Ergebnismessung von Veränderungsprozessen liegen die Einschätzungen der drei Funktionsbereiche bzw. Hierarchieebenen etwas auseinander. Klassisch werden die Ergebnisse am meisten anhand der Kosten gemessen, wobei die

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

189 74% 73% 74%

In der Vergangenheit wurden Veränderungen durch einen klar definierten Prozess gesteuert In der Vergangenheit wurden im Vorfeld Maßnahmenpläne entwickelt, um Widerstände bei Veränderungen entgegenzuwirken

41% 43%

54%

46%

In der Vergangenheit wurden die durchgeführten Veränderungen abgeschlossen im geplanten Zeitraum In der Vergangenheit wurden die durchgeführten Veränderungen abgeschlossen mit dem geplanten Budget In der Vergangenheit wurden die Ergebnisse der Veränderungen anhand von Mitarbeiter- und Führungskräftefluktuation gemessen In der Vergangenheit wurden die Ergebnisse der Veränderungen anhand von Kostenreduktion gemessen In der Vergangenheit wurden die Ergebnisse der Veränderungen anhand von Kundenzufriedenheit gemessen In der Vergangenheit wurden die Ergebnisse der Veränderungen anhand von Prozessoptimierung gemessen

54%

40%

39%

60%

56% 60% 47% 49%

67%

75% 79%

61% 60% 56% 39%

47% 49% 49% 54%

In der Vergangenheit hat die durchgeführte Veränderung die Ausgangssituation verbessert 0%

20% Mitarbeiter

40% Führungskraft

60%

79%

80%

100%

Unternehmensleitung

Abb. 5  Projektmanagement im Change

Führungskräfte (79 % Zustimmung) und die Mitarbeiter (75 % Zustimmung) den Kostenfokus wohl am meisten spüren, denn die Unternehmensleitung liegt mit ihrer Einschätzung von 67 % um einiges darunter. Die Messung anhand von Mitarbeiter- und Führungskräftefluktuation wird genauso hoch wie die Messung anhand von Prozessoptimierungen gesehen, wobei die Einschätzungen von der Unternehmensleitung (49 %) und den Führungskräften (47 %) eng beieinander, doch um einiges höher liegen als die der Mitarbeiter mit einer Einschätzung von 39 %. Bei der Messung des Ergebnisses von Veränderungsprozessen anhand von Kundenzufriedenheit liegen die Einschätzungen der drei Hierarchieebenen recht nah beieinander, wobei die Unternehmensleitung hier die niedrigste Einschätzung mit 56  % aufweist. Umgekehrt sieht es bei der Einschätzung bezüglich der Verbesserung der Ausgangssituation durch die Veränderungen aus: Hier ist die Unternehmensleitung mit ihrer Einschätzung von 79 % wesentlich optimistischer als die Führungskräfte mit 54 % Einschätzung und die Mitarbeiter mit 49 %. Diese Beurteilung wirft einerseits die Frage auf, ob wirklich jede Veränderungsinitiative tatsächlich auch notwendig ist und andererseits die Notwendigkeit einer besseren Unterstützung in Veränderungsprozessen für eine nachhaltige Umsetzung besteht.

5.1.5 Führung in Change-Prozessen Führung spielt eine wesentliche Rolle für die nachhaltige Wirksamkeit von Change-­ Prozessen (Kotter 1996; Sackmann et al. 2009). Die in Abb. 6 aufgeführten Ergebnisse geben einen Einblick in sieben zentrale Themen der Führung in Veränderungsprozessen.

190

S. Sackmann et al.

In Change-Prozessen verstärken unsere Führungskräfte die Eigenmotivation der Mitarbeiter, indem sie neue Einsichten vermitteln

43% 41%

In Change-Prozessen verstärken unsere Führungskräfte die Eigenmotivation der Mitarbeiter, indem sie etablierte Denkmuster aufbrechen

26%

70%

33%

60%

In Change-Prozessen verstärken unsere Führungskräfte die Eigenmotivation der Mitarbeiter, indem sie den Veränderungsprozess aktiv unterstützen

53%

In Change-Prozessen stehen unsere Führungskräfte hinter der angestrebten Veränderung

64%

83%

64% 65%

In Change-Prozessen fördern unsere Führungskräfte die Mitarbeiter durch entsprechende Wertschätzung

36%

In Change-Prozessen kennen die beteiligten Personen ihre Rolle mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten

55%

44%

In Change-Prozessen gibt unsere Unternehmensleitung die hierfür notwendige Unterstützung

38%

0%

20% Mitarbeiter

53%

44%

40% Führungskraft

79%

74%

69%

64%

60%

80%

100%

Unternehmensleitung

Abb. 6  Führung in Change-Prozessen

Interessanterweise liegen bei sechs der sieben Fragen die Einschätzungen der Führungskräfte näher bei der Mitarbeitereinschätzung und wesentlich weiter entfernt von der Einschätzung der Unternehmensleitung. Von den befragten Top-Managern haben 60 % den Eindruck, dass ihre Führungskräfte bei den Mitarbeitern etablierte Denkmuster aufbrechen und so deren Eigenmotivation ­verstärken können. Die Mitarbeiter (Zustimmung 26 %) sehen dies überhaupt nicht so und auch nicht die Führungskräfte mit einer Zustimmung von 33 %. Auch die Verstärkung der Eigenmotivation der Mitarbeiter aufgrund der Vermittlung neuer Einsichten durch die Führungskräfte schätzt die Unternehmensleitung mit 70 % Zustimmung wesentlich höher ein als die Mitarbeiter selbst (Zustimmung 43 %) und die Führungskräfte (41 %). Bei der Verstärkung der Eigenmotivation der Mitarbeiter aufgrund der aktiven Unterstützung der Veränderungsprozesse durch die Führungskräfte sieht die Situation positiver aus. Während immerhin gut die Hälfte der Mitarbeiter (53 %) dieser Aussage zustimmen und die Führungskräfte zu 64 %, hat die Unternehmensleitung mit einer Zustimmung von 83 % eine sehr positive Meinung von ihren Führungskräften. Immerhin sind Mitarbeiter und Führungskräfte mit einer Zustimmung von 64 % bzw. 65 % fast gleicher Meinung, dass die Führungskräfte hinter den angestrebten Veränderungen stehen. Die Unternehmensleitung sieht ihre Führungskräfte wiederum wesentlich positiver mit einer Zustimmung von 79 %.

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

191

Fast ähnlich hoch, mit 74 % Zustimmung, ist die Unternehmensleitung der Meinung, dass ihre Führungskräfte den Mitarbeitern gegenüber entsprechende Wertschätzung zeigen. Die Führungskräfte sind hier weniger optimistisch mit ihrer Zustimmung von 55 %, die Mitarbeiter sehen dies mit einer Zustimmung von 36 % wesentlich kritischer. Auch bei den Verantwortlichkeiten klaffen die Einschätzungen der drei Hierarchieebenen auseinander. Wiederum ist die Unternehmensleitung mit einer Zustimmung von 69 % wesentlich optimistischer als die Führungskräfte selbst (Zustimmung 53 %) und die Mitarbeiter (Zustimmung 44 %). Noch etwas kritischer sieht das Bild bei der Einschätzung der notwendigen Unterstützung durch die Unternehmensleitung aus: Diese ist mit einer Zustimmung von 64 % zwar vorsichtiger in ihrer Einschätzung, doch wesentlich positiver als die Führungskräfte mit einer Zustimmung von 44 % und die Mitarbeiter mit einer Zustimmung von 38 %. Diese Ergebnisse legen insgesamt nahe, dass die Unternehmensleiter einen sehr positiven Eindruck von ihren Führungskräften bezüglich deren Führungsverhalten gegenüber ihren Mitarbeitern bei Veränderungsprozessen haben. Die Führungskräfte selbst sind kritischer, doch immer noch weniger kritisch als die betroffenen Mitarbeiter selbst.

5.1.6 Zukünftige Herausforderungen Die Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Funktions- bzw. Hierarchieebenen spiegeln sich auch in den zukünftigen Herausforderungen wider, die mit einer offenen Frage erfasst wurden. Nachfolgend sind die zehn am häufigsten genannten Herausforderungen jeweils spezifisch für eine Funktions- bzw. Hierarchieebene aufgeführt. Unternehmensleitung • • • • • • • • • •

Trotz sehr dynamischen Umfelds ein festes Zukunftsbild erzeugen Nachhaltigkeit erzeugen Steigende Anzahl und Schnelligkeit von Veränderungen Mit dem Unplanbaren entspannt umgehen Veränderungsresistenz der Mitarbeiter Kultureller Wandel/Werte Betroffene Führungskräfte und Mitarbeiter überzeugen und mitnehmen Führungskräfte stärken und im Veränderungsprozess unterstützen Ressourcen bereitstellen Ziele klar formulieren

Mittlere Führungskräfte • • • •

Fortlaufende Veränderungen und Komplexität Eine Fehlerkultur wollen (!) und dann auch etablieren Mitarbeiter von der Notwendigkeit der Veränderung überzeugen Ein grundsätzliches Wertesystem etablieren

192

• • • • • •

S. Sackmann et al.

Hierarchiedenken abschaffen Change Management nicht als Feuerwehrfunktion, sondern präventiv einsetzen Verantwortungsübernahme durch Mitarbeiter fördern Frühzeitige Einbindung der Mitarbeiter Regelmäßige Kommunikation Bewusstes, gemeinsames Lernen von Change-Methoden

Mitarbeiter • • • • • • • • • •

Erkennen von Wandel und Notwendigkeit zum Wandel Alle betroffenen Mitarbeiter überzeugen Klare, transparente, verbindliche Ziele und Projektstrukturen Bereitschaft zur Veränderung Die Einstellung der Führungskräfte Einbezug der Mitarbeiter Handlungsfreiheit der Mitarbeiter bewahren Mitarbeiter mitnehmen, überzeugen, motivieren Vermittlung eines positiven Zukunftsbilds Kommunikation mit den Mitarbeitern

Zwar spiegeln diese Aufzählungen auch die konkrete Situation der jeweiligen Unternehmen wider, doch verdeutlichen sie die funktionsspezifisch geprägte Wahrnehmung. In ihrer gestalterischen und strategischen Funktion sollte die Unternehmensleitung den Bedarf für eine Veränderung frühzeitig erkennen und diese initiieren. Darüber hinaus entwickelt die Unternehmensleitung eine Strategie zur Umsetzung und unterstützt die Mitarbeiter im Prozess der Umsetzung (Lockett et al. 2014). Damit beinhaltet Führung im Kontext von Veränderungen sowohl eine Leadership- als auch eine Managementfunktion (Kotter 1990; Schumpeter 1994). Die für Veränderungsprozesse notwendige Change-­Kompetenz bei Führungskräften ist daher von großer Bedeutung für deren Gelingen und sollte nach Krummaker und Vogel (2013) gesteigert werden. Die mittlere Führungsebene hat die Hauptaufgabe, die Perspektiven zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern zu verknüpfen, Komplexität zu reduzieren, Probleme zu lösen und ihre Mitarbeiter zu befähigen, die initiierten Veränderungen mit umzusetzen. Führungskräfte können jedoch mit ihrem Verhalten diesen Prozess fördern oder behindern (Raelin und Cataldo 2011). Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Führungskräfte der Sachorientierung und der Managementfunktion im Change wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenken als der Leadership-Komponente, die sich stärker auf die betroffenen Menschen bezieht. Dies mag auch erklären, dass beispielsweise kaum eine Planung im Umgang mit Widerständen erfolgt, die jedoch Teil eines Veränderungsprozesses sind (Ford und Ford 2010). Diese funktions- und aufgabenbedingten Wahrnehmungsunterschiede müssen von Führungskräften berücksichtigt werden und dem damit verbundenen Konfliktpotenzial so weit wie möglich entgegenwirken.

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

6

193

 iskussion der Ergebnisse mit ihren Implikationen für D Führungskräfte

Wie die aufgeführten Ergebnisse gezeigt haben, besteht trotz all dem vorhandenen Wissen um Change ein Handlungsbedarf, v. a. bei dessen Umsetzung in die Praxis. Dies betrifft sämtliche Aspekte und Phasen eines Change-Prozesses – angefangen beim frühzeitigen Erkennen der Notwendigkeit einer Veränderung (Starbuck und Hedberg 2001) bis hin zur Planung, Umsetzung und dem Controlling der initiierten Veränderung mit den hierfür entsprechend notwendigen Kompetenzen auf allen Ebenen. Zwar ist die Bereitschaft zur Veränderung oft gegeben, doch die tatsächliche, effektive Umsetzung im Unternehmen hingegen nicht (Huy et  al. 2014; Walinga 2008). Der Führung kommt im Change-Prozess somit eine zentrale Rolle zu, wie bereits Stewart und Kringas (2003) betonten. Bei der Initiierung eines Change-Prozesses sollten gerade im Hinblick auf eine größere Agilität auch Bottom-up- und Middle-in-Prozesse berücksichtigt und von der Führung zugelassen werden, da ja Mitarbeiter vor Ort und im Kontakt mit Kunden und Wettbewerbern Informationen vom Markt und seinen Entwicklungen mitbringen. Für die Umsetzung eines Change-Prozesses ist es wichtig, betroffene Führungskräfte und Mitarbeiter entsprechend zu qualifizieren, sie frühzeitig in den Veränderungsprozess mit einzubeziehen und die Rollen sowie die jeweiligen Verantwortlichkeiten zu klären. Bei der Kommunikation wäre wichtig, auch über Risiken aufzuklären und aufzuzeigen, was passieren kann, wenn eine Veränderung nicht durchgeführt wird. Für eine nachhaltige Veränderung sind zudem die Kontextbedingungen wichtig. Hierzu gehören eine Unternehmenskultur, die die Neuerungen unterstützt, sowie entsprechend ­abgestimmte Managementinstrumente, Systeme, Strukturen und Arbeitsprozesse. Ebenso ist es wichtig, die für eine Veränderung notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Dies betrifft nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch qualifizierte Führungskräfte und Mitarbeiter, ein entsprechend qualifiziertes Change-Team oder eventuell auch das Hinzuziehen externer Experten bzw. Change Agents. Zudem sollte die Führung berücksichtigen, dass es ein entsprechend notwendiges Zeitbudget benötigt, um sich in einem Change-Prozess zu engagieren. Häufig werden Mitarbeiter und Führungskräfte zu ihrer regulären Arbeit noch on-top mit einem Change-Prozess betraut, ohne dafür die zeitlichen Ressourcen eingeplant zu haben und ohne eine Änderung der Arbeitsprioritäten. In solchen Fällen verwundert es dann nicht, dass die Umsetzung der Veränderungsinitiative nicht richtig gelingt oder wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als geplant. Auch die durch die verschiedenen Aufgabenbereiche, Funktionen und Hierarchieebenen bedingten unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen Unternehmensleitung, mittlerer Führungsebene und Mitarbeitern sollten von der Führung bei Change-Prozessen stärker berücksichtigt werden. Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind auf Basis der Theorie des Sozialkonstruktivismus (Berger und Luckmann 1969) nachvollziehbar, da eine bestimmte Lebenswelt die Wahrnehmung und damit auch die Perspektive einer Person beeinflusst. Da die Unternehmensleitung, das mittlere Management und die Mitarbeiter mit jeweils unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen betraut sind, hat dies auch Einfluss

194

S. Sackmann et al.

auf die Wahrnehmung von Change-Initiativen und -Prozessen (Bryant und Stensaker 2011). Während die Unternehmensleitung mit ihrer strategischen Funktion für die Initiierung und Unterstützung der Veränderung verantwortlich ist, sollen die Mitarbeiter diese angekündigten Veränderungen im Unternehmen umsetzen. Das mittlere Management hat die Aufgabe, die Initiativen und Vorgaben des Top-Managements seinen Mitarbeitern nachvollziehbar und damit ebenen- und funktionsspezifisch zu vermitteln und mit für die Umsetzung zu sorgen (Huy 2002). In dieser Übersetzungsleistung, die ja auch eine zeitliche Verzögerung mit sich führt, liegt ein großes Konfliktpotenzial speziell in Bezug auf die Erwartungen der Unternehmensleitung an einen Veränderungsprozess und seine Umsetzung durch die Führungskräfte und Mitarbeiter. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Unternehmensleitung in ihrer strategischen Funktion vorwiegend zu optimistisch zeigt, was die Anzahl der Veränderungen und die Geschwindigkeit der Umsetzung betrifft. Mitarbeiter sind in ihrer operativen Funktion mit den Herausforderungen der Umsetzung konfrontiert und haben daher meist eine realistischere und v. a. auch kritischere Sichtweise. Daraus kann Frustration resultieren, die sich häufig in Widerstand gegenüber der Veränderung manifestiert. Das mittlere Management befindet sich in diesem Spannungsfeld der Ankündigung einer Veränderung und der Erfolgserwartung aufseiten des Top-­Managements sowie den Schwierigkeiten im Umsetzungsprozess, mit dem es und vorwiegend seine Mitarbeiter konfrontiert sind und die von ihnen bearbeitet und gelöst werden müssen. Daher ist es für das Top-Management bei Change-Prozessen wichtig, sich trotz turbulentem Unternehmensumfeld und der sich schon wieder neu ergebenden Veränderungsnotwendigkeit der Situation seines mittleren Managements und seiner Mitarbeiter bewusst zu sein. Wie die Ergebnisse zeigen, sollte die Unternehmensleitung ihre Führungskräfte künftig mehr und v. a. auch frühzeitig in einen geplanten Veränderungsprozess mit einbeziehen und den entsprechenden Kontext schaffen, damit sie sich eigenverantwortlich für eine effektive Implementierung der Veränderung engagieren (Rafferty et al. 2013). Dies bedeutet u. a. auch, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und sich auch in Geduld zu üben, wenn der Umsetzungsprozess mehr Zeit in Anspruch nimmt, als das Top-Management geplant hatte (Judge 2011; Kotter 1996). Für die Führungskräfte der mittleren Ebene bedeuten unsere Ergebnisse, sich des Spannungsfelds ihrer Sandwichposition klar zu werden. Diese erfordert, die Change-­Initiativen des Top-Managements adäquat und damit nachvollziehbar mit ihrer Notwendigkeit und den damit verbundenen Chancen und Gefahren ihren Mitarbeitern zu vermitteln, die dafür notwendigen Ressourcen beim Top-Management einzufordern und ihre Mitarbeiter bei der Umsetzung entsprechend zu unterstützen. Dies bedeutet auch, dass sie sich nicht nur auf Sachthemen konzentrieren, sondern Leadership-Verhalten zeigen (Kotter 1996), durch das sie ihre Mitarbeiter besser befähigen, Veränderungsinitiativen engagiert umzusetzen. Nur durch Interaktion und Kooperation zwischen den verschiedenen Funktionsbereichen und Hierarchieebenen kann eine Veränderung sowohl initiiert als auch erfolgreich implementiert werden (Judge 2011).

Change-Fitness – eine besondere Herausforderung für die Führung

7

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Fazit

Veränderungen werden weiterhin zentraler Bestandteil der Unternehmensrealität bleiben, daher ist es für die Führung wichtig, die besten Bedingungen hierfür zu schaffen. Dazu gehört auch, das vorhandene Wissen zu Veränderungsprozessen zu nutzen. In diesem Beitrag haben wir das ganzheitliche Konzept der Change-Fitness vorgestellt, das die Change-­ Readiness beinhaltet, doch über diese hinausgeht mit dem Fokus auf eine wirksame, nachhaltige Implementierung. Die zentralen Ergebnisse unserer Change-Fitness-Studien geben Hinweise für künftige Schwerpunktsetzungen im Umgang mit Veränderungen. Hierzu gehören v. a. veränderungsförderliche Kontextbedingungen und die Fähigkeit, zur Sachorientierung mehr Leadership-Verhalten zu zeigen. So deuten die Ergebnisse unserer Change-­Fitness-­Studie 2016 darauf hin, dass eher traditionelles Wissen um Change und die entsprechenden Instrumente eingesetzt werden, die bei flacheren Hierarchien und der Notwendigkeit zur Agilität in Zukunft wohl nicht ausreichend wirksam sein werden. Zudem besteht ein Handlungsbedarf bei der Qualifizierung von Führungskräften wie auch von Mitarbeitern im Umgang mit Change und den hierfür notwendigen Problemlösungsmethoden. Nach wie vor wird die offene und ehrliche Kommunikation unterschätzt und die Mitarbeiterbeteiligung ist zu gering. Ein Schwerpunkt der Ergebnisberichterstattung lag auf der unterschiedlichen Wahrnehmung der drei Funktions- bzw. Hierarchieebenen, die hier zwar nur für die Change-­ Fitness-­Studie 2016 dargestellt und diskutiert wurden, die sich jedoch über alle fünf der bisherigen Studien durchziehen. Wie erwähnt, sind diese unterschiedlichen Perspektiven aufgrund der Aufgabenbereiche nachvollziehbar und verständlich, doch beinhalten sie ein Konfliktpotenzial, indem die Unternehmensleitung der Organisation oftmals zu viele Veränderungsprojekte zumutet und dabei die vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen zu optimistisch einschätzt. Dies resultiert dann häufig in einer Ungeduld, die für die mittleren Führungskräfte und Mitarbeiter den Umsetzungsdruck weiter erhöht, anstatt entsprechendes Leadership-Verhalten zu zeigen. Daher empfehlen wir einerseits, die Kompetenzen der gesamten Organisation im Umgang mit Change weiterzuentwickeln, und andererseits, kritisch zu überprüfen, welche Veränderungen tatsächlich notwendig sind. Generell wäre es sinnvoll, ein Unternehmen hin zu einer lernenden Organisation zu entwickeln, bei der die permanente Weiterentwicklung Bestandteil des Arbeitsalltags für alle Ebenen und Funktionen ist (Sackmann 1993). Als Stärken unserer Change-Fitness-Studien sind die Langzeitperspektive zu nennen wie auch die jeweilige Stichprobengröße, die in der Studie Change-Fitness 2016 bei N = 408 Studienteilnehmern lag, die aus bundesweit verteilten Unternehmen aller Branchen stammten. Hinsichtlich der Altersgruppen, Unternehmensgrößen und Hierarchieebenen wurde ein breit gefächertes Spektrum abgedeckt. Anhand des umfangreichen Fragebogens wurden die zentralen Change-Aspekte – in sieben Dimensionen gegliedert – ermittelt und neue Erkenntnisse in Bezug auf die Change-Fitness ermöglicht.

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Allerdings gibt es auch einige Grenzen der durchgeführten Studien. Zwar sind die Change-­Fitness-Studien gemäß eines Längsschnittdesigns konzipiert, doch variiert die Zusammensetzung der Unternehmensstichprobe über die Messzeitpunkte. Auch ist der Fragebogen mit rund 60 Fragen sehr lang und hat zu einigen Abbrüchen durch Studienteilnehmer geführt. Für die zukünftige Forschung ist v. a. die Frage zu untersuchen, wie bestehende organisationale Routinen und Pfadabhängigkeiten der Unternehmen aufgebrochen werden können, um Veränderungen mit der Unterstützung aller Hierarchieebenen tatsächlich umzusetzen (Pfeffer und Sutton 1999; Sydow et al. 2009). Auch sollte die Befragung künftig durch Interviews ergänzt werden, um vertiefende Einblicke in die jeweilige Change-­Thematik zur erhalten. Für die unternehmerische Praxis bleibt festzuhalten, dass es nicht genügt, lediglich Ziele zu kommunizieren und entsprechende Verhaltensweisen einzufordern, vielmehr geht es um spezifische Maßnahmen für die Verantwortungsübertragung auf alle Hierarchieebenen im Unternehmen und einen gleichgewichtigen Fokus auf alle Phasen des Change-­Prozesses (Cummings et al. 2016; Ghitulescu 2013; Lewin 1952). Es sollten transformationale Leadership-Fähigkeiten entwickelt und die Problemlösungskompetenz der Führungskräfte und Mitarbeiter im Umgang mit Veränderungen ausgebaut werden. Die bessere Befähigung der Mitarbeiter könnte dann auch zu einer Steigerung ihrer Akzeptanz im Umgang mit Veränderungen führen. Hier ist es wichtig, zur Veränderungsbereitschaft auch die Umsetzungskompetenz zu fokussieren. Außerdem wäre es hilfreich, einen Change-­Monitor zu implementieren, um bei Fehlentwicklungen rechtzeitig gegensteuern zu können. Das Konzept der Change-Fitness bildet hierfür die geeignete Grundlage. Zentrale Handlungsfelder sind somit neben einer kontinuierlichen Evaluation und frühzeitigen Einbindung der Führungskräfte als Gestalter „enabler“ und Multiplikatoren der Veränderung (Felfe und Bittner 2014) sowie die Beteiligung der Mitarbeiter zur Erarbeitung praktikabler Lösungen (Morgan und Zeffane 2003). Die Autorinnen plädieren daher für einen systemischen und damit ganzheitlichen Ansatz, der neben Führungskräften und Führungssystemen, Mitarbeitern, Strategien und Strukturen auch das relevante Umfeld berücksichtigt, in dem sich die Menschen bewegen, um die Herausforderungen im Change-Prozess zu meistern. Daher empfehlen wir, der Change-Fitness künftig denselben Stellenwert wie bisher der Change-Readiness einzuräumen, und ermutigen Wissenschaftler zur Messung der Change-Fitness mit quantitativen und qualitativen Methoden wie auch Unternehmensmanager zu einer Diagnose ihrer aktuellen Change-Fitness im Unternehmen.

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Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD,  ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management. Dr. Verena Eichel  studierte von 2008 bis 2013 Psychologie an der Universität Koblenz-Landau mit den Schwerpunkten Arbeits-, ­Betriebs- und Organisationspsychologie sowie Pädagogische Psychologie. Während des Studiums absolvierte sie einschlägige Praktika im Bereich Forschung, Organisationsberatung sowie Eignungsdiagnostik. Von 2014-2018 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität der Bundeswehr München, an der sie 2018 zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. Ihre Dissertation befasst sich mit dem Einfluss der ­Diskrepanz zwischen externem und internem Branding auf das Organizational Citizenship Behavior unter Berücksichtigung der Unternehmenskultur, der organisationalen Identifikation und der Arbeitszufriedenheit.

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S. Sackmann et al. Claudia Schmidt  ist Geschäftsführerin der Mutaree GmbH.  Ihr Weg führte sie über Hoechst, Seagram, Deutsche Bank Leben und die VR-LEASING, wo sie u. a. die Bereiche Personal, Organisationsentwicklung, Market Development & Communication verantwortete und für den Konzern ein Consulting-Start-up mit dem Schwerpunkt Transformationsmanagement aufbaute. Sie ist als Beraterin an Universitäten wie der Frankfurt School of Finance & Management, der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) und der EBS Business School tätig.

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition Karl Stoss und Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4  5  6  7  8 

 harakteristika guter Führung  C Die Rolle von Zielen, Strategien und deren Umsetzung  Konzentration auf das Geschäft, Kommunikation und Feedback  Vom Umgang mit Fehlern  Sich auf die Stärken konzentrieren  Auf Geist und Körper achten  Von den Besten lernen  Die wichtigsten Führungsgrundsätze 

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag reflektiert Dr. Karl Stoss auf der Basis seiner zwanzigjährigen Vorstandserfahrung über das, was gute Führung ausmacht – auch in kritischen Situationen wie Sanierungen. Als wichtig erachtet er eine Führung, die sich auf die jeweilige Situation einstellt und auch in kritischen Situationen klare Ansagen und Entscheidungen trifft unter Einbindung handverlesener, intrinsisch motivierter Mitarbeiter mit hoher Leistungsbereitschaft. Daher muss teamorientierte Führung erst verdient werden.

im Gespräch mit Sonja Sackmann K. Stoss (*) Österreichisches Olympisches Comité, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] S. Sackmann Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_11

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Zentral ist auch eine direkte, offene und klare Kommunikation auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen, Wertschätzung und authentischem Verhalten. Er empfiehlt einen stärkenbasierten Einsatz der Mitarbeiter, bei dem auch Fehler, die immer passieren, akzeptiert werden können, wenn aus ihnen gelernt wird. Für die erfolgreiche Führung eines Unternehmens sind ebenso klare Vorstellungen, Ziele, deren Umsetzung und deren Controlling von Bedeutung wie auch die persönliche Fitness und Balance, die sowohl den Körper als auch den Geist bzw. psychischen Zustand betrifft. Letztendlich ist auch eine Gesamtbetrachtung der eigenen Lebenssituation wichtig, die einem erlaubt, zeitgerecht loszulassen.

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Charakteristika guter Führung In Deinen verschiedenen Vorstandsfunktionen hast Du ja sehr viel Führungserfahrung gesammelt. Was bedeutet für Dich gute Führung?  Karl Stoss: Gute Füh-

rung in dem Sinn gibt es nicht – es gibt eine individuell abgestimmte Führung, die ideale Führung gibt es wahrscheinlich nicht, da man ja in jedem Unternehmen auch auf andere Ist-Situationen trifft. Ich hatte hier in Wien in meinen Positionen sehr oft die Funktion, ein Unternehmen zu sanieren, ein Unternehmen herzurichten. In solchen Situationen kann man zum Teil höhere Anforderungen stellen, weil es den Unternehmungen schlecht geht und von daher wird auch mehr zugelassen  – auch in Bezug auf die Führung. Da kann man zuerst eine strengere, eine nicht nur rein teamorientierte Führung zeigen. Die teamorientierte Führung habe ich mir dann erst im Laufe der Zeit jeweils aufgebaut. Nach zwei, drei Jahren Sanierungsarbeiten bin ich dann zu einer doch sehr kollegialen, teamorientierten Führung übergegangen. Die war aber vor allen Dingen natürlich geprägt durch hohe Disziplin, auch in der Formulierung von gemeinsamen Zielen, Zielsetzungen, auch messbaren Zielen, die wir jeweils versucht haben uns zu setzen, und darauf dann unser Unternehmen trainiert haben, diese Ziele auch tatsächlich zu erreichen. cc

Haben die Leute diese strengere Führung auch akzeptiert?  Karl Stoss: Der große

Teil interessanterweise schon. Es gibt natürlich immer in jedem Unternehmen einige Anhänger der alten Führungsgarde, die das komplett negativ sehen und gesehen haben, aber die Erfolge haben uns dann recht gegeben, und von daher war dann die Akzeptanz eine viel, viel höhere bei der Durchsetzung der Ziele bzw. bei der Vorgehensweise in der Arbeit. cc

Sind dann alle bei der Stange geblieben oder gab es auch Leute, die gesagt, haben, da machen wir nicht mit oder da können wir gar nicht mitmachen?  Karl

Stoss: Ich muss es vielleicht sogar anders formulieren: Ich habe mich von einigen Leuten getrennt, die vor allen Dingen wie ein Bazillus im Unternehmen gewirkt haben. Die haben nur versucht, diese Arbeit schlechtzumachen und

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

das gewohnte Führungsleitbild auch in ein anderes Licht zu rücken. Nur ein Beispiel, bei der Gruppe, bei der ich zuletzt tätig war: Zu Beginn waren wir sechs Vorstände, dann waren wir nur noch drei Vorstände. Das war keine leichte Übung. Aber am Ende des Tages hat auch der Aufsichtsrat dieser Reduktion zugestimmt. Und dass hinter diesen Vorständen, die da gegangen sind, auch wiederum eine Reihe von Führungskräften gestanden hat, denen mein Führungsverhalten nicht behagt hat, das ist menschlich und nachvollziehbar. Aber auf der anderen Seite sind die, die bisher eher unterdrückt wurden, aufgeblüht und haben ein weit höheres Maß an Performance gezeigt. cc

Wie würdest Du die Person bezeichnen, mit der Du gerne zusammenarbeitest, mit der man in der Konfrontation mit Herausforderungen sehr gute Leistungen erbringen kann – auch in Analogie zum Sport?  Karl Stoss: All jene Menschen,

die den Anspruch erheben, mit dem Erreichten nie zufrieden zu sein. Das heißt, Leute, die darauf aus sind, immer nach Höherem zu streben, die immer nach einer Verbesserung der Bestzeit oder der Weite im Weitsprung oder der Abfahrtszeit auf einer bestimmten Piste aus sind. Dasselbe gilt auch für Unternehmungen – nicht mit dem Erreichten zufrieden zu sein, sondern immer noch gemeinsam daran arbeiten: Wo kann man sich noch verbessern? Wo kann man die Performance noch deutlich erhöhen? Wo kann man die Kosten reduzieren, die bisher vielleicht noch zu wenig scharf angegangen worden sind? Wo kann man die Effizienz noch weiter steigern? Das würde ich als Parallele auch zum Sport sehen. All jene Menschen, die eine ähnliche oder gleiche Denke haben, kommen interessanterweise auch sehr oft aus dem Sport. Die haben früher einen Mannschaftssport oder eine Einzelsportart betrieben. Denen ist diese Art der Denke überhaupt nicht fremd. cc

Ich stelle mir vor, dass da die Art der Führung eine andere ist, wenn eine hohe intrinsische Motivation vorhanden ist.  Karl Stoss: Absolut. Da hängt es dann da-

von ab, wie ich meine Leute in den jeweiligen Bereichen, Abteilungen und Zuständigkeitsbereichen motivieren kann. Wie kann ich sie entsprechend transparent informieren über das, was ich eigentlich erreichen will. Dabei ist eine Feedbackkultur ganz, ganz wichtig. Mein Vorgänger in meinem letzten Unternehmen war beispielsweise dreißig Jahre alleine Vorstand und agierte dann ungefähr zehn Jahre mit einem weiteren Vorstandsmitglied. Der hat natürlich eine ganz andere Denke und eine ganz andere Kultur mitgebracht als ich. Von daher war meine Art des Führens und Agierens für viele eine Art Erlösung. Natürlich wurde alles am Anfang sehr misstrauisch gesehen, aber es wurde dann voll inhaltlich akzeptiert, weil man eben erkannt hat, dass dieser Weg in dieser Phase des Unternehmens wahrscheinlich der einzige richtige ist, und das wurde dann auch honoriert und akzeptiert auch von einem großen, großen Teil der Mitarbeiter inklusive auch des Betriebsrats. Das muss man wissen, die Casinos haben einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von etwa 90 Prozent, die Lotterien

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haben einen von etwa zehn Prozent. Warum das so ist, das hat eine sehr lange Tradition bei den Casinos. Die Mitarbeiter hatten immer sehr starke Betriebsratsobmänner, das heißt einen Zentralbetriebsrat, und die haben auch mitbestimmt bei der Besetzung aller wichtigen Funktionen. Daher ist man nur in eine wichtige Funktion gekommen, wenn man auch eine Betriebsratskarriere oder gewerkschaftliche Karriere hinter sich hatte. Und das habe ich auch versucht aufzulösen. Das war schwierig, nicht weil ich etwas gegen Betriebsräte oder Gewerkschaftsvertreter habe. Doch der Zentralbetriebsrat agierte quasi wie ein Schattenvorstand, dem der Vorstandsvorsitzende genehm war, dem Alleinvorstand. Der hat den Zentralbetriebsrat dann wie einen zweiten Vorstand behandelt, der war in alle Entscheidungen mit eingebunden, der hatte auch den Zugang zur Politik. Also der Zentralbetriebsrat hat zum Beispiel jede Besetzung eines Casinodirektors festgelegt. Ich habe dann versucht, nicht auf Konfrontation beruhend, sondern auch mit dem Zentralbetriebsrat diskutierend, ihm klarzumachen, dass das heutzutage eigentlich der völlig falsche Ansatz ist, dass man nicht automatisch auch eine Führungskarriere macht, wenn man eine politische Karriere macht. Inzwischen ist dies ist heute völlig akzeptiert.

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Die Rolle von Zielen, Strategien und deren Umsetzung

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Welche Rolle spielen Visionen, Ziele und deren Umsetzung?  Karl Stoss: Visionen, konkrete Ziele und deren Umsetzung in kleinen Schritten waren natürlich in all den Programmen, die ich versucht habe aufzusetzen, wichtig  – sei es in den Strategieprogrammen oder in den Kostensenkungsprogrammen. Nach der Verabschiedung der Ziele und der Vorgaben, die zum Teil auch gemeinsam vereinbart wurden, oder wo ich auch noch ein bisschen nachjustiert habe – relativ regelmäßig –, das heißt, alle drei bis vier Wochen spätestens habe ich eine gemeinsame Sitzung mit dem Vorstand einberufen. In dieser haben wir dann reflektiert, inwieweit wir auf dem richtigen Weg des Trainingsaufbaus sind. Und um dorthin zu kommen: Was müssen wir begleitend noch an Maßnahmen setzen, damit das Unternehmen die Zielsetzungen erreicht, die wir uns vorgenommen haben? Und so weiter. Solch eine Fortschrittskontrolle haben wir dann regelmäßig bei der Verwirklichung und Umsetzung der verabschiedeten Strategie durchgeführt.

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Strategien scheitern ja häufig bei der Umsetzung. Der vierfache Weltmeister im Rudern, Walter Rantasa, sagte einmal: „Ich habe den extremen Willen gehabt, die Dinge durchzuziehen, bei jedem Training die Grenzen ständig ein Stück weiter zu schieben.“  Karl Stoss: Das ist wahrscheinlich bei einem Einzelsportler etwas ein-

facher als bei einem Unternehmen, das aus einer Vielzahl von Menschen besteht. In einem Unternehmen haben wir größere Gruppen, wir haben Teams, die zusammenarbeiten. Da ist das Durchziehen nicht so einfach. Aber im Sport, vor

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

allem bei Einzelsportarten, aber durchaus zum Teil auch bei Mannschaftssportarten gibt es viele Egoisten, die nur an ihrem Ziel arbeiten. Das kann sich ein Unternehmen nicht leisten. Es muss Kompromisse eingehen. Ich habe immer gesagt, das Wort Kompromiss ist mir kein angenehmes Wort, ich würde eher auf das Thema Konsens gehen, eines gemeinsam vereinbarten und gefundenen Konsens. Und so was entsteht nur durch einen ausgetragenen Dissens. Das ist gerade in unseren Kulturkreisen ganz, ganz schwer. Da ist mir wahrscheinlich schon entgegengekommen, dass ich hier in diesem Wiener Milieu als Vorarlberger, als Alemanne, als jemand, der aus der Schweiz gekommen ist, selbst als Exot gegolten habe. cc

Wie hast Du das erlebt? Das hat ja durchaus auch Chancen, wenn man Exot ist, da darf man sich gewisse Dinge erlauben.  Karl Stoss: Absolut. Ich musste nie ein

Blatt vor den Mund nehmen, das habe ich auch nie getan. Ich habe das eher als Vorteil empfunden – als einen großen Vorteil empfunden. Es gab viele, die aus dem östlichen Teil Österreichs gekommen sind, die das eigentlich sehr willkommen geheißen haben, dass es so etwas auch einmal gibt. In der früheren Phase, in der vierzigjährigen Vorstandsperiode des Vorgängers, da war eigentlich kaum ein Widerspruch akzeptiert. Es traute sich quasi niemand, etwas Kritisches zu sagen. Der ein oder andere hat es vielleicht einmal versucht, aber hat dann relativ rasch damit Schiffbruch erlitten. cc

Du hattest einmal die „Nummer-eins-­Attitüde, der Beste zu sein“ erwähnt und den Skifahrer Stephan Eberharter zitiert.  Karl Stoss: Ein Egoist in seiner Art, aber

ein sehr sympathischer, ein unglaublich erfolgreicher, der immer wieder auch ganz schwere Verletzungen überwunden hat, und der immer nur das Ziel vor Augen hatte, er möchte der Beste sein. Er gibt sich nicht zufrieden mit einem zweiten, dritten, vierten Platz. Für ihn zählt eigentlich nur der erste. Das ist ein sehr hoher Anspruch. Das ist wiederum auf meine Unternehmensgruppe bezogen nicht direkt vergleichbar, da wir zum Teil in monopolistischen Wettbewerbssituationen sind. Die Lotterien agieren in einem monopolistischen Markt, da es nur eine Lotterie in Österreich gibt. Das ist bei den Casinos ein bisschen anders, da gibt es natürlich parallel daneben hohe Illegalität, es gibt Automatensalons, es gibt Pokerturniere, die nicht von uns veranstaltet werden, also bei den Casinos gibt es einen Wettbewerb. Da kommt natürlich noch das Online-Gaming hinzu. Da gibt es ebenfalls einen Wettbewerb, den man bei den Lotterien nicht kennt. In einem monopolistischen Umfeld ist es schwierig, wenn Dir nichts passieren kann, trotzdem den Anspruch zu haben: Ich will der Beste sein. Was nehme ich dann als Maßstab? Wir vergleichen uns da mit den Weltbesten, es gibt eine European Lottery, eine World Lottery Association, da versuchen wir, im Ranking immer unter den ersten zehn zu sein. Wir können es oft aufgrund der Größe natürlich nicht, Österreich ist ein relativ kleines Land, aber wir

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können es aufgrund des Spielvolumens pro Einwohner beispielsweise oder des Spielvolumens pro Mitarbeiter. Da haben wir schon Messgrößen, mit denen wir uns durchaus auch mit viel größeren Lotteriegesellschaften messen können.

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 onzentration auf das Geschäft, Kommunikation und K Feedback Im Hinblick auf Motivation hattest Du einmal Tony Innauer zitiert: „Nichts macht erfolgreicher als der Erfolg. Langfristig erfolgreicher sind jene, die im entscheidenden Moment das tun, was in ihnen verwurzelt ist.“  Karl Stoss: Da

könnte ich wieder als Parallele eine Situation nehmen, die wir Ende 2016 erlebt haben. Es gab damals seit etwa zwei Jahren eine zum Teil auch öffentlich geführte Diskussion über Eigentümerwechsel in unserer Gruppe. Das heißt, einige Eigentümer wollten ihre Anteile verkaufen. Der Prozess war derartig lähmend, weil es schon so lange dauerte und weil es auch überhaupt nicht mit dem Vorstand abgestimmt wurde. Wer wäre eigentlich der richtige Partner? Wo sollen wir suchen? Das hat die Eigentümer leider überhaupt nicht interessiert, da standen rein pekuniäre Interessen im Vordergrund und nichts anderes. Das dauerte alles sehr, sehr lang und zog sich noch ein Jahr hin, bis wir die letzten Bewilligungen von den ausländischen Gaming Commissions erhalten haben. Da könnte man jetzt ja die These aufstellen, Erfolg hatten wir nicht wegen, sondern trotz der Eigentümer. Die Eigentümer scherten sich nämlich in der Situation eigentlich nicht ums Business, nicht ums Geschäft, sondern nur, wie bringe ich jetzt meine Anteile los, wie kann ich meine Anteile bestmöglich verkaufen. Und in dieser Situation, da schraubten wir gemeinsam kontinuierlich die Ziele nach oben. Wir schrieben ein besseres Ergebnis als das Jahr davor. Wir hatten das Jahr davor die besten Ergebnisse „ever“ und steigerten uns dann im Jahr 2016 noch einmal um fünfundzwanzig bis dreißig Prozent, weil wir diese Sanierungsphase hinter uns gebracht hatten. Wir haben das dann nicht zum Anlass genommen zu rasten, sondern uns gefragt, das Einzige, was wir selber gestalten können, was wir selber verantworten, ist das Geschäft und nicht die Eigentümersituation – auf die haben wir keinen Einfluss. Aber auf unser Geschäft haben wir Einfluss. Daran müssen wir arbeiten, das war immer meine Devise. Dabei ist regelmäßige Kommunikation wichtig. Ich machte ja immer einen abgestuften Informations- und Feedbackzyklus: wöchentlich oder zehntäglich mit den Arbeitsgruppen, die in den einzelnen Teams für die Umsetzung der strategischen Ziele arbeiten. Hierzu gehören beispielsweise Kostensenkungsprogramme und so weiter. Dann gab es auf Bereichsebene etwa einmal im Monat eine Feedbackrunde. Und mit den Mitarbeitern mache ich zumindest

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jedes halbe Jahr oder dreimal im Jahr eine ganz breite Information, die dann auch im Web übertragen wird für all jene, die nicht nach Wien anreisen können.

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Sich direkt vor Ort informieren Im Sport wie auch in Unternehmen wird ja auch auf Distanz gearbeitet. Die Mitarbeiter arbeiten an einem anderen Ort als die Führungskraft. Welche Prinzipien haben Dir bei der Arbeit auf Distanz geholfen?  Karl Stoss: Die erfolg-

reichsten Trainer sind ja nicht die, die zu Hause am Schreibtisch oder in ihren Büros tüfteln, sondern das sind jene, die auf die Skipisten gehen, um selber ein Auge drauf zu werfen, wie sich die einzelnen Sportler entwickeln, wo sie noch Potenziale sehen. Deshalb ist es auch meine Aufgabe, mein erklärtes Ziel, dass ich auch sehr viel hinausreise. Ich bin also wirklich einer, der ein Wandering Around betreibt, der hinausgeht, der sich selber ein Bild macht. Das sagt viel mehr, als ständig diese Berichte zu lesen – die lese ich schon auch, aber ich hole mir dann das direkte, wirkliche Bild auch vor Ort ab. So ging ich hinaus in die Casinos, sowohl im Inland als auch im Ausland. Ich versuchte, auch, selbst in ausgewählten Destinationen in Aufsichtsräten zu sitzen, um ein Feeling zu bekommen, wie ist es vor Ort wirklich mit dem Umsetzungswillen, wie ist es mit der Kultur, wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Gaming Commissions, mit Regierungsbehörden. Das kann man alles nur vor Ort machen. Es ist zum Teil aufwendig, zum Teil verrückt, weil ich dann zum Beispiel wegen zwei Tagen für eine Sitzung nach Australien geflogen bin. Aber da führt nichts daran vorbei und auch da gab mir der Erfolg recht. Das schätzen die Mitarbeiter vor Ort enorm – sie können dann sagen, da gibt’s wirklich einen, den kann man anfassen, mit dem kann man diskutieren. Vor Ort bekomme ich direkt die Informationen, was im Moment läuft. Ich war dann auch bereit, mit den Führungskräften vor Ort zu den Regierungsstellen zu gehen und dort das Gespräch zu führen. Sie konnten mich dann dort auch einmal vorstellen oder einführen oder was auch immer. Dies sind, glaube ich, alles begleitende Maßnahmen, die ganz, ganz wichtig sind. cc

Damit ist, trotz aller Tools, die man im digitalen Bereich inzwischen hat, der direkte Kontakt immer noch sehr wichtig?  Karl Stoss: Absolut. Der ist nicht zu

ersetzen, und wenn jetzt natürlich noch dieser Mix dazukommt, also Du erlebst es ja selber, wenn Du mir etwas schreibst oder wenn mir auch Mitarbeiter schrieben, ich glaube es verging kaum ein Tag … nein, innerhalb eines Tages beantwortete ich jede Mail, die mir Mitarbeiter schickten, selbst und täglich erhielt ich etwa 100 bis 150 E-Mails.

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Sich selbst motivieren und authentisch sein Im Umgang mit Druck hattest Du erwähnt, dass negative Emotionen ineffizient sind, und Franziska van Almsick, die deutsche Schwimmerin, zitiert: „Als Spitzensportler darf man keine Schwächen zeigen, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können. Wenn ich auf den Startblock steige, dann muss ich stark sein und niemand darf wissen, wie dreckig es mir eigentlich geht.“  Karl Stoss: Das kann ich

natürlich nur für mich persönlich beantworten. Das kann ich nicht auf andere übertragen – höchstens auf jene, die ganz eng mit mir arbeiten. Aber natürlich bin ich auch nicht immer gleich drauf und natürlich habe ich auch meine Schwächen oder fühle mich auch angegriffen oder im Stich gelassen, und trotzdem muss ich, wenn ich vor die Mannschaft trete, ihnen das Gefühl geben, dass ich das alles im Griff habe, dass ich das alles nach wie vor fest in der Hand habe. Das ist wiederum ein ganz wichtiger Teil und das ist für mich in der Führungsaufgabe eines der wichtigsten Themen, das Thema der Selbstmotivation. Denn über mir gibt es ja eigentlich niemanden mehr, der mich motivieren könnte. Ich muss selber in den Spiegel schauen und sagen: Heute bin ich wieder motiviert und mache das gerne, was ich mache. cc

Andererseits musst Du dann in unsicheren Zeiten, wenn viele Dinge gar nicht so klar sind, wie es die Leute gerne hätten, mehr Sicherheit ausstrahlen?  Karl Stoss:

Das ist richtig, weil ich nach wie vor aber das Ziel dahinter sehe. Das könnte ich jetzt auch gut vergleichen mit dem Berg. Wenn ich mit meinen Freunden eine Extrembergtour mache, dann sieht oder dann spürt man wahrscheinlich auch nicht immer die Angst, die mich da mitbegleitet, wenn es 60 Grad steile Eisflanken sind, die ich da hinaufgehe und mir dann denke: Wenn der da jetzt wegrutscht, dann nimmt der mich mit. Und dann kommen wir vielleicht noch in eine Nebelwand und trotzdem weiß ich, hinter der Nebelwand liegt das eigentliche Ziel, das ich erreichen will – nämlich der Gipfel. Dabei ist einer der wichtigsten Grundsätze, authentisch zu bleiben. cc

Für solche Extremsituationen brauchst Du viel Eigenmotivation. Du hattest einmal erwähnt, dass bei allem der Wert des eigenen Wegs, Authentizität wichtig ist.  Karl Stoss: Ja, das ist einer der wichtigsten Grundsätze überhaupt. Das spü-

ren Mitarbeiter. Am Anfang kann man natürlich viel mit Show und Bluff machen, aber das war nie meines. Das war zunächst eine Gewöhnungsphase in meiner letzten Vorstandsfunktion bei Casino Austria und Lotterien, weil der Vorgänger von mir ein ganz Großer war, der die Unternehmensgruppe wirklich sehr weit entwickelt hatte. Der war ein Sir – auch in der Ausdrucksweise. Wenn es unangenehm wurde, hat er einfach die Diskussion beendet, ist aufgestanden und gegangen. Da bin ich ein völlig Konträrer. Ich spreche die Dinge auch beim Namen an – zum Teil auch in einer harten Sprache.

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

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Was heißt harte Sprache?  Karl Stoss: Auch in den Kraftausdrücken. Ja! Irgendein

Intrigant im Unternehmen hat Informationen nach außen getragen. Das drücke ich einfach aus, weil es mich auch belastet und dann befreit, wenn ich das weitergeben kann, weil ich das so empfinde. Und ich sagte ihnen auch im Zuge der möglichen Vorstandsverlängerungen, dass ich mir lieber die Zunge abbeißen würde, bevor ich Speichel leckte. Das mache ich nicht, ich lasse mir mein Rückgrat nicht verbiegen. Ich bin so, wie ich bin, und wenn meine Leistung akzeptiert und anerkannt wird, habe ich keine Angst. Und wenn nicht, dann bin ich froh, dass ich nicht mehr weiterarbeiten muss. Und diese Sprache, glaube ich, versteht jeder, denn da ist nicht ein einziges Fremdwort drin. Das sind kurze Sätze. Jeder weiß dann genau: Der meint das ernst. Und immer das Vorleben und Vorbild sein – nicht nur in der Sprache, sondern auch im Tun und Handeln – das ist das Allerwichtigste für die Glaubwürdigkeit und dann auch für die Akzeptanz als Führungspersönlichkeit. cc

Bescheidenheit und Bodenhaftung waren Punkte, die Du einmal angesprochen hattest.  Karl Stoss: Ja, das ist auch extrem wichtig. Manager, Führungskräfte

bewegen sich eigentlich in einer Scheinwelt, in der ja im Prinzip alles auf einem Tablett serviert wird. Von den Nebensächlichkeiten, die aber dann oft zu Hauptsächlichkeiten werden, bekommt man häufig nicht so schnell etwas mit. Und am Ende des Tages kommen sehr, sehr viele drauf – und ich erlebe das auch gerade, weil ich in so einem Altersabschnitt bin, dass sie sich furchtbar beklagen, dass sie nirgends mehr eingeladen werden. Ich sage dann einfach immer: Ihr habt etwas falsch gemacht im Leben – ihr müsst das doch verstehen und kapieren, ihr werdet ja nur Kraft Position eingeladen und nicht Kraft Person. Und sobald die Position weg ist, seid ihr niemand mehr, null! Deshalb muss ich das Leben vorher darauf einstellen, auf diese Situation, und ich kann persönlich sagen, ich bin froh, wenn mich ­niemand mehr einlädt. Weil ich genug Einladungen erlebt habe. Jeden Tag erlebe ich eine – mache ich gerne, das gehört zum Socializen dazu – aber ich bin froh, wenn ich das alles nicht mehr machen muss. cc

Du hast ja auch noch ein Privatleben.  Karl Stoss: Das kommt auch. Da bin ich

natürlich froh, weil ich mir immer auch schon Gedanken gemacht habe, was gibt es neben dem Beruf noch an wichtigen Dingen. Auch wenn Du eine ganz knappe und enge Freizeit hast, musst Du das eben tun. So organisiere ich beispielsweise seit vierzehn Jahren in meiner Freizeit an einem Wochenende für die Bergrettung Bergtouren, um für die Bergrettung Geld zu sammeln. Und da schließen sich immer mehr und mehr Mitarbeiter und auch Führungskräfte an. Ich sag’s ihnen immer wieder: Kommt bitte ja nicht mit, weil ihr meint, ihr werdet dadurch besonders gefördert. Das spielt überhaupt keine Rolle für

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mich, ob ihr mitgeht oder nicht. Ihr müsst aus dem Herzen mitgehen; und dort erleben sie mich natürlich in einer ganz einfachen Art und Weise. Also auch nur mit Berggewand, mit Bergschuhen, mit Pickel und mit Seil und ich mach das Hüttenleben genau gleich mit wie jeder andere auch. Da sieht man, dass der Privatmensch Stoss eigentlich kein anderer wie auch im Beruf ist, denn er verstellt sich eigentlich gar nicht.

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Vom Umgang mit Fehlern Wie sieht es mit dem Umgang mit Fehlern aus?  Karl Stoss: Ja, man muss Feh-

ler zulassen, akzeptieren, die finden einfach statt. Wenn man selber Fehler macht oder man sieht, es machen welche Fehler, dann muss man mit ihnen ein Gespräch führen. Was halt nicht akzeptabel ist, ist wenn man dreimal hintereinander den gleichen Fehler macht – dann hat er oder sie das nicht verstanden, dann muss man Konsequenzen ziehen. Dann muss man auch eine gewisse Härte zeigen, obwohl man vielleicht vom Innerlichen her gar nicht so hart ist. Diebstahl wird beispielsweise bei uns absolut bestraft, da gibt’s keine Grenze. Wenn zum Beispiel eine Reinigungsfrau beim Aufräumen in der Früh einen Fünfzig-Euro-Jeton findet und den so beiläufig in ihre Manteltasche fallen lässt, und wir kommen drauf, weil es Aufzeichnungsgeräte gibt, dann wird sie fristlos entlassen. Ob das 50 Euro sind oder 5.000 Euro, das ist völlig egal. cc

Das ist also die Härte, die Du vorhin angesprochen hast. Und wie sieht es mit eigenen Fehlern aus?  Karl Stoss: Ja, natürlich, die gibt man am wenigsten

gerne zu, weil man immer meint, man sei eh der Beste und sei quasi fehlerfrei. Aber das ist natürlich eine Illusion und Fiktion, das ist man natürlich nicht. Man macht selber Fehler und es gibt unterschiedliche Arten von Fehlern. Ein Fehler könnte sein – wenn ich wieder das Wiener Milieu als Beispiel nehme –, dass es wahrscheinlich nicht immer angebracht ist gegenüber einem Aufsichtsrat, so klare Worte zu sprechen. Man könnte es auch diplomatischer verpacken. Das finde ich aber keinen Fehler von mir, denn so bin ich einfach und so möchte ich bleiben und deshalb werde ich da keine Korrektur anbringen. Aber es gibt Fehler, die man im Job macht, und das muss man nachher auch offen ansprechen und sagen: Da hab ich mich getäuscht, da hab ich leider etwas falsch gemacht. Das gibt noch einmal Stärke, wenn auch die Mitarbeiter und die Kollegen sehen: Der ist sich nicht zu schade, da offen aufzutreten. Erstens sollte man die Fehler nicht bei anderen suchen, sondern selber zugeben, dass man einen Fehler gemacht hat, und dann auch die Korrektur einleiten.

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

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Sich auf die Stärken konzentrieren Wie sieht es mit Stärken und Schwächen aus?  Karl Stoss: Das Kennen der einzel-

nen Stärken und Schwächen ist wichtig. Natürlich ist das bei einem selbst einfacher oder wenn man in einer Gruppe ist, die aus unterschiedlichen Charakteren besteht mit ihren Stärken und Schwächen. Da muss man jetzt erst einmal herausfinden, wo haben einzelne Mitarbeiter eigentlich ihre Stärken und Schwächen und wo könnte ich sie am besten einsetzen. Denn dann bringen sie auch das höchste Maß an Performance. Wenn sie immer nur dabei sind, ihre Schwächen zu beseitigen, dann werden wir im besten Fall Mittelmaß. Das hab ich ihnen immer gesagt und deshalb soll jeder in sich gehen und auch bei seinen Mitarbeitern herausfinden, wo sie die tatsächlichen Stärken haben. Und ich habe ihnen auch beigebracht, dass jeder ganz unterschiedlich ist. Es gibt Menschen, die sind eher Zuhörer, es gibt Menschen, die sind Leser, es gibt Menschen, die machen das diagonal, es gibt manche, die machen das sehr akribisch. Das muss man halt alles im Laufe der Zeit erst herausfinden, wenn man mit jemandem zusammenarbeitet. Und man muss sich selbst auch zuerst einmal kennenlernen. cc

Wie sah denn bei Dir so ein Team oder eine Abteilung aus?  Karl Stoss: Da gibt

es schon Unterschiedlichkeiten. Wenn ich Casinostandorte nehme, sind die ja auch ganz unterschiedlich. Da gibt es ganz kleine, die haben entweder 34 oder 35 Mitarbeiter, aber dann gibt es auch ganz große, die haben 350 bis zu 1.000 Mitarbeiter. Die sind wie eigene Unternehmen im Unternehmen. Also die einen sind eher wie eine kleine Abteilung und die anderen wie ein großes Unternehmen. Den verantwortlichen Casinodirektoren musste ich nicht viel vormachen, denen musste ich nicht viel sagen. Die führten das Unternehmen genau gleich wie ich, nur auf einer anderen Rekursionsebene. Wie schaut das sonst bei mir, in meinem nahen Umfeld, in der Zentrale im Headoffice aus? Da machte ich es so, dass ich zum Teil, wie schon erwähnt, regelmäßige Feedbackrunden mit meinen Bereichsleitern über alle Business Units und Corporate Functions hinweg durchführte, das ist institutionalisiert worden. Darüber hinaus gab es zweimal im Jahr bei uns eine Art Kick-off-Veranstaltung und Standortbestimmung, wo wir uns jedes Jahr ein spezielles Ziel vornahmen, und zum Dritten ging ich natürlich auch in die einzelnen Abteilungen hinein. Aber ich ging vor allen Dingen in diejenigen hinein – das ist einfach eine zeitliche Frage –, für die ich direkt verantwortlich war. Diese Leute holten wir auch regelmäßig an den Hauptsitz und hörten sie einfach an. Ich hörte nur zu. Wie läuft’s bei Ihnen? Was nehmt ihr euch vor? Wo sind wir in der Entwicklung? Wo gibt es vielleicht ein Manko? Wo gibt es vielleicht einen Antrag? Das machte ich.

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Auf Geist und Körper achten Zum Thema Stress und Erholung sagte Niki Lauda, dass bei ihm die Kombination, das Auto besser zu machen und den Körper fit zu halten, entscheidender war als alles andere – und acht Stunden Schlaf mussten sein. Ist das auch ein Thema bei Dir oder nur bei Sportlern?  Karl Stoss: Das kann ich leider nicht behaupten oder

zusammenbringen, was den Schlaf betrifft, aber es ist vollkommen richtig. Mens sana in corpore sano. Also ein gesunder Körper fördert auch einen gesunden Geist. Oder ein gesunder Geist wird durch einen gesunden Körper gefördert. Das ist eine Frage der Disziplin: Wie bringt man es zusammen, dass man zumindest einen kleinen Teil der verfügbaren Zeit für etwas Bewegung oder etwas Sportliches verwendet. Das findet ja viel zu selten statt – das ist keine Frage. Das kommt ja immer etwas zu kurz. Bei mir lag zum einen das Hauptaugenmerk auf dem Beruf und die vielseitige und vielfältige berufliche Herausforderung und zum anderen auf den Nebenfunktionen vom Olympischen Komitee bis zu Aufsichtsräten, Beiräten und Freiwilligenfunktionen, wo ich eben Präsident oder Obmann bin. Da könnte jeder sagen, das musst Du doch nicht machen. Nein, das muss ich nicht machen. Aber ich möchte auch der Community, der Gesellschaft etwas zurückgeben. cc

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Wie bringst Du das denn alles unter einen Hut?  Karl Stoss: Indem ich in der Regel vier Stunden im Schnitt schlafe. Aber ich brauche dann natürlich auch meine Erholungsphasen, meine Tankstellen. Dazu gehört, dass ich zumindest zwei-, dreimal im Jahr eine Bergtour und alle zwei Jahre eine mindestens zweibis dreiwöchige Tour mache, wo ich unterwegs bin, wo ich wieder ganz auf mich gestellt bin, wo ich ganz einfach lebe – nur im Schlafsack, nur im Zelt, nur mit mitgeschleppter Ernährung. Das gibt mir persönlich sehr viel, aber da ist jeder anders gewickelt.

Von den Besten lernen Du hast das Olympische Komitee angesprochen. Ich kann mir vorstellen, dass es ja auch nicht ganz einfach ist, solch ein Komitee zu führen.  Karl Stoss: Nein, da

gibt es natürlich auch sehr stark geprägte Verbände und wir gehören ja zu den Olymp-Verbänden. Wir gehören zu allen olympischen Fachverbänden. Jede Sportart, die bei den Olympischen Spielen vertreten ist, ist auch mit einer Stimme Mitglied beim Olympischen Komitee. Und da gibt es unterschiedliche. Da gibt es kleine und ganz große. Fußball ist eher groß, Skeleton ist eher kleiner, weil das nicht so viele machen. Und da hat man ganz unterschiedliche Typen. Da hat man natürlich auch Funktionäre, die sich nicht gerne etwas sagen lassen, weil

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

sie in ihrer Selbstherrlichkeit verharren und sagen: Das ist dreißig Jahre gut gegangen und wir waren eigentlich erfolgreich. Wenn ich denen dann sage: Das kann schon sein, aber nehmt euch zum Beispiel mal eine Trainerin aus einer sehr erfolgreichen Nation, die in dieser Disziplin Weltklasse ist, und hört euch das einmal an, vielleicht könnt ihr daraus lernen. Dann schauen mich sehr viele an wie ein Christkind und sagen: Was will der Trottel von uns? Aber manche kapieren es und manche tun das dann auch. Aber ich muss – und ich will ja auch – zum Teil diese Verbände einbinden. Wir haben einen relativ breiten Vorstand – der ist quasi der Aufsichtsrat –, es gibt ja eine normale angestellte Geschäftsführung im Olympischen Komitee und die hat darüber einen Aufsichtsrat und ich bin deren Präsident. Der Aufsichtsrat setzt sich aus zwölf gewählten Mitgliedern zusammen und die bestehen aus olympischen Sportfachverbänden, das heißt, die werden regelmäßig eingebunden.

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Vertrauen in handverlesene Leute Ich kann mir vorstellen, dass das auch ein sehr starkes Lavieren zwischen den unterschiedlichen Interessen ist.  Karl Stoss: Absolut. Und es erfordert auch ein

extrem hohes Maß an Vertrauen – auch gegenüber meinen hauptamtlich tätigen Mitarbeitern. Also der Geschäftsführer, der Generalsekretär und seine Mitarbeiter, denen muss ich quasi fast zu hundert Prozent vertrauen, weil ich sie ja schon rein von der zeitlichen Dimension her nicht ständig kontrollieren kann. Das geht gar nicht. cc

Hast Du diese dann letztendlich alle handverlesen? Auch bei den Sanierungsfällen, die Du vorher angesprochen hast?  Karl Stoss: Ja! Die habe ich mir selber aus-

gesucht. All jene, denen ich zutraue, auch solche Sanierungen durchzuführen. Ich habe zum Teil sogar Führungskräfte zurückgeholt. cc

Worauf hast Du dabei geachtet? Wie bist Du bei der Selektion vorgegangen?  Karl Stoss: Ich hab mir zunächst mal angeschaut, was für Track Records

die Einzelnen haben. Und zum Zweiten habe ich dann den Weg über persönliche Gespräche gesucht und auch geschaut, ob wir zusammenpassen. Denn gerade in Sanierungsphasen hat man nicht sehr viel Zeit, herumzulamentieren und auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Da muss man Menschen neben sich haben, die eine ähnliche Wellenlänge haben, die ähnliche Ziele verfolgen und die auch umsetzen wollen und das auch zu hundert Prozent loyal mittragen. Wenn ich dort auch noch beschäftigt bin, diesen Flohhaufen unter Kontrolle zu halten, dann kannst Du nie erfolgreich eine Sanierung durchführen.

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K. Stoss und S. Sackmann Wie erfolgreich warst Du in der Vergangenheit bei der Selektion Deiner Leute in Prozent ausgedrückt?  Karl Stoss: Ich würde schon sagen zu achtzig Prozent.

Man braucht ein gutes Bauchgefühl. Wenn ich Menschen sehe, dann beurteile ich, wie sie reden, was sie reden und welche konkreten, individuellen Ziele sie auch verfolgen.

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Die wichtigsten Führungsgrundsätze Was würdest Du als die wichtigsten Führungsgrundsätze betrachten, die Du versuchst, in Deiner Führungsarbeit anzuwenden?  Karl Stoss: Das Wesentliche ist

das normale Analysieren und aus den Analysen heraus entsprechende Ziele, Schritte oder Wege zu formulieren. Das Zweite ist natürlich auch das Delegieren. Das Dritte ist das Feedback, die Kommunikation – diese empfinde ich als ganz, ganz wichtig, gerade auch im elektronischen Zeitalter. Es ist noch viel wichtiger geworden, dass man auch persönlich zusammenkommt, dass man persönlich die Gespräche führt. Dann noch das Thema der Disziplin, der Selbstdisziplin, aber ebenso auch wie diszipliniert sich eine Führungskraft in bestimmten Situationen verhält. cc

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Welche Rolle spielen persönliche Werte?  Karl Stoss: Die spielen schon eine sehr, sehr große Rolle, die ethischen Werte, die Wertvorstellungen, die man hat. Das beobachte ich dann auch gerne, wenn jemand auf Veranstaltungen kommt. Sucht er dann immer nur die Großkopferten und versucht, sich in deren Nähe aufzuhalten, oder unterhält er sich auch mit ganz „normalen“ Menschen? Wie geht jemand mit dem Etagenpersonal oder dem Bedienungspersonal um, wenn sie uns beispielsweise einen Kaffee oder Tee in die Sitzung bringen? Es liegt mir besonders am Herzen, dass ich völlig unabhängig von der Position einen ganz normalen Umgang mit jedem Menschen versuche zu pflegen.

Die größten Herausforderungen und Routinen Was würdest Du als größte Herausforderung in der Führungsarbeit bezeichnen?  Karl Stoss: Die größte Herausforderung sind sicher die Volatilitäten, mit

denen man zu tun hat; die Unberechenbarkeiten, mit denen man auch zu tun hat. Stichwort Eigentümersituation beispielsweise. Das ist unberechenbar, das kann man nicht vorausplanen. Das ergibt sich aus einer bestimmten Situation heraus. Dann natürlich auch zum Teil Enttäuschungen, die man persönlich erlebt – sowohl von Kollegen als auch von Aufsichtsorganen. Also subjektiv empfundene Enttäuschungen. In deren Augen sind es vielleicht keine, aber in meinen Augen sind es halt solche. Man fühlt sich auch sehr oft im Stich gelassen, gerade wenn es heikel und wenn es schwierig wird.

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

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Gibt es Routinen in der Führungsarbeit und gibt es auch Grenzen bezüglich möglicher Routinen?  Karl Stoss: Routinen gibt es natürlich in bestimmten Sitzungs-

abläufen. Das sind einfach Rituale, die notwendig sind, wo sich jeder einstellen kann, dass jeder weiß, okay, jede Woche am Dienstag ist Vorstandssitzung. Alle drei Wochen möchten wir, dass ein Bereichsleiter von einer bestimmten Business Unit einen Vortrag hält. Es gibt jeden Monat einen Management-Jour-fixe. Das sind Rituale. Unabhängig davon muss man auch sehr oft sehr rasch auf Entwicklungen und auf Ergebnisse reagieren, die sich von außen her aufdrängen, aber durchaus auch von innen, indem zum Beispiel ein Mitarbeiter einen Unfall oder eine Krankheit hat, oder ein Bereichsleiter fällt aus – da muss man reagieren. Dann ist die Frage: Wie reagiert man?

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Freude am Führen Und was macht Dir Spaß an Deiner Führungsarbeit?  Karl Stoss: Mit anderen Menschen umzugehen. Andere Menschen zu sehen, wie sie mit Aufgaben wachsen, sich positiv verändern. Freude haben, anderen Freude schenken und vor allen Dingen auch all jenen, die vielleicht mehr Hilfestellung brauchen; mehr zu helfen als andere. Das macht mir persönlich am meisten Freude.

Führungskraft werden und loslassen Was hat Dich eigentlich motiviert, Führungskraft zu werden?  Karl Stoss: Das

kann man nicht bestellen, das kann man sich auch nicht wünschen. Das entwickelt sich so. Man könnte fast sagen, das hat sich aus Zufälligkeiten ergeben. Natürlich sind das keine Zufälligkeiten, sondern ich wurde vielleicht im selben Ausmaß immer wieder beobachtet, wie ich mich verhalten habe als Mitarbeiter und dann als Abteilungsleiter. Und daraus ist dann vielleicht bei entscheidenden Persönlichkeiten im Unternehmen der Wunsch gewachsen, den möchten wir jetzt für was Höheres vorsehen. Und so bin ich in bestimmte Positionen gekommen. Ich hab mich nie in meinem Leben für eine Position beworben. cc

Und wie sieht es mit dem Loslassen aus? Irgendwann kommt vielleicht der Zeitpunkt, wenn man gar nicht mehr will.  Karl Stoss: Loslassen können ist ganz,

ganz wichtig. Je älter man natürlich wird und je länger man in einem Unternehmen ist, denkt man intensiver darüber nach, weil man auch merkt, das Leben ist endlich. Das merkt man gerade jetzt auch, weil man von immer mehr Jüngeren, Gleichaltrigen Todesanzeigen bekommt. Und da fragt man sich schon, kann’s das eigentlich sein und will man das noch weitere zehn Jahre so machen, wie ein Hamster im Rad? Wenn ich nur die letzten vier Jahre in meiner

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Vorstandsfunktion bei den Casino Austria und Lotterien als Vergleich hernehme: Ich flog 1,2 Millionen Flugmeilen, bin 170.000 Kilometer mit dem Auto gefahren und Tausende Kilometer zu Fuß gewesen. Ich habe immer auch Glück gehabt in meinem Leben, mir ist nie etwas passiert, aber das kann’s doch nicht sein! Daher konnte ich dann in der Situation recht gut loslassen. Mein Vorstandsvertrag ging 2017 zu Ende, ich bin noch gesund, ich war am „Peak“, was die Ergebnisse betrifft – ich rannte beruflich nicht weg, sondern ich verließ das Unternehmen in der besten Situation „ever“. Ich hätte noch genügend Zeit gehabt, meine Nachfolge aufzubauen, wenn das gewünscht gewesen wäre, aber die Entscheidung gab mir vor allen Dingen mehr Zeit, auf mich zu achten. Das ist das, was in all meiner Führungsarbeit wahrscheinlich zu kurz gekommen ist. Man hat eben auch nur 24 Stunden und davon geht der größte Teil fürs Unternehmen drauf. Die Familie leidet schon stark darunter. Von Freunden ganz zu schweigen, die werden ganz vernachlässigt. Selber auf sich zu schauen – und das möchte ich mehr tun im Sinne bewusster, gesünder leben; meinen Körper auch gesünder pflegen, auch mit Yoga, Atemübungen usw. Und ich möchte vor allen Dingen auch noch mehr den Menschen zurückgeben – ich möchte etwas für Arme tun. cc

Dann auch dabei viel Erfolg und vielen Dank für das Gespräch. Dr. Karl Stoss  war nach seiner Promotion 1986–1996 Partner und Bereichsleiter am MZSG Management Zentrum St. Gallen sowie Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck. Im Jahr 1997 wurde er stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Österreichischen Postsparkasse AG, ehe er 2001 in den Vorstand der Raiffeisen Zentralbank AG wechselte; 2005 wurde er Generaldirektor der Generali Versicherung AG und der Generali Holding Vienna AG. Von 2007 bis 2017 war er Generaldirektor der Casinos Austria AG und Österreichischen Lotterien. Im September 2009 wurde Dr. Stoss zum Präsidenten des Österreichischen Olympischen Comités gewählt und 2016 als bislang zehnter Österreicher Mitglied des Internationallen Olympischen Komitees (IOC). Im Jahr 2016 erhielt Dr. Stoss das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich in Würdigung seiner engagierten Arbeit für die Casinos Austria und Österreichische Lotterien Gruppe sowie für das Österreichische Olympische Comité. Zudem ist Dr. Stoss seit 2008 Präsident der Österreichisch-Liechtensteinischen Gesellschaft. Für sein Engagement um die Pflege und Förderung der österreichisch-liechtensteinischen Beziehungen überreichte ihm S.D. Erbprinz Alois von und zu Liechtenstein am 18. Januar 2017 das Komturkreuz mit dem Stein des Fürstlich Liechtensteinischen Verdienstordens.

Vom Umgang mit den Herausforderungen in einer Top-Führungsposition

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Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD,  ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

Teil V Frauen und Führung

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten Regina Anna-Maria Palmer

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Brauchen wir Frauen in Führungspositionen?  3  Frauen in Führungspositionen: Wie weit sind wir?  4  Was sind die Gründe für den Gender Gap in Führungspositionen?  5  Frauen in Führungspositionen – Warum sind manche Frauen erfolgreich?  6  Frauen in Führungspositionen – was muss sich ändern?  Literatur 

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Zusammenfassung

Sowohl in Deutschland als auch weltweit sind weiterhin relativ wenige Frauen in Führungspositionen tätig. Diese wenigen weiblichen Führungskräfte weichen in ihrem Verhalten kaum von ihren männlichen Kollegen ab. Das resultiert aus Prozessen, die eng mit geschlechtsbezogener Voreingenommenheit in Verbindung stehen. Weibliche Führungskräfte werden weniger wahrscheinlich eingestellt, schlechter in ihrer Leistung beurteilt und weniger gemocht als männliche Führungskräfte. Eine Gegenstrategie ist das Verleugnen der eigenen Weiblichkeit und die Anpassung an die männlichen Verhaltensweisen, die noch die Führungskulturen vieler Unternehmen bestimmen. Dies führt jedoch dazu, dass die männlichen Führungskulturen bestehen bleiben. Nur eine Veränderung der Unternehmens- und Führungskulturen kann nachhaltig eine Steigerung des Frauenanteils in Führungspositionen bewirken. R. A.-M. Palmer (*) Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_12

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R. A.-M. Palmer

Einführung

Dieses einleitende Kapitel bietet eine Übersicht über den Stand der Forschung sowie aktuelle Statistiken zu dem Thema Frauen in Führungspositionen. Auch wenn der Begriff Fakten in der Überschrift Hoffnung auf objektive Wahrheiten macht, so wird im Verlauf der Ausführungen schnell deutlich, dass viel vermeintliches Wissen auf subjektiven und teilweise auch spekulativen Interpretationen oft widersprüchlicher Forschungsergebnisse basiert. Die präsentierten Fakten sind somit eher eine Darlegung des vorläufigen ­Wissenstands. Der zweite Abschnitt erläutert, inwiefern überhaupt Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Führungsverhalten beobachtet werden können. Der dritte Abschnitt bildet die aktuelle Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen in Deutschland und weltweit ab und betrachtet kurz den Einfluss von Quotenregelungen. Der vierte Abschnitt legt dann Ursachen für die Diskrepanz zwischen Eignung von Frauen für Führungspositionen und ihre geringe Repräsentanz v. a. in Spitzenpositionen dar. Welche Strategien erfolgreiche weibliche Führungskräfte bei der Überbrückung dieser Diskrepanz anwenden, zeigt der fünfte Abschnitt. Im sechsten Abschnitt wird dann schließlich aufgezeigt, welche Lösung angestrebt werden sollte, um nachhaltige Veränderungen in Bezug auf mehr Geschlechterdiversität auf Führungsebenen zu erreichen.

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Brauchen wir Frauen in Führungspositionen? […] Leveraging the talents of professional women will lead to more innovative, productive, and profitable organizations. Implicit in this idea is another: that any country whose businesses fully utilize their professional women – which means including them in top management – will ultimately be more competitive at home and abroad.

Stimmen weltweit scheinen sich einig: Ja, wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen (Terjesen und Sealy 2016). Die hierfür angeführten Gründe sind vielfältig. Manche sind eher spekulativer Natur, wie das Zitat aus America’s Competitive Secret der renommierten Wissenschaftlerin Judy Rosener (1995), das dieses Kapitel einleitet. Sie verheißen Unternehmen einen zunächst nicht näher spezifizierten, langfristigen Wettbewerbsvorteil auf nationaler und globaler Ebene (Credit Suisse 2012). Konkretere Ansätze betonen ebenfalls die positiven Auswirkungen weiblicher Führungskräfte in Führungsgremien. So kann die Präsenz weiblicher Vorstände eine positive Signalwirkung für Investoren haben (Bilimoria 2000; Brown et al. 2002), einen besseren Zugang zur weiblichen Käuferschaft generieren (Daily et al. 1999) und eine Vorbildfunktion für weibliche Talente darstellen (Bilimoria 2000, 2006). Auf Mikroebene hat sich weiterhin gezeigt, dass Mitglieder geschlechtlich gemischter Führungsgremien sich zivilisierter verhalten, mehr auf die Bedürfnisse anderer eingehen, eine bessere Atmosphäre entwickeln, sich weniger mit Machtspielen beschäftigen und unabhängiger agieren, als rein männlich zusammengesetzte (Nielsen und Huse 2010; Singh 2008; Huse und Solberg 2006; Fondas und Sassalos 2000; Bilimoria 2000; Brown et al. 2002).

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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Betrachtet man die positiven Auswirkungen von weiblichen Führungskräften auf den Unternehmenserfolg, spricht man vom Business Case für Frauen in Führungspositionen (Bilimoria 2000). Wie dargelegt belegen mehr und mehr Studien, dass dieser existiert und implizieren dadurch, dass Frauen in Führungspositionen sich anders verhalten als Männer. Oft schwingt sogar die Idee mit, dass Frauen einen Vorteil gegenüber Männern haben, da sie mit ihrem spezifisch weiblichen Verhalten besser auf die Bedürfnisse moderner Unternehmen eingehen können. Doch sind Frauen wirklich bessere Führungskräfte? Die ­kommenden Abschnitte führen aus, inwiefern tatsächlich Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften bestehen und welche Auswirkungen Frauen in Führungspositionen auf die Unternehmensleistung haben.

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 änner und Frauen in Führungspositionen: Gibt es einen M Unterschied?

Wer aus anderen Gründen als Fairness, Ethik oder Moral dafür plädiert, dass mehr Frauen in Führungspositionen vertreten sein sollten, der nimmt zumindest implizit an, dass weibliche Führungskräfte einen Mehrwert für Unternehmen bieten können. Damit das der Fall ist, muss ein Unterschied im tatsächlichen oder zumindest im wahrgenommenen Verhalten von männlichen und weiblichen Führungskräften bestehen. Basierend auf bekannten, allgemeinen Geschlechterunterschieden, die auch gern von der populärwissenschaftlichen Literatur aufgegriffen werden (z. B. Gray 1992; Pease und Pease 2000), erwarten wir, dass Männer und Frauen sich in Führungspositionen geschlechterstereotyp verhalten (Hogue 2016). Im Englischen werden diese Stereotype häufig unter den Begriffen „agentic“ und „communal“ zusammengefasst (Eagly 1987). Verhalten, das als „agentic“ eingestuft wird, ist dabei typisch für Männer und umfasst Verhalten, das zielorientiert, bestimmend und kontrollierend ist und zum Ziel hat, hohen Status innerhalb sozialer Hierarchien zu generieren. Im Gegenzug zeugt Verhalten, das als „communal“ bezeichnet wird, vom Interesse am Wohlergehen anderer Menschen und wird Frauen zugeschrieben. Solch ein Verhalten umfasst Ausdruck von Zuneigung, Sorge, Mitgefühl sowie emotionale Ausdrucksfähigkeit (Eagly 1987). Unzählige Studien belegen, dass es im Vergleich der Geschlechter häufiger von Frauen demonstriert wird. Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Führungspositionen stehen schon seit den 1970er-Jahren im Fokus vieler wissenschaftlicher Untersuchungen. Diese beziehen sich v. a. auf Unterschiede im Führungsstil. Grundsätzlich kann man fast alle Führungsstile anhand von zwei zentralen Eigenschaften charakterisieren: Beziehungsorientierung und Aufgabenorientierung. So zeichnen sich z. B. der transaktionale, der autokratische und der aufgabenorientierte Führungsstil durch ihre vergleichsweise hohe Aufgabenorientierung aus, während der transformationale, der demokratische und der interpersonelle Führungsstil von hoher Beziehungsorientierung geprägt sind (Bass 1985; Eagly und Johannesen-­Schmidt 2001). Entsprechend der oben beschriebenen männlichen und weiblichen Verhaltensstereotype werden primär aufgabenorientierte

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R. A.-M. Palmer

Führungsstile häufig mit einem männlichen und beziehungsorientierte Führungsstile mit einem weiblichen Führungsstil gleichgesetzt (Rosener 1990; Gibson 1995; Jonsen et al. 2010). Eine Vielzahl von Studien hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit diese Gleichsetzung der Realität entspricht. Tatsächlich ist die Zahl der Studien so hoch, dass bereits mehrere Metaanalysen versucht haben, die teilweise sehr unterschiedlichen Ergebnisse zu einem einzigen aussagekräftigen Ergebnis zu aggregieren (Dobbins und Platz 1986; Eagly und Johnson 1990; Eagly et al. 2003; Van Engen und Willemsen 2004). Obwohl die einzelnen Metaanalysen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, lässt sich insgesamt sagen, dass Unterschiede im Führungsstil von Männern und Frauen vorhanden, aber klein sind. So kommt bereits eine der ersten Metaanalysen zu dem Ergebnis, dass es keine Geschlechterunterschiede in der Ausübung von aufgaben- und beziehungsorientierten Führungsstilen gibt. Die Analyse umfasst 17 unabhängige Studien, deren Daten auf Fremdbeobachtung basieren, sodass typische Verzerrungen der Ergebnisse, die auf Eigenaussagen beruhen, ausgeschlossen werden können (Dobbins und Platz 1986). Eine sehr umfangreiche Metaanalyse über 162 Studien von Eagly und Johnson (1990) fand ebenso kaum nachweisbare Geschlechterunterschiede im Führungsstil. In experimentellen und nicht auf tatsächliche Führungskräfte bezogenen Studien wurde ein kleiner Effekt gefunden, der Frauen einen eher zwischenmenschlichen und Männern einen eher aufgabenbezogenen Führungsstil zuschreibt. Jedoch verschwand dieser Unterschied, sobald nur solche Studien betrachtet wurden, die in realen, organisationalen Settings durchgeführt wurden. Bei der Unterscheidung von demokratischem und autokratischem Führungsstil wurde in derselben Studie ebenfalls ein kleiner, signifikanter Unterschied festgestellt: Frauen zeigten in Übereinstimmung mit den Erwartungen einen eher demokratischen oder partizipativen Führungsstil, während Männer durchschnittlich etwas autokratischer führten. Eine spätere Metaanalyse über 45 Studien von Alice Eagly und Kollegen fand ebenfalls kleine Unterschiede, die wieder erwartungsgemäß Frauen als eher transformationale und Männer eher als transaktionale bzw. Laissez-faire-Führungskräfte kennzeichneten (Eagly et al. 2003). Ergänzend zu den Metaanalysen von Eagly und Kollegen untersuchten van Engen und Willemsen (2004) 26 weitere Studien im Hinblick auf Geschlechterunterschiede in aufgaben- und beziehungsorientierten Führungsstilen. Sie fanden, dass 67 % der Studien einen Geschlechterunterschied in die erwartete Richtung aufwiesen, nämlich dass weibliche Führungskräfte einen eher beziehungsorientierten und männliche Führungskräfte einen eher aufgabenorientierten Führungsstil demonstrieren. Jedoch war auch in dieser Metaanalyse der Unterschied klein und das Geschlecht erklärte nur weniger als 1 % der gefundenen Varianz, wobei diese Zahl jedoch je nach konkretem Führungsstil variierte. Studien, die nach 2004 durchgeführt wurden, sind sehr unterschiedlich in ihren Aussagen. So fanden Andersen und Hansson (2011) in einer schwedischen Studie basierend auf Selbstauskünften von 385 Managern keinen Unterschied im Führungsstil. Auch eine auf Selbstauskünften basierende spanische Studie, die 19 von Frauen und 16 von Männern geführte Arbeitsgruppen untersuchte, fand keine Geschlechterunterschiede im Führungsstil (Cuadrado et  al. 2012). Laut Einschätzung der Mitarbeiter in derselben Studie jedoch

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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bestehen durchaus Geschlechtsunterschiede im Führungsstil, wobei Frauen als stärker in sowohl männlichem als auch weiblichem Führungsverhalten eingeschätzt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine umfangreiche Studie, die den Führungsstil von 1546 männlichen und 721 weiblichen Führungskräften mithilfe eines 360-Grad-Feedbacks evaluierte. Aus Mitarbeitersicht wurden die weiblichen Führungskräfte zum einen beziehungsorientierter und zum anderen auch aufgabenorientierter eingestuft als die männliche Vergleichsgruppe (Pfaff et al. 2013). Dieses Ergebnis bestätigt eine sehr umfangreiche Studie, die sich auf die Bewertung von 13.000 Führungskräften durch insgesamt 64.000 Mitarbeiter bezieht (van Emmerik et al. 2008). Die Autoren untersuchten darin die Verhaltensweisen der Führungskräfte in Bezug auf Aufgaben- und Beziehungsorientierung. Wieder fand man, dass die weiblichen Führungskräfte sowohl stärker aufgaben- als auch beziehungsorientiertes Verhalten demonstrierten. In Summe lässt sich sagen, dass seit einer frühen Untersuchung von Donnell und Hall (1980) mit dem aussagekräftigen Titel „Men and Women as Managers: A Significant Case of No Significant Difference“ kaum Erkenntnisse generiert wurden, die dem im Titel enthaltenen Fazit widersprechen. In Bezug auf den Führungsstil sind Männer und Frauen sich eher ähnlich, als dass sie sich unterscheiden. Folglich bieten wissenschaftliche Untersuchungen zum Führungsstil keine Grundlage für die Diskriminierung von Frauen (oder Männern!) bei der Besetzung von Führungspositionen. cc

2.2

Fakt  1.1: Untersuchungen liefern Hinweise darauf, dass Frauen beziehungsorientierter führen als Männer. Aggregiert betrachtet sind diese Unterschiede jedoch statistisch sehr klein und tatsächliche Auswirkungen im Arbeitsalltag unwahrscheinlich.

 rauen in Führungspositionen: Welche Auswirkungen haben F sie auf Unternehmen?

Trotz der großen Ähnlichkeit von männlichen und weiblichen Führungskräften im Verhalten, gehen viele Untersuchungen davon aus, dass der kleine nachgewiesene Unterschied in Bezug auf Beziehungs- und Aufgabenorientierung Auswirkungen auf die Effektivität einer Führungskraft und somit die Unternehmensleistung hat. Transformationale Führung, die einen hohen Anteil beziehungsorientierter Verhaltensweisen beinhaltet, gilt als effektiver als transaktionale Führung, die auf eher aufgabenorientiertem Verhalten beruht (Lowe et al. 1996). Folglich werden Frauen in ihrem stärker beziehungsorientierten Stil häufig als die besseren Führungskräfte betrachtet (Eagly et al. 2003; Van Engen und Willemsen 2004; Bass und Avolio 1994; Helgesen 1990; Loden 1985; Rosener 1990). Weiterhin soll die von Frauen praktizierte Art des Führens besser für die Komplexität moderner Organisationen und die Herausforderungen der Globalisierung geeignet sein (z. B. Eagly und Carli 2003; Eagly et al. 2014; Jelinek und Adler 1988). Yukl prägte diese Perspektive unter dem Begriff des weiblichen Vorteils („female advantage“; Yukl 2002, S. 412).

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Führungsstil und Effektivität Eine Metaanalyse von Eagly et al. (1995) untersuchte in 76 Studien die Effektivität von Frauen und Männern in Führungspositionen. Der Begriff Effektivität bezeichnet dabei den Grad der Unterstützung bei der Umsetzung der Unternehmensziele. Gemessen wird dieser i. d. R. durch subjektive Bewertungen der Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzten und der Führungskräfte selbst sowie manchmal auch durch Fremdbeobachtung. Als die Autoren alle Studien aggregiert betrachteten, fanden sie keinen Unterschied in der Effektivität von weiblichen und männlichen Führungskräften. Als sie jedoch zwölf Ausreißer ausschlossen, die aus militärischen und anderen stark maskulinen Arbeitsumfeldern stammten, fanden sie einen kleinen, frauenfavorisierenden Unterschied. Im weiteren Verlauf zeigt die Metaanalyse, dass mehrere Faktoren den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Effektivität einer Führungskraft moderieren. So werden z. B. Männer als effektivere Führungskräfte wahrgenommen, wenn sie in einer von Männern dominierten Arbeitsumgebung agieren. Frauen hingegen werden als effektiver wahrgenommen, wenn ihre Rolle ein hohes Maß an interpersonellen Fähigkeiten beinhaltet. Trotz der gefundenen Effekte schlussfolgern die Autoren, dass es keinen signifikanten Unterschied in der Effektivität von weiblichen und männlichen Führungskräften gibt (Eagly et al. 1995). Paustian-Underdahl und Kollegen (2014) fanden in einer aktuelleren Metaanalyse, ebenso wie ihre Vorgänger, insgesamt keinen Unterschied in der wahrgenommenen Effektivität von Männern und Frauen in Führungspositionen. Als sie jedoch nur solche Studien untersuchten, die auf Fremdbewertung der Effektivität beruhten, stellten sich Frauen als die effektiveren Führungskräfte heraus. In Studien, die auf Eigenbeurteilungen von Führungskräften beruhen, empfanden sich hingegen männliche Führungskräfte als signifikant effektiver als ihre Kolleginnen (Paustian-Underdahl et al. 2014). Die beiden Metanalysen zeigen deutlich, dass viele Messverfahren auf subjektiven Bewertungen von Führungskräften und ihren Mitarbeitern basieren und daher nicht ausreichend Auskunft über die tatsächliche Effektivität von Führungskräften geben können. cc

Fakt 1.2a: Weder Frauen noch Männer werden konsistent als effektiver in ihrer Führungsrolle wahrgenommen als das jeweils andere Geschlecht. Eine finale Aussage kann jedoch nicht getroffen werden, da moderierende Faktoren wie die Datenquelle (Selbst- vs. Fremdwahrnehmung) und das Geschlechterverhältnis am Arbeitsplatz nicht immer ausreichend berücksichtigt wurden.

Frauenanteil und Effektivität Ein anderer Forschungszweig beschäftigt sich daher genau mit der Fragestellung, ob ein Zusammenhang zwischen dem Anteil von Frauen in Führungspositionen und organisationalen Effektivitätskennzahlen besteht. Dabei kann man auch bei Effektivitätskennzahlen zwischen subjektiven aktienbasierten Kennzahlen, wie z. B. dem häufig verwendeten Tobinschen Quotienten (Tobin’s Q), und eher objektiven Kennzahlen, wie z. B. dem Return on Assets (RoA) unterscheiden (Haslam et al. 2010). Auch wenn bisher keine metaanalytische Untersuchung unternommen wurde, so zeichnet ein Vergleich dieser Studien ein erstes Bild. In Bezug auf aktienbasierte Kennzahlen

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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findet eine Mehrheit der Studien einen negativen Zusammenhang zwischen Frauen in Führungspositionen und Unternehmenserfolg (Adams und Ferreira 2009; Ahern und Dittmar 2012; Haslam et al. 2010; Judge 2003). Während also Mitarbeiter Frauen in Führungspositionen eher positiver wahrnehmen als Männer in Führungspositionen (s. o.), reagieren die Anleger eher negativ auf Frauen in der Vorstandsetage. Ahern und Dittmar (2012) führen dieses Phänomen auf die Tatsache zurück, dass viele dieser Studien zu einer Zeit durchgeführt wurden, in der der politische und gesellschaftliche Druck, mehr Frauen in Führungsetagen einzustellen, stark anstieg. Das führte dazu, dass Anleger das Vertrauen in weibliche Neubesetzungen verloren und davon ausgingen, dass die Vorstandspositionen nicht bestmöglich nach Kompetenz besetzt wurden. Weltweite Untersuchungen basierend auf der Aktienpreisentwicklung von Unternehmen finden nämlich einen positiven Zusammenhang zwischen Unternehmenserfolg und Frauen in Führungspositionen (Credit Suisse 2012) und unterstützen somit das Argument von Ahern und Dittmar (2012), dass regionale, kulturelle Einflüsse eine wichtige Rolle für den häufig gefundenen negativen Zusammenhang spielen. Wenige Studien finden jedoch einen negativen Zusammenhang zwischen objektiveren Kennzahlen wie dem RoA oder dem Return on Equity (RoE) und dem Anteil der Frauen in Führungspositionen (Adams und Ferreira 2009). Stattdessen kommen die meisten wissenschaftlichen Quellen zu dem Schluss, dass es keinen signifikanten Unterschied gibt zwischen dem Unternehmenserfolg solcher Unternehmen, die Frauen in Top-Managementpositionen beschäftigen und solchen, die es nicht tun (Farrell und Hersch 2005; Herring 2009; Kalleberg und Leicht 1991; Haslam et al. 2010; Adams et al. 2009). Simplere Untersuchungen, die meist nur den Anteil der Frauen in Vorständen und den Unternehmenserfolg gegenüberstellen, berichten jedoch häufig, dass Unternehmen mit hohem Frauenanteil in Vorständen besser abschneiden als solche, die wenig oder keine Frauen im Vorstand haben (Carter und Wagner 2011; Desvaux et al. 2007; Credit Suisse 2012). Die Gefahr bei diesen Studien ist, dass nicht die Steigerung des Frauenanteils und die damit einhergehende Leistungsveränderung betrachtet werden – also dynamische Werte – sondern statische Werte, die nicht aussagen können, ob die Unternehmen mit einem geringeren Frauenanteil in der Führungsriege nicht ebenso erfolgreich wären. In diesem Fall würde der Umstand, dass es sich um ein erfolgreiches Unternehmen handelt, dazu führen, dass der Frauenanteil hoch ist, und nicht anders herum. Als Begründung für die uneinheitlichen Ergebnisse in Bezug auf objektive Unternehmenserfolgskennzahlen wird häufig angeführt, dass in vielen Studien moderierende Variablen nicht ausreichend berücksichtigt werden. So kommt eine kürzlich durchgeführte Studie zu dem Schluss, dass in Ländern mit hohem Schutz der Aktionäre und Geschlechtergleichheit im Allgemeinen Frauen in Führungspositionen einen positiven Effekt auf die Unternehmensleistung haben, während in Ländern mit niedriger Geschlechtergleichheit tatsächlich ein negativer Zusammenhang zwischen Frauen in Führungspositionen und Unternehmensleistung besteht (Post und Byron 2015). Außerdem haben unternehmensinterne Faktoren wie die Organisationskultur und die Wachstumsorientierung ebenfalls eine moderierende Rolle in Bezug auf die Effektivität von einem höheren Anteil Frauen in Führungspositionen (Dwyer et al. 2003).

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Ein weiterer Grund für die gemischten Ergebnisse könnte sein, dass der Zusammenhang zwischen dem Anteil an Frauen in Führungspositionen und Unternehmenserfolg vermutlich nicht schlicht linear ist; sprich pro eingestellter Frau der Unternehmenserfolg nicht um einen bestimmten Faktor wächst. Angeblich kann bereits eine einzelne Frau spürbare Auswirkungen auf die Arbeit eines Top-Managergremiums haben, jedoch sprechen viele Studien von einer kritischen Masse, die erreicht werden muss, damit tatsächlich eine Wirkung eintritt (Kramer et al. 2006; Torchia et al. 2011; Konrad et al. 2008; Kanter 1977a). Frauen, die in Vorständen oder Aufsichtsräten agierten, in denen mindestens zwei weitere Frauen aktiv waren, berichteten durchweg positiver von ihren Erfahrungen und konnten mehr zu den Vorstandstreffen beitragen als Frauen, die als einziges weibliches Mitglied eines Vorstands agierten. Diese sagten in einer Studie aus, sie wären gleichzeitig stark beobachtet und unsichtbar in ihrer Rolle als Vorstandsmitglied (Kramer et al. 2006). Passenderweise zeigen Studien, dass sich Unternehmen mit drei oder mehr Frauen im Vorstand in ihrer Leistung positiv von solchen Unterscheiden, die nur eine Frau beschäftigen (Schwarz-Ziv 2012; Carter und Wagner 2011). cc

Fakt 1.2b: Basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen unter Berücksichtigung objektiver Finanzkennzahlen gibt es keinen Hinweis darauf, dass eine Veränderung des Frauenanteils an der Führungsspitze den Unternehmenserfolg positiv oder negativ beeinflusst. Unter Berücksichtigung subjektiver Finanzkennzahlen zeichnet sich eher ein negativer Zusammenhang ab, der vermutlich mit der Einführung von Frauenquoten zu erklären ist. Simple statistische Korrelationsuntersuchungen finden zwar häufig einen positiven Zusammenhang für die meisten Arten von Finanzkennzahlen, berücksichtigen dabei jedoch i. d. R. nicht den dynamischen Aspekt eines veränderten Frauenanteils an der Unternehmensspitze.

Anteil Frauen in Führungspositionen und erfolgsrelevante Managemententscheidungen Wissenschaftliche Untersuchungen finden also weder in Bezug auf Führungsverhalten noch in Bezug auf Effektivität große Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften. Trotzdem bleibt die Vielzahl an Untersuchungen, die einen Business Case für Frauen demonstrieren und somit implizieren, dass weibliche Führungskräfte Unternehmen einen Mehrwert bieten. Doch welches Verhalten weiblicher Führungskräfte führt dann zu der verbesserten Unternehmensleistung? Verschiedene Studien haben sich konkret solchen Managementaktivitäten gewidmet, die stark mit dem Erfolg eines Unternehmens verbunden werden: Risikoverhalten, Mitarbeitermanagement und Innovation. Die Lehman-Sisters-Hypothese wirft die Frage auf, ob die durch die hohe Risikobereitschaft der Lehman Brothers ausgelöste Bankenkrise 2008 im gleichen Maß stattgefunden hätte, wenn die stark männlich geprägte Investmentwelt stärker mit weiblichen Führungskräften durchsetzt wäre (Van Staveren 2014; Adams und Ragunathan 2015; Adams et al. 2011). Die Hypothese basiert auf der in diversen Studien nachgewiesenen höheren Risikoaversion von Frauen im Vergleich zu Männern, die auch im Vergleich von weiblichen und

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männlichen Fondsmanagern nachgewiesen wurde (Chang 2010; Beckmann und Menkhoff 2008; Niessen und Ruenzi 2005; Olsen und Cox 2001; Oliver 1974). Auch wenn eine Beantwortung dieser Frage nur hypothetisch erfolgen kann, so gibt es doch diverse Studien, die indirekt darauf hinweisen, dass Frauen in Führungspositionen risikoaverser sind als Männer. Wilson und Altanlar (2009) kommen in ihrer 900.000 Unternehmen umfassenden Studie zu dem Schluss, dass bereits eine Frau auf Top-Managementebene die Insolvenzwahrscheinlichkeit eines Unternehmens um 20 % senkt. Gleichzeitig nehmen solche Unternehmen weniger Fremdkapital auf und haben einen besseren Cashflow als rein von Männern geführte Unternehmen. Weiterhin akquirieren Unternehmen, die Frauen auf Vorstandsebene beschäftigen, seltener andere Unternehmen. Wenn sie es tun, ist zudem die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie für diese Unternehmen einen zu hohen Preis zahlen (Levi et al. 2014). Die Ergebnisse aus diesen Studien messen zwar nicht direkt das Risikoverhalten, jedoch zeugen sie von einem konservativeren Vorgehen solcher Unternehmen, die gemischte Vorstandsteams haben (Baixauli-Soler et al. 2015). Verhältnismäßig wenige Untersuchungen haben sich bis jetzt mit den Auswirkungen weiblicher Führungskräfte auf das Mitarbeitermanagement und auf Personalentscheidungen beschäftigt. Eine Untersuchung von Matsa und Miller (2013) zeigt jedoch, dass Unternehmen mit einem höheren Anteil weiblicher Führungskräfte weniger Entlassungen durchführen. Ein komplexerer Zusammenhang wurde von Tate und Yang (2015) aufgedeckt. In ihrer Untersuchung finden sie, dass Umstrukturierungsmaßnahmen in Unternehmen durchschnittlich zu 5 % mehr Lohnverlust bei weiblichen im Vergleich zu männlichen Angestellten führen. Bei einem überdurchschnittlichen Anteil an Frauen in Führungspositionen wurde die Diskrepanz im Lohnverlust um 50 % reduziert (Tate und Yang 2015). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Unternehmen mit hohem Frauenanteil egalitärere bzw. weniger diskriminierende Entscheidungen treffen als Unternehmen mit niedrigem Frauenanteil. Ein prinzipiell höheres Interesse an Stakeholdern bei weiblichen Führungskräften bestätigen auch Adams und Kollegen in ihren Untersuchungen (Adams und Funk 2012; Torchia et al. 2011; Adams et al. 2011). Im Bereich der organisationalen Innovation wird ebenfalls ein positiver Zusammenhang mit dem Einfluss weiblicher Führungskräfte vermutet. Insbesondere der transformationale Führungsstil, der wie oben beschrieben in der Tendenz von Frauen stärker angewandt wird als von Männern, wirkt sich nachweislich positiv auf den Grad der organisationalen Innovation aus (García-Morales et al. 2012; Gumusluoglu und Ilsev 2009). Torchia et al. (2011) berichten jedoch, dass ein positiver Effekt weiblicher Führungskräfte auf die organisationale Innovation erst greift, wenn drei oder mehr Frauen an der Unternehmensspitze tätig sind. Bei nur ein oder zwei weiblichen Führungskräften im Vorstand unterscheiden sich die Unternehmen nicht von solchen, die eine rein männliche Führungsriege haben (Torchia et al. 2011). cc

Fakt 1.2c: Der Anteil von Frauen in Führungspositionen korreliert negativ mit der Risikobereitschaft der Unternehmensspitze, führt zu egalitäreren Entschei­ dungen in Bezug auf Mitarbeiter und wirkt sich positiv auf die Innovationsleistung eines Unternehmens aus.

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Brauchen wir mehr Frauen in Führungspositionen? Weibliche Führungskräfte unterscheiden sich im Führungsstil statistisch nur wenig von ihren männlichen Kollegen. Entsprechend zeigen Untersuchungen in Bezug auf die Effektivität von Frauen in Führungspositionen, dass diese ähnliche Ergebnisse erzielen wie ihre Kollegen. Auf Basis dieser Erkenntnisse lässt sich also kein direkter Bedarf für mehr Frauen in Führungspositionen ableiten. Gleichzeitig widersprechen die Erkenntnisse jedoch dem häufig demonstrierten Business Case für weibliche Führungskräfte, der demonstriert, dass der weibliche Vorteil leistungssteigernd auf Organisationen wirkt. Dies lässt vermuten, dass der statistisch kleine Unterschied, der von vielen Autoren als irrelevant interpretiert wird, stärkere Auswirkungen auf die komplexen intraorganisationalen Strukturen hat, als er aufgrund seiner Größe vermuten lässt. Die Mehrheit der Wissenschaftler ist sich einig, dass die konkreten Auswirkungen von Frauen in Führungspositionen auf Unternehmen noch nicht erschlossen sind (Kakabadse et al. 2015). Dies liegt v. a. daran, dass selten eine ausreichende Zahl Frauen auf Vorstandsebene anzutreffen ist. Folglich gibt es kaum aussagekräftige Feldstudien, die eine realistische Prognose liefern können (Adams 2016). Gleichzeitig argumentieren Forscher, dass die häufig sehr geringe Zahl an Frauen in Top-­Managementpositionen (selten mehr als eine) dazu führt, dass die besonderen Eigenschaften von Frauen nicht zur Geltung kommen können (Kakabadse et al. 2015; Adams und Ferreira 2009; Hoogendoorn et al. 2013). Ob aus rein ökonomischer Perspektive mehr Frauen in Führungspositionen gebraucht werden, ist also weiterhin unklar. Fakt ist jedoch, dass es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass Frauen ihre Rolle als Führungskraft schlechter ausfüllen als Männer oder weniger effektiv in Bezug auf ihre Leistungen sind. Folglich spricht an diesem Punkt nichts gegen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in Führungsgremien.

3

Frauen in Führungspositionen: Wie weit sind wir?

In den vergangenen 60 Jahren ist die Zahl der Frauen innerhalb der Erwerbsbevölkerung weltweit stetig gestiegen (Charles 2011; International Labour Office 2016). Weiterhin steht der Zugang zu Bildung Frauen nun in den meisten Ländern ebenso offen wie Männern (World Economic Forum 2014) und in vielen Industrienationen haben Frauen Männer in Bezug auf den akademischen Ausbildungsgrad bereits überholt (Eurostat 2015). Besonders in Fächern wie Betriebswirtschaft, Recht und Medizin, die früher reine Männerdomänen waren, ist das Geschlechterverhältnis mittlerweile ausgeglichen (Charles 2011). Die Vo­ raussetzungen für Frauen, Top-Führungspositionen zu erlangen, waren somit niemals besser als heute. Trotzdem ist das Geschlechterverhältnis in den meisten Führungsgremien weltweit alles andere als ausgeglichen. Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, haben viele europäische Staaten seit Norwegens Vorbild aus dem Jahr 2003 verpflichtende Quoten für Geschlechterdiversität in Aufsichtsräten bzw. Vorständen diskutiert und sogar verabschiedet. Mittlerweile gibt es bereits in 21 Nationen weltweit eine staatliche Regelung in Form von Reportingauflagen, Zielvorgaben oder Quotenregelungen.

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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Trotzdem scheint sich eine positive Entwicklung nur langsam abzuzeichnen. Dies wird damit in Verbindung gebracht, dass insbesondere in quotenbestimmten Nationen nur vereinzelt Frauen in Führungspositionen berufen werden, die den Status von Alibifrauen oder, wie in der englischen Fachliteratur genannt, „tokens“ haben (Daily und Dalton 2003; Kanter 1977b; Singh et al. 2001; Terjesen et al. 2009). Sprich, eine weitere Erhöhung der Geschlechtergleichheit in Führungspositionen wird nicht angestrebt und die wenigen dort agierenden Frauen werden nicht angemessen integriert, sodass sie ihre Fähigkeiten und Qualitäten nicht in die Entscheidungsprozesse der Unternehmensführungen einbringen können.

3.1

Frauen in Führungspositionen in Deutschland

Laut einer Studie von EY (2016) befinden sich in den deutschen Vorständen der in den Premiumstandards (DAX, MDAX, SDAX, TecDAX) gelisteten 160 Unternehmen zurzeit 43 Frauen in Führungspositionen. Das sind immerhin vier mehr als noch ein halbes Jahr zuvor. Diesen 43 Frauen stehen 627 Männern gegenüber – damit beträgt der Anteil der Frauen in deutschen Vorstandszimmern 6,4 % (zuvor: 5,9 %). Nur ein Unternehmen hat eine weibliche Vorstandsvorsitzende (die RTL Media Group mit Anke Schäferkordt); dies entspricht einem Frauenanteil von 0,63 %. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Untersuchung der 200 größten deutschen Unternehmen: Der Frauenanteil in deren Vorständen betrug 2016 8,2 %. Im Vergleich zu den nur 1,2 % von 2006 stellt dies zwar eine relativ betrachtet deutliche Steigerung dar (Statista 2017a), jedoch ist die Zahl von einem absoluten Standpunkt aus betrachtet extrem niedrig. Seit dem 1. Januar 2016 gilt in Deutschland das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen (BMFSFJ 2016). Dieses Gesetz schreibt vor, dass bei der Neubesetzung einer Aufsichtsratsposition eine Quote von 30 % eingehalten werden muss. Dies gilt für börsennotierte und voll mitbestimmte Unternehmen  – entspricht jedoch nur einer Zahl von rund 100  Unternehmen in Deutschland (BMFSFJ 2016). Gilt es in einem dieser Unternehmen eine Aufsichtsratsposition neu zu besetzen und der Aufsichtsrat hat bisher einen Frauenanteil, der unter 30 % liegt, so muss für die Position eine Frau gewählt werden – sonst bleibt der Stuhl leer. Für weitere 3500 Unternehmen, die entweder börsennotiert oder mitbestimmt sind und mehr als 500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen, gilt weiterhin die Verpflichtung, Zielquoten für die obersten Managementebenen festzulegen und über den Fortschritt in der Zielerreichung regelmäßig zu berichten (BMFSFJ 2016). Die Besetzung von Aufsichtsratsposten mit Frauen ist historisch betrachtet wahrscheinlicher als die weibliche Besetzung eines Vorstandspostens. So gab es 2006 nur 1,2 % Frauenanteil in den Vorständen Deutschlands 200  größter Unternehmen, aber bereits 7,8  % Frauenanteil in den dazugehörigen Aufsichtsräten. Zum Stichtag der Einführung der deutschen Frauenquote Ende 2015 lag der Frauenanteil in diesen Aufsichtsräten bei 23,3 %. Bis heute konnte der Anteil auf 30,9 % gesteigert werden (BMFSFJ 2018). Damit näher er

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sich deutlich dem erklärten Ziel von 30 %, liegt jedoch auch deutlich höher als in den nicht von der Quotenregelung betroffenen Unternehmen. So liegt der Anteil weiblicher Führungskräfte in den Aufsichtsräten Deutschlands 200 größter Unternehmen bei 22,6 % (verglichen mit 7,8 % 2006) und deutschlandweit bei 21,3 % (Statista 2017b). Obwohl die damalige Bundesministerin Manuela Schwesig die neu eingeführte Quote als „historischen Schritt für die Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland“ (BMFSFJ 2016) anpries, wird angesichts der Fakten die Zeit entscheiden, ob die Signalwirkung einer Steigerung des Frauenanteils von 23 auf 30 % in etwa 100 deutschen Aufsichtsräten ausreicht, um eine signifikante Steigerung des Frauenanteils in deutschen Führungspositionen zu erreichen.

3.2

Frauen in Führungspositionen weltweit

Die Situation Frauen in Führungspositionen betreffend unterscheidet sich stark von Region zu Region. Betrachtet man die Zahlen aggregiert, scheint die Entwicklung jedoch vielerorts noch in den Kinderschuhen zu stecken. Ende 2014 waren weltweit durchschnittlich nur 10 % der Aufsichtsratspositionen börsennotierter Unternehmen von Frauen besetzt (Sojo et al. 2016). Betrachtet man die Frauenanteile regional, zeigen sich klare Unterschiede. Eine Studie der Credit Suisse aus dem Jahr 2012 untersuchte u. a., wie hoch der Anteil der Unternehmen jeweils ist, die wenigstens eine Frau im Vorstand haben – anders ausgedrückt den Anteil der Unternehmen, die nicht rein von Männern geführt werden. So fand die Studie, dass in Asien beispielsweise in Südkorea nur 3,8  % der Unternehmen wenigstens eine Frau im Vorstand haben, während in Thailand der Anteil bei 80 % liegt. Auch in Europa sind die Diskrepanzen zwischen den Ländern, wenn auch nicht ganz so extrem, immer noch erheblich. Spitzenreiter in Europa sind Finnland (100 %), Frankreich (97,1 %) und Dänemark mit Werten über 90 %. Dem gegenüber stehen Länder wie Irland, Österreich und Portugal, wobei in Irland nur in jedem dritten und in Österreich und Portugal nur in jedem zweiten Unternehmen mindestens eine Frau im Vorstand agiert. Insgesamt finden sich die wenigsten Unternehmen, die rein männlich geführt werden, in Nordamerika (15,8  %)  – dicht gefolgt von Europa (16,3  %). Die stärkste Entwicklung fand dabei in Europa statt. Waren es 2005 noch nicht einmal 50 % der Unternehmen, so stieg der Anteil bis 2011 auf über 80 % und ist nun auf gleichem Level mit dem Spitzenreiter von 2005, Nordamerika. Im asiatischen und lateinamerikanischen Wirtschaftsraum liegt der Anteil der Unternehmen, die keine Frau auf Vorstandsebene beschäftigen, hingegen noch bei – teilweise deutlich – über 60 % (Credit Suisse 2012). Drei oder mehr Frauen  – also der Grenzwert ab dem man vermutet, dass Frauen in Führungspositionen sich erst spürbar einbringen können – sind hingegen noch vergleichsweise selten zu finden. Hier ist Europa – vermutlich aufgrund der Quoten – der S ­ pitzenreiter mit einem Anteil von 27,6 % der Unternehmen. In Lateinamerika und Asien haben nicht einmal 5  % der Unternehmen drei oder mehr Frauen in Führungspositionen und selbst

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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Spitzenreiter USA (in Bezug auf Unternehmen mit weiblicher Führungsbeteiligung) hat nur in 18,7 % der Unternehmen mindestens drei Frauen auf der höchsten Führungsetage (Credit Suisse 2012). Die hier dargestellten Zahlen demonstrieren, dass der geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen ein großflächiges Phänomen darstellt, das weiterhin in allen Wirtschaftsregionen relevant bleibt. In den ranglistenanführenden Regionen Nordamerika und Europa sind Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten zwar schon längst keine Seltenheit mehr, jedoch zeigt der geringe Anteil derjenigen Unternehmen, die den Grenzwert von drei Frauen erreichen und überschreiten, dass, um vermeintliche Führungsqualitäten von Frauen nutzbar zu machen, auch in Nordamerika und Europa noch viel passieren muss.

3.3

Frauen in Führungspositionen: Sind Quoten die Lösung?

Besonders innerhalb, aber auch außerhalb Europas interveniert mittlerweile die Politik, um mehr Geschlechterdiversität in Top-Führungspositionen zu erreichen (Labelle et al. 2015). Da viele dieser Maßnahmen noch relativ neu sind, sind ihre Konsequenzen noch nicht ausreichend bekannt. Somit bleibt die Frage bestehen: Sind Quoten die Lösung für das Pro­ blem des zu geringen Frauenanteils in hohen Führungspositionen? Die norwegische Regierung beschloss im Jahr 2002 ein Gesetz zu erlassen, das privaten Aktiengesellschaften vorgab, bis Juli 2005 die Frauenquote ihrer Aufsichtsräte auf 40 % zu erhöhen. Sollte das Ziel nicht erreicht werden, so drohten Sanktionen. Zum Stichtag lag die Frauenquote in norwegischen Aktiengesellschaften bei nur 24 %. Die nachführend beschlossenen Sanktionen führten dazu, dass im Jahr 2009 die Frauenquote in den Aufsichtsräten Norwegens bei 40 % lag (Davies 2011). Bis heute ist Norwegen eines der wenigen Länder, das Sanktionen in Form von monetären Strafen oder der Auflösung des Aufsichtsrats für die Nichteinhaltung der Quotenregelung verhängt. Quotenregelungen jedoch wurden mittlerweile auch von anderen Ländern eingeführt. In Europa haben Belgien (33 %), Deutschland (30 %), Finnland (40 %), Frankreich (40 %), Island (40 %), Italien (30 %), die Niederlande (30 %), Österreich (35 %) und Spanien (40 %) Frauenquoten nach Norwegens Vorbild eingeführt. Der Geltungsbereich der Quoten und die Maßnahmen bei Nichteinhaltung unterscheiden sich jedoch stark von Land zu Land. Aber auch in europäischen Ländern, die bisher keine verpflichtenden Quoten eingeführt haben, gibt es Initiativen zur Steigerung des Frauenanteils. In Schweden verlangen Corporate-­Governance-­Codes von börsennotierten Unternehmen einen Frauenanteil von einem Drittel zu erreichen, in Finnland haben sich private Unternehmen selbst verpflichtet, gemischte Unternehmensspitzen zu haben (z. B. mindestens ein Vertreter des anderen Geschlechts), und in Großbritannien fordert der von Top-Managern unterstützte 30-Prozent-Club die Einhaltung einer Frauenquote (Aecherli 2012). Auch außerhalb Europas gibt es entsprechende Initiativen. So verpflichteten sich 2009 die größten australischen Unternehmen dazu, bis 2018 einen Frauenanteil von 30 % in den Aufsichtsräten zu erreichen. Im Jahr 2011 führte Malaysias Regierung eine Frauenquote von 30 % für die Aufsichtsräte privater und öffentlicher börsennotierter Unternehmen ein.

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Ähnlich wie in Großbritannien fordert in den USA die Thirty Percent Coalition die Erhöhung des weiblichen Anteils in Verwaltungsräten auf 30 % (EY 2015; Aecherli 2012; Labelle et al. 2015). Die oben beschriebenen Initiativen zielen darauf ab, die stark männlich geprägten Strukturen auf Führungsebenen zu durchbrechen und Frauen einen Zugang zu Top-Managementpositionen zu ermöglichen. Man erhofft sich, dass so über Vorbilder und Mentoring-Prozesse eine Eigendynamik entsteht, die den Frauenanteil auch in nicht von Quoten betroffenen Unternehmen nachhaltig steigert (Marx und Roman 2002; Marx et al. 2009; Dasgupta 2011). Sojo und Kollegen (2016) untersuchten die Frauenanteile in Staaten, in denen staatliche Interventionen wie Zielvorgaben und verpflichtende Quoten gelten und verglichen diese mit Staaten, in denen es keine staatlichen Maßnahmen oder höchstens eine Reportingpflicht in Bezug auf Frauenanteile in Führungspositionen gibt. Eine erste Studie zeigte, dass in Ländern, in denen regulierende Maßnahmen getroffen wurden, höhere Frauenanteile in Führungspositionen zu finden sind als in Ländern, in denen keine entsprechenden Maßnahmen getroffen wurden. Eine zweite Studie untersuchte dann, ob es einen Unterschied zwischen Staaten gibt, die verpflichtende Quoten eingeführt haben und solchen, die Zielvorgaben getroffen haben. In dieser Studie finden die Autoren keinen Unterschied, was zunächst impliziert, dass Quoten nicht effektiver sind als die weniger verpflichtenden Zielvorgaben. Jedoch weisen die Autoren darauf hin, dass Norwegen in ihrer Untersuchung das einzige Land ist, das mit schmerzhaften Sanktionen im Fall einer Nichteinhaltung der Quote droht und somit die eigentlich verpflichtenden Quoten in den anderen Nationen de facto weniger streng sind. Bestes Beispiel für diesen Effekt ist wieder Norwegen, wo erst nach Einführung der entsprechenden Sanktionen die gewünschte Quote erreicht wurde (Sojo et al. 2016). Die Aussage, dass strenge Maßnahmen notwendig sind, um eine signifikante Erhöhung des Frauenanteils zu erreichen, wird auch von einer datenbasierten Simulationsstudie aus dem Jahr 2015 unterstützt. Die Simulation veranschaulicht, dass in Ländern, in denen keine verpflichtenden Quoten existieren, stattdessen implizite Quoten herrschen (z. B. gefördert durch nichtpolitische Organisationen wie der Thirty Percent Coalition in den USA). Diese führen jedoch nur dazu, dass zwar die kleinstmöglich mit der impliziten Quote vereinbarte Menge Frauen in entsprechende Positionen befördert wird, jedoch darüber hinaus keine Anstrengungen unternommen werden, die Zahl weiter zu erhöhen (Dezső et al. 2016). Ob politische Vorgaben in Bezug auf den Frauenanteil einen Effekt über die von den Quoten direkt betroffenen Unternehmen hinaus haben, wurde bisher noch nicht untersucht. Da viele Nationen ihre verpflichtenden Vorgaben erst vor Kurzem implementiert haben, sind sichtbare Auswirkungen darüber hinaus vermutlich noch nicht nachvollziehbar. Trotzdem geht ein großer Teil der wissenschaftlichen Literatur davon aus, dass die gesteigerte Sichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen Geschlechterstereotype und damit einhergehende Bedrohungen (s. u.) reduziert und Frauen motiviert, ähnliche Laufbahnen einzuschlagen. Dieser Effekt wurde in einer Vielzahl von Studien demonstriert. Eine Studie von 2012 machte sich die Tatsache zunutze, dass in Indien 1993 ein Gesetz erlassen wurde, das vorschreibt, dass ein Drittel der ländlichen Dorfräte weiblich geführt werden muss (Beaman et  al. 2012). Welches Drittel dies ist, wird über das Zufallsprinzip entschieden, sodass keine systematischen Unterschiede zwischen den

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Dörfern mit weiblichen und solchen mit männlichen politischen Anführern zu erwarten waren. Interviews und Umfragen in einer Stichprobe von 495 Dörfern zeigten, dass in den weiblich geführten Dörfern Mädchen und Frauen größere Karriere- und Ausbildungsziele anstrebten und Unterschiede im Ausbildungsniveau von Jungen und Mädchen eliminiert wurden. Die Autoren führen dies darauf zurück, dass die weibliche Dorfführung den Einwohnerinnen als Vorbild dient und Geschlechterstereotype reduziert (Beaman et  al. 2012). Das wird von unter Laborbedingungen durchgeführten Studien bestätigt. Latu et al. (2013) ließen 149 männliche und weibliche Studenten eine öffentliche politische Rede gegen die Erhöhung von Studiengebühren halten. In dem virtuellen Raum, in dem diese Rede gehalten wurde, hing gut sichtbar entweder ein Poster von Hillary Clinton, Angela Merkel oder Bill Clinton. Studentinnen, die während ihrer Rede das Poster von Bill Clinton sahen, hielten kürzere Reden als ihre männlichen Kommilitonen. Die Studentinnen, die das Poster von Hillary Clinton oder Angela Merkel sahen, hielten jedoch genauso lange Reden wie die männliche Vergleichsgruppe. Objektive Beobachter fanden weiterhin, dass die Qualität der Reden in dem Fall höher war, als bei den Studentinnen, die während ihrer Rede Bill Clinton sahen (Latu et al. 2013). Jedoch führen Vorbilder nicht immer zu uneingeschränkter Nachahmung. Studien belegen, dass der Vergleich mit erfolgreichen Individuen auch dazu führen kann, dass eigene Defizite besonders in den Vordergrund gerückt werden und ein Kontrasteffekt mit negativen Auswirkungen eintritt (Rudman und Phelan 2010; Parks-Stamm et al. 2008; Suls et al. 2002). Welcher der beiden beschriebenen Effekte auftritt, kann durch den Erfolgsgrad des Vorbilds und den Glauben an die Erlernbarkeit von Führungsqualitäten moderiert werden (Hoyt et al. 2012; Hoyt und Simon 2011). Die oben beschriebenen Studien deuten darauf hin, dass verbindliche Quoten den erwünschten Effekt haben könnten, die Anzahl der Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Weiterhin zeigen sie auch, dass ohne entsprechende Maßnahmen eine Erhöhung des Frauenanteils in Unternehmensspitzen mittelfristig nicht zu erwarten ist. Ungeklärt bleibt jedoch, ob die Erhöhung des Frauenanteils tatsächlich zur Nutzung des weiblichen Führungspotenzials in einer auf Toleranz und Fairness basierenden Wirtschaftswelt beiträgt oder ob es sich letztlich um eine rein quantitative Zwangsverschiebung der Geschlechteranteile handelt, die einigen ausgewählten Frauen zum scheinbaren Erfolg verhilft (Seierstad und Opsahl 2011) und mit neuen Formen der Diskriminierung einhergeht (Sturm 2001). cc

Fakt 2: Sowohl in Deutschland als auch weltweit sind die Anteile der Frauen in Führungspositionen niedriger, als der weibliche Talentpool es erwarten lässt. Staaten, die explizite Maßnahmen ergriffen haben, um einen festgesetzten Mindestanteil Frauen in Führungspositionen zu erreichen, haben einen höheren Frauenanteil in betroffenen Unternehmen als Staaten, die (noch) keine expliziten Maßnahmen ergriffen haben. Ob diese Maßnahmen auch den gewünschten Effekt haben, den Frauenanteil über alle Führungsgremien und Branchen hinweg zu erhöhen, ist bisher unsicher. Experimentelle Studien und Studien in nicht wirtschaftsbezogenen Settings deuten zwar darauf hin, dass ein entsprechender Effekt erzielt werden kann, jedoch nur unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen.

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Wie im ersten Teil dieses Kapitels dargelegt, haben Frauen in Führungspositionen einen ähnlichen Führungsstil wie ihre männlichen Kollegen und generieren ähnliche Erfolge. Leichte Unterschiede propagieren sogar einen Vorteil zugunsten weiblicher Führungskräfte – ein Vorteil, den zahlreiche Studien für einen positiven Zusammenhang zwischen der Präsenz weiblicher Führungskräfte und leistungsrelevanten, ökonomischen Faktoren verantwortlich machen. Trotzdem ist der Anteil von Frauen in Führungsgremien niedrig. Folglich müssen andere Gründe als Führungskompetenz und Effektivität den Anteil der Frauen in Führungspositionen negativ beeinflussen.

4

 as sind die Gründe für den Gender Gap W in Führungspositionen?

Um eine Prognose darüber zu treffen, wie der Anteil weiblicher Führungskräfte sich entwickeln wird und ob Geschlechterquoten in Führungsgremien langfristig zu mehr Chancengleichheit für weibliche Führungskräfte führen, ist es notwendig zu verstehen, welche Gründe den bis heute bestehenden Gender Gap in Führungspositionen verursachen. Besonders die Gründe für den Glass-Ceiling-Effekt, der im deutschen Sprachgebrauch als gläserne Decke bezeichnet wird, stoßen bei Forschern auf großes Interesse (Powell und Butterfield 1994). Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor sind nämlich oft ausreichend Frauen in mittleren Managementpositionen vertreten – erst beim Schritt zur Unternehmensspitze stoßen die Frauen laut Theorie auf eine unsichtbare, wenn auch sehr reale Hürde (Reciniello 1999). Die meistgestellte Frage wissenschaftlicher Untersuchungen ist, warum der Anteil der Frauen mit steigendem Hierarchielevel so signifikant sinkt (Terjesen et al. 2009). Entsprechend viele Antwortmöglichkeiten liefert die Literatur: Es ist davon auszugehen, dass es nicht den einen allumfassenden Grund für die aktuelle Situation gibt, sondern abhängig von Kontextfaktoren eine Vielzahl von Gründen zu dem bestehenden Ungleichgewicht der Geschlechter in Führungspositionen geführt hat. Die bisher untersuchten Gründe lassen sich in drei Cluster aufteilen, wobei diese teilweise inhaltlich miteinander verbunden sind: in die sog.  Pipeline-Theorien, in Defizittheorien und in Genderbias-­ Theorien (Heilman 2001). Während die Pipeline- und Defizittheorien vom wissenschaftlichen Standpunkt aus weniger stark im Mittelpunkt stehen, nehmen Theorien, die auf Genderstereotypen und ihren Auswirkungen aufbauen, das Gros der Literatur ein.

4.1

Es gibt nicht genug geeignete Frauen: Die Pipeline-Theorien

Pipeline-Theorien bauen auf der Annahme auf, dass Frauen aufgrund mangelnder Ausbildung in relevanten Bereichen einen zu geringen Pool an potenziellen Führungskräften bereitstellen und daraus folgend in Führungspositionen unterrepräsentiert sind.

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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Gleichzeitig implizieren sie, dass der Gender Gap in Führungspositionen somit in dem Moment geschlossen wird, im dem der Gender Gap im Ausbildungssektor sich schließt und der Pool an Männern und Frauen, die die theoretische Eignung für Führungspositionen haben, gleich groß ist (Rosener 1995; Forbes et  al. 1988; Buono und Kamm 1983; Kanter 1977b). Die Pipeline-Theorien gelten heutzutage weitestgehend als veraltet, da sie bereits in den 1990er-Jahren als Grund für den Gender Gap angeführt wurden und der verhältnismäßig geringe Anstieg des Frauenanteils in Führungspositionen nicht die sich schließende Lücke im Ausbildungssektor widerspiegelt (Reciniello 1999; Sealy und Vinnicombe 2012; Fairfax 2006; Klettner et al. 2016). Wo sie jedoch immer wieder als Argument verwendet wird, ist die Diskussion um den verhältnismäßig geringen Frauenanteil in den MINT-Fächern. Dieser lag 2013–2016 bei unveränderten 29 % an deutschen Hochschulen und erreichte somit nicht einmal vollständig die Quote von 30 %. Insbesondere technische Berufe, wie die Elektrotechnik und Verkehrstechnik, haben sehr geringe Frauenanteile von nur rund 12 %. Dafür besteht in anderen MINT-Fächern wie Pharmazie (69 %), Biologie (62 %) und Architektur (58 %) schon seit Längerem ein Ungleichgewicht zugunsten der Frauen (Destatis 2017). Entsprechend finden sich in DAX-Unternehmen immerhin noch 10,3  % Frauen in Vorstandspositionen, während im TecDax nur 2,9 % der Spitzenpositionen von Frauen besetzt sind (EY 2016). Basierend auf den Pipeline-Theorien müssen sich also die Gender Gaps in anderen Bereichen schließen, sodass daraus folgend automatisch ein Gleichgewicht von Männern und Frauen in Führungspositionen entsteht. Im Jahr 2006 wurde der Global Gender Gap Index entwickelt, um ein vergleichbares Maß für die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu schaffen (World Economic Forum 2014). Unter Berücksichtigung von Geschlechtergleichstellung in den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Politik und Gesundheit zeigt ein Index, der den Höchstwert 1 erreichen kann, das Ausmaß, in dem Mann und Frau in einer Nation gleichwertig behandelt werden. Basierend auf diesem Index hat noch kein Land weltweit den Gender Gap schließen können. Die Rangliste führt Island mit einem Wert von 0,8594 an. Deutschland liegt auf dem zwölften Platz von insgesamt 142 mit einem Wert von 0,7780. Der Global Gender Gap Report 2014 stellte die Pro­ gnose auf, dass es noch bis zum Jahr 2095 dauern wird, bis der Gender Gap geschlossen wird. cc

Fakt 3.1: Auch wenn der Ausbildungs-Gap zwischen Mann und Frau insbesondere in den Industrienationen mittlerweile geschlossen wurde, bietet die Pipeline-­Theorie in bestimmten Branchen eine plausible Begründung für die extrem niedrigen Frauenanteile in Führungsetagen. Trotz des ausgeglichenen Ausbildungsniveaus gibt es auch in den Industrienationen weiterhin Bereiche, in denen Frauen diskriminiert werden. Im weiteren Sinn schließt sich laut Pipeline-­Theorie der Gender Gap in Führungspositionen erst dann, wenn bereichsübergreifend keine Geschlechterdiskriminierung mehr existiert.

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4.2

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Frauen können das nicht: Die Defizittheorien

Defizittheorien basieren auf der Annahme, dass Frauen nicht die richtigen Eigenschaften und Fähigkeiten haben, um gute Führungskräfte zu sein. Bereits im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde dargelegt, dass es dafür kaum einen Nachweis gibt, sondern die meisten Studien Männer und Frauen als gleich geeignet für die Anforderungen einer Führungskraft sehen. Folglich hat diese Annahme zumeist eine frauenfeindliche und diskriminierende Konnotation und entsprechend wenig beschäftigen sich wissenschaftlich oder wirtschaftlich motivierte Untersuchungen mit der Thematik. Auf indirektem Weg jedoch zeigt eine große Anzahl Studien, dass Frauen sowohl von Männern als auch von Frauen als weniger geeignet für Führungspositionen empfunden werden als Männer. Eine klassische Studie von Virginia Schein aus dem Jahr 1973 befragte 361 männliche und 228 weibliche Managementstudenten in Japan und China in Bezug auf Charakteristika, Einstellungen und Temperament einer erfolgreichen Führungskraft und verglich diese mit ähnlichen Studien aus den USA, Großbritannien und Deutschland. Männliche Studenten in allen fünf Ländern ordneten erfolgreichen Führungskräften typisch männliche Attribute zu. Interessanterweise schrieben auch weibliche Managementstudenten in allen Ländern bis auf die USA erfolgreichen Managern männliche Attribute zu. Schein schloss aus dieser Studie auf das bis heute viel zitierte Think-manager-think-male-Phänomen, das kulturunabhängig weltweit zu existieren scheint (Schein 1973, 1975). In einer 22  Länder umfassenden Umfrage stellte die Gallup-Organisation die Frage: Wenn Sie einen neuen Job antreten würden und es sich aussuchen könnten, würden Sie dann lieber für einen Mann oder eine Frau arbeiten? In allen 22 Ländern antworteten sowohl mehr Männer als auch mehr Frauen, dass sie lieber einen männlichen Vorgesetzten hätten (Simmons 2001; Powell 2012). In einer amerikanischen Studie von 2014 gaben sogar mehr Frauen als Männer (39 % vs. 26 %) an, dass sie lieber einen männlichen Vorgesetzten hätten (Riffkin 2014). Die Studien weisen darauf hin, dass wir tendenziell Männer für fähiger halten, eine Führungsrolle auszufüllen. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass dies nicht nur zutrifft, wenn wir andere beurteilen, sondern auch, wenn wir uns selbst beurteilen: Bierema (2016) untersuchte in einer aktuellen Studie das Selbstbewusstsein von Führungskräften und fand, dass männliche Führungskräfte sich häufiger als sehr selbstbewusst bezeichneten (70 % vs. 50 % bei weiblichen Führungskräften) und gleichzeitig auch seltener Selbstzweifel an ihren Führungsfähigkeiten empfanden (31  % vs. 50 % bei Frauen). Eine andere Studie fand, dass selbst unter Wirtschaftsstudenten Frauen sich als weniger häufig für Führungspositionen geeignet sahen als ihre männlichen Kommilitonen (Bosak und Sczesny 2008). Man beachte jedoch, dass die oben genannten Studien subjektiv wahrgenommene oder erwartete Verhaltensweisen von männlichen und weiblichen Führungskräften und nicht ihre tatsächlichen Fähigkeiten erfassen. Diese scheinbar unbegründeten Erwartungen resultieren aus Geschlechterstereotypen, die unsere alltägliche Wahrnehmung maßgeblich prägen und häufig auch verzerren. Die Wirkweisen und Auswirkungen dieser Geschlechterstereotype

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

239

sind daher für die Betrachtungen der Thematik Frauen in Führungspositionen hochrelevant und werden im nachfolgenden Abschnitt ausführlich betrachtet. Objektiv gesehen demonstrieren die Forschungserkenntnisse aus Abschn. 2.1 und 2.2 jedoch, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass Frauen nicht die Voraussetzungen haben, um erfolgreich eine Führungsposition zu bekleiden. cc

4.3

Fakt 3.2: Obwohl es keine Hinweise darauf gibt, dass Frauen schlechtere Führungskräfte sind als Männer, gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass Männer sowohl von Männern als auch von Frauen für geeigneter gehalten werden, eine Führungsposition auszufüllen.

Entweder Frau oder Manager: Geschlechterbias und Stereotype

Laut der oben beschriebenen Studie von Virginia Schein (1973) werden sowohl Männern als auch Führungskräften im Allgemeinen folgende Eigenschaften zugesprochen: Sie sind emotional stabil, aggressiv, haben hohe Führungskompetenz, sind selbstsicher, nicht unsicher, energisch, sie verlangen danach Verantwortung zu übernehmen, sind objektiv, gut informiert, direkt und nicht frivol. Solche gruppenspezifischen Eigenschaften nennt man Stereotype. Sie entstehen durch einen kognitiven Kategorisierungsprozess, der der limitierten Informationsverarbeitungskapazität des Menschen entgegenwirkt. Andere Menschen in Gruppen mit bestimmten Eigenschaften zu kategorisieren ist funktional, da es unsere soziale Umwelt und den damit einhergehenden Informationsfluss vereinfacht (Fiske und Taylor 2013). Erwartungen an das Verhalten eines Managers und an das Verhalten eines Mannes im Allgemeinen stimmen weitestgehend überein. Die oben beschriebenen Eigenschaften entsprechen jedoch nicht weiblichen Stereotypen. Frauen gelten als eher emotional instabil, wenig aggressiv, unsicher, weniger selbstsicher als Männer, subjektiv und weniger direkt im Verhalten. Folglich stimmt die Rolle des Managers in unserer Wahrnehmung nicht mit der Rolle der Frau überein. Hier liegt demnach eine Rolleninkongruität vor, die verhindert, dass Frauen als ebenso kompetente Führungskräfte wie Männer wahrgenommen werden (Eagly und Karau 1991, 2002; Eagly et al. 1992, 1995; Heilman 2001). Diese Rolleninkongruität steigt mit der Höhe der Führungsposition, da die Stereotype für Führungskräfte mit dem Hierarchielevel immer männlicher werden (Eagly und Karau 2002). In der Arbeitswelt hat dies insbesondere Auswirkungen im Bereich der Personalauswahl bei der Besetzung offener Stellen, der Beliebtheit, bei der Leistungsbeurteilung und im Mitarbeiterverhalten (Heilman 1995). Personalauswahl Diverse Untersuchungen belegen, dass Frauen bei der Besetzung von Führungspositionen nachteilig behandelt werden. Bereits in einer Metaanalyse aus dem Jahr 1991 zeigten Eagly und Karau, dass sowohl in experimentellen Studien als auch in Feldstudien, Männer

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im Vergleich zu Frauen eher als Führungspersonen gewählt werden. Nur wenn die Führungsposition eine stark soziale Komponente aufweist, wird für die Führungsposition häufiger eine Frau gewählt (Eagly und Karau 1991). Solche Diskriminierungsprozesse laufen i. d. R. nicht bewusst ab, sondern entstehen durch subtile psychische Mechanismen. So bekamen in einer experimentellen Studie 428 Teilnehmer (darunter 242 Frauen) die Aufgabe, Bewerber und Bewerberinnen zu beurteilen, die sich für die Stelle eines Computerlaborleiters bewarben (Phelan et al. 2008). Dafür bewerteten sie Aufnahmen von manipulierten, inhaltlich identischen Bewerbungsgesprächen, bei denen entweder ein weiblicher oder männlicher Bewerber entweder stereotyp männlich („agentic“) oder stereotyp weiblich („communal“) agierte. So antwortete ein stereotyp männlich agierender Bewerber (unabhängig vom Geschlecht) auf die Frage: Was für einen Führungsstil vertreten Sie?: Keine Frage, ich bin gern der Boss. Ich lasse die Leute wissen, was ich von Ihnen erwarte und ich kann auch Druck machen, wenn sie hinterherhinken. Aber ich bin auch gut darin, Talent zu erkennen und die Mitarbeiter zu fördern, die es verdienen und ihr Bestes für mich geben. Aber ich habe gerne die Verantwortung – bin die Person, die die Entscheidungen trifft. Meiner Erfahrung nach ist das der beste Weg, um die Dinge gut zu machen.

Auf dieselbe Frage antwortete der stereotyp weiblich agierende Bewerber: Also, ich mag es Leute zusammenzubringen, um über die Dinge und Probleme zu sprechen, die gerade anstehen, und zu einem Konsens bezüglich der Entscheidungen zu kommen, die gerade anstehen. Manchmal muss man die Leute ermutigen zu sprechen und ich werde mein Bestes geben, ihnen diese Möglichkeit zu geben. Ich mag es, möglichst viel Input von den Leuten zu erhalten, mit denen ich arbeite.

Die Studienteilnehmer mussten die Bewerber nun im Hinblick auf Kompetenz, soziale Fähigkeiten und Wahrscheinlichkeit, mit der sie den Bewerber einstellen würden, beurteilen. Wie die Metaanalyse vorhersagt, wurden am ehesten männliche Bewerber eingestellt, die sich stereotyp männlich verhielten. Weibliche Bewerber, die sich ebenso stereotyp männlich verhielten, hatten die zweithöchste Wahrscheinlichkeit eingestellt zu werden, obwohl diese signifikant kleiner war als bei ihren männlichen Konkurrenten. Bewerber, die sich stereotyp weiblich verhielten, wurden unabhängig vom Geschlecht deutlich ­weniger wahrscheinlich eingestellt. Die neue Erkenntnis, die diese Studie liefert, ist jedoch, wie die Teilnehmer der Studie implizit rechtfertigten, den Männern unter gleichen Voraussetzungen den Vorzug zu geben: Während die Einstellungswahrscheinlichkeit bei allen Teilnehmern deutlich stärker von der Kompetenz des Bewerbers als seinen sozialen Fähigkeiten abhing, spielte bei den stereotyp männlich agierenden Bewerberinnen plötzlich die wahrgenommene Sozialkompetenz eine größere Rolle als bei den anderen drei Bewerbertypen. Diese jedoch wird bei sich männlich verhaltenden Frauen als geringer eingestuft als bei sich männlich verhaltenden Männern. Sprich, eine unbewusste Verschiebung in der Gewichtung der Einstellungskriterien führte dazu, dass kompetent wirkende weibliche Bewerberinnen, die managertypische Eigenschaften demonstrierten, weniger

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wahrscheinlich eingestellt wurden als sich identisch verhaltende männliche Bewerber. Wie auch schon in anderen Studien zuvor dargestellt, ging das dargestellte Diskriminierungsverhalten sowohl von Frauen als auch Männern gleichermaßen aus – die Stereotype und die damit einhergehenden Prozesse wirkten also bei beiden Geschlechtern gleich. Solch subtiles Diskriminierungsverhalten kann massive Auswirkungen auf den Frauenanteil in Führungsetagen haben, wie eine Simulationsstudie zeigt. In einer Computersimulation untersuchten Martell et al. (1996) die Auswirkungen eines sehr klein ausgeprägten Hiring Bias (1 % der Varianz) auf die Geschlechterverteilung in der Führungsetage eines fiktiven Unternehmens. Sie fanden, dass bei einer eingangs ausgeglichenen Geschlechtersituation durch den Hiring Bias nach nur 20 Zyklen nur noch 35 % Frauen statt 50 % im Top-Management vertreten waren. War der Bias höher eingestellt (5 % der Varianz), so lag der Frauenanteil dann bereits nur noch bei 29 % (Martell et al. 1996). Beliebtheit Ein weiterer von Stereotypen ausgehender Prozess hängt ebenfalls mit fehlender Rollenkongruität zusammen. Dieser wurde in der oben beschriebenen Studie bereits angesprochen und betrifft die Frage, was erfolgreiche Managerinnen in anderen Personen auslösen. In der Studie von Phelan und Kollegen wurde, wie schon von anderen Studien zuvor, bestätigt, dass sich stereotyp männlich verhaltende Frauen als weniger sozialkompetent wahrgenommen werden, als sich identisch verhaltende Männer (Phelan et al. 2008). Dieses Ergebnis zeigt, dass Menschen es bestrafen, wenn sich Individuen nicht rollenkonform verhalten, sprich Rolleninkongruität vorliegt. Vereinfacht gesagt: Personen, die sich nicht ihrer Rolle gemäß verhalten, mögen wir nicht (Heilman et al. 2004). Entsprechend zeigt eine Vielzahl von Studien, dass Frauen, die in stereotyp männlichen Settings erfolgreich sind, weniger gemocht und mehr in ihrer Leistung geschmälert werden, als Frauen, die in stereotyp weiblichen Settings Erfolg haben (Heilman et al. 2004). Weiterhin zeigen Untersuchungen, dass Frauen in Führungspositionen deutlich weniger Unterstützung von ihren Kollegen und Vorgesetzten erhalten als Männer (Ely et al. 2011; Glass und Cook 2016). Im englischen Sprachgebrauch wird für diese negative Reaktion die Bezeichnung „backlash effect“ verwendet (Rudman und Glick 2001). Dieser Backlash-Effekt erzeugt reale, soziale Kosten für Frauen, die Führungspositionen in Unternehmen anstreben – Kosten, die für Männer in dieser Form nicht existieren. Dass angesichts der höheren Kosten w ­ eniger Frauen als Männer bereit sind, hohe Führungspositionen zu bekleiden, wo die Kosten entsprechend höher sind als auf niedrigen Hierarchiestufen, ist daher eine logische Konsequenz. Leistungsbeurteilung Damit der Backlash-Effekt eintritt, muss eine Frau erfolgreich in einer stereotyp männlichen Beschäftigung sein (Heilman et al. 2004). Jedoch unterliegt auch die Größe Erfolg oft subjektiven Beurteilungskriterien. Eine Studie von Bigelow und Kollegen (2014) untersuchte, ob Investoren gleich viel Vertrauen in weibliche und männliche Vorstandsvorsitzende haben. Dafür bekamen 222  MBA-Studenten (davon 45  Frauen) Informationen zu einem fiktiven Unternehmen, das plant in Kürze an die Börse zu gehen. Manipuliert wurden

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dabei das Geschlecht des Vorstandsvorsitzenden und die Geschlechterverteilung im Vorstand. Im Anschluss mussten die Studenten entscheiden, wie viel Prozent eines verfügbaren Budgets sie in das Unternehmen investieren würden und ausgehend von einem Referenzwert, welchen Wert die Aktie drei Jahre nach dem Börsengang haben würde. Außerdem sollten sie auf Basis der Informationen über den Vorstandsvorsitzenden (die bis auf das Geschlecht für alle hypothetischen Vorstände identisch waren) anhand eines Fragebogens darstellen, wie sie den Vorstandsvorsitzenden in Bezug auf folgende Eigenschaften einschätzen würden: Erfahrung; Führungskompetenz; Eignung aus Sicht des Finanzmarkts; Fähigkeit, festgefahrene Situationen und Dispute im Vorstand zu lösen; Durchsetzungskraft angesichts unliebsamer Entscheidungen und Krisenmanagement. Die Studie zeigt, dass die weiblichen Führungskräfte in allen Eigenschaften bis auf Durchsetzungskraft und Krisenmanagement als weniger kompetent eingeschätzt wurden als Männer  – trotz der identischen Erfolgsgeschichte der fiktiven weiblichen und männlichen Vorstände. Weiterhin wirkte sich dies signifikant auf die Investmentempfehlungen der Teilnehmer aus. In weiblich geführte Unternehmen wurde weniger Geld investiert und die Prognose für den zukünftigen Aktienwert war niedriger als für männlich geführte Unternehmen (Bigelow et al. 2014). Diese Ergebnisse stimmen mit den Ergebnissen einer Metaanalyse von Eagly et al. (1992) über 61  Studien überein, die Bewertungen von männlichen und weiblichen Führungskräften untersuchten. Die Metaanalyse ergab, dass Männer als Führungskräfte positiver evaluiert werden als Frauen. Dieser Effekt verstärkt sich noch, wenn Frauen einen maskulinen Führungsstil an den Tag legen, wenn sie in einem männlich attribuierten Umfeld agieren (z. B. dem Investment-Markt, s. Studie oben) und sie von Männern bewertet werden. Andere Untersuchungen belegen auch, wie Verhaltensweisen, die nicht unbedingt direkt mit Führungskompetenz gleichzusetzen sind, unterschiedlich bewertet werden  – je nachdem, ob die handelnde Person ein Mann oder eine Frau ist. Beispielsweise werden Männer, die viel sprechen und wortgewandt sind, positiv bewertet, während dies bei Frauen negativ bewertet wird (Brescoll 2011). Ebenso werden Frauen gesellschaftlich bestraft, wenn sie sich in positiver Selbstdarstellung üben. Da das Stereotyp vorsieht, dass die weibliche Rolle Bescheidenheit beinhaltet, verletzt positive Selbstdarstellung die gesellschaftliche Erwartung an das weibliche Verhalten (Rudman 1998). Diese beispielhaft gewählten Untersuchungen zeigen, dass Rolleninkongruität sich auch auf die Leistungsbeurteilung von weiblichen Führungskräften auswirkt. Zusammen mit den zuvor dargestellten Ergebnissen ergibt sich für weibliche Führungskräfte ein deutliches Dilemma: Bedingt durch weibliche Stereotype ist es für Frauen schwer, entsprechende Leistungen anerkannt zu bekommen und ein Image als erfolgreiche Führungskraft aufzubauen. Hat eine weibliche Führungskraft diese Hürde jedoch erst einmal überwunden und wird als erfolgreich betrachtet, ergibt sich daraus der Backlash-Effekt, der dazu führt, dass die Frau nicht gemocht wird und wenig soziale und arbeitsbezogene Unterstützung erfährt – was wiederum zu verringerten Leistungen führen kann. Einen kleinen Lichtblick beinhaltet dieses Dilemma für Frauen jedoch: Eine Studie zeigt, dass mittlerweile auch der Effekt eintritt, dass Frauen, die Top-Positionen in Unternehmen erreichen, als kompetenter und leistungsfähiger als Männer eingestuft werden, da

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es bekannt ist, dass der Weg dahin für Frauen oft schwerer ist als für Männer (Rosette und Tost 2010). Allerdings lässt sich an diesem Punkt die Vermutung anstellen, dass die Einführung von Quoten diesen Effekt wieder nivellieren könnte. Verhalten Die bisher betrachteten Punkte zeigen deutlich auf, dass sich die wahrgenommene Inkon­ gruität zwischen der Frauenrolle und der Managerrolle hauptsächlich negativ auf die Wahrnehmung anderer auswirkt. Doch welche Auswirkungen hat die Rolleninkongruität auf weibliche Führungskräfte selbst? Wenn wir denken, dass jemand uns basierend auf negativen Stereotypen beurteilt, entsteht der sog. „stereotype threat“ oder die sog. Bedrohung durch Stereotype. Viele Studien zeigen, dass diese Bedrohung zu einer Verringerung der Leistungsfähigkeit führt, da gruppentypische negative Eigenschaften plötzlich in den Vordergrund rücken (z. B. Steele und Aronson 1995; Davies et al. 2002; Roberson und Kulik 2007). Um eine Bedrohung durch Stereotype auszulösen, reicht es bereits, Teil einer numerischen Minderheit innerhalb einer bestehenden Gruppe zu sein – wie beispielsweise eine von wenigen oder sogar die einzige Frau in einem Vorstand oder Aufsichtsrat (Hoyt et al. 2010; Kanter 1977a; Hippel et al. 2011; Inzlicht und Ben-Zeev 2000; Sekaquaptewa und Thompson 2003). Da die Bedrohung durch Stereotype negative Emotionen auslöst, ist eine mögliche Vermeidungsstrategie, sich keinen Situationen auszusetzen, in denen dieser aufkommen kann – wie z. B. in einem technischen Studiengang oder einer hohen Führungsposition (Schmader et al. 2008). Befindet man sich jedoch längerfristig in einem Umfeld, das negative Stereotype salient macht, z.  B. weil man in diesem Umfeld Teil einer Minderheit ist, gibt es zwei weitere Möglichkeiten der Bedrohung durch Stereotype auszuweichen: 1) die gruppenspezifischen Stereotype innerhalb des Umfelds zu verändern oder 2) sich von der negativ bewerteten Gruppe zu distanzieren (Derks et al. 2016). Während die erste Strategie tendenziell nur im Kollektiv erreichbar und im Regelfall ein langwieriger Prozess ist, obliegt die Möglichkeit, sich von der Gruppe zu distanzieren, jedem Individuum einzeln. Frauen, die die Distanzierungsstrategie in Führungspositionen anwenden, werden in der Literatur als „Queen Bees“, zu Deutsch Bienenköniginnen, bezeichnet (z. B. Derks et al. 2016). Solche Managerinnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie quasi allein in stark männlich dominierten Arbeitsumfeldern erfolgreich sind, sich dabei an die maskuline Kultur anpassen und die Diskriminierung von anderen Frauen durch ihr eigenes Verhalten legitimieren (Derks et al. 2016). Studien zeigen, dass Queen Bees sehr kritisch mit jüngeren Frauen umgehen und besonders in der Leistungsbewertung anderer Frauen von Stereotypen beeinflusst werden. Sie tolerieren diskriminierende Auswahlprozesse und zeigen nur geringe Bereitschaft, Mentoring-Aufgaben für jüngere Frauen zu übernehmen (Derks et al. 2011a, b, 2016; Ellemers et al. 2004; Stroebe et al. 2009). Das Queen-Bee-Phänomen zeigt sich besonders stark bei älteren im Vergleich zu jüngeren Generationen von Frauen (Ellemers et al. 2004). In einem experimentellen Untersuchungsdesign wurde weiterhin gezeigt, dass zwei unterschiedliche Effekte zum Tragen kommen, wenn erfolgreiche Managerinnen nur wenig Bereitschaft zeigen, jüngere Generationen weiblicher Führungskräfte zu fördern. In dieser Studie hatten

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Queen Bees die Wahl zwischen entweder zwei hoch qualifizierten Bewerbern oder zwei durchschnittlich qualifizierten Bewerbern, von denen jeweils einer männlich und einer weiblich war. Die Studie zeigt, dass in keinem der beiden Fälle eine Frau eingestellt wurde. War die weibliche Bewerberin hoch qualifiziert, hatten die Queen Bees Angst vor der Konkurrenz. War die Bewerberin nur durchschnittlich qualifiziert, hatten sie Angst, dass mögliche schlechte Leistung negativ auf die eigene Bewertung in der Rolle als Frau zurückfallen könnte (Duguid 2011). Da das Queen-Bee-Phänomen hauptsächlich dann auftritt, wenn Frauen als Einzelkämpferinnen an Unternehmensspitzen agieren, könnten entsprechende Quoten hier tatsächlich Abhilfe schaffen. Dies belegen auch Studien, die fanden, dass Frauen in Führungspositionen eine Vorbildfunktion für Mitarbeiterinnen haben und so durch Si­ gnaling und Mentoring Karriereanreize für Frauen setzen können (De Mascia 2015; Daily und Dalton 2003; Sheridan 1995). Zudem können sie auch aktiv mehr Frauen in Führungspositionen befördern. Cohen und Broschak (2013) berichten, dass weibliche Top-Manager mehr Managerpositionen schaffen, die sie anschließend mit Frauen besetzen. Bis zu einem Frauenanteil von etwa 25  % auf Führungsebene werden auch mehr männliche Manager eingestellt; ist der Frauenanteil jedoch höher – und somit die Voraussetzung für das Queen-Bee-Phänomen nicht mehr gegeben – so sinkt die Zahl der eingestellten männlichen Führungskräfte. Folglich versuchen weibliche Führungskräfte, sobald die kritische Masse erreicht ist, den Anteil der Frauen in Führungspositionen auszubauen, statt niedrig zu halten. Eine Studie über 66 Nationen weltweit zeigt, dass durch die entsprechende Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen Stereotype weiter reduziert werden können (Miller et al. 2015), was wiederum zu einer Verminderung aller Effekte führen sollte, die aus der Rolleninkongruität von Frauen und Managern entstehen. cc

Fakt  3.3: Die stereotypen Eigenschaften der Rolle als Frau und der Rolle als Manager sind inkompatibel. Die daraus resultierende wahrgenommene Rolleninkongruität führt dazu, dass weibliche Führungskräfte durch oft unbe­ wuss­te psychologische Mechanismen schlechter beurteilt und weniger gemocht werden und Frauen sich entweder selbst nicht als geeignet sehen, eine Führungsposition zu bekleiden, oder sich von anderen Frauen distanzieren.

Die oben dargestellten Effekte von Genderstereotypen liefern eine Vielzahl von Gründen, aus denen die Zahl der Frauen in Führungspositionen weithin unter den Erwartungen und Zielwerten liegt. Da die Rolleninkongruität zwischen Frau und Manager mit dem Hierarchielevel der Führungsposition steigt, bietet diese auch eine gute Begründung für den sog. Glass-Ceiling-Effekt, also die gläserne Decke, an der die Führungskarrieren vieler Frauen ein Ende zu finden scheinen. Trotzdem wurde die Glasdecke in der Vergangenheit von immer mehr Frauen durchbrochen. Im folgenden Abschnitt soll nun beleuchtet werden, welche Strategien und Effekte die Karrierewege dieser Frauen begünstigt haben.

Frauen in Führungspositionen – Einige Fakten

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 rauen in Führungspositionen – Warum sind manche Frauen F erfolgreich?

Auch wenn die Anzahl der Frauen in Top-Managementpositionen von Experten als zu niedrig eingestuft wird, handelt es sich dabei doch nur um eine Interpretation. Fakt ist: Trotz der zahlreichen, im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Hürden gibt es mittlerweile eine nicht zu vernachlässigende Zahl Frauen, die in eben diesen Top-­Managementpositionen agiert. Ein ganzer Forschungszweig beschäftigt sich mit der Fragestellung, welche Charakteristika und Verhaltensstrategien erfolgreiche weibliche Führungskräfte auszeichnen.

5.1

Lean-in: Die atypische Frau in der Führungsposition

Die wohl populärste Strategie erfolgreicher Top-Managerinnen ist die Anpassung an die männliche Führungskultur. Wie bereits unter dem Queen-Bee-Phänomen angesprochen, dient eine Veränderung gruppenspezifischer Verhaltensweisen der Reduzierung der Bedrohung durch Stereotype. Während das Queen-Bee-Phänomen sich ausschließlich auf weibliche Top-Führungskräfte in männlich dominierten Führungskulturen bezieht, kann man eine entsprechende Anpassung an männliche Verhaltensweisen bei weiblichen Führungskräften über unterschiedliche Hierarchielevel und Arbeitsumgebungen hinweg beobachten. Eine klassische Studie von Diamond (1971) zeigte bereits, dass sich Männer und Frauen umso ähnlicher in Bezug auf Maskulinität und Feminität waren, je höher das Hierarchielevel war, auf dem sie agierten. In einer umfassenden Literaturübersicht kam auch Terborg (1977) bereits wenig später zu dem Schluss, dass männliche und weibliche erfolgreiche Führungskräfte aus dem mittleren Management sich in ihren Attributen stark ähneln. Eine zeitgleich veröffentlichte Studie berichtete jedoch, dass die ausschließlich männlichen Verhaltensweisen bei weiblichen Führungskräften nur zu Anfang ihrer Karriere beobachtbar waren. Im weiteren Verlauf ihrer Karriere veränderten die beobachteten Frauen ihren Führungsstil und zeigten eine höhere Mitarbeiterorientierung – zeigten also ein deutlich weiblicheres Verhalten als noch zu Anfang (Hennig und Jardim 1977). Diese Veränderung im Verhalten deutet darauf hin, dass die Frauen sich besonders am Anfang ihrer Karriere verstellen, wenn sie besonders stark beobachtet werden und die Bedrohung durch Stereotype sehr präsent ist. Zenger und Folkman (2012) betrachteten die Beurteilungen von 7000  Führungskräften (36  % weiblich) aus erfolgreichen Unternehmen. Dabei erreichten die Frauen in 75 % der Fragen höhere Bewertungen als die männlichen Führungskräfte – inklusive solcher Fragen, die auf typisch männliche Verhaltensweisen abzielen. Den größten Unterschied (Frauen favorisierend) fand man z. B. in Bezug auf die Kompetenzen „ergreift die Initiative“ und „ist ergebnisorientiert“, die allgemein eher Männern zugesprochen werden. Entsprechend zeigen Studien, dass auch die Hintergründe und Karrierewege von erfolgreichen Männern und Frauen in hohen Führungspositionen sehr ähnlich sind (Miller Burke und Attridge 2011; Laud und Johnson 2013).

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Obwohl einige Frauen, die die Strategie der Anpassung an maskuline Führungskulturen anwenden, erfolgreich zu sein scheinen, berichten Experten auch von negativen Folgen. De Jong (2014) berichtet im Rahmen einer Veröffentlichung, dass das holländische Telekommunikationsunternehmen KPN die Bemühungen nach mehr Geschlechterdiversität eingestellt hat, nachdem sie eigentlich nach weiblichen Führungskräften suchten, die „basierend auf ihrer Feminität andere Werte, Einsichten und Qualitäten mit in das Unternehmen bringen würden“. Stattdessen stellte man jedoch fest, dass die eingestellten Managerinnen „in ihrem Verhalten und ihren Kompetenzen den Männern, die bereits da waren, sehr ähnlich waren – einschließlich ihrer Schwächen“ (De Jong 2014 zit. nach Derks et al. 2016). Dieses Beispiel zeigt, dass weibliche Stereotype nicht mehr unbedingt als inkompatibel mit Führungskompetenz bewertet werden. Es zeigt aber auch, dass ein Verleugnen oder Kaschieren weiblicher Kompetenzen auf lange Sicht nicht den Erfolg der Frau als Führungskraft sichern wird. Moderne Unternehmen, bei denen die nun schon seit Jahrzehnten andauernde Bekämpfung der negativen Folgen von Rolleninkongruität endlich Früchte trägt, zeigen sich enttäuscht, wenn die neueingestellte Managerin sich nicht von ihren männlichen Kollegen unterscheidet. Weiterhin verpufft durch die männlichen Verhaltensweisen der positive Effekt der weiblichen Führungskraft als Vorbild. Eine Studie verglich Unternehmen, die mindestens 15 % Frauenanteil an der Unternehmensspitze hatten und somit nicht die Voraussetzungen für das Queen-Bee-Phänomen erfüllten, und solche, die weniger als 15 % Frauenanteil auf Vorstandsebene hatten und somit einen guten Nährboden für das Queen-Bee-­Phänomen boten. Mitarbeiterinnen in den männlich geführten Unternehmen nahmen die wenigen Managerinnen an der Unternehmensspitze als deutlich schlechtere Vorbilder wahr und fühlten sich ihnen weniger verbunden als die Mitarbeiter in Unternehmen mit mindestens 15 % Frauenanteil an der Führungsspitze (Ely 1994). Ebenso hat sich gezeigt, dass weibliche Top-Führungskräfte eine kürzere Verweildauer in ihrer Position haben als der durchschnittliche männliche Kollege (Glass und Cook 2016). In Deutschland wurde dies auffällig, als innerhalb von drei Jahren 17 Frauen in die DAX-Vorstände einzogen und nach kurzer Zeit acht von ihnen wieder gingen ­(Sattelberger 2014; Büschemann und Busse 2014). Ob dies jedoch tatsächlich auf das Geschlecht der Vorstände zurückzuführen ist, bleibt fraglich. Laut Max-Planck-Institut liegt die kurze Verweildauer der Managerinnen daran, dass Frauen häufiger als Männer quereinsteigen und dann das Personal Ressort verwalten. Betrachtet man im Vergleich männliche Vorstände, die unter den gleichen Bedingungen ihre Vorstandsposition begonnen haben, unterscheiden sich die Verweildauern zwischen den Geschlechtern nicht (Max-Planck-­ Institut 2014). Sollte die spezielle Position von weiblichen Vorständen jedoch eine Rolle für die kurzen Verweildauern spielen, ist eine Vermutung, dass die strategische Entfeminisierung des weiblichen Verhaltens diese begünstigt (Sattelberger 2014). Die bis jetzt dargestellten Studien geben jedoch wenig Aufschluss darüber, aus welchem Grund sich erfolgreiche Managerinnen häufig ebenso maskulin verhalten wie ihre männlichen Kollegen. Prinzipiell sind jedoch zwei Gründe möglich: 1) Frauen verstellen sich bewusst oder teilweise unbewusst, um der Bedrohung durch Stereotype zu entgehen

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oder 2) es findet ein Selektionsprozess vorab statt, der nur solche Frauen auf der Karriereleiter weiterlässt, die auch unabhängig von ihrer Rolle als Führungsperson ein eher maskulines Wesen haben. Beim zweiten Punkt könnte man noch zwischen zwei Optionen unterscheiden, nämlich a) einem Selbstselektionsprozess, der dazu führt, dass nur Frauen mit maskulinem Wesen ein Interesse daran haben, eine hohe Führungsposition anzustreben, und b) einem Selektionsprozess durch Einstellungskomitees, die nur solche Frauen als Führungspersonen einstellen, die eher maskulin auftreten. Um zu ermitteln, welche Rolle die einzelnen Gründe spielen, versuchen einige Untersuchungen herauszufinden, inwieweit sich die weibliche Führungskraft von der durchschnittlichen Frau in der Bevölkerung unterscheidet. Eine frühe Untersuchung fand dabei bereits u. a., dass karriereorientierte Frauen im Vergleich zu Hausfrauen niedrigere Werte auf typisch femininen Skalen erzielten (Oliver 1974). Eine andere Studie verglich Frauen, die in Business Settings arbeiteten, mit solchen, die in traditionell weiblichen Berufen (z.  B.  Krankenschwestern) tätig waren. Obwohl in Bezug auf die Gesamtheit der beiden Gruppen kein Unterschied feststellbar war, so fand man, dass die Frauen sich selbst mit steigendem Hierarchielevel als weniger weiblich und männlicher einstuften (Moore und Rickel 1980). Untersuchungen, die Geschlechterunterschiede in der Bevölkerung mit Geschlechterunterschieden im Management untersuchten, kommen zu dem Ergebnis, dass  – obwohl Geschlechterunterschiede in der Bevölkerung durchaus vorhanden sind – diese bei Führungskräften nahezu verschwinden (Melamed und Bozionelos 1992). Eine jüngere schwedische Erhebung bestätigt dies, da weibliche Führungskräfte sich in ihren Werten deutlich von der weiblichen Bevölkerung unterschieden und in bestimmten Werten mehr Gemeinsamkeiten mit den männlichen Führungskräften aufwiesen als mit anderen Frauen (Adams und Funk 2012). Diese dargestellten Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass Frauen ihr Verhalten verändern, wenn sie in höhere Positionen aufsteigen und unterstützen die Hypothese, dass Frauen ihr Verhalten anpassen, um der Bedrohung durch Stereotype zu entgehen. Ebenso ins Bild passt die oben zitierte Studie von Hennig und Jardim (1977), die zeigte, dass Frauen nach einer gewissen Zeit auf einer Hierarchieebene wieder in eher feminine Verhaltensweisen zurückfallen. Das Ratgeberwerk von Facebook COO Sheryl Sandberg Lean in gibt Frauen mit Führungsaspirationen den Ratschlag, sich den männlichen Führungskulturen anzupassen und so langfristig den Anteil der Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Das bietet einen Hinweis darauf, dass es sich bei der Verhaltensanpassung um eine bewusste Strategie und nicht nur um einen unbewussten Schutzmechanismus handelt (Sandberg 2013). cc

Fakt  4a: Weibliche Führungskräfte nutzen häufig und teilweise bewusst die Strategie, ihre eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen den männlichen Führungskulturen anzupassen. Kurze Verweildauern von Frauen in Top-Managementpositionen sowie negative Auswirkungen in Bezug auf die Vorbildfunktion gegenüber Junior Managerinnen bieten Grund zu der Annahme, dass diese Strategie nur kurzfristigen Erfolg verspricht.

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5.2

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Frauen in Risikopositionen – die Glass-Cliff-Theorie

Gemäß der Glass-Cliff-Theorie werden Frauen bevorzugt dann in eine Führungsposition berufen, wenn diese besonders riskant und unsicher ist (Ryan et al. 2016). Die Theorie entstand basierend auf einer Analyse der monatlichen Veränderung von Aktienpreisen Londoner Börsenunternehmen. Ein Beitrag der Britischen Zeitung The Times kam zu dem Ergebnis, dass Aktienpreise fielen, wenn weibliche Vorstände eingestellt wurden, während sie jedoch stabil blieben, wenn Männer eingestellt wurden. Ryan und Haslam (2005) wiederholten die Analyse und achteten dabei auch auf die Aktienpreisentwicklung vor der Neueinstellung. Dabei kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die Aktienpreise der Unternehmen, die einen Mann einstellten, bereits zuvor stabil waren, während die Aktienpreise der Unternehmen, die eine Frau einstellten, sich zuvor schlecht entwickelt hatten. Genauere Untersuchungen bestätigten, dass diese Unternehmen sich häufig in einer akuten Krisensituation befanden, als sie die Entscheidung trafen, ein weibliches Vorstandsmitglied einzustellen (Ryan und Haslam 2007). Nachfolgende Untersuchungen bestätigten die Ergebnisse in Bezug auf den amerikanischen Aktienmarkt (Brady et al. 2011; Cook und Glass 2014), amerikanische Behörden (Smith und Monaghan 2013) und die britische Parteienlandschaft (Ryan et al. 2010; für eine Übersicht s. Ryan et al. 2016). Als mögliche Ursachen für dieses Phänomen werden verschiedene Gründe diskutiert. Zum einen fördern Krisen allgemein die Risikobereitschaft von Betroffenen (Kahneman und Tversky 1979). In organisationalen Settings kann dies dazu führen, dass der Status quo hinterfragt oder neue Dinge ausprobiert werden (Boin und Hart 2003). Wenn weibliche Führungskräfte als besondere Ressource mit speziellen Eigenschaften und Fähigkeiten wahrgenommen werden, steigt somit die Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung bei einer Neubesetzung der Führungsspitze auf eine Frau fällt. Weiterhin vermutet man, dass Unternehmen sich eine bestimmte Signalwirkung in Bezug auf eine radikale Neuausrichtung des Unternehmens sowohl extern als auch intern erhoffen, wenn sie eine Frau in den Vorstand rufen (Khurana 2002). Eine Vermutung ist, es sei wahrscheinlicher, dass eine Frau das Angebot einer Glass-Cliff-Position annimmt, als dass ein Mann dies tut. Männer haben nämlich häufig alternative (weniger risikobehaftete) Angebote vorliegen, aus denen sie wählen können, während sich Frauen über die Glass-Cliff-Position häufig eine Tür öffnet, die ihnen sonst verschlossen geblieben wäre. Eine experimentelle Untersuchung bietet einen weiteren Faktor, der das Glass-Cliff-Phänomen begünstigt. Wirtschaftsstudenten wurde eine von drei hypothetischen Glass-Cliff-Positionen angeboten: eine mit sozialen und finanziellen Ressourcen, eine ohne soziale Ressourcen und eine ohne finanzielle Ressourcen. Während weibliche Studienteilnehmer die Position ohne soziale Ressourcen als am wenigsten attraktiv bewerteten, wählten die männlichen Teilnehmer die Position ohne finanzielle Ressourcen (Rink et al. 2012). Da in der Praxis Krisenunternehmen tendenziell weniger finanzielle Ressourcen bieten können, werden Glass-Cliff-Positionen folglich von männlichen Anwärtern weniger attraktiv bewertet als von weiblichen. In einer Interviewstudie wurden amerikanische Top-Managerinnen auf das Glass-­CliffPhänomen und ihre eigene Position in Verbindung mit dem Phänomen befragt (Glass und

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Cook 2016). Die Frauen bestätigten die Existenz und die Wirkweise des Phänomens. Überraschenderweise jedoch sagten die Frauen aus, dass sie sich des hohen Risikos, dem sie sich durch die Führungsposition aussetzten, vollauf bewusst gewesen wären. Weiterhin sagten sie, dass sie die Position mit dem Ziel angenommen hätten, sich als Führungskräfte zu beweisen und mehr als Führungsperson und weniger als Frau wahrgenommen zu werden (Glass und Cook 2016). Entsprechend finden auch Adams und Funk (2012) in ihrer schwedischen Studie, dass weibliche Führungskräfte deutlich risikofreudiger sind, als die durchschnittliche Schwedin  – und sogar als ihre männlichen Kollegen. Diese Aussage weist darauf hin, dass Frauen in hohen Führungspositionen sich weiterhin stark durch Stereotype bedroht sehen und Strategien anwenden, um sich vom stereotypen Frauenbild zu distanzieren. cc

Fakt 4b: Es existiert ein Glass-Cliff-Phänomen, nach dem Frauen vermehrt dann in Führungspositionen gerufen werden, wenn sich das entsprechende Unternehmen in einer Krise befindet. Daher besetzen weibliche Führungskräfte oft besonders risikobehaftete Führungspositionen.

Abgesehen von den oben ausgeführten Gründen für den Erfolg einiger Frauen als Führungskräfte untersuchen zahlreiche Studien Faktoren auf individueller Ebene, die für erfolgreiche Managementkarrieren von Frauen ausschlaggebend sein können. So fanden Forscher, dass Frauen, die reine Frauenschulen besuchten, mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreiche Karrieren absolvierten, als Frauen, die geschlechtlich gemischte Schulen besuchten (Ledman et al. 1995). Eine aktuelle Studie stellte die Frage auf, inwieweit Kleidungsstil und die Verwendung von Make-up die Wahrnehmung weiblicher Führungskräfte beeinflusst, und fand, dass Frauen, die Make-up, Schmuck und Hosen trugen, als kompetenter wahrgenommen werden, als Frauen, die weder Make-up noch Schmuck und Röcke trugen. Weiterhin wurden Frauen, die ihr Haar offen trugen, eher eingestellt als solche, die ihre Haare im Zopf trugen (Klatt et al. 2016). Weitere Forscher beschäftigen sich damit, wie Verhalten und Rückhalt des Ehepartners die Karriere von weiblichen Führungskräften beeinflussen. Wenn Ehepartner bereit sind, traditionelle Rollenbilder aufzugeben und ihre Ehefrauen sowohl psychisch als auch praktisch zu unterstützen, dann hat dies spürbar positive Auswirkungen auf die Karrieren der Ehefrauen (Heikkinen et  al. 2014). Obwohl diese Faktoren im Einzelfall vielleicht ausschlaggebend für den Karriereweg einer Frau gewesen sein können, bieten sie jedoch kaum Hebel für weitreichende Veränderungen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele erfolgreiche Managerinnen sich dadurch auszeichnen, dass sie sich den maskulinen Strukturen in Organisationen anpassen und ihr eigenes Verhalten verändern, indem sie sich wenig weiblich und eher männlich geben. Diese Strategie ist eine logische Konsequenz aus den oben dargestellten Bedrohungen, die durch Geschlechterstereotype entstehen. Weiterhin erreichen viele Frauen ihre Position erst durch den Glass-Cliff-Effekt, der von Frauen ein besonders hohes Maß an Risikobereitschaft fordert und somit solchen Frauen den Vorzug gewährt, die die Anpassung

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an die männliche Kultur besonders erfolgreich umsetzen. Langfristige Erfolge verspricht dieses Verhalten jedoch nicht, da männlich agierende Frauen weniger als Vorbild wahrgenommen werden und häufig nur verhältnismäßig kurze Zeit in ihren Rollen als Top-Führungskräfte verweilen.

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Frauen in Führungspositionen – was muss sich ändern?

Im Vergleich zu Männern sind Frauen menschen- und beziehungsorientierter, zeigen mehr Sorge und Mitgefühl und sind besser in der Dekodierung nonverbaler Kommunikation sowie emotionaler Ausdrucksfähigkeit. Diese Fähigkeiten werden im Managementkontext häufig mit einem weiblichen Vorteil in Verbindung gebracht, der Frauen nicht nur zu ebenbürtigen, sondern sogar besseren Führungskräften als Männer macht. Viele Studien belegen den sog. Business Case für Frauen, der weibliche Führung mit unternehmerischem Erfolg assoziiert. Gleichzeitig finden viele Studien auch keinen nachhaltigen Einfluss weiblicher Führungskräfte auf den Unternehmenserfolg – oder sogar einen negativen. Betrachtet man das Verhalten weiblicher Führungskräfte in Bezug auf Führungsstil sowie Feminität und Maskulinität, so spricht dieses nur selten für einen tatsächlichen weiblichen Vorteil. Stattdessen weichen die Managerinnen in ihrem Verhalten kaum von ihren männlichen Kollegen ab und demonstrieren weniger feminines und mehr maskulines Verhalten als die durchschnittliche Frau aus der Bevölkerung und sind somit ihren männlichen Kollegen in ihrem Verhalten sehr ähnlich. Dieses maskuline Verhalten resultiert aus Selektionsprozessen, die eng mit geschlechtsbezogener Voreingenommenheit in Verbindung stehen. Da mit der Rolle der Frau Eigenschaften verbunden werden, die nicht mit der Rolle einer Führungskraft übereinstimmen, entsteht Rolleninkongruität, die sich negativ auf die subjektive Interpretation einer Person auswirkt. So werden weibliche Führungskräfte weniger wahrscheinlich eingestellt, schlechter in ihrer Leistung beurteilt oder weniger gemocht als männliche Führungskräfte. Die psychologischen Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, sind zumeist unbewusst und nahezu perfide. Eine Strategie, die weibliche Führungskräfte entwickelt haben, um diesen Mechanismen entgegenzuwirken, ist das ­Verleugnen der eigenen Weiblichkeit und die Anpassung an männliche Verhaltensweisen, die noch die Führungskulturen der meisten Unternehmen bestimmen. Dies führt jedoch dazu, dass die männlichen Führungskulturen weiterhin bestehen bleiben, der weibliche Vorteil nicht genutzt werden kann und die Zahl der Frauen in Führungspositionen nur über gesetzliche Bestimmungen und ähnliche Initiativen künstlich erhöht werden kann. Der kurze Verbleib vieler Frauen in Vorständen deutet bereits darauf hin, dass eine nachhaltige Lösung generiert werden muss, um den bestehenden Teufelskreis zu durchbrechen. Der Konsens unter Experten lautet, dass eine nachhaltige Lösung nur generiert werden kann, wenn sich die Organisations- und insbesondere Führungskulturen verändern und folglich das Bild des Managers weniger als stereotyp männlich betrachtet wird (Derks et  al. 2016). Nicht die Frauen, sondern die historisch bedingt rein männlich geprägten Kulturen der obersten Führungsetagen sind defizitär im Hinblick auf die angestrebte

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Geschlechtergleichheit (Beck und Davis 2005; Hewlett und Luce 2005; Palermo 2004; Meyerson und Fletcher 2000; Piterman 2008). Diese Kulturen sind geprägt von strategischen Allianzen, einer Gewinner-Verlierer-Mentalität, geringer Flexibilität und einer 24-7-Arbeitsethik, die dem weiblichen Naturell widersprechen (Sinclair 2005; Rutherford 2001; Piterman 2008). Weiterhin verwehren die „old boy networks“ (Hennig und Jardim 1977) der männlichen Führungselite, die maßgeblich an der Gestaltung der Organisationskulturen beteiligt sind, Frauen häufig den Zutritt zu den karrieretreibenden Netzwerken, sodass diese auf sich allein gestellt und mit weniger Unterstützung als ihre männlichen Kollegen die Karriereleitern erklimmen müssen (O’Neil et al. 2011; Linehan 2001; Brass 1985). Aus diesen Defiziten resultiert ein lauter werdender Ruf nach einem kulturellen Wandel der Arbeits- und Unternehmenswelt. Eine experimentelle Studie von Walker und Aritz (2015) untersuchte, wie häufig Frauen in 22 gemischtgeschlechtlichen Gruppen innerhalb einer maskulin geprägten Kultur als Anführer der Gruppe wahrgenommen wurden. Obwohl basierend auf dem Verhalten ein objektives Komitee in acht von den 22 Gruppen eine Frau als Anführerin identifizierte und in sechs weiteren Gruppen eine Frau die geteilte Führungsposition innehatte, wurde in keiner der 22  Gruppen eine Frau von den Gruppenmitgliedern als Anführerin anerkannt. Bereits Sinclair (2005) definierte vier Phasen, die ein Unternehmen durchlaufen muss, um eine frauenfreundliche Organisationskultur zu etablieren. Die erste Phase ist die Ausgangssituation, in der eine Problematik in Bezug auf Geschlechterdiskriminierung im Unternehmen noch geleugnet und somit ignoriert wird. In einer zweiten Phase wird das Problem zwar anerkannt, jedoch als Ursache noch die Frau mit ihren nicht für Managementpositionen geeigneten Eigenschaften gesehen. In der dritten Phase erkennt man das Problem an und entwickelt Maßnahmen am Rande, die einzelnen Frauen den Zugang zu weiterhin maskulinen Führungskulturen gestatten. Erst in der vierten Phase werden die zugrunde liegenden Strukturen, die Frauen den Zutritt in die Führungsetagen versperren, hinterfragt, aufgebrochen und angepasst (Sinclair 2005). Auch Judy Rosener kommt in America’s Competitive Secret zu dem Schluss, dass erst eine mehrphasige Entwicklung eine langfristige Integration von Frauen in Führungspositionen ermöglicht. Ebenso wie bei Sinclair besteht die letzte Phase in einer Anpassung der Unternehmenskultur (Rosener 1995, S. 147). Rosener beschreibt diese letzte Phase wie folgt: Zugegeben, [sie] mag unerreichbar erscheinen. Es mag naiv sein zu glauben, dass Veränderungen in der Arbeitsumgebung ganze Generationen von Stereotypen und Vorurteilen Frauen gegenüber auslöschen können. Es mag wie Wunschdenken scheinen zu erwarten, dass Organisationen die notwendigen Ressourcen bereitstellen um in [der letzten Phase] anzukommen. Ist es jedoch wahr, dass die volle Ausnutzung des weiblichen Potenzials einen ökonomischen Imperativ darstellt, dann wird das Erreichen [der letzten Phase] schlussendlich von hoher Priorität von Organisationen sein, die wettbewerbsfähig sein wollen (Übersetzung des Autors).

Betrachtet man die Situationen in Deutschland, Europa und weltweit, so lässt sich keine Region eindeutig einer Phase zuordnen. In welcher Phase sich ein Unternehmen befindet, bestimmen nicht nur die Region, sondern zudem Brancheneinflüsse, die spezifische

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Unternehmensgeschichte und die firmeneigene Kultur. Fakt ist jedoch, dass die abschließende, kulturverändernde Phase bisher von einer verhältnismäßig niedrigen Anzahl an Unternehmen angestrebt und erreicht wurde. Erst wenn auf organisationaler Ebene eine Veränderung der Kultur stattgefunden hat, werden in Zukunft Frauen Führungskulturen weltweit nachhaltig positiv prägen (Kloot 2004; Marshall 1993). cc

Fakt 5: Unternehmen müssen ihre Unternehmens- und Führungskulturen verändern um nachhaltig mehr Geschlechterdiversität auf Führungsebene zu erreichen.

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Regina Palmer  studierte Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspsychologie an der Universität zu Köln und der San Diego State University in Kalifornien. Sie arbeitete bei den Unternehmensberatungen Accenture, Capgemini Consulting und IRI und ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Gender und Management sowie Organisationskultur.

Frauenfreundliche Arbeitskontexte Heike Götz

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4  5 

 otwendigkeit und Ziele der Gestaltung frauenfreundlicher Arbeitskontexte  N Vorgehensweise zur Gestaltung frauenfreundlicher Arbeitskontexte  Individuelle Förderung und Qualifizierung von Frauen  Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie  Überwindung von Rollenstereotypen und Förderung der Gleichberechtigung im Unternehmen  6  Fazit und Ausblick  Literatur 

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Zusammenfassung

Seit Jahren versuchen Unternehmen, den Anteil an Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Gestaltung eines Arbeitskontextes, der die Bedürfnisse und Interessen von Frauen berücksichtigt und sie motiviert, die Herausforderung einer Führungsaufgabe anzunehmen. Damit dies erreicht wird, ist es zunächst notwendig, die individuellen Karrieremotive der Frauen aufzudecken und geeignete individuelle Förderungs- und Qualifizierungsmaßnahmen zu definieren. Zweitens müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Drittens gilt es traditionelle Rollenstereotype zu überwinden, um die Akzeptanz von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über mögliche Vorgehensweisen und bereits erfolgreich umgesetzte Maßnahmen, mit denen es gelingen kann, mehr Frauen in Führungspositionen zu etablieren.

H. Götz (*) Technische Hochschule Ingolstadt, Ingolstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_13

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 otwendigkeit und Ziele der Gestaltung frauenfreundlicher N Arbeitskontexte

Frauen sind heutzutage ebenso gut ausgebildet wie ihre männlichen Kollegen und wollen ihre Qualifikationen im Rahmen einer herausfordernden Tätigkeit auch einsetzen. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Berufsleben zeigt jedoch, dass es nach wie vor Unterschiede bei der Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern gibt und Frauen immer noch in Führungspositionen unterrepräsentiert sind. Die freiwilligen Selbstverpflichtungen zur Erhöhung des Frauenanteils in ­Vorständen und Aufsichtsräten der Unternehmen und die Einführung des Gesetzes zur Gleichstellung von Frauen in Aufsichtsräten haben daran auch kaum etwas geändert. Damit gehen den Unternehmen jedoch nicht nur wertvolle Arbeitspotenziale verloren, sondern auch die Vorteile von gemischten Führungsteams, die nachweislich zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen beitragen (Desvaux et al. 2007). Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass Frauen anders führen als ihre männlichen Kollegen und damit auch die Herausforderungen einer zunehmend komplexeren und von Veränderungen geprägten Arbeitswelt besser meistern können (Assig und Beck 2001, S. 16 f.). So gründen Frauen ihre Autorität auf Kompetenz, Professionalität und Kommunikationsfähigkeit und sie führen teamorientierter, d. h. sie beziehen ihre Mitarbeiter stärker in Entscheidungen mit ein und nehmen mehr Rücksicht auf deren Bedürfnisse. Dieses Verhalten trägt wesentlich dazu bei, dass die Zufriedenheit von Mitarbeitern und Kunden steigt, das Engagement und Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen erhöht werden und die Attraktivität als Arbeitgeber sich verbessert. Die Gründe, weshalb dennoch der Frauenanteil gering ist, sind vielfältig (vgl. hierzu Kap. „Frauen in Führungspositionen  – Einige Fakten“ von Regina Palmer in diesem Buch). Bisher wenig untersucht wurde der Einfluss des Arbeitskontexts auf die Karrieremotivation von Frauen und welche Arbeitsbedingungen dazu beitragen, Karrieren von Frauen zu fördern oder zu verhindern. Der Arbeitskontext beinhaltet alle technischen, organisatorischen, psychisch-sozialen und materiell-finanziellen Arbeitsbedingungen sowie Voraussetzungen, unter denen Arbeit stattfindet und die somit Einfluss auf die Arbeitstätigkeit und das Arbeitsergebnis, die Zufriedenheit und das Zusammenwirken der Mitarbeiter haben (Hacker 1998, S.  88; Harteis 2002, S. 22; Kirchner 1993, S. 4). Dabei beinhalten die formellen Arbeitsbedingungen alle arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen sowie die betrieblichen Regelungen, die das Zusammenleben und das Zusammenwirken der Betriebsangehörigen betreffen (Herschel 1964, S. 257). Sie umfassen im Wesentlichen die Verteilung der Arbeitsinhalte und die hierarchische Einordnung der Position in die Organisation, die Beschreibung von Arbeitsabläufen und die Bereitstellung von Arbeitsmitteln, die Festlegung der Arbeitszeit, des Arbeitsorts sowie die Vergütung der Arbeitsleistung. Formelle Arbeitsbedingungen sind i. d. R. allgemeingültig gehalten. Um den Bedürfnissen der Frauen entgegenzukommen, müssen individuelle Anpassungen in den Arbeitsverträgen vorgenommen werden.

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Dies führt jedoch zu einem organisatorischen und eventuell auch finanziellen Mehraufwand für die Unternehmen, weshalb Einzellösungen oft abgelehnt werden. Ein weiteres Argument gegen Einzellösungen ist, dass dadurch Begehrlichkeiten bei anderen Mitarbeitern geweckt werden, was wiederum weitere Einzellösungen und Mehraufwand nach sich zieht. Dem entgegen steht, dass durch die individuelle Regelung eine aufwands- und kostenintensive Neubesetzung der Stelle verhindert werden kann und darüber hinaus andere positive Effekte, wie z. B. die Steigerung der Attraktivität des Unternehmens als Arbeitgeber oder die Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit erreicht werden können. Neben den formellen Arbeitsbedingungen existiert eine Vielzahl von informellen Arbeitsbedingungen. Hierzu gehören insbesondere die individuellen Beweggründe des ­Handelns, die Einstellungen und Fähigkeiten sowie die Beziehung zwischen den Betriebsangehörigen. Diese aufzudecken und zu gestalten, ist weitaus schwieriger, da sie sich nicht immer nach außen offenbaren. Hier sind die Führungskräfte gefordert, durch intensiven Austausch mit den Mitarbeiterinnen diese zu erkunden und entsprechende Ziele und Maßnahmen abzuleiten. Voraussetzung dafür ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiterin, denn nur dann wird diese auch bereit sein, offen über ihre beruflichen Ziele und Wünsche, aber auch Befürchtungen zu sprechen. Der Arbeitskontext muss daher so gestaltet sein, dass ein regelmäßiger Austausch gefördert und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann.

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 orgehensweise zur Gestaltung frauenfreundlicher V Arbeitskontexte

Unternehmen, die den Arbeitskontext frauenfreundlicher gestalten wollen, sollten sich im ersten Schritt mit der Frage nach den individuellen Karrieremotiven und den Bedürfnissen von Frauen in Führungspositionen auseinandersetzen Nur wenn diese bekannt sind, können zielgerichtet individuelle Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten eingesetzt werden. Eine weitere Herausforderung für Frauen ist, dass sie sich in der männlich geprägten Unternehmenswelt behaupten müssen. Speziell für Frauen konzipierte Trainingsmaßnahmen können dazu beitragen, dass Frauen lernen, sich in der Männerwelt zu bewegen und durchzusetzen, ohne sich dabei verstellen zu müssen. Ergänzend gilt es Frauen in Netzwerke zu integrieren und durch Mentoren zu unterstützen, damit sie ihren Bekanntheitsgrad steigern und Vertrauen aufbauen können. Der zweite Schritt ist die Gestaltung frauenfreundlicher Rahmenbedingungen im Unternehmen. Der Vergleich der Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern zeigt, dass Frauen tendenziell häufiger unter psychisch belastenden Arbeitsanforderungen leiden (Beermann et al. 2008, S. 69). Insbesondere die Doppelbelastung durch Beruf und Familie, die durch Übernahme einer Führungsposition noch verstärkt wird, führt bei Frauen zu psychosomatischen Erkrankungen, wenn sie keine Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld haben und der Zusammenhalt im Team gering ist (Fischer und Hüther 2008, S. 31). Zwar wurden die gesetzlichen Regelungen zur Gleichstellung und die Infrastruktur zur

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Betreuung von Kindern sowie das Pflegeangebot in Deutschland in den letzten Jahren verbessert, dennoch verzichten Frauen immer noch ganz oder teilweise auf eine berufliche Tätigkeit und damit auch auf die Übernahme von Führungsaufgaben. Hierzu tragen auch die immer noch geltenden traditionellen Rollenvorstellungen bei, wonach Frauen einer Berufstätigkeit nachgehen dürfen, aber nur solange dies nicht im Konflikt zu den familiären Verpflichtungen steht. Eine wesentliche Voraussetzung, um die Bereitschaft von Frauen zur Übernahme von Führungsaufgaben zu erhöhen, ist daher die Gestaltung eines Arbeitskontexts, in dem sich Beruf und Familie vereinbaren lassen (German Consulting Group 2005, 2006). Wesentliche Aspekte, wie die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort sowie die Gestaltung von Berufsunterbrechungen, werden in Abschn. 4 dieses Beitrags erläutert. Unternehmen sind darüber hinaus aufgefordert, die bestehenden Karrierewege zu überdenken und Alternativen zu schaffen, die die besonderen Bedürfnisse von Frauen berücksichtigen. Der dritte und wichtigste Schritt ist eine nachhaltige Überwindung bestehender Geschlechts- und Rollenstereotype. Trotz der zunehmend gleichen Ausbildung von Frauen und Männern hat sich die gesellschaftliche Erwartung an Frauen nicht verändert. Eine Rolle als Führungskraft ist für Frauen, zumindest im Top-Management, nach wie vor nicht vorgesehen. Diese gesellschaftlichen Erwartungen spiegeln sich auch in der männlich geprägten Unternehmenswelt in Deutschland wider. Die Ansicht, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts nicht über die erforderlichen Eigenschaften und Fähigkeiten einer Führungskraft verfügen, hält sich hartnäckig. Doch selbst wenn Frauen Führungspotenzial vorweisen können, dürfen sie im Top-Management nicht mitspielen, da es ihnen an Erfahrung fehlt und sie somit die Regeln und Rituale der oberen Führungsetagen nicht kennen und beherrschen (Wippermann 2010). Um eine nachhaltige Veränderung der traditionellen Einstellungen zu erreichen, ist ein Umdenken in der Gesellschaft und in den Unternehmen notwendig. Nur wenn es gelingt, in der Unternehmenskultur ein positives Führungsverständnis gegenüber Frauen zu verankern, wird eine Akzeptanz von Frauen in Führungspositionen erreicht und damit auch der Anteil an Frauen in Führungspositionen gesteigert werden (Waschbüsch und Kuwan 1994, S. 87). Ansätze zur Überwindung der Rollenstereotype werden in Abschn. 5 dieses Beitrags dargestellt.

3

Individuelle Förderung und Qualifizierung von Frauen

Die beiden wesentlichen personenbedingten Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere sind sowohl bei Männern als auch bei Frauen die Motivation, Führungsverantwortung zu übernehmen sowie die dafür notwendigen Kompetenzen (Elprana et al. 2012, S. 4; German Consulting Group 2005, 2006). Die individuelle Förderung von Frauen muss daher sowohl Maßnahmen beinhalten, die die Karrieremotivation aufdecken, um Anreize für Frauen zu schaffen, als auch Maßnahmen, die Frauen zur Übernahme von Führungsverantwortung befähigen.

Frauenfreundliche Arbeitskontexte

3.1

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Karrieremotivation und Karriereplanung von Frauen

Unstrittig ist mittlerweile, dass Frauen durchaus Karriere machen wollen. Insbesondere für gut ausgebildete junge Akademikerinnen hat Arbeit und beruflicher Erfolg einen hohen Stellenwert. Frauen streben mit einer Führungsposition nach finanzieller und persönlicher Unabhängigkeit; sie wollen sich fachlich und persönlich weiterentwickeln und Verantwortung übernehmen und sich selbst verwirklichen (Bultemeier 2014, S. 168 ff.; Habermann-Horstmeier 2007, S. 35). Hinsichtlich der Frage, welche Motive die Karrieremotivation beeinflussen, gibt es bisher noch keine eindeutige Antwort. McClelland und Burnham (1976) haben die Basismotive menschlichen Handelns von Führungskräften untersucht und festgestellt, dass für alle Führungskräfte ein stark ausgeprägtes Machtmotiv, ein überdurchschnittliches Leistungsmotiv und eher geringes soziales Anschlussmotiv typisch sind. Demnach wollen Führungskräfte ihre Umgebung beeinflussen und kontrollieren, sie streben nach Herausforderungen, die sie an die Grenzen ihrer Leistungen bringen, und sie wollen von anderen akzeptiert werden, jedoch unabhängig in ihren Entscheidungen bleiben. Dass es dennoch Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, zeigt das Ergebnis der Studie „Frauen an die Spitze“, in der Frauen und Männer, die sich in Sportverbänden ehrenamtlich auf der Führungsebene engagieren, nach ihrer Motivationsstruktur befragt wurden. Für Männer ist der Gewinn an Macht entscheidend; sie spricht die Herausforderung, die Verantwortung und die größeren Einflussmöglichkeiten an, die mit der Position verbunden sind. Frauen dagegen geht es v. a. um die Sache. Sie wollen Gutes tun, Sinnvolles tun, Dinge umsetzen. Das Gerangel um Macht, Einfluss und Prestige empfanden die befragten Frauen eher als lästig (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2010, S. 12). Die Übernahme von Führungspositionen in Unternehmen ist für Männer aufgrund der äußeren Anreize, wie attraktive Vergütung, Firmenfahrzeuge und Status, reizvoll, während es bei den Frauen eher der innere Antrieb ist, da sie in der Führungsposition die Möglichkeit sehen, etwas zu bewegen (Krumpholz 2004, S. 149; Miksch 2016, S. 130). Frauen treffen ihre Karriereentscheidungen daher auch bewusster als ihre männlichen Kollegen und orientieren sich dabei stärker an ihren individuellen Werten und Lebenszielen (Miksch 2016, S. 131; Bultemeier 2014, S. 182). Dies bedeutet aber auch, dass sich die Motive im Lauf der Zeit ändern können. Insbesondere die familiäre Situation hat hierauf einen starken Einfluss. Nur wenn es gelingt, Karrieremotive im Vorfeld herauszuarbeiten und diese in Einklang mit der Führungsaufgabe zu bringen, wird sich der Anteil an Frauen in Führungspositionen nachhaltig erhöhen lassen. Dass Karrieremotive durchaus unterschiedlich sein können, zeigen auch die Untersuchungen im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Dabei wurde aufgedeckt, dass es vier unterschiedliche Führungsmotivationstypen gibt und diese entsprechend unterschiedlich gefördert und unterstützt werden müssen (Elprana et al. 2012). Zur ersten Gruppe, den eindeutig Motivierten, gehören Menschen, die stark nach Einfluss und Leistung streben und die Freude daran haben, Verantwortung zu übernehmen und andere anzuleiten. Der Anteil der Frauen in dieser Gruppe liegt bei 25 %.

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Diese Frauen brauchen i. d. R. keine zusätzlichen Motivationsanreize, sondern vielmehr Möglichkeiten, den Wunsch nach Übernahme von Führung umsetzen zu dürfen. In der zweiten Gruppe, die mit angezogener Handbremse, findet man Personen, die auch ein starkes Streben nach Führung aufweisen, jedoch gleichzeitig Angst vor Kontrollverlust und Misserfolg haben. Der Anteil der Frauen ist hier mit 28 % am höchsten. Bei diesen Frauen ist es wichtig, deren Befürchtungen ernst zu nehmen und Maßnahmen zu ergreifen, die das Selbstbewusstsein stärken. Sie müssen auch lernen, mit Rückschlägen souverän umzugehen, damit Misserfolge nicht zur Resignation und damit zur Aufgabe der F ­ ührungsposition führen. Die Motivationslage der dritten Gruppe, den Vermeidenden, in der Frauen mit 22 % vertreten sind, ist geprägt durch geringes Interesse an Einfluss und Macht und gleichzeitiger Angst vor Kontrollverlust, Misserfolg und Ablehnung. Diese Frauen sind i. d. R. nicht durch Förderungsmaßnahmen zur Übernahme von Führungsaufgaben zu motivieren und es ist sinnvoller, für sie andere Aufgaben im Unternehmen zu suchen. Zur vierten Gruppe, den Unmotivierten, gehören 25 % der Frauen. Sie streben zwar nicht nach Führungsaufgaben, sie haben aber auch keine Angst davor. Frauen in dieser Gruppe können motiviert werden, indem man ihnen die Attraktivität von Führungsaufgaben aufzeigt. Der Wunsch Karriere zu machen, reicht aber nicht aus. Frauen müssen selbst einen Beitrag zur Umsetzung der Karriereziele leisten. Ihnen wird allerdings häufig vorgeworfen, dass sie sich nicht frühzeitig bewusst mit der Frage der Karriereplanung auseinandersetzen. Während Männer bereits bei Eintritt ins Berufsleben eine relativ klare Vorstellung über ihren Karriereverlauf haben, machen sich Frauen darüber wenig Gedanken (Bischoff 2010, S. 79). „Frauen machen demzufolge ihre Berufs- und Lebenspläne abhängig von äußeren Einflussfaktoren, wie z. B. den beruflichen Entwicklungen des Partners, Familiengründung, Protektion durch Vorgesetzte etc.“ (Waschbüsch und Kuwan 1994, S. 43). Frauen sollten sich somit bereits zu Beginn ihrer Berufstätigkeit mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Will ich Karriere machen? Wo liegen meine Stärken und welche Kompetenzen brauche ich noch, um eine Führungsaufgabe zu übernehmen? Wie sammle ich gezielt Erfahrungen, die für die Übernahme einer Führungsposition erforderlich sind? Wie kann ich mich gezielt positionieren und auf mich aufmerksam machen? Wie kann mich mein soziales Umfeld auf dem Weg ins Top-Management unterstützen? Bei der Beantwortung dieser Fragen können Unternehmen gezielt durch frauenspezifische Fördermaßnahmen unterstützen.

3.2

Frauenspezifische Fördermaßnahmen

Unternehmen haben erkannt, dass die erfolgreiche Übernahme von Führungsaufgaben nur dann möglich ist, wenn die Führungskräfte auch über die entsprechenden Führungskompetenzen verfügen. Da diese Kompetenzen i. d. R. nicht umfassend im Rahmen der beruflichen Qualifizierung vermittelt werden, sind zusätzliche Weiterbildungen erforderlich. Spezielle Führungskräftetrainings dienen der fachlichen Vorbereitung auf die Führungsrolle, indem sie die Anwendung unterschiedlicher Managementtechniken und die Entwicklung von Führungsstrategien vermitteln. Darüber hinaus umfassen sie insbesondere Maßnahmen

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zur Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und den Sozialkompetenzen und unterstützen damit die Entwicklung des eigenen Führungsstils. Frauen und Männer, die sich für den Weg in die Führungsetage entschieden haben, benötigen gleichermaßen Weiterbildungsmaßnahmen, die sie auf dem Weg ins Top-Management unterstützen und sie auf die Übernahme von Führungsaufgaben gezielt vorbereiten. Neben den Weiterbildungsangeboten zum Aufbau von Kompetenzen können auch Mentoring und Networking einen wichtigen Beitrag leisten. Schwerpunkte von Weiterbildungsangeboten für Frauen Bei der genaueren Betrachtung der Weiterbildungsangebote für Führungskräfte fällt auf, dass es zunehmend Angebote speziell für Frauen, aber nicht für Männer, gibt. Eine genauere Analyse der Weiterbildungsangebote speziell für weibliche Führungskräfte zeigt, dass sich die Inhalte der Angebote primär auf die Entwicklung der Persönlichkeit und die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen beziehen und weniger auf die fachliche Vorbereitung auf die Führungsrolle der Frauen (Waschbüsch und Kuwan 1994, S. 14 und 25 ff.). Damit stellen sie ein Zusatzangebot zu den gemischtgeschlechtlichen Angeboten dar. Eine vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Auftrag gegebene Bestandsaufnahme der Inhalte von frauenspezifischen Weiterbildungsmaßnahmen hat fünf zentrale Themenfelder aufgezeigt (Waschbüsch und Kuwan 1994): 1. Orientierungsschulungen, bei denen Frauen lernen, ihre berufliche Karriere gezielt zu planen. Kern dieser Maßnahmen ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis, den gesellschaftlichen Rollenerwartungen und den eventuell daraus entstehenden Konflikten. Diese Maßnahmen dienen den Frauen zu klären, ob der Weg in die Führungsetage überhaupt mit den eigenen Werten und Lebenserwartungen vereinbar ist. 2. Trainings zur Entwicklung von Erfolgs- und Karrierestrategien, deren Fokus auf der Erkennung und Entwicklung von persönlichen Potenzialen liegt, mit dem Ziel, persönliche Ziele und Maßnahmen für die eigene Lebensplanung abzuleiten. Hierbei werden Frauen insbesondere dabei unterstützt, den Weg in die Führungsetage gezielt anzugehen. Ergänzt werden diese Angebote durch Maßnahmen zur Klärung der Frage, wie Frauen mit Status und Macht umgehen und wie sie sich in Konkurrenzsituationen verhalten können. Dabei sollen die Durchsetzungsfähigkeit und die Wahrung der eigenen Authentizität gestärkt werden. 3. Maßnahmen zur Verbesserung der individuellen Kommunikationsfähigkeit. Diese beinhalten die Auseinandersetzung mit dem eigenen Kommunikationsverhalten, Vermittlung von Grundlagen der Argumentations-, Rede- und Moderationstechniken sowie Übungen zur Stimmbildung und Körperhaltung. 4. Schulungen der Persönlichkeit und Selbstbehauptungstrainings beschäftigen sich mit der Frage nach den eigenen Motiven und Werten sowie dem Wissen über die eigene Wirkung auf andere. Dies bedeutet nicht, dass den Frauen ihre eigenen Stärken abtrainiert werden und sie zur Kopie der männlichen Kollegen gemacht werden. Vielmehr

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geht es darum, den Frauen ihre eigenen Stärken bewusst zu machen, damit sie diese in der männlich dominierten Führungswelt gezielt einsetzen können. Frauen lernen zu verstehen, wie die männlichen Kollegen agieren, um situationsgerecht eigene Verhaltensstrategien abzuleiten. Der Versuch, Frauen die fehlenden männlichen ­Eigenschaften anzutrainieren, wird unweigerlich scheitern, da dies Frauen permanent dazu zwingt, ihr eigenes präferiertes Verhalten zu unterdrücken. 5. In Konfliktmanagementtrainings lernen Frauen, wie sie Konfliktpotenziale frühzeitig erkennen können, welche Möglichkeiten sie haben, sich aktiv mit Konfliktsituationen auseinanderzusetzen, und wie sie ihre eigenen Rechte auch bei Widerstand einfordern können. Unternehmen, die Frauen auf dem Weg ins Top-Management unterstützen wollen, sei empfohlen, zu Beginn der Förderung und vor der Entscheidung zur Übernahme der Führungsaufgabe, den Mitarbeiterinnen die Möglichkeit einzuräumen, ein speziell für Frauen ausgerichtetes Angebot zu besuchen. Dadurch wird den Frauen die Möglichkeit gegeben, sich bewusst mit der eigenen Motivation und der Bereitschaft, eine Führungsaufgabe zu übernehmen, auseinanderzusetzen. Sollte sich die Frau anschließend gegen eine Führungsaufgabe entscheiden, so kann sie dies tun, ohne eventuell das Gesicht zu verlieren. Ist die Entscheidung zur Übernahme der Führungsposition gefallen, dann sollte ein gemischtes Training bevorzugt werden, damit Frauen außerhalb des Berufsalltags die Verhaltensweisen der männlichen Kollegen kennenlernen können. Erfahrungen sammeln Neben der Qualifikation spielt die berufliche Erfahrung in unterschiedlichen Situationen bei der Beförderung eine wesentliche Rolle. Um die Spiele und Rituale um Macht und Positionierung auf den obersten Managementebenen kennenzulernen, braucht es Einblicke in die und Erfahrung in der Konzernzentrale, sonst sind auch hochqualifizierte und motivierte Frauen zum Scheitern verurteilt (Thorborg 2014a). Frauen sollten daher gezielt nach verantwortungsvollen Aufgaben und Projekten Ausschau halten, bei denen sie sich profilieren können und immer wieder Kontakt zum Top-Management haben. Aber auch die Unternehmen müssen Situationen schaffen, in denen Frauen die Chance erhalten, diese Erfahrungen zu sammeln. Hierfür bedarf es Mut auf beiden Seiten. Frauen brauchen Mut, sich in den Vordergrund zu stellen, neue Wege zu gehen und Verantwortung auch für unbekannte Aufgaben zu übernehmen. Unternehmen müssen Mut und Vertrauen beweisen, indem sie anspruchsvolle Aufgaben gezielt auf Frauen übertragen. Gezieltes Selbstmarketing Dass es Frauen schwerfällt, gezielt Selbstmarketing zu betreiben, liegt am Impostor-­ Syndrom (Clance und Imes 1978). Frauen bewerten die eigenen Leistungen nicht als etwas Besonderes, sondern vertreten die Auffassung, dass jeder mit entsprechenden Qualifikationen und Leistungsbereitschaft die gleichen Erfolge erzielen kann. Wenn sie ihre

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beruflichen Erfolge öffentlich in den Mittelpunkt stellen, haben sie Angst als Hochstaplerin ertappt zu werden. Selbst wenn sie für eine berufliche Position völlig überqualifiziert erscheinen, neigen Frauen dazu, die eigenen Fähigkeiten infrage zu stellen und sich nochmals weiter zu qualifizieren, um sicherzugehen, dass sie den Anforderungen auch wirklich entsprechen (Miksch 2016, S. 130). Da das Impostor-Syndrom gerade bei erfolgreichen Frauen stärker ausgeprägt ist, sollten sie die Möglichkeit haben, sich auf die Übernahme von Führungsaufgaben ausreichend vorzubereiten. Unternehmen können hier unterstützen, indem sie detailliert auf die Qualifikationen der Frauen eingehen und ihnen Feedback darüber geben, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Um die eigene Karriere voranzutreiben, ist es aber auch notwendig, dass Frauen selbst aktiv werden und nicht darauf warten, dass sie von anderen bemerkt werden. „Wer Karriere machen will, der muss gut sein, aber er muss sich auch vermarkten und positionieren können“ (Günther 2015). Frauen müssen daher lernen, auf die eigenen Erfolge hinzuweisen, sich stärker in den Vordergrund zu bringen und Anerkennung einzufordern. Nur wenn sie ihren Bekanntheitsgrad erhöhen und gezielt Kontakte knüpfen, erhöhen sie ihre Chance für den beruflichen Aufstieg. Unternehmen sind hier gefordert, geeignete Plattformen zu schaffen, bei denen Frauen vor einem größeren Publikum und vor Personalentscheidern ihre Ergebnisse präsentieren können. Möglichkeiten hierfür sind z. B. Ergebnispräsentation in Vorstandssitzungen, Projektberichte in Firmen- oder Fachzeitschriften oder Vorträge auf Fachkonferenzen. Mentoring und Networking Frauen glauben nach wie vor, dass sie es aus eigener Kraft an die Spitze schaffen, wenn sie gut qualifiziert und fleißig sind. Frauen konzentrieren sich somit mehr darauf, ihre Arbeit gut zu machen, und investieren weniger Zeit, um Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Männer nutzen dagegen sehr aktiv die Unterstützung durch Dritte und suchen sich gezielt Mentoren und Netzwerke, die ihrer beruflichen Karriere dienlich sind (Mölders und Quaquebeke 2011, S. 46). Daher ist es nicht verwunderlich, dass öfter Männer als Frauen Fürsprecher finden, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht. Unternehmen stellen Frauen mit Karriereabsichten daher zunehmend Mentoren an die Seite. Durch den Austausch mit einer erfahrenen Führungskraft, der Mentorin oder dem Mentor, werden die Frauen, die Mentees, in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung unterstützt und gefördert. Insbesondere sollen die Mentoren den Frauen den Zugang zu Netzwerken erleichtern und die Sichtbarkeit der Mentees im Unternehmen fördern. Darüber hinaus unterstützen sie die Mentees in unbekannten Situationen durch ihre fachliche Expertise (Schönfeld und Tschirner 2002). Damit das Mentoring erfolgreich ist, sollte bei der Bildung der Mentoring-Paare darauf geachtet werden, dass zwischen Mentee und Mentor eine positive Beziehung entsteht. Eine besonders positive Wirkung haben Mentorinnen auf Frauen, die ihnen als Vorbild dienen, da dadurch die eigene Führungsmotivation höher eingeschätzt und ein Führungsposten aktiver angestrebt wird. Auch konnten Frauen mit weiblichen Führungsvorbildern mehr Führungserfahrungen sammeln als die Frauen, die keine weiblichen Vorbilder haben (Elprana et al. 2012, S. 6 f.).

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Im privaten Bereich sind Frauen hervorragend darin, Netzwerke aufzubauen, wenn es um die Organisation der Betreuung von Kindern geht. In beruflichen, meist männerdominierten Netzwerken, sind sie eher Außenseiter. Sie wissen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen und kennen die Regeln nicht. Da, wie bereits erläutert, Netzwerke für den Aufstieg entscheidend sind, müssen Frauen lernen, berufliche Netzwerke aufzubauen und v. a. zu pflegen. „Die übliche Vorgehensweise ist immer noch, ich will etwas haben, ich nutze mein Netzwerk, ich habe das, was ich will, und ich lasse mein Netzwerk fallen“ (Nehls 2016, S. 147). Einen besonders positiven Einfluss auf die Karriereentwicklung haben nach Meinung von weiblichen Führungskräften spezielle Frauennetzwerke, die sich darauf spezialisiert haben, Frauen aktiv bei der Suche nach Führungspositionen zu unterstützen (Habermann-­Horstmeier 2007, S. 40 f.). Um Frauen das Netzwerken zu erleichtern, gründen zunehmend mehr Unternehmen firmeninterne Frauennetzwerke. Sie sollen zum einen den Austausch unter den Frauen fördern und ihnen Gelegenheit geben, außerhalb des Arbeitsalltags über ihre Erfahrungen zu sprechen, zum anderen sollen sie das persönliche Weiterkommen unterstützen. Unterstützung durch das soziale Umfeld Bei allem beruflichen Engagement sollte auch das soziale Umfeld mit einbezogen werden. Insbesondere ohne die Unterstützung aus dem privaten Umfeld wird es schwierig, die gesetzten Karriereziele zu erreichen. Frauen sollten daher gemeinsam mit ihrem Partner und der Familie den nächsten Schritt auf der Karriereleiter planen. Unternehmen tragen inzwischen den sich verändernden Familienstrukturen Rechnung, indem sie speziell für Paare, in denen beide berufstätig und karriereorientiert sind, sog. Double Career Couples, Laufbahnberatungen anbieten. Ziel dieser Maßnahmen ist es, Lösungen zu finden, die beide Karrieren ermöglichen (Domsch und Krüger-Basner 1995).

4

Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Aufgrund der gestiegenen Anzahl von Frauen mit höherem Bildungsabschluss und der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen gibt es potenziell immer mehr Frauen, mit denen eine Führungsposition besetzt werden kann. Haupthindernis für Frauen auf dem Weg in eine Führungsposition bleibt aber der Konflikt zwischen der privaten Rolle als Mutter und dem Wunsch, einer herausfordernden beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Gelingt es nicht, beide Bedürfnisse zu vereinen, so führt dies dazu, dass Frauen sich entweder für die Familie und ganz oder teilweise gegen eine berufliche Tätigkeit und damit auch gegen eine Karriere entscheiden oder zugunsten der Karriere auf eine Familie mit Kindern verzichten (Abele 2003, S. 176). Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gezielt zu fördern, stehen Unternehmen unterschiedliche Maßnahmen zur Verfügung. Am weitesten verbreitet sind Modelle zur Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsorts. Einige Unternehmen bieten darüber hinaus Unterstützung bei der Betreuung von Familienangehörigen an. Neuere Ansätze konzentrieren sich darauf, gezielt Berufsunterbrechungen zu

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gestalten und neue Karrierewege im Unternehmen zu etablieren, um somit die Attraktivität als Arbeitgeber zu erhöhen und Frauen mehr Chancen auf die Übernahme von Führungsaufgaben zu bieten.

4.1

Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort

Obwohl die Erwerbstätigkeit von Frauen in Deutschland inzwischen gesellschaftlich akzeptiert wird, fällt auf, dass nur etwa 31 % der Frauen nach Gründung einer Familie weiterhin in Vollzeit arbeiten und die Mehrheit sich entsprechend der traditionellen Rollenverteilung um die Erziehung der Kinder kümmert, während die Männer für den Unterhalt der Familie sorgen (Kelle 2014, S. 14). Um die Doppelbelastung durch Familie und Beruf zu bewältigen, reduzieren die meisten Frauen den Umfang der Arbeit und wechseln von einer Beschäftigung in Vollzeit zu einer Tätigkeit in Teilzeit (Beermann et al. 2008, S. 71). Ist dies nicht möglich, scheiden sie aus dem Erwerbsleben aus und kehren oft nicht mehr zurück. Um die Arbeitskraft und das Potenzial der Frauen im Unternehmen zu halten, müssen flexible Arbeitszeiten, z. B. in Form von Teilzeit oder Gleitzeit sowie die Möglichkeit auch außerhalb des Unternehmens zu arbeiten, angeboten werden. Teilzeit und Gleitzeit Betrachtet man die Entwicklung der Teilzeitarbeit im Zeitverlauf, so fällt auf, dass der Anteil der Frauen, der aus dem Erwerbsleben nach Geburt der Kinder dauerhaft vollständig ausscheidet, abgenommen hat und Teilzeitarbeit für Mütter inzwischen zur Normalität geworden ist, während für Männer die Teilzeitarbeit nach wie vor zu den atypischen Erwerbsformen gehört (Dressel 2008, S. 55; Kelle 2014, S. 14). Dies liegt einerseits daran, dass durch Einführung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes der Anspruch auf Teilzeit leichter durchzusetzen ist, andererseits daran, dass Frauen der jüngeren Generation sich nicht mehr allein auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau reduzieren lassen wollen und ihr Anspruch nach Unabhängigkeit gestiegen ist. Aus Sicht der Männer wird allerdings Teilzeit dadurch unattraktiver. Durch den hohen Anteil an Frauen hält sich zudem hartnäckig das Image der Teilzeitarbeit als Hausfrauenarbeit. Teilzeitstellen haben häufig auch ein niedrigeres Anforderungsprofil als Vollzeitstellen, da implizit angenommen wird, dass aufgrund der reduzierten Arbeitszeit keine komplexen Aufgaben erledigt werden können. Oftmals haben sie einen geringen Entscheidungsspielraum (Dressel 2008, S. 55) und die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen wird Teilzeitkräften erschwert, da sie damit noch weniger zur Verfügung stehen (Assig und Beck 1996, S. 278). Damit sinkt aber auch die Attraktivität von Teilzeitstellen für hochqualifizierte Frauen und Männer. Wie dennoch Führung in Teilzeit möglich ist, wird in Abschn. 4.3 erläutert. Alternativ zu oder in Verbindung mit einer Teilzeittätigkeit besteht die Möglichkeit, durch Gleitzeitmodelle die Lage der täglichen Arbeitszeit an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Insbesondere Frauen mit kleinen Kindern haben dadurch die Möglichkeit, die individuelle Arbeitszeit an die Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen anzupassen

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und somit weiterhin in Vollzeit tätig zu sein. Eine besondere Form der Gleitzeit ist die Vereinbarung von Jahresarbeitszeiten oder Lebensarbeitszeiten, bei der die Frauen in einem größeren Zeitraum den Umfang der Arbeit an ihre Lebenssituation anpassen können. So besteht z. B. die Möglichkeit, während der Ferienzeit die tägliche Arbeitszeit zu reduzieren und dafür außerhalb der Ferien mehr zu arbeiten. Homeoffice Durch die Nutzungsmöglichkeiten moderner Kommunikationswege wird Arbeit zunehmend unabhängig vom Arbeitsplatz im Unternehmen. Gerade die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, ermöglicht es Frauen, während oder nach der Elternzeit in ihrem Beruf weiterzuarbeiten. Dennoch ist der Anteil der Beschäftigten, die die Möglichkeit des Homeoffice nutzen, relativ gering. In Deutschland liegt neben den traditionellen Feldern der Heimarbeit, wie z. B. der Textil- und Spielwarenindustrie, der Anteil der Arbeitsplätze zu Hause nur bei etwa 5 %, wobei es keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt (Dressel 2008, S. 57). Ursache hierfür ist die in deutschen Unternehmen verbreitete Präsenzkultur. Insbesondere von Führungskräften wird immer noch erwartet, dass sie immer ansprechbar und verfügbar sind. Verbindliche Vereinbarungen darüber, wann und wie die Führungskraft für ihre Mitarbeiter, Kollegen oder Kunden erreichbar ist, können die Akzeptanz steigern.

4.2

Gestaltung von Berufsunterbrechungen

Durch die Geburt der Kinder unterbrechen Frauen ihre Berufstätigkeit aufgrund des Mutterschutzes und der anschließenden Elternzeit. Immer häufiger kommen auch Unterbrechungen aufgrund der Pflege von Familienangehörigen hinzu. Frauen, die Führungspositionen anstreben, nehmen tendenziell kürzer Elternzeit als Frauen ohne Führungsaufgaben, da sie in der Unterbrechung Nachteile für ihren weiteren Karriereweg sehen. Dass dies nicht zwingend der Fall sein muss, zeigt eine Studie von Sonja Bischoff, bei der Frauen und Männer in Führungspositionen zu ihrem persönlichen Karriereverlauf und ihrer Familiensituation befragt wurden (Bischoff 2010, S. 43 ff.). Auffällig war, dass der Anteil der Frauen mit Kindern in Führungspositionen seit 2003 deutlich angestiegen ist und dass sich eine familiär bedingte Unterbrechung der Berufstätigkeit nicht negativ auf die Karriere ausgewirkt hat. Mögliche Ursache hierfür könnte sein, dass Karrieren insbesondere im Top-Management nicht zwangsläufig linear in einem Aufgabenbereich verlaufen, sondern häufig über unterschiedliche Aufgabengebiete der Weg nach oben führt. Eine Unterbrechung zwischen dem Wechsel ist daher möglicherweise einfacher zu gestalten als eine Unterbrechung der aktuellen Tätigkeit. Ein anderes Argument für die geringe Auswirkung auf den Karriereverlauf ist, dass obere Führungspositionen vorzugsweise von außen besetzt werden und Karrieren somit organisationsübergreifend stattfinden. Auch in diesem Fall lässt sich die Unterbrechung relativ einfach in den Karriereverlauf integrieren. Um die Frauen nach einer Berufsunterbrechung nicht an die Wettbewerber zu verlieren, ist es

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erforderlich, Berufsunterbrechungen aktiv zu gestalten. Dabei sollten die Maßnahmen den gesamten Zeitraum vor, während und nach dem Wiedereintritt umfassen. Nur so kann sichergestellt werden, dass es für beide Seiten keine unliebsamen Überraschungen gibt. Die Gestaltung der Berufsunterbrechung sollte so früh wie möglich erfolgen. Sobald der Zeitraum für die Unterbrechung bekannt ist, sollten Unternehmen und Mitarbeiterin sich über die jeweiligen Vorstellungen und Erwartungen austauschen und Maßnahmen entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen definieren. In dieser Phase kann es durchaus hilfreich sein, den Frauen eine Karriereberatung oder ein Coaching anzubieten, damit sie sich mit der veränderten Situation bewusst auseinandersetzen und keine falschen Hoffnungen oder Erwartungen geweckt werden. Zentrales Element aller Maßnahmen während der Berufsunterbrechung ist die regelmäßige Kontaktaufnahme und der Informationsaustausch zwischen dem Unternehmen und den Frauen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die jeweilige Führungskraft. Regelmäßige Treffen oder Telefonate während der Unterbrechung signalisieren den Frauen die Wertschätzung des Unternehmens und ermöglichen frühzeitig eine Berücksichtigung von sich eventuell verändernden Bedürfnissen der Frauen oder Änderungen im Unternehmen. Die Bereitstellung von Informationen über aktuelle Ereignisse, Veränderungen oder wesentliche Entscheidungen im Unternehmen, z. B. durch regelmäßige Newsletter oder die regelmäßige persönliche oder telefonische Teilnahme an Abteilungsmeetings, stellen sicher, dass die Frauen auf dem aktuellen Stand bleiben und somit eine Rückkehr einfacher möglich wird. Je länger die Berufsunterbrechung ist, desto wichtiger wird es, den Frauen Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten, um zu gewährleisten, dass sie auch nach der Rückkehr in den Beruf wieder voll einsatzfähig sind. Eine weitere Möglichkeit sicherzustellen, dass die Frauen den Anschluss nicht verlieren, kann die Übernahme von Projekten sein, die keine ständige Anwesenheit im Unternehmen erfordern und deren Bearbeitung damit individuell gestaltet werden kann. Die Rückkehr in den Beruf kann durch Beratungsleistungen zur Betreuung und Pflege von Familienangehörigen, firmeneigene Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder spezielle Eltern-Kind-Arbeitsräume sowie durch Anpassung der Arbeitszeit und des Arbeitsorts an die individuellen Bedürfnisse unterstützt werden.

4.3

Alternative Führungsmodelle

Während wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt Teilzeit in den Unternehmen fest etabliert ist, so ist es bei Führungskräften nach wie vor die Ausnahme. Als Gründe dafür, dass Führung in Teilzeit nicht möglich ist, werden überwiegend organisatorische Pro­ bleme, insbesondere die fehlende Präsenz im Unternehmen, und eine hohe Diskrepanz zwischen den Wünschen der Führungskräfte und den Anforderungen des Unternehmens genannt (Assig und Beck 1996, S. 277 ff.). Gleitzeitlösungen und Vertrauensarbeitszeit, bei der keine Zeiterfassung mehr erfolgt, sind dagegen auch bei Führungskräften weit verbreitet. Dies führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, dass die Flexibilisierungsmöglichkeiten

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auch tatsächlich ausgeschöpft werden. Neben der Präsenzkultur kann die persönliche Einstellung der Führungskräfte zur Teilzeit ein Hemmnis sein. So denken viele Führungskräfte, dass ihnen bei Reduzierung der Arbeitszeit oder bei Abwesenheit unterstellt wird, ihnen fehle es an Engagement oder Motivation. Auch die Überzeugung, unentbehrlich zu sein und alles kontrollieren zu müssen, verhindert Führung in Teilzeit. Um diese Vorbehalte aufzuheben, bedarf es einer Veränderung der Unternehmenskultur. Führung in Teilzeit Dass Führung in Teilzeit durchaus realisierbar ist und welche Vor- und Nachteile damit verbunden sind, zeigt eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend 1999). Dabei wird betont, dass Teilzeit bei Führungskräften nicht zwangsläufig das klassische Modell der Reduzierung der täglichen Arbeitszeit bedeutet, sondern dass hier auch in größeren Zeiträumen – in Monaten oder Jahren – gedacht werden muss. Die gezielte Planung von Freiphasen und Arbeitsphasen setzt allerdings voraus, dass es entsprechende Vertretungsregelungen gibt. So könnte z. B. eine noch unerfahrene Kollegin stellvertretend während der Abwesenheit die Aufgaben übernehmen und damit bereits Erfahrungen in einer Führungsposition sammeln. Eine Verkürzung der Arbeitszeit wird aber oft mit dem Argument abgelehnt, dass Führungsaufgaben nicht delegiert werden können und auch nicht teilbar sind. Werden die tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten von Führungskräften genauer betrachtet, so lässt sich feststellen, dass diese sich einerseits aus Fachaufgaben und andererseits aus Führungsaufgaben zusammensetzen. Im Rahmen von Teilzeitlösungen gilt es zu prüfen, ob die Fachaufgaben nicht von jemand anderem wahrgenommen werden können und nur die Führungsaufgaben weiterhin von der Führungskraft erledigt werden. Dies setzt natürlich voraus, dass Führungskräfte auch bereit sind die Fachaufgaben abzugeben. Auch durch Umstrukturierung oder Neuorganisation sowie Rationalisierung von Aufgaben und Prozessen im Bereich der Führungsaufgaben können Möglichkeiten zur Reduzierung der Arbeitszeit geschaffen werden. Job Sharing bei Führungskräften Job Sharing bei Führungskräften in Kombination mit Teilzeit ist eine weitere Möglichkeit, um Frauen in Führungspositionen während der Elternphase zu unterstützen. Dabei teilen sich zwei Personen eine Stelle. Diese können dann flexibel die Arbeitszeiten und Arbeitsinhalte aufeinander abstimmen. Damit dies funktioniert, ist es notwendig klare Spielregeln zu vereinbaren und intensiv miteinander zu kommunizieren. Insbesondere wenn das Team gemeinsam geführt wird, muss zudem sichergestellt sein, dass Entscheidungen gemeinsam von beiden Führungskräften getroffen bzw. getragen werden, sonst besteht die Gefahr, dass die Mitarbeiter die beiden Führungskräfte gegeneinander ausspielen. Um den Mitarbeitern weiterhin einen festen Ansprechpartner für ihre individuellen Belange zu geben, kann das Team geteilt und den beiden Führungskräften zugeordnet werden.

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 berwindung von Rollenstereotypen und Förderung der Ü Gleichberechtigung im Unternehmen

Stereotype sind verallgemeinernde Glaubensgrundsätze über Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen einer sozialen Gruppe. Sie basieren auf sichtbaren Merkmalen bzw. beobachtbaren Verhaltensweisen, die diese Gruppen im Durchschnitt aufweisen. Aus diesen Stereotypen entwickeln sich soziale Normen und gesellschaftlich anerkannte Verhaltensvorschriften. Da Frauen i.  d.  R. häufig als hilfsbereit, freundlich, rücksichtsvoll oder sanftmütig beschrieben werden, während Männern Eigenschaften wie ehrgeizig, bestimmend, aggressiv und selbstbewusst zugesprochen werden (Eagly und Karau 2002, S. 574), wird Frauen typischerweise die Rolle der Hausfrau und Mutter von der Gesellschaft zugewiesen. Männer werden dagegen in der Rolle des Ernährers gesehen und entsprechen eher dem Bild einer Führungskraft. In Gesellschaften, in denen Frauen aus traditionellen oder religiösen Gründen nur wenig am Erwerbsleben teilnehmen, wird ihnen weniger berufliches Engagement zugesprochen und aufgrund familiärer Verpflichtungen eine höhere Fluktuation unterstellt (Schubert und Littmann-Wernli 2001, S. 27 f.). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass sich Frauen aufgrund ihres Geschlechts in Aufstiegsphasen gegenüber ihren männlichen Kollegen benachteiligt fühlen und ihnen geringere Aufstiegschancen zugesprochen werden. Dabei empfinden sich Frauen in Großunternehmen und Industrieunternehmen stärker benachteiligt als Frauen in Kleinunternehmen oder anderen Branchen (Bischoff 2010, S. 72 f.). Stereotype sind nicht per se negativ. Sie tragen dazu bei, dass Verhalten vorhersehbar und berechenbar wird, und unterstützen somit die Stabilität sozialer Beziehungen. Verhält sich allerdings jemand aus der Gruppe nicht entsprechend den Erwartungen, so entstehen Verwirrung und Konfliktpotenzial. Genau das passiert, wenn Frauen in die männliche Domäne des Managements vordringen. Frauen, die eine Führungsposition anstreben, brechen mit diesem traditionellen Rollenmodell und stoßen auf konservativ eingestellte Männer im Management (Krumpholz 2004), die erwarten, dass eine Frau sich typisch weiblich zu verhalten hat (Eagly 2007; Mölders und Quaquebeke 2011). Das Likeability-Problem zeigt, wie tief Geschlechterklischees immer noch im Wirtschafts- und Arbeitsleben verankert sind. Zeigen eine Frau und ein Mann dasselbe Verhalten, führt dies zu unterschiedlichen Bewertungen. Füllt eine Frau ihre Position unterstützend, konsensorientiert und partizipativ aus, entspricht sie zwar den an sie gestellten Rollenerwartungen als Frau, aber nicht denen als Führungskraft. Verhält sich ein Mann hingegen teamorientiert und fürsorglich, wird ihm das nicht negativ ausgelegt. Ist eine Frau entschlossen, durchsetzungsstark, dominant oder trägt sie ihre Leistung selbstbewusst nach außen, erfüllt sie zwar die Erwartungen an eine Führungskraft, sie gilt aber als herrisch oder arrogant. Ein Mann dagegen wird als leidenschaftlich und selbstbewusst wahrgenommen (Eagly et al. 1992). „Erfolgreiche Männer wirken sympathisch, erfolgreiche Frauen unsympathisch“ (Kelber 2013, S. 14). Frauen befinden sich somit permanent im Dilemma, ob sie die Rollenerwartungen an sie als Frau oder als Führungskraft erfüllen sollen.

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Diese Stereotypen und traditionellen Rollenmodelle bilden eine stabile gläserne Decke, die Frauen bei der Besetzung von Spitzenpositionen ausschließt. Dabei lassen sich drei zentrale Mentalitätsmuster bei Männern beobachten (Wippermann 2010, S. 17 ff.): als erstes diejenigen, die aufgrund ihrer konservativen Grundeinstellung Frauen generell aufgrund ihres Geschlechts ablehnen. Diese Männer von den Fähigkeiten der Frauen zu überzeugen dürfte schwerfallen. Hier kann eine Veränderung nur durch externe Vorgaben wie z.  B. die Frauenquote herbeigeführt werden (Wittenberg 2016). Die beiden anderen ­Gruppen lehnen Frauen nicht als solche ab. Sie sehen Frauen als genauso geeignet wie Männer an. Jedoch sehen die einen für Frauen keine Chance im Top-Management, da sie aufgrund ihres Persönlichkeitsprofils nicht die besonderen Spielregeln im Top-Management beherrschen, während die anderen die fehlende berufliche Kontinuität als Ausschlusskriterium sehen. Hier kann durchaus mit den bereits in den beiden vorhergehenden Abschnitten beschriebenen Maßnahmen eine Veränderung herbeigeführt werden.

5.1

Förderung der Gleichstellung von weiblichen Führungskräften

In den vorhergehenden Abschnitten wurden die unterschiedlichen Maßnahmen der Frauenförderung auf individueller Ebene und im Hinblick auf eine frauenfreundliche Gestaltung der Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie dargestellt. Viele dieser Maßnahmen werden heute bereits umgesetzt. Sie reichen aber nicht aus, um Rollenstereotype zu überwinden. Damit dies gelingt, müssen zusätzliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung im Unternehmen getroffen werden, insbesondere Maßnahmen, die helfen Vorurteile abzubauen und Frauen die gleichen Aufstiegschancen wie ihren männlichen Kollegen einzuräumen, müssen ergriffen werden. Gesetzliche Regelungen zur Gleichstellung von Frauen Die allgemeine Gleichstellung von Frauen und Männern ist in Deutschland im § 3 des Grundgesetzes verankert. Im beruflichen Umfeld soll das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sicherstellen, dass niemand aufgrund des Geschlechts bei der Wahl oder Ausübung des Berufs benachteiligt wird. Spezielle Regelungen auf Führungsebene waren im Gesetz bislang nicht vorhanden. Erste Schritte, um die Gleichstellung von Frauen auf Führungsebene einheitlich zu regeln, wurden 2011 unternommen. Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft und die Bundesregierung unterzeichneten die Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft. Darin legten die DAX30-Unternehmen individuelle Zielgrößen für den Frauenanteil in Führungspositionen fest und verpflichteten sich, diese spätestens bis zum Jahr 2020 umzusetzen. Im Jahr 2012 wurde die Gleichstellung der Frauen auf Führungsebene auch im Deutschen Corporate-­Governance-Kodex verankert. Dennoch ist es nicht gelungen, signifikante Erhöhungen des Frauenanteils zu realisieren. Daher wurde die Forderung nach einer gesetzlichen Frauenquote immer stärker, was 2015

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zur Verabschiedung des Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst führte. Demnach müssen ab dem 1. Januar 2016 mindestens 30 % der Aufsichtsratsmitglieder von börsennotierten Unternehmen weiblich sein. Für den Vorstand und die beiden Ebenen unterhalb des Vorstands können Quoten durch den Aufsichtsrat bzw. den Vorstand festgelegt werden, wobei diese unterhalb von 30 % liegen können. Grundsätzlich wird bei der Ermittlung der Quote im Aufsichtsrat nicht unterschieden, ob die Frauen der Anteilseigner- oder Arbeitnehmerseite angehören. Nur bei Widerspruch muss die Quote auf beiden Seiten erfüllt werden. Eine ­Nichterfüllung der Mindestquote auf Aktionärsseite würde dazu führen, dass die Aufsichtsratssitze unbesetzt bleiben. Auf Arbeitnehmerseite führt eine Nichterfüllung dazu, dass Nachwahlen erforderlich werden oder die Sitze durch eine gerichtliche Ersatzbestellung vergeben werden. Diese Regelung kann dazu führen, dass bei unbesetzten Plätzen es zu einer Verschiebung der Mehrheiten kommen kann. Wollen die Anteilseigner ihre Stimmen nicht verlieren, so sind sie gezwungen, die Plätze durch geeignete Kandidatinnen zu besetzen. Verankerung der Gleichstellung im Unternehmen Um Vorurteile und Rollenstereotype dauerhaft abzubauen, ist es notwendig, sich bewusst mit dem Thema Gleichstellung auseinanderzusetzen. Von Frauen, die eine Führungsposition anstreben, wird erwartet, dass sie sich intensiv mit dem männlichen Geschlecht und dessen Ritualen auseinandersetzen und sich zumindest teilweise anpassen. Dies sollte auch umgekehrt gelten. Männliche Führungskräfte müssen ebenfalls lernen, welche Besonderheiten Frauen auszeichnen und worauf bei der Zusammenarbeit mit ihnen geachtet werden muss. Im Rahmen von Strategiemeetings sollten sie sich mit den Vorzügen gemischter Führungsteams auseinandersetzen und Wege definieren, wie in Zukunft gemeinsam zum Unternehmenserfolg beigetragen werden kann. Gesetzliche Regelungen können diesen Prozess beschleunigen, jedoch ohne das klare Bekenntnis der Unternehmensleitung zur Gleichstellung von Frauen auf Führungsebene wird es schwer werden, den Frauenanteil signifikant zu erhöhen. Ein wichtiger Schritt, um eine Veränderung herbeizuführen, ist daher die Verankerung der Gleichstellung in den Unternehmensleitlinien. Die Festsetzung von Kennzahlen, z. B. für die Besetzung von Führungspositionen mit Frauen oder den Anteil an Bewerberinnen für Führungspositionen, und individuelle Zielvereinbarungen mit Führungskräften auf allen Ebenen können dazu beitragen, dieses Ziel konsequent zu verfolgen. Um den Anreiz zur Umsetzung zu erhöhen, werden oftmals den Führungskräften bei Erreichen der Zielgrößen Prämien in Aussicht gestellt. Dabei besteht die Gefahr, dass der finanzielle Anreiz und persönliche Interessen dominieren und Entscheidungen nicht objektiv und nachhaltig getroffen werden. Ein Umdenken und die Veränderung von Rollenmodellen benötigen Zeit und sind ein kontinuierlicher Prozess. Diesen gilt es zu gestalten und zu begleiten. Da Führungskräfte in ihrem Unternehmensalltag mit unterschiedlichen Aufgaben konfrontiert werden, fehlt

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oftmals die Zeit, um sich dem Thema Frauenförderung zu widmen. Unterstützend sollten Unternehmen den Führungskräften Gender-Diversity-Beauftragte an die Seite stellen, die sie bei der Entwicklung von Konzepten beraten und die eine nachhaltige Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen überwachen.

5.2

 estaltung von Auswahlprozessen und Karrierewegen im G Unternehmen

Die Besetzung von Führungspositionen erfolgt bis zur mittleren Ebene überwiegend aus den eigenen Reihen, während auf höheren Ebenen Positionen primär extern besetzt werden (Waschbüsch und Kuwan 1994, S. 74). Auch die Auswahlprozesse und die Auswahlkriterien verändern sich beim Übergang vom mittleren Management ins Top-Management. Formelle Auswahlprozesse werden von informellen abgelöst und während bis zur mittleren Ebene fachliche und methodische Qualifikationen im Vordergrund stehen, spielen bei der Auswahl von Top-Managern Persönlichkeitsmerkmale eine stärkere Rolle (Edding et al. 2014, S. 6). Zusammenfassend betrachtet, bedeutet dies, dass Frauen sich in einer Zwickmühle befinden. Sie haben wenig Möglichkeiten im eigenen Unternehmen bis an die Spitze zu kommen, und da sie nicht in den entscheidenden Netzwerken sind und ihnen männliche Eigenschaften fehlen, haben sie auch bei anderen Unternehmen kaum eine Chance auf eine Spitzenposition. Will man diese Situation ändern, so bedeutet dies, dass Karrieremöglichkeiten für Frauen im Unternehmen aufgezeigt werden müssen, und dass Führungspositionen attraktiv für Frauen ausgeschrieben werden müssen. Bewerben sich Frauen auf Führungspositionen, muss der Auswahlprozess im Unternehmen so gestaltet werden, dass eine objektive geschlechtsunabhängige Auswahl getroffen werden kann. Gestaltung von Stellenanzeigen Unternehmen klagen, dass sich auf externe Stellenausschreibungen für Führungspositionen kaum Frauen bewerben. Damit wird der Eindruck verstärkt, es gäbe keine geeigneten Frauen. Dass es aber an der Formulierung der Stellenausschreibung liegen könnte, wird eher selten in Betracht gezogen. Zunächst sollte darauf geachtet werden, dass die weibliche Stellenbezeichnung verwendet wird. Ausschreibungen, die nur die männliche Stellenbezeichnung mit dem Zusatz „(m/w)“ enthalten, erwecken unterbewusst den Eindruck, dass ein Mann besser geeignet ist, wodurch sich Frauen möglicherweise erst gar nicht bewerben. Auch die Verwendung von Formulierungen, die mit dem Begriff Macht oder männlichen Stereotypen assoziiert werden, wie z. B. durchsetzungsstark, zielstrebig, analytisch oder offensiv, lösen bei Frauen Ablehnung aus, da sie damit männliches Balzgehabe verbinden (Thorborg 2014b). Wird jedoch Macht gleichgesetzt mit Gestaltungsbefugnis, Handlungsspielraum oder Unabhängigkeit, so macht dies eine Führungsposition für Frauen attraktiv. Um die Anzahl der Bewerberinnen für Führungspositionen zu erhöhen, sollten Unternehmen also stärker auf die Formulierung der Stellenanzeige achten. Ein weiterer Aspekt, der bei der Ausschreibung berücksichtigt werden sollte, ist, dass sich

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Frauen aufgrund ihrer Doppelrolle nicht auf Führungspositionen bewerben, da sie hier einen Konflikt für sich sehen. Daher sollte explizit auf Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hingewiesen werden. Objektive geschlechtsunabhängige Auswahl Auswahlentscheidungen werden häufig von männerdominierten Gremien getroffen. Aufgrund der vorherrschenden Stereotype besteht die Gefahr, dass Männer sich gegenüber Frauen abgrenzen wollen, um das eigene Selbstwertgefühl zu erhöhen. Würden sie eine Frau einstellen, wäre dies ein Eingeständnis, dass diese über die gleichen Fähigkeiten und Eigenschaften verfügt wie sie. Gerade in Unternehmen mit flachen Hierarchien und einem hohen Wettbewerb um die wenigen Führungspositionen kann dies zu einem Machtverlust der Männer führen. Ein weiteres Phänomen bei Auswahlentscheidungen ist, dass sie den Regeln der homosozialen Reproduktion folgen. Dies bedeutet, dass bei der Entscheidung für oder gegen eine Person unbewusst oder bewusst nach Gleichheit in Normen, Werten, Interessen und Fähigkeiten gesucht wird. Je ähnlicher die Bewerber den vorhandenen Führungskräften sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, ausgewählt zu werden. Da bisher überwiegend Männer in den Auswahlgremien sitzen, werden Führungspositionen eher wieder mit Männern besetzt. Es bedarf also gemischter Entscheidungsteams und objektiv messbarer Kriterien, damit Frauen die gleichen Chancen haben wie Männer. Das Auswahlverfahren für Führungskräfte sollte sich nicht grundlegend von allen anderen unterscheiden. Wie in jedem Auswahlverfahren sollte die Eignung für die Stelle durch Analyse der Bewerbungsunterlagen und anhand eines persönlichen Gesprächs festgestellt werden. Ergänzend können noch weitere Testverfahren, wie z. B. Assessmentcenter, eingesetzt werden. Um dabei objektiv vorzugehen, sollten für die zu besetzende Position ein detailliertes Anforderungsprofil und ein strukturierter Interviewleitfaden vorliegen. Darüber hinaus erhöht eine anonymisierte Analyse der schriftlichen Unterlagen die Objektivität zu Beginn des Prozesses und somit die Chancen für Frauen, zum Interview oder Assessmentcenter eingeladen zu werden. Während sich fachliche und methodische Kompetenzen relativ einfach anhand konkreter Aufgabenstellungen aus dem beruflichen Alltag prüfen lassen, ist es weitaus schwieriger soziale Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften zu erkennen. Bei Führungskräften soll das Auswahlverfahren insbesondere dazu beitragen, Erkenntnisse über das Führungsverhalten zu gewinnen. Die Anforderungen an das gewünschte Führungsverhalten werden jedoch nicht oder nur sehr allgemein formuliert und orientieren sich oft an den männlichen Rollenerwartungen. Um eine objektive Beurteilung vornehmen zu können, sollten im Vorfeld des Auswahlverfahrens für konkrete erfolgskritische Führungssituationen die erwünschten Verhaltensweisen definiert werden (Welpe et al. 2014). Ein weiterer Aspekt, der bei der Auswahl von Führungskräften berücksichtigt werden sollte, ist, dass für das Gesamtergebnis eines Unternehmens u. a. die kollektive Intelligenz einer Gruppe eine Rolle spielt (Mühl 2012). Die meisten Auswahlverfahren haben das Ziel, die oder den Besten ausfindig zu machen. Die Frage, welche Qualifikationen bzw.

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Eigenschaften in der Gruppe fehlen, bleibt i. d. R. unbeachtet. Als Fazit lässt sich daraus ableiten, dass die Auswahlverfahren für Führungskräfte neu überdacht werden müssen und zwar dahingehend, dass die individuellen Fähigkeiten der Kandidaten mit den vorhandenen bzw. fehlenden Fähigkeiten im Führungsteam abgeglichen werden sollen. Alternative Karrierewege Karriere bedeutet in den meisten Unternehmen, dass man Schritt für Schritt die hierarchische Karriereleiter erklimmt. Diese lineare Karriereentwicklung lässt sich aber nur schwer mit dem individuellen Lebensweg vereinbaren. „Auszeiten oder temporäre Teilzeitarbeit, z.  B. aufgrund von Familiengründung, sind bei linearen Aufstiegsmodellen sowohl für Frauen als auch für Männer häufig nicht vorgesehen“ (Edding et al. 2014, S. 5). Bereits in Abschn. 4.3 dieses Beitrags wurde auf die Möglichkeiten von Führung in Teilzeit und Job Sharing eingegangen. Dies reicht jedoch noch nicht aus, um Frauenkarrieren zu fördern. Unternehmen sollten darüber nachdenken, welche Alternativen zum linearen Aufstieg angeboten werden können. In einigen Unternehmen gibt es neben der klassischen Führungslaufbahn bereits die Möglichkeit, Karriere als Fachexperte oder im Projektmanagement zu machen. Ein Wechsel zwischen diesen Laufbahnen kann Frauen auch eine Karriere ins Top-Management ermöglichen. Auch zu überdenken ist die Tatsache, dass Positionen im Top-Management vorzugsweise an Führungskräfte mit Erfahrungen in den Bereichen Produktion, Entwicklung oder Vertrieb vergeben und seltener mit Führungskräften aus den Bereichen Personalwesen, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit besetzt werden (Edding et al. 2014). Da Frauen primär in den zuletzt genannten Bereichen Führungspositionen innehaben, stellt sich die Frage, ob diese genauso auf eine Position im Top-Management vorbereiten oder ob hier Anpassungsbedarf besteht. Alternativ sollten sich Unternehmen Gedanken machen, wie Frauen bereichsübergreifende Erfahrungen sammeln können. Ebenso sollte hinterfragt werden, ob ein mehrjähriger Auslandseinsatz zwingend für eine Karriere erforderlich ist. Internationale Erfahrungen lassen sich z. B. auch durch die Arbeit in international besetzten Teams sammeln.

5.3

Integration von Frauen in Fach- und Führungspositionen

Frauen haben ein anderes Führungsverständnis als ihre männlichen Kollegen. Frauen ist Macht „wichtig, um ihre Sache, ihre Ziele voranzutreiben. Macht ist aber nicht Selbstzweck. […] Sie übernehmen Verantwortung, sie wollen Entscheidungen treffen, sie setzen sich ein und sind leistungsbereit. So machtbesessen, gierig, selbstzufrieden und kalkulierend wie ihnen viele Manager und Politiker erscheinen, wollen Frauen auf keinen Fall werden“ (Assig und Beck 2001, S. 19). Frauen wollen Karriere machen, aber sie sind nicht bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. Ihnen ist es wichtig, Optimales im Sinn der Sache zu erreichen und nicht eigene Vorteile zu erzielen. Dieses Verhalten wird ihnen aber häufig als Führungsschwäche ausgelegt. Unternehmen, die Frauen in Führungspositionen nachhaltig

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etablieren wollen, sind daher aufgefordert, ihr Führungsverständnis zu überdenken und dahingehend zu entwickeln, dass eine gemeinsame Basis der Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen auf Führungsebene geschaffen wird und dabei den einzelnen Personen Freiräume für ihre Besonderheiten zu lassen. Anpassung der Unternehmensstrukturen und veränderte Spielregeln Unternehmen sind meist hierarchisch aufgebaut und Führung erfolgt top-down. Männer brauchen stabile Rangordnungen, um effektiv handeln zu können (Erler 2012). Frauen bevorzugen aber eher flache Hierarchien, in denen Macht und Entscheidungsfindung dezentral verteilt sind und die Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet (Kets de Vries 2015). Dies bedeutet, dass Unternehmen die Organisation des Unternehmens und die Prozesse der Entscheidungsfindung so anpassen müssen, dass Frauen sich entsprechend einbringen können. Auch die Rituale, die das Zusammengehörigkeitsgefühl des Führungsteams stärken, z. B. Nachtclubbesuche, sind für Frauen tabu. Wird von Frauen erwartet, dass sie sich an den männlichen Spielregeln orientieren, so führt dies zu Ablehnung und Ausgrenzung. Unternehmen müssen daher die Spielregeln neu definieren. Anerkennung von Frauen Unternehmen, denen es gelungen ist, Positionen im Top-Management durch eine Frau zu besetzen, kommunizieren dies sehr intensiv in der Öffentlichkeit. Auch wenn Frauen Karriere machen wollen, so ist es ihnen unangenehm, dass ihre Karriere öffentlich diskutiert wird und sie als Vorzeigemodell in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Die dadurch verstärkte Aufmerksamkeit erhöht die Belastung und den Erfolgsdruck auf die Frauen. Da sich Frauen diesem Druck nicht aussetzen wollen, verzichten Sie auf Führungsaufgaben oder scheiden nach kurzer Zeit wieder aus. Die erhöhte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit führt auch dazu, dass diese Frauen aufgrund ihrer Sonderposition nicht ins männliche Führungsteam integriert werden. Ihre Leistungen werden kritisch beobachtet und beurteilt, Fehler werden überbewertet und Schwächen werden öffentlich herausgestellt. Fehler und Wissensdefizite werden als Beweis gesehen, dass Frauen doch nicht fähig sind zu führen. Dieser ständige Druck sich zu bewähren, dem Frauen ausgesetzt werden, führt dazu, dass Frauen nach kurzer Zeit auf die Führungsposition verzichten. Darin sehen jedoch Kritiker die Bestätigung, dass sie recht hatten und die Stereotype werden eher verstärkt als aufgelöst. Damit sich dies ändert, ist es erforderlich, dass männliche Kollegen ihr Verhalten dahingehend ändern, dass sie Frauen genauso unterstützen wie ihre männlichen Kollegen, denn Aufmerksamkeit, Unterstützung und Anerkennung sind eine wichtige Basis, um ins Führungsteam integriert zu werden. Gerade Frauen, die neu in der Führungsaufgabe sind, kann während der ersten Zeit ein Mentor helfen, schneller ins Team integriert zu werden. Doch auch Frauen, die die Widerstände der Anfangsphase überwunden haben, kämpfen um Anerkennung. „Wenn Frauen und Männer zusammenarbeiten, werden Erfolge den Männern zugeschrieben“ (Heilmann und Haynes 2005). Auch hier sind Unternehmen gefordert, den Frauen die Anerkennung zukommen zu lassen, die ihnen gebührt.

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Fazit und Ausblick

Die Hindernisse für Frauen auf dem Weg in die Führungsetage sind durchaus vielschichtig. Es gibt nicht das eine herausragende Hindernis, sondern es ist das Zusammenwirken von mehreren Faktoren. Die Ursachen liegen einerseits bei den Frauen selbst, andererseits bei den Unternehmen und der Gesellschaft. Eine Veränderung der Situation in den Führungsetagen lässt sich somit nur erreichen, wenn ein Umdenken bei allen Beteiligten stattfindet. Frauen müssen Führungspositionen wirklich wollen und sich aktiv einbringen, Unternehmen müssen sich bewusst dazu bekennen und dies in ihrer Unternehmenskultur langfristig verankern und die Akzeptanz des veränderten Rollenbilds von Frauen durch die Gesellschaft muss gefördert werden. Unternehmen sollten durch die Gestaltung frauenfreundlicher Arbeitskontexte eine aktive Rolle in diesem Prozess übernehmen. Durch gezielte Auseinandersetzung mit den Interessen und Bedürfnissen von Frauen wird erst ermöglicht, individuell angepasste Arbeitsbedingungen zu schaffen und wirksame Fördermaßnahmen zu ergreifen. Ein zentraler Aspekt ist dabei nach wie vor, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherzustellen. Hier bedarf es sowohl bewährter Modelle zur Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsorts als auch neuere Ansätze wie Führungspositionen in Teilzeit und Job-Sharing-­ Modelle für Führungskräfte. Langfristig gesehen gilt es auch, die Bedürfnisse der Frauen in die Unternehmenskultur zu integrieren. Nur wenn es gelingt, die typischen Eigenschaften von Frauen schätzen zu lernen und es ihnen zu ermöglichen, Einfluss nach ihren eigenen Vorstellungen auszuüben, werden mehr Frauen als heute bereit sein, Führungsverantwortung zu übernehmen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es nicht den einen universellen und richtigen Weg gibt, Arbeitskontexte frauenfreundlich zu gestalten; die Herausforderung besteht vielmehr darin, dass jeweils individuelle Lösungen gefunden werden müssen.

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Frauenfreundliche Arbeitskontexte

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Heike Götz  war nach ihrem Studium der Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Unternehmensführung, Organisationsentwicklung, Personalmanagement und Arbeitsrecht an der Friedrich-­ Alexander-­Universität in Nürnberg über zehn Jahre in Industrieunternehmen als Personal- und Projektreferentin tätig. Seit 2008 arbeitet sie freiberuflich als Personalberaterin und Karrierecoach. Ihre Beratungsschwerpunkte liegen im Bereich Personalentwicklung, Mitarbeiterführung und Motivation. Im Jahr 2012 wurde Heike Götz als Lehrkraft für besondere Aufgaben an die Technische Hochschule Ingolstadt berufen. Dort lehrt sie in den Fachgebieten Unternehmensführung, Personalmanagement und Mitarbeiterführung, Rechnungswesen und Interkulturelle Kompetenz.

Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne Erika Franke und Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  Werdegang  2  Motivation, Führungskraft zu werden  3  Charakteristika einer Top-Führungskraft  4  Gute versus schlechte Führung  5  Verhaltensleitende Führungsgrundsätze  6  Der Einfluss des Führungskontexts  7  Weibliche versus männliche Führung  8  Mitarbeiter – Qualifikationen, Verhalten und Motivation  9  Persönliche Herausforderungen in der Führung als Frau  10  Frauen als Führungskräfte in der Bundeswehr  11  Herausforderungen für weibliche Führungskräfte in der Bundeswehr 

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Zusammenfassung

Der Beitrag schildert den Werdegang und die Führungserfahrungen der ersten Frau in einem Zwei-Sterne-Generalsrang in der Bundeswehr. Es werden die hierfür notwendigen Charakteristika als Top-Führungskraft behandelt wie auch die Herausforderungen,

im Gespräch mit Sonja Sackmann E. Franke (*) ehem. Sanitätsakademie, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Sackmann Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_14

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E. Franke und S. Sackmann

die sich speziell für eine Frau in solch einer Rolle und Position ergeben. Zudem schildert Frau Dr. Franke ihre Vorstellungen zu guter und schlechter Führung, den Qualifikationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ihre Erfahrungen zu den Herausforderungen, denen sich weibliche Führungskräfte in der Bundeswehr stellen müssen.

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Werdegang

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Was hat Sie bewogen, zum Sanitätsdienst der Bundeswehr zu gehen?  Erika Franke: Nach dem Studium der Humanmedizin an der Berliner Humboldt-­ Universität arbeitete ich als Ärztin im Krankenhaus der Volkspolizei der DDR in Berlin, spezialisierte mich im Fachgebiet Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und war im Institut für Mikrobiologie leitend tätig. Nach der Wende wurde das Krankenhaus durch die Bundeswehr übernommen und mir wurde angeboten, meine Tätigkeit in der neuen Struktur fortzusetzen. Ich überlegte nicht lange und sagte zu. Ein wesentlicher Grund war, dass auch die Bundeswehr Mikrobiologen brauchte, ich mich mit dem Auftrag des Sanitätsdiensts der Bundeswehr identifizieren und in meinem gewohnten Arbeitsumfeld weiter tätig sein konnte.

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Welche Funktionen bzw. Positionen haben Sie im Sanitätsdienst der Bundeswehr innegehabt?  Erika Franke: Nach der Übernahme durch die Bundeswehr war ich

bis 2001 Leiterin Laborabteilung I – Medizin und stellvertretende Institutsleiterin am Zentralen Institut des Sanitätsdiensts der Bundeswehr in Berlin. Während dieser Zeit nahm ich an zwei Auslandseinsätzen auf dem Balkan teil (08/1997–12/1997 SFOR, 11/2000–02/2001 KFOR), jeweils als Leiterin des Mi­ krobiologischen Labors im Deutschen Feldlazarett. Im Jahr 2001 wechselte ich in das Sanitätsamt der Bundeswehr nach Bonn, das später nach München umzog und war bis Anfang 2003 als Dezernatsleiterin für Grundsatzaufgaben der Wehrmedizin und die Führung der fachlichen Konsiliargruppen zuständig. Im ersten Halbjahr 2003 unterstützte ich als Stellvertretende Abteilungslei­ terin die Abteilung JMed (Sanitätsdienst) im Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam, bevor ich ab Juli 2003 für drei Jahre die Leitung des Instituts für den Medizinischen Arbeits- und Umweltschutz der Bundeswehr in Berlin, ein Ressortforschungsinstitut, übernahm. Es folgte bis 2009 die Leitung des Bundeswehrkrankenhauses Ulm, dann der Wechsel wieder nach München an das Sanitätsamt der Bundeswehr, wo ich für die folgenden vier Jahre zunächst beide Aufgaben als Chefin des Stabs und Stellvertreterin des Amtschefs, später nur als Stellvertreterin des Amtschefs des Sanitätsamts der Bundeswehr in München zu erfüllen hatte.

Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne

Von Juli 2013 bis Mai 2016 war ich in meiner letzten Verwendung Kommandeurin der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München und die erste Frau in einem Zwei-Sterne-Generalsrang.

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Motivation, Führungskraft zu werden Was hat Sie motiviert, Führungskraft zu werden?  Erika Franke: Basierend auf einer

guten fachlichen Ausbildung wurden mir bereits in den Anfangsjahren meiner beruflichen Tätigkeit viele Möglichkeiten und Chancen einer breiten Weiter- und Zusatzqualifizierung geboten, die ich gern aufgegriffen und genutzt habe. Mich neuen Herausforderungen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, neue Ziele anzusteuern und Lösungen zu finden, hat mich immer wieder angespornt, neue Aufgaben zu übernehmen. Dabei habe ich während meiner gesamten beruflichen Tätigkeit immer Freude und Zufriedenheit bei der Arbeit mit Menschen empfunden, aber auch den Respekt und das Vertrauen der mir anvertrauten Menschen gespürt und das hat mich vor allem immer wieder neu motiviert. cc

Was hat Sie motiviert, zur obersten Führungskraft im Sanitätsdienst der Bundeswehr zu werden?  Erika Franke: Dass ich am Ende meiner Laufbahn zur Füh-

rungsriege des Sanitätsdiensts der Bundeswehr gehöre, war nicht Bestandteil meiner Karriereplanung, sondern Ergebnis eines kontinuierlichen, auch durch den Sanitätsdienst der Bundeswehr geförderten Werdegangs. Motivierend ist dabei sicher auch immer der Blick auf das bis dahin Erreichte gewesen. Meines Erachtens qualifizieren langjährige erfolgreiche Berufs-, Lebens- und Führungserfahrungen Frauen und Männer gleichermaßen dazu, Führungsaufgaben in den obersten Ebenen eines Unternehmens zu übernehmen.

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Charakteristika einer Top-Führungskraft Welche Fähigkeiten, Verhaltensweisen, frühere Funktionen, Mentoren etc. haben dazu geführt, dass Sie in diese hohe Führungsposition gekommen sind?  Erika

Franke: Meine in der Bundeswehr durchweg männlichen Vorgesetzten sprachen mir neben Selbstständigkeit, Selbstdisziplin, Ehrgeiz, Gewissenhaftigkeit, auch Team- und Zielorientierung, Leistungsbereitschaft und Authentizität zu. Ich gehe davon aus, dass diese Charaktereigenschaften ihren Anteil an meinem beruflichen Werdegang hatten. Natürlich führt die eigene Leistung nicht immer zu einem beruflichen Aufstieg. Sie muss erkannt, geschätzt und gefördert werden. Ich kann mich diesbezüglich glücklich schätzen, dass meine Vorgesetzten in diesem Sinn Wegebereiter und -begleiter waren.

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E. Franke und S. Sackmann Wie risikoreich haben Sie diese hohe Führungsposition empfunden?  Erika Franke: Bekanntermaßen wächst man ja mit seinen Aufgaben auf dem Weg nach oben, lernt zunehmend die Verantwortungsfülle auf den u ­ nterschiedlichen Ebenen zu tragen. Insofern habe ich meine jeweilige Führungsverantwortung zwar als äußerst herausfordernd, nicht aber als risikoreich empfunden. Ich hatte gelernt, mir zu vertrauen, hatte gute Mitarbeiter hinter mir und erfahrene Vorgesetzte an meiner Seite.

Gute versus schlechte Führung Was beinhaltet für Sie gute Führung? Welche Qualifikationen zeichnen eine gute Führungskraft aus?  Erika Franke: Ich denke, hierfür gibt es kein Patentrezept.

Aus meiner Sicht zählen dazu fachliche Fähigkeiten, berufliches Engagement sowie ein transparenter Führungsstil, aber genauso Persönlichkeitseigenschaften, wie Zuhören zu können, Mitarbeiter wertzuschätzen, Bescheidenheit, Vorbild zu sein, Selbstreflexion, Empathie und die Gabe, Kritik annehmen zu können. Eine gute Führungskraft kann den Spagat zwischen Fürsorge und Auftrags­ erfüllung souverän meistern. cc

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Was zeichnet für Sie eine schlechte Führungskraft aus?  Erika Franke: Hier stehen wohl in erster Linie egoistische Ziele im Vordergrund: Sie ist auf die eigene Karriere bedacht, der Unternehmenserfolg steht nicht im Fokus und ganz sicher gibt es bei ihr Defizite in Grundhaltung und Charakter. Eine schlechte Führungskraft wird vermutlich nie als Führungsperson wahrgenommen, sondern ist vielmehr eine Belastung für Unternehmen und Mitarbeiter.

Verhaltensleitende Führungsgrundsätze Welches waren die wichtigsten Führungsgrundsätze, die Sie verfolgten und warum?  Erika Franke: Ganz vorn an stand, meinen Mitarbeitern das Gefühl zu ge-

ben, wahrgenommen und geschätzt zu werden. Ebenso wichtig war mir mein eigenes authentisches und glaubwürdiges Auftreten sowie anderen zu vermitteln: Was sind meine Werte, wie gehen wir miteinander um? Immer mit dem Ziel, Vertrauen zu erzeugen, um die notwendige Gefolgschaft aus Einsicht zu erzielen. Ich war offen für andere Meinungen, Diskussionen und Einwände und habe mich über jede neue Idee gefreut, die uns weitergebracht hat. Soweit wie möglich wurden alle Betroffenen in die anstehenden Entscheidungsprozesse eingebunden. Unliebsame Entscheidungen habe ich grundsätzlich versucht, zu erläutern. Natürlich gab es auch unglückliche oder Fehlentscheidungen, aber damit muss man offen umgehen und die erforderlichen Schlussfolgerungen ziehen.

Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne

Das sind meines Erachtens Voraussetzungen, die es den Mitarbeitern möglich machen, sich in die Auftragserfüllung einzubringen, sich weiterzuentwickeln und so auch Eigenverantwortung für ihren Bereich übernehmen zu können.

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Der Einfluss des Führungskontexts Welches waren Möglichkeiten und Grenzen von Routinen in Ihrer Führungsarbeit?  Erika Franke: Die Bundeswehr und so auch der Sanitätsdienst haben einen

von der Politik klar vorgegebenen Auftrag zu erfüllen. Damit ist nicht nur der gestalterische Freiraum der Auftragserfüllung begrenzt, sondern es sind die Strukturen sowie alle personellen, finanziellen und materiellen Ressourcen vorgegeben. Darauf haben wir uns in unserer Führungsarbeit einzustellen und unsere Kräfte und Mittel für alle Eventualitäten nach besten Möglichkeiten auszubilden und bereitzuhalten. Das macht eben auch militärische Führung aus! Sie verlangt nach Dynamik, um trotz oftmals unbekannter Rahmenfaktoren gute Resultate zu erzielen.

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Weibliche versus männliche Führung Inwieweit hat sich ihr Führungsverhalten von dem ihrer männlichen Kollegen unterschieden?  Erika Franke: Frauen führen bekanntermaßen anders, sie ordnen

vor allem soziale Kompetenzen, wie Kommunikationsfähigkeit, Rücksichtnahme, gegenseitige Hilfe und Unterstützung einem guten Führungsstil zu. Männer sehen dagegen Durchsetzungsvermögen und Führungswille als entscheidende Faktoren, d. h. sie sind eher wettkampforientiert. Zumindest findet man derartige Feststellungen in der Literatur. Ich selbst habe den Vergleich nie angestrebt. Mein Anspruch war immer, eine bestmögliche Leistung abzuliefern, den übertragenen Auftrag optimal zu erfüllen. Meine eigene Profilierung stand dabei nie im Vordergrund. Ich habe in der Regel die jeweilige Aufgabe als Teamauftrag verstanden, da sie nur selten aufgrund ihrer Komplexität nur durch einen Bereich oder gar eine Einzelperson erledigt werden konnte. cc

Inwieweit fühlten Sie sich von Ihren männlichen Kollegen in der Bundeswehr akzeptiert?  Erika Franke: Ich persönlich hatte das Gefühl, immer akzeptiert zu wer-

den, und das nicht nur wegen meines Dienstgrads. Meine Erfahrungen belegen, dass, wer Engagement zeigt, einen höchstmöglichen Arbeitswert e ­ inbringt und zudem durch professionelle Leistungen und soziale Kompetenz überzeugt, Anerkennung und Akzeptanz erfährt, unabhängig vom Geschlecht. Natürlich gab es hier und dort auch Neider, aber die waren meist genauso neidisch auf ihre männlichen Kameraden wie auf mich.

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E. Franke und S. Sackmann

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Mitarbeiter – Qualifikationen, Verhalten und Motivation

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Gab es für Sie Unterschiede bei der Führung ihrer weiblichen und männlichen Mitarbeiter?  Erika Franke: Nein. Ich habe immer versucht, meine Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter gleich bzw. gerecht zu behandeln. cc

Worauf haben Sie bei der Selektion von Mitarbeitern besonders geachtet?  Erika

Franke: Für die Einstellung neuer Mitarbeiter sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich sind die personalführenden Dienststellen der Bundeswehr zuständig. Sie berücksichtigen bei der Auswahl geeigneter Mitarbeiter folgende Voraussetzungen: fachliche Qualifizierung entsprechend der Dienstpostenbeschreibung, militärisches, physisches und psychisches Anforderungsprofil des Dienstpostens. cc

Was war für Sie ein No-Go bei Mitarbeitern? Welche Verhaltensweisen konnten Sie in keinster Weise akzeptieren?  Erika Franke: Nicht akzeptieren kann und konnte

ich Unehrlichkeit, Oberflächlichkeit, Hinter-dem-Rücken-Reden, Intrigieren, Besserwisserei, Respektlosigkeit, Unhöflichkeit, Unpünktlichkeit. cc

Was motivierte Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen?  Erika Franke: Ich denke, es war das Wir-Gefühl, gemeinsam Lösungen zu suchen, neue Wege zu beschreiten, das meine Mitarbeiter motivierte, zudem – auch das wurde mir vermittelt – das Führungsverhalten der Chefin. Aber genauso die den Mitarbeitern gegenüber gezeigte Achtung, Respekt und Wertschätzung wirkten sich nachhaltig förderlich aus.

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Fühlten Sie sich von ihren weiblichen und männlichen Mitarbeitern gleichermaßen akzeptiert?  Erika Franke: Ja. Ich habe keinerlei Unterschiede bei meiner

Akzeptanz durch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gespürt.

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Persönliche Herausforderungen in der Führung als Frau

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Was waren die denkwürdigsten Reaktionen Ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf Sie als weibliche Führungskraft?  Erika Franke: Reaktionen, die den An-

spruch „denkwürdig“ verdienen, fallen mir nicht ein. Würdevoll und wertschätzend hingegen fand ich diverse Veranstaltungen anlässlich von Versetzungen, z. B. von Berlin nach Ulm oder von Ulm nach München. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch meine Verabschiedung in den Ruhestand. Für diese großartigen und emotionalen Veranstaltungen bin ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch heute dankbar.

Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne

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Was waren die größten Herausforderungen, denen Sie sich während Ihrer Dienstzeit als Führungskraft gegenüber sahen? Wie häufig hatten diese mit der Tatsache zu tun, dass Sie eine weibliche (Führungs-)Person waren?  Erika Franke: In

der Rückschau war jede meiner Verwendungen in den letzten 20 Jahren eine große berufliche Herausforderung. Und dabei war ja auch immer die familiäre Balance zu wahren. Denn unser Familienmittelpunkt blieb über all die Jahre Berlin. Das war auch der Ort, wo im Kreise der Familie alle wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Ob die beruflichen Herausforderungen in meiner Person, an meinem Geschlecht oder einfach an der Sache selbst begründet waren, lässt sich schwer sagen. Über achteinhalb Jahre war ich die einzige Frau im Generalsrang unter etwa 200 Generälen und damit kam mir schon ein gewisser Exotenstatus zu. Das beinhaltete natürlich auch Vorbehalte, Vorurteile und andere diverse subtile Mechanismen, die sicher nicht unerheblich in der Tatsache begründet waren, dass ich eine Frau bin.

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Was brachten Sie Ihrer Meinung nach als Frau in die Führungsrolle mit, was ein Mann eher nicht mitbrachte?  Erika Franke: Zu dieser Zeit brachte ich ein gewis-

ses Alleinstellungsmerkmal mit, das mich ungewollt in den Mittelpunkt des Interesses und der allgemeinen Beobachtung brachte. Als oftmals einzige Frau bei militärischen Veranstaltungen geriet ich schnell in den Fokus, auch wurden Wort und Tat gern mal auf die Goldwaage gelegt. Ich glaube nicht, dass ich grundsätzlich etwas Besseres mitbrachte, aber ich denke, dass meine empathische Art angenommen und mein kooperativer Führungsstil durchaus geschätzt wurde.

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Frauen als Führungskräfte in der Bundeswehr Inwieweit war es Ihnen ein Anliegen, weibliche Führungskräfte in der Bundeswehr zu fördern und weshalb?  Erika Franke: Erst nach der Amtsübernahme von

Frau Dr. Ursula von der Leyen als Bundesverteidigungsministerin wurde das Thema Förderung weiblicher Führungskräfte in der Bundeswehr relevant. Bis dahin existierten kaum geeignete Rahmenbedingungen, um unter dem Aspekt der Vereinbarkeit von Dienst und Familie Frauen für Führungspositionen zu gewinnen. Ich habe des Öfteren zu dieser Thematik in und außerhalb der Bundeswehr vorgetragen und von meinen Erfahrungen berichtet, um potenzielle Bewerbe­ rinnen zu motivieren.

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E. Franke und S. Sackmann Inwieweit ist die Bundeswehr in Ihren Augen durch den höheren Frauenanteil, insbesondere in Führungspositionen, besser geworden?  Erika Franke: Ohne Frauen

kann die Bundeswehr ihren Auftrag nicht erfüllen. Sowohl die weiblichen zivilen wie die militärischen Führungskräfte der Bundeswehr sind gleichermaßen wesentlicher Teil einer zeitgemäßen und zukunftsorientierten Führungskultur innerhalb der Streitkräfte. Ich bin der Meinung, dass es sich genau wie in der Gesellschaft verhält: Eine gesunde Mischung von kompetenten Frauen und Männern macht auch in der Bundeswehr einen guten Führungsstil aus. So haben sich meines Erachtens der Ton und der Umgang untereinander zum Besseren verändert. Und auch die Akzeptanz, dass männliche Soldaten, auch in Führungspositionen zunehmend gleichberechtigt haushaltsnahe Tätigkeiten erledigen oder auch Elternzeit in Anspruch nehmen, zeigt die Annäherung bzw. die Auflösung alter Rollenbilder auch in der Bundeswehr. cc

In welchen Bereichen der Bundeswehr sind Frauen als Führungskräfte mittlerweile häufig vertreten und wo gibt es noch Wachstumspotenzial?  Erika Franke:

Erst seit 2001 sind alle Laufbahnen innerhalb der Bundeswehr für Frauen geöffnet, vorher konnten sie sich nur im Sanitäts- und Musikdienst bewerben. Insgesamt beträgt der Anteil der Zeit- und Berufssoldatinnen in der Bundeswehr etwa 11 Prozent, das sind etwa 20.400 Soldatinnen. Langfristig soll der Frauenanteil im Truppendienst 15 Prozent, im Sanitätsdienst 50 Prozent e ­ rreichen. Daher finden sich nach wie vor noch nicht so viele Frauen in Spitzendienstgraden außerhalb des Sanitätsdiensts. Dies ist allerdings auch eine Frage der Zeit. Die vorgeschriebenen Stehzeiten und Verwendungen müssen selbstverständlich auch von Frauen erstmal durchlaufen werden.

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 erausforderungen für weibliche Führungskräfte in der H Bundeswehr Konnten Sie in der Bundeswehr das Phänomen der gläsernen Decke (relativ viele Frauen erreichen eine mittlere, doch kaum eine hohe Führungspositionen) beobachten?  Erika Franke: Ja, und ich denke, dass hier die Besonder-

heiten des Berufsbilds eines Soldaten wie beispielsweise die Teilnahme an Auslandseinsätzen, häufige Versetzungen oder auch viele Wochenendbeziehungen nach wie vor eine wesentliche Rolle spielen und insbesondere die Lebens-und Familienplanung junger Kameradinnen und Kameraden erschweren. Und das, obwohl die Rahmenbedingungen für eine Kinderbetreuung in den Kasernen oder auch die Teilzeitarbeitsmodelle für Soldatinnen und Soldaten zunehmend greifen. Die Bundeswehr hat sich diesem Thema der Vereinbarkeit Familie und Beruf in den letzten Jahren sehr intensiv gewidmet.

Herausforderungen der Führung in einer Männerdomäne

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Welche Empfehlung geben Sie Frauen mit auf den Weg, die eine hohe Führungsposition in einer Männerdomäne erreichen wollen?  Erika Franke: Zunächst einmal

muss jede Frau für sich entscheiden, ob sie sich mit den hohen Anforderungen dieses Berufsbilds identifizieren kann und bereit ist, dafür auch an ihre Grenzen zu gehen, die Lebensplanung anzupassen und persönliche Belange zurückzustellen. Frauen müssen selbstbewusst zu ihren Leistungen stehen und diese auch entsprechend verkaufen. Dazu gehört auch: Keine Scheu vor der Übernahme von Verantwortung, Probleme als Herausforderungen sehen, aus Rückschlägen neue Kraft schöpfen, Freiräume schaffen und Freizeit aktiv gestalten, Familie einbeziehen. Angst vor männlichen Kameraden zu haben, ist unbegründet. Die Mehrzahl aller Männer, mit denen ich zusammenarbeitete, hatte weder Vorurteile noch sonstige Aversionen gegen weibliche Mitstreiter. In den nachwachsenden Ge­ nerationen scheint es ohnehin weniger berufliche Berührungsängste zwischen Mann und Frau zu geben.

Das Gespräch mit Frau Dr. Erika Franke führte Frau Prof. Sonja Sackmann.

Dr. med. Erika Franke,  Generalstabsarzt a.D., bis 31. Mai 2016 Kommandeurin Sanitätsakademie der Bundeswehr, München, verheiratet, zwei Kinder, fünf Enkel, ist Fachärztin für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie. Zunächst im Krankenhaus der Volkspolizei in Berlin tätig und seit 1991 Sanitätsoffizier der Bundeswehr, hat sie als Spezialistin an zwei Auslandseinsätzen teilgenommen. Bis zu ihrer Pensionierung 2016 übte sie verschiedene Führungsfunktionen aus. Unter anderem leitete sie das Bundeswehrkrankenhaus Ulm und zuletzt die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München. Sie war die erste Frau im Rang eines Zwei-Sterne-Generals in der Bundeswehr und ist Trägerin des Bayerischen Verdienstordens.

Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD,  ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

Teil VI Führung und Gesundheit

Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen Rita Süssmuth

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4  5 

 inführung und Rahmenbedingungen  E Kooperation und Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist wichtig  Wo stehen wir heute?  Was ist unser Verständnis von Gesundheit?  Führung heißt Verantwortlichkeit praktizieren, aber auch die anderen in die Verantwortung stellen  6  Wie können vorhandene Potenziale ausgeschöpft werden?  7  Veränderungen brauchen die Chance der Erprobung  8  Die Führung braucht Unterstützung – gemeinsam können wir viel erreichen 

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag behandelt die Entwicklung und Rolle des Themas Gesundheit und Gesundheitsförderung in Unternehmen wie auch deren politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Gesundheit spielte zwar schon lange eine Rolle in Unternehmen, doch wurde diese – wie auch in der Gesellschaft – primär unter einer Defizitperspektive betrachtet. Dieser Beitrag plädiert für eine noch stärkere Potenzialbetrachtung, bei der die vorhandenen Potenziale in einer Unternehmenskultur, die von Gemeinsamkeit, offener Kommunikation auf Augenhöhe mit Mut zum Ausprobieren unter Vermeidung von zu viel bürokratischer Außenregelung noch besser genutzt werden, um Gesundheit zu erhalten.

R. Süssmuth (*) Bundesministerin a.D., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_15

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R. Süssmuth

Einführung und Rahmenbedingungen

Die gesundheitlichen Herausforderungen für die Führung gelten für Privatunternehmen, aber auch für öffentliche Unternehmen. Also könnten viele der Dinge, die in privaten Unternehmen bestehen, sich verschärft im öffentlichen Bereich darstellen und damit komme ich sofort zur Thematik. Bereits im Jahr 2000 haben wir bei der Bertelsmann Stiftung das Thema Gesundheit aufgegriffen – auch auf Initiative von Frau Hohne, die sagte: „Was passiert mit meinen Führungskräften? Burnout? Das Thema Gesundheit muss einen anderen Stellenwert bekommen.“ Aber eins war sicher, in den Vorüberlegungen wird ein Unternehmen keine Initiativen ergreifen, die unmittelbar staatlich reguliert sind. Vielmehr wurden im Verlauf der Jahre immer mehr Initiativen lanciert, allerdings bisher meist noch von großen Unternehmen. Doch die Fragestellungen, die im Bereich Gesundheit anstehen, sind auch für mittelständische und kleine Unternehmen relevant, die das aus eigener Kraft oft gar nicht schultern können. In unserem Netzwerk Enterprise for Health sind 23 Unternehmen aus elf Ländern vertreten, und zwar nicht nur der Produktionsbereich, auch der Dienstleistungsbereich ist vertreten. Mit unserer europäischen Initiative wollten wir zunächst sehen, wie in unseren großen Unternehmen die Frage der Gesundheitsförderung wahrgenommen wird. Der Austausch zwischen den Unternehmen hat uns dann dahin gebracht, dass wir auch aus den Unternehmen heraus diese Initiative weiter entwickelt haben, also nicht top-down, sondern auch bottom-up, von unten nach oben. Eines der treibenden Motive hinter dieser Initiative war die Frage: „Wie gehe ich mit meiner Belegschaft um, wie gehe ich mit ihren Fragen und Sorgen um, aber auch wie gehen wir mit ihrem Potenzial um?“ Eine Reihe von Unternehmen haben sich dieses Themas Gesundheit und deren Förderung angenommen – sei es aus der allgemeinen, weltweiten, öffentlichen Diskussion heraus oder sei es motiviert durch ihre eigenen Erfahrungen aufgrund von Motivationsverlusten in Unternehmen, zunehmenden Fehltagen und die daraus resultierenden Kosten und Produktionsverluste. Einerseits ist Gesundheit ein altes Thema, denn auch bei Entstehung unserer Produktionsstätten spielte die Frage eine Rolle, wer sind die Verantwortlichen für Gesundheit? Schon Bismarck sagte, das kann nicht allein von den Individuen getragen werden. Sie sind die Hauptverantwortlichen, brauchen aber Entlastung und Unterstützung durch öffentliche und private Versicherungen, gesetzlichen Gesundheitsschutz. Ich wiederhole mich: Was ich im Folgenden berichte, ist bisher nicht auf staatliche Maßnahmen gerichtet. Wohl haben wir dann bei unseren Initiativen in Erfahrung gebracht: Was könnte und müsste der Staat übernehmen? Ich bin der Meinung: Noch mehr Bürokratisierung, noch mehr Vorgaben brauchen wir nicht. Was wir brauchen sind Anreize und Hilfen, denn je mehr es reglementiert wird, desto mehr wächst der Gedanke: Wie kann ich das umgehen? Das ist wie bei Gesetzen, die mir nicht passen oder von denen mir ein Teil nicht passt. Die Menschen sind intelligent genug, Wege zu finden, Vorschriften und Reglementierungen zu umgehen. Das ist jetzt auch bei der Flüchtlingsfrage so. Auch wenn wir die Grenzen total dichtmachen, kommen immer wieder Flüchtlinge durch. Die Menschen entwickeln in Notsituationen so viel Fantasie, da unterschätzen wir sie oft bei Weitem.

Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen

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Andererseits war uns bei unserer Gesundheitsinitiative eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen wichtig, aber auch Förderung durch Stiftungen zu initiieren und auszubauen. Zu Beginn hatten wir auch eine enge Kooperation mit der Gewerkschaftsstiftung. Entscheidend war dann für unsere Initiative die Zusammenarbeit mit der Krankenkasse, die Verbindung von Prävention und Therapie. Zudem spielt es heute eine wichtige Rolle dazu auch noch den Informationsfluss, insbesondere zu den Krankenkassen, zu berücksichtigen. Unser Hauptakteur war die Betriebliche Krankenkasse (BKK). Aber mit dieser, wenn wir so wollen, Privatinitiative eines BKK-Experten, der sich dieser Sache hochengagiert in Unternehmen angenommen hat und zugleich in engem Informationsaustausch mit anderen Unternehmen auf der EU-Ebene stand. Denn es musste auch die Frage gestellt werden: Wie bringen wir die Erfahrungen in den Unternehmen in den politischen Prozess ein? Und nicht: Wie bringt die Politik ihre Erfahrungen, die sie in aller Regel in diesem Bereiche nicht allein hat, ein?

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Kooperation und Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist wichtig

Es passiert bereits viel in Europa und die Situation ist auch sehr unterschiedlich in den einzelnen Mitgliedsstaaten, sowohl im Westen als auch im Osten, aber auch in den kleineren Ländern und den größeren Ländern. Ein weiteres Problem, das wir in unserer EU-­ Zusammenarbeit in der EU hatten, war, dass wir zu viele Vorstandswechsel hatten. Denn mit jedem neuen Vorstand stellt sich wiederum die Frage: Was hält er mitunter auch vom Bereich der Gesundheit? Wird er das Engagement fortführen, wird fortgeführt oder abgebrochen? Und von daher ist eine zentrale Aufgabe, dass wir nicht nur den dort vertretenen Mittelbau, z. B. die Betriebsärzte, einbeziehen, sondern die Vorstände erreichen. Wir fragten: Wie bringen wir die Botschaften aus den Unternehmen immer wieder auch an den Vorstand heran, der alle zum Mitmachen motiviert? Das bedeutet, dass der Vorstand sich an seine Belegschaft wendet und ihr das Wieso und Warum erklärt. So kann es sein, dass der Vorstand der Belegschaft die Botschaft gibt, fünf von uns müssen euch zeigen, was wir wollen. Im unternehmerischen Kontext funktioniert dies und in einer partnerschaftlich geprägten Unternehmenskultur wird dann trotz Unterschieden in den Kompetenzen und Funktionen auf Augenhöhe miteinander umgegangen. Das gilt nicht nur für den privatwirtschaftlichen, sondern auch für den staatlichen Bereich.

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Wo stehen wir heute?

Jetzt komme ich zum Kernpunkt: Wo stehen wir heute? Und was hat es eigentlich mit der Gesundheit auf sich? Wenn ich eben gesagt habe, auch bei uns begann es mit Fehltagen, mit Kosten, mit Produktionsverlusten – verbunden mit der Frage: Was erreichen wir damit bei der Belegschaft, erhöhen wir darüber die Produktivität? Die erste Erkenntnis, die ich weitergeben möchte, ist: Wenn Belegschaften erfahren, dass Gesundheit ein Thema in unserem Unternehmen ist, dann sind sie überrascht.

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R. Süssmuth

Obwohl wir schon lange an dem Thema arbeiten, ist Gesundheit in Unternehmen noch keine Selbstverständlichkeit geworden. Der Paradigmenwechsel hat eigentlich in den 1980er-Jahren eingesetzt. Dennoch ist die Belegschaft überrascht, weil sie denkt, sie erhalten eine individuelle Wertschätzung für sie als Person. Gesundheit wird ganz stark personenbezogen bewertet. Es geht nicht einseitig um Produktivität. Zudem stiftet der Gesundheitsbereich Zusammengehörigkeit. Man ist nicht nur als Individuum ein Beschäftigter oder eine Beschäftigte des Betriebs, sondern die Botschaft lautet: Wir machen etwas zusammen, es geht uns alle an. Dieses Gemeinsame ist ein ganz wichtiger Punkt und wenn wir Initiativen durchsetzen wollen, kommt es darauf an, alle mitzunehmen. Dies gilt auch für andere Bereiche. Das Vorpreschen ist oft notwendig, es beginnt meist mit Pilotprojekten. Aber das Pilotprojekt muss dann Breitenwirkung entfalten. Dabei ist es für mich ganz wichtig nochmals zu betonen, dass mittelständische Unternehmen und auch Familienunternehmen in diese Arbeit einbezogen sein müssen und ihnen Hilfen gewährt werden. Die Bereitschaft der Unternehmen mitzumachen, ist mit harter Werbearbeit verbunden gewesen, weil von Unternehmen als erstes gefragt wurde: Warum überhaupt? Gesundheit ist doch nicht unsere Aufgabe! Das gehört doch nicht zur Wirtschaft! Natürlich gehört es zur Wirtschaft. Dazu gehörte eben die Spezialisierung und wenn sie sagen, wir wollen es ganzheitlich angehen, dann ist das das Gegenteil von dem, was wir bislang gemacht haben. In vielen Unternehmen jedenfalls. Dazu gehört auch die Einbindung der Personal- und Sozialpolitik. Jeder hatte seinen Bereich. Die armen Personaler im Betrieb wissen, was ihnen da aufgehalst wird. Die stehen nämlich in dem ständigen Konflikt: Gehe ich zu weit ins Soziale, kommt sofort die Frage nach dem wertschöpfenden Beitrag und damit dem Erfolg der Firma. Diese Werbearbeit hat oft dazu geführt, dass Unternehmen gesagt haben: Ja, wollen wir es einmal versuchen. Das war nur bei wenigen ein freudiges Ja, gerade auch nicht von jenen, die sich schon sehr intensiv mit Gesundheitsfragen auseinandergesetzt hatten. Die Mehrheit der Firmen übte sich in vornehmer Zurückhaltung. Vielleicht resultierte die Zurückhaltung auch aus dem Grund, dass sie meinten, jetzt wird wieder eine neue Gesetzgebung mit weiteren Vorschriften vorbereitet. Ein weiterer möglicher Grund war in der Sorge begründet: Was kostet uns das alles? Ich bringe es auf die kurze Formel: Investition und Output – passt der Output zum Input? Das ist ja heute das primäre, das dominante Denken. In kurzer Zeit müssen positive Erträge vorgewiesen werden und dieser Druck belastet eine Führungskraft, eine Abteilung in Zeiten scharfen Wettbewerbs stark.

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Was ist unser Verständnis von Gesundheit?

Wenn ich nun davon ausgehe, es geht um Gesundheitsförderung, dann ist eigentlich eine elementare Frage: Ja wenn der Mensch nicht gesund ist, weder physisch noch psychisch, ist er in seiner Lebensweise beeinträchtigt? Mein Durchbruch als Ministerin war im Bereich von AIDS.  Hier zeigte sich, dass schwer Kranke einen Lebenswillen entwickeln können und eine Einsatzbereitschaft zeigen,

Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen

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die uns deutlich macht: Schaut doch erst mal auf die Potenziale, bevor ihr die Menschen aus Kostengründen nach Hause schickt. Was können die Menschen, die an einer physischen oder psychischen Krankheit leiden, dennoch tun? Bei Projekten im Ausland werden die 45-Jährigen gefragt werden: Wie stellt ihr euch die nächsten 25 Jahre vor? Wollt ihr in dem Bereich bleiben, in dem ihr jetzt tätig seid? Habt ihr andere Vorstellungen? Das heißt zur Führung gehört bei unserer Lebensverlängerung auch die Frage: Wie halte ich mich fit? Und da wissen wir aus der Forschung und Praxis, dass eine Arbeit, mit der man zufrieden ist, einen oft sehr viel fitter hält als alle Medikamente. Das ist sehr simpel dargestellt, aber das ist eine Grunderfahrung. Gegenwärtig erlebe ich bei den traumatisierten Flüchtlingen, dass sie zu lange ins „Trockenschwimmen“ geschickt werden mit weiteren Sprachkursen. Wichtig ist, dass Arbeit und Bildung neu miteinander verbunden werden. Also nach zwei bis drei Jahren nur Sprachkurs wird die Sprache nicht mehr besser, wenn die Arbeit fehlt. Ich erlebe bei den traumatisierten Flüchtlingen – und viele kommen hoch traumatisiert in Deutschland an – dass ihr dringendster Wunsch ist, eine Aufgabe zu haben, etwas tun zu können, bis hin zur Erwerbsarbeit! Es wird so viel von krankmachender Arbeit gesprochen, ja Arbeit kann krank machen, aber viel entscheidender ist, wenn man keine Arbeit hat, dann ist das Krankheitsrisiko am höchsten. Wenn wir uns das vor Augen führen, lohnt es sich darüber einmal nachzudenken, was wir für ein Verständnis von Gesundheit haben. Als ich Ministerin wurde, war unsere niedergelassene Ärzteschaft am härtesten gegen die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, weil die WHO nicht nur von der physischen, sondern von der psychischen und sozialen Gesundheit sprach. Das war ein Grund für ihre Ablehnung. Dafür waren die Ärzte nicht ausgebildet. Der andere Grund war, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen konnten, dass Menschen auch präventiv handeln, dass sie ihr Verhalten im Gesundheitsbereich umstellen können. Das ist eine anstrengende Tätigkeitsveränderung, v. a. wenn sie es nie gelernt haben. Doch das Gesundheitsthema hat heute Konjunktur, wie es sie noch nie gehabt hat. Und zwar sowohl im Diagnostischen, wie im Therapeutischen, ob es trotz Frühgeburten überlebende Kinder sind oder ob es schwerste Erkrankungen sind. Also wenn jemand behauptet, Ebola haben wir überwunden, dann erinnere ich mich an die lange Epidemiegeschichte von AIDS, ohne zu wissen, woher der Virus kam. Was da an Fortschritten erzielt wurde, ist außerordentlich überraschend. Dazu gehören die vielen Gesundheitsinitiativen. Ein Beispiel ist der Lebensmittelbereich. Was wir in diesem Bereich im Augenblick erleben, führt ja im Kern zum Ergebnis: Man isst am besten überhaupt nichts mehr. So gefährdet man sich am wenigsten. Diese exzessiven Einseitigkeiten helfen nicht weiter: Bewegung ist gut, doch zu viel einseitiger oder Extremsport kann auch schaden. Und alles das ist in einem Unternehmen zu bedenken. Vor allem ist es wichtig zu überlegen, wie kann ich Initiativen, die von oben starten und gutgeheißen werden, im gesamten Unternehmen umsetzen. Wir stellen immer wieder fest: Am leichtesten ist es, wenn wir nicht beim Einzelnen stehen bleiben, sondern uns in Gruppenbewegungen organisieren. Wir hätten früher auch nicht gedacht, dass Männer heute so gern kochen. Aber es hat etwas mit Lebensqualität zu tun. Das Gruppenerlebnis schafft ja auch Identität zum Thema und zum eigenen Verhalten.

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Damals bin ich in die Politik gegangen, um etwas zu verändern. Ich war nämlich gern in der Forschung tätig, auch in der Lehre, und musste erkennen: Erkenntnis ist gut, aber schafft keine Mehrheiten. Meine zweite zentrale Erfahrung als Ministerin war, als mir gesagt wurde: AIDS ist so gefährlich, präventiv kann man da gar nichts machen. Sie werden es erleben. Es wird eine Katastrophe. Ich war wirklich auf der Verliererstraße als Ministerin. Da habe ich gedacht, da können wir nicht bleiben. Wen kannst du außerhalb des politischen Ressorts, außerhalb von der Partei gewinnen? Und das ist auch eine zentrale Frage für Unternehmen, dass viele Menschen mitmachen. Ich hätte den Kampf um AIDS nie gewonnen, wenn nicht die Menschen mitgemacht und wir dadurch alle gewonnen hätten. Da haben sich sowohl die Betroffenen, die Infizierten und auch die Nichtkranken, aber auch unsere Bürgerschaft engagiert, dass AIDS-Infizierte nicht auf eine einsame Insel geschickt, nicht ausgegrenzt werden.

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 ührung heißt Verantwortlichkeit praktizieren, aber auch F die anderen in die Verantwortung stellen

Wir kommen zum Thema Prävention und Verantwortung. Verantwortung kann manchmal sehr schnell gelernt werden. Im Fall AIDS hatten wir nach sechs Monaten andere Umfrageergebnisse als sechs Monate zuvor, sprich Februar 1987 zu Herbst 1987. Das war für mich ein Durchbruch, nachweisen zu können: Menschen können sich verantwortlich verhalten. Wir erlebten es im Jahr 2015 in Deutschland. Wo wären wir denn bei diesem Zuwanderungsstrom, wenn da nicht Helferinnen und Helfer verantwortlich gehandelt hätten? Kein Mensch hat diese Hilfe verordnet. Helfende kamen auf die Bahnhöfe, wie auch in die Unterkünfte. Sie glauben gar nicht, wie viel Ordnung die freiwilligen Helferinnen und Helfer ins Chaos gebracht haben. Das hätte man ihnen gar nicht zugetraut. Und gegenwärtig sind sie ganz wichtig, um der Politik zu sagen: Wie wird gute Praxis weiter entwickelt? Gut, wenn die Politik diese Haltung vorgibt. Damit sind wir bei der Frage der Führung. Führung heißt Verantwortlichkeit praktizieren, aber auch die anderen in die Verantwortung stellen, sei es für ihre Gesundheit, sei es für die Gesundheit der Belegschaft oder für die Gesundheit eines Unternehmens. Die Gesundheit eines Unternehmens wird nach wie vor primär daran gemessen, ob es schwarze oder rote Zahlen schreibt. Aber zu einem gesunden Unternehmen gehört mehr. Das ist das, was die Experten der Praxis längst erkannt haben. Mehr und mehr Unternehmen sind einfach gezwungen, sich im Wettbewerb auch der Gesundheitsfrage zu stellen. Im Prozess, den wir durchlaufen haben, haben wir von unseren Unternehmen immer wieder erst mal gehört: Zunächst den Gesundheitscheck, die Kassen übernahmen spezielle Ausgaben für Rückenleiden, dann die Kardiologie, Herz- und Kreislauf. Inzwischen stehen die Krebserkrankungen an zweiter Stelle. Die organischen Erkrankungen wurden nach und nach auch in ihren psychischen Ursachen und Wirkungen zu erfassen versucht.

Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen

5.1

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Die zentrale Rolle der Kommunikation

Der Gesundheitscheck ist zunächst einmal der Status quo insbesondere einer Person. Aber wie steht es denn um die Gesundheit der Belegschaft? In dieser Zeit sind auch die Umfragen in Unternehmen zur Gesundheit aufgekommen. Diese beinhalten Fragen wie: Welche Angebote wurden Ihnen gemacht bezüglich Flexibilität, Vereinbarkeit Familie und Beruf, sportliche Aktivitäten, berufliche Zufriedenheit? Das Einzige, was in den Gesundheitschecks nicht vorkam, war der Faktor Kommunikation. Fragen nach dem Klima im ­Unternehmen kamen in einigen Erhebungen vor. Dies ist typisch dafür, was unsere Zeit sehr stark kennzeichnet. Verlernt haben wir das Miteinander-Sprechen, Sich-Auszutauschen über das, was mich betrifft, was mich bedrängt. Viele vermeiden, kritische Dinge anzusprechen aus Angst, es könnte sie gefährden oder gar den Arbeitsplatz kosten. Daher sollte bei Umfragen und Gesundheitschecks immer auch nach den Bedürfnissen der Belegschaften im Unternehmen gefragt werden. Dies betrifft auch die Führung. Anfangs haben wir immer gesagt: Führung ist von alldem nicht betroffen; bis wir merkten: Führung ist massiv betroffen. Mir wurde als Ministerin gesagt, Burnout und Stress seien Modebegriffe. Inzwischen wissen wir weit mehr über gesunden und ungesunden Stress, über Burnout und der damit verbundenen Zerrissenheit der Menschen, die meinen, ihren Aufgaben an keiner Stelle mehr gerecht werden zu können. Dann heißt es oft, der oder die hat sich übernommen, sich nicht mehr richtig einschätzen können. Aufgrund der Arbeitsverdichtung müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Führungskräfte mit zunehmend weniger Personal Gleiches und mehr leisten. Das sind extreme Belastungen, die sich auch negativ auf den Schlaf auswirken. Stets ging und geht es bei der Vorsorge verstärkt um die Kosten – auch der Fehltage. Interessanterweise waren Erkrankungen in der Eurokrise am geringsten. Heute sind sie wieder höher. Es geht um den Erhalt des Arbeitsplatzes. In Krisenphasen wird oft Präsentismus gezeigt, d. h. auch kranke Menschen erscheinen um jeden Preis im Betrieb, weil sie um ihren Arbeitsplatz bangen. Es ist gut nachvollziehbar, dass gerade Eltern oder alleinerziehende Mütter oder Väter ihren Arbeitsplatz auf keinen Fall verlieren wollen. In Bezug auf die Vereinbarkeit Familie und Beruf wurden in den letzten Jahren Fortschritte erzielt. Und wer trägt die Kosten? Der Arbeitgeber, die Betroffenen oder der Staat? Wir haben jetzt in der jüngsten Diskussion die Frage der Kostenverteilung bei der Pflege sowie der Freistellung für Pflege, oder Mütterrenten, diese hätten meiner Meinung nach aus Steuern bezahlt werden müssen und nicht aus der Sozialversicherung, aus der Rentenversicherung. Wir befinden uns also in einem noch anhaltenden Lernprozess. Ich bin der Hirnforschung und der Lernforschung sehr dankbar für die Erkenntnis, dass wir ein Leben lang lernen können. Diese Erkenntnis ist anders als früher. Unser Gehirn lässt Lernen weiterhin zu, auch wenn unser Lernen anders verläuft und eine andere Qualität hat. Allerdings hat die Beschleunigung in einem Maße zugenommen, dass viele Menschen einfach nicht mehr mitkommen. Momentan spricht alles nur noch von der Digitalisierung und der Angst,

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R. Süssmuth

es nicht mehr zu lernen. Was bringt 4.0.? Das Positive in diesem Veränderungsprozess wird zurückgedrängt, obwohl die meisten mit der neuen Technologie schneller zurande kommen. Das war in den 1980er-Jahren ähnlich mit den Computern.

5.2

Von der Defizit- zur Potenzialbetrachtung

Die zentrale Frage ist nach wie vor: Wie kommen wir von der Defizitbetrachtung, Krankheit ist nur das Defizitäre, hin zu einer positiveren Sichtweise? Denn die modernen ­Technologien müssen nicht unbedingt krank machen, sie entlasten uns auch, sie ermöglichen schnelleren Wissenserwerb. Wir haben sehr viel von internationalen Experten gelernt, von niederländischen, von schwedischen, von amerikanischen, bis hin zur Erhöhung unserer Produktivität. Alte Arbeitsplätze sind entfallen, viele neue sind geschaffen worden. Heute besteht erneut Angst vor Verlust der Arbeitsplätze, gerade wegen der künstlichen Intelligenz. Hier tut Aufklärung und Ermutigung Not. Das Potenzial, weiter und neu zu lernen, ist beim Menschen vorhanden. So habe ich es jahrelang für ein Unding gehalten, dass wir die junge Generation – z. T. heute noch ein hoher Anteil – über Hartz IV zufriedenstellen, statt das Potenzial auszuschöpfen, auch zu fördern und diese jungen Menschen in Ausbildung und Arbeit zu bringen.

5.3

Die zentrale Rolle der Führung

Ein zentraler Aspekt ist hierbei die Führung. Dies betrifft sowohl die Führung der Belegschaft wie auch umgekehrt der Belegschaft zur Führung. Da haben wir von Unternehmen gelernt. Gott sei Dank gibt es ja immer noch den Unternehmer, wie die Unternehmerinnen, die Shareholder und Stakeholder miteinander verbinden. Man kann auch heute nicht mehr sagen, das sind nur die Älteren – davon würde ich 50 % zurückkippen. Heute es so, dass dort, wo diese Unternehmer aktiv sind, Leistung gefordert und gefördert wird, und das mit Erfolg. Unternehmerinnen und Unternehmer sagen sich: Ja, ich muss erfolgreich sein und das kann ich nur mit den Menschen, die ich hier habe, die ich weiterentwickle. Oft wird mehr erreicht, wenn überfordert wird, statt ständig zu unterfordern. Jeder will ja selbst in Erfahrung bringen: Was kann ich eigentlich, was kann ich leisten? Das ist wie bei Kindern, die auch nicht ständig unterfordert werden wollen. Die fordern sich selbst. Und wenn ich auf einen 3000m-Berg will, dann kann ich nicht nach 300 Metern Schluss machen, sondern muss mir überlegen, wie wir da gemeinsam hochkommen. Wir sind ein gutes Stück weitergekommen, indem eine Reihe von Firmen, die bei unserem Netzwerk Enterprise for Health mitmachen, fragten, wie sie denn eine neue Kommunikation mit ihrer Belegschaft führen, inwieweit sie sich über neue Entwicklungen informieren können und was die Konsequenzen für uns sind. Wie weit geben sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Verantwortung, selbst ihre Ideen einzubringen und sie dann mit den entsprechenden Gruppierungen zu verhandeln?

Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen

5.4

309

Kleine Einheiten sind wirksamer als große

Ein wichtiger Aspekt hierbei war, dass in den großen Organisationseinheiten immer mehr kleine Einheiten geschaffen worden waren  – Gruppen mit 15 oder 20 Mitarbeitern. In großen Einheiten verschwinden die Einzelnen in der Anonymität. Und wir haben erlebt, dass die ernsthafte Vorstellung: „Ihr könntet mehr als ihr heute zeigt“ und die Förderung in diesem Bereich on-the-job, aber auch dort wo es notwendig ist – nach draußen – die Menschen verändert. Ihre Motivation wird eine andere. Also wenn sie erfahren: Ich bin dem Betrieb wichtig, hat das schon Einfluss auf ihr Wohlbefinden, auf ihre Bereitschaft sich einzusetzen. Wenn sie dann noch merken, dass ihre Ideen nicht im Papierkorb verschwinden, sondern dass man sich im Unternehmen mit diesen Ideen aktiv auseinandersetzt, dass nachgefragt oder erklärt wird, was an der Idee gut, was weniger praktikabel ist, das motiviert und spornt an. Und das gilt für die verschiedensten Ebenen und nicht nur für die Produktivität, sondern betrifft auch die Regelabläufe. Welche brauchen wir im Betrieb, wer organisiert sich, wie werden Verantwortungen verteilt? Nicht zu sagen: Der eine oder andere kann gar keine Verantwortung übernehmen.

6

Wie können vorhandene Potenziale ausgeschöpft werden?

Wir haben im Augenblick zu tun mit sog. Ungelernten mit hohem Potenzial – und wir werden es verstärkt zu tun haben mit den Migranten. Daher stehen wir im öffentlichen Bildungssektor, wie auch in Unternehmen und in unserer Gesellschaft verstärkt vor der Frage: Wie schöpfen wir diese Potenziale aus? Wie nutzen wir das, was von außen kommt, als gewinnbringend und schaffen damit eine Integration, die nicht ein leeres Wort ist, sondern sie gehört zur Verantwortung? Ein Beispiel sind die Integrationslotsen – ehemalige Migranten – was die für unsere Überforderung eingebracht haben und einbringen. Und bei aller Unterschiedlichkeit in den Unternehmenskulturen: Wer sich daran begibt, sich mit dem oft vernachlässigten Potenzial darauf einzulassen, wird i. d. R. positiv überrascht. Zu dem Einlassen gehören Fragen wie: Wo liegt das Potenzial intern bei den schon vorhandenen Mitarbeitern? – Nicht darauf zu warten, dass es von außen eingestellt wird. Im Bereich von Hauptschulen und Berufsschulen können wir gar nicht mehr arbeiten ohne Sozialarbeiter. Diese bringen erst einmal Ordnung in den Tagesablauf, schaffen Strukturen, die ja auch in einem Unternehmen notwendig sind. Aber diese alte Arbeitsteilung, das macht die öffentlich veranlagte Bildung, kann ich nicht länger gut heißen. Die hat ihre Verpflichtungen, aber jahrelang haben wir einen so hohen Anteil an Schülern ohne Schulabschluss befördert. Und manchmal frage ich mich heute, haben die Lehrer wirklich ihren Unterrichtsstil verändert oder sagen sie sich, wir haben Ruhe, wenn wir denen einen Schulabschluss geben. Es gibt hoch engagierte Lehrer und hoch engagierte Mitarbeiter und Führungskräfte gibt es auch in Unternehmen. Doch manche machen leider nur business as usual.

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7

R. Süssmuth

Veränderungen brauchen die Chance der Erprobung

Wenn sich etwas ändern soll, muss ausprobiert werden. Auch wenn der eine oder andere sagt, jetzt haben wir keine Zeit, der Wettbewerb ist wieder so hart, es wird wieder der Vorstand wechseln, es wird zugekauft werden. Aber wenn das als Einwand akzeptiert wird, dann kommt nie der richtige Zeitpunkt. Das muss hier und jetzt geschehen. Und wir haben nicht die Zeit zu sagen, bei der Zuwanderung 2020 wurden Vorschläge gemacht. Wir müssen früher, rechtzeitig und schneller in kleineren Einheiten agieren. Inzwischen haben wir zwar eine kräftige Zuwanderung, aber kein Einwanderungsgesetz. Und bei der Gesundheitsfrage ist es ähnlich. Wir sind ziemlich weit in der Neuausrichtung des Weltkonsenses bezüglich Ernährung, Bewegung, Vorsorgeuntersuchungen und Rehabilitation, aber wir sind noch nicht an der Stelle eines wirklich neuen Bilds von den Belegschaften. Und wie bringen wir sie voran? Da gibt es sicherlich Unternehmen, die sich das längst vorgenommen haben, andere aber nicht. Und da wir demografisch gesehen aus dem bisherigen Potenzial nicht mehr lange schöpfen können, müssen wir das Potenzial neu entwickeln, und zwar gemeinsam, unter Berücksichtigung eines veränderten Lebensstils. Wir haben kein lebenslanges Lernen. Programmatisch ja – am stärksten noch in Betrieben, wo on-the-job gelernt wird und die Selbstlernangebote genutzt werden. Wir haben die Frage: Was ist eigentlich mit den Älteren? Primär wird diese Frage damit abgehandelt, dass junge Leute gebraucht werden, da diese billiger sind. Doch warum schöpfen wir denn nicht – damit werfe ich noch einen weiteren Begriff hinein – die Kreativität der Jüngeren und der Älteren aus? Wenn ich das Unternehmen Bosch mit seiner Stiftung sehe, was die uns in den letzten Jahren vermittelt haben. Wie viel schöpferische Kraft in den Älteren liegt – nicht bei allen, das haben wir nie gehabt – aber doch bei einem maßgeblichen Teil, den würde ich doch nicht aufgeben. Zum Teil haben sich die Älteren neue Wirkungsräume geschaffen. Als ich 1985 in die Regierung kam, gab es nur zwei Wörter für die Älteren – Pflege und Betreuung. Das haben nicht wir in der Politik geändert, sondern die älter werdenden Menschen selbst. Die haben eine eigene Vorstellung von dem, wie sie leben wollen. Und übrigens auch mit der Bereitschaft, wir erleben das jetzt bei den Freiwilligen. Die ältere Generation, ich bin ja auch schon von den Alten, demnächst von den Uralten  – solange sie noch kann und Spaß hat, lasst sie doch! Auch die Frage, wie wir den Anteil der immer stärker psychisch Erkrankten senken, sollte anders gestellt werden. Wir helfen uns dann damit und sagen: Das sind Frauen, uns Männer betrifft das doch gar nicht. Da irren wir uns gewaltig. In den psychischen Kliniken wächst der Anteil der Männer im Moment schneller als der der Frauen. Auch was die Menschen mit Trauma- und Folterbehandlung betrifft, löst eine mehrjährige Therapie das Problem nicht. Eine sinnvolle Beschäftigung, eine Aufgabe, Arbeit kann hier der beste Heilungsprozess sein. Also hier geht es doch darum, nicht einfach zu sagen: Da kann man nichts machen! Sondern wir können überall etwas verändern.

Die Rolle und Bedeutung der Gesundheit und Gesundheitsförderung für Unternehmen

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311

 ie Führung braucht Unterstützung – gemeinsam können D wir viel erreichen

Daher ist es bei der Frage nach der Gesundheit in Unternehmen ganz wesentlich, auch die Führung zu unterstützen. Die Führung kann nicht für ein gutes Betriebsklima sorgen, ohne zu wissen, was die Mitarbeiter wollen und brauchen. Wir haben so viele Compliance-­ Forderungen. Wenn ich von heute auf morgen höre: in drei Wochen ist Schluss, geraten die Menschen in Panik. Die Kommunikation muss eine andere werden. Und da braucht auch die Führung zumindest das Wissen darum: Werden wir von euch unterstützt oder allein gelassen? Denn wir haben immer mehr Führungspersonal, das erkrankt oder restlos überfordert ist. Diese Botschaft will ich hier unbedingt vermitteln, weil die Mehrheit immer noch sagt: Die Belegschaft ist daran doch gar nicht interessiert, das muss ich alles selbst machen. Wir können sie interessieren und wir haben genügend Unternehmen, wie unser Netzwerk Enterprise for Health beweist. Auf der Webseite ist ersichtlich, was die Unternehmen mit steigender Produktivität alles verändert haben. Allerdings dauert alles seine Zeit. Manchmal geht es schnell, wenn der Druck zu groß wird. Krisen sind immer auch eine gute Möglichkeit, das, was wir übertrieben haben, abzubauen. Wir können auch auf weit mehr Vorschriften verzichten. In der Arbeitssicherheit ist Deutschland sicherlich führend, aber in einer produktiven Beteiligung der Belegschaften können wir noch dazulernen. Doch gemeinsam mit Engagement, mit offener Kommunikation und Dialog auf Augenhöhe unter Nutzung der vorhandenen Potenziale und dem Mut zum Ausprobieren können wir viel erreichen!

Prof. Dr. Rita Süssmuth,  Präsidentin Enterprise for Health, ist eine deutsche Politikerin und Wissenschaftlerin. Sie war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestags. Zuvor war sie Professorin für Erziehungswissenschaften an den Universitäten Bochum und Dortmund und Direktorin des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft in Hannover. Als Expertin für Migration wurde Rita Süssmuth u.  a. im Jahr 2000 vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily zur Vorsitzenden der unabhängigen Kommission Zuwanderung berufen. Sie ist heute Präsidentin des Konsortiums, das den deutschen Beitrag zum Aufbau der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul koordiniert. Darüber hinaus engagiert sie sich in zahlreichen Gremien für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, u. a. als Präsidentin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt und als Vorsitzende des Vorstands der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung. Seit 2017 gehört sie dem World Refugee Council zur Verbesserung der weltweiten Flüchtlingsbewegungen an.

Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für Organisationen dysfunktional geworden sind Klaus Eidenschink

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Stresserzeugende Erwartungen an Organisationen  3  Mangelnde seelische Selbstregulation  4  Kennzeichen gelingender seelischer Selbstregulation in Organisationen  5  Fazit  Literatur 

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Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit individualpsychologischen Eigenarten, die das Entstehen von Burnout begünstigen und fördern. Die Kernthese dabei ist, dass viele etablierte – aber ungünstige – Formen seelischer Notbewältigung zunehmend schlechter zu den Arbeitsverhältnissen in modernen Organisationen passen. Damit sind betroffene Menschen vermehrt Stress ausgesetzt bzw. sie entwickeln wahrscheinlicher Burnout-Symptomatiken. Dies gilt sowohl für diejenigen seelischen Entlastungsstrategien, die über Leistung psychische Stabilität erzeugen, als auch für solche, die mit Verlust von Selbstwahrnehmung und Einnehmen von Rollenidentitäten einhergehen. Verstärkt werden diese Mechanismen durch unrealistische Erwartungen an die Humanität von Organisationen. Die daraus resultierende Dauerenttäuschung fördert zusätzlich ungünstige Stressfaktoren. Mit einer Übersicht dieser ungünstigen Hoffnungen beginnt der Beitrag, mit einer Übersicht über Hinweise auf eine Resilienz fördernde und gut funktionierende Selbstregulation endet er. K. Eidenschink (*) Hephaistos, Coaching-Zentrum München, Krailing, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_16

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K. Eidenschink

Einführung

Häufig werden die als krankmachend eingeschätzten Verhältnisse in Unternehmen zum Ausgangspunkt für Überlegungen zum Thema Burnout genommen. Die organisationalen Phänomene, die hier Kritik auf sich ziehen, sind meist chronischer Druck, ständige Erreichbarkeit, übermäßige Mobilität, unsichere Arbeitsbedingungen, Abnahme von solidarischen Strukturen oder Arbeitnehmerrechten, hyperkomplexe Verhältnisse oder zu hohe Veränderungsdynamiken. Dies führt zur naheliegenden Schlussfolgerung, dass die ­Unternehmen sich ändern müssen. Konzepte wie Gesundheitsmanagement, Humanisierung der Arbeitswelt, Reduktion von Wettbewerbsdruck sind ebenso die Folge wie Kapitalismuskritik, Anprangerung von Ausbeutungsverhältnissen oder kluge Schriften, die den Zustand der Gesellschaft anprangern. Es soll hier nichts über die Berechtigung und Notwendigkeit solcher Überlegungen ausgesagt sein. Die vorliegenden Überlegungen setzen jedoch bei einem anderen Ausgangspunkt an. Sie nehmen zunächst nüchtern zur Kenntnis, dass Organisationen eigentlich schon immer in der Kritik standen. Früher waren die Vorwürfe andere. Die Kritik richtete sich vor 50 bis 100 Jahren eher auf rigide Phänomene wie bürokratische Behördenmacht, autoritäre oder gar totalitäre Führungsstrukturen, inhumane Prozesse wie Fließbandarbeit, Ausbeutung oder Austauschbarkeit. Menschen tun sich mit Organisationen auf erstaunliche Weise schwer. Die gedankliche Annahme dahinter ist meist ein als selbstverständlich angesehener Gedanke: Weil Organisationen von Menschen geschaffen sind, sollen sie daher eben auch für die Mitarbeiter da sein und deren Belangen entsprechen. Diese – anthropozentrische – Sichtweise von Organisationen übersieht jedoch, dass diese auch als eine gesellschaftliche Entwicklung gesehen werden müssen, deren Eigendynamik und Eigenlogik erheblich ist (Luhmann 2000). Einfache Bürokratie- oder Kapitalismuskritik greift hier theoretisch ebenso zu kurz, wie die pragmatischen Versuche zur Humanisierung der Arbeitswelt. So drängt sich die Frage auf, wodurch die Kritik an Organisationen motiviert ist? Denn – und das ist eine der Thesen dieses Beitrags – wenn Organisationen durch falsche Erwartungen ihrer Mitglieder überfordert werden, dann wäre die Kritik auch zu verstehen als die Folge chronischer Enttäuschungen und einer mangelnden Kompetenz der Mitarbeiter, in Organisationen gut zurechtzukommen. Damit gerät die Frage in den Fokus: Welche innerseelischen Kompetenzen brauchen Menschen, um mit schwierigen Verhältnissen in Organisationen gut zurechtzukommen? Die kurze Antwort besteht aus zwei Teilen: Zum einen geht es darum, sich von unglücklich machenden und damit stresserzeugenden Erwartungen an Organisationen zu verabschieden. Zum anderen geht es darum, sein Wohlbefinden nicht von spezifischen Verhältnissen und Bedingungen abhängig zu machen, also sich seelische Autonomie zu erarbeiten. Burnout wäre dann eben auch eine Folge von Fehlanpassungen der Mitarbeiter an die Organisationen, die diese für sich verändern könnten. Dass damit sekundär auch mehr und effektivere Möglichkeiten entstünden, Organisationen für die Mitarbeiter zu verbessern und gedeihlicher zu gestalten, sei hier zumindest erwähnt.

Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für …

2

Stresserzeugende Erwartungen an Organisationen

2.1

Humanität

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Die Erwartung, dass Organisationen human sein sollen, ist wohl den meisten Menschen selbstverständlich. So verstört es meist eher, wenn man die Selbstverständlichkeit infrage stellt, dass der funktionale Bezugspunkt von Organisationen der Mensch zu sein hat. Aus Sicht der systemtheoretischen Organisationstheorie führen Organisationen ein Eigenleben (Luhmann 2000). Sie beziehen sich also auf ihr eigenes Überleben und nicht auf das Gutgehen ihrer Mitglieder. Sehr vereinfacht und provozierend formuliert: Organisationen berücksichtigen deshalb menschliche Bedürfnisse, weil es nötig ist, um diese als Mitglieder zu gewinnen und zu halten. Aufgrund dieses Eigenlebens (dessen Herleitung hier den Rahmen sprengt) sind Organisationen auch nicht von Menschen steuerbar, rational kon­ trollierbar und zielgerichtet veränderbar. Auch nicht von der Hierarchiespitze. Wer je erlebt hat, wie ohnmächtig sich Vorstände fühlen können, nachdem mal wieder ein Change-­ Projekt gescheitert ist, kann das nachvollziehen. Wenn aber Organisationen für ihr Überleben sehr viel mehr berücksichtigen (müssen) als das Wohlergehen ihrer Mitglieder, ist es nicht so sinnvoll, darauf zu setzen. Selbst Organisationen, die sich Humanität und Liebe auf die Fahnen ihrer Identität schreiben wie Kirchen, Umweltorganisationen, Kinderhilfswerke, Ärzte ohne Grenzen usw. fallen immer wieder durch inhumane Entscheidungen als Arbeitgeber auf (und müssen dies auch). Ohne den Einzelfall verletzende Regeln, ohne Regeltreue an Stellen, wo der Einzelne auf Nachsicht hofft, ohne Gleichbehandlung von unterschiedlichen Menschen, ohne Verknappung, wo der Mitarbeiter dringend Ressourcen bräuchte – ohne all das wäre keine Organisation überlebens- oder auch nur funktionsfähig.

2.2

Wertschätzung

Die zweite recht übliche Erwartung an Organisationen ist es, dass die Mitarbeiter Wertschätzung für die geleistete Arbeit erwarten. Nun ist überhaupt nichts gegen Lob und Würdigung von Leistungen zu sagen. Die meisten Vorgesetzten tun dies sowieso aus sich heraus. Jedoch ist es ausgesprochen problematisch, wenn Organisationsmitglieder glauben, ein Recht (!) auf Anerkennung zu haben. Diese Erwartung macht deshalb so leicht unglücklich und demotiviert, weil Organisationen eben keine Wertschätzungsspendeautomaten sind. Von Organisationsseite jedenfalls lässt sich nämlich nüchtern sagen, dass die Wertschätzung für den Mitarbeiter durch die Bezahlung abgegolten ist. Wer als Mitarbeiter verlässlich Wertschätzung möchte, muss sie sich selbst geben (Das habe ich gut gemacht!). Darauf zu setzen, dass Vorgesetzte das tun (Mein Chef lobt mich nie!), macht unglücklich. Es ist psychologisch sowieso als größeres Problem zu werten, wenn äußere Wertschätzung eine fehlende innere Selbstwertschätzung ersetzen soll. Das funktioniert nie, weil man es letztlich innerlich nicht glaubt, wenn man es selbst nicht auch so sieht. Dazu gleich noch mehr.

316

2.3

K. Eidenschink

Sicherheit

Organisationen sollen für viele Menschen auch Sicherheit garantieren: Ein sicherer Arbeitsplatz, sichere Bezahlung, Sicherheit gegen Überforderung, zu starke Flexibiliätsoder Mobilitätszumutungen. Aus Mitarbeitersicht zunächst sehr verständlich, aus der Sicht von Organisationen nicht leistbar. Organisationen sind auf die Austauschbarkeit ihrer Rollenträger angewiesen. Hier unterscheiden sie sich von anderen sozialen Systemen, etwa von Familien. Klar, in Familien tauscht man nicht den Vater aus, wenn dieser nicht kochen kann, oder die Mutter, weil diese die Glühbirne nicht wechselt. Man behilft sich mit Tiefkühlkost und dem Nachbarn. Der Mensch ist hier wichtiger als die Funktion. In einem Restaurant dagegen, wo der Koch nicht kochen kann, werden die Gäste wegbleiben, auch wenn der Koch unglaublich nett und sympathisch ist. Die Funktion ist wichtiger als die Person. Darum können und dürfen Organisationen keine Sicherheiten versprechen bzw. Mitarbeiter tun gut daran, ihre Sicherheit in anderen Kontexten zu suchen.

2.4

Gerechtigkeit

Eine weitere dysfunktionale Erwartung an Organisationen ist der Wunsch, es möge gerecht zugehen. Wer dies erwartet, ist chronisch gestresst, damit auch chronisch unzufrieden und Burnout-gefährdet. Gerechtigkeit ist ein standpunktabhängiges Phänomen. Was aus der einen Warte als gerecht erscheint, ist aus der anderen ungerecht. Etwa wird gelegentlich auf elegante Weise vergessen, dass dieselben Menschen, die sich über die ungerechte (weil zu niedrige Entlohnung) in der eigenen Firma beklagen, durchaus ohne große innere Probleme beim Discounter Jeans für 20 € kaufen, deren Preis nur durch inhumane Verhältnisse in asiatischen Fabriken möglich ist. In Organisationen spitzt sich das Standpunktproblem zu, weil sie um konfliktäre Interessen herum gebaut sind. Unterschiedliche Teilbereiche einer Organisation sind auch immer durch unterschiedliche Interessen definiert! So ist die Jahresbudgetzuteilung für den Vertrieb gerecht und sie stellt sich für die Produktion (zu Recht!) als ungerecht dar! Die Kürzung bei den Stabsstellen ist für diese ungerecht und für die Regionen überfällig! Wer Gerechtigkeit in Organisationen erwartet, erntet ständig Anlässe, um sich aufzuregen und sich in seinen Leistungen vernachlässigt oder behindert zu sehen. Auch das fördert Burnout.

2.5

Sinn

Schlussendlich wird in der Arbeit in Organisationen von vielen Menschen Sinn gesucht bzw. es wird erwartet, dass die Arbeit als sinnvoll erlebt werden kann. Organisationen werden zu Sinnspendemaschinen. Doch wie soll das gehen? Organisationen können nicht nur Arbeitsplätze schaffen, die gängige Sinnvorstellungen bedienen: die Welt verbessern, Talente entwickeln, Menschen helfen, Gutes bewirken, Neues erfinden

Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für …

317

u. v. a. m. Die Vorstellung, Arbeit könne Sinn stiften, ist eine Erfindung der Neuzeit. In früheren Zeiten diente Arbeit dem Überleben, war Pflicht und pure Notwendigkeit. Erst die Entwicklung eines hochdifferenzierten und auf Individuen setzendes Wirtschaftssystem ließ die Vorstellung aufkommen, dass es sinnvolle Arbeit geben könne. Damit wurde das innere seelische Erleben von Sinn auf äußere Verhältnisse projiziert und damit die Verantwortung ungünstig verlagert. Nun war es nicht der Mensch, der etwas Sinn zuschrieb und dafür Kompetenzen brauchte, sondern es war die Art der Arbeit, die sinnvoll zu sein hatte. Wer also nicht von sich erwartet, dass er dem, was er tut, Sinn verleihen kann, sondern von der Organisation erwartet, ihm eine sinnvolle Arbeit zu geben, der macht sich zum Opfer von Verhältnissen und gibt seine Selbstverantwortung an gesellschaftliche Rahmenbedingungen ab. Das fördert zwangsläufig innerseelische Welten, die grau und leer und damit Burnout-gefährdet sind. Jede dieser fünf skizzierten Erwartungen verlagert die Verantwortung für wichtige seelische Bedürfnisse nach außen. Das heißt, dass Menschen ihr Wohlbefinden von bestimmten, für sie günstigen oder für sie als notwendig empfundenen Umständen abhängig machen. So gerät man aber an den kurzen Hebel, da man äußere Umstände nie unter Kontrolle hat – Organisationen genauso wenig wie Vorgesetzte, Kollegen oder im privaten Bereich Partner, Kinder oder Eltern. Das Einzige, was Menschen beeinflussen können, sind sie selbst. Daher ist im Hinblick auf anhaltende Vitalität, Motivation, Zufriedenheit und Glück entscheidend, sein Wohlbefinden nicht an illusionäre Hoffnungen zu knüpfen. Wer von Organisationen erwartet, dass sie eine heile Welt bieten, verkennt diese. Organisationen sind um Konflikte herum gebaut und daher immer voller Spannungen, Widersprüche, Mehrdeutigkeiten und Güterabwägungen. Dies ist mit den fünf dargestellten Erwartungen nicht zu vereinbaren, sodass ein wichtiger Schritt einer Burnout-Prophylaxe darin besteht, sich von ihnen zu verabschieden, so selbstverständlich sie derzeit für viele Organisationsmitglieder auch sein mögen.

3

Mangelnde seelische Selbstregulation

Um im Leben gut zurechtzukommen, braucht es eine stabil funktionierende psychische Selbstregulation. Erst recht braucht man diese als Mitglied in Organisationen. Wer sich für sein Wohlbefinden selbst zuständig fühlt und nicht (wie das bei Kindern der Fall ist) von der Umwelt günstige Bedingungen braucht, kommt mit den Rissen und Versagungen nicht idealer Arbeitswelten gut zurecht. Nun sind natürlich auch die Menschen nicht so ideal, wie das für sie selbst und ihre Umgebung wünschenswert wäre. Viele haben schlimme, z. T. traumatische Erlebnisse früh im Leben verarbeiten müssen. Kaum liebevolle Beziehungen, körperliche oder seelische Abwesenheit wichtiger Bezugspersonen, Streit und Gewalt in der Familie, Armut und Not, zu wenig oder zu hohe Ansprüche der Eltern und so vieles andere mehr. Unter ungünstigen äußeren Bedingungen bilden Kinder Formen der Selbstregulation aus, die ihnen helfen, mit diesen ungünstigen Bedingungen zurechtzukommen, auch wenn damit schlechte Nebenwirkungen einhergehen. Wenn nun

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diese Selbststeuerungsmuster auch unter neuen Verhältnissen nicht aufgegeben werden (was die Regel ist), entsteht dauerhafter Stress. Es lässt sich nun an einigen dieser – häufig genutzten – ungünstigen seelischen Verarbeitungsmuster zeigen, dass diese unter den gegenwärtigen Bedingungen, die in ­Organisationen herrschen, noch schneller ihr negatives Potenzial für die Betroffenen entfalten. Die heutigen Organisationen passen nicht mehr so gut zu kulturell verbreiteten psychischen Überlebensstrategien, sodass in der Folge ein Zusammenbrechen dieser Strategien die Folge ist. Dies nennt sich dann Burnout. Will man die Zunahme von Burnout-Phänomenen verstehen, gilt es also zu begreifen, woran man einen Mangel an Selbstregulation erkennen kann und warum sich solche Mängel in den gegenwärtigen Organisationen besonders ungünstig bemerkbar machen.

3.1

Woran erkennt man ungünstige seelische Selbstregulation?

Es lassen sich zwei prinzipiell unterschiedliche Strategien der ungünstigen seelischen Selbstregulation unterscheiden. Diese sind die Rettung in die Leistung sowie die Rettung in den Schein. Beide Strategien beinhalten eine Reihe differenzierter Substrategien der Selbstregulation, die nachfolgend behandelt werden.

3.1.1 Die Rettung in die Leistung Als problematisch stellt sich die häufig auftretende konditionale Kopplung von Sein und Tun heraus. Diese kann zu Gefühlen des Nicht-o.-k.-Seins führen, denen mit einem der folgenden fünf Kompensationsstrategien begegnet wird: • • • • •

Ich bin o. k., wenn ich perfekt bin Ich bin o. k., wenn ich stark bin Ich bin o. k., wenn ich es den anderen recht mache Ich bin o. k., wenn ich mich beeile Ich bin o. k., wenn ich mich anstrenge

Vom Nutzen und Schaden des Wörtchens wenn Die Basis aller gelingenden Selbstregulation ist das Gefühl: Ich bin in Ordnung. Aufkommende innere Impulse dürfen erlebt werden, werden also nicht grundsätzlich unterdrückt, sie werden ernst genommen, werden also nicht grundsätzlich verneint und oder negativ bewertet und sie werden in Ruhe untersucht, ob sie der Situation angemessen und dienlich sind, werden also nicht einfach ausagiert. Dieses Gefühl in Ordnung zu sein, ist also nicht abhängig von dem, was man tut und an Leistungen erbringt. Es ist erst recht nicht notwendig zu versuchen, jemand anderes zu sein. Man braucht keine Fassade, spielt keine Rolle und tut nicht so als ob. Eine solches Grunderleben  – man könnte auch sagen Urvertrauen oder Selbstbewusstsein – ist bei vielen Menschen beeinträchtigt. Bei den einen nur punktuell und in bestimmten

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Situationen (z. B. bei Kritik), bei anderen sehr grundsätzlich und in so gut wie jeder Lebenssituation. Es gibt nun unterschiedlichste Strategien mit dem Gefühl – Ich bin nicht o. k. – umzugehen. Die Psychologie hat dafür sehr viele Beschreibungen erarbeitet. Für die Zwecke dieses Beitrags wird ein recht eingängiges Modell aus der Transaktionsanalyse gewählt, in dem sich viele Menschen wiederfinden und das hier keinen größeren psychologischen Begriffsapparat notwendig macht (s. Stewart und Joines 2000; http://metatheorie-der-veraenderung.info/wpmtags/antreiber/). Die milde, weil weniger nebenwirkungsreiche Form ist es, aus dem Satz „Ich bin nicht o. k.!“ einen Konditionalsatz zu formen „Ich bin o. k., wenn …!“ Das heißt, man lernt als Kind, wenn man bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legt (und andere aufgibt) – also Leistungen erbringt, man positive Reaktionen bei anderen Menschen hervorrufen kann. Etwa lernt man, wenn man sich zusammenreißt und die Eltern nicht braucht, dass man dann nicht geschimpft wird. Oder es ist immer dann alles gut, wenn man die Wünsche der Eltern erfüllt und es ihnen recht macht. Der gemeinsame Kern all dessen ist jedoch, dass man nicht einfach ist, wie man ist, sondern sich mit einem bestimmten Verhaltensstil oder -schema identifiziert. Wer also das grundlegende Vertrauen und damit die elementare Lebenssicherheit verloren hat, der versucht, die bestehende Verunsicherung mit den erwünschten Verhaltensmustern zu kompensieren. Wer als Person nicht erwünscht ist, der liefert erwünschtes Verhalten. Das geht solange gut, solange man das entsprechende Verhalten an den Tag legen kann. Das gelingt jedoch dauerhaft niemandem: Das wäre zu anstrengend, braucht zu viel Selbstkontrolle, man kommt selbst dabei zu kurz, die Anerkennung dafür ist nicht verlässlich und man weiß ja sowieso nie, was die anderen nun genau erwarten. Zudem – im Hintergrund lauert immer das Gefühl, man sei nicht in Ordnung. Ist man aber erstmal mit dem identifiziert, was man tut, statt mit dem, was man ist, steht ab diesem Zeitpunkt dann bei allem, was man tut, immer zu viel auf dem Spiel. Einige Beispiele: • Passiert ein Fehler, dann geht es nicht mehr um die Frage: Habe ich einen Fehler gemacht?, sondern es geht um die Frage: Bin ich ein Versager? • Hat man sich geirrt, dann geht es nicht mehr um die Frage: War mein Ziel, meine Einschätzung falsch?, sondern es geht um die Frage: Bin ich falsch? • Hat man nicht getroffen, was der andere wollte, geht es nicht mehr um die Frage: Erfülle ich mit meinem Tun die Erwartungen?, sondern es geht um die Frage: Bin ich eine Enttäuschung? Ist die Kopplung von Sein und Tun erstmal vollzogen, wird das Leben nicht mehr bestimmt von den Fragen: Wer bin ich? und Was tut mir gut?, sondern von den Fragen: Wie bin ich richtig? und Was muss ich tun? Es erschließt sich von selbst, dass der Alltag damit einerseits weniger befriedigend wird und andererseits anstrengend und mühsam (Burnout). Gleichzeitig wird es aber schwierig bis unmöglich, von diesen Verhaltensweisen zu lassen, da in dem Moment ja die unangenehmen Empfindungen – ich bin nicht o. k., die man mit

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diesen Verhaltensweisen in Schach hält – wieder ins Bewusstsein und ins Erleben zu kommen drohen. Im Kontext Organisation werden diese Mechanismen ungünstiger Selbstregulation über das Verhalten nun besonders drastisch wirksam. Ist es doch so, dass unter den gegenwärtigen hochkomplexen und hyperdynamischen Bedingungen, die in vielen Organisationen vorherrschen, Überlebensstrategien, die über Leistung den Selbstwert versuchen zu erhalten, besonders schnell in die Krise kommen. In stabileren Zeiten, in denen die Organisationen mehr von Bürokratie als von Dynamik, mehr von Genauigkeit als von Schnelligkeit, mehr von Regeln als von Ausnahmen geprägt waren, war das anders. Aber wie ist es jetzt? Schauen wir uns fünf besonders wichtige und häufige Kompensationsstrategien, die mit Leistung arbeiten, genauer an und untersuchen das Zusammenwirken mit den gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen. Kompensationsstrategie: Ich bin o. k., wenn ich perfekt bin Menschen, die diese Strategie wählen, versuchen ihr Gefühl „Ich bin nicht gut genug“ zu mildern, indem sie keine Fehler machen. Wer Fehler macht, droht mit Kritik überzogen zu werden, darum muss dies unter allen Umständen vermieden werden. Kritik löst innerlich Scham aus, sodass verständlich ist, dass sie so schlecht toleriert werden kann. Es liegt dann auf der Hand, dass solche Menschen meist nicht mit ihrer Arbeit fertig werden, unverhältnismäßig viel Aufwand in die letzten Kleinigkeiten stecken, schlecht delegieren können und andere nie gut genug sind, um ihnen etwas zu überlassen. Spontanität oder das Bedürfnis, Dinge im eigenen Stil zu tun (und nicht standardisiert als Perfektion) bleiben so auf der Strecke. Im Hinblick auf Burnout lässt sich recht simpel konstatieren: In einer Organisationswelt, die immer komplizierter, komplexer und damit unsicherer und unwahrscheinlicher wird, in der die Ergebnisse veraltet sind, wenn sie fertig sind – in einer solchen Welt lässt sich nichts mehr perfekt machen. Dadurch sind Menschen, die auf diese Strategie setzen, um sich vor Selbstdefiziten zu schützen, viel mehr im Stress, als es früher der Fall war. Wo ständige Innovation, Projektarbeit, kontinuierliche Umstellung der Arbeitskontexte, eine langsame und gewissenhafte Arbeit kaum mehr möglich machen, wird der Zwang zur Gründlichkeit zum Verhängnis. Menschen im Perfekt-Stil passen nicht mehr gut zur neuen Arbeitswelt. Kompensationsstrategie: Ich bin o. k., wenn ich stark bin Manche Menschen lernen früh, dass sie niemanden brauchen dürfen. Abhängig zu sein, bedeutet Schmerz, ins Leere laufen, dem anderen eine Last sein, ihn zu überfordern oder ihm weh zu tun. Unabhängigkeit, Stärke und mit allem allein zurechtkommen zu können, ist dann eine recht naheliegende Lösung. Beseelt mit einem solchen Muster neigt man dazu, sich keine oder zu spät Hilfe zu holen, auch Informationen holt man zu wenig ein. Im Team zu arbeiten wird nicht leichter, da man auf autonome Nischen angewiesen ist oder man sucht die Führungsrolle, da die innere Einsamkeit hier nicht so auffällt. Denn sich auf andere Menschen einlassen, ihnen vertrauen, dass sie es gut mit einem

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meinen, in liebevollen Kontakt zu gehen, sich geborgen zu fühlen und sich trösten lassen – all das ist schwer. Dadurch entsteht eine spürbare Distanz zu anderen. Diese haben das Gefühl, an solche Menschen nicht heran zu kommen, sie bekommen schnell Angst, weil sie den Starken nicht lesen können. Man weiß nicht, was los ist und versucht es dann vielleicht mit der Brechstange: Überzogene, scharfe Kritik, Rebellion, Verhungern-Lassen. Wenn das nichts hilft, folgen Anpassung und Resignation. In der gegenwärtigen Welt überhäufen Organisationen ihre Führungskräfte mit Feedback: 360-Grad-Feedbacks, Assessments, Audits, Ziel- und Mitarbeitergespräche – all das macht die Kompensationsstrategie „Sei stark“ immer schwerer und erfolgsärmer. Wenn Authentizität zunehmend erfolgsentscheidend wird, wird es immer schwieriger, das unnahbare Cowgirl oder der coole Cowboy zu bleiben und auch der Karriereerfolg wird ohne Soft Skills zunehmend unwahrscheinlicher. Der Zusammenbruch des Starken (v. a. körperliche Symptome), ein Wechsel in Opferrollen (Mit mir kann man es ja machen) oder in Hilflosigkeit sind häufig als Formen des Burnouts zu beobachten. Also: Auch die Sei-stark-Strategie passt viel weniger als früher in Organisationen. Kompensationsstrategie: Ich bin o. k., wenn ich es anderen recht mache Viele Menschen müssen sich als Kinder dahin flüchten, für die Eltern da zu sein, für deren bewusste und unbewusste Bedürfnisse; für die Beachtung ihrer Regeln, sodass die Eltern sich als wirksam erleben und das Gefühl von Kontrolle behalten; für deren Stabilität, weil sie eigentlich selbst etwas brauchen und nicht wirklich geben können; für deren Identitätsgefühl, indem sie so werden, wie die Eltern sie haben wollen. So entsteht das grundlegende Kompensationsmuster, dass man andere immer zufriedenzustellen hat und für das Wohlergehen anderer verantwortlich ist: Mir geht es nur gut, wenn es den anderen gut geht. Das führt zwangsläufig zu konfliktvermeidendem Verhalten, großen Schwierigkeiten, Nein zu sagen und Position zu beziehen. So verliert man die eigene Kontur, das Selbstwertgefühl leidet genauso wie die Wirksamkeit. Letztlich entsteht aber auch keine wirkliche Nähe, da ja immer nur die Wünsche des anderen zählen und man selbst zu kurz kommt und auf der Strecke bleibt. Wer mit einem solchen inneren Muster in Organisationen arbeitet, ist schon immer unter Stress, weil man in Organisationen geradezu von Erwartungen umstellt ist. Das Dilemma, es vielen recht machen zu müssen, kommt zur Blüte, wenn gänzlich unterschiedliche Sachen von einem erwartet werden. Das ist in Projekt- und Matrixorganisationen die Regel. So entkommt man nicht der Notwendigkeit, andere zu enttäuschen: Familie oder Chef, Anforderungen der Zentrale oder der Region, Aufträge des Linien- oder Projektvorgesetzten? Niemals kann man es jedem recht machen. So entsteht ungünstiger Stress und damit ein eindrucksvoller Boden für Burnout. Kompensationsstrategie: Ich bin o. k., wenn ich mich beeile Wer von klein auf erlebt, dass die Bezugspersonen nie wirklich ganz da, ganz präsent sind, sondern innerlich oder äußerlich immer mit etwas anderem, dem nächsten und übernächsten beschäftigt sind, der wird kein Gefühl für den Augenblick bekommen. Er wird nicht

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verweilen können und stattdessen sein Augenmerk darauf richten, schnell zu werden. Nichts zu verpassen, möglichst viel in ein Zeitfenster zu packen – das ist wichtig und gibt einem das Gefühl in Ordnung zu sein. Menschen im Beeil-Dich-Modus sind leicht ungeduldig, neigen zu Schnellschüssen und zu Aktionismus. Ihr gesamter Lebensalltag ist an der Uhr ausgerichtet und nie ist genug Zeit. Dass dieser Verhaltens- und Erlebensstil in einer organisationalen Welt, in der die To-­dos und E-Mails kein Ende haben, stressig ist – wer könnte daran Zweifel haben? Man kann man in gegenwärtigen Organisationen im Grunde nie fertig werden, egal wie sehr man sich beeilt. Also auch hier: Organisationen passen nicht mehr zu dieser Form der Notbewältigung. Kompensationsstrategie: Ich bin o. k., wenn ich mich anstrenge Mühsam, schwitzend, angestrengt – so erleben manche Menschen die Welt von Beginn an. Ohne Schweiß und Tränen zählt nicht wirklich etwas. Schönes und Leichtes fehlt, das Leben ist ein Kampf. Neuem begegnet man mit Bedenken, aber mit 150 % Einsatz. Viele Menschen kennen Familien, in denen eine solche Atmosphäre herrscht. Für Organisationen sind Menschen, die so ein inneres Muster erworben haben, dort gefragt, wo es um Einsatzbereitschaft geht. Auch wenn es um Effizienz und Effektivität nicht zum Besten steht – als Mitarbeiter für Stellen, in denen es um das Abarbeiten und Lastenabtragen geht, eignen sich Anstrengungsmenschen sehr gut. Doch solche Stellen gibt es kaum noch. Fast bis in den letzten Winkel hat sich in Organisationen die Anforderung durchgesetzt, dass am Ende nur das Ergebnis zählt. Das aber ist für Menschen, die ihren Beitrag daran ablesen, ob er mühsam und schweißtreibend war, der pure Stress und damit Burnout-treibend. Sie finden ihren Platz nicht mehr und fühlen sich abgehängt und nicht mehr wichtig. So ist auch die letzte der hier gesammelten Strategien zur Bewältigung von Nicht-Okay-Gefühlen mit der Funktionslogik gegenwärtiger Organisationen nur mehr bedingt kompatibel. Die Passung zwischen neurotischer Stabilisierung und den Stressreizen in der Arbeitswelt ist schlecht geworden. Daher brechen diese Muster auch früher und schneller zusammen und lösen symptomatische Krisen aus. Eine davon ist Burnout. Die Rettung über passendes Verhalten ist – wie oben angedeutet – jedoch nur ein Cluster von Varianten, um eine kompensatorische Selbstregulation zu gewinnen. Andere müssen sich anders behelfen.

3.1.2 Die Rettung in den Schein Das, was für viele zunächst ein guter Ausweg ist – die eben geschilderten fünf Arten, sich geschickt über Handlungsstrategien an die Umwelt anzupassen, bleibt anderen Menschen verwehrt. Sie haben kein Gegenüber, das eine klare Strategie zulässt, in dessen Gegenwart man ablesen kann, was sich lohnt, und das entsprechendes Verhalten auch positiv bemerkt. Es gibt Menschen, die bekommen keine Botschaften, was zu tun ist, sie bekommen nur Botschaften, wer sie zu sein haben. Solche Erfahrungen beeinträchtigen die Selbstregulation sehr viel umfassender, da der Eingriff in die eigene Psyche nicht mehr über Verhaltensauswahl, sondern über Selbstwahrnehmungseinschränkungen vollzogen wird.

Burnout – Warum häufige seelische Muster von Managern und Managerinnen für …

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Zwei dieser – insgesamt sehr vielfältigen Möglichkeiten – sind für das Thema Burnout von besonderer Bedeutung, weil sie  – ähnlich der oben geschilderten Strategien  – einerseits sehr wirksam sind und gleichzeitig in den gegenwärtigen organisationalen Verhältnissen sehr viel schneller als früher in die Krise kommen. Die beiden Selbstverleugnungsformen kann man überschreiben mit: „Ich spüre keinen Schmerz“ und „Ich bin grandios“ (s. Lammers 2015; Kernberg 2006). Ich spüre keinen Schmerz Manche Menschen lernen sich selbst in der Form zu verleugnen, dass schmerzliche Erfahrungen beim Scheitern, bei Niederlagen, bei Erschöpfung konsequent verdrängt, überspielt und bekämpft werden. Auf einen einfachen Satz gebracht: Geht nicht, gibt’s nicht! Anders formuliert: Be the winner! Es gibt keine Alternative zum Sieg. Der Beste oder nichts. Wenn man in einer solchen Welt groß wird, darf man keinen Schmerz, kein Zögern, keine Zweifel kennen. Fallen ist die Vorbereitung für das Aufstehen. Aufgeben ist vollständig mit Scham und Vernichtungsgefühlen gekoppelt. Daher kommt es nicht infrage, etwas als unmöglich anzusehen. Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen. Klar, dass Kinder mit solchen inneren Mustern von klein auf konkurrieren, ehrgeizig sind, es anderen zeigen wollen. Dadurch werden sie gut, sie tun sich hervor, sie entfalten ihre Talente. Die Bestätigung, die daraus erwächst, bestärkt den eingeschlagenen Weg. Die Verachtung für Verlierer, die sich bald auch in den Kindern bildet, tut ihr Übriges, um jede Form von Einfühlung in beide Seiten des Lebens – Gelingen und Scheitern – auszubilden. Der große Nachteil dieses Musters ist, dass die Menschen per se immer weit über ihre eigenen Grenzen hinausgehen und dies als Teil ihrer Person ansehen. Nach dem 14-Stunden-Managementtag setzt man die Stirnlampe auf und trainiert für den Halbmarathon. Entspannung wird im Ausdauersport gesucht. Das kann nicht lange gut gehen, weil das inhärente Prinzip heißt: Forever young! Mit dem Älterwerden kommen zwangsläufig Leistungsgrenzen, Leistungseinbußen, Verletzungen und Krankheiten. Und damit kommen die Krisen und meist Depressionen. Die verdrängten und aus der Selbstwahrnehmung getilgten Gefühle kommen zurück. Im Management landen Menschen mit solchen Mustern besonders oft, da sie genau das liefern, was Organisationen erwarten. Selbst unmögliche Aufträge werden angenommen und unerfüllbare Fristen werden eingehalten. Solche Manager lernen gern von Extremsportlern, Abenteurern und anderen Menschen, die Außergewöhnliches erreicht haben. Das sind ihre Vorbilder. Zudem kommt hinzu: Weil keine Fehler sein dürfen, werden diese Fehler geleugnet und deshalb weiter gemacht, auch wenn der Untergang sich schon abzeichnet. Das ist für Organisationen sehr gefährlich, da dann zu spät korrigiert werden kann und es im Desaster endet. Trotzdem neigen Organisationen dazu, die Grenzen des Machbaren und Leistbaren immer weiter zu verschieben (Kostenreduktion, Effektivitätssteigerungsprogramme). Wer keinen Schmerz kennt, geht mit. Dabei wäre Organisationen sehr gedient, wenn jemand Unmögliches als unmöglich benennt, und Burnout beim Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, statt es als unmöglich zu benennen, ist ein gesundes Symptom, keine Krankheit!

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In Summe bleibt festzuhalten: In Organisationen, die ständig ihre Leistungsfähigkeit verbessern wollen (oder müssen), sind Mitarbeiter, die keine Grenzen spüren, vordergründig hoch attraktiv. Und für Menschen, die ihre Grenzen nicht spüren, ist Karriere hoch attraktiv, sodass viele im Management auch ganz oben landen. Überlebensnotwendig ist jedoch sowohl für Organisationen wie für Menschen, dass sie Grenzen wahrnehmen. Der sonst eintretende Realitätsverlust gefährdet nicht nur den Erfolg, er gefährdet die Existenz. So sind Menschen ohne Grenzen zunächst erfolgreich und landen dann oft im Burnout. Ich bin grandios Eine inzwischen besonders populäre Form der Selbstverleugnung besteht darin, dass man denkt, dass man das ist, was man sein sollte. Bekanntgeworden ist diese Symptomatik unter dem Stichwort Narzissmus. Menschen brauchen ein Echo, um ihrer selbst gewahr zu werden. Sie werden vom Du zum Ich. Das setzt voraus, dass Eltern ihre Kinder in ihrer Eigenart sehen können. Nicht wenige – v. a. auch dann, wenn Kinder Lebensinhalt sind – sehen in ihren Kindern das, was die Kinder sein sollen: Sie sind großartig, schön, erfolgreich bzw. sollen es werden, sie sollen sich positiv von anderen abheben, sie sollen Papas kleine Prinzessin oder Mamas toller Hecht sein. Das Entscheidende ist, dass dabei die eigenen Impulse, das eigene Tempo, die eigene Art auf die Welt zuzugehen, nicht im Spiel sind oder hinter den Idealen und Zielen der Eltern verschwinden. So verlieren Kinder recht schnell den Bezug zu sich selbst, weil ja auch die Eltern nicht wirklich mit ihnen Bezug haben. Stattdessen lernen sie, dem Bild, das die Eltern von ihnen haben, zu entsprechen. Sie lernen die erwünschte Fassade, die erwünschte Identität zu präsentieren und identifizieren sich alsbald selbst damit. Nun ist es wichtig, etwas oder jemand zu werden, und nicht mehr, der zu sein, der man ist. Die Not, die herrscht, ohne dass die Betroffenen es wissen, besteht in der fehlenden Antwort auf die Frage: Wer bin ich? Die stattdessen leitende Frage: Wer muss ich sein? ist bezogen auf die Umwelt. Man orientiert sich an einem Ideal (z.  B. schön, erfolgreich, reich, umschwärmt, klug oder beeindruckend) und versucht, dieses Ideal vor Kritik und Angriffen zu schützen. So sind solche Menschen leicht kränkbar, weil ja alles von der Aufrechterhaltung des Scheins abhängt. Weil sie sich selbst so großartig finden, glauben sie mehr Rechte als andere zu haben. All das bewirkt nun häufig eine eindrucksvolle tragische Entwicklung. In Organisationen sind die Fähigkeiten solcher Menschen mehr als gefragt: Sie können leicht neue Wege gehen, sie sind gut in Außendarstellung, haben Visionskraft und Begeisterungsfähigkeit, stellen hohe Leistungsanforderungen an sich und an andere, können Aufbruchsstimmung verbreiten und sind hart in der Durchsetzung von Entscheidungen. Die narzisstische Überlebensstrategie begünstigt kaum etwas so sehr wie Karriere. Doch dies hat – zunehmend öfter und wahrscheinlicher – kein Happy End. Warum? Zum einen zieht die Orientierung an Idealen und Zielen (schneller, größer, mächtiger) Realitätsverlust, Abschottung nach außen und das Sich-Umgeben mit Jüngern und Anhängern nach sich. Dies macht unvorsichtig, ignoriert Grenzen, unterschätzt Gegner und – am wichtigsten – es überschätzt die eigene Unverwundbarkeit. Daher ist es insbesondere unter

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komplexen und dynamischen Umweltbedingungen wahrscheinlich, dass es zu einem narzisstischen Zusammenbruch kommt. Dieser Zusammenbruch kann sich innerlich ereignen: Plötzlich wird alles sinnlos. Man hat alles erreicht, man hat keinen Spaß mehr an dem, was man sich für Geld kaufen kann, die Menschen, die man nicht kaufen kann (wie Kinder), verlassen einen oder man hat keinen inneren Bezug zu ihnen, die Ahnung der eigenen Einsamkeit wird größer und die Depression schleicht sich zwischen die Ritzen des Erfolgs. Der äußere Zusammenbruch tritt ein, weil der Erfolg ausbleibt, weil Gesetzeswidrigkeit aufgedeckt wird, private Beziehungen scheitern, Suchtthemen überhand nehmen oder Krankheiten auftreten, die mit der bekundeten Großartigkeit nicht zusammenpassen. Ohnmacht, Isolation, Fall aus hohen Positionen in die Bedeutungslosigkeit, irreversible Rufschädigungen führen dann zum Burnout oder ausgeprägteren Symptomen. Die Welt blickt hinter die Fassade und dann fällt auf, dass da nichts ist! So kommt auch die narzisstische Strategie zunehmend in die Krise der Götterdämmerung, weil sich moderne Organisationen mit dem heroischen Modell nicht mehr führen lassen und die Öffentlichkeit der Grandiosität zunehmend misstraut. Zu viele Manager des Jahres hat man aus hoher Fallhöhe scheitern sehen. Beide psychologischen Überlebensstrategien, die mit Scheinerzeugung arbeiten – kein Schmerz oder keine Schwäche – funktionieren nicht mehr so wie früher in Organisationen. So häufen sich die Zusammenbrüche und der Druck für die Menschen in Organisationen, sich wirkliche seelische Gesundheit zu erarbeiten, ist hoch wie nie. Die gängigen neurotischen Mechanismen passen nicht mehr gut zu den gängigen Organisationen. So macht es Sinn, abschließend einige Hinweise zu geben, woran seelische Gesundheit, besser stabile seelische Selbstregulation zu erkennen ist.

4

 ennzeichen gelingender seelischer Selbstregulation K in Organisationen

Im Kontext von Organisationen kann man die Kennzeichen seelischer Autonomie und Selbstregulation im Grunde an ein paar einfachen Faktoren erkennen. Die folgende Liste lässt sich auch als kleine Selbstprüfung nutzen und man kann reflektieren, an welchen Stellen man selbst innerlich fragil wird und von günstigen Umweltbedingungen abhängig ist: Man bemerkt das Vorhandensein seelischer Autonomie an folgenden Phänomenen: • Man kann sich selbst trösten, wenn etwas schief gegangen ist, weil man Bedauern spürt, statt mit sich ins Gericht zu gehen oder sich mehr oder weniger heftige Vorwürfe zu machen. • Man kann sich selbst verzeihen, weil man sich nicht auf Fehlerfreiheit festgelegt hat und davon der Selbstwert abhängt. • Man wird nicht schnell defensiv, weil man sich ohne Stress für eigene Fehler interessieren kann.

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• Man kann klare Grenzen setzen, weil man innerlich Grenzen spürt und daher nicht so gefährdet ist, Ja zu sagen, wo man ein Nein empfindet. Wer sich stattdessen abgrenzen muss, hat meist die inneren Grenzen ignoriert und versucht zu spät, noch etwas zu retten. • Man kann abschalten, weil man eigentlich nicht abschalten muss, sondern schlicht nach der Arbeit andere Impulse in sich wahrnimmt. Dadurch ist man innerlich mit anderem beschäftigt und erholt sich so und hat den nötigen Ausgleich. • Man gibt dem Erreichen von beruflichen Zielen keine exklusive Bedeutung, weil der eigene Selbstwert nicht an das Erreichen äußerer Ziele gekoppelt ist. Diese sind wichtig und es mag traurig sein, wenn etwas nicht gelingt, aber wer innerlich frei ist, wird immer alternative Möglichkeiten entdecken können, die die eigenen Fähigkeiten fordern und entwickeln. • Man richtet die beruflichen Ziele an Selbstwirksamkeit und nicht an Fetischen aus. Damit ist gemeint, dass primäre Ziele – wie die Welt zu gestalten und eigene Talente zu nutzen – motivieren und nicht Ersatzbedürfnisse wie Macht, Geld oder Bewunderung.

5

Fazit

Intakte und gesunde seelische Selbstregulation ist für ein gedeihliches Leben in Organisationen zunehmend unabdingbar. Organisationen nutzen die psychischen Überlebensstrategien ihrer Mitarbeiter geschickt aus. Mitarbeiter mit offenen seelischen Flanken kommen daher immer leichter, früher, intensiver und nachhaltiger in Krisen. Egal ob Wirtschaftsorganisationen, Schulen und Universitäten, Behörden oder Nichtregierungsorganisationen – nirgendwo sind mehr stabile, sichere, einfache und unkomplizierte Verhältnisse. Es werden die einen für ungünstige Selbststeuerungsmuster deutlicher belohnt (solange die Mitarbeiter sich dieser Ausbeutung andienen) und die anderen werden deutlicher frustriert. Die Nischen, in denen sich beeinträchtigte psychische Muster leben lassen, werden weniger. Was folgt daraus? Darauf zu setzen, dass Organisationen sich so verändern, dass sie weniger Stress aufbauen und neurotischem Verhalten, das ihnen nicht dient, mehr Spielraum geben, wird nicht von Erfolg gekrönt sein. Darauf zu setzen, dass Organisationen weniger das ausbeuten, was Mitarbeiter aus unbewusst selbstschädlichen Motiven ihnen anbieten, noch viel weniger. Organisationen reagieren durchaus darauf, wenn sie bemerken, dass die Gesundheit der Mitarbeiter leidet. Im Kontext seelischer Gesundheit ist das Problem, dass es oft sehr spät zu Symptomen kommt. Darüber hinaus bagatellisieren die Betroffenen die Anzeichen als Durchhänger, als Wird-schon-wieder, behelfen sich mit Suchtmitteln und Drogen, reißen sich bis zur bitteren Neige zusammen und sprechen oft nie über ihre Not. Darum sind die Aufklärung über dysfunktionale Formen der Selbststeuerung, die Ermutigung, ungünstige seelische Zustände zu bearbeiten, die Verbreitung des Wissens, dass fast jeder Mensch Bedarf hat, problematische Seiten seines Innenlebens zu bearbeiten, und die Nachricht, dass dies möglich ist, so wichtig. Die Formate, in denen diese Unterstützung

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angeboten wird, sind nachrangig: Man kann das Coaching, Training, Führungskräfteentwicklung, Supervision, Teamentwicklung, Psychotherapie, Selbsthilfegruppen, Gesundheitsmanagement, Mentoring u. v. a. m. nennen. Wichtig ist nur, dass die Menschen wissen: Es ist nicht einfach, in Organisationen zurechtzukommen. Es genügt nicht mehr, eine gute fachliche Ausbildung zu haben. Es braucht eine gute seelische, emotionale und kommunikative Ausbildung obendrein, will man nicht irgendwann einen Preis bezahlen, der einem nicht gefällt: Einer der Namen für diesen Preis ist Burnout.

Literatur Lammers, K.H. (2015). Psychotherapie narzisstisch gestörter Patienten. Ein verhaltenstherapeutisch orientierter Ansatz. Stuttgart: Schattauer. Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Kernberg, O.F. (2006). Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Stuttgart: Schattauer. Stewart, I., & Joines, V. (2000). Die Transaktionsanalyse. Freiburg: Herder

Klaus Eidenschink  Senior Coach (DBVC), Organisationsberater, Coachingausbilder, Leiter eines psychotherapeutischen Instituts Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie Ausbildungen in humanistischen und psychoanalytischen Psychotherapieverfahren, Systemtheorie, Gruppendynamik, Organisationstheorie und Konfliktforschung Gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt ist eine Metatheorie der Veränderung von Personen, Teams und Organisationen. www.metatheorie-der-veraenderung.info www.eidenschink.de www.hephaistos.org www.gestalttherapeutisches-zentrum.de

Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der Aesculap AG und Führen im betrieblichen Gesundheitsmanagement Hermann Steinkamp

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4  5  6  7  8 

Einführung Das Konzept Die Historie – oder: Drei Minuten machen den Unterschied Aesculap bewegt sich und alle machen mit FIT = Fit im Team Der Erfolg Was hat das mit Führung zu tun?  Fazit 

 330  330  332  333  335  336  337  339

Zusammenfassung

Wer mit dem zielorientierten Gesundheitsmanagement eines Unternehmens über die psychosoziale Alibifunktion hinaus etwas erreichen möchte, braucht eine klare Vorstellung von Begleiten, Anleiten und Motivieren, sprich: ein Führungskonzept. Bei Aesculap wirkt im Arbeitskreis Gesundheit ein multidimensionales Gefüge aus Vorständen, eigener Betriebskrankenkasse, Personalabteilung, Gesundheitsmanagern, Betriebsrat und Betriebsarzt sowie Arbeitssicherheit, die ein Gesundheitspaket als freies Angebot für die Mitarbeitenden entwickeln. Warum sollten diese mitmachen? Kritiker interpretieren dieses Angebot als gewinnmaximierende Instrumentalisierung persönlicher Ressourcen. Wie motiviert nun ein Unternehmen seine Belegschaft, auf die persönliche Gesundheit zu achten und private Zeit für sportliche Aktivitäten bereitzustellen?

H. Steinkamp (*) Aesculap AG, Tuttlingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_17

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Abb. 1  Aesculap-Fit-Aktivisten leiten und entwickeln eigene Kurse, dabei werden sie vom Unternehmen unterstützt

1

Einführung

Am Hauptsitz in Tuttlingen mit 3631 Mitarbeitenden (Stand März 2018) baute die Aesculap  AG ein Gesundheitszentrum, stattete es mit Manpower und Finanzmitteln aus und startete ein Erfolgsmodell. Grundlage hierfür bildet ein kooperativer Führungsstil seitens der Verantwortlichen, der auf Partizipation und kollegiale Unterstützung setzt. Im Jahr 2017 nahmen über 1000 Personen an den Kursen, Seminaren und Aktionen teil, Tendenz steigend (s. Abb. 1).

2

Das Konzept

Das Konzept der Gesundheitsförderung bei Aesculap setzt sich aus fünf Kernelementen zusammen. Sie beruht auf einer Bewegung über die Unternehmensmauern hinweg.

2.1

Das Aesculap Gesundheitszentrum

Die Betriebsärzte führen u. a. arbeitsmedizinische Vorsorgen, medizinische Präventionsprogramme, Check-up-Untersuchungen, Schutzimpfungen und reisemedizinische Beratungen durch.

Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der …

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Physio- und Sporttherapeuten kümmern sich um individuell zielgerichtete Präventionsprogramme auf ärztliche Empfehlung nach Check-up-Untersuchung. Zu den Angeboten gehören u. a. physiotherapeutische Beratung, individuelle Trainingsprogramme, Ernährungsberatung, Stressmanagementseminare sowie Entspannungs- und Bewegungskurse. Viele Angebote werden dabei durch interne Kräfte abgedeckt. Durch die enge Kooperation mit der Betriebskrankenkasse BKK Aesculap stehen auch externe Fachkräfte zur Verfügung.

2.2

Aesculap bewegt sich

Der Betriebssport beinhaltet einen quartalsweise erscheinenden Gesundheitsplan und zeichnet sich v. a. dadurch aus, dass sportliche Aesculap-Mitarbeiter die Verantwortung für einzelne Aktivitäten übernehmen, indem sie anderen Mitarbeitern ihre eigene Sportart näherbringen. Dadurch entsteht eine hohe Motivation zum Mitmachen. Der Teamgedanke steht im Vordergrund.

2.3

Gesund am Arbeitsplatz

Dieses Konzept beinhaltet Bewegungspausen, ergonomische Beratungen, zielgruppenspezifische Programme rund um den Arbeitsplatz und Gesundheitszirkel. Der Schwerpunkt wird auf Letztere gelegt, da hierbei die betroffenen Mitarbeiter aktiv in den Prozess eingebunden werden. Ein weiteres Projekt ist das Erstellen einer innerbetrieblichen Ergonomieleitlinie. Alle bestehenden und neugeplanten Arbeitsplätze werden hinsichtlich der ergonomischen Rahmenbedingungen bewertet und klare Umsetzungsvorschläge zur Verbesserung der Arbeitsplätze erstellt. Diese gehen deutlich über die gesetzlichen Vorgaben (z. B. der Arbeitsstättenverordnung) hinaus. Dabei wird auch die wirtschaftliche Umsetzbarkeit bewertet und überprüft. Eine Erkenntnis hieraus ist, dass z. B. die Anschaffung geeigneter ergonomischer Arbeitsmittel häufig nicht teurer ist, wenn dies in Planungsprozessen frühzeitig berücksichtigt wird.

2.4

Förderung der psychischen Gesundheit

Die betriebsinterne Psychologin führt innerbetriebliche Studien (z. B. zum Einsatz mobiler Technologien), Seminare und Vorträge durch und ist gemeinsam mit der Abteilung Arbeitssicherheit für die Erstellung der psychischen Gefährdungsbeurteilung verantwortlich. Zusätzlich gibt es Angebote zur Entspannung und Erholung, eine regelmäßige psychologische Sprechstunde u. v. m.

2.5

Aesculap in Aktion

Aesculap führt regelmäßig einen Gesundheitstag für Mitarbeiter und deren Familien durch, der größtenteils von Mitarbeitern organisiert und durchgeführt wird. Außerdem nehmen jedes Jahr 200–300 Läufer am Tuttlinger Laufevent run&fun teil (s. Abb. 2).

332

H. Steinkamp

Abb. 2  Führen heißt gemeinsam zum Ziel kommen

3

Die Historie – oder: Drei Minuten machen den Unterschied

3.1

Rekrutierungsmechanismen im Freiwilligensegment

In jedem Unternehmen finden sich Mitarbeiter, die in Vereinen oder in der Freizeit Sport treiben oder sogar als Übungsleiter tätig sind. Hier schlummert Führungspotenzial für das Gesundheitsmanagement. Nur: Wie erreichen die Organisatoren diese verantwortungsbewussten Mitarbeiter? Wie binden sie diese in die betriebliche Gesundheitsförderung ein, damit sie als Multiplikatoren ins Unternehmen hineinwirken?

3.2

Die Idee: Begeistern mit Bewegungspausen

Im Jahr 2001 hatte der Arbeitskreis Gesundheit auf Initiative der hauseigenen Betriebskrankenkasse BKK Aesculap das Projekt „Bewegungspause“ beschlossen. Ziel war es, den Muskelverspannungen aufgrund einseitiger Körperhaltungen entgegenzuwirken. Gleichzeitig wollte das Management bei den Mitarbeitern die Eigenverantwortlichkeit für ihre Gesundheit wecken. Die Zeiten für die sechsminütige Bewegungspause trugen jeweils zur Hälfte die Mitarbeiter selbst und das Unternehmen. Die Teilnahme war selbstverständlich freiwillig. Zwei Wochen lang leitete ein Gesundheitsberater der BKK Aesculap die Übungen, um sie anschließend einem Mitarbeiter auf freiwilliger Basis für zwei weitere Wochen zu übergeben  – unterstützt durch ausgearbeitete Trainingspläne. Als kleines Dankeschön bekamen die Teilnehmer ein T-Shirt mit dem hierfür eigens entwickelten Logo: Aesculap bewegt sich. Die Aktion stieß auf positive Resonanz. Sowohl Abteilungen aus Großraumbüros als auch Produktionsbereiche beteiligten sich an den Bewegungspausen. Die Begeisterung

Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der …

333

wirkte ansteckend und so stellte sich jedes Mal ein Mitarbeiter zur Verfügung, der in Eigenregie die Aktion weiterführte und auf freiwilliger Basis Verantwortung übernahm. Die Bewegungspause entwickelte sich zum erfolgreichen Selbstläufer und 17 Abteilungen mit insgesamt über 300 Mitarbeitern denken heute noch an die bewegten sechs Minuten.

4

Aesculap bewegt sich und alle machen mit

4.1

Das Gesundheitsprogramm entwickelt sich weiter

Der Erfolg der Bewegungspausen führte zu der Idee: Aesculap bewegt sich und alle machen mit. Warum sollten nicht weitere Akteure (Führungskräfte) zusätzliche Maßnahmen vorantreiben und das Netzwerk kontinuierlich vergrößern (s. Abb. 3)? So führte das Gesundheitsmanagement Regie und organisierte gemeinsam mit Helfern 2005 den ersten Gesundheitstag. Ein T-Shirt mit dem Slogan „Aesculap bewegt sich und alle machen mit“ sorgte für das Wiedererkennen der Akteure untereinander und generierte ein Gruppengefühl. Da die Mitarbeitenden so positiv darauf reagierten, rüstete das Gesundheitsmanagement im gleichen Jahr die Teilnehmer am ersten Tuttlinger Laufevent run&fun und die aktuellen Kursleiter mit den T-Shirts aus. Wer von den Teilnehmern selbst Kurse übernahm (z. B. Lauftreffs) erhielt fachliche und didaktische Unterstützung von Profis und Sportwissenschaftlern.

Abb. 3  Bewegungspause: Sich gegenseitig zu Bewegung motivieren

334

4.2

H. Steinkamp

Gesundheitsplan

Zusätzlich erstellten die Verantwortlichen erstmals einen Gesundheitsplan mit den aktuellen Angeboten und verteilten ihn an alle Mitarbeiter, mit dem Aufruf sich zu beteiligen.

4.3

Fazit

Die Verantwortlichen hatten effektive Strukturen bereitet und sich glaubwürdig engagiert. Dadurch fühlten sich die Mitarbeiter eingeladen und motiviert, sich ebenfalls persönlich einzubringen. Heute bieten mehr als 40 FIT-Aktivisten ein breites Angebot von Aktivitäten an (s. Abb. 4).

Abb. 4  Aesculap Gesundheitsplan 2019

Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der …

5

335

FIT = Fit im Team

Einen weiteren Meilenstein setzte das Gesundheitsmanagement im Jahr 2009. Die Idee: Im Team macht alles mehr Spaß! – Das Team motiviert sich gegenseitig (s. Abb. 5). „Aesculap goes FIT“ sprach intrinsisch gesundheitsbewusste Mitarbeiter an und motivierte sie, ihre Führungsqualitäten nachzuweisen. Es galt Kollegen anzusprechen, Gesundheitsteams zu bilden und insbesondere die weniger gesundheitsbewussten Kollegen zu motivieren. Ein Team von mindestens sieben Mitarbeitern aus einer Abteilung hatte die Aufgabe, FITpoints in Sachen Bewegung, Ernährung und Entspannung zu sammeln. Ein halbes Jahr stand zur Verfügung, um eine bestimmte Punktanzahl zu erreichen. Das Unternehmen schüttete gemeinsam mit der BKK Aesculap 150 Euro pro Person für ein gemeinsames Gesundheitsevent aus. Am Gruppenbonusprogramm „Aesculap goes FIT“ beteiligten sich 40 Teams und damit 13 % der Belegschaft. Auch bei dieser Gelegenheit begeisterten und akquirierten die Verantwortlichen viele neue FIT-Aktivisten, sodass das Netzwerk organisch wuchs. Inzwischen ist die Aktion bereits drei Mal durchgeführt worden, und 2017 haben 55 Teams mit über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern teilgenommen.

Abb. 5  Führen heißt motivieren

336

5.1

H. Steinkamp

FIT-Aktivisten

Jeder FIT-Aktivist organisiert sein Angebot selbst und organisiert den Ablauf für die Teilnehmer, die sich auch bei ihm anmelden. Die Inhalte bestimmt er selbst. Unterstützung erhält er von Profis. Für das Gesundheitsmanagement sind ein Sportwissenschaftler und eine Physiotherapeutin mit betriebswirtschaftlichem Hintergrund tätig (s. Abb. 6). Die Erfahrung zeigt: Je mehr Verantwortung den Akteuren übertragen wird, desto motivierter sind sie als Teamleiter (FIT-Aktivisten). Selbstständig organisieren sie Ereignisse wie Abschlussläuferfeste und gemeinsames Essengehen usw.

5.2

BKK-Aesculap-Kursleiter

Die BKK Aesculap agiert in diesem Kontext nicht nur als wertvoller Kooperationspartner, sondern stellt die treibende Kraft dar. Im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung werden Leistungen zur individuellen, verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Sozialgesetzbuch Nr. 5 Satz 1 erbracht.

6

Der Erfolg

Erfolg im Gesundheitssektor lässt sich nur schwer messen und hängt nicht nur an Teilnehmerzahlen. Die Altersstruktur, der Anteil an gewerblichen Mitarbeitern und die Geschlechteraufteilung spielen eine Rolle. Das Aesculap-Gesundheitsmanagement möchte

Abb. 6  Führen heißt sichern

Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der …

337

Abb. 7  Systematische Ergonomieberatung

die Gesundheitskompetenz der Mitarbeiter steigern. Insbesondere sollen Mitarbeiter akquiriert werden, die sich wenig bewegen, sich eher ungesund ernähren und beispielsweise zu Burnout neigen. In persönlichen Gesprächen, insbesondere beim Gesundheitscheck und während der individuellen Ergonomieberatung, ist die Chance am größten, eine Verhaltensveränderung herbeizuführen. Wartelisten (Gesundheitscheck) und hohe Teilnehmerzahlen bei der individuellen Ergonomieberatung dokumentieren das Interesse und den Erfolg dieser Angebote (s. Abb. 7). Auch die Teilnehmerzahlen beim Tuttlinger Laufevent run&fun sind im Laufe der Jahre gestiegen. Waren es 2005 nur 30 Teilnehmer, joggten oder walkten 2013 bereits über 300  Aesculap-Mitarbeiter. Inzwischen hat sich die Teilnehmerzahl bei etwa 250 eingependelt. Jedes Jahr laufen etwa 5–10 % der Mitarbeiter mit. Das Beachvolleyballturnier Anfang Juli ist regelmäßig ausgebucht. Ebenso wird die Skifreizeit vor Weihnachten von rund 100 Teilnehmern gern besucht. Die Anzahl und damit auch die Teilnehmerzahlen in den qualitätsgesicherten Kursen der BKK haben im Laufe der Jahre deutlich zugenommen.

7

Was hat das mit Führung zu tun?

Betriebliches Gesundheitsmanagement ist heute mehr als nur Betriebssport oder Gesundheitsförderung. Ein Set an Maßnahmen und Angeboten verhilft den Mitarbeitenden dazu, gesund im Beruf zu bleiben und die Idee der Bewegung in ihre Freizeit mitzunehmen.

338

H. Steinkamp

Abb. 8  Die Mitarbeiter lassen sich für viele verschiedene Aktivitäten begeistern

Über den Sport bilden sich außerdem informelle Netzwerke, die in beide Welten hineinwirken. Gemeinsame private Aktionen fördern das Vernetzen im beruflichen Alltag. Mit dieser „hidden agenda“ unterstützt das Unternehmen den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter abseits von Hierarchie und Position (s. Abb. 8).

7.1

Führen

Mit dem Konzept der FIT-Aktivisten begleitet das Gesundheitsmanagement die Teilnehmer behutsam in die Verantwortung. Dabei erlernen die Akteure Führungskompetenzen oder bauen ihre eigenen bestehenden Voraussetzungen aus. Sie planen Aktivitäten, dokumentieren ihre Kurse und leiten Teilnehmer an. Sie wachsen über ihre Begeisterung in eine neue Aufgabe und entwickeln ein innovatives Skillset.

7.2

Wertschätzen

Das Gesundheitsmanagement pflegt gemeinsame Ereignisse mit den FIT-Aktivisten und lädt sie zu Sportveranstaltungen und Festen ein. Außerdem positioniert es die freiwilligen Helfer in Kommunikationskanälen wie Newsticker, Aushängen, Intranet, Facebook, Unternehmenspublikationen und im Gesundheitsplan. Diese Bekanntheit drückt Wertschätzung und ein indirektes „Weiter so“ aus – eine wichtige Voraussetzung für die langfristige Motivation der Akteure und somit den Erfolg des Modells.

Erfolgsfaktor Gesundheitsmanagement – Innovative Präventionskonzepte bei der …

8

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Fazit

Das Gesundheitsmanagement beruht also auf zwei Seiten: Erstens die Experten und Ärzte von betrieblicher Seite und zweitens die sportbegeisterten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Genau diese Kombination macht das Gesundheitsmanagement bei Aesculap so besonders. Denn hier trifft man sich, findet neue Freunde, gründet Netzwerke. Das kommt nicht nur der Gesundheit, sondern letztlich auch der Zusammenarbeit untereinander zugute – und das abseits von Hierarchie und Position. Das trägt zu einer wertschätzenden Führungs- und Unternehmenskultur bei.

Hermann Steinkamp  hat sich nach Abschluss seines Diplomsportstudiums und des zweiten Staatsexamens (Lehramt Sport und Sozialwissenschaften) in Köln schon früh mit betrieblichem Gesundheitsmanagement beschäftigt. Die Teilnahme am Pilotprojekt „Ganzheitliche Betriebliche Gesundheitsförderung“ vom Landesverband der Betriebskrankenkassen in Baden-Württemberg öffnete ihm 1991 den Einstieg bei der BKK Aesculap. Diese war Initiator des ersten Arbeitskreises Gesundheit bei der Aesculap AG. Im Jahr 2010 war Steinkamp dann maßgeblich an der Konzeptentwicklung für das neue Gesundheitszentrum beteiligt.

Teil VII Qualifizierung, Ressourcen und Rahmenbedingungen künftiger Führung

Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World) Markus Strangmüller

Inhaltsverzeichnis 1  Einführung  2  Leadership  3  Passion und Purpose (Leidenschaft und Sinnhaftigkeit)  4  Impact (Wirkung)  5  One Young World  6  Wie die Siemens AG diesen Ansatz umsetzt  7  Resümee  Literatur 

 344  344  345  346  346  348  351  351

Zusammenfassung

Welche Art von Führung wird uns bei den künftigen Herausforderungen helfen und wie lässt sich diese entwickeln? Dieser Beitrag setzt sich zunächst kurz mit dem Begriff der Führung auseinander und fokussiert dann die zentralen Begriffe Leidenschaft („passion“), Sinnhaftigkeit („purpose“) und Wirkung bzw. Nachhaltigkeit („impact“). Diese spielen beim Ansatz der gemeinnützigen Organisation One Young World, der u. a. mit einigen Beispielen vorgestellt wird, eine zentrale Rolle. Die Art und Weise, wie dieser Ansatz in der Unternehmenspraxis im Rahmen eines Talentprogramms umgesetzt werden kann, wird am Beispiel der Siemens AG geschildert. Zentral sind die Auswahl und Vorbereitung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen wie auch das Setzen eines Fokusthemas und die Unterstützung des Top-Managements. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Resümee und Stimmen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

M. Strangmüller (*) Siemens AG, Kirchheim bei München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_18

343

M. Strangmüller

344

1

Einführung

Führungskräfte von morgen  – Führungskräfte von heute: Wo liegen die Unterschiede? Handelt es sich dabei um eine Evolution oder eine Revolution? Immerhin sind wir mittlerweile bei dem Begriff Führungskraft angekommen und lassen den Vorgesetzten hinter uns. Der suggeriert nämlich, dass der Mitarbeiter jemanden vorgesetzt bekommen hat. Letzteres beobachten wir aber durchaus auch noch in der heutigen Arbeitsrealität. Und was ist eigentlich das, was Führungskräfte machen – Management oder Leadership? Bei Management handelt es sich um mindestens eine von mehreren Funktionen, wie z. B. Planung, Organisation und Controlling. Ich möchte mich hier mehr mit Leadership beschäftigen. Dabei geht es vorwiegend um die Persönlichkeit der Führungskraft, deren Motivation und dem daraus abgeleiteten Führungsstil. Führungskraft zu sein ist eine große Verantwortung, deren man sich voll und ganz bewusst sein sollte. Kernfragen, die man sich dabei stellen sollte, lauten: Warum möchte ich Führungskraft werden? Was ist meine Motivation? Geht es mir dabei um mehr Macht, mehr Geld, mehr Einfluss, oder geht es mir mehr darum, anderen zu helfen, sich zu entwickeln oder etwas Sinnvolles zu bewirken? Die Motivation schlägt sich oft im persönlichen Führungsstil nieder, also einem langfristigen, relativ stabilen, von der jeweiligen Situation unabhängigen Verhaltensmuster einer Führungskraft, das zugleich die Grundeinstellung gegenüber den Mitarbeitern zum Ausdruck bringt (Staehle 1999, S. 334). Ob autokratisches, bürokratisches, charismatisches, demokratisches, partizipatives, persönlichkeitsorientiertes, richtungsorientiertes, ergebnisorientiertes, sinnorientiertes oder transformationelles Führen – alle Führungsstile haben ihre Vor- und Nachteile und damit auch ihre Rechtfertigung. Ich möchte hier keine Bewertung der jeweiligen Führungsstile abgeben. Mir geht es vielmehr darum, Aspekte für Leadership aufzuzeigen, die geeignet sind, andere mitzureißen und zu begeistern, um in einer immer komplexeren Welt die notwendigen transformativen Schritte gemeinsam einzuleiten. Der Grund: Wir bewegen uns heute als globale Gesellschaft ganz klar auf einem Weg, der nicht nachhaltig ist. Deshalb bedarf es einer signifikanten Transformation. Das sehen wir auch an der von den Vereinten Nationen (UN) verabschiedeten Agenda 2030 mit dem Titel „Transforming the World“. Unsere Welt ist VUCA geworden, also volatil, ungewiss, komplex und mehrdeutig (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity). Um solche Veränderung mitzugestalten, braucht es nicht nur Management, sondern v. a. Leadership. Mit dem Titel „Leadership through passion and purpose for impact“ möchte ich Sie durch meine nachfolgenden Ausführungen führen.

2

Leadership

Der englische Begriff „lead“ heißt im Deutschen führen, leiten. Dies umfasst mindestens drei Komponenten.

Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World)

345

Zum einen geht es um einen selbst. Bevor man andere führt, sollte man Klarheit über sich selbst gewonnen haben, sich selbst führen und durchs Leben navigieren können, wissen, was einem wichtig ist und warum es wichtig ist. Es geht darum, sich selbst zu hinterfragen und sich selbst und die eigenen handlungsleitenden Werte kennenzulernen. Dabei ist es sehr hilfreich, einen eigenen Kompass zu entwickeln. Zweitens ist es wichtig, eine erstrebenswerte Richtung vorzugeben. Aber was ist erstrebenswert? Geht es um Geld und Macht oder geht es vielmehr um Wirkung und ­Sinnhaftigkeit? Dieses Zielbild zu definieren, ist eine wichtige Voraussetzung, um die dritte Komponente zu erzielen: die Menschen motivieren und engagieren, einem zu folgen. Ohne Followership gibt es keine Leadership. Diese beiden Aspekte bedingen sich gegenseitig. Je mehr dieses Verhalten durch eine intrinsische Motivation geprägt ist, desto nachhaltiger und erfolgreicher wird dieser Weg sein. Sehr stark hat dies der französische Dichter Antoine de Saint-Exupéry beschrieben: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann rufe nicht die Menschen zusammen, um Holz zu sammeln, Aufgaben zu verteilen und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.“

3

Passion und Purpose (Leidenschaft und Sinnhaftigkeit)

Haben Sie schon mal das Gefühl gehabt, dass Sie in einem Thema gefangen sind? Nur der Blick auf die Uhr zeigt, dass bereits viele Stunden wie im Flug vergangen sind. Sie haben vergessen, zu essen und waren so produktiv wie selten in ihrem Tun. Das bezeichnet der Psychologe und Experte für Unternehmensführung Mihály Csíkszentmihályi als Flow. Dieses Gefühl von innen heraus, vom Herzen getrieben zu sein  – es fühlt sich einfach richtig gut an. Nicht darüber nachdenken, was zu tun ist, es passiert automatisch. Dieser Modus Operandi kann sich aber nur dann einstellen, wenn Sie Begeisterung bzw. Leidenschaft entwickeln, emotional uneingeschränkt engagiert sind und Ihr Ziel in Ihren Augen das Richtige ist. Um das für sich selbst herauszufinden, bedarf es der erwähnten Selbstreflexion. Sie soll Ihnen klar machen, für welches Thema Sie eine Leidenschaft hegen und worin für Sie der Sinn liegt. Deshalb gilt es herauszufinden, für welches Thema Sie Leidenschaft empfinden und was einen Sinn für Sie ergibt. Die Welt steht vor großen Herausforderungen. Die UN haben nun die sog. Millenium Development Goals – zu Deutsch: die Millenniumsentwicklungsziele – ersetzt durch die Sustainable Development Goals – also die nachhaltige Entwicklung der Menschheit und des Planeten in den Vordergrund gestellt. Hierbei spielen Unternehmen eine signifikante Rolle und leisten unterschiedliche Beiträge zur nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften. Der Autor und Berater John Strelecky schreibt in seinem Buch The Big Five For Life vom „Zweck der Existenz“ (Strelecky 2009). Dies gilt für jedes Unternehmen und wird oft in der Mission eines Unternehmens beschrieben

M. Strangmüller

346

sowie durch das unternehmerische Handeln zum Ausdruck gebracht. Es wird immer wichtiger für Unternehmen, einen positiven Zweck der Existenz zu haben, um gute und motivierte Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten.

4

Impact (Wirkung)

Wie lässt sich Wirkung erzeugen und womit? Bei den vielen globalen Herausforderungen muss man sich klar darüber werden, welches soziale oder ökologische Problem man lösen will, also den Zweck der Existenz zu definieren. Dann heißt es: Handeln im Sinn der positiven und nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft. Ultimativ daraus folgt dann auch der Zweck des eigenen Unternehmens. Mit jeder Handlung, sei sie auch noch so klein, wird Wirkung erzeugt, aber nur, wenn die Richtung stimmt, wird dies auch zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Um in der komplexen Welt von heute diese Wirkung noch zu verstärken, werden immer mehr Partnerschaften und gemeinsames Handeln notwendig. Darum ist es wichtig, Netzwerke zu etablieren und zu nutzen. Da ich nun die Einzelkomponenten von „leadership through passion and purpose for impact“ erläutert habe, stellt sich die Frage der Umsetzung. Wie können wir all dies erreichen? Eine mögliche Antwort hierauf gibt der One-Young-World-Ansatz.

5

One Young World

Die heutigen Management- und Führungsseminare bieten sehr viele Einstiegsmöglichkeiten und Vertiefungen rund um das Thema Führung. Solche Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen räumen dem Thema Selbstreflexion inzwischen mehr Zeit als früher ein, doch sie befassen sich immer noch überwiegend mit harten Ansätzen wie Prozessen, Methoden und Tools. Es gibt freilich noch ganz andere, nämlich weiche Ansätze, die weitaus stärker auf Sozialverhalten setzen, Emotionen mit einbeziehen und so die Führungskräfte von morgen umfassender und damit besser auf ihre wachsenden Aufgaben vorbereiten. Einer dieser weichen Ansätze ist One Young World (OYW, www.oneyoungworld.com). Die gemeinnützige Organisation bringt junge Führungskräfte unter 30 Jahren aus der ganzen Welt zusammen, um Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln. Gegründet wurde OYW mit Hauptsitz in Großbritannien 2009 von David Jones und Kate Robertson. Jedes Jahr hält OYW eine mehrtägige Konferenz ab, auf der rund 1300 junge Talente aus mehr als 190 Ländern und Hunderten globalen und nationalen Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Universitäten und Instituten mit Weltpolitikern und Prominenten zusammentreffen. Dabei agieren erfahrene Führungskräfte als sog. OYW Counsellors. Auf früheren Konferenzen fungierten als OYW Counsellors u. a. der frühere Erzbischof Desmond Tutu, der Sänger und Aktivist Sir Bob Geldof, der ehemalige

Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World)

347

UN-Generalsekretär Kofi Annan, der Unternehmer Sir Richard Branson, der Ökonom und Nobelpreisträger Professor Muhammad Yunus, der Starkoch Jamie Oliver, der Twitter-­ Mitgründer Jack Dorsey, die erste Staatspräsidentin Irlands und UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson, die Schauspielerin Emma Watson und die Journalistin und Bloggerin Arianna Huffington. Die Konferenz dient dazu, die großen Herausforderungen der Welt auf eine neuartige, emotionale Art und Weise zu diskutieren, wodurch die UN-Agenda 2030 greifbar wird. Dabei stehen Themen wie globale Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Gleichberechtigung, Klimaschutz usw. im Mittelpunkt. Ergebnis sind innovative Lösungen. Im Nachgang zur Konferenz arbeiten die Teilnehmer entweder an ihren eigenen Initiativen (darauf gehe ich im weiteren Verlauf ein) oder engagieren sich in bestehenden Initiativen. OYW ermöglicht so die Umsetzung von „leadership through passion and purpose for impact“, denn diese kreativen Veranstaltungen ermöglichen den jungen Menschen neue Einblicke in die Herausforderungen unserer Welt, aber auch die Erkenntnis, dass jeder etwas zur positiven Veränderung beitragen kann. Mit dem Einblick in die globalen Herausforderungen wird der Horizont jedes Einzelnen deutlich erweitert und lässt ihn den tieferen Sinn spüren. Wie beeindruckend die Veranstaltung ist, schildert eine Teilnehmerin: „Das ist eine überwältigende und lebensverändernde Veranstaltung – ich weiß jetzt, dass ich mich sehr viel mehr engagieren will und werde.“ Wie sehr jeder etwas beitragen kann, kommt v. a. in den inspirierenden Reden der jungen Delegierten zum Ausdruck. Diese beschreiben in maximal fünf Minuten ihre persönlichen Geschichte und die Wirkung, die sie bereits erreicht haben. Weil sie meist sehr emotional auftreten, gelingt es ihnen oft, die empathische Seite im Menschen zum Klingen zu bringen und bei den Zuhörern entscheidende Impulse für Motivation und Engagement zu geben. Einige Beispiele hierzu sind: • Yeonmi Park aus Nordkorea erzählt unter Tränen von der tragischen Flucht und der Brutalität, der sie und ihre Familie ausgesetzt waren. Jetzt kämpft sie für die Freiheit der Menschen in Nordkorea und hat dazu auch schon vor der UN gesprochen. Yeonmi lebt aber in ständiger Angst vor dem nordkoreanischen Geheimdienst. • Eine weitere berührende Geschichte teilt ein Teilnehmer aus dem Südsudan: Acht Jahre verbrachte er in Flüchtlingslagern, bis er durch den Mut einer Frau eine Chance bekam und jetzt eine Organisation aufgebaut hat, um anderen Kindern zu helfen und ihnen dieselbe Chance zu ermöglichen. • Spencer West hat keine Beine mehr und geht auf seinen Händen auf die Bühne. Er hat den Teilnehmern gezeigt, dass auch das denkbar Unmögliche letztlich möglich ist, wenn man nur daran glaubt. Dann berichtet er über seinen Aufstieg mit den Händen auf den Kilimandscharo. • Leute outen sich, dass sie homosexuell sind oder sich selbst einmal das Leben nehmen wollten, weil sie keinen Ausweg mehr sahen. Jetzt gründen sie Organisationen oder treten bestehenden Organisationen und Netzwerken bei, um anderen zu helfen, weil das ihr Sinn und Zweck ist und sie dafür eine Leidenschaft haben.

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M. Strangmüller

Diese Emotionalisierung ist ansteckend. Denn wenn junge Menschen mit Mitte 20 ihre Leidenschaft für Themen in beeindruckender Weise darstellen, ihre Geschichte erzählen und damit in ihrem eigenen Einflussbereich die geistige Führung und Verantwortung übernehmen, dann begeistert dies auch andere und motiviert sie. Begleitet wird dies durch Führungspersönlichkeiten wie die bereits erwähnten OYW Counsellors, die von ihren Erfahrungen und Initiativen berichten. Eine unserer Teilnehmerinnen kommentierte: „Die Möglichkeit, von visionären Leadern mit einer Leidenschaft für nachhaltiges Handeln zu hören, hat mich in meinem täglichen Leben inspiriert und mich ermutigt, meine Karriereambitionen zu erhöhen, und lässt mich über die Welt heute in einer anderen Art und Weise denken.“

6

Wie die Siemens AG diesen Ansatz umsetzt

Seit 2011 ist Siemens bei OYW vertreten und hat mit inzwischen über 300 Delegierten auf den Konferenzen in Zürich, Pittsburgh, Johannesburg, Dublin, Bangkok und Ottawa teilgenommen. Ausgangspunkt war die Fragestellung, wie wir die Themen Talententwicklung, Nachhaltigkeit und Positionierung des Unternehmens einmal anders gestalten können. Ein vierköpfiges interdisziplinär besetztes Team wurde damit beauftragt und ist bei der Suche auf One Young World gestoßen, die im Jahr 2010 ihre erste Konferenz in London abgehalten hatten. Das Team hat den Prozess zur Durchführung einer Pilotteilnahme vorangetrieben und im Folgejahr zum ersten Mal teilgenommen. Die 30 Teilnehmer kamen aus verschiedenen internen globalen Talententwicklungsprogrammen und trafen bei der Veranstaltung zum ersten Mal zusammen. Eine interaktive Stellwand zum Thema „Nachhaltige Stadtentwicklung“ stellte die globalen Herausforderungen der Städteentwicklung, Zahlen und Fakten sowie mögliche Lösungsansätze dar. Nach der Konferenz fanden Workshops und weitere Aktionen zu den Projekten statt, um die Umsetzung voranzutreiben. Besonders wichtig war es, den Mitarbeitern die nötigen Freiräume zu geben, um ihre Leidenschaft zu entdecken, den Sinn und Zweck klar zu identifizieren, um dann auch die gewünschte Wirkung zu erzielen. Dabei lag es in der Verantwortung der Mitarbeiter, sich ihre Zeit einzuteilen – zusätzliches Budget oder Zeit gab es nicht. Vom Organisationsteam wurde lediglich mit Coaching unterstützt. Auch wenn Mitarbeiter mit ihren Themen gescheitert sind, war es gut zu sehen, dass sie – angetrieben durch ihre Leidenschaft – immer wieder neue Wege entwickelten, um ihre Sache voranzutreiben. In einigen Fällen war dies erfolgreich, in anderen nicht. Wichtig ist, dass jeder, der sich engagiert und Projekte vorangetrieben hat, viel über Führung und Umsetzung gelernt hat und das in einer Art und Weise, die sehr stark durch emotionales Engagement, Leidenschaft und Wirkungsorientierung geprägt war. Genau das ist es, was Führungskräfte

Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World)

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von morgen brauchen und was wir fördern wollen. Wenn man von etwas überzeugt ist und es nicht sofort funktioniert, muss man andere Wege suchen, seine Lösung anpassen, andere Verbündete finden und Themen auch mit einem längeren Atem vorantreiben. All das werden die Führungskräfte von morgen noch stärker benötigen, als wir das heute bereits tun. Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass für Siemens die Teilnahme an OYW sinnvoll ist. Der Vorteil von Siemens ist, dass das Unternehmen mit seinen Produkten und Lösungen sowie Aktivitäten sehr stark zur nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften beiträgt. Grundzüge der nachhaltigen Entwicklung sind zum einen die Erhöhung der Lebensqualität und des Wohlstands und zum anderen die Erhaltung der Ressourcen und damit des Planeten. Ob wir die Versorgung und den Zugang zu Elektrizität schaffen – ein signifikanter Treiber von Wohlstand –, oder Zugang zu Gesundheitsversorgung, Mobilität, oder ob es darum geht, die Wettbewerbsfähigkeit von Industrien sicherzustellen: All dies führt zu nachhaltiger Entwicklung. Mit unserer Mission „Wir verwirklichen, worauf es ankommt“ zielen wir genau auf diese Aspekte der Entwicklung ab und lassen dabei das Handeln nicht außer acht. Über die Jahre haben wir unseren Ansatz weiterentwickelt und professionalisiert.

6.1

Teilnehmer

Kernpunkt ist die Teilnahme von jungen Talenten, künftigen Führungskräften und Persönlichkeiten, die sich durch ihr Verhalten im Sinn der OYW-Ziele empfehlen. Sie werden von den jeweiligen CEOs in den Geschäftseinheiten oder Ländern benannt und müssen sich dann in einem Auswahlprozess bewähren. Das Programm ist mittlerweile integraler Bestandteil der Talententwicklung. In einem Unternehmen wie Siemens sind junge Talente oft noch sehr stark auf ihr partielles Tätigkeitsumfeld fokussiert und nicht so sehr auf das große Ganze. So nutzen wir die Vorbereitung auf die Konferenz, um genau das zu adressieren. Die Talente werden über vier virtuelle Treffen auf die Konferenz vorbereitet. Dabei informieren wir sie über die globalen Herausforderungen und Trends, den Beitrag von Siemens zur nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften sowie das darüber hinausgehende gesellschaftliche Engagement und bieten dabei eine Plattform zum Vernetzen innerhalb des Konzerns. Am Konferenzort treffen wir uns mit allen Teilnehmern zu einem ersten direkten persönlichen Kennenlernen und einem intensiven Vernetzen. Wir laden auch den lokalen CEO dazu ein, der die Teilnehmer willkommen heißt und Informationen über das Land und den Beitrag von Siemens gibt. Darüber hinaus steht er oder sie auch als Diskussionspartner zum Thema Führung zur Verfügung. Während der Konferenz gibt es weitere Treffen unserer Teilnehmer, um einen Puls-­ Check zu machen. Ansonsten obliegt es den Teilnehmern, das Bestmögliche von der

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M. Strangmüller

Veranstaltung mitzunehmen. Wir halten die Teilnehmer dazu an, regelmäßig während der Konferenz zu reflektieren, da die Inhalte sehr intensiv sind. Darüber hinaus sollen sie sich mit dem Delegierten aus über 190 Ländern austauschen und Netzwerke bilden. Am Tag nach der Konferenz treffen wir uns mit unseren Talenten zu einem Workshop. Dabei geht es zuerst um die Reflexion und das Feedback zur gesamten Teilnahme. Den Schwerpunkt bildet aber die Diskussion über potenzielle Projekte, die sie umsetzen wollen. Dies ist der erste Startpunkt dafür. Nach Rückkehr unserer Delegierten von der Konferenz werden diese aufgefordert, auf der Basis ihrer neuen Erfahrungen in sich zu gehen, ob und für welches Thema sie eine Leidenschaft entwickeln und dieses zur positiven Entwicklung der Welt vorantreiben wollen. Rund zwei Drittel unserer Delegierten haben sich in Projekten engagiert, entweder innerhalb unseres Unternehmens, extern zusammen mit Siemens für ein gesellschaftliches Problem oder direkt in der jeweiligen Gemeinde. Die Projekte gehen von einer Klinik im Amazonas, einer Elektrizitätsversorgung von East Timor mit dem Projekt „Lighting up East Timor“, der Unterstützung von Flüchtlingen, der Gründung einer Stiftung zur Vermeidung von Suiziden bis hin zu einem Mentoring für Schüler. Viele Teilnehmer erkennen an, wie privilegiert sie heute schon sind und gehen damit auch einen ersten Schritt zu einer Veränderung. Hier eine Teilnehmerstimme: „Die Teilnahme am One Young World Summit in Johannesburg war eine sehr inspirierende und motivierende Erfahrung. Menschen aus der ganzen Welt mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnissen zu treffen, globale Leader, CEOs und Gleichaltrige sprechen zu hören sowie die globalen Herausforderungen zu diskutieren, hat mich ermutigt, ein Change Agent zu werden und aktiv beizutragen zu einer positiven Wirkung.“

6.2

Fokusthema und Top-Management-Engagement

Wir setzen auch vor Ort bei der Konferenz ein Fokusthema, das wir über die Rede eines Mitglieds aus dem Top-Management adressieren und meist durch einen eigenen Informationsstand vertiefen. Die Themen waren bisher: Nachhaltigkeit, Integrität und Antikorruption, Bildung und berufliche Bildung, Klimawandel, der Beitrag von Siemens zu den Sustainable Development Goals der UN.  Das Platzieren eines Mitglieds aus dem Top-­ Management auf der Bühne gibt zum einen bessere Visibilität des adressierten Themas und schafft die Möglichkeit, uns als Vordenker zu positionieren und andere mitzureißen. Zum anderen ist es für unsere Teilnehmer äußerst motivierend, einen hochrangigen Repräsentanten des Unternehmens sprechen zu hören. Wir bieten unseren Delegierten überdies die Möglichkeit, sich von ihrem Firmenrepräsentanten in kleiner Gesprächsrunde persönlich inspirieren zu lassen. Darüber hinaus ergeben sich auch für unsere Vertreter auf oberer Ebene neue Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen Rednern und OYW Counsellors.

Führungskräfte von morgen – ein anderer Ansatz (One Young World)

6.3

351

Break-out-Sessions

Wir unterstützen auch noch weitere Formate von OYW: interne und externe Break-out-­ Sessions. Hierbei geben wir einen tieferen Einblick in das Unternehmen Siemens durch Besichtigungen von Produktionsstätten, gemeinsame Projekte mit unseren Kunden oder auch Workshops zu unseren Fokusthemen.

7

Resümee

Welches Resümee lässt sich nun nach sechs Teilnahmen bei OYW ziehen? Eine Umfrage unter allen bisherigen Teilnehmern zeigt folgende Ergebnisse: • Die Identifikation mit dem Unternehmen ist bei Teilnehmern von OYW substanziell höher. Beleg dafür ist die deutlich niedrigere Fluktuation bei den Teilnehmern von Siemens@OYW gegenüber der globalen Fluktuationsrate im Unternehmen – speziell für diese Altersgruppe. Dies zeigt, dass die Talente u. a. durch die Teilnahme an dem Programm eine stärkere Bindung zum Unternehmen und der Mission des Unternehmens entwickelt haben. • Motivation und Engagement sind bei mehr als 75 % der Teilnehmer höher als vor der Veranstaltung. Dies führt letzten Endes zu mehr Effektivität und Effizienz. Knapp die Hälfte der Teilnehmer hat zwischenzeitlich den nächsten Karriereschritt gemacht. Dies belegt die richtige Auswahl der Teilnehmer und die Erreichung des ursprünglichen Ziels: Talententwicklung durch das Programm. Es erfüllt uns mit Freude und Stolz, wenn wir sehen, wie sich junge Führungskräfte von morgen engagieren, verändern, neue Perspektiven einnehmen, lebensverändernde Schritte einleiten, globale Freunde fürs Leben finden, sich vernetzen und zusammenarbeiten. Ob kleine oder große Schritte – wenn sie ihre Leidenschaft finden und darin einen Sinn entdecken, treten sie für die Verbesserung der Welt und damit auch zur Verbesserung des Unternehmens ein. Solche Führungspersönlichkeiten brauchen wir für die Welt von morgen, die immer komplexer wird. Mit ihnen können wir die richtigen Lösungen für die kommenden Herausforderungen bereitstellen und als Unternehmen einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten. cc

Daher: Leadership through passion and purpose for impact. Nicht mehr und nicht weniger.

Literatur Staehle, W.H. (1999). Management, 8. Auflage. München: Vahlen. Strelecky, J. (2009). The Big for Life. München: dtv.

352

M. Strangmüller Markus Strangmüller,  Vice President Sustainability Management, Siemens AG, ist eine international erfahrene Führungskraft mit über 25 Jahren Führungserfahrung im Weltkonzern Siemens, wo er in verschiedenen Funktionen, Industrien sowie Ländern tätig war. Im Jahr 2011 hat er zusammen mit Kolleginnen das Programm Siemens@OneYoungWorld pilotiert und erfolgreich in der Organisation verankert. Er ist ein Business Humanizer und sein Motto ist „Purpose – Trust – Legacy“, was auch seine Grundhaltung in Bezug auf Führung widerspiegelt. Seit 2009 ist er mitverantwortlich für das Management und die Umsetzung von Nachhaltigkeit im Konzern, und seit 2014 fokussiert er sich auf die Wirkung der Siemens Geschäftsaktivitäten in den verschiedenen Ländern, in denen Siemens tätig ist, auch genannt Business to Society.

Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen Erna Herzfeldt und Sonja Sackmann

Inhaltsverzeichnis 1  Was kennzeichnet die Arbeitswelt von morgen?  2  Interkulturelle Kompetenz – ein vielseitiges Konzept  3  Förderung der interkulturellen Kompetenz im Unternehmen  4  Fazit und Ausblick  Literatur 

 354  355  361  364  365

Zusammenfassung

Eine der größten Herausforderungen der heutigen Arbeitswelt ist die stets zunehmende Häufigkeit und Intensität interkultureller Begegnungen. Während früher die Zusammenarbeit mit Menschen aus anderen Kulturen fast ausschließlich ein Thema für ent­ sandte Mitarbeiter war, führen aktuelle politische, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen dazu, dass heute fast jeder Arbeitnehmer mit interkulturellen Situationen konfrontiert wird. Dies kann in der Zusammenarbeit mit zunehmend kulturell gemischten Kollegen am eigenen Standort sein, bei virtueller Zusammenarbeit mit Kollegen aus geografisch gestreuten Standorten, bei der Inanspruchnahme outgesourcter Dienstleistungen, dem Verkauf der eigenen Produkte ins Ausland oder im zunehmenden internationalen Projektgeschäft, das v.  a. kürzere Auslandsaufenthalte mit sich bringt. Parallel zu diesen Entwicklungen ist in der Wissenschaft und Praxis das Inte­ resse an der Frage gewachsen, was Menschen, die interkulturelle Situationen erfolgreich meistern, von solchen unterscheidet, die weniger erfolgreich sind – was also die interkulturelle Kompetenz ausmacht. Im folgenden Beitrag sollen die zentralen Konzepte E. Herzfeldt (*) · S. Sackmann Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_19

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E. Herzfeldt und S. Sackmann

der vielfältig diskutierten interkulturellen Kompetenz dargestellt werden, und es wird aufgezeigt, wie interkulturelle Kompetenzen in einem Unternehmen erworben und gefördert werden können.

1

Was kennzeichnet die Arbeitswelt von morgen?

Die Arbeitswelt unterliegt wie kein anderer gesellschaftlicher Bereich den Einflüssen der Globalisierung. Internationale politische Zusammenarbeit, technologischer Fortschritt in den Kommunikations-, Transport- und Produktionstechnologien und zunehmende Mobilität der Weltbevölkerung führen dazu, dass wir in einer Welt leben und arbeiten, die von transnationalen Kultur- und Wirtschaftsräumen und dem Aufeinandertreffen kulturell unterschiedlich geprägter Individuen gekennzeichnet ist (Thomas 2003). Während zu Beginn der Globalisierung interkulturelle Begegnungen in der Arbeitswelt noch meist bikultureller Natur waren, sich also meist Vertreter zweier Nationen begegneten, sind heute die Arbeitskontexte zunehmend multikulturell. Dieser Trend wird durch folgende Entwicklungen bedingt: In der Wirtschaft spiegelt sich die Globalisierung in den zunehmend internationalen Handelsbeziehungen und der Internationalisierung der Unternehmen wider. Unternehmen expandieren inter- oder multinational, verschmelzen durch internationale Übernahmen und Unternehmenszusammenschlüsse oder gehen grenzübergreifende strategische Allianzen ein. Zu Beginn dieser Entwicklungen waren klassische Auslandsentsendungen von längerer Dauer das Instrument, mit dem landesübergreifende Brücken in Unternehmen aufgebaut und gefestigt werden sollten. Die betroffenen Mitarbeiter wurden vor die Herausforderung gestellt, sich auf die Kultur ihres Gastlands einzulassen und dort effektiv zu funktionieren. Angesichts der wachsenden internationalen Vernetzung kommen jetzt zu den klassischen Auslandsentsendungen zunehmend alternative Entsendungsformate hinzu, wie mehrmonatige Dienstreisen und Kurzzeitentsendungen mit einer Dauer von bis zu einem Jahr. Die Mitarbeiter werden für kürzere Zeit, jedoch häufiger und in unterschiedliche Regionen entsandt. Eine explizite Vorbereitung auf alle Zielländer wird in diesem Kontext immer unrealistischer; was dieser neue Kontext vielmehr verlangt, ist eine kulturunabhängige bzw. kulturübergreifende Fähigkeit zur interkulturellen Zusammenarbeit. Die Herausforderungen interkultureller Begegnungen im Berufsleben sind allerdings längst nicht mehr ausschließlich entsandten Mitarbeitern vorbehalten, sondern betreffen im europäischen Raum und vielen anderen Regionen inzwischen einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung. Durch die fortschreitende Digitalisierung ist globale Zusammenarbeit auch vom heimischen Arbeitsplatz möglich. In virtuellen Teams arbeiten Menschen unterschiedlicher nationaler und kultureller Herkunft trotz räumlicher Distanz an gemeinsamen Projekten zusammen. Auch arbeitsnahe Dienstleistungen, wie die Aufbereitung von Informationen oder die informationstechnische Unterstützung, werden heute nicht selten im Ausland eingekauft. Dies führt dazu, dass heimische Mitarbeiter zunehmend mit Menschen aus anderen Regionen und Ländern zusammenarbeiten, ohne ihren heimischen Arbeitsplatz dafür zu verlassen.

Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen

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Neben der digitalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit steigt jedoch auch die Multikulturalität unter den Kollegen am eigenen Standort. Die Effekte der durch die Globalisierung bedingten Migrationsbewegungen werden aktuell in Europa durch den ­Flüchtlingsstrom und den demografischen Wandel noch weiter verstärkt. Für Deutschland prognostiziert die Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2025 einen vom demografischen Wandel bedingten Mangel von 6 Mio. Arbeitskräften, mehr als schon im Jahr 2010, und rät Unternehmen dazu, dem Fachkräftemangel aktiv durch Auslandsrekrutierung aus EUoder Drittstaaten entgegenzuwirken. So ist ein immer größerer Anteil von Erwerbstätigen in ihrem Arbeitsalltag von Interkulturalität betroffen und immer mehr Führungskräfte stehen vor der Aufgabe, ein kulturell heterogenes Team zu einer möglichst reibungslosen Zusammenarbeit zu führen. Zusätzlich zu den geschilderten Ursachen der zunehmenden kulturellen Vermischung am Arbeitsplatz sind inzwischen auch die immer häufiger aufgeführten Vorteile multikultureller Zusammenarbeit Grund für heterogene Mitarbeiterzusammensetzungen. Durch kulturelle Vielfalt kommen unterschiedliche Perspektiven ins Unternehmen, die bei Problemlösungen und Kreativitätsaufgaben einen Vorteil darstellen. Zudem kann eine kulturell heterogene Belegschaft in einem international agierenden Unternehmen internationale Netzwerke leichter ausbauen und ein kulturell heterogenes Klientel zielgruppenspezifischer bedienen. Doch interkulturelle Interaktionen stellen die Beteiligten vor besondere Herausforderungen. Viele wissen inzwischen aus eigener Erfahrung, dass interkulturelle Zusammenarbeit häufig mit Konflikten und Missverständnissen einhergeht. Wissenschaftler wie Praktiker stellen sich in diesem Zusammenhang seit über einem halben Jahrhundert die Fragen, warum manche Menschen mehr Erfolg in interkulturellen Situationen haben als andere und was die letzteren dafür tun können, um dabei erfolgreicher zu werden. Angesichts der geschilderten aktuellen Entwicklungen, die für die Zukunft einen stetigen Anstieg der kulturellen Vermischung erwarten lassen, wird die Beantwortung dieser Fragen immer wichtiger. Die Fähigkeit, mit verschiedenen Werten, Normen, Glaubenssätzen und Einstellungen konstruktiv umzugehen, wird zunehmend für jeden einzelnen relevant und für die Führungskräfte von morgen unumgänglich sein. Wegen ihrer großen Relevanz nicht nur in der Arbeitswelt von morgen bezeichnet die Bertelsmann Stiftung die interkulturelle Kompetenz als die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts (Boecker und Ulama 2008). Der Begriff der interkulturellen Kompetenz erfreut sich großer Beliebtheit, gleichzeitig ist er nicht eindeutig belegt. Die unterschiedlichen Anforderungen verschiedener interkultureller Situationen spiegeln sich in einer Vielzahl von Definitionen interkultureller Kompetenz wider. Welche Facetten interkulturelle Kompetenz umfasst und wie sie in Unternehmen gefördert werden kann, soll in den folgenden Abschnitten betrachtet werden.

2

Interkulturelle Kompetenz – ein vielseitiges Konzept

Das Interesse an interkultureller Kompetenz lässt sich bis in die 1950er-Jahre zurückverfolgen und hat sich ursprünglich aus der Betrachtung von Austauschprogrammen und technischen Hilfseinsätzen im Ausland entwickelt. In den darauffolgenden Jahren

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rückten zahlreiche weitere Kontexte, in denen interkulturelle Kompetenz eine Rolle spielt, in das Blickfeld der Wissenschaftler und Praktiker. Dies führte dazu, dass eine Reihe verschiedener Forschungsdisziplinen sich mit diesem Thema befasste, wie die globale Führungsforschung (z. B. Bird et al. 2010); die internationale Managementforschung (Morley et al. 2010a; Earley und Ang 2003) oder die internationale Businessforschung (z. B. Morley et al. 2010b) aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich. Aber auch in den Bildungs- und Sozialwissenschaften erlangte die interkulturelle Kompetenz eine große Aufmerksamkeit (z. B. Chiu und Hong 2005; Van der Zee und Van Oudenhoven 2000). Diese Breite an unterschiedlichen Blickrichtungen führte dazu, dass viele Definitionen dessen entstanden sind, was interkulturelle Kompetenz ausmacht. Aktuelle Übersichtsbeiträge zu interkultureller Kompetenz verzeichnen mehr als 30 Modelle und mehr als 300 verwandte Konstrukte (z. B. Johnson et al. 2006; Osland 2008). Sie unterscheiden sich in ihren Definitionen, weisen jedoch größtenteils einen gemeinsamen Kern in ihren Definitionen auf: sie alle beziehen sich i. d. R. auf die individuelle Fähigkeit, effektiv zwischen den Kulturen zu funktionieren (Whaley und Davis 2007). Weiter ist den meisten Definitionen gemeinsam, dass sie kulturübergreifend sind. Die große Menge der unterschiedlichen Kompetenzen, die in der Forschungsliteratur in einen Zusammenhang mit Erfolg in interkulturellen Situationen gebracht werden, lässt sich in drei Überkategorien zusammenfassen: a) Persönlichkeitseigenschaften, b) Einstellungen und Weltanschauungen und c) Fähigkeiten (Leung et al. 2014). Bei den interkulturellen Persönlichkeitseigenschaften handelt es sich analog zu allgemeinen Persönlichkeitseigenschaften um persönliche Charakteristiken, die in unterschiedlichen Situationen stabile Verhaltensmuster hervorrufen. Im Zusammenhang mit Effektivität in interkulturellen Situationen werden häufig die Persönlichkeitseigenschaften Ambiguitätstoleranz, Flexibilität und Offenheit genannt. Interkulturelle Einstellungen und Weltanschauungen beziehen sich darauf, wie Personen Informationen wahrnehmen und verarbeiten, die ihren Ursprung in einer anderen als der eigenen Kultur haben. Individuelle Unterschiede in Einstellungen und Weltanschauungen spiegeln sich z. B. in Konstrukten wie Kosmopolitanismus (z. B. Bird et al. 2010) oder einer offenen und wertschätzenden Sichtweise wider (Bennett 1993). Interkulturelle Fähigkeiten umfassen schließlich alles, was eine Person tun kann, um in interkulturellen Situationen effektiv zu sein (Earley und Ang 2003). Dazu gehören Aneignung von Wissen über andere Kulturen (Javidan und Teagarden 2011), sprachliche Fähigkeiten (Imahori und Lanigan 1989) und Flexibilität in der Kommunikation (z. B. Morley et al. 2010b). Diese Kategorien beeinflussen sich gegenseitig, wobei man davon ausgeht, dass Persönlichkeitseigenschaften, als stabilste der drei Kategorien, die anderen beiden z.  T. bedingen und begünstigen. Die verschiedenen Modelle der interkulturellen Kompetenz basieren entweder auf einer oder mehreren dieser Kategorien. Im Folgenden sollen jeweils zwei gängige Modelle vorgestellt werden, die jeweils auf einer der Kategorien beruhen, und zwei weitere integrative Modelle.

Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen

2.1

357

Multikulturelle Persönlichkeit

Das Modell der multikulturellen Persönlichkeit entwickelte sich aus der Idee heraus, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften den erfolgreichen Umgang mit interkulturellen Situationen voraussagen können (Van der Zee und Van Oudenhoven 2000). Da die Big Five, also die gängigen Persönlichkeitseigenschaften Neurotizismus, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für neue Erfahrung sich für die Prognose der interkulturellen Wirksamkeit als zu allgemein erwiesen hatten, suchte man in der Literatur nach Eigenschaften, die für den Erfolg international entsandter Mitarbeiter immer wieder als ausschlaggebend genannt wurden. Die fünf so identifizierten Persönlichkeitseigenschaften emotionale Stabilität, soziale Initiative, Offenheit, kulturelle Empathie und Flexibilität bilden das Modell der multikulturellen Persönlichkeit. Emotionale Stabilität wird dabei als eine Neigung definiert, in stressvollen Situationen ruhig zu bleiben und nicht stark emotional zu reagieren. Soziale Initiative bezieht sich auf den inneren Antrieb, aktiv Initiative ergreifen zu wollen und zielorientiert zu sein. Flexibilität umschreibt im Konstrukt der multikulturellen Persönlichkeit Ambiguitätstoleranz und die aktive Neugier auf unbekannte Situationen. Offenheit und kulturelle Empathie sind zum Verständnis einer fremden Kultur notwendig. Offenheit beschreibt eine offene und vorurteilsfreie Haltung gegenüber unterschiedlichen kulturellen Normen und Werten und kulturelle Empathie die Fähigkeit, die Gefühle, Gedanken und das Verhalten anderskultureller Personen nachzuempfinden. Personen mit einer multikulturellen Persönlichkeit können sich Studien zufolge besser an neue soziokulturelle Umgebungen anpassen, zeigen eine internationale berufliche Ausrichtung und setzen sich häufiger multikultureller Erfahrung aus (Van der Zee und Van Oudenhoven 2000). Zudem zeigen sie eine bessere Leistung in interkulturellen Teams als Personen mit einer geringen Ausprägung der multikulturellen Persönlichkeit (Van der Zee und Brinkmann 2004). Multikulturelle Persönlichkeit kann mit dem Multicultural-­Personality-­Fragebogen MPQ: (Van der Zee und Van Oudenhoven 2000) gemessen werden.

2.2

Kulturelle Intelligenz

Das jüngste Konzept der interkulturellen Kompetenz schreibt individuelle Unterschiede im Meistern interkultureller Situationen einer besonderen Art von Intelligenz zu, nämlich der kulturellen Intelligenz. Im Gegensatz zur multikulturellen Persönlichkeit ist die interkulturelle Intelligenz als ein Set veränderbarer Fähigkeiten konzipiert (Ang und Van Dyne 2008; Earley und Ang 2003). Aus den anfänglichen Konzeptionen der kulturellen Intelligenz haben sich in den letzten Jahren zwei Ausprägungen entwickelt. Beide bestehen analog zur allgemeinen Intelligenz aus mehreren Dimensionen (Sternberg und Detterman 1986), unterscheiden sich allerdings in der Anzahl ihrer Dimensionen und dem Verhältnis dieser Dimensionen untereinander.

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Das erste Konzept (Ang und Van Dyne 2008; Earley und Ang 2003) ist vierdimensional und setzt sich aus der kognitiven, der metakognitiven, der motivationalen sowie verhaltensbezogenen kulturellen Intelligenz zusammen. Unter die metakognitive Intelligenz fällt in diesem Konstrukt die mentale Fähigkeit, kulturelles Wissen zu erwerben und zu verstehen. Das vorhandene Wissen sowie die dazugehörigen Wissensstrukturen über Kulturen und kulturelle Unterschiede sind Bestandteile der kognitiven Intelligenz. Die verhaltensbezogene kulturelle Intelligenz bezieht sich auf die Fähigkeit, das Verhalten in interkulturellen Situationen flexibel anzupassen. Und die motivationale Intelligenz schließlich ist die Fähigkeit, seine Ressourcen auf das Funktionieren in interkulturellen Situationen bewusst auszurichten. Die Autoren sehen die motivationale kulturelle Intelligenz als eine kritische Komponente für die Effektivität in interkulturellen Kontexten, da die Motivation sich darauf auswirkt, ob und in welchem Ausmaß jemand bereit ist, sich mit kultureller Andersartigkeit auseinanderzusetzen. Das zweite Modell der kulturellen Intelligenz ist dreidimensional, bestehend aus kulturellem Wissen, kulturellen Fähigkeiten und einer metakognitiven kulturellen Intelligenz (Thomas et  al. 2008; Thomas 2010). In diesem Modell wird der metakognitiven kulturellen Intelligenz eine besondere Rolle zugewiesen; die i. d. R. in kulturellen Kontexten erworbenen Fähigkeiten (z. B. Sprachkenntnisse) und Wissen (z. B. Wissen über kulturspezifische Besonderheiten von Verhandlungsabläufen) können erst durch eine ausgeprägte kulturelle Kognition zu einem kulturunabhängigen kulturell intelligenten Verhalten führen. Die kulturelle Metakognition ist in diesem Modell definiert als die Beobachtung eigener bewusster Erfahrung und eigener motivationalen und emotionalen Zustände in interkulturellen Situationen sowie die Steuerung eigener Denkprozesse, wie z. B. die bewusste Aktivierung relevanten Wissens oder die Unterdrückung automatisierter Urteile (Thomas et al. 2008). Wie bisherige Studien zeigen, wirkt sich ausgeprägte kulturelle Intelligenz positiv auf die psychologische Verfassung und das Verhalten in interkulturellen Situationen aus. Menschen mit einer höheren kulturellen Intelligenz passen sich schneller an kulturelle Andersartigkeit und an neue Arbeitskontexte an (z. B. Chen et al. 2010; Ward und Fischer 2008), fühlen sich wohler bei Auslandseinsätzen und sind eher geneigt, diese auch abzuschließen (Wu und Ang 2011). Zudem sind kulturell intelligente Personen eher dazu bereit, ihre Ideen mit Menschen aus anderen Kulturen zu teilen (Chua et al. 2012) und ein internationales Netzwerk auszubauen (Fehr und und Kuo 2008), und sie kooperieren häufiger mit Personen aus anderen Kulturen (Mor et  al. 2013). Kulturell intelligente Führungskräfte sind besser darin, interkulturelle und internationale Teams zu leiten (Rockstuhl et al. 2011). In multikulturellen Teams konnte ein Zusammenhang zwischen kultureller Intelligenz und Kreativität gezeigt werden. Die kulturelle Intelligenz nach Earley und Ang (2003) kann mit dem von den Autoren entwickelten Erhebungsinstrument Cultural Intelligence Scale (CQS) diagnostiziert werden. Für die Messung der dreidimensionalen kulturellen Intelligenz kann der Fragebogen SFCQ (Thomas et al. 2015) herangezogen werden.

Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen

2.3

359

Global Mindset

Ein weiteres prominentes, jedoch auch in sich sehr vieldeutig diskutiertes Konstrukt, das mit interkultureller Effektivität v. a. in internationalen Kontexten in Verbindung gebracht wird, ist das Global Mindset. In der Forschung besteht sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen Fachdisziplinen eine große Variation bezüglich der Definition dieses Modells. In seinem Ursprung ist Global Mindset ein kognitives Konstrukt. Die anfängliche Definition bezeichnete einen kognitiven Filter zur Erfassung der Komplexität globaler Interaktionen (Rhinesmith 1992), v. a. in Bezug auf kulturelle und nationale Diversität und die Komplexität der Umwelt (Levy et al. 2007). Später bekam das Konstrukt verschiedene Ausrichtungen; eine Tendenz brachte Global Mindset mit organisationaler Leistung auf globalen Märkten in Verbindung, eine weitere mit persönlichen individuellen Charakteristiken und eine dritte Richtung schließlich mit kulturellem Wissen und verhaltensbezogenen Fähigkeiten, die in interkulturellen Situationen von Vorteil sind. Auf Basis intensiver Literaturstudien wurden existierende Konstrukte in zwei verschiedenen Modellen zum Global Mindset integriert. Das erste Modell fokussiert sich explizit auf die kognitive Orientierung von Führungskräften in multinationalen Unternehmen (Levy et al. 2007). Es versteht Global Mindset als eine hoch komplexe kognitive Struktur, die den multiplen kulturellen und strategischen Phänomenen offen gegenüber steht und in der Lage ist, diese zu integrieren. Die Bestandteile dieses Modells sind Kosmopolitanismus und kognitive Komplexität. Kosmopolitanismus sorgt dafür, dass aufgenommene Informationen offen, vorurteilsfrei und unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft aufgenommen und verarbeitet werden. Kognitive Komplexität ermöglicht die Aufnahme differenzierterer Informationen und die Integration dieser in komplexe, bereits bestehende Informationsnetzwerke. Personen mit einem Global Mindset können die Komplexität heutiger Realitäten innovativ und unkonventionell interpretieren (Levy et al. 2007). Ein zweites Modell erweitert den ursprünglichen, auf kognitive Fähigkeiten gelegten Schwerpunkt des Global Mindset um Persönlichkeitseigenschaften und Weltanschauungen (Javidan und Teagarden 2011), die in der Literatur immer wieder im Zusammenhang mit Global Mindset genannt werden. Dieses ordnet insgesamt neun seiner Komponenten des Modells drei Formen des sog. globalen Kapitals zu a. dem globalen psychologischen Kapital, bestehend aus einem Interesse an interkulturellen Begegnungen, Kosmopolitismus und einem positiven psychologischen Profil mit Selbstwirksamkeit, Optimismus, Hoffnung und Resilienz; b. dem globalen sozialen Kapital, also der Fähigkeit soziale Netzwerke und andere soziale Strukturen wirksam zu nutzen und

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E. Herzfeldt und S. Sackmann

c. dem intellektuellen Kapital, bestehend aus der Kenntnis globaler Wirtschaft, globaler Wertschöpfungsnetzwerke und der globalen Ordnung sowie aus kognitiver Komplexität und kultureller Weisheit, die in ihrem Konzept der metakognitiven kulturellen Intelligenz von Thomas et al. (2008) entspricht. Das Vorhandensein eines Global Mindset nach Javidan und Teagarden (2011) lässt sich mit dem Fragebogen Global Mindset Inventory (GMI) testen.

2.4

Globale Führungskompetenz

Das Modell der globalen Führungskompetenz (Bird et al. 2010) ist ein besonderes Modell der interkulturellen Kompetenz, das explizit auf die Anforderungen an internationale Führungskräfte zugeschnitten ist. Das Modell integriert die Kompetenzen, die sich in der Literatur als wirksam für den Erfolg globaler Führungskräfte gezeigt haben. Das Modell versteht globale Führung als einen Prozess der Einflussnahme auf das Denken, die Einstellungen und das Verhalten einer globalen Gruppe zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels (Bird et al. 2010). Das Modell besteht aus drei Ebenen, auf die sich die 17 Dimensionen aus Persönlichkeitseigenschaften, Fähigkeiten und Einstellungen aufteilen lassen. Diese Ebenen sind die Ebene 1 des Wahrnehmungsmanagements, die Ebene 2 des Beziehungsmanagements und die Ebene 3 des Selbstmanagements. 1. Das Wahrnehmungsmanagement bezieht sich darauf, wie Menschen kognitiv mit kulturellen Unterschieden umgehen. Dazu gehören beispielsweise die Fähigkeiten, flexibel auf kulturelle Unterschiede zu reagieren, kultureller Andersartigkeit ohne Vorurteile zu begegnen oder neugierig auf andere Kulturen zu sein. Diese Ebene besteht aus fünf Dimensionen. Die erste Dimension ist Vorurteilsfreiheit und beschreibt die Fähigkeit, Urteile über ungewohnte Situationen oder Personen zu unterdrücken. Die zweite Dimension Wissbegierde impliziert die aktive Suche nach Ideen, Werten, Normen, Situationen und Verhalten, die neu und anders sind. Auch die Motivation, nach den Ursachen zu suchen, die den kulturellen Unterschieden zugrunde liegen, ist Inhalt dieser Dimension. Ambiguitätstoleranz bezieht sich darauf, wie jemand Unsicherheit in neuen und komplexen Situationen aushalten kann. Kosmopolitanismus als vierte Dimension beschreibt in diesem Modell die natürliche Neugier auf andere Kulturen und das Inte­ resse am Weltgeschehen. Und Inklusivität beschreibt schließlich die Tendenz, Menschen und Dinge anhand von Gemeinsamkeiten zu akzeptieren, statt sie auf Basis von Unterschieden zu kategorisieren. 2. Die Ebene Beziehungsmanagement berücksichtigt, welchen Stellenwert für eine Person Beziehungen im Allgemeinen einnehmen und wie mentale Strukturen sich auf die Entwicklungen interkultureller und interpersoneller Beziehungen auswirken. Auch dieser Ebene werden wieder fünf Dimensionen zugeordnet. Das Interesse an Beziehungen hat sich sowohl in der Literatur zu Auslandsentsendungen als auch zu globaler

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Führung als bedeutsam gezeigt und bezieht sich allgemein auf das Interesse und die bewusste Wahrnehmung der sozialen Umgebung. Eine weitere wichtige Dimension für effektive interkulturelle Interaktion ist interpersonelles Engagement (Mendenhall et al. 2002). Sie bezieht sich auf den Wunsch, neue Beziehungen einzugehen und zu pflegen. Emotionale Sensibilität beschreibt, in welchem Ausmaß eine Person für Emotionen und Gefühle anderer empfänglich ist. Selbsterkenntnis als vierte Dimension bezieht sich auf das Bewusstsein der eigenen Schwächen und Stärken, eigener Werte und den Einfluss gemachter Erfahrung auf die eigene Entwicklung. Zudem gehört hier das Bewusstsein über die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere dazu. Die letzte der fünf Dimensionen ist die soziale Flexibilität. Sie beschreibt das Ausmaß, in dem eine Person ihr Verhalten oder ihr Auftreten anpassen kann, um bei ihrem Gegenüber gut anzukommen (Bird et al. 2010). 3. Selbstmanagement, die letzte der drei Ebenen, fokussiert sich auf die Fähigkeit einer Person, mit Stress und eigenen Emotionen umzugehen. Dem Konstrukt liegt die Annahme zugrunde, dass für eine effektive interkulturelle Zusammenarbeit ein stabiler innerer Kern vorhanden sein muss, um eine mentale und emotionale Stabilität zu gewährleisten. Selbstmanagement beinhaltet insgesamt sieben Dimensionen. Die erste Dimension ist Optimismus, also eine positive Einstellung Menschen und Ereignissen gegenüber. Selbstvertrauen spiegelt sich darin wider, wie sehr eine Person an sich glaubt und die Bereitschaft zeigt, Hindernisse und Herausforderungen zu überwinden. Stabile Identität impliziert stabile eigene Werte und eine stark ausgeprägte Identität. Eine weitere Dimension ist die emotionale Resilienz. Sie bezieht sich auf die Fähigkeit, mit herausfordernden interkulturellen Situationen umzugehen und eigene Gefühle und Emotionen zu kontrollieren. Die Dimension geringe Stressanfälligkeit ist im Grunde mit Geduld verwandt. Sie beschreibt die Fähigkeit, sich in einem positiven emotionalen Zustand zu befinden und auf Stresssituationen gelassen zu reagieren. Die vorletzte der sieben Dimensionen, das Stressmanagement, bezieht sich darauf, wie jemand aktiv Techniken zur Stressreduzierung einsetzt. Und die Interessensflexibiliät schließlich ist die Bereitschaft, persönliche Interessen an neue Kulturen bei Bedarf anzupassen. Das auf dem Modell basierende Messinstrument ist das Global Competencies Inventory (GCI: Bird et al. 2010).

3

Förderung der interkulturellen Kompetenz im Unternehmen

Einhergehend mit der Entwicklung zahlreicher Konzeptualisierungen der interkulturellen Kompetenz zeigt sich in der Literatur auch eine Vielzahl von Beiträgen zu Möglichkeiten der Förderung dieser Kompetenz in Unternehmen. Einstellungen, Wissen sowie grundlegende Fähigkeiten lassen sich zahlreichen empirischen Studien zufolge gut im Arbeitskontext entwickeln (z. B. Kealey und Protheroe 1996). Eine Sonderrolle spielen allerdings Persönlichkeitseigenschaften, wie z. B. Offenheit, Flexibilität und Ambiguitätstoleranz, die in

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vielen Modellen der interkulturellen Kompetenz zu finden sind, die jedoch per Definition nur schwer veränderbar sind (Caligiuri und Di Santo 2001). Entlang dieser Aufteilung in veränderbare und stabile Faktoren der interkulturellen Kompetenz lassen sich auch die Maßnahmen zur Förderung der interkulturellen Kompetenz im Unternehmen ­differenzieren.

3.1

Personalauswahl

Da nicht alle Faktoren der interkulturellen Kompetenz trainierbar sind und die Entwicklung der übrigen Faktoren nicht in kurzer Zeit erfolgen kann, ist bei zeitkritischen Auslandseinsätzen und für globale Führungspositionen die gezielte Auswahl geeigneter Mitarbeiter ein zentrales Instrument zur Förderung gelungener interkultureller Zusammenarbeit. Bei der Personalauswahl sollten insbesondere die Persönlichkeitseigenschaften der potenziellen Führungskraft oder Mitarbeiter im Vordergrund stehen. Ein Großteil der Studien zur interkulturellen Kompetenz zeigt, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften nicht nur zen­ trale Bestandteile interkultureller Kompetenz sind, sondern sie auch die Entwicklung anderer Faktoren positiv begünstigen (Leung und Cheng 2014). Da sich diese allerdings in einem frühen Alter entwickeln und über das ganze Leben relativ stabil bleiben, sind sie durch Personalentwicklungsmaßnahmen kaum oder nur mit einem sehr großen zeitlichen und finanziellen Aufwand trainierbar (Caligiuri und DiSanto 2001). Ein weiterer zuverlässiger Indikator für Leistungsfähigkeit im interkulturellen Kontext ist vorausgegangene (selbstinitiierte) Auslandserfahrung (Caliguiri 2006), da diese i. d. R. mit einer hohen intrinsischen Motivation einhergeht, sich auf kulturelle Andersartigkeit einzulassen. Gerade bei der Auswahl für Auslandseinsätze sollte man allerdings auch beachten, dass der Erfolg einer Auslandsentsendung auch stark von Faktoren determiniert werden kann, die außerhalb des Mitarbeiters liegen, wie beispielsweise seiner Familie (z. B. Aryee und Stone 1996).

3.2

Personalentwicklungsmaßnahmen

Trainings Bei den Trainings zur interkulturellen Kompetenz lassen sich prinzipiell zwei Arten unterscheiden: kulturspezifische und kulturübergreifende Maßnahmen. Die kulturspezifischen Trainings, die i. d. R. die Mitarbeiter auf eine Entsendung in einen bestimmten Kulturraum vorbereiten, haben häufig das Format eines informellen Briefings oder eines formellen Trainings zur Wissensvermittlung über einen bestimmten Kulturraum. Kulturübergreifende Trainings, die auf einen effektiveren Umgang in interkulturellen Situationen generell abzielen, können in Form eines Cultural-Awareness-Trainings durchführt werden, bei dem die Teilnehmer kulturelle Unterschiede kennen- und auch wertzuschätzen lernen und eine flexi­ ble­re Einstellung zur kulturellen Andersartigkeit entwickeln sollen. Weitere Trainingsformen sind Simulationen und allgemeine interkulturelle Workshops (Bhawuk und Brislin 2000).

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Aufgrund der aktuellen Anforderungen an die Führungskräfte und Mitarbeiter gewinnen die kulturübergreifenden Trainings immer mehr an Bedeutung. Empirische Studien zeigen, dass solche Maßnahmen v. a. die kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmer verbessern (z. B. Rehg et al. 2012). Auch der Zusammenhang zwischen interkulturellen Trainings und Leistung im interkulturellen Kontext wurde mehrfach gezeigt und ist ein vielversprechender Indikator dafür, dass die Wirksamkeit im interkulturellen Kontext durch Trainings verbessert werden kann. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass nur etwa 10 % der Entwicklung der interkulturellen Kompetenz durch Trainings möglich ist. Als eine deutlich wirksamere Maßnahme zur Entwicklung interkultureller Kompetenz zeigt sich die direkte interkulturelle Erfahrung (McCall 2004). Interkulturelle Erfahrung durch Auslandseinsätze Auslandseinsätze sind eine mögliche und die traditionellste Form, interkulturelle Erfahrung zu sammeln. Sie führen zur Entwicklung kognitiver Komplexität, Flexibilität im Verhalten (Osland 2001) und gelten als das wirksamste Entwicklungsinstrument für interkulturelle Einstellungen und Fähigkeiten (Mendenhall et al. 2001). Viele Unternehmen haben die sog. Kurzzeitentsendungen mit einer Dauer von drei bis zwölf Monaten längst in ihr Führungskräfteentwicklungsprogramm aufgenommen und bieten ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, als Mitarbeiter auf Zeit an einem ausländischen Standort zu arbeiten oder an einem firmeneigenen Austauschprogramm zwischen zwei Standorten teilzunehmen. Solche Programme können entweder auf Eigeninitiative oder durch die Aufnahme in ein Führungskräfteentwicklungsprogramm initiiert werden. Neben der Entwicklung interkultureller Kompetenz, sowohl bei dem entsandten Mitarbeiter als auch bei den Mitgliedern seines Gastteams, ist ein weiterer großer Vorteil solcher Programme der Ausbau eines internationalen Netzwerks zwischen den internationalen Standorten und somit auch ein langfristiger interkultureller Austausch. Trotz der hohen nachgewiesenen Wirksamkeit von personalentwicklungsbedingten Auslandsentsendungen hat es sich als empfehlenswert erwiesen, diese in einen Kontext weiterer Entwicklungsmaßnahmen einzubetten, um das volle Wirkungspotenzial der Erfahrung auszuschöpfen. Denn Entwicklung resultiert zwar aus Erfahrung, doch trägt Erfahrung nicht zwangsläufig zur Entwicklung bei (Dewey 1938). Die Auslandsentsendungen sollten daher idealerweise durch Trainings oder Mentoring begleitet werden (Derue und Wellman 2009). Interkulturelle Erfahrung durch kulturelle Vielfalt im Unternehmen Eine weitere Möglichkeit, interkulturelle Erfahrungschancen in das Unternehmen zu holen, ist die gezielte Einstellung von Mitarbeitern mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund. Dadurch werden zum einen die Mitarbeiter in ihrer täglichen Arbeit mit kultureller Andersartigkeit konfrontiert und entwickeln dadurch ihre individuelle kulturelle Kompetenz. Andererseits steigt damit auch die interkulturelle Kompetenz auf Unternehmens­ ebene, da die kulturell heterogenen Mitarbeiter auch kulturspezifisches Wissen, Sprachkenntnisse und Fähigkeiten ihres Herkunftslands mitbringen, die in Interaktionen mit

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Vertretern dieser Kultur hilfreich sein können. Da kulturelle Diversität in Unternehmen allerdings neben dem Potenzial kulturell bedingter Missverständnisse auch einige Schwierigkeiten hinsichtlich der Integration mit sich bringt, sollte sie unbedingt durch aktives Diversity Management und durch kulturübergreifende Trainings begleitet werden (Dietz und Petersen 2006). Schließlich kann die kulturelle Vielfalt im Unternehmen auch durch die Einstellung von Mitarbeitern mit bi- oder multikulturellem Hintergrund gefördert werden. Bi- und multikulturelle Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in mindestens zwei Kulturen gelebt haben oder diese durch ihre Eltern erfahren haben und dementsprechend auch über die dazugehörigen Fähigkeiten und Wissen verfügen. Sie können i. d. R. auf mehrere Jahre interkulturelle Erfahrung zurückgreifen und sind von Haus in manchen Aspekten der interkulturellen Kompetenz, wie z. B. der kulturellen Metakognition (Thomas 2010) ihren Kollegen überlegen. Allerdings zeigt die relativ junge Forschung auf diesem Gebiet auch, dass es Unterschiede im Ausmaß interkultureller Kompetenz innerhalb dieser demografischen Gruppe gibt. Als Konsequenz ist es auch hier wieder sinnvoll, Menschen, die bereits mit interkultureller Biografie in das Unternehmen kommen, mit zur Reflexion anregenden Trainingsmaßnahmen bei der Weiterentwicklung ihrer interkulturellen Kompetenz zu begleiten oder ihnen erfahrene Mentoren an die Seite zu stellen (Pekerti et al. 2015; Šehić 2015), um von ihrer interkulturellen Erfahrung in vollem Maß profitieren zu können. Ein Maßnahmenmix für den größten Erfolg Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die Entwicklung interkultureller Kompetenz im Unternehmen also ein Maßnahmenmix empfohlen werden kann, der sowohl Auslandsentsendungen beinhaltet, als auch die gezielte Zusammensetzung kulturell heterogener Belegschaft und den Einsatz von Trainingsprogrammen. Diese Maßnahmen sollten auf eine kontinuierliche Entwicklung der interkulturellen Kompetenz ausgerichtet werden und können gerade bei internationalen Führungskräften durch 360-Grad-Befragungen und Assessment-­ Center ergänzt werden, um weiteres Entwicklungspotenzial aufzudecken (Stahl 2001).

4

Fazit und Ausblick

In unserer sich rasant verändernden Welt, die von Internationalisierung, technologischem Fortschritt und demografischem Wandel gekennzeichnet ist, verschieben und vermischen sich die kulturellen Grenzen, und die kulturelle Vielfalt wird zu einer festen Komponente des Arbeitslebens. Die wachsende kulturelle Heterogenität verlangt nach komplexen Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungskompetenzen, die es ermöglichen, die Herausforderungen der Multikulturalität zu meistern. Interkulturelle Kompetenz ist längst nicht mehr eine Qualifikation, die nur international agierende Führungskräfte benötigen. Sie ist vielmehr zu einer Schlüsselqualifikation für jeden geworden, der am Arbeitsleben beteiligt ist. Diese Tendenz hat vielfältige Konzepte und Diagnostikinstrumente hervorgebracht, die die vielseitigen Anforderungen unterschiedlicher interkultureller Situationen

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widerspiegeln. Obwohl einige Komponenten der interkulturellen Kompetenz sich aus relativ stabilen Persönlichkeitseigenschaften zusammensetzen, gibt es inzwischen gute Anhaltspunkte dafür, dass wissens-, verhaltens- und kognitionsspezifische Komponenten der interkulturellen Kompetenz wirksam trainiert werden können. Unternehmen, die sich gezielt auf die Förderung interkultureller Kompetenz fokussieren, haben jetzt bereits einen deutlichen Wettbewerbsvorteil, weil sie damit nicht nur die Reibungsverluste, die durch das Aufeinandertreffen verschiedener Werte, Normen, Einstellungen und Glaubenssätze entstehen können, minimieren. Sie ermöglichen sich durch die Förderung interkultureller Kompetenzen auch das Potenzial auszuschöpfen, das die kulturelle Vielfalt der Belegschaft mit sich bringt (Phillips und Sackmann 2002). Wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, können Unternehmen sowohl durch die gezielte Personalauswahl als auch durch eine Reihe von Personalentwicklungsmaßnahmen die interkulturelle Kompetenz im Unternehmen gezielt fördern. Für die Kompetenzentwicklung sollte im Idealfall die Erfahrung interkultureller Zusammenarbeit mit angepassten Trainings oder Mentorings begleitet werden. Zudem kann die kulturelle Vielfalt im Unternehmen durch globale Rekrutierung von Mitarbeitern gefördert werden. Zuletzt bleibt jedoch zu beachten, dass die beruflichen interkulturellen Begegnungen stets im Rahmen eines Systems stattfinden, das die Regeln und Normen für das tägliche Miteinander und für den Umgang mit kultureller Vielfalt vorgibt. Die alleinige Sicherstellung der individuellen interkulturellen Kompetenz führt daher nicht zwangsläufig dazu, dass diese auch erfolgreich in einem Unternehmen eingesetzt wird bzw. werden kann. Vielmehr ist die Motivation entscheidend, die stark vom Kontext beeinflusst wird. Im Unternehmenskontext gibt die gelebte Unternehmenskultur vor, in welchem Ausmaß Anders­ artigkeit zugelassen wird und auf Wertschätzung trifft. Es reicht also nicht, die interkulturelle Kompetenz nur auf individueller Ebene zu fördern, sondern sie sollte auch vom Unternehmen zugelassen und spürbar willkommen geheißen werden. Eine für den erfolgreichen Umgang mit kultureller Vielfalt förderliche Unternehmenskultur zeigt sich beispielsweise in der heterogenen Besetzung zentraler Schlüsselpositionen und in der generell positiven Einstellung gegenüber interkulturellen Situationen.

Literatur Ang, S., & Van Dyne L. (2008). Conceptualization of Cultural Intelligence: definition, distinctiveness, and nomological network. In: S.  Ang & L.  Van Dyne (Hrsg.), Handbook of Cultural Intelligence. New York, NY: Sharpe, S. 3–15. Aryee, S., & Stone, R.J. (1996). Work experiences, work adjustment and psychological well-being of expatriate employees in Hong Kong. The International Journal of Human Resource Management, 7(1), 150–164. https://doi.org/10.1080/09585199600000122 Bennett, M.J. (1993). Towards ethnorelativism: A developmental model of intercultural sensitivity. In: R.M. Paige (Hrsg.), Education for the Intercultural Experience. Yarmouth, ME: Intercultural, S. 21–71. Bhawuk, D., & Brislin, R. (2000). Cross-cultural training. A review. Applied Psychology, 49(1), 162–191. https://doi.org/10.1111/1464-0597.00009

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E. Herzfeldt und S. Sackmann

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Erna Herzfeldt, Diplomkulturwirtin,  hat an der Universität Passau und Universidad de Buenos Aires Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien studiert und war anschließend im Bereich Global Mobility Services bei der Deloitte & Touche GmbH tätig. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München und promoviert zum Thema „Multikulturelle Teams“. Die Schwerpunkte ihrer Forschung liegen im Bereich Interkulturelles Management, Kommunikation und Organisational Behavior.

Interkulturelle Kompetenz – eine Schlüsselqualifikation von morgen

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Univ.-Prof. Sonja Sackmann, PhD,  ist Inhaberin der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Sie ist im Vorstand des Instituts Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen und ist Gastprofessorin an der Universität in St. Gallen. Sie lehrte und forschte in den USA (UCLA University of California, Los Angeles), Wien, Shanghai und Kon­ stanz und war Managing-­Partnerin am MZSG Management Zentrum St. Gallen, dem heutigen Malik Management Zentrum St. Gallen. Ihren PhD in Management erhielt sie von der Graduate School of Management, UCLA, und ihr Vor- und Hauptdiplom in Psychologie von der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Führung, Unternehmenskultur, Change Management, Organisationsentwicklung und Interkulturelles Management.

Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch Management Support GmbH Karl-Heinz Schrödl und Georg Hanen

Inhaltsverzeichnis 1  2  3  4 

Einführung   as Senior-Experten-Modell von Bosch  D Vorteile für das Unternehmen  Vorteile für die Volkswirtschaft 

 372  373  375  380

Zusammenfassung

Unsere Wirtschaft und Gesellschaft hat aktuell zwei große und weiter zunehmende Probleme: die demografische Entwicklung sowie der Know-how-Verlust durch Experten, die das Rentenalter erreichen. Dieser Beitrag stellt die Arbeit der Bosch Management Support GmbH mit ihren Vorteilen und Hindernissen vor. Seit 1999 setzt die 100-Prozent-Tochtergesellschaft der Robert Bosch GmbH im Bedarfsfall pensionierte, hoch qualifizierte Fach- und Führungskräfte für eine begrenzte Zeit ein. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass dieses Modell zahlreiche Vorteile für das Unternehmen, die Pensionierten wie auch unsere Volkswirtschaft hat. So kann das Unternehmen wertvolles Know-how erhalten und bei kurzer Einarbeitungszeit, hoher Qualität und Flexibilität weiterhin einsetzen. Die Pensionäre berichten von einer hohen Zufriedenheit, sie können ihre Leistungsfähigkeit erhalten, einen wichtigen Beitrag leisten und sind in attraktiven Einsatzgebieten Herr über ihre Zeit. Auch der Volkswirtschaft bleibt K.-H. Schrödl (*) Bosch Management Support GmbH, Leonberg, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Hanen Hanen Management Consulting, Lohr am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_20

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372

K.-H. Schrödl und G. Hanen

gefragtes Fachwissen erhalten, ohne dabei in die Schwarzarbeit abzudriften. Allerdings erweist sich der unnötig enge rechtliche Rahmen als Hemmschuh für die Nutzung eines solchen Modells durch kleinere Unternehmen und sollte überdacht werden.

1

Einführung

Etwa 959.000 Einträge bietet Google an, sollten Sie nach dem Stichwort Seniorenbetreuung suchen. Ein Vielfaches (5,3 Mio.) an Einträgen erscheint, starten Sie die Suche nach Senior Experts (jeweils Stand September 2018). Seniorenbetreuung, also die Unterstützung älterer, gegebenenfalls gebrechlicher Menschen, hat als volkswirtschaftliche und kommerzielle Größe im Internet aktuell nicht mehr den gleichen Stellenwert wie der Bedarf an Know-how und Erfahrung, erbracht von Senioren. Und das, obwohl Geschäfte mit den „Alten“ als lukrativ gelten und der Wettbewerb auf diesem Sektor nach wie vor groß ist. Haben die aktiven Alten die gebrechlichen Alten an Bedeutung überholt? Sicher nicht, die Diskussionen über Rentenhöhen, Altersarmut und fehlende Pflegekapazitäten zeigen dies. Aber  – und das ist erfreulich  – immer mehr Senioren nutzen das über Jahrzehnte angesammelte Wissen und ihre Erfahrung, um weiterhin aktiv am Wirtschaftsleben teilzunehmen, selbst wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter bereits erreicht oder sogar überschritten ist. Und die Unternehmen nehmen diese Angebote dankend an. Um die steigenden Bedarfe zu decken, sind verschiedene Geschäftsmodelle entstanden, teilweise höchst unterschiedlich ausgestaltet. Diese Geschäftsmodelle reichen von eher altruistisch geprägten Beratungen von Start-ups ohne jeglichen kommerziellen Hintergrund der Seniorexperten wie z. B. die Senioren der Wirtschaft (ShJ), über unternehmensinterne Vermittlungsaktivitäten, deren Anliegen v. a. der Erhalt des Know-how im Unternehmen ist, bis hin zu rein kommerziellen Anbietern. Letztere unterscheiden sich von Beratungsunternehmen oder Firmen wie Randstad nur dadurch, dass ihre vermittelten Experten eine gewisse Altersgrenze überschritten haben. Alle Modelle, auch rein kommerzielle, tragen dazu bei, dass ein Wandel im Denken eingetreten ist: ein Wandel bei den Auftraggebern diesbezüglich, dass Erfahrung und Wissen von Ehemaligen sehr wertvoll sein kann und angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland immer wertvoller werden wird. Ein Wandel ist aber auch bei einer immer größer werdenden Anzahl dieser Ehemaligen festzustellen, die sich ihrer Bedeutung bewusst werden und ihre Fähigkeiten und ihr Wissen als ihr Kapital vermarkten. Wobei unter vermarkten auch eine unentgeltliche Beratung verstanden werden kann, bei der die Gegenleistung sich auf die Freude am Helfen beschränkt. Die Medien haben das Thema breit aufgegriffen. Das Manager Magazin hat im Februar 2014 unter dem Titel „Im Unruhestand“ den sog. Silver Worker einen ausführlichen Bericht gewidmet. Und auch Funk und Fernsehen senden regelmäßig Beiträge zu diesem Thema. Dies, aber v. a. die Erkenntnis, dass die deutsche Industrie die Silver Worker benötigt, hat bei vielen renommierten Großunternehmen zu intensiven Aktivitäten geführt, ihre

Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch …

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Ehemaligen mit attraktiven Angeboten für befristete Projekte oder Vertretungen im Unternehmen zu reaktivieren. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Bosch mit seinem Senior-­ Experten-­Modell. Die folgenden Ausführungen sollen an diesem Beispiel zeigen, welche Vorteile der Einsatz von Senior-Experten für das Unternehmen hat, die Experten aber auch für die Volkswirtschaft haben. Aber es sollen auch Hürden aufgezeigt werden, die, trotz anerkennender Worte in der Politik für diese Ansätze, den Einsatz der Experten teilweise an die Grenze des Machbaren bringen und die v. a. die Einführung vergleichbarer Modelle bei Mittelständlern oder kleineren Unternehmen eher behindern.

2

Das Senior-Experten-Modell von Bosch

Die Bosch Management Support GmbH (BMS) wurde 1999 als 100 %ige Tochtergesellschaft der Robert Bosch GmbH gegründet. Die Motivation hierfür war v. a. der Wunsch des Unternehmens, im Bedarfsfall noch einmal für begrenzte Zeit auf das Können und die Erfahrung von pensionierten Fach- und Führungskräften zurückgreifen zu können. Die Geschäftsidee ist so einfach wie einleuchtend: Senior-Experten sind überall dort gefragt, wo es bei Engpässen kurzfristigen oder sehr professionellen Bedarf gibt. Die vermittelten Leistungen betreffen alle Funktionsbereiche des Unternehmens: Unterstützung bei Entwicklungsaufgaben, Markt- und Geschäftsfeldanalysen, Hilfe beim Anlauf neuer Erzeugnisse oder bei der Gründung neuer Werke, Senkung von Erzeugniskosten, IT-­ Beratungen. Die Unterstützung bei Controlling-, Buchhaltungs- oder Personalthemen gehören ebenso dazu wie Schulungen, Coachings, Mentoring oder die Übernahme von Interimsfunktionen als Fachspezialist oder im Management, wenn ausgeschriebene Stellen vorübergehend nicht besetzt werden können. Kurz gesagt: Senior-Experten können heute für alle kaufmännischen, technischen und Unterstützungsfunktionen des Unternehmens eingesetzt werden, sogar Werkärzte und Umweltschutzspezialisten stehen zur Verfügung. Beim Start vor etwa 19 Jahren lagen selbstverständlich deutlich weniger Angebote im Portfolio und es war damals in gewisser Weise Pionierarbeit. Die Anfänge trafen teilweise auf Vorbehalte: Vorbehalte bei den potenziellen Kunden im Unternehmen, die sich fragten: In welcher Weise können uns Rentner überhaupt helfen? Vorbehalte bei den Experten selbst, die fragten: Reicht mein Wissen für die Aufgaben? Oder: Wie werden mich die jungen Ex-Kollegen empfangen? Bis hin zu Vorbehalten bei Arbeitnehmervertretungen, die sich fragten: Führt der Einsatz von Senior-Experten zu einer Verlagerung von Vollzeitarbeit im Konzern hin zu prekären Beschäftigungen? Die BMS startete deshalb nur mit 30 Experten, die alle vor ihrer Pensionierung dem oberen Management angehört hatten. Rapide zunehmende Nachfrage aus dem Unternehmen, aber v. a. das steigende Interesse der neuen Pensionäre, auch im Ruhestand fachliche Herausforderungen für begrenzte Zeit anzunehmen, trugen zu einem Auftrags-Boom in den letzten Jahren bei.

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Die Vorbehalte sind schnell Begeisterung gewichen. Aus den Anfängen mit 30 ehemaligen Bosch-Führungskräften entwickelte sich eine Organisation, die 2017 mit etwa 1600 Senior-Experten weltweit rund 63.000 Beratungs- und Unterstützungstage vermittelte. Der Schwerpunkt der Vermittlungen liegt heute im Gegensatz zu den Anfängen längst nicht mehr im oberen Führungsbereich, sondern zu mehr als 75 % bei Spezialisten, die in ihrer früheren Funktion dem Tarif- oder Gruppenleiterbereich zuzuordnen waren. Die durchschnittliche Auftragsdauer liegt bei etwa 40 Tagen, und es handelt sich nach wie vor in keinem Fall um Ersatz- oder Dauerbeschäftigungen, die bestehende Arbeitsplätze gefährden könnten. BMS hat sich des Weiteren von einer rein deutschen zu einer internationalen Organisation entwickelt mit Niederlassungen in den USA, Mexiko, Brasilien, Indien, Japan, Großbritannien, Österreich und der Türkei. Jedes Land hat dabei die landesspezifischen und rechtlichen Erfordernisse dem jeweiligen Geschäftsmodell zugrunde gelegt. Dabei spielen selbstverständlich auch kommerzielle Aspekte eine Rolle: So wird z. B. die Gründung einer eigenen Gesellschaft auch von der zu erwartenden Anzahl von Senior-Experten im Land determiniert. Die Experten sind ausschließlich ehemalige Mitarbeiter aus dem Konzern und bieten ihre Leistungen freiwillig an, sie entscheiden also pro Anfrage, ob sie sich der Aufgabe gewachsen fühlen, ob der Einsatzort infrage kommt oder – und das ist häufig die Hauptfrage  – ob es in den zeitlichen Rahmen passt, den der Experte aufzuwenden bereit ist. Dieser wiederum wird nicht selten bestimmt durch rechtliche Hinzuverdienstgrenzen (soweit der gesetzliche Stichtag für den Renteneintritt noch nicht erreicht ist) oder private Termine wie Familie oder Urlaub. Auch für den Auftraggeber aus dem Unternehmen ist der Einsatz von BMS-Experten freiwillig. Ob ein Kostenstellenverantwortlicher sich externer Expertise bedient oder auf BMS zurückgreift, hängt von der Passung der angebotenen Leistungen, von der Qualität der infrage kommenden Experten sowie den Kosten und der Verfügbarkeit der Unterstützungsleistung ab. Wenn ein Einsatz abgeschlossen ist, werden die Auftraggeber anhand eines einfachen Fragebogens um eine Bewertung des Experten und der BMS-Verwaltungsprozesse gebeten. Der Experte erhält eine Kopie. Von einer Maximalpunktzahl von 100 wurden in den letzten Jahren jeweils durchschnittlich mehr als 90 Punkte erreicht. Aufgrund der weiteren Internationalisierung und v.  a. aufgrund des gestiegenen Geschäftsvolumens wurde Anfang 2013 ein maßgeschneidertes und leistungsfähiges IT-­System zur Abbildung des Vermittlungsprozesses eingeführt. Das spezialisierte und prozessoptimierte System zur Expertenverwaltung bildet alle Kernprozesse der Expertenvermittlung vollständig ab und bietet dabei schwerpunktmäßig eine bedienerfreundliche und qualitativ leistungsfähige Matching-Plattform für Kunden und auftragswillige Experten. Auch alle relevanten betriebswirtschaftlichen Prozesse der Expertenverwaltung und Expertenvermittlung sind in diesem IT-System abgebildet (Zeit-, Abwesenheitsund Reisekosten der Experten, Erfassung und Dokumentation der Zufriedenheit der Auftraggeber, kaufmännische Prozesse wie Auftragsabwicklung, Faktura sowie diverse

Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch …

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Reporting-Funktionen). Das System ist verfügbar in Deutsch und Englisch, sodass es weltweit über das Bosch-Intranet anwendbar ist. Regionale Versionen in japanischer und spanischer Sprache sind in Erarbeitung. Für einen Senior-Experten gibt es drei Wege zu BMS: Er kann sich selber dort bewerben, er kommt auf Empfehlung seiner zuständigen Personalabteilung oder seines ehemaligen Vorgesetzten oder BMS spricht ihn direkt an. Die Aufnahme in die Expertendatei erfolgt in Absprache zwischen dem Experten und BMS. Hierzu erhält er Zugang zur BMS-Vermittlungssoftware und kann damit seine Qualifikationen auf Basis hinterlegter Funktions- und Rollenprofile eingeben. Damit steht er für Vermittlungen zur Verfügung. Jeder Kostenstellenverantwortliche mit freiem Budget kann eine Beauftragung vornehmen. Sobald eine Bosch-Abteilung eine Beratungsanfrage an BMS heranträgt, wird über das beschriebene IT-System die Auftragsabwicklung gestartet. Zunächst wird präzise geklärt, wie das Anforderungsprofil des Einsatzes aussieht: Wie lautet die konkrete Aufgabenstellung, welche Ziele verfolgt der Einsatz, welche Qualifikationen sind erforderlich, welche Bereiche des Unternehmens sind involviert, wo und in welchem Zeitraum findet der Einsatz statt und wie viele Tage innerhalb dieses Zeitraums werden voraussichtlich benötigt? Für die Ermittlung eines geeigneten Experten stehen dem Auftraggeber danach verschiedene Wege offen: Er kann selbst in den anonymisierten Expertenprofilen nach geeigneten Kandidaten suchen und über das System anfragen, er kann seine Anfrage im Expertenkreis öffentlich ausschreiben oder er übergibt seine Suchanfrage an die BMS-Koordinierungsstelle in Leonberg oder die jeweilige BMS-Niederlassung in einem anderen Land, von wo aus dann geeignete Kandidaten angesprochen werden. Erklären Experten Interesse an einem Auftrag, stellen sie damit dem Auftraggeber ihre Kontaktdaten zur Verfügung. Dieser trifft eine Auswahl und beauftragt BMS. Der Erfolg des Modells hängt ab von der fachlichen und persönlichen Qualifikation der Experten. Ebenso müssen genügend Experten zur Verfügung stehen, um ausreichend viele Aufträge zu bearbeiten und auf diese Weise Leistungsfähigkeit zu demonstrieren. Die Abwicklung muss einfach und ohne große Genehmigungsverfahren ablaufen. Das „matching“ von Qualifikationsnachfrage und Angebot der passenden Qualifikation muss effektiv sein, die Abrechnung zügig und transparent erfolgen. Auftraggeber und Experte müssen sich darauf verlassen können, dass die Vorschriften des Arbeits-, Sozialversicherungs- und Steuerrechts beachtet werden.

3

Vorteile für das Unternehmen

Für den Bosch-Konzern haben sich seit der Gründung der BMS vielfache Vorteile ergeben. Kontakte mit anderen Unternehmen, die ein ähnliches Modell betreiben, zeigen, dass diese Vorteile i. d. R. auch für andere Unternehmen gelten, gegebenenfalls in einer modifizierten Ausprägung

376

3.1

K.-H. Schrödl und G. Hanen

Erhalt von Know-how

Eine Vielzahl der Bosch-Senior-Experten erwarb im Lauf des Berufslebens wertvolles Wissen, das auch künftig dem Unternehmen dienen kann oder sogar einen Wettbewerbsvorteil für Bosch darstellt. Der Erhalt dieses Wissens einerseits, aber auch die Hoffnung, dass dieses Wissen nicht zum Wettbewerber wandert, rechtfertigen aus der Gesamtsicht des Unternehmens bereits den Einsatz Ehemaliger im laufenden Geschäftsbetrieb. Aber dies allein reicht als Motivation für ein erfolgreiches Expertenmodell bei Weitem nicht aus, spezifische Erwartungen und Bedarfe der jeweiligen Auftraggeber müssen zu diesem übergeordneten Ziel hinzukommen. Der Auftraggeber muss für sich und seinen Bereich einen konkreten Vorteil sehen. Und davon gibt es einige.

3.2

Kurze Einarbeitungszeit

Das Besondere an den Senior-Experten: Es handelt sich ausschließlich um ehemalige Bosch-Mitarbeiter und Bosch-Führungskräfte. Der große Pool an Experten ist so schlagkräftig, weil jeder Einzelne jahrzehntelang spezifisches Bosch-Know-how gesammelt und die internen Arbeitsabläufe verinnerlicht hat. Und jeder hat die Besonderheiten und die Kultur des Unternehmens Bosch nicht nur erlebt, sondern selbst mitgeprägt. Damit sind diese Experten ohne wesentliche Einarbeitungszeit sofort wirksam, wenn sie zum Einsatz kommen. Dies trifft nicht nur auf Einsätze im ehemaligen Verantwortungsbereich des Experten zu. Die Senior-Experten werden bereichsübergreifend und auch in Funktionen gebucht, die häufig über ihre früheren Einsätze im Unternehmen hinausgehen. Die Kenntnis des Konzerns und die Passung in die Unternehmenskultur geben hierfür häufig den Ausschlag.

3.3

Qualität

Die Experten entscheiden je Anfrage, ob sie den Auftrag annehmen. Wer einen Auftrag annimmt, ist entsprechend lösungsinteressiert und hoch motiviert für die jeweils anstehende Aufgabe. Andererseits buchen die Unternehmensstellen nur Experten, die sich bewährt haben. Das spornt auch die Seniorexperten an. Sie wollen durch Leistung und die Qualität ihrer Arbeit überzeugen. Dass dies gelingt, belegt neben dem Wachstum der Gesellschaft auch die Kundenzufriedenheit. Die Seniorexperten genießen ein hohes Ansehen in der Bosch-­Gruppe. BMS oder die den Auftrag gebenden Fachabteilungen definieren gegebenenfalls erforderlichen Weiterbildungsbedarf und vereinbaren Umfang und Kostenerstattung direkt mit den Experten. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass beim Einsatz State-of-the-ArtWissen von den Experten eingesetzt werden kann.

Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch …

3.4

377

Vielfalt

Bosch setzt bereits seit vielen Jahren auf altersgemischte Teams als Teil seiner Diversity-­ Strategie: Die Zusammenarbeit von Älteren und Jüngeren im Tagesgeschäft schafft eine Arbeitsatmosphäre mit unterschiedlichen Sichtweisen, die wichtige Impulse für Kreativität und Ideenreichtum liefert. Gespräche mit Auftraggebern ergaben, dass Ressentiments, die in der Gründungsphase nicht auszuschließen waren, der Vergangenheit angehören. Weder die jeweiligen Auftraggeber noch die temporären Kollegen der Experten betrachten die Senioren als Fremdkörper, was zählt ist der Wertbeitrag, und der stimmt in aller Regel. Und die Experten bestätigen dies. Die steigende interne Vernetzung bei Bosch und projektorientiertes Arbeiten sind dabei die ideale Basis für das Zusammenspiel zwischen Wissen und Erfahrung der Älteren und den frischen Ideen und dem Können der Jüngeren. Daraus entsteht ein generationsübergreifender Austausch im Sinn gemeinsamen Lernens. Während die Jungmanager den Älteren etwa neue Software besser vermitteln können (Reverse Mentoring), haben die erfahrenen Seniorexperten oft jahrelange Routine in Führungs-, Motivationsund Fachfragen. Bei der täglichen Zusammenarbeit können die Senioren intern Brücken bauen, zumal sie frei von persönlichen Karrierezielen arbeiten und somit kein Konkurrenzdenken entsteht. Damit stärkt die Bosch-Gruppe ihre Innovationskraft. Denn altersgemischte Teams sind letztendlich erfolgreicher, schaffen Kreativität und Impulse für neue Ideen.

3.5

Flexibler Einsatz

Die zunehmende Volatilität der Märkte erfordert immer flexiblere Organisationsformen und wird zu wachsendem temporären Bedarf an qualifizierter Unterstützung führen. Mit BMS sind schnelle, zuverlässige und effektive Lösungen möglich. Schlanke und seinerseits flexible Prozesse ermöglichen bei Bedarf die Aufnahme von neuen Experten im IT-System und den Einsatz dieser Experten innerhalb weniger Tage. Die Ehemaligen stehen dem i. d. R. nicht nach. Auch Auslandseinsätze beginnen häufig innerhalb einer Woche nach Auftragseingang. Und bei Bedarf ihrer spezifischen Expertise unterstützen Experten gegebenenfalls in unterschiedlichen Projekten parallel.

3.6

Wettbewerbsfähige Kosten

Ein unternehmensinternes Modell, das auf beidseitiger Freiwilligkeit basiert, erfordert ein faires Entlohnungssystem. Die Obergrenze sollte der externe Wettbewerb setzen, die Untergrenze das Selbstwertgefühl der Experten, auch wenn diese häufig nur in zweiter oder dritter Linie des Geldes wegen arbeiten (s. u.).

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K.-H. Schrödl und G. Hanen

Bei BMS richtet sich die Vergütung nach dem Grundeinkommen der Entgeltgruppe, in der der Experte vor seiner Pensionierung eingestuft war. Für jede Entgeltgruppe gibt es einen Honorarsatz, den der Experte als Bruttoentgelt erhält. Damit wird sichergestellt, dass die Kosten, die BMS verrechnet, sich an den Gesamtpersonalkosten vergleichbarer aktiver Mitarbeiter orientieren. Gleichzeitig erhebt BMS Marktvergleiche und stellt sicher, dass die Preise für die Expertenleistung im externen Quervergleich mit Beratungsunternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Für den Auftraggeber bedeutet dies, er kauft schnell verfügbare Expertise, bei der er firmenspezifisches Know-how voraussetzen kann, zu einem Preis, der sich i. d. R. unter dem vergleichbarer externer Anbieter bewegt.

3.7

Einfache Abwicklung

Je einfacher eine Auftragsabwicklung durchgeführt werden kann, desto höher ist die Akzeptanz, eine Leistung zu buchen. Firmeninterne Prozesse begeistern interne Kunden nur, wenn diese einfacher als oder zumindest ebenso einfach wie Prozesse Externer sind. Eine professionelle Vermittlung durch BMS ist über die beschriebene Software ebenso gewährleistet wie eine persönliche Beratung, sollte der Kunde im System nicht fündig werden. Sehr hilfreich für den Einsatz von BMS-Experten ist bei Bosch ein unkompliziertes Genehmigungsverfahren durch den Auftraggeber: Der Kostenstellenverantwortliche, unabhängig von seiner hierarchischen Stellung im Unternehmen, entscheidet den Einsatz. Und BMS gewährleistet eine einfache, pünktliche und transparente Abrechnung.

3.8

Motivation der Experten

Das Modell lebt von motivierten und einsatzfreudigen Experten. Was genau treibt die Experten der BMS zu ihren Leistungen? Bei einer Befragung einer repräsentativen Gruppe von Experten wurden für eine Tätigkeit als Pensionär die nachfolgenden Hauptgründe genannt.

3.8.1 Hohe Befriedigung durch Vermittlung von Erfahrungswissen Wer sein ganzes Arbeitsleben gut und gern zum Unternehmenserfolg beigetragen hat und wer sich dabei mit hoher Eigenmotivation weitergebildet und weiterentwickelt hat, für den stellt sich das abrupte Ende seiner aktiven Zeit häufig als eine Vergeudung seiner Ressourcen dar. Eröffnen sich für ihn neue Perspektiven durch Einsätze in seinen ehemaligen Domänen, so bedeutet das auch eine Wertschätzung seiner Person und seiner Leistung in der Vergangenheit.

Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch …

379

3.8.2 Erhaltung der persönlichen Leistungsfähigkeit Gegebenenfalls (zu) geringe Anforderungen im Ruhestand können sich auf die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden auswirken. Mit der Übernahme von interessanten und herausfordernden Aufgaben geht mit der Wertschätzung durch Dritte die Möglichkeit einher, sich körperlich und geistig fit zu halten. 3.8.3 Eigener Leistungsbeitrag zur Unterstützung des Unternehmens Ein bei vielen ehemaligen Mitarbeitern von Bosch nicht zu unterschätzender Aspekt ist der Wunsch, auch nach dem altersbedingten Ausscheiden an der weiteren Entwicklung des Unternehmens teilzuhaben und der Firma Gutes zurückzuzahlen. Manche Stellungnahmen brachten zum Ausdruck, dass die Tätigkeit als Senior-Experte nur im Bosch-Konzern infrage gekommen ist. 3.8.4 Attraktiver Einsatz bei Bosch weltweit Bosch-Mitarbeiter agieren in ihrer aktiven Zeit häufig international, bedingt durch die vielen Standorte des Unternehmens weltweit. Einsätze als Experte europaweit aber auch z. B. in China oder Brasilien ermöglichen, diese Internationalität beizubehalten und bilden nicht selten das Salz in der Suppe für die Annahme des Auftrags. 3.8.5 Herr über seine Zeit Auf die Frage, was sie an der Arbeit speziell für BMS schätzen, antwortete die große Mehrheit: die Möglichkeit, frei über ihre Aufträge entscheiden zu können, das flexible und ihre Bedürfnisse einbeziehende Zeitmanagement inklusive der Möglichkeit auch von zu Hause aus arbeiten zu können, wenn es die Aufgabe zulässt. 3.8.6 Kein Elefantenfriedhof Ein sehr wichtiger Aspekt für die Beteiligten ist, dass die Bosch Management GmbH kein Elefantenfriedhof ist, in dem Problemfälle geparkt werden. Der Einsatz über die BMS ist vielmehr ein Teil der Wertschöpfungskette im Unternehmen und dient auch als Mittel zu einem sozialverträglichen Übergang in den Ruhestand. 3.8.7 Weniger wichtige Aspekte Weniger häufig genannt wurde die Bedeutung fairer, transparenter Konditionen. Der erstaunlich geringe Stellenwert dieses Aspekts ist sicher auch dadurch bedingt, dass die befragten Experten aufgrund ihrer aktiven Zeit bei Bosch relativ gut durch die Firmenrente abgesichert waren. Ebenso weniger häufig wurde die Sicherstellung der Legalität v. a. unter sozialversicherungsrechtlichen Aspekten genannt.

380

3.9

K.-H. Schrödl und G. Hanen

Zwischenergebnis

Die 19 Jahre BMS waren für beide Seiten, für die Ehemaligen, die sich als Experten zur Verfügung gestellt haben, sowie für das Unternehmen ein Erfolg. Diese 19 Jahre haben aber deutlich gezeigt, dass vier Facetten des Experten-Modells sich als absolute Grundvoraussetzung für die Akzeptanz herauskristallisiert haben. Diese sind: • eine Unternehmenskultur, die auf Vielfalt setzt und die Erfahrung und Lebensleistung von Mitarbeitern verschiedenen Alters wertschätzt und die durch die Unternehmensleitung gefördert wird; • interessante Aufträge für die Experten; • die Freiwilligkeit für Auftraggeber und Experten als Auftragnehmer sowie • die Tatsache, dass die Einsatzzeiten der Senior-Experten zeitlich begrenzt sind. Das Modell dient nicht dem Personalersatz oder dem Personalabbau; es ist aber auch keine Altersfinanzierung von Bosch-Pensionären.

4

Vorteile für die Volkswirtschaft

Der demografische Wandel bewegt Europa. Auch in Deutschland sind die Geburtenzahlen in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken und die Lebenserwartung der Menschen steigt. Beides führt zu einer Alterung der Gesellschaft. Verschärfend kommt hinzu, dass die Generation der sog. Babyboomer künftig zunehmend in den Ruhestand geht. Daher bietet das BMS auch eine Reihe von Vorteilen für die Volkswirtschaft.

4.1

Know-how-Erhalt für die Volkswirtschaft

In ähnlicher Weise wie der Einsatz Ehemaliger dazu beitragen kann, dass Unternehmenswissen erhalten bleibt, so tragen Senior-Experten auch dazu bei, dass dieses Wissen in einer Volkswirtschaft erhalten bleibt, gegebenenfalls zumindest temporär. So zeichnet sich bereits auf einigen Gebieten ab, dass es immer mehr Senior-Experten bedarf, um flexible Vertretungen von Schlüsselstellen, deren Vakanz zu Problemen führen kann, abzudecken. Ganze Industriezweige befinden sich momentan in einem Umbruch. Sie müssen ihre bisherigen Kernprozesse kurz- oder zumindest mittelfristig in Prozesse für neue Technologien umschichten. Häufig werden dabei alte und neue Technologien parallel angewendet. Mit Aufgabe der alten Technologien entfällt mehr und mehr der Bedarf an entsprechend ausgebildeten Fachkräften. Dies wiederum führt zu fehlendem Nachwuchs: Niemand ist bereit, Wissen ohne Zukunft zu erlernen. Die Aufgaben für diese Fachkräfte entfallen jedoch nicht von heute auf morgen. Bereits aktuell beklagen Unternehmen der Energiewirtschaft eine (temporäre) Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot bei Fachkräften, die zum Betrieb oder zum Abbau bestehender Anlagen dringend benötigt

Senior Experten – ihre Bedeutung für die Wirtschaft am Beispiel der Bosch …

381

werden. Der Wandel vom Verbrennungs- zum Elektromotor wird bald zu ähnlichen Pro­ blemen in der Automobilindustrie führen. Das Senior-Experten-Modell kann dabei z. T. Abhilfe schaffen. Dies haben einige der Unternehmen bereits erkannt und nutzen ihre Ehemaligen, diese Wissenslücke zu schließen.

4.2

Vermeidung von Schwarzarbeit

Die hohe Befriedigung durch Vermittlung ihres Erfahrungswissen sowie der Erhaltung der persönlichen Leistungsfähigkeit sind zwei wichtige Motivationsfaktoren für Senior-­Experten, ihre Arbeitsleistung anzubieten (s. o.). Geschieht dies nicht im Rahmen eines geregelten und legal ausgestalteten Rechtsverhältnisses, besteht die Gefahr, dass Ehemalige ihren Tatendrang ausleben, ohne dabei die entsprechenden gesetzlichen Regelungen zu beachten. Der Schaden (Steuern, Sozialabgaben etc.) für die Volkswirtschaft wäre enorm.

4.3

Erhalt von Arbeitsplätzen in den Unternehmen

Der aktuelle Arbeitsmarkt zeigt für einige Berufssparten deutliche Anzeichen eines Anbietermarkts. So haben zurzeit Bewerber mit IT-Kenntnissen oder qualifizierte Elektroingenieure nahezu die freie Wahl ihres Arbeitgebers. Gelingt es Unternehmen nicht, solche freien Arbeitsplätze kurzfristig zu besetzen, müssen Alternativen wie Fremdvergabe oder Zukauf von externen Leistungen in Betracht gezogen werden. Der Einsatz von Senior-­Experten entzerrt den Prozess dieser Stellenbesetzungen und führt nicht selten zum Erhalt eines Arbeitsplatzes. Ähnlich kann es sich mit Ausbildungsverhältnissen verhalten. Kleinere und mittlere Unternehmen bauen in ihrer Personalplanung häufig auf ihren eigenen Nachwuchs. Der demografische Wandel hat zwischenzeitlich auch hier für den einen oder anderen Engpass bei Bewerbern für Ausbildungsstellen gesorgt. In diesen Fällen können über den Einsatz von Senior-Experten temporäre Unterbesetzungen bis zum Abschluss von Ausbildungsverhältnissen überbrückt werden.

4.4

Hindernisse

In der Öffentlichkeit wie auch von vielen Politikern gab und gibt es immer wieder höchst positive Kommentare zu den Senior-Experten und ihren wichtigen Aufgaben in Unternehmen und Gesellschaft. Betrachtet man jedoch die konkrete Rechtslage in Deutschland, aber auch in Europa, so stellt man schnell fest, dass die uneingeschränkte und ungeprüfte Anwendung aller Schutznormen für die aktiven Arbeitnehmer auf die Senior-Experten zu weit geht und dass dies die Unternehmen manchmal an die Grenze das Machbaren bringt. So können weitgehende Dokumentationsvorschriften, Zeitaufschriebe anstelle von Vertrauensarbeitszeit, restriktive Befristungsregelungen, die Gewährung anteilmäßigen Urlaubs selbst für singuläre

382

K.-H. Schrödl und G. Hanen

befristete Beschäftigungen eines Rentners sowie eine Vielzahl weiterer arbeits- und sozialrechtlicher Regelungen gegebenenfalls dem berechtigten Schutz von Arbeitnehmern im aktiven Arbeitsverhältnis dienen. Höchst fraglich ist jedoch, ob Senior-Experten, die häufig nur einmalig im Jahr ein mehrwöchiges Projekt begleiten oder tageweise im Unternehmen unterstützen, eines ähnlich weitreichenden Schutzes bedürfen. In keinem bei der Bosch Management Support GmbH abgewickelten Fall wäre ein solch aufwendiger Schutz des Experten erforderlich gewesen. Zumindest aus Sicht der unternehmensspezifischen Modelle führten diese Auflagen nur zu enormen Aufwand bei Experten und Unternehmen. Nachdem die Vorteile der Senior-Experten-Modelle auf der Hand liegen, sollten diese Modelle auch kleineren und mittleren Unternehmen zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt die demografische Entwicklung wird den Bedarf hier deutlich erhöhen. Bleibt es bei den Hindernissen, ist für diese Unternehmen jedoch zu befürchten, dass die aktuelle Rechtslage eher ein Hindernis darstellt und somit wertvolles Wissen für Unternehmen und Volkswirtschaft verloren gehen wird.

Dr. Karl-Heinz Schrödl  ist seit Februar 2016 Geschäftsführer der Bosch Management Support GmbH und arbeitet gleichzeitig als „senior expert“ in dieser Gesellschaft. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften begann er sein Berufsleben in der Robert Bosch GmbH im Personalwesen. Unter anderem leitete er die Arbeitsrechtliche Abteilung von Bosch. Danach war er für Bosch in diversen Funktionen und in unterschiedlichen Gesellschaften im In- und Ausland tätig. So hatte er z. B. die Gesamtverantwortung für die Entwicklung, die Fertigung und den Vertrieb von Autoradios in Südostasien und war Geschäftsführer eines Gemeinschaftsunternehmens zwischen Bosch und der ZF AG. In seiner letzten Station vor seinem Eintritt in die Bosch Management Support GmbH war er weltweit bei Bosch für das Personalwesen verantwortlich. In dieser Funktion begleitete er u. a. die Entwicklung der Bosch Management Support GmbH als deren Beirat und setzte „senior experts“ für Aufgaben und Projekte im Human-Resources-Bereich erfolgreich ein. Dr.  Georg Hanen  trat mit seinem Abschluss als Diplomkaufmann im Oktober 1980  in die Robert Bosch GmbH ein und war mit Fach- und Führungsaufgaben im In- und Ausland im Bereich Controlling, Logistik und Einkauf betraut. Im Jahr 1993 wurde er zum Bereichsvorstand für kaufmännische Aufgaben in den Divisions Maschinenbau und Automotive und 1998 zum Direktor der Bosch-Zentralabteilung Planung und Controlling ernannt; 2002 wurde er Mitglied des Vorstands der Bosch Rexroth AG, zuständig für Controlling, Einkauf, Logistik, IT, Personal und Arbeitsdirektor. Seit April 2013 ist er in Teilzeit Geschäftsführer der Bosch Management Support GmbH und seit Januar 2018 Freiberuflicher Berater der HMC-Hanen Management Consulting.

Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen Stephan Kaiser, Arjan Kozica und Georg Loscher

Inhaltsverzeichnis 1  Einleitung  2  Flexibles Personalmanagement für agile Organisationen  3  Zukunftsfähigkeit durch professionalisiertes Personalmanagement  4  Zusammenfassung und Ausblick  Literatur 

 384  384  388  392  393

Zusammenfassung

Die Zukunftsfähigkeit des Personalmanagements lässt sich daran festmachen, dass in der Organisation qualitativ und quantitativ ausreichend Personal zur Erfüllung des Organisationszwecks in dynamischen Umfeldern zur Verfügung steht. Einen wichtigen Ansatzpunkt stellen die Flexibilisierung der Personalausstattung sowie die institutionelle und strukturelle Öffnung von Organisationen in Richtung mehr Agilität dar. Darauf aufbauend muss das Personalmanagement selbst durch neue Arbeitsweisen und Praktiken innovativer werden und zusätzlich zu seinem stabilen Kern ein zweites agiles Betriebssystem entwickeln. Das zeitlich und strukturell abgestimmte Zusammenspiel des stabilen und agilen Betriebssystems ermöglicht dann die gleichzeitige Nutzung von exploitativen und explorativen Praktiken. Um die Agilitätsagenda des Personalmanagements weiter voranzutreiben, benötigt es einen systematischen S. Kaiser (*) · G. Loscher Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] A. Kozica Hochschule Reutlingen, Reutlingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Sackmann (Hrsg.), Führung und ihre Herausforderungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25278-6_21

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384

S. Kaiser et al.

Umgang mit der Bedeutung unterschiedlicher Agilitätsdimensionen, die Entwicklung von Instrumenten sowie Zielsetzungen, die ein agiles Personalmanagement verfolgen sollte.

1

Einleitung

Zukunftsfähigkeit kann vereinfacht formuliert als das unternehmerische Vermögen, die eigene Existenz auch in der Zukunft zu sichern, verstanden werden (Kaiser und Kozica 2014). Um als Unternehmen zukunftsfähig zu sein, d. h. um im Wettbewerb zu überleben und erfolgreich fortzubestehen, ist es notwendig, für wirtschaftlich schwierige Situationen die Fähigkeit zum wirksamen Krisenmanagement vorzuhalten, aber auch Chancen zur Weiterentwicklung zu nutzen und neue Anforderungen proaktiv zu handhaben. Beschäftigt man sich mit der Zukunftsfähigkeit des Personalmanagements, so ist dies nur vor dem Hintergrund der Zukunftsfähigkeit der Organisation sinnvoll zu verstehen. Denn, in einem ersten Zugriff ist Personalmanagement immer dann zukunftsfähig, wenn es auch die Zukunftsfähigkeit der Organisation vorantreibt. Diese Kopplung wird freilich in der unternehmerischen Praxis des Personalmanagements nicht immer gesehen und führt zu einem strategiefreien und von organisatorischen Fragen losgelösten Personalmanagement. In diesem kurzen Beitrag soll zumindest ansatzweise ein Gegenentwurf skizziert werden. Dieser Gegenentwurf beinhaltet im Wesentlichen zwei Grundideen: Erstens geht es darum, die Zukunftsfähigkeit des Personalmanagements daran festzumachen, dass es der Organisation die humanen Ressourcen in quantitativer und qualitativer Hinsicht zur Verfügung stellt, sodass aus dem Markt und Wettbewerb abgeleitete organisatorische Anforderungen erfüllt werden können. Am Beispiel der zunehmenden Flexibilisierung von Organisationen und den steigenden Agilitätsanforderungen wird dies in Abschn. 2 diskutiert. Zweitens werden ein Blick in das Innenleben des Personalmanagements geworfen und Thesen aufgestellt, welche spezifischen Herausforderungen sich für die Kompetenzen und die Struktur des Personalmanagements in Organisationen ergeben (Abschn. 3). Ein kurzer Ausblick rundet den Beitrag ab (Abschn. 4).

2

Flexibles Personalmanagement für agile Organisationen

Dynamik und Wandel haben in der Wirtschaft aufgrund immer kürzer werdender Produktzyklen und technologischer Neuerungen zugenommen. Durch die Digitalisierung sehen sich bisher erfolgreiche Geschäftsmodelle in ihrer Existenz gefährdet. Neue Player treten mit disruptiven Ideen auf den Markt und stoßen ganze Branchen in die Krise. Aber auch Ereignisse, wie das Platzen der New-Economy-Blase zu Beginn der 2000er-Jahre oder die Finanzkrise im Jahr 2008 erzeugten in vielen Unternehmen mehr oder weniger radikale Entscheidungen. Ohne Frage haben derartige Entscheidungen im Regelfall direkte

Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen

385

Auswirkungen auf den Bedarf an humanen Ressourcen, sei es in qualitativer oder quantitativer Hinsicht. Der Funktion des Personalmanagements kommt deshalb, sei es nun im Rahmen von Unternehmenskrisen (Kaiser et al. 2005) oder in Wachstums- und Umbruchszenarien eine bedeutsame Rolle zu. Wesentlich dabei ist insbesondere die Flexibilisierung oder im Ergebnis die Flexibilität der Ausstattung mit Humanressourcen (Abschn.  2.1). Diese wiederum ergibt sich aus unterschiedlichen Themen, die – neben den oben genannten – die Agilität der Organisationen treiben (Abschn. 2.2).

2.1

Flexibilisierung der Personalausstattung

Flexibilität lässt sich allgemein als Anpassungsfähigkeit eines Systems gegenüber neuen Umweltbedingungen beschreiben. Folglich wird unternehmerische Flexibilisierung in der Literatur prinzipiell als eine adäquate Maßnahme zur Handhabung von Komplexität und Dynamik gesehen. Gleiches gilt für die Flexibilität bzw. Flexibilisierung im Bereich des Personalmanagements (Wright und Snell 1998). Auch diese trägt zur Erhöhung der unternehmerischen Handlungsfähigkeit bei. Scholz (2000, S. 69) bezeichnet die Flexibilisierung sogar als ein Grundpostulat des Personalmanagements. Das am häufigsten aufgegriffene Konzept eines flexibilitätsorientierten Personalmanagements geht auf die frühen Ausführungen von Atkinson (1984, 1985) zurück. Seit seinen Veröffentlichungen wird die Flexibilität im Bereich Personal meist entlang von vier Dimensionen beschrieben (s. auch Kaiser et al. 2005): • Funktionale Flexibilität: Die funktionale Flexibilität zielt auf eine Verbreiterung und Generalisierung von Mitarbeiterqualifikationen bzw. Stellenbeschreibungen ab, um deren interne und externe Beschäftigungsfähigkeit, d. h. ihre Employability zu steigern. • Numerische Flexibilität: Die numerische Flexibilität bezieht sich auf die quantitative Anpassbarkeit der Personalausstattung. Hierbei geht es in erster Linie um die Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse bzw. den Aufbau einer Randbelegschaft, wo­ runter z. B. befristet Beschäftigte, Zeitarbeitsnehmer oder Soloselbstständige (Freelancer) zu subsumieren sind. In einem zweiten Schritt ermöglicht die Randbelegschaft auch Zugang zu neuartigem Wissen, sodass dadurch die funktionale Flexibilität indirekt unterstützt wird. • Zeitliche Flexibilität: Die zeitliche Flexibilität entsteht durch die Möglichkeiten der chronometrischen und chronologischen Variation der Arbeitszeit. Chronometrie beschreibt das Arbeitszeitbudget je Person und Zeitabschnitt, während die Chronologie die Lage des Arbeitszeitbudgets auf der Zeitachse bestimmt (Drumm 2000). • Finanzielle Flexibilität: Im Rahmen der finanziellen Flexibilität werden Vergütungsbestandteile variabilisiert, indem beispielsweise umsatz- oder gewinnbezogene Bestandteile in der Vergütung ausgeweitet werden. Neben dieser direkten Form der finanziellen Flexibilität existiert die Option, diese indirekt zu erhöhen durch eine Variation der funktionalen, numerischen und zeitlichen Flexibilität.

386

S. Kaiser et al.

Durch die eben genannten Dimensionen der Flexibilisierung, insbesondere aber die funktionale und numerische, eröffnen sich Handlungsspielräume auf dem Weg zu agilen Organisationen. Hinzukommen müssen allerdings seitens des Personalmanagements die Handlungsschnelligkeit bzw. -bereitschaft, um die potenziellen Handlungsspielräume auch zu nutzen (vgl. allgemein Sanchez 1995). Eher weiche Faktoren, wie die mentale Flexibilität von Mitarbeitern und Führungskräften, die Unternehmenskultur und die organisationale Lernfähigkeit spielen also eine ebenso große Rolle in modernen, als agil oder fluid bezeichneten Organisationen. Dies und die Auswirkungen auf die Flexibilitätsanforderungen soll im Folgenden anhand von unterschiedlichen Themen der agilen Organisation weiter vertieft werden.

2.2

Themen der Flexibilisierung in agilen Organisationen

Kaiser und Kozica (2015) argumentieren, dass digitale Technologien, die Vernetzung von Organisationen und Menschen, aber auch veränderte individuelle Werthaltungen eine substanzielle Veränderung der derzeitig vorherrschenden Organisationsformen bewirken. Die klassische Organisation galt als ein fixes hierarchisches Gebilde, in dem arbeitsvertraglich gebundene Mitglieder innerhalb formaler und informaler Strukturen unter Nutzung von Objekten (Gebäuden, Technologien etc.) arbeitsteilig an gemeinsamen Zielen arbeiten (Preisendörfer 2011). Die moderne Arbeitswelt wird jedoch stärker von agilen Formen der Zusammenarbeit und digitalen Formen der Zusammenarbeit gekennzeichnet sein (Bader et al. 2016). Hierdurch öffnen sich die Grenzen der Organisation und Organisationen werden zunehmend zu amorphen, fluiden Gebilden. Nach Kaiser und Kozica (2015) lassen sich institutionelle und strukturelle Öffnungsbereiche oder -themen unterscheiden (Abb. 1): • Unter institutioneller Öffnung wird verstanden, dass Zeiten und Orte der Arbeit zunehmend weniger festgelegt werden und die Mitgliedschaft in bzw. Zugehörigkeit zu Organisationen unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. • Strukturelle Öffnungen können in der Organisation horizontal oder vertikal verlaufen. Horizontal bedeutet eine grenzübergreifende Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens (z. B. über Projekte) oder über die Installation eines sog. zweiten Betriebssystems im Sinn Kotters (2014), in dessen Rahmen Mitarbeiter ad hoc zusammenkommen, um an innovativen Projekten zu arbeiten. Insbesondere ist mit der horizontalen strukturellen Öffnung auch die Ausdehnung der Wertschöpfung und Wissensgenerierung über die Organisationsgrenzen hinweg (z. B. Open Innovation) angesprochen. Mit der vertikalen Öffnung sind insbesondere Aspekte der Auflösung von Hierarchien und der Demokratisierung von Organisationen angesprochen. Im Zug des stärker werdenden Wunschs nach Agilität implementieren Organisationen beispielsweise zunehmend ortsunabhängige Arbeitsplätze und ermöglichen ihren Mitarbeitern damit mehr Freiräume in der zeitlichen Gestaltung der Arbeit. Statt einer rigiden und

Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen

387

Abb. 1  Öffnungsthemen in der agilen Organisation (leicht verändert nach Kaiser und Kozica 2015)

zentralistisch geführten Organisation findet Wertschöpfung vermehrt in Netzwerken, Kooperationen und gemischten Teams mit internen und externen Mitarbeitern statt. Innovative Produkte werden verstärkt in offenen Netzwerken entwickelt, die nur z. T. von Unternehmen gesteuert und beeinflusst werden, beispielsweise bei Open-Innovation- und Crowd-Sourcing-Projekten. Vielfach entwickeln zahlreiche einzelne Mikro-Entrepreneure mit ihren Kleinunternehmen gemeinsam neue Trends und innovative Ideen (Munoz 2010). Zugleich verlagern Unternehmen in zunehmendem Maß einen Teil der Wertschöpfung auf externe Mitarbeiter oder Dienstleistungsbüros – und zwar auch in „core value-creation areas“ (Nesheim 2003; Rössing und Kaiser 2012). Durch den Einsatz von beispielsweise Freelancern in Kernprozessen der betrieblichen Tätigkeit jedoch löst sich das Kriterium der formalen Mitgliedschaft auf, ebenso wie das der Hierarchie, wenn beispielsweise an die Stelle der hierarchischen Einbindung der Werkvertrag tritt (Kozica et al. 2013). Ein besonders prägnantes Beispiel in diesem Zusammenhang ist IBM, das im Jahr 2012 verkündete, 8000 Stellen zu streichen und durch Freelancer zu ersetzen. Die dadurch geschaffene Liquid Workforce soll dazu beitragen, dass IBM flexibler wird und auf Markterfordernisse mit dem zeitlich passenden Einkauf von spezifischen Kompetenzen reagieren kann. Das Wissen der stabilen Netzwerke, in denen die Organisation dann tatsächlich bei Bedarf die erforderlichen Kompetenzen rekrutieren kann, werden damit zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren (Matusik und Hill 1998). Damit kommen die Organisationen auch den Individuen entgegen, die selbstbestimmter und freier arbeiten wollen. Dies trägt zum einen dazu bei, auch bei knapper werdendem Arbeitskräfteangebot und einem verschärften Wettbewerb um Talente, attraktiv genug zu sein, genügend Mitarbeiter gewinnen und motivieren zu können. Zum anderen erhöhen die Organisationen ihre Flexibilität. Die neuen Technologien erlauben es, in größerer Zahl freie Mitarbeiter und Dienstleistungsbüros in die Wertschöpfung einzubeziehen und bieten Organisationen dadurch die Möglichkeit, schneller auf geänderte Umweltanforderungen zu

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S. Kaiser et al.

reagieren. Durch diese Entwicklungen werden Organisationen zunehmend zu netzwerkähnlichen Konstrukten der Wertschöpfung, in denen ein grundlegender Teil der Wertschöpfung ausgelagert wird: Entweder auf den Mitarbeiter, der durch seine ungeregelte Arbeitszeit und seinen ungeregelten Arbeitsort selbst entscheiden kann, wann und wo er für das Unternehmen Werte schöpft, oder auf externe Mitarbeiter und Dienstleistungsunternehmen.

3

 ukunftsfähigkeit durch professionalisiertes Z Personalmanagement

Das Management einer flexibilisierten und zukunftsfähigen Personalausstattung erfordert eine Professionalisierung des Personalmanagements. Notwendige Grundlage eines Professionalisierungsprozesses ist die permanente Reflexion des Personalmanagers über seine eigene Rolle sowie über die von ihm ausgeführten Handlungen und deren Ergebnis. Reflexion allein ist aber nicht ausreichend. Erstens ist es zusätzlich notwendig, dass der Personaler vor dem Hintergrund eines spezifischen Erfolgsverständnisses über seine Rolle und Arbeit nachdenkt. Was dabei den Erfolg der Personalarbeit ausmacht ist jedoch keine triviale Frage. Fest steht, und dies kann als Leitidee dienen, dass Personalmanagement immer mit zur Zukunfts- und Fortschrittsfähigkeit der Organisation beitragen sollte. Zweitens muss die Reflexion im Sinn eines Lernprozesses in einer Veränderung der Personalmanagementpraktiken, der zugrunde liegenden Fähigkeiten und gegebenenfalls institutionellen Strukturen resultieren, d. h. in einer Weiterentwicklung der Personalarbeit, die wiederum dem Erfolg der Personalarbeit zuträglich ist. Bricht man diese Überlegungen weiter he­ runter, so lassen sich zwei Aspekte im Zusammenhang mit einem agilen Personalmanagement näher beleuchten: Erstens die Entwicklung von Fähigkeiten und Praktiken eines Personalmanagements für agile Strukturen (Abschn. 3.1) und zweitens den Aufbau agiler Strukturen für die Organisation des Personalmanagements (Abschn. 3.2).

3.1

Entwicklung neuer Fähigkeiten und Praktiken

In der aktuellen, v. a. auch in der Unternehmenspraxis und -beratung geführten Diskussion zum Thema agile Organisation ist man sich einig, dass die zunehmende Agilität die Organisation in vielerlei Dimensionen berührt, von denen sich nur einige hier skizzieren lassen (Abb. 2): • Organisationale Strukturen und Prozesse werden vernetzter und beschleunigt, nicht zuletzt aufgrund der Einführung eines zweiten Betriebssystems für innovative Projekte und aufgrund der Öffnung der Organisationsgrenzen nach außen. • Führungsorganisation und Entscheidungsgremien werden partizipativer und demokratischer gestaltet, bei gleichzeitigem Versuch, Entscheidungsgeschwindigkeiten zu erhöhen.

Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen

389

Abb. 2  Teildimensionen der organisationalen Agilität

• Werte der Unternehmenskultur und das Mindset von Mitarbeitern und Führungskräften müssen sich neuen Arbeitspraktiken anpassen. • Vernetzung und Kommunikation über Technologien und in virtuellen Welten nehmen zu. • Die Infrastruktur und die Gestaltung von Arbeitsplätzen passen sich den neuen agilen Arbeitspraktiken an. In der Mitte all dieser Dimensionen stehen die Mitarbeiter und ihre Führungskräfte, die als Objekte des Personalmanagements mit den Veränderungen im positiven und negativen Sinn konfrontiert sind. Um dies als Personalmanagement zu adressieren, sind bestehende Fähigkeiten und Personalpraktiken auszubauen, zu modifizieren bzw. auch neu zu ­entwickeln: • Beispielsweise sind im Rahmen der Personalauswahl eignungsdiagnostische Instrumente zu entwickeln, mit deren Hilfe die Selektion agil-fähiger Mitarbeiter und Führungskräfte gelingt. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, da agiles Arbeiten auch zu einer deutlichen Überforderung der Mitarbeiter führen kann, wenn diese dafür mental und bezüglich ihrer Fähigkeiten nicht geeignet sind.

390

S. Kaiser et al.

• Neu geplant werden müssen zudem Karrierepfade und Entwicklungsmöglichkeiten in flacheren und agilen Unternehmensstrukturen. Die bisherigen Systeme der Führungsund Fachlaufbahnen scheinen in agilen und flexibilisierten Strukturen überholt zu sein. Stärker projektbasierte Karrieren kombiniert mit demokratischen Instrumenten, wie der Wahl und auch Abwahl von Führungskräften, werden deshalb zurzeit intensiv diskutiert. • Ebenso sind die Systeme der Leistungsbeurteilung dahingehend anzupassen, dass sie sich für die neuen Formen der fluiden Arbeit im zweiten Betriebssystem der Organisation eignen. Fraglich ist zudem, ob sich etablierte Anreizsysteme und Zielvereinbarungen beibehalten lassen. Für die agile Arbeit müssten diese konsequenterweise überdacht werden und aufgrund der Vernetzung der Arbeit weniger individualisiert, sondern stärker kollektiv ausgestaltet werden. Auswirkungen hat dies wiederum auf die bestehenden Vergütungsstrukturen, die Gültigkeit von Eingruppierungen etc. • Die Felder der Personaleinsatzplanung und der Stellenbesetzung können in einigen Bereichen, wie z. B. der Montage in der industriellen Fertigung am Band, unverändert bleiben. In agilen Strukturen, in denen Personaleinsatz ad hoc auf Zuruf und selbstorganisatorisch gestaltet werden soll, muss sich das Personalmanagement jedoch von etablierten Instrumenten verabschieden. Dies führt zu einer zunehmenden Komplexität der Personalplanung, da unterschiedliche Systeme vorgehalten werden müssen. Aufgrund der Grenzöffnung und der numerischen Flexibilisierung der Personalausstattung rücken noch weitere Fragen in den Vordergrund. So ist beispielsweise zu beantworten, welche Konzepte und Instrumente des Personalmanagements für die neuen Beschäftigungsformen geeignet sind und welche nicht? Wie können Unternehmen Soloselbstständige und Click-Worker motivieren, die zwar ihrem Status nach extern sind, aber vor Ort oder in virtuellen Räumen ihre Leistung erbringen und in die betrieblichen Leistungsprozesse unmittelbar eingebunden sind? Wie lässt sich die Karriere der neuen Beschäftigten (mit-)planen, wie ihre Weiterbildung? Darüber hinaus ist zu beachten, dass eine zukunftsorientierte Flexibilisierung und Agilität gleichzeitig Stabilitätsmomente erfordert (Kaiser und Bonss 2012). Denn die Bindung von Mitarbeitern trotz aller Agilität und Flexibilität stellt v. a. für wissensintensive Unternehmen weiterhin einen strategischen Erfolgsfaktor dar und trägt wesentlich zur Steuerung dieser Unternehmen bei (Loscher 2016). Es ist deshalb nicht im Interesse des Unternehmens, die Personalausstattung als strategische Ressource vollständig zu flexibilisieren. Elemente der Bindung, der Identifikation mit dem Unternehmen und seinen Produkten werden weiterhin wichtig sein. Grundsätzlich muss das Unternehmen ein stabiler, attraktiver und verlässlicher Arbeitgeber auch für flexible Beschäftigte werden. Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels in der Praxis zunehmend wichtig.

Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen

3.2

391

Agile Strukturen eines zukunftsfähigen Personalmanagements

Eine Grundannahme dieses Beitrags ist es, dass das Personalmanagement die Zukunftsfähigkeit der Organisation nur dann unterstützen und befördern kann, wenn es selbst organisatorisch und strategisch auf die eigene Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist. Das zukunftsfähige Personalmanagement ist deshalb nicht nur gefordert, die wachsende Flexibilisierung der Personalausstattung und die zunehmende Agilität von Organisationen mitzugestalten. Vielmehr ist die Personalarbeit auch selbst Objekt der Flexibilisierung und zunehmender Agilität. Gleichzeitig ist das Personalmanagement aber gefordert, bestehende und funktionierende Prozesse und Personalpraktiken weiter zu optimieren. Das Personalmanagement befindet sich folglich in einer Situation, in der es gewissermaßen beidhändig agieren muss. Es muss einerseits Agilität und Öffnung für Neues zulassen und andererseits Bestehendes bewahren und optimieren. In der Forschung spricht man in diesem Zusammenhang von der sog. Ambidextrie. Diese ist ein zentrales und wichtiges Konzept des strategischen Lernens in und von Organisationen. Allgemein geht es hierbei darum, zwei generische Strategien des organisationalen Lernens, der Exploration neuen Wissens und der Exploitation bestehender Routinen gerecht zu werden (u. a. Gibson und Birkinshaw 2004; Tushman und O’Reilly 1996). Beide Aktivitäten werden als die zentralen Faktoren langfristiger unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit betrachtet. In der frühen Konzeption wurden Exploration und Exploitation vornehmlich als Gegenpole betrachtet, zwischen denen ein unvermeidlicher Trade-off besteht, da sie um die gleichen knappen Ressourcen innerhalb der Organisationen konkurrieren. Jüngere Forschungsbemühungen charakterisieren Exploration und Exploitation hingegen zunehmend als unabhängige Modi organisationalen Lernens, die eine simultane Verfolgung dieser beiden komplementären Strategien zulassen (Gupta et al. 2006; Knott 2002). Vor diesem Hintergrund ist also möglich, dass sich das Personalmanagement durch die gleichzeitige Kopplung von Flexibilität, Innovation und neuen Kompetenzen auf der einen und Stabilität, Effizienz und Ausschöpfung bestehender Kompetenzen auf der anderen Seite kontinuierlich verändert und an eine dynamische Umwelt sowie die agile Organisation anpassen kann. Prinzipiell wären für ein solch beidhändiges Verhalten zwei Optionen möglich: • Zeitlich: Das Personalmanagement kennt Phasen der Stabilität, die sich mit Phasen der disruptiven Innovation abwechseln. Über einen längeren Zeitraum betrachtet ergibt sich ein Gleichgewicht zwischen Optimierung bestehender Praktiken und der Entwicklung neuer Praktiken. • Strukturell: Im Personalmanagement findet eine strukturelle und räumliche Trennung der exploitativen und explorativen Tätigkeiten statt. Konkret hieße das, dass auch im Personalmanagement im Sinn Kotters (2014) ein zweites Betriebssystem etabliert wird, das als eine Art agiler Forschungs- und Entwicklungsbereich innovative Personalpraktiken für die agile Organisation vorantreibt.

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Ergänzt werden die beiden genannten Optionen durch kontextuelle und institutionelle Überlegungen. Zum einen wird durch den kulturellen Kontext mitgeprägt, wie stark das Personalmanagement in innovative Praktiken investiert. Zum anderen lassen sich Institutionen schaffen, die durch Beobachtung und Reflexion der eigenen Organisation und deren Umfeld zu einer Balance von Innovation und Routinen im Bereich des Personalmanagements kommen. Was heißt dies nun konkret für das agile Personalmanagement in agilen Organisationen? Zunächst erscheint es für die eigene Agilität des Personalmanagements zielführend, eine permanente Innovationsstruktur zu schaffen, die zeitlich variierend mit ausreichend Personalkapazitäten und Budgets ausgestattet ist und sich als agiles zweites Betriebssystems des Personalmanagements versteht. Dementsprechend sind die entstehenden Strukturen in zweierlei Hinsicht zu öffnen. Einmal geht es um die Öffnung dieser Strukturen nach außen, um Trends in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft und in der technologischen Entwicklung frühzeitig zu erkennen. Dies gelingt durch Beobachtungen von Trends auf Kongressen, in Medien, Verbänden oder optimalerweise durch eigene Zukunftsforschung zu Personalthemen und Arbeitswelt. Zweitens geht es um die Öffnung der Strukturen nach Innen in die eigene Organisation, um Bedarfe bei Mitarbeitern, Führungskräften und in der Linie zu identifizieren. In der Praxis erweist es sich dabei auch in agilen Organisationen als hilfreich, die volle Unterstützung des Topmanagements sicherzustellen. Darüber hinaus benötigt das Personalmanagement Absorptionsfähigkeiten, um interne und externe Trends und Wissen für die Entwicklung innovativer Personalpraktiken nutzen zu können. Es muss Entwicklungen in und außerhalb der Organisation identifizieren und hinsichtlich der Relevanz einschätzen können. Nach entsprechender Interpretation und dem Verständnis der Entwicklungen gilt es schließlich, unternehmensspezifische Formen von innovativen Personalpraktiken zu finden, weiterzuentwickeln und tatsächlich umzusetzen.

4

Zusammenfassung und Ausblick

Die Dynamik und Komplexität der Wirtschaft und die dadurch induzierte zunehmende Agilität von Organisationen stellt hohe Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit des Personalmanagements. Ausgehend von der These, dass das Personalmanagement nur dann zukunftsfähig ist, wenn es auch die Zukunftsfähigkeit der Organisation unterstützt, lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens muss das Personalmanagement die Flexibilität der Personalausstattung in agilen Organisationen sicherstellen. Hierfür sind neuartige Kompetenzen und Personalpraktiken zu entwickeln. Damit diese Entwicklung gelingt, scheint es zielführend, dass auch das Personalmanagement sich selbst agilere Strukturen verordnet. Allerdings ist auch auf Momente der Stabilität hinzuweisen, für die das Personalmanagement besondere Verantwortung tragen kann. Vor diesem Hintergrund liegt ein

Zukunftsfähiges Personalmanagement für agile Organisationen

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systematischer und reflektierter Umgang mit dem Thema Agilität nahe. Dieser kann wiederum durch Beantwortung von vier Fragen gelingen: • Welche Teildimensionen der organisationalen Agilität sind für das Personalmanagement von Bedeutung? Diese lassen sich einem Atlas der Agilität abbilden, um einen Überblick zu betroffenen Themen der Agilität zu erhalten. • Wie lässt sich die organisationale Agilität in ihren Dimensionen messen? Ein Agilitätsindex hilft dabei, die unternehmensspezifische Ausgangslage zur Agilität im Personalmanagement und darüber hinaus zu bestimmen. • Welches Ausmaß an Agilität soll in welchen Teildimensionen erreicht werden? Nur ein Agilitätskompass gibt dem Personalmanagement eine Vorstellung darüber, welche Ziele für das Management der eigenen Agilität gelten sollen. • Wie lässt sich das gewünschte Ausmaß an Agilität in den ausgewählten Teildimensionen erreichen? Erst eine konkrete Agilitätsagenda ermöglicht die Ableitungen von Maßnahmen und Instrumente für eine Veränderung in Richtung Agilität. Ein Atlas der Agilität, die Bestimmung des Agilitätsindex und ein Agilitätskompass sind folglich auch für die Agilitätsagenda des Personalmanagements unerlässlich.

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Univ.-Prof. Dr. Stephan Kaiser  ist seit dem Jahr 2009 Inhaber der Professur für ABWL, Personalmanagement und Organisation und im Vorstand des Instituts für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München. Seine Promotion und Habilitation erfolgten an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, sein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Regensburg sowie an der University of Wales, Swansea. Professor Kaiser ist aktuell Mitglied im Arbeitskreis Unternehmensführung der Schmalenbachgesellschaft e. V. und ist Vorsitzender der wissenschaftlichen Kommission Personalwesen im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB). Die Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Personal, Organisation und Unternehmensführung.

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Prof. Dr. habil. Arjan Kozica  hat an der Universität der Bundeswehr München Wirtschafts- und Organisationswissenschaften studiert, über eine Arbeit zum Thema „Personalethik“ promoviert und über das Thema „Paradoxien in Organisationen“ habilitiert. Er war als Fach- und Führungskraft mehrere Jahre in der Bundeswehr tätig, u. a. als wissenschaftlicher Referent und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr (Hamburg). Seit September 2015 ist er als Professor für ­Organisation und Leadership an der ESB Business School (Reutlingen) tätig. Schwerpunkte seiner Forschung liegen in den Bereichen Organisation, Personal und Nachhaltigkeit.

Dr. Georg Loscher  hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Betriebswirtschaftslehre studiert und an der Universität der Bundeswehr München über die „Steuerung von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften“ promoviert. Aktuell arbeitet er als Postdoc am Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen im Bereich Personal, Organisation und Unternehmens­ führung.