Festschrift für Peter Metz [Reprint 2018 ed.] 9783111503721, 9783111137049

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Festschrift für Peter Metz [Reprint 2018 ed.]
 9783111503721, 9783111137049

Table of contents :
TABULA GRATULATORIA
PETER METZ ZUM 60. GEBURTSTAG
Antike und frühchristliche Allegorik
Der Griff ans Handgelenk
Kaisertum und Reform als Bauherren in Hochkarolingischer Zeit
Nachträge zur spätkarolingischen und frühottonischen Goldschmiedekunst
Eine Gruppe insularer Kelche des frühen Mittelalters
Ein ottonisches Kreuz in der Minoritenkirche zu Köln
Eine Miniatur zur Meßfeier im Berliner Kupferstichkabinett
Drei figürliche Holzschnitzereien fatimidischer Zeit
Eine romanische Grubenschmelzplatte des Berliner Kunstgewerbemuseums
Die Nürnberger Frauenkirche - Idee und Herkunft ihrer Architektur
Das Tetraptychon von Helmstedt
Eine »neue« Madonnenstatue aus dem alten Bestand der Berliner Museen
Eine burgundische Madonna in Südlothringen
Die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht
Das Vituslegenden-Fenster im Chor der Pfarrkirche zu Iphofen
Die Madonna aus dem Junge-Altar in Stralsund
Unsymmetrische Raumformen im spätgotischen Kirchenbau Süddeutschlands und Österreichs
Zur Assunta-Phase in Deutschland
Ein unbekannter Entwurf Hans Burgkmairs für das Reiterdenkmal Kaiser Maximilians
Beiträge zu Benedikt Dreyer
Peter Trünklin - Ein Nördlinger Bildschnitzer der Dürerzeit
Die Anbetung des Kindes bei Nacht im Dom zu Krakau
Schmerzensmann und Schmerzensmutter nach Lucas van Leyden
Ein wiederentdecktes Gemälde von Gerrit Dou
Beiträge zum Werk des Georg Strauch
Zum Spätwerk von Johann Baptist Straub und zur Ausstattung der Stiftskirche in Wiesensteig
Die Kunst des Hans von Marees als Verschmelzung von Realistik und Klassizismus
Grundsätzliches zur Steinkonservierung und -restaurierung
Vom Ort des Kunstwerks im Museum
VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN VON PETER METZ

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FESTSCHRIFT FÜR PETER METZ

ARCHIV-NR. 3526651 . © 1965 BY WALTER DE GRUYTER

8c CO., VORMALS

G. J . GÖSCHEN'SCHE

VERLAGSHANDLUNG J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG GEORG R E I M E R - K A R L J. TRÜBNER VEIT & COMP., BERLIN 30. PRINTED

IN GERMANY - ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER

OBERSETZUNG I N FREMDE SPRACHEN VORBEHALTEN. O H N E AUSDRÜCKLICHE GENEHMIGUNG DES VERLAGES IST ES N I C H T GESTATTET,

DIESES BUCH ODER TEILE DARAUS AUF

NISCHEM WEGE (PHOTOKOPIE, MIKROKOPIE) ZU VERVIELFÄLTIGEN

BUCHGESTALTUNG PAQUITA KOWALSKI TANNERT, BERLIN

PHOTOMECHA-

FESTSCHRIFT FÜR PETER METZ

HERAUSGEGEBEN VON URSULA SCHLEGEL UND CLAUS ZOEGE VON MANTEUFFEL

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN

TABULA GRATULATORIA

Hanns Schrott-Fiechtl f , Bildnis Feter Metz Otto Seel, Antike und frühchristliche Allegorik

11

Walter Loeschcke, Der Griff ans Handgelenk

46

Edgar Lehmann, Kaisertum und Reform als Bauherren in hochkarolingischer Zeit

74

Hermann Schnitzler, Nachträge zur spätkarolingischen und frühottonischen Goldschmiedekunst 99 Victor H. Elbern, Eine Gruppe insularer Kelche des frühen Mittelalters 115 Peter Bloch, Ein ottonisches Kreuz in der Minoritenkirche zu Köln

124

Frauke Steenbock, Eine Miniatur zur Meßfeier im Berliner Kupferstichkabinett

135

Kurt Erdmann "j", Drei figürliche Holzschnitzereien fatimidischer Zeit

148

Dietrich Kötzsche, Eine romanische Grubenschmelzplatte des Berliner Kunstgewerbemuseums 154 Günther Bräutigam, Die Nürnberger Frauenkirche - Idee und Herkunft ihrer Architektur 170 Wolf gang Scheffler, Das Tetraptychon von Helmstedt 198 Ursula Schlegel, Eine »neue« Madonnenstatue aus dem alten Bestand der Berliner Museen 204 J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Eine burgundische Madonna in Südlothringen 214 Gottfried und Ursula Frenzel, Die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht

224

Heinrich Ragaller, Das Vituslegenden-Fenster im Chor der Pfarrkirche zu Iphofen 239 Ursel Grohn, Die Madonna aus dem Junge-Altar in Stralsund

249

Joachim Büchner, Unsymmetrische Raumformen im spätgotischen Kirchenbau Süddeutschlands und Österreichs 256 Karl Oettinger, Zur Assunta-Phase in Deutschland 282

Fedja Anzelewsky, Ein unbekannter Entwurf H a n s Burgkmairs f ü r das Reiterdenkmal Kaiser Maximilians 295 Gert von der Osten, Beiträge zu Benedikt Dreyer

305

Karl-Adolf Knappe, Peter Trünklin - Ein Nördlinger Bildschnitzer der Dürerzeit 315 Friedrich Winkler, Die Anbetung des Kindes bei Nacht im Dom zu K r a k a u

337

Gerhard Bott, Schmerzensmann und Schmerzensmutter nach Lucas van Leyden

345

H a n s W. Grohn, Ein wiederentdecktes Gemälde von Gerrit Dou

361

Günther Schiedlausky, Beiträge zum Werk des Georg Strauch

366

Rüdiger Kiessmann, Zum Spätwerk von Johann Baptist Straub und zur Ausstattung der Stiftskirche in Wiesensteig 379 Peter Krieger, Die Kunst des H a n s von Marees als Verschmelzung von Realistik und Klassizismus 388 Artur Kratz, Grundsätzliches zur Steinkonservierung und -restaurierung

400

Claus Zoege von ManteufFel, Vom O r t des Kunstwerks im Museum

405

Paquita Kowalski Tannert, Gestaltung des Bandes Bibliographie Peter Metz 412

SPENDER

Berliner Bank AG Berliner Disconto Bank AG Deutsche Bank AG DIWAG Chemische Fabriken GmbH Berlin Erba Aktiengesellschaft für Textilindustrie Erlangen Henkel und Cie GmbH Düsseldorf Mannesmann AG Düsseldorf Xaver Scheidwimmer München Anna Maria Schrimpf Dingolfing Hermann Schwartz Mönchengladbach-Hardt Und mehrere Spender, die nicht genannt werden möchten

PETER METZ ZUM 60. GEBURTSTAG

Als die Herausgeber dieses Bandes Freunde, Kollegen und Schüler von Peter Metz einluden, zu einer Festschrift zu seinem 60. Geburtstage beizutragen, begründeten sie dies mit den Worten: »Die beabsichtigte Ehrung scheint den Herausgebern gerechtfertigt und angemessen, da Professor Metz als Museumsmann, als Forscher und als Lehrer der heutigen Kunstwissenschaft Impulse gegeben hat, die weiterwirken werden.« Mit der Herausgabe der Festschrift sei der Wunsch an Peter Metz verbunden, er möge seinen Freunden und Kollegen weiterhin wie bisher Anregungen in dem gemeinsamen Fach geben. Das Manuskript der Festgabe wurde dem Jubilar am 26. September 1961 überreicht. Daß sie nun im Druck erscheinen kann, ist den deutschen Firmen, die großzügige Spenden beisteuerten, und dem Entgegenkommen des Verlages zu verdanken, nicht zuletzt auch dem Verständnis und der Geduld aller Beteiligten.

Berlin, im Mai 1964 Ursula Schlegel

Claus Zoege von Manteuffel

OTTO SEEL • A N T I K E U N D F R Ü H C H R I S T L I C H E ALLEGORIK

Denn kein Ding kann »von außen her« erkannt werden, sondern nur von seiner Mitte her . .. PETER M E T Z

In kaum einem Bereich sind Kunstwissenschaft und Philologie so sehr auf wechselseitige H i l f e angewiesen wie in dem des Allegorischen, der Mythologie, der Symbole, Personifikationen, Parabeln, Metaphern, Sinn- und Inbilder. Und kaum eines Gespräches mit Peter Metz, dem diese Zeilen in alter Freundschaft gewidmet sind, entsinne ich midi, in dem nicht dieser Komplex und das darin immer wieder zu spielende Verständnisspiel von Eigentlichkeit und Uneigentlidikeit im Blickfeld gelegen hätte - unvergeßlich die kahle Stele in Vaison la Romaine mit dem Schmuck eines einzigen Ohres, eines Menschenohres als des Organes der vernehmenden Vernunft, eindringlicher noch die gemeinsam gehörte stumme Verkündigung der Säulenstellungen von Vezelay: die zwölf Jünger, unter ihnen das kantige Skandalon des Ischariot, und Christus mit der Kreuzesblume . . . : Symbole? Allegorien? Personifikationen? Metamorphosen? Gleichnisse? Oder alldies oder was sonst? Viel

Scharfsinn

und

Deutungskunst,

mit

bald

feinfühligen

bald ausgetüftelten

Distinktionen, wurde daran gewendet, die Dinge terminologisch, definitorisch, begrifflich auseinanderzunehmen und die Grenze festzulegen, w o das eine aufhört und das andere beginnt 1 . Nicht, als ob dies für unnütz zu halten wäre: Daß es, zum Beispiel, ganz verfehlt ist bei den »redenden Namen« und sehr durchsiditigen Gestalten Hesiods: Gesetzlichkeit, Recht und Frieden als Töchter von Zeus und »Satzung«, dagegen Tod, Kränkung, Trug, 11

Alter und H a d e r die Kinder der Nacht - von blanker »Allegorie« zu reden, so als

würde ein vorgedachter abstrakter Denkinhalt erst sekundär maskiert, »anders gesagt«, sondern daß hier eine primäre Weise des Welterlebnisses am Werke ist, wobei Sachverhalte, die der moderne Mensch auf die Alternative des Innen und Außen zu verteilen nicht umhin kann, noch in einheitlicher Bindung und Gestalt wahrgenommen sind 2, diese Erkenntnis f ü h r t zweifellos tief in die Struktur archaischen Welt- und Selbstverständnisses hinein. Trotzdem: Je feiner die Sonden zugespitzt werden, um so eher werden sie brüchig; es besteht die Gefahr, daß das in einer tieferen Schicht dennoch Zusammengehörige terminologisch auseinandergerissen, und umgekehrt das wesentlich Verschiedene, nur weil es sich unter demselben formalen Begriff subsumieren läßt, unzulässig in Eins gesehen wird. U n d damit sind wir genau bei der Frage, die hier mehr nur gestellt als exakt beantwortet werden soll und deren Kern sich andeutet in dem Satz, der dieser sehr aphoristischen Betrachtung vorangestellt ist: Natürlich bleibt es wichtig, auf Sauberkeit der formalen Kategorien zu dringen und das als Werk objektiv Vorfindliche in seinem Befund präzise zu beschreiben. N u r darf man sich dadurch nicht verhindern lassen mit der Möglichkeit zu rechnen, daß das in der Deskription Gleiche dennoch ein sehr Ungleiches sein kann, und umgekehrt, je nach der Mitte, dem das Werk in der hervorbringenden Person zugeordnet ist und die mit der scheinbaren Gleichheit der Formen keineswegs die gleiche zu sein braucht. Übrigens könnte jener Satz, wenn man ihn sehr scharf zu nehmen gedächte, überhaupt die Möglichkeit echter Antikeninterpretation in Frage zu stellen scheinen, insofern man zweifeln mag, ob es je und je einem Menschen möglich sei, sich seiner eigenen Mitte so völlig zu entäußern, so aus sich selber herauszutreten, in ein fremdes Zentrum einzutreten, daß echtes Verstehen gelingen kann. Man könnte von da aus zu nachdenklichen Folgerungen kommen: etwa zu der, daß es tatsächlich so zu sein scheint, daß einer immer differenzierter und subtiler gewordenen Antikenauslegung eine immer dünner und brüchiger gewordene eigene Standortsgebundenheit der Interpreten selbst zugeordnet sei, sei es als kosmopolitische Ubiquität oder als so etwas wie apollinisches oder dionysisches Neuheidentum: Aber auch und gerade dabei liegt im Hintergrunde wohl immer ein Mißverständnis, verborgener zwar, aber weitaus beeinträchtigender als nur irgend ein naiver Anachronismus aus Karolingerzeit, Renaissance oder Barock: daß nämlich dabei am Ende überhaupt nichts genuin Menschliches mehr verstanden und vernommen wird und nichts übrigbleibt als die bare Impotenz des Ästhetischen. Aber davon genug: es will nichts »klären«, sondern nur an eine Vorverständigung appellieren, deren wir ohnehin bewußt und gewiß sind 3 . 1 Es ist schon gesagt, daß der Begriff der Allegorie f ü r Hesiod nicht wirklich trifft, ja auch die Bezeichnung als »Personifikation« schließt den gleichen Fehler ein: als ob etwas primär Unpersönliches erst sekundär zur Person »gemacht« würde. Das gilt f ü r die archaische und klassische Zeit Griechenlands durchwegs. Das Ende bezeichnet sich, nach Karl Reinhardt 4 , dadurch, »daß der Vorgang der Vergöttlichung bewußt wird«; als früheste Belege dafür werden die Preisrede des Euripides-Schülers Agathon auf den

12

Eros, in Piatons »Gastmahl«, und Lysipps »Kairos«-Statue - also Wortkunst und Plastik synchron - bezeichnet 5 . Freilich: Die Rechnung der Systematik geht nicht ohne Rest auf, und zwar, wie mir scheint, aus drei Gründen, deren jeder eigene Erwägung verlangt: Erstens: Für uns zwar stellt sich das Problem als Alternative: »noch« Gestalt und Person, oder »schon« Idee, Gedanklichkeit, Abstractum 6 ? Indem wir, aus wahrlidi guten Gründen, f ü r das Altgriechische das Zweite als unzureichend erkennen, geraten wir unvermerkt gleich ins Gegenteil, glauben »Person«, Gestalt, Gott oder Dämon zu fassen, der zwar auf ein Gemeintes hindeute, aber dieses Gemeinte nicht selbst und zugleich sei. Es fällt uns nicht sehr leicht, zu verstehen, daß hier Person und Abstractum ein und dasselbe sind, ein ambivalenter Komplex, der zwar falsch angesprochen wird, wenn man ihn lediglich von der »allegorischen« Seite her anspricht, aber ebenso teilhaft und stückweise begriffen würde, wenn man nur Gestalt, Person, Numen gelten ließe, das zu dem damit Gemeinten, irgendwie freilich darin Angespielten in einem nur lockeren und mittelbaren Verhältnis stünde: Gewiß geht von solcher Verfremdung und Distanzierung des zunächst so Einsehbaren eine merkwürdige Faszination aus, so, als wäre es das A und O rechter Interpretation, nur ja nicht das verstehen und fühlen zu dürfen, was über zweieinhalb J a h r tausende hinweg gewirkt hat und ergriffen wurde, sondern eben nur etwas ganz Fremdes, dem wir uns gar nicht oder mit Zwischenschaltung von tausend Korrektiven hingeben dürften. Reinhardt konstatiert knapp und peremptorisch: »Archaisches und Klassisches kennt Allegorisches noch nicht«; das ist zunächst zwar mit Abgrenzung auf die bildende Kunst gesagt, wird aber gleich ins Allgemeine ausgeweitet: »Audi was zuerst so aussehen könnte, entpuppt sich als Personifikation*. Allegorie ist dualistisch, sieht es ab auf Sprengung der Gestalt; als allgemeine Geistesform bedeutet sie die Spiritualisierung Gottes und der Welt. Die klassische Zeit der Allegorie und des Symbols ist darum erst die Spätantike«. Hier ist, wie man sieht, mit grobem Faden genäht - anders ist ja auch in der T a t mit so viel präziser Antithetik nicht durchzukommen 7 . Immerhin: Drei literarische Ausnahmen werden von Reinhardt konzediert und doch auch wieder nicht konzediert: bereits der um die Zeit von Christi Geburt lebende Homerallegoriker Herakleitos - und andere vor ihm - verweisen auf die homerischen Gestalten der »Bitten« und der »Verblendung« und auf die Schiffsallegorien des Archilochos und des Alkaios. Hier hilft nun wirklich nichts: wenn man weder die Augen vor klaren Tatbeständen schließen noch einen neuen, künstlich eingeengten Allegoriebegriff substituieren will, dann sind das »Allegorien« 8. Allegorien freilich, die auf einem anderen geistigen Boden gewachsen sind als diejenigen der Kaiserzeit oder des Barock; aber das Gefälle liegt nicht im Unterschied zwischen Allegorie und Nicht-Allegorie, sondern als mögliche Spannweite innerhalb des Allegorisch-Symbolischen selbst. Worum handelt es sich bei Homer? In der ernsten Mahnrede des alten Phoinix an seinen Zögling Achill begegnen die »Litai«, die »flehenden Bitten« - nach denen auch der ganze neunte Gesang heißt - , zusammen mit der »Ate«, der »Verblendung«: Voss hat resolut (und, wie moderne verfeinerte Einsicht, nicht zwar mit Unrecht, aber allzu scharf ausgrenzend sagen wird: 13

falsch) »Ate« mit »Schuld« übersetzt, damit ein subjektives, moralisierendes Element in

Homer hineintragend, das diesem, so wird man sagen, durchaus fremd ist, oder, wie wir sagen möchten: das dem Homer zwar keineswegs fremd, bei ihm aber noch im objektiven Bezug, in den Ordnungen, im Nomos, im Göttlich-Heteronomen geborgen, aufgehoben und dadurch nur um so dringlicher mit-gegenwärtig und wirkungsmächtig ist. Bei Voss heißt die Stelle so (Ilias 9,496): Zähme dein großes Herz, o Achilleus! Nicht ja geziemt dir Unerharmender

Sinn; oft wenden sich selber die

Die doch weit erhabner an Herrlichkeit,

Götter,

Ehr' und Gewalt sind.

Diese vermag durch Räuchern und demutsvolle 500 Durch Weinguß und Gedüft, der Sterbliche

Gelübde,

umzulenken,

Flehend, nachdem sich einer versündiget oder

gefehlet.

Denn die reuigen Bitten sind Zeus' des Allmächtigen Welche lahm und runzlig und scheeles Blicks

Töchter,

einhergehn,

Und stets hinter der Schuld den Gang zu beschleunigen

streben.

505 Aber die Schuld ist frisch und hurtig zu Fuß; denn vor allen Weithin läuft sie voraus, und zuvor in jegliches Land auch Kommt sie, schadend den Menschen; doch jen' als heilende Wer nun mit Scheu aufnimmt die nahenden Töchter Diesem helfen sie sehr, und hören auch seines

folgen.

Kronions,

Gebetes.

510 Doch wenn einer verschmäht, und trotziges Sinnes sich weigert; Jetzo flehen die Bitten, zu Zeus Kronion

gewendet,

Daß ihm folge die Schuld, bis er durch Schaden

gebüßet.

Zum Vergleich seien wenigstens die letzten drei Zeilen in der Übersetzung Rudolf Alexander Schröders wiederholt: Wer sie jedoch verschmäht und abweist, störrisches Dem erwirken sie droben mit Flehn beim Vater

Herzens,

Kronion,

Daß zu Schimpf und Schaden ihn selbst Verblendung

befalle.

Wie viel »Sinn« in diesen Gestalten: diese wunderlichen, unansehnlichen Reubitten, hinkend und verschrumpelt und schielend - und doch legitime Zeustöchter! Manches ist dazu gesagt, aber das Wesentliche, scheint mir, selten oder nie: daß hier, in der personalen Identität von Göttlichkeit und Schäbigkeit, eine unausgeglichene und unausgleichbare Spannung der Adelsprätention, die in dem Wort von der Kalokagathia sich selbst zur Formel wird 9 , aufbricht, sich selber in Frage stellt nicht anders als, umgekehrt, in der unnützen Schönheit des Paris und in der verlockend-verderblichen Zauberhaftigkeit der Helena: womit denn freilich diese heroische Welt aufhört eine harmonische Welt zu sein und dafür anfängt, eine wahrhaftige Welt zu werden: in der das Wechselspiel von »Pathos« und »Mathos«, von Leid und Lehre, gilt. Und daneben dann die »Ate«, gut also: die »Verblendung«, stolz und rasch und von Herzen rittermäßig, aber sie keine Tochter des Zeus, sondern dessen Instrument, hervorgerufen durch die Bitten, die selbst zu Bittenden werden, und in dieser merkwürdigen, wieder nicht ganz ausgeglichenen Doppelfunktion: daß sie in jedem Falle dem Menschen vorauseilt, so daß er dann der

14

»Litai« bedarf, daß er das Bitten »schuldig« wird; aber wenn er sich dieser Schuld weigert, dann doch auch wiederum, dieselbe Ate, ihm nachfolgend, nun wahrlich nicht mehr bloße »Verblendung«, sondern als ein Trauma, als ein Schatten, als ein Schuldbrief, der die göttliche Rache, die zugeteilte, angemessene und auf den Leib zugeschnittene Sühne in Funktion setzt: jene »Nemesis«, die dann, noch weit hintersinniger als hier, mit Herodots Kroisos und Polykrates und Dareios und Xerxes ihr undurchschaubares und hinterdrein doch als sinnvoll erkennbares Spiel treibt. Lassen wir, was sonst aus H o m e r einschlägig wäre, auf sich beruhen: etwa die Brüder »Schlaf« und »Tod« im 14. und 16. Iliasgesang und, im 4. und 13., die Dämonen des Kriegsschreckens, Phobos und Deimos, samt ihrer Schwester, der Haderdämonin Eris, im Gefolge des Kriegsgottes: »Personen«, die, einmal gewonnen, nicht mehr verlorengingen, sondern immer wieder aufgegriffen, neugedeutet, ergänzt: Hesiod wurde genannt, bei dem Lyriker Alkman begegnen Poros - der Weg, der R a t - als männliches, Aisa — das vom Geschick zugemessene M a ß - als weibliches Glied eines göttlichen uranfänglichen Paares, die Schiffsgleichnisse des Archilochos (fr. 56) und Alkaios (fr. 46) wurden bestritten, sind aber kaum bestreitbar, bei Pindar findet sich dies und jenes, was anzuschließen wäre; der Schreckensdämon »Phobos« wird wieder in Aischylos' »Sieben gegen Theben« (42 ff.) apostrophiert, und ebenfalls bei Aischylos, in einem freilich verlorenen Stück (»Xantriai«,), trieb »Lyssa«, die personal gefaßte dionysische Raserei, den Chor der Bakchen zur Zerreißung des Pentheus: all dies - und wer weiß wieviel anderes, Verlorenes, das sich anschlösse - läßt sich zur N o t vielleicht von der echten Allegorie im späteren Sinne abheben, als Dämonologie, als Extrapolation eines numinosen Aspektes.

15

Aber im späteren 5. - nicht erst im 4. - Jahrhundert verdichten sich die Einzelzüge zu einem Gesamtbild eines nicht mehr nur dämonischen Weltverständnisses, sondern einer wirklich allegorischen poetischen Technik. Mochte Aischylos' »Lyssa« noch nichts anderes sein als exogen begriffene Innerlichkeit, nicht viel anders als bei H o m e r das »menos«, der Mut eines Helden, nichts außerhalb seiner selbst Existentes ist: Ein unverkennbarer Ansatz zu personaler Abrundung und Individualität liegt doch wohl schon am Anfang des aischyleischen »Prometheus« vor; schon Hesiod hatte berichtet, daß Styx, die Tochter des Okeanos, die Mutter von »Kratos« und »Bia«, von Gewalt und Machtzwang, geworden sei: aber erst am Anfang des »Prometheus« begegnen diese beiden Dämonen leibhaftig, als Gestalt und Person, als die willenlosen, gefügigen und unansprechbaren Funktionäre eines inappellablen Zeuswillens: nicht viel besser als die Schergen und Vollzugsmaschinen eines grausigen, aber jeder Diskussion entzogenen Urteils; dies um so deutlicher, als »Kratos« hier als Gesprächspartner des Schmiedegottes Hephaistos diesen, den sich sträubenden und das arge Werk nur widerwillig ausführenden, dazu »zwingt«, den Prometheus an die Klippen des Kaukasus anzuschmieden: eine Szene voll innerer Spannung, wie da die starre Nötigung - die horazische »dira necessitas« - taub, mitleidslos und mit verachtendem H o h n sich durchsetzt gegen die um so viel edlere, humanere und fühlsamere Regung und Hemmung des Gottes Hephaistos, von dessen Göttlichkeit dabei nicht viel mehr übrig ist als sein H a n d w e r k und seine Menschlichkeit. Kratos und

Bia selbst aber sind hier durchaus Gestalten mit festem K o n t u r , k o m p a k t e u n d massive Individualitäten einer z w a r über-empirischen, surrealen, aber d a r u m nicht unwirklichen T r a u m w e l t : sucht m a n nach Zuordnungen, so mag das Geisterreich von Shakespeares »Sturm« sich eher anbieten als die aus M y t h o s u n d Gedanklichkeit so w u n d e r b a r gemischten Genealogien des H e s i o d : »Kratos« h a t mehr Beziehung zu Ariel u n d Caliban als zu seinem hesiodeischen Namensvetter! Aber was hier nur anklingt, w i r d zum vollen K l a n g erst in der nächsten und übernächsten Generation; u n d z w a r zunächst erkennbar bei Euripides: hier nämlich ist ein G r a d von Bewußtheit u n d Ausdrücklichkeit erreicht, der sozusagen das Prinzip, die Technik, die freischwebende Möglichkeit beliebiger Allegorik freigibt, so d a ß von da an jede Variante im Griffbereich lag. Das liegt so deutlich vor, d a ß es nur des Zitates b e d a r f : In Euripides' »Herakles« erscheinen, nach einer Fermate trügerischer Beruhigung, dem C h o r hoch in der L u f t , über dem Palaste, zwei Geister - Schwebemaschine, F l u g a p p a r a t , Illusionismus der Vertikalbewegungen sind mit einer dem modernen Empfinden fast befremdlichen Unbefangenheit benützt! - ; auch d a ß es zwei weibliche Geistergestalten sind, ist nicht unwichtig: von da an allezeit haben im Spiel der bedeutenden Masken, Feerien u n d allegorischen

Mummenschanzbewegungen

die D a m e n weitaus die M a j o r i t ä t : das liegt z u m Teil, aber nur zum Teil d a r a n , d a ß die lateinischen Bezeichnungen von Tugenden, Lastern u n d seelischen Q u a l i t ä t e n überwiegend jeminini

generis sind.

Die beiden Geister sind »Iris«, die Regenbogengöttin u n d Götterbotin, u n d die schon bei Aischylos begegnende »Raserei«, »Lyssa«. U n d nun bezeichnend die A r t , wie Iris sich u n d die G e f ä h r t i n einführt (Eur. Heracles 822, übers, v. Ludwig Wolde): Erschrecket nicht, wenn ihr die

Nachtentsprossene,

Lyssa - und mich, die Götterbotin Iris seht! Wir kommen, Greise, nicht zum Schaden eurer Stadt, Wir sehens auf das Haus nur eines Mannes ab ... D e r A u f t r a g : Herakles soll, nach dem argen u n d jetzt freigegebenen Willen seiner Feindin H e r a , im Wahnsinn seine eigenen K i n d e r töten: 832 Die Knaben soll er töten, und so will ichs auch. Auf, Kind der Finsternis, Maid, die für alle Zeit Abhold dem Ehbund ist, schaff' dir ein steinern

Herz!

Den Wahnsinn wirf auf diesen Mann, verwirre ihm Sein Denken

...

D i e naiv-handfeste D r a m a t u r g i e der beschwichtigenden Selbstvorstellung hat im abendländischen Theater Schule gemacht, bis hin z u m grimmigen Löwen in Shakespeares »Sommernachtstraum«: Ihr Damen alle, deren edler Mut Erschrickt vorm kleinsten

Mäuse-Ungetier,

Vielleicht erzittert ihr und bebt ihr hier, Wenn rauher Löwe brüllt in wilder

Wut.

So wißt denn, daß ich Schnock der Schreiner bin ...

U n d d a n n also spricht, bei Euripides, Lyssa selbst: Von Vaters Seiten bin ich, von der Mutter her Aus edlem Blut: des Himmels Tochter und der Nacht. Allein mein Amt weckt Abscheu bei den Ewigen, Und auch die Menschen freun sich meines Kommens nicht. . . U n d n u n : diese Lyssa ist auf ihre Weise human, sie weiß um ihre Schrecklichkeit, sie gleicht nicht dem aischyleischen »Kratos«, sondern weit eher dem Hephaistos: sie verwünscht ihr schlimmes H a n d w e r k , w a r n t ihre Auftraggeber H e r a u n d Iris, wird aber streng u n d ohne Zugeständnis auf ihre K o m p e t e n z verwiesen, u n d sie gehorcht: Lyssa: Will nicht rechten, wünsch' nur statt des argen einen schön'ren Pfad. Iris:

Eigne Wünsche z« liebkosen, schickt dich nicht Zeus' Ehgemahl.

Lyssa: Tu, was ich zu tun nicht willens; Zeuge sei mir Helios. U n d d a n n tut sie das Ungewollte also doch, mit P e r f e k t i o n und schauerlicher G r ü n d lichkeit. Wobei es übrigens zu einer bemerkenswerten Briichigkeit des Allegorischen k o m m t , indem nämlich Lyssa d a n n doch nicht den H e r a k l e s von außen stößt, sondern in ihn hineinschlüpfen muß, w o m i t die E x t r a p o l a t i o n dadurch, d a ß sie preisgegeben wird, sich erst recht e n t h ü l l t . . . Dies also immerhin etliche entscheidend wichtige J a h r z e h n t e vor Piatons Symposion u n d vor Lysipps Kairos! Aber anderes geht nebenher, das noch deutlicher und eindeutiger ist: Zwei Beleggruppen w u r d e n in der Diskussion offenbar einfach übersehen: die K o m ö d i e u n d die Münzbilder.

Man

braucht n u r

die aristophanischen

Personenverzeichnisse

durchzu-

gehen: schon dem »Helden« der »Acharner«, mit seinem redenden N a m e n »Dikaiopolis«, eignet ein über ihn selbst hinausweisender, wenn nicht allegorischer, so doch zumindest repräsentativer Zug. Deutlicher noch dem vertrottelten u n d d a n n junggekochten H e r r e n »Volk«, »Demos«, in den »Rittern«, u n d d a ß auch die beiden Gaunersklaven, der schuftige Wursthändler u n d der noch gemeinere und deshalb sich durchsetzende P a p h l a gonier, nicht nur »Personen« sind, sondern etwas versinnbildlichen, also wirklich »allegorisieren«, nämlich die Demagogie u n d die Politik überhaupt, versteht sich daher von selbst. U n d ähnlich typisierend u n d transparent Philokieon u n d Antikleon in den »Wespen« mitsamt dem » H u n d von K y d a t h e n « , u n d das Wolkenkuckucksheim der »Vögel«, u n d so weiter; aber reine Allegorie liegt vollends vor in den großartigen Personifikationen des »Krieges« - Polemos - u n d des »Tumultes« - K y d o i m o s - im »Frieden«

10

, w o z u in diesem Stück

überdies noch die stummen Personen der »Eirene«, » O p o r a « u n d »Theoria« v o n Frieden, Fülle u n d Festesfreude -

also

k o m m e n : das ist doch wahrlich schon genau

dasselbe wie zu irgendeiner späteren Zeit allegorischer Repräsentation, und wenn ein Unterschied besteht, d a n n liegt er nicht im Ansatz, sondern in der K r a f t der Vergegenw ä r t i g u n g u n d im komödiantischen Genie, mit dem der Ansatz durchgespielt ist, in der unendlichen Amplitude zwischen Hintersinn u n d Leichtsinn, zwischen Erschrecken u n d Beschwingtheit. Vollends der »Plutos«, das Spiel v o m blinden Reichtum, der sehend werden soll, ist 17

in A l t e r t u m u n d Mittelalter, ja bis ins 19. J a h r h u n d e r t hinein, als moralisch-soziale

Allegorie von einer unabsehbar breiten und tiefen Wirkung gewesen: eigentlich keine »Komödie« mehr, sondern eher ein Mysterien- und Lehrstück nach Art des »Jedermann«, ein säkularisiertes Erbauungsstück in heiterer Tonart; es gibt, seit dem 15. Jahrhundert, zahllose Nachahmungen und Beeinflussungen, Reuchlin und Melanchthon, G. Agricola und Zwingli, Leonardo Bruni und Margareta von N a v a r r a , Ronsard und Ben Jonson; so hat auch H a n s Sachs dieses Stück verkürzt bearbeitet, »ein comedi mit 11 personen zu recidirn, der Pluto, ein Gott aller reichthumb, und hat fünf actus« ( 1 5 3 1 ) U m es freimütig zu gestehen: Bei so offensichtlichem Befund fangen allzu subtile Differenzierungen und Grenzziehungen an, f ü r mich an Interesse erheblich zu verlieren. U n d dazu, daß man in alledem nichts zu sehen habe, was sich nicht mit der Frage: »Und sind Ausnahmen nicht gerade das, was die Regel erhellt?« (Reinhardt S. 35) wenigstens so weit beiseite schieben ließe, daß es gleichwohl bei der These bleiben dürfte, echte Allegorie sei erst ein hellenistisches Gewächs und mit klassischem Hellenentum nicht in eins zu sehen: dazu sind die Belege denn doch zu dicht, zumal wenn man nicht vergißt, daß wir vom ehedem Vorhandenen kaum mehr als 5 Prozent fassen können. H i n z u kommen also die Münzen: D a v o n kann hier um so weniger ausführlich gesprochen werden, als es dazu der bildlichen Anschauung bedürfte. Aber auch ohne Detail ist einzusehen, daß in den Münzemblemen und -Symbolen eine leicht gangbare Brücke zu echter Allegorik gegeben war, und daß diese Möglichkeit um so breiter wirkte, als die Münze, unabhängig von aller Literatur, von Bildungsstand und dem zu seiner Pflege notwendigen Otium, über die ganze Oikumene streute, von H a n d zu H a n d ging, daß ferner der Münzstempel die staatliche Bürgschaft f ü r Vollgewicht und Karatgehalt dokumentierte. Zweck einer solchen Münzdekoration aber ist von vornherein nichts als eben ein »Anders-sagen«, ein »allegorein«: nämlich mit dem Mittel von Bild und Gestalt, durch Beigabe irgendwelcher sinnfälliger Requisiten von bekanntem Kult, von Lokalgegebenheiten, mythisch-legendären oder aitiologischen Anspielungen, evident auszusagen: f ü r diese Münze bürgt Athen, oder Chalkis, oder Kyrene, oder Syrakus oder was sonst. Das gilt f ü r die Knospe von Rhodos so gut wie für die Quellnymphe von Himera, das sich überdies, schon um 470, durch einen eigens zugefügten adretten Äskulapstab zugleich als Heil- und K u r b a d in empfehlende Erinnerung bringt. Das ließe sich nun endlos variieren, aber die Andeutung mag hier genügen, um klarzustellen, daß es sich bei dem Phänomen der »Allegorie« um einen Sachverhalt handelt, der breiter und tiefer wurzelt, als daß er lediglich aus der Literatur und hohen Kunst zu belegen und aus deren etwaigem Schweigen - selbst wenn es ein Schweigen wäre - auf das Nichtvorhandensein der Fähigkeit zu allegorischer Verständigung geschlossen werden dürfte. Dies also ist der erste, und freilich auch der wichtigste Grund f ü r die Behauptung, die hier am Anfang stand: daß zwischen archaisch-klassischer Zeit und dem Hellenismus in Hinsicht auf die Möglichkeit allegorischer Aussage keine so deutliche Zäsur angesetzt werden kann, wie man dies angenommen hat. Aber das wäre einstweilen nur eine »historische« Feststellung, und auch ihr würde noch ein Rest von Unklarheit anhaften. Eine zweite, wesentlich kürzer abzutuende Erwägung muß das Gesagte ergänzen.

18

Zweitens also: Es kann ja wohl kein Zweifel sein, daß die homerischen Bittflehen, jene »Litai«, daß die »Verblendung« ebenso wie die hesiodeischen Töchter der Nacht, der Tochter des Chaos - Moros, Ker, Thanatos, Momos, Nemesis, Apate und wie sie alle mit ihren redenden und etwas bedeutenden Namen heißen — zumindest seit dem Hellenismus, und seitdem durch mehr als zweitausend Jahre hindurch, als echte Allegorien verstanden wurden, nicht anders als Botticellis »Fortitudo« oder »Verleumdung«, bis nun unser Jahrhundert das alles als Mißverständnis entlarvt. Es liegt darin zweifellos, wenngleich kaum bewußt, zugleich eine apologetische Tendenz, insofern man nämlich die hohe, im Wert immer mehr gestiegene Kunst und Literatur des »eigentlichen«, nämlich des archaisch-klassischen Griechentums von den V o r w ü r f e n und Abwertungen freizuhalten suchte, mit denen man gegenüber dem Hellenismus und erst recht der kaiserzeitlichen Kultur nur allzu freigebig zu werden begann: Indem man also vom vierten Jahrhundert an abwärts nur noch virtuose Routine, kalte Oberflächlichkeit, hohles Pathos und klingelnde Rhetorik wahrzunehmen glaubte, schloß sich das Allegorische nur zu willig und leicht an, zumal sich damit fast unvermeidlich das Epitheton »frostig« zu verbinden schien. Wer aber mag wissen, welche Erlebnisqualität der Produktion oder der Interpretation dieser oder jener Zeit in Wahrheit zukommt? Anders gesagt: Wie läßt sich ermitteln, wie etwa ein Homerverständnis, das wir allegorisierend nennen, sich selber verstand? H ö r t nicht im Grunde die Verständigung eben doch auf in dem Augenblick, w o die Worte und Begriffe selbst irisierend und ambivalent werden? Wie schwer fällt es uns, auch nur bei der letzten reinen Stilphase abendländischer Kultur, beim Barock, begrifflich und systematisch zu erfassen, wieviel Ernst und Tristesse hinter der Tändelei, wieviel echte N a t u r hinter der verzückten Unnatur, wieviel oder wiewenig Erlebnistiefe hinter Maskerade und Kostüm verborgen und darin geborgen und aufgehoben sein mag! Womit wir wieder bei jenem Grundproblem allen Verstehens sind. Nicht daß wir es damit auf einen interpretatorischen Agnostizismus abgesehen hätten; eher im Gegenteil: auf eine Warnung davor, mit allzu festen Klitterungen, Vorentscheidungen und systematischen Antithesen einer gelebten und von ihren eigenen Prämissen her echten Kunst gleichsam von außen her Wertmarken aufkleben und Zensuren erteilen zu können: Wie Homer selbst seine Litai verstanden hat, wie dicht im Personalen oder wie transparent im Bedeutsamen, Symbolischen oder - nun eben: - Allegorischen, erst recht: wie seine Zeit und Zeitgenossen ihn in diesem und anderem Betracht verstanden haben und interpretiert hätten, wenn es ihnen überhaupt aufs Interpretieren angekommen wäre - jene merkwürdig naive, fabel-, witz- und moralitätsfreudige Volksschicht also, die uns im Volksbuch von Homer und Hesiod entgegentritt und die doch so ungefähr das früheste Publikum und Auditorium dieser Frühepiker, Didaktiker, Elegiker und Lyriker ausgemacht haben m u ß 1 2 : Wer wollte das verläßlich sagen? U m noch einmal K a r l Reinhardt zu zitieren (S. 26): » . . . bei Themis oder Nemesis z. B. kann man schwanken, ob sich aus dem Gott die >PersonifikationPersonifikation< der Gott entwickelt h a t . . . Ist Themis eine uralte 19

Erdgottheit und zur >abstrakten< Rechtsordnung erst nachträglich geworden? Oder . . .

u m g e k e h r t . . . ? . . . die Verteidiger der alten Gottheit scheinen in der Oberhand. Als Göttin scheint Themis zu ehrwürdig, ihr Kult zu tief in allem möglichen verwurzelt, als daß er einem >AbstractumBegriffKönige< verfahren . . . « usw.: Man sieht, wie der Zugriff nach der einen Seite immer als Verlust nach der anderen Seite hin empfindlich wird, und die den Begriffen konsequent beigegebenen, distanzierenden Anführungszeichen sijid mehr geeignet, eine Verlegenheit einzugestehen als sie zu beheben. In Wahrheit ist als gewiß anzunehmen, daß der Mensch homerischer Zeit die Alternative von sich aus weder gestellt, noch auch nur begriffen hätte. »Themis« ist nicht nur im Nacheinander der Zeiten erst Göttin und dann Satzung, sie ist beides, simultan und in einem; und zwar gilt dies nicht bloß für irgendeine archaische Zeit, sondern: zu allen Zeiten, auch heute noch, eignet den sogenannten Abstrakten so etwas wie eine personale Regenerationsfähigkeit; der Handwerker, der sein Werkzeug benennt, der Techniker, der für eine neue Apparatur einen Namen sucht, der Reeder, der sein vom Stapel laufendes Schiff »tauft«: sie alle vollziehen fortgesetzt einen Akt der »Personifikation«, die meisten Werkzeugnamen sind nomina agentis, und man sage nicht, daß das nicht mehr empfunden würde: Welche Fülle von Gefühlsemotionen wird dem Apparat zugewandt, und wer will die Grenze bestimmen, wo das eine ins andere übergeht, wer auch die Zeitgrenze, jenseits oder diesseits deren das eine oder das andere dominiert? Und damit sind wir bei dem zu Beginn angekündigten dritten Grund, weshalb die Klitterung - hie archaische und klassische Zeit, dort Hellenismus, Spätantike, Mittelalter - nicht recht aufgehen mag: Was im Wege steht, ist nicht nur ein verwirrender, widerstrebender und nur durch Simplifikation zu systematischer Gegensätzlichkeit auseinanderzunehmender historischer Befund, sondern eine aller geschichtlichen Ausformung vorgängige anthropologische Grundbefindlichkeit: daß der Mensch nämlich daraufhin angelegt ist, äußere und innere Wirklichkeit als vielschichtig, doppelbödig und je nach der Gegenrichtung hin deutbar zu erleben. Anders gesagt: Der Mensch ist von Natur »Allegoriker«. Selbst dort, wo er aus freiem Willen »eigentlich«, nicht-metaphorisch zu sprechen sich anschickt, geschieht es ihm immer wieder, daß er im Sprechen oder gleich danach von einem anderen Sinn des Gesagten überfallen, von ihm überrascht, erschreckt oder beglückt wird. Dichtung vollends ist von Natur Metaphorik und Allegorik, ganz ebenso wie Carmen, Zauberspruch . . . Erstaunlich, verblüffend und versöhnend ist dies, daß Reinhardts subtile Interpretationen und vertüftelte Differenzierungen mit einem Satz schließen, der, beim Worte genommen, alles Vorhergehende mit einer ironischen Gebärde wieder auswischt - so wie ein Zauberkünstler am Ende in die Hände klatscht und von all den Tauben, Kanichen und Chrysanthemen, die zuvor aus dem Zylinder herausgeholt wurden, ist auf einmal nichts mehr da (S. 40): »Auch das >AllegorischeAllegorieAllegorie< zu nennen - des Sophisten Prodikos in Xenophons Memorabilien.« Das ist alles, und damit ist es abgetan. Man muß es sozusagen vergessen haben, bis man S. 34 liest: »Vorbereitet wird der allgemeine Umschwung seit der Zeit des Hellenismus. Etwas wie die Attribute einer hellenistischen Tyche . . . bezeichnen wir als allegorisch und tun recht daran«: Man darf also nicht innewerden, daß die vollentwickelte Form des Prodikos immerhin ein entscheidendes volles Jahrhundert früher dasteht, ah die »Vorbereitung« des »Umschwunges« einsetzt! Wie so oft: Die scheinbar objektiven Gruppierungen sind weithin nur das Resultat von Beleuchtungseffekten.

wie sich das homerische Motiv der hurtigeren, vorauslaufenden bösen Macht 14 Bemerkenswert, - bei Homer: der »Ate«! - wiederholt: auch dies ein echt dämonologischer, allegorisch bedeutsamer Zug, so noch in Schillers »Lied von der Glocke« - dessen Würdigung auch durchaus vom Maße der Willigkeit zum »Allegorischen« abhängt! - »Und das Unglück schreitet schnell.« Auch in Sprichwort und Märchen ist das Böse, das Pfiffige, Gewitzte, Tückische immer fixer als das Brave, Tumbe und Arglose — bis hin zum Swinegel, der dem Hasen sein »Ick bün all schon do« zuruft. 15 Natürlich steht Dante damit in einer festen mittelalterlichen Tradition des Wortgebrauches »Commedia«; aber gerade dies bedarf der Erklärung: Wie der Wortgebrauch sich bilden und halten konnte, da man doch Plautus und Terenz kannte; er wurzelt auch keineswegs, wie man glaubt, speziell im Italienischen: mehr als 300 Jahre vor Dante hat die deutsche Nonne Hroswith ihre erbaulichen und rührenden Lesedramen in einer Weise mit Terenz in Verbindung gebracht, auf die in der Neuzeit niemand verfallen wäre, wenn nicht die Dichterin selbst das Stichwort dazu gegeben hätte. Aber es gibt in der Tat echte Verbindungsfäden: nicht nur, daß Terenz selbst keineswegs ein Spaßmacher war - oft dominiert das Rührende, das Besinnliche, das Humane -, sondern auch diese Bekehrungsund Erbauungsspiele der Gandersheimer Nonne sind, bei allem Martyriengreuel und Asketenelend, von einer sublimen Heiterkeit: eben der Heiterkeit des Allegorischen. 16 Friedrich Leo hat, zur Herleitung, auf Euripides Herakles 822 verwiesen, andere auf den Anfang der »Alkestis« - wo Apoll spricht - oder auf die grade erwähnten »Troerinnen«; vgl. dazu Franz Stößl in Pauly-Wissowa RE. s. v. Prologos (1958) Sp. 103 des S. A.; aber das hier im Text Genannte steht näher; wie viel anderes, direkter Zugehöriges es gegeben haben mag,

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läßt sich nicht wissen - um wie vieles zu eng etwa unser Menanderbild sein mag, davon hat der neugefundene »Dyskolos« eine Probe gegeben! -, aber bis zum Beweis des Gegenteils wird man gerade hier Plautus plautinisch und nicht hellenistisch zu verstehen haben. Dies der Titel eines Büchleins von Günter Jachmann (seine Kölner Antrittsvorlesung), 1926, das wiederzulesen nicht sowohl wegen der Richtigkeit seiner Lösungen - dies nicht! - als wegen der Frische und Eigenständigkeit seiner Fragestellungen instruktiv ist. Der bedeutenden und klärenden Wirkung des Buches von E. R. Curtius, Europ. Lit. und lat. M.A. (2. Aufl. 1954) sei dankbar gedacht. Ricarda Huch in ihren Jugenderinnerungen »Frühling in der Schweiz« (4. Aufl. S. 61). Feinsinnige Beobachtungen, die auch für unser Thema von Belang sind, finden sich in dem kaum zureichend gewürdigten Aufsatz von Wolf H. Friedrich, Der Kosmos Ovids, in der Dornseiff-Festschrift, Leipzig 1953, S. 94-110; dort S. 100: »Die Geheimnislosigkeit der ovidischen Welt ist mit ihrer Übersichtlichkeit gegeben.« Aber dieser Zug zum Hellen, Konturierten, Vertrauten, eine Welt voller Wunder und Verblüffungen zwar, aber ohne Dunkel, ohne lockende Ferne: das ist antik, mittelmeerisch und nicht zuletzt italisch. Etliches dazu ist gesagt im Nachwort zu meinem Büchlein »Antike Entdecker fahrten«, Zürich 1961.

21 An Horaz im allgemeinen und an dieser Strophe besonders bestätigt sich Gottfried Benns »Definition«: Lyrik sei das Unübersetzbare. R. A. Schröders Übertragung in sehr hohen Ehren! Aber am Ende kann keine Übersetzung besseres leisten, als dem Liebhaber das verbale Verstehen erleichtern: ist das getan, dann sollte sie vergessen werden. In diesem Sinne sei hier wieder Voss zitiert: Vor dir beständig gehet der grause Zwang, Der starke Balkennägel und Keile trägt In ehrner Hand, auch ernster Klammern Nicht und geschmolzenen Bleis ermangelt. 22 Wie so oft, ist das Wichtigste deskriptiv kaum faßbar: Die innere Notwendigkeit des Spiels der Vokale und Konsonanten: Wer davon redet, gerät schnell in Verdacht, Phantasmagorien nachzuhängen und muß sich skeptisch-nüchterne Gegenfragen gefallen lassen. Immerhin: Das Buch von N. I. Herescu: »La Poésie Latine, étude des structures phoniques« (Paris 1960) ist ein ernsthafter Versuch, das musikalische Geheimnis lateinischen Dichtens wenigstens an einem Zipfel zu fassen und sich nicht nur mit dürren Analysen des Metrums zu beschwichtigen. Näheres jetzt in meinem Buch »Römertum und Latinität«, Stuttgart 1964, S. 496 ff. 23 Das »Troia-Spiel« erwähnt bei Vergil Aen. 5,602 und Sueton Caes. 39. Jedoch hat der Name mit der Stadt Troia gewiß nichts zu tun, vermutlich etruskischer Herkunft, offenbar ein chthonisches Dromenon; vgl. R. Winter in »Neue Jahrbb.« V 1929; dort auch eine Abbildung der Vase; E. Mehl, Troiaspiel, in: RE Suppl. VIII (1956) 888 ff. 24 W. H. Friedrich a. O. (vgl. Anm. 20) S. 108 - dorther auch die hier gebotene Ubersetzung -. Auf den instruktiven Vergleich der Darstellung der Fama bei Vergil (Aen. 4,173-197) und bei Ovid (Met. 12,39-63) sei hier nur hingewiesen. Über diese Fama sagt Friedrich: »Virgil hatte sie . . . als ein groteskes Mischwesen eingeführt, dessen einzelne Eigenschaften man nie und nimmer zu einer deutlichen Gesamtvorstellung vereinigen kann; schon durch die riesigen Ausmaße, zu denen es sich auswächst, sprengt es jeglichen Kontur. Was ihr aber an Anschaulichkeit fehlt, bleibt ihr an dämonischer Vielgestaltigkeit und sozusagen Verwendungsfähigkeit erhalten«; dagegen zu Ovid: »Das ist offenbar die Antichambre eines römischen Großen, und diese Fama, die vom höchsten Turm der Burg in die Welt schaut, ist für die Malerei ein dankbareres Objekt als die virgilische, deren Darstellung erst dem Surrealismus glücken dürfte.« 25 Über die Vieldeutigkeit und Hintergründigkeit des Verwandlungsmotivs vgl. den Abschnitt III 1 (»Die Metamorphosen«) von Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte; davon spricht Ovid so gut wie gar nicht: seine tändelnde Oberflächlichkeit ist gewollt, ist Entsagung und Verzicht und zugleich künstlerisches Programm; davon etwas aufzuzeigen, war Absicht meines

Sulmona-Vortrages, in: Atti del Convegno Internazionale Ovidiano, Rom 1959, Band II S, 275-293 (»De Ovidii indole, arte, tempore«); daß Metamorphose und Allegorie innerlich zusammengehören, ist m. W. kaum gesagt, aber evident; auch J. Burckhardt hat davon etwas empfunden, vgl. zu obigem Nachweis hinzu seinen Vortrag vom 15. Februar 1887: »Die Allegorie in den Künsten« (B.s Vorträge hg. v. E. Dürr, 1918, S. 374; vgl. Reinhardt a.O., S. 33, 28): beides führt zugleich in die Aura des Sentimentalischen, Bukolischen und Elegischen, so wie es im Barock und vor allem bei Claude Lorrain und N. Poussin zur Einheit verschmolzen erscheint; einigermaßen willkürlich sei verwiesen auf Werner Weisbach, »Et in Arcadia ego« in: Die Antike 6, 1930, S. 127-145, und auf Theodor Hetzer, »Claude Lorrain«, 1947. 26 Auf diese Priorität des Hilarius vor Ambrosius und Prudentius wurde ich zuerst aufmerksam durch Walther Bulst, »Über die mittlere Latinität des Abendlandes«, Heidelberg 1946, S. 16. 27 So Ursmar Engelmann OSB in seiner lat.-deutschen Ausgabe der Psychomachia des Prudentius Handschrift) (bei Herder, Basel-Freiburg-Wien 1959, mit 24 Bildtafeln aus der St.Gallener S. 10. An Ausgaben seien genannt diejenige der »Wiener Kirchenväter«, CSEL 61, 1926, und die Pariser Ausgabe (mit franz. Übers.) von M. Lavarenne (1948). Einmal nennt auch Reinhardt den Prudentius, in durchaus unerwarteter Verknüpfung, die wiederum (wie o. S. 20) seine eigenen scharfen Distinktionen als nicht allzu tragisch gemeint erkennen läßt, S. 36: »Das Schiff des Alkaios ist zwar weder Person noch Gott, scheint aber, wenn die Alten mit ihrer Deutung recht haben, eine so durchgeführte allegorische Dichtung, wie so etwas fast erst wieder bei Prudentius vorkommt.« 28 Einzelbelege zur altchristlichen Symbolik und Allegorik sind leicht zu finden, etwa bei F. van der Meer und Christine Mohrmann, Bildatlas der frühchristlichen Welt, Deutsche Ausg. v. H. Kraft, Gütersloh 1959. Welche Bedeutung die anagrammatische Verwürfelung - nach dem Muster quid est veritas ~ est vir qui adest - und das Kryptogramm (als Monogramm-Verschlingung nach Art der kaiserlichen Urkundensignaturen oder als bald sinnvolles, bald sinnloses Buchstabenspiel nach Art des magischen Quadrates sator-arepo-tenet-opera-rotas, darüber H. Hommel, Schöpfer und Erhalter, Berlin 1956) in Paläographie und Diplomatik hat und wie sehr die Barockzeit sich wieder durch solche Spiele angezogen fühlte, ist bekannt: nicht nur zufällig läuft dergleichen parallel mit lebendiger Allegorik: Es ist Geist vom gleichen Geist und eigentlich dasselbe. 29 So, ganz unbedenklich im lateinischen Zusammenhang, schon Tertullian, De baptismo 1,3: »Aber wir kleinen Fische, die so nach unserem großen Ichthys Jesus Christus heißen, werden im Wasser geboren, und nur wenn wir uns im Wasser aufhalten, bleiben wir am Leben.« 30 Näheres darüber in meiner »Physiologus«-Übersetzung in der Reihe »Lebendige Antike«, Zürich 1960. 31 Dazu vgl. E. Panofski, Herakles am Scheidewege, Stud. Bibl. Warburg 18, 1930; Text und knappe Erläuterungen in meinem griech. Lesebuch »Eiresione«, Stuttgart 1957, Prosa Nr. 119. menschengestaltig 32 Befremdlich, für uns anstößig, die Kraßheit der Vernichtung des immerhin gesehenen Gegners: Etwa wie Fides den Götzenglauben tötet (v.30ff.): »sie zerschmettert sein Haupt, Blut quillt ihm aus dem Munde, sie tritt ihm auf die im Sterben herausgequollenen Augen .. .« (pede calcai elisos in morte oculos)! So wenig wie bei Seneca, Lucan, Martial ist dabei der Anteil spanischer Herkunft genau faßbar; immerhin kann nicht verwehrt werden, an Autodafé und Inquisition zu denken. Auch die am Ende versöhnlich aufgenommene Paraphrase von Paulus I. Korinther 13 gerät unter der Hand zu einem Hohen Lied nicht eigentlich der Liebe - schon gar nicht einer allgemeinen Menschenliebe - als des Glaubensfriedens, nach der Vernichtung aller »Discordia« und als Vernichtungsdrohung gegen deren Wiederaufleben, also gegen alle Heterodoxie. Aber wieder darf nicht überhört werden, daß auch hier hinter dem Glaubenseifer etwas von der heiteren Unverbindlichkeit des Allegorischen, der Transparenz steht, ein Zug zum Komödiantischen - so wie auch in Mimus und commedia dell'arte das

Kopfabschlagen kein human ganz ernstzunehmender Akt ist. Das geht zusammen mit den oben Anm. Ii über Roswith Gesagten, welche in der Tat in diesem Zusammenhang zu sehen ist: So wird die grausige Hinrichtung der drei Töchter der »Sapientia«, Fides, Spes und Caritas, mit einer Gelassenheit behandelt, die weniger heroisch als widernatürlich wäre, wenn nicht die Transparenz des Allegorischen hinzukäme, das heißt: wenn nicht alles in der widerspruchsvollen Spannung zwischen Glaubensekstase und Komödienspiel stünde. Immerhin: Daß hier eine ernste, und keineswegs nur theoretische Gefahr jeglicher militanten Religiosität liegt, sei damit nicht beschönigt; und eben weil die Allegorie deutbar bleibt, kann sie auch so ge- und mißdeutet werden! 33 Oben wurde auf die breite literarische Nachwirkung des lukrezischen Venushymnus hingedeutet, nicht auf die Bildkunst, wobei eben vor allem an Botticelli zu denken wäre und an das viele, das, von ihm sich herleitend - die »drei Grazien« usw. -, mittelbar den Lukrez reflektiert. Der Fall liegt in der Tat besonders, weil, anders als bei Ovid oder bei den Lukianischen Meergöttern oder bei Philostrats »Gemälden«, bei Lukrez eigentlich das optisch Visuelle, das im direkten Sinne Bildhafte gar nicht so deutlich wird, daß es nur einer Umsetzung in sichtbare Szenerie bedürfte: Insofern wird der Schritt von Vergil zu Ovid durch Lukrez keineswegs vorweggenommen: Bei Botticelli handelt es sich nicht um bloße »Übersetzung« Zug um Zug, sondern um tiefere Rezeption und um freie Umsetzung eines universalen, mütterlichen personhaften Erlebnisses der die Welt treibenden, sowohl jungfräulichen als auch Liebesmacht, nur die Szene mit Mars und Venus war direkt »kopierbar«: was ja auch, von dem schönen Wandgemälde in der von daher als »Haus des Mars und der Venus« benannten Villa in Pompeji an, oft und oft, nicht allein, aber freilich auch von Botticelli, geschehen ist.

45

WALTER

LOESCHCKE

• DER

GRIFF

SKIZZE EINER MOTIVGESCHICHTLICHEN

1

ANS

HANDGELENK

UNTERSUCHUNG

H Ä U F I G E S V O R K O M M E N DES M O T I V S I N V O R C H R I S T L I C H E R UND A U S S E R C H R I S T L I C H E R

K U N S T . W A H R S C H E I N L I C H K E I T I H R E S E I N W I R K E N S AUF DEN G E B R A U C H DES M O T I V S IM CHRISTLICHEN.

Kein Ergreifen der Hand gibt dem Zugriff soviel Sicherheit wie der Griff ans Handgelenk. Mit ihm kann der Mensch Gewalt ausüben, Gewalt abwehren oder dem Schwachen Hilfe leisten. Dieser im Leben ausgeübte Griff ist seit Jahrtausenden durch die bildende Kunst dargestellt worden. In der Form seiner bildlichen Darstellung und in seiner Bedeutung hat dieses Motiv eine lange und vielfältige Geschichte. Sie wurde noch nicht geschrieben. Hier beschränken wir uns auf eine vorbereitende Skizze des Motivs in christlicher Zeit und in ihr auf Darstellungen des helfenden Griffs. Einleitend seien aus vorchristlicher Zeit nur wenige Beispiele erwähnt, um an die menschliche Allgemeingültigkeit dieses Griffs als Handlung oder Geste zu erinnern. Bei den Sumerern und weiterhin im Vorderen Orient hat dieser Griff eine bedeutende Rolle gespielt und nicht nur im Sinn der Gewalt. Mit ihm führen Priester und Könige Auserwählte zu den Göttern 1 . Im Ägypten des Alten Reichs scheint die Darstellung des Griffs seltener, im Neuen Reich ist sie vor allem in Unterweltsdarstellungen bedeutsam. Wird der Tote zur Herzenswage des Totengerichts geführt, so wird er von Anubis in dieser Weise ergriffen; am rechten und linken Handgelenk wird König Ramses I. durch

die Götter Horus und Anubis gleichzeitig gefaßt; in beiden Beispielen ist der aktive Zugriff der Götter und die Passivität der Ergriffenen in der Gestaltung der Hände betont zum Ausdruck gebracht 2 . Zahllos werden die Darstellungen des Griffs in der griechischen Antike in Bildern des täglichen Lebens, des Kampfes und des Sports, des Tanzes, der Liebe, der Heimführung 3 . Ein schönes Beispiel des Griffs als Hilfeleistung ist auf einem rotfigurigen Kelchkrater in London zu sehen: die greise Aithra wird von ihren Enkeln Demophon und Akamas aus dem brennenden Troja gerettet 4 . Auch Aenaeas führt seinen Sohn Askanius auf der Flucht aus Troja am Handgelenk 5. O f t bedienen die griechischen Götter sich dieses Griffs: Hermes vor allem faßt die Menschen, die er ins Totenreich zu führen hat, in dieser Weise 6 (der lockere Griff des Hermes um das Handgelenk der Eurydike ist eine typisch klassische Verwandlung der handfesten, archaischen Geste). Andererseits führen die Götter Dionysos den Hephaistos, Athena den Herakles mit diesem Griff in den Olymp 7 . Auf römischen Münzbildern hebt der Imperator eine vor ihm knieende Frau, Personifikation einer Stadt, oder auch einer Provinz, des Staates oder der Oikumene - soweit in der Prägung erkennbar - mit diesem Griff empor. André Grabar 8 vermutet, diese im Bereich der Münzbilder häufige Szene habe den christlichen Künstlern als Vorbild gedient, als sie das »Anastasis« betitelte Bild entwarfen und Christus darstellten, wie er im Totenreich den vor ihm knienden Adam am Handgelenk emporzieht. Andere römische Münzbilder, die vielleicht an eine Umsiedlung («evacuatio«) erinnern sollen, zeigen den Kaiser, wie er einen gebeugten Mann hinter sich herzieht. Besteht die Deutung zu Recht, erinnert das Thema an jene »evacuatio inferni«, die in christlichen Apokryphen so bezeichnet als erlösende Folge des siegreichen Erscheinens Christi in der Unterwelt geschildert wird. Die späte imperiale Kunst hat in vielen Fällen seit Konstantin auf die christliche Kunst eingewirkt, die dadurch geschehene Verwandlung der altchristlichen Bildwelt gehört zu den großen Themen der Kunstgeschichte. Für das Bild des Christus victor in der »Anastasis«-Szene mit dem besiegten Hades unter seinem Fuß und dem Kreuz als Siegeswaffe ist die Einwirkung von Siegesbildern durch Grabar erwiesen. Leider sind die meisten der Münzprägungen mit den oben genannten zwei Szenen undeutlich": außerordentlich häufig sind die Hände der knieenden Frau und des Imperators zu einem Klumpen zusammengeschmolzen, so daß die Art des Griffs nicht genau feststellbar ist, in einzelnen Fällen aber kann man den »Griff ans Handgelenk« mit seinem Gegensatz der aktiven und der schlaffen Hand erkennen 10 . Auch in der Großplastik wurden ähnliche Szenen gestaltet, z. B. am Triumphbogen in Benevent, leider sind dort gerade die Hände zerstört. Von großem Interesse ist die wohl noch ungelöste Frage, ob derartige wechselseitige Handlungen zweier Personen, das Knien und das Emporheben, im römischen oder im persischen Zeremoniell der späten Antike ausgeübt wurden und ob sie von dort - vielleicht mit vorgeschriebenen Formen des Griffs? - ins byzantinische Hofzeremoniell und

weiterhin in kirchliche Ordnungen übergegangen sind. Es liegt dem Sinnzusammenhang nach nahe, an den frühchristlichen Taufritus zu denken: Nach dem vom Priester vollzogenen Untertauchen des Täuflings, einer Handlung, die als S y m b o l des Sterbens des »alten Adam« galt, mußte wohl ein Emporziehen des Täuflings aus dem Wasser durch den Priester geschehen", S y m b o l der »Erweckung« des so »Gestorbenen« zum »neuen Leben« des Getauften. M i t welchem Gestus geschah dies, etwa mit einem »Griff ans Handgelenk«? V o n solchem Brauch aus würde z. B. die F o r m des »Anastasis«-Bildes sehr viel besser verständlich. H i e r sei zunächst von diesem Bild die Rede. 2

BILDTYPEN DER »ANASTASIS«-DARSTELLUNG.

Z E N T R A L E S B I L D M O T I V IST DER

GRIFF

C H R I S T I ANS H A N D G E L E N K A D A M S , E R V E R A N S C H A U L I C H T » D I E E R L Ö S U N G A D A M S

UND

S E I N E S G A N Z E N G E S C H L E C H T S « AUS D E R » G E F A N G E N S C H A F T « D E R U N T E R W E L T S M Ä C H T E .

In der christlichen K u n s t ist der aus der Antike bekannte »Griff ans Handgelenk« zum zentralen M o t i v vor allem jenes Bildes geworden, das wir im Deutschen » H ö l l e n fahrt Christi« nennen, und das im Lateinischen »descensus ad inferos«, im Griechischen BRESCIA,

MUS.

CIV.,

RELIQUIENKÄSTCHEN,

ELFENBEIN,

OBERITALIEN

S C H M A L W A N D : C H R I S T U S E R W E C K T D I E T O C H T E R DES J A I R U S

UM

370,

LINKE 48

»aväoxaoig« heißt, wodurch einmal das Hinuntersteigen Christi in die U n t e r w e l t , das andere M a l »die Auferstehung« betont w i r d 1 2 . D a s M o t i v des erlösenden Griffs Christi ist v o m Anbeginn dieses Bildes an v o r h a n d e n 1 3 , es ist durch viele Jahrhunderte hindurch sehr lange im Osten, kürzer auch im Westen, b e w a h r t w o r d e n ; Beispiele sind in allen Kunstgattungen, in Fresken, Mosaiken, Buchmalereien, Elfenbeinreliefs, G o l d - und Silberarbeiten, Webereien, Emails und Ikonen erhalten. D a s Bild der »Anastasis« ist in den orthodoxen Kirchen des christlichen Ostens z u r Festikone der Osternacht erhoben w o r d e n und w i r d als solche heute v o m Ostersonnabend zum Ostersonntag w ä h r e n d des A b e n d - und Nachtgottesdienstes liturgisch verehrt 1 4 . A m Ostersonntagmorgen w i r d dieses Bild abgelöst durch jene andere Osterikone, welche die ältere ist und den Evangelientexten gemäß darstellt, wie am leeren G r a b Christi die salbentragenden Frauen (»ai iiupQocpöpai« ist der alte Titel der Ikone) die V e r k ü n digung der Auferstehung Christi durch den Engel erfahren. D e r V o r g a n g der

Auf-

erstehung Christi ist nach der Kirchenlehre, den kanonischen T e x t e n entsprechend, als undarstellbares Mysterium den Sinnen entzogen, daher vermied man es, v o n diesem V o r 49

Hosios

LUKAS, PHOKIS, NARTHEX-MOSAIK A N F A N G

11. J H . :

„ A N A S T A S I S " TYPUS

3

gang Darstellungen in Wort und Bild zu geben. Wo sie dennoch in apokryphen Texten auftauchten, setzten sie sich nicht durch. Die Forschung ist seit langem bemüht, die Bildtypen der »Anastasis«-Darstellung nach H e r k u n f t , zeitlicher Folge und Ausbreitung zu fixieren. Folgende vier Bildtypen, die nacheinander auftreten, dann aber z. T. nebeneinander bis heute weiterbestehen, wollen wir in dieser Skizze unterscheiden: Typus 1: Christus schreitet auf Adam zu, beugt sich hinab und ergreift ihn mit seiner Rechten am Handgelenk. Typus 2: Christus steht frontal oberhalb der symmetrisch knienden Voreltern Adam und Eva, ohne sie zu ergreifen. Typus 3: Christus hat Adam ergriffen und zieht ihn hinter sich her. Typus 4: Christus ergreift Adam mit seiner rechten und Eva mit seiner linken H a n d gleichzeitig. Viele Bildformen wären noch zu unterscheiden, etwa nach Gestaltung der Umwelt, nach Darstellung der Unterweltsgewalten, nach Art der Veranschaulichung des Sieges R O M , S . C L E M E N T E , U N T E R K I R C H E , W A N D M A L E R E I UM 7 0 0 : „ A N A S T A S I S " T Y P U S 1



Christi, nach Zahl und Gruppierung der übrigen Erlösten und so weiter. Wir beschränken uns hier auf die Haupthandlung nach dem Sieg Christi, auf seinen »Griff lösung«.

der

Er-

Die oben als Typus 2 angeführte Bildform scheidet für das hier behandelte

Motiv aus, dennoch ist sie auch für die Geschichte dieses »Zentralmotivs« der anderen »Anastasis«-Bildtypen wesentlich, - zeigt sie doch, daß man nach Prägung und weiter Verbreitung des Bildtypus 1 sich mit diesem nicht begnügte, vielmehr das Bedürfnis empfand, das Thema in einer ganz anderen Weise zu behandeln und die T a t der E r lösung als nicht betont körperhafte Handlung des Ergreifen darzustellen. Bisweilen mag die »Predigt Christi in der Unterwelt« dargestellt sein, aber nicht zufällig erinnert im übrigen der zweite Bildtypus in seiner Gesamtform an die Bildform der »Verklärung« (»transfiguratio«, »uETauÖQcptomc;«) Christi auf Tabor, in welcher Christus in den Tagen seines menschlichen Daseins den drei erwählten Jüngern die Offenbarung des »Glanzes der Gottheit« (»8ö|a xoi -fteoC«) mit Augen zu schauen gewährt 1 5 . In diesem zweiten Bildtypus des »descensus Christi«, ebenfalls nach dem apokryphen T e x t des ISTANBUL, C H O R A K L O S T E R , P A R E C C L I S I O N , F R E S K O , BYZ. UM 1 3 1 0 : „ A N A S T A S I S " , T Y P U S 4, 51

CHRISTI R E C H T E ERGREIFT ADAM

Nikodemus-Evangeliums geschaffen, ist der »Einbruch des Gotteslichtes« in die Finsternis der Unterwelt - gleich nach dem Tod des menschgewordenen Gottes - als H a u p t t h e m a dargestellt, gleichsam eine zweite Offenbarung des »Glanzes der Gottheit« Christi, nunmehr vor den Augen Adams und Evas und aller Erweckten in der Tiefe der Erde 16 . N a h m man an dieser Ähnlichkeit mit der Verklärung Anstoß? Oder, was wahrscheinlicher ist, wollte man das Motiv des rettenden Griffs, den der Mensch durch die Gottheit erfährt, und der das leibhaft vom Tode Erwecktwerden vor Augen stellt, nicht entbehren? Jedenfalls verschwand dieser Versuch wieder aus dem Bilderschatz der Kirche. In den anderen drei Bildtypen wird das Ergreifen Adams durch den Erlöser immer in der gleichen Grundform gegeben, eben als »Griff ans Handgelenk«, wie später in Bildtypus 4 auch das Ergreifen Evas (durch die Linke Christi) dargestellt wird. Dabei ist bemerkenswert, daß die Anwendung dieses Motivs den Ureltern der Menschheit, also den ersten Menschengeschöpfen, den »Protoplasten« und ersten Sündern vorbehalten ist und bis zur inneren Auflösung des alten »Anastasis«-Bildes auf diese beschränkt bleibt, niemals aber auf andere Erweckte, die das Bild bald aufnimmt, angewendet wird. So wie die Bildtypen im Ganzen bleiben, so bleibt auch gerade diese Beschränkung. Ferner, und das ist an dieser Stelle besonders zu betonen, ist dieses zentrale Detail, Christi »Griff ans Handgelenk«, schon bei den frühesten uns erhaltenen Beispielen vorhanden und bleibt durch viele Jahrhunderte (z. T. bis zum heutigen Tage) in den »Anastasis«-Bildern erhalten: offensichtlich hat man darauf Wert gelegt und fast immer darauf geachtet, soviel man sonst auch die Bilder variierte. Bei Christi Griff handelt es sich niemals um ein einfaches »die H a n d ergreifen« oder gar ein »die H a n d reichen«, das heißt, nie um eine »conjunctio manum«, mit welcher auf antiken Darstellungen Gleichgestellte sich begrüßen, einen Vertrag schließen oder Abschied nehmen. Z w a r sind, wenn man die Ausbreitung der Bildtypen in R a u m und Zeit ins Auge faßt, vielfache Variationen des Griffs zu belegen: meist geschieht er von oben, aber auch von unten, bald vom Arm bis zum Handgelenk, bald genau über der Handwurzel, bald über den Handrücken hinweg bis zum H a n d gelenk - f ü r alle diese Variationen gibt vielleicht der italienische Ausdruck »prendere per il polso« eine anschauliche, zusammenfassende Bezeichnung. Eines aber ist wesentlich und trotz aller Variationen immer gleich: die Geste des Ergreifens ist aus dem Gegensatz heraus gestaltet, die schlaffe, passive H a n d Adams (oder Evas) meist mit schräg nach unten hängenden Fingern betont die Schwäche des dem Tode verfallenen Menschen 161 . Klar ist vor Augen gestellt: nicht Adam greift, nicht ihm ist in diesem Bild Aktivität zugesprochen (wo letzteres zuweilen in abendländischen Bildern dennoch vorkommt, fällt die Abweichung vom ursprünglichen Sinn ohne weiteres auf). Eindeutig ist durch dieses zentrale Detail der ganze Sinn der Darstellungen anschaulich gemacht: der menschgewordene Gott, der am Kreuz »durch seinen T o d den Tod überwand« und der Satan besiegte, ergreift in der Unterwelt mit starker Erlöserhand den Urvater der Menschen, um ihn aus den tödlichen Folgen seines Sündenfalls zu erlösen.

3

BEISPIELE LITERARISCHER

AUS M E L I T O N ,

Q U E L L E N ZUR D E U T U N G DES B I L D E S

NIKODEMUSEVANGELIUM,

OSTERLITURGIE.

FRÜHE

DER »ANASTASIS«:

BILDVERKÜNDIGUNG

D E R A U F E R S T E H U N G UND DES A U F E R S T A N D E N E N .

Die vielfältigen literarischen Quellen für die bildlichen Darstellungen des Abstieges Christi in die Unterwelt sind von Theologen und Kunsthistorikern eingehend erforscht worden. Auf die damit vielfach gegebenen Probleme können wir in dieser Skizze, die sich wesentlich mit dem zentralen Gestus des Bildes beschäftigt, nicht eingehen. Wir beschränken uns auf Zitierung weniger Stellen, die für diesen Gestus und für den Sinn seiner Darstellung im »Anastasis«-Bild wesentlich sind und verweisen im übrigen auf die zuständige Literatur »Der König der Herrlichkeit streckte seine rechte Hand aus, ergriff Adam und erweckte ihn, den Ahnherrn« (Nikodemus-Evangelium, Kap. 24, i). Das »Ergreifen« durch Christus wird an dieser und an vielen anderen Stellen als ein »Erwecken« verstanden18. »Der durch sein Pneuma nicht sterben konnte«, »der in der Erde sich nicht auflöste, der auferstand und den Menschen aus der Tiefe des Grabes erstehen ließ . . . « (Meliton, Strophe 101 und 71). »Ich habe den Verurteilten befreit, habe den Toten lebendig gemacht, wecke den Begrabenen auf« (ib. Strophe 101). Meliton, Bischof von Sardes, schrieb seine Osterpredigt, die älteste uns erhaltene, um 150 n.Chr. 1 9 . Erst um 300 wird die Lehre vom »descensus Christi« allmählich ins Dogma aufgenommen20, die uns erhaltenen Bilder dieses Themas aber reichen nicht weiter als bis zum Ende des siebenten Jahrhunderts zurück. Es ist anzunehmen, daß sie, wenn auch wohl in anderer Form, spätestens seit der Aufnahme ins Dogma, also seit 300, entstanden sind, denn zur Wortverkündigung der Lehre gehörte in dieser Zeit selbstverständlich auch die Bildverkündigung (vgl. Psalteriii. Kap. 5 ff.). Schon die frühen Texte geben den Sinn des bis heute im Osternacht-Gottesdienst der orthodoxen Kirchen verehrten Bildes der »Anastasis« eindringlich wieder: es geht um den Menschen (den seit dem Sündenfall von Gott Verurteilten, Toten, Begrabenen), um sein Lebendigmachen, Befreien, Erwecken - um den Vorgang, der im Bild konzentriert anschaulich gemacht wird durch den erweckenden »Griff der Gotteshand«. Das Anastasis«Bild versichert dem Gläubigen das Gleiche wie die Texte: »Lerne, warum der Herr auf Erden gewesen: damit er uns in Himmelshöhen hinaufreiße.« Das Ziel des »Heilsplanes Gottes« ist erst hier erfüllt - eben in diesem Griff und seiner Bedeutung: »ich lasse euch auferstehen durch meine Rechte« (ib. Strophe 1 0 3 ) I n diesem frühen Text sind auch viele andere Bildelemente der »Anastasis»-Ikone schon vorhanden (Vernichtung des Todes, Triumph Christi, Niedertreten des Totenreiches, Binden des »Starken« usw.) aber wenn bisweilen auch alle diese Elemente im Bild vereinigt werden, Hauptthema des Bildes bleibt stets das »Entreißen des Menschen«.

53

Der unvergleichliche Jubel der Osterliturgie ist in diesem Geschehen begründet": »Gesegnet seist Du, Erlöser, der Du in die Welt kamst, Adam zu befreien - Du unser zweiter Adam*. Es ist ganz selbstverständlich, daß die Osterliturgie in erster Linie

die Auferstehung Christi feiert, in ihr wird der Glaube der Gemeinde an die göttliche N a t u r Christi bestätigt. Untrennbar davon aber betonen die überlieferten liturgischen Texte immer wieder: Christus »hat den im Grabe Ruhenden das Leben gebracht« - er hat »miterweckt A d a m mit seinem ganzen Geschlecht«. Immer wieder wird in den Ostertexten nicht allein die Auferstehung Christi, sondern ihre unmittelbare Folge und ihr Weiterwirken gefeiert, eben das, was den Menschen betrifft: »ER stand nicht auf«.

alleine

Die Osterfreude der Gemeinde lebt aus der Teilhabe des Menschen an dem nie

geschauten, unschaubaren Wunder, das der Engel am leeren Grabe verkündigt hat. Das Osterbild des Westens zeigt, etwa seit dem 1 1 . Jahrhundert, die Szene, wie Christus aus dem Dunkel des Sarges ins Licht der Erde emporsteigt, in welchem er als Auferstandener erscheint und sich seinen Jüngern offenbart. Dagegen stellt das »Anastasis«-Bild eindeutig die Erlösung

des Menseben

dar, Ziel und Folge des Kreuzestodes

Christi und seines Sieges über die Unterweltsgewalten. Es enthält aber weder Grab noch Grabbau Christi oder andere Anzeichen dafür, daß es »zugleich« die Auferstehung Christi »darstellen« solle. Für diese ist das »Anastasis«-Bild ein »Zeichen«, verkündet,

welches das

Mysterium

aber nicht als Ereignis darstellt! Die beiden kanonisch gewordenen Oster-

bilder der Ostkirche, die Bilder der »Anastasis« und der »Myrrhenträgerinnen« vermeiden vielmehr beide eine solche Darstellung, bis diese schließlich - vom Westen her - in das »Anastasis«-Bild eindringt. Sichtbares Zeichen, daß auf diesem Bild die unsterbliche Gottheit dargestellt ist, wie sie »Adam und sein ganzes Geschlecht« in der Unterwelt aus dem Tode erlöst, sind die Lichtstrahlen, die von Christus ausgehen, ist der Lichtglanz der Mandorla, die ihn umgibt, ist das Goldgewand, das wir sonst aus den Bildern der Himmelfahrt Christi kennen und das er schon früh in Bildern als Himmelsherr trägt - während Bilder der Erscheinungen des Auferstandenen auf Erden häufig das schneeweiße G e w a n d zeigen, das ebenso vom irdischen wie vom himmlischen Kleid unterschieden gegeben wird. Die Auferstehung Christi, Zeichen seiner Todüberwindung, hat die Christenheit von jeher in Wort und Bild gefeiert. Sie tat es nicht durch die direkte Darstellung des Ereignisses, sondern in vielen Symbolformen 2 3 . So durch die Darstellung des »Christus Victor«, der siegreich über Schlange und Aspis schreitet, so durch Verehrung und D a r stellung des Golgathakreuzes als eines Triumph- und Siegeszeichens, sei es durch seine Bekränzung mit dem Lorbeer, sei es durch seine Erhebung zu den Sternen in den Zenith des Himmels oder durch die Darstellung des Kreuzes als »Thron Christi« mit den vier apokalyptischen Wesen (den t,S>a). Auch geschah diese Feier der Todüberwindung durch die vielen Bilder der Erscheinung des Auferstandenen, vor den Frauen und vor den Jüngern - die Berichte der Evangelien gaben dazu die Grundlage. Ebenso geschah die Feier des todüberwindenden Christus durch alle Bilder seiner Himmelfahrt und durch die Bilder des erhöhten Herrn in den Apsiden der Kirchen. Praktisch w a r der Raum der Gläubigen erfüllt und beherrscht durch diese Bildverkündigung der Todüberwindung durch Christus. Darum aber konnte auf ein szenisches Auferstehungsbild Christi jahrhundertelang »verzichtet« werden, ohne daß eine Lücke im Sinnzusammenhang der

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Glaubensverkündigung durch das Bild empfunden wurde und ohne daß jenes westliche Auferstehungsbild »vertreten« werden mußte durch das »Anastasis«-Bild. Die ältesten christlichen Bildzyklen bestätigen diese Überlegung. Indem sie in wenigen Bildern den Glauben an Christus zusammenfassen, lassen sie dem Bild des Todes am Kreuz oder dem Gang nach Golgatha (wie in Ravenna) das Bild des leeren Grabes folgen, d. h. sie halten sich an die Texte der kanonischen Evangelien und bieten dem Auge nur das, was diese selbst geben: die Verkündigung der Auferstehung Christi durch den Engel am Grabe, nicht aber die »Darstellung« dieses ungeschauten Mysteriums. Aber auch das »Anastasis«-Bild fehlt in den erhaltenen »frühen« Bildreihen, dem Bild der »Myrrhophoren« folgt das Bild der Himmelfahrt (vgl. Reliquienkasten, Vatikan 2 4 ), dem öfters Bilder des Auferstandenen vor Maria Magdalena, vor Petrus, vor Thomas vorangestellt sind (Ampullen von Monza 2 5 , Mosaikzyklus S. Apollinare Nuovo 2 6 ). Als man das »Anastasis«-Bild in den Zyklus einfügte, tat man es aus doppeltem G r u n d : mit ihm feiert man den Sieg Christi über die Todesmächte gemäß der Liturgie, man setzte dadurch ein »Zeichen« f ü r seine ungeschaute und undarstellbare Auferstehung - und man stellte die »Siegesbeute«, den Urvater der Menschen, als »Beispiel ihrer Errettung« vor aller Augen. N u n war die »Anastasis« ein mystisches Bindeglied geworden zwischen der Bildreihe des irdischen Lebens Christi und der Reihe der Offenbarungen des Auferstandenen, die, beginnend mit der Engelsverkündigung am Grabe, im Himmelfahrtsbild, Pfingstbild und in der »Koimesis«, dem Bild des göttlichen Sohnes am Totenbett der Mutter, sich vollendet. 4

ÖSTLICHE DARSTELLUNGEN

WURDEN



UND

WEITERER

DER A U F E R S T E H U N G

HINWEIS

ZUR

CHRISTI,

INTERPRETATION

DIE NICHT DES

KANONISCH

»ANASTASIS«-BLLDES

D U R C H DAS V E R H Ä L T N I S V O N B I L D U N D T E X T I N D E N E X U L T E T R O L L E N .

Die künstlerische Erfindung des »Anastasis«-Bildes und seine kanonische Geltung durch so viele Jahrhunderte hat um so mehr Gewicht, als auch im christlichen Osten mehrfach der Versuch unternommen wurde, die Szene der Auferstehung Christi, im Gegensatz zur Lehre von ihrer Unschaubarkeit, im Bilde darzustellen. In vorsichtiger Weise geschah dies in Syrien schon im Rabula-Evangeliar des Jahres 586: unter dem Bild der Kreuzigung Christi zwischen den Schachern fügte der Maler drei friesartig gereihte Szenen ein 2 7 : links das Bild des Engels und der Frauen am leeren Grabe Christi, also die Auferstehungsverkündigung; rechts die Begegnung des Auferstandenen mit den zwei Frauen; in die Mitte aber, also direkt unter das Todeskreuz von Golgatha, setzte er den Grabbau Christi, seine Tür öffnet sich und aus dem Türspalt schießen Lichtstrahlen hervor, unter denen die Wächter zusammenbrechen - eine vorsichtige, doch deutliche Andeutung des Mysteriums der Auferstehung Christi. Andere Versuche dieser Art mögen verloren sein, denn es ist nicht wahrscheinlich, daß diese Darstellung als einzige existierte.

jj

Im 9. Jahrhundert scheint man in Byzanz »kühner« geworden: im Moskauer Psalter der ehemaligen Sammlung Chludow 2 8 wagt man darzustellen, wie Christus sich im Sarg aufrichtet! - Aber es ist sehr bezeichnend, daß dies nicht in einer Evangelienillustration geschieht, sondern im Psalter: nämlich nicht in der Bildreihe aus dem Leben Christi,

nicht als historisch geschehendes Ereignis, das nach den Evangelientexten von keinem Auge gesehen sich vollzog, sondern als prophetische Schau: neben dem Sarg Christi steht der Prophet David und weissagt die Auferstehung. Also die Vision ist hier gezeigt! Das Gleiche gilt für jenes berühmte Bild des Westens, in dem ein Maler der Reichenau

den

Evangelisten

Marcus

zwischen

Säulen

darstellt 29

und

oben

im

Tympanon in kleiner Figur Christus, wie er aufrecht im offenen Sarge steht. Dieses Bild ist vielfach als erstes Auferstehungsbild Christi zitiert worden, genau genommen handelt es sich aber auch hier nicht um eine Darstellung des Vorgangs, sondern um ein Bild visionärer Schau, wie auch die Bildinschrift besagt (»Marcus stupet. . .«)! Im Stuttgarter Psalter des 9. Jahrhundert, der in diesem Bild mit der Tradition des Chludov-Psalters offensichtlich zusammenhängt, finden wir dagegen eine Darstellung, die zeigt, wie Christus sich im Sarg aufrichtet, ohne daß der schauende und prophezeiende David dem Bild zugefügt ist 3 0 . Zwar steht auch hier das Bild als Illustration des Psaltertextes, aber rein als Bild ist es durch die Fortlassung des David selbständig geworden und kann insofern als ein erstes uns erhaltenes westliches Auferstehungsbild Christi angesehen werden. Wichtig bleibt, daß es in einer Illustrationsfolge des Psalters steht, deren Quellen bekanntlich sehr weit zurückreichen. Erst wenn man diese auch im Osten von früh auf bestehenden Tendenzen zur Darstellung des Undarstellbaren berücksichtigt, kann man die Bedeutung der Tatsache ermessen, daß die Kirche im Osten diese Ansätze nicht gefördert hat, vielmehr das Bild der »Erlösung Adams« aus dem Totenreich, neben dem alten Bild der EngelsA T H O S , PANTOKRATORKLOSTER,

COD.

61, 9./10.

D A V I D PROPHEZEIT D I E A U F E R S T E H U N G C H R I S T I

JH.,

PSALTER,

FOL.

24

V

(Ps. 9, 33):

Verkündigung am leeren Grab, zum zweiten Osterbild kanonisiert hat. Audi von hier aus wird deutlich: man brauchte das »Anastasis«-Bild keineswegs, um dem Auge die Auferstehung Christi zu bestätigen - dazu hätten, wie im Westen, die auch im Osten vorhandenen Bilder der oben genannten Art weit besser gepaßt, auch war man der Auferstehung Christi durch den Glauben an seine Gottheit völlig gewiß und sie wurde, wie schon ausgeführt, in tausend Bildern (Auferstandener; gen Himmel Fahrender; im Himmel Herrschender) vielfach bezeugt. Vielmehr wählte man das »Anastasis«-Bild, obwohl es stark auf apokryphen Quellen aufbaut, als sichtbare Bestätigung der Teilhabe, die dem Menschen an dem Mysterium der Auferstehung Christi gewährt ist - es ist ein typisches »Errettungsbild«, wie es in frühchristlicher Zeit die Darstellung des »guten Hirten« war und die Fülle der alttestamentlichen »Exempla« der göttlichen Rettung in den Katakomben 31 . Als weiterer Hinweis zur Verdeutlichung der hier vertretenen Bildinterpretation sei an die lateinischen Texte der liturgischen Feier der Osternacht in den süditalischen Exultetrollen erinnert und an die Beziehung, welche dort die Bilder zum Text haben 32 . Diese liturgischen Texte und ihre Illustratoren sind noch erfüllt von dem lebendigen Wissen: kein menschliches Auge, aber auch kein Auge der Engel hat das Mysterium der Auferstehung Christi geschaut, dieses »sah« allein »die Osternacht«. Deshalb die berühmte Stelle des Textes: »O beata nox, quae sola meruit scire tempus et horam, in qua Christus ab inferis resurrexit.« Diese Stelle nun wird zweimal durch das Bild des Engels und der Frauen am leeren Grabe Christi illustriert, zweimal durch das Bild des Auferstandenen vor Maria Magdalena; nur im Rotulus Troja I I I (12. Jh.) ist in westlicher Weise dargestellt, wie Christus das Grab verläßt, während die Wächter schlafen. Niemals aber wird diese Textstelle, die doch von der Auferstehung Christi spricht, mit dem Bild der »Anastasis« illustriert. Dieses wurde offenbar nicht als Darstellung der Auferstehung Christi aufgefaßt, sondern (mit Recht) als Bild der Erweckung und Auferstehung Adams durch die wunderwirkende Hand Christi. Dagegen zum Text, welcher den Sieg Christi in der Unterwelt und die »Beute des Siegers«, also Adams Errettung als Ziel der Inkarnation betont: »haec nox est, in qua, destructis vinculis mortis, Christus ab inferis victor ascendit. . . nihil enim nasci profuit, nisi redimi profuisset« - zu dieser Textstelle steht das Bild der »Anastasis« zwölfmal! Ebenso steht es zu dem Text »resurrectio mortuorum«, der wieder vom Menschen spricht.

57

Also dort, wo von Christi Auferstehung allein die Rede ist, fehlt das »Anastasis«Bild in den Exultetrollen, dagegen häuft es sich, wo es um die Menschen geht und um deren Befreiung durch den »im Grabe ungefesselten Christus«: »qui fuerat inter mortuis liber«. Im Osten steht das »Anastasis«-Bild nicht »an der Stelle« des westlichen Osterbildes 33 , vielmehr verdrängte es mit seinem anderen Thema, der Erweckung Adams, alle Ansätze zu einer Darstellung der Auferstehung Christi! Mindestens von karolingischer Zeit an war das religiöse Gefühl und Denken im Osten und im Westen trotz des gleichen Glaubens verschieden. Im Westen war es schon früh individuell betont: es sammelte sich im Osterbild immer mehr auf das persönliche Schicksal des Erlösers, auf die

Frage nach der Erlösung der Menschen gab es Antwort im Bild des Jüngsten Gerichtes. Im Osten konzentrierte sich das religiöse Bewußtsein schon im Osterbild auf das Heil der Menschen, auf ihre erhoffte Errettung von Tod und Satan und auf ihre Emporführung zum ewigen Leben. Das Verlangen, diese Errettung des Menschen vom Tode anschaulich vor Augen zu sehen, wurde erfüllt durch die Ikone der Osternacht, durch die Darstellung der Erlösung des »Urvaters Adam« aus der Unterwelt. 5

V O R F O R M E N DES D E S C E N S U S B I L D E S .

Im Anschluß an alte theologische Analogiedeutungen des Psalmentextes bringt die Psalterillustration häufig Bilder, die wir als Illustration zu den Evangelien kennen. An dieser Stelle sei zunächst von dem Psalter die Rede, der vielleicht Anfang des 9. Jahrh. in Nordfrankreich entstand und heute in Stuttgart liegt 34 . Neben seinen vielen Bildern zum alttestamentlichen Text bringt er zum Beispiel auch Verkündigung, Heimsuchung, Einzug in Jerusalem, Gebet in Gethsemane, Judaskuß, Kreuzigung Christi - als Analogiebilder zum Psaltertext. Hier finden sich nun auch einige Descensusbilder, die als interessante Vorformen der kanonischen Fassungen der »Höllenfahrt« anzusehen sind. Der Illustrator des Psalters behandelt in auffallend vielen und eindrucksvollen Bildern die Höllenstrafen. Während er nun zu Psalm 21 (fol. 25 R.) die Gottesmacht in der Unterwelt in alttestamentlicher Weise durch dreimaliges Erscheinen der »Hand Gottes« symbolisiert, führen mehrere Bilder der Unterwelt die Gestalt des Erlösers ein35. Aber keines dieser Erlösungsbilder zeigt jene Form, die im »Anastasis«-Bild zur Norm wurde, keines zeigt den »Erlösergriff« ans Handgelenk Adams. Erstens. Zur Illustration von Psalm 16 («Conserva me Domine«) auf fol 16 V. hat der Künstler den Himmel (mit der »Hand Gottes«), die Erde (mit Andeutung der Kirche) und die Hölle in ein einziges Bild gebracht. Große zinnengekrönte Mauern von dreistöckigen Rundtürmen überragt, auf deren Kuppeldächern das Kreuz steht. Der linke Turm ist im Erdgeschoß geöffnet, eine Diagonale im Inneren gibt die Erinnerung an Darstellungen des Grabes Christi. Dieser Turm ist dem Torbogen der Hölle verschmolzen, unter ihm sitzt mit flammengesträubtem Haar der Herr der Unterwelt und hält »die Schlange« im Schoß. Ihm gegenüber die herbeieilende Gestalt des Erlösers, er ist mit langem Haar jünglingshaft gebildet, ein Nimbus umgibt sein Haupt. Eine große, nackte Gestalt ist der Hölle entwichen, mit gewaltigem Sprung eilt sie zum Erlöser 3e , der sie mit seinen beiden Händen umfaßt. Die Merkmale ihres Geschlechts waren wohl gezeichnet, sind aber später fortradiert, die Zeichnung der Brust könnte an eine Frau erinnern, aber auch die Brust des Unterweltsherrschers zeigt ähnliche Zeichnung. Man hat diese Gestalt als Verkörperung der »anima« aufgefaßt, von welcher, aber erst auf der nächsten Seite, gesagt ist: »Du willst meine Seele nicht in der Hölle lassen« (»quoniam non delinqueres animam meam in inferno«). Tief unten am Boden kriechen zwei bekleidete Gestalten aus der Hölle heraus, eine Frau und ein Mann, sie sind krank und gequält, der Mann, der eben Christi rechten Fuß erreicht und küßt, hat ein gebrochenes linkes Bein, was die Krüppelstütze hinter ihm noch verdeutlicht. Im Text steht vorher (Psalm 15,4): »multiplicatae sunt infirmitates eorum, postea acceleraverunt«, was auf die kriechende und

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auf die springende Figur bezogen w e r d e n k ö n n t e . I m N i k o d e m u s e v a n g e l i u m im K a p i t e l 20 sagt S a t a n zu H a d e s : »alle K r a n k h e i t e n , die ich machte, heilte Er« (Christus). N o c h ist es - vielleicht - nicht A d a m 3 6 , der Christus k o n f r o n t i e r t w i r d , noch e r f a ß t der Erlöser nicht die H a n d des Menschenvaters e r r e t t e n d a m Gelenk, aber die K o n f r o n t a t i o n G o t t - Mensch, Erlöser - Erlöster ist schon hier gegeben, in der eindringlichen K ö r p e r lichkeit jener Kunstsprache, die als v e r w a n d e l t e A n t i k e weit in die sich f o r m i e r e n d e frühmittelalterliche W e l t hineinragt. Zweitens.

Z u Psalm 23,7 zeigt auf fol. 29 V. der S t u t t g a r t e r Psalter als Illustration

des Textes »attollite p o r t a s , principes, vestras . . . introibit rex gloriae« ein Bild v o n einer D r a s t i k , w i e sie f ü r dieses W e r k u n d seine Vorlagen charakteristisch ist. D e r jugendliche H e l d Christus stößt mit dem K r e u z s t a b gegen die ehernen P f o r t e n der H ö l l e , er h e b t seinen F u ß hoch empor, im Begriff, sie einzutreten. So überraschend das M o t i v in seiner a n t i k e n D i r e k t h e i t k ö r p e r h a f t e n E m p f i n d e n s f ü r spätere

Zeiten sein mag, es h a t

sich in der christlichen Bildwelt lange e r h a l t e n : im 13. J a h r h u n d e r t

findet

es sich in

31

Italien wieder ( E x u l t e t r o t u l u s G a e t a ) , im Beginn des 16. J a h r h u n d e r t s in Deutschland (Schnitzaltar des Meisters Loedevich, K a l k a r ) 3 8 . H i e r ist es n u r zu verstehen, weil es noch aus der a n t i k e n W e l t überliefert w u r d e - der deutsche Schnitzer h ä t t e es in der mageren Leiblichkeit seiner spätgotischen Bildwelt bestimmt nicht erstmalig e r f u n d e n ! M a n w ü ß t e gerne weitere Stationen des Weges, auf welchem diese B i l d t r a d i t i o n v o n der christliche A n t i k e in e t w a tausend J a h r e n bis nach K a l k a r g e k o m m e n ist! Drittens.

D a s T h e m a »Christus in der U n t e r w e l t « w i r d im S t u t t g a r t e r Psalter noch

ein drittes M a l im Bild gestaltet (fol. 111 R.) als I l l u s t r a t i o n zu P s a l m 97 » D o m i n u s regnavit«, u n d wieder ist seine I k o n o g r a p h i e eine andere. Sie steht dem oben bereits g e n a n n t e n T y p u s 2 des »Anastasis«-Bildes n ä h e r . Christus t h r o n t in einer v o n zwei Engeln getragenen kreisrunden Glorie in der oberen M i t t e des Bildes u n d w e n d e t wie sprechend sein H a u p t zu dem riesenhaften, ernsten M ä n n e r k o p f zu seiner Rechten, der in den F l a m m e n der Tiefe geradeaus schaut. Z u r Linken Christi w i r d oben ein noch riesenhafterer, bocksähnlicher K o p f m i t

flammendem

B a r t u n d H a a r sichtbar. O f f e n b a r

h a n d e l t es sich u m M o r s u n d Satan, die als zwei große K ö p f e gestaltet aus jener späteren »Anastasis«-Darstellung auf der Ciboriumssäule v o n S. M a r c o in Venedig b e k a n n t sind 3 9 . I n der Tiefe d e r Höllenschlucht, direkt u n t e r der Gloriole Christi, hebt sich A d a m aus dem Boden, er schaut z u m Erlöser auf u n d streckt seine Rechte empor, seitlich bei ihm steht E v a m i t b i t t e n d erhobenen, verhüllten H ä n d e n . I n den F l a m m e n zur Seite viele qualvolle Gesichter - i m T e x t h e i ß t es d a z u : » i n f l a m m a b i t . . inimicos eius«, » a d l u x e r u n t f u l g u r a eius« - Z e n t r u m des Bildes ist die D a r s t e l l u n g der Erlösung A d a m s u n d Evas durch Christus, der nach seinem T o d e a m K r e u z als unsterblicher G o t t die U n t e r w e l t erleuchtet u n d die U r e l t e r n aus der G e w a l t v o n T o d u n d S a t a n befreit. D a s später herrschende M o t i v des Ergreifens u n d E r g r i f f e n w e r d e n s fehlt hier, wie auch bei T y p u s 2 der »Anastasis«-Bilder - b e t o n t w i r d die D i s t a n z u n d dennoch V e r b u n d e n h e i t zwischen Mensch u n d G o t t . H i e r ist die E r w a r t u n g der Erlösung im gespannten 59

Emporblick

A d a m s im Z u s t a n d des noch h a l b Begrabenseins Bild geworden, w ä h r e n d später im

»Anastasis«-Bild immer wieder der Vollzug der Erlösung durch den »Griff« Christi vor Augen gestellt wird. 6

F R Ü H E R E C H R I S T L I C H E V E R W E N D U N G DES M O T I V S » G R I F F ANS H A N D G E L E N K . «

Die Frage nach dem Motiv »Griff ans Handgelenk« führt notwendig zum Studium des Stuttgarter Psalters, der mit seiner Bilderfülle nicht nur f ü r das Abendland im 9. Jahrhundert, sondern durch seine unverkennbare antikische Überlieferung auch f ü r die Frühzeit christlicher Bildgestaltung von größtem Interesse ist. Unter den 214 Illustrationen zeigen sechs das in diesen Zeilen skizzierte Motiv, und zwar handelt es sich hier um die » H a n d Gottes«, welche aus dem Himmel herab den Menschen am H a n d gelenk ergreift, jedesmal als ein Zeichen der Hilfe und des Schutzes durch Gott. Der Griff bei diesen sechs Bildern ist im einzelnen mehr oder weniger verschieden gestaltet (seine Darstellung ist noch nicht genormt wie später), im Wesentlichen aber ist er in fünf Fällen ähnlich. Es handelt sich um folgende Illustrationen 4 0 : Erstens: Zu Psalm 118, 13-15, (fol. 131): »dominus suscepit me«, . . . »dextera domini exaltavit me«. Unter dem Angriff von allen Seiten drohend heranfliegender Bienen (hier als Symbol der Feinde) stürzt ein Mann nach rückwärts, aber die »dextera domini« ergreift ihn an der Handwurzel und hält ihn im Sturz. Seine ergriffene Linke verhält sich ganz passiv, sie wird zusammengedrückt und samt dem Daumen umfaßt. Zweitens: Zu Psalm 27 (fol. 133 V.): »dominus adsumpsit me« . . . »dirige me in semita recta«. Der von Vater und Mutter Verlassene eilt einen Hügel empor und legt seine linke H a n d vertrauensvoll in die » H a n d Gottes«. Wieder das Umfassen samt dem Daumen, die »dextera domini« schließt mit Daumen und Zeigelinger den Griff am Handgelenk. Drittens: Zu Psalm 5 , 9 (fol. 5 V.): »Domine deduc me . . . dirige viam meam«. David (in Rüstung ohne Waffen) flieht vor bewaffneten Feinden und eilt einen H a n g empor. Seine ausgestreckte Rechte, deren Finger schräg nach unten gestreckt sind, wird samt dem Daumen von der »dextera domini« umfaßt, wieder schließt sich der Griff am Handgelenk wie oben. Viertens: Zu Psalm 73,24 (fol. 5 V.): »Tenuisti manum dexteram m e a m « . . . Der Psalmist sitzt auf einem Faltstuhl und erhebt den rechten Arm, sprechend ist sein Zeigefinger erhoben, vor ihm Stute und Füllen, auf die er hinweist: Illustration der Worte »Ut iumentum factus sum apud te«. Obgleich dieser eine Finger aktiv ist, ruht wie stets die H a n d als Ganzes passiv in der umgreifenden H a n d Gottes, besonders deutlich gemacht wieder durch den Daumen, der nicht greift, sondern ebenfalls u m f a ß t wird, Daumen und Zeigefinger der »Gotteshand« schließen den Griff am Handgelenk. Fünftens: Zu Psalm 19,7 (fol. 23 R.): »opera manus eius adnunciat - occursus eius ad summum tamquam sponsus procedens - exultabit ut gigas currendum viam suam.« Christus, mit geschultertem Kreuzstab, ist von der Erde gelöst und schreitet schwebend empor. Er erhebt den rechten Arm, auch seine H a n d wird von der Gotteshand in der beschriebenen Weise umfaßt, mit den locker ausgestreckten Fingern ruht sie in der H a n d des Vaters, deren Daumen sein Handgelenk überquert (vgl. Anm. 44).

Sechstens: Zu Psalm 37, 24: »dominus subponit manum suam«. Der Fromme, den ein Nimbus ohne Kreuz auszeichnet, wurde von keulentragenden Feinden verfolgt, aber die »Gotteshand« aus dem Himmel rettet ihn, von ihr gehalten schwebt er losgelöst von der Erde im Fluge zu Gott. Seine ausgestreckte Rechte ist, durch schräg abwärts gesenkte, also nicht greifende Finger und durch Umfaßtwerden des Daumens, als ganz passiv gekennzeichnet. Dieses ist im Stuttgarter Psalter das einzige Bild, welches nach Art der Darstellung des Griffs Ähnlichkeit mit jenem zeigt, der als »Erlösergriff« Christi in den »Anastasis«-Bildern hundertfach wiederkehrt: man blickt im Unterschied zu den fünf vorigen Bildern, die immer das Innere der »Gotteshand« zeigen, auf ihren Handrücken und sieht daher nur im Ansatz ihr Umgreifen. Sonst ist in diesem Psalter von der Form der Geste des »Anastasis«-Bildes kaum etwas zu spüren, so sehr bestimmt die variable Gestaltung der Antike noch diese Arbeit des 9. Jahrhunderts. Die Vielfältigkeit der Gestaltung im einzelnen, die so sehr von der späteren Normung absticht, darf aber nicht über die große Gemeinsamkeit des Motivs hinwegtäuschen, wie die kurzen Beschreibungen sie hervorheben, eben jene Gemeinsamkeit, aus der das Motiv seine Ausdruckskraft gewinnt: aus dem Gegensatz der aktiven H a n d des Allmächtigen und der Passivität des Ergriffenen. Diese sehr bestimmte Gegensätzlichkeit, die wir schon in vorchristlichen Werken und im »Anastasis«-Bild feststellten, ist auch hier vorhanden - schon vorhanden, dürfen wir vom »Anastasis«-Bild rückblickend sagen, denn den überall spürbaren Vorlagen nach ist die stilistische und unabtrennbar davon, die ikonographische H e r k u n f t dieses Werkes älteren Charakters, als die frühesten uns erhaltenen »Anastasis«-Bilder, es f ü h r t auf eine noch nicht »mittelalterlich« verwandelte, antikische Phase christlicher Kunst zurück. Diese kolorierten Zeichnungen des 9. Jahrhunderts binden sich mit ihrer festen, sicher gezogenen, ununterbrochenen Umrißlinie zwar stark an die Bildfläche, aber trotz starker expressiver Steigerung der Proportionen enthalten sie noch erstaunlich viel von ihrem, jahrhunderteweit zurückliegenden Vorbild, das seinen Maßstab den plastischen Formwerten der organischen N a t u r entnahm und auch die Wiedergabe stark bewegter, komplizierter Stellungen der Figuren im Flächenbild spielend bewältigte.

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Die Illustrationen zum Utrechtpsalter sind ebenfalls für die Frage nach der f r ü h christlichen Psalterillustration und ihrer Verwendung des hier behandelten Griffsmotivs von großer Bedeutung. Diese große Bilderfolge, wohl in Hautvilliers bei Reims um 832 geschaffen, vielleicht von emigrierten griechischen Meistern wie die Fresken von Castelseprio, weist in unendlich vielen Motiven und andererseits im Stil auf die Antike zurück - sie bringt das Motiv »Griff ans Handgelenk« in vielen Variationen 4 1 . - 1. im Alltag: die Mutter f ü h r t ihr Kind: Ps. 26 (fol. 15 R.), desgleichen: Ps. 76 (fol. 44 R.), vgl. ferner Ps. 14 (fol. 8 R oben); 2. die Gotteshand ergreift den liegenden Psalmisten: Psalm 72 (fol. 41 V.); 3. Christus: a) steht mit Fackel vor der Kirche und zieht den tiefer stehenden Psalmisten empor: Ps. 26 (fol. 15 R.); b) mit Kreuzstab, er zieht den Psalmisten aus der Tiefe des Sarges empor: Psalm 29 (fol. 16 V.) - ein »Anastasis«Motiv! (vgl. unten N r . 4); c) er zieht Gestorbene aus der Tiefe zum Leben (fol. 84 V.,

Hannahs Lobgesang); 4. Christus tritt als Sieger im Tod den Hades unter seine Füße, aus dem Flammenschlund der Erde zieht er die Ureltern empor: Ps. 15 (fol. 8 R. unten). Hier also ist auch das »Anastasis«-Motiv, das in der Überlieferung des Stuttgarter Psalters fehlte, mehrfach variiert vorhanden und zwar doch wohl aus den antiken, vielleicht den römischen Quellen der karolingischen Arbeit. Das Bild zeigt weder

die

später zur Norm werdende Darstellung der Höhle als Schauplatz der Unterweltsszene, die östlichen Ursprungs ist, vielmehr den Flammenschlund in der ebenen Erde, der italischer Herkunft sein könnte, noch ist das isolierte Gegenüber Christus-Adam, das theologisch so bedeutsam ist, vorhanden. Vielmehr greift Christus mit seiner Rechten die als vordere Figur gezeigte Eva am Handgelenk, dagegen hinter ihr Adam mit seiner Linken am Unterarm! Handelt es sich hier um die Uberlieferung einer älteren Darstellungsform der »Anastasis«, ehe ihre kanonisch werdende Prägung Ende des siebenten, Anfang des achten Jahrhunderts geschah? Der raumgestaltende Stil der Federzeichnungen und die genannten ikonographischen Besonderheiten dieser Darstellung machen dies wahrscheinlich. Vielleicht liegt ihnen die theologische Absicht zugrunde, die Erlösung von der Ursünde, die den Tod brachte, eben an Eva als dem Anfang der Sünde besonders anschaulich zu machen. Diese Form des »Anastasis«-Themas wird durch den ChristusAdam-Gedanken zurückgedrängt, taucht aber später im Westen ab und zu wieder auf (vgl. Antependium von Kloster Neuburgl). Die frühchristliche Psalterillustration, uns in diesen Kopien des 9. Jahrhunderts erhalten, hat das hier behandelte Motiv im Traditionsbereich des Stuttgarter Psalters also nicht im Descensusbild angewendet, dagegen geschieht dies häufig im Traditionsbereich STUTTGART, L . B . COD. LAT. 2 3 , 9 . J H . , FOL. 8 5 v , P s . 7 2 , 2 - 3 : D I E D E X T E R A DEI E R G R E I F T DEN PSALMISTEN

des Utrechtpsalters. D a f ü r begegnet hier das Motiv der vom Himmel herab zugreifenden »Gotteshand« viel seltener als im Traditionsbereich des Stuttgartpsalters. Darf man vermuten, daß diese frühzeitige Anwendung des Motivs als Illustration des Psaltertextes, in welchem das Sprachbild »dextera domini« eine so beherrschende Rolle spielt, mit dazu beitrug, diesen »Griff ans Handgelenk« im »Anastasis«-Bild kanonisch zu machen? Die Themen sind nahe verwandt: Schutz und Rettung des Menschen durch Gottes »Griff ans Handgelenk« - im Psalter in den vielfältigen Bedrängnissen des Menschen, im »Anastasis«-Bild in dem allen gemeinsamen Los des Todes, im Psalter durch den Vater, im »Anastasis«-Bild durch den Sohn, der Mensch wurde und am Kreuz »starb, um die Pforten des Todes zu sprengen« (Osterliturgie). 7

D A S B I L D T H E M A D E R A K T I V E N G O T T E S H A N D IM S T U T T G A R T E R P S A L T E R .

An dieser Stelle müssen wir auf weitere Darstellungen der »Gotteshand« eingehen. Diese müssen als eindeutiges Bildsymbol sowohl jüdischer wie christlicher Kunst gelten: zuerst ist das Wortb\\& in den heiligen Texten der Juden geprägt worden, welche von den Christen als »Altes Testament« übernommen wurden, sie sprechen immer wieder von der »dextera Domini«, »dextera Dei«. Dem Wortbild folgt die bildende Kunst. Frühchristliche Malerei und Plastik wendet das Symbol der H a n d , die, aus dem Himmel auftauchend, zur Erde gerichtet ist, sehr häufig an. O f t ist diese Darstellung wie eine Hieroglyphe gegeben, gleichsam f ü r das Textwort »Gott sprach«. Aber nicht nur als sprechende, gebietende, segnende H a n d wird sie seit früher Zeit dargestellt 4 2 , sondern U T R E C H T , U . B . , P S A L T E R , R E I M S UM 8 3 2 , F O L . 8 R , P s . X V ( 1 6 ) , A U S S C H N I T T : C H R I S T U S E R H E B T D E N P S A L M I S T E N AUS DEM S A R G • F O L . 4 1 v . , P s . 7 2 ( 7 3 ) : D I E D E X T E R A D E I E R G R E I F T 63

DEN PSALMISTEN



F O L . 8 R . , P s . X V ( 1 6 ) : E V A U N D A D A M AUS DEM T O D E ERLÖST

auch als irdisch handelnde, in Kontakt mit den Dingen der Erde. So reicht sie zum Beispiel dem Moses das Gesetz in Form eines Rotulus oder der Tafeln. Auffallend häufig erscheint die Gotteshand in den Fresken der Synagoge von Dura-Europos: in den Mosesszenen am Sinai und am Roten Meer bei der Darstellung des Exodus des israelitischen Volkes, in der Szene mit Abrahams Opfer, betonter noch in den Szenen des Propheten Ezechiel: f ü n f m a l ist sie riesengroß dicht hintereinander im gleichen Bild gemalt. Hier greift sie auch zu, greift ins H a a r des Propheten und versetzt ihn ins Tal der Totengebeine 43 . Die jüdische hellenisierte Kunst des dritten Jahrhunderts fand dieses Motiv »Griff in den Haarschopf« vor und verwandte es für die heilige Geschichte. Auch in christlicher Kunst kennt man den Texten entsprechend leibhafte Handlungen als Bilder geistigen Sinnes vielfach (z. B. das Herabreichen des Märtyrerkranzes oder des Herrscherdiadems durch die H a n d aus dem Himmel). Vollends aktiv eingreifend ist die Gotteshand in Szenen der Himmelfahrt Christi dargestellt 4 4 . Vorbilder dafür waren, wie wir sahen, schon in der Psalterillustration entwickelt. Kein Manuskript vermag wohl die hervorragende Bedeutung des Bildthemas der aktiven Gotteshand, wie es aus der antiken, jüdischen und frühchristlichen Überlieferung hervorging, eindringlicher vor Augen zu führen, als der hier schon mehrfach besprochene lateinische Psalter in Stuttgart. In seiner Illustration ist das Bild der »dextera Domini«, Symbol der Allmacht Gottes, durch ihren o f t wiederholten Eingriff in die Welt in großer Vielfältigkeit verbildlicht. Die » H a n d aus dem Himmel« hält ein riesiges Schwert, es saust durch die L u f t und trifft den Kopf des Gottlosen. Die H a n d führt eine Lanze quer durch das Bild gegen den Drachen; sie stößt senkrecht von oben hinunter und trifft den Kopf des Stürzenden. Von dieser H a n d gehalten schwebt eine Waage. Die H a n d schreibt mit senkrecht gestellter Feder in ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Altar liegt. Vom Himmel herab entrollt sie den Rotulus, senkt sie den Codex, senkt auch das Haus der Kirche zur Erde hinab. Sie gießt das ö l aus der Salbflasche oder aus dem Salbhorn auf das gescheitelte H a u p t h a a r des Geweihten, sie krönt den Auserwählten. Sie führt einen großen Stedten; sie ergreift eine Bettstelle und stürzt diese um, mitsamt dem auf ihr Liegenden. Immer ist es die rechte H a n d , gemäß dem Sprachbild »dextera Domini«. Unmittelbar »aus dem Himmel« greift sie ein in die Welt der Menschen und der Dinge - schützend, rettend, fordernd und strafend. Dem Psalmentext entsprechend offenbart sie sich immer wieder als die handelnde »Hand« des Allmächtigen. Gott ist im jüdischen und im christlichen Glauben zwar unsichtbar (obwohl Sprachbilder wie das »Auge« Gottes, dem nichts verborgen bleibt usw., auch im gemalten Bild zu Ausnahmen 4 5 führen), aber der Gott »im Himmel« ist nicht so »transzendent«, daß sein Wirken nicht als direktes »Eingreifen« empfunden und auch im Bild ausgedrückt werden könnte. In der elementaren bildhaften Sprache der Psalmen, Ausdruck des alttestamentarischen Glaubens, und in der aus ihr genährten Welt des sichtbaren Bildes gilt solcher »handgreifliche« Ausdruck der Gottesmacht keineswegs als Gottes unwürdig - diese Bildwelt hat noch keine Vorschriften, weder durch religiöse Bedenken, noch durch Sitten der Gesellschaft, noch durch rationale

Einwände 4 6 . Hier im Stuttgarter Psalter, beziehungsweise in seinen Vorbildern, ist die frühe jüdische K r a f t der Bildsprache des Psalmentextes und die leibhafte Greifbarkeit hellenischer Bildüberlieferung in einer sehr charakteristischen spätantiken Mischung in eins verschmolzen u n d aus dieser doppelten K r a f t alter Traditionen schafft noch der karolingische Künstler des frühen 9. Jahrhunderts. Man glaubt unmittelbar zu spüren, wie er sich an der Drastik der uns verlorenen, ihm aber vorliegenden Bilder freute. Alles ist plastisch-greifbar gesehen, Erde, Bäume, Wolken, die Fülle der Dinge, Tiere, Menschen - vor allem aber auch die angreifende Gewalt des Bösen. Um so mehr wird der Künstler des Stuttgarter Psalters und der seines Vorbildes nicht müde, in immer neuen Variationen die aktiv eingreifende, schützende und strafende »Hand Gottes« eindringlich vor Augen zu stellen. Innerhalb dieser weiten Themenwelt ist der »Griff ans H a n d gelenk« nur ein Einzelfall der handelnden »Rechten Gottes«. Was dieses Thema einst bedeutete, zeigt eine Überschau über die 214 Illustrationen des Stuttgarter Psalters. Weit über ein Drittel der Gesamtzahl seiner Bilder, nämlich 85 von ihnen, zeigen die »dextera Dei«. Solche Aktivität der » H a n d Gottes«, die dem Text des Alten Testamentes so sehr entspricht, könnte vielleicht, vermittelt durch judenchristliche Gemeinden, mit Genesisund Exodusillustrationen jüdisch-hellenistischer H e r k u n f t in die frühchristliche Bildwelt übergegangen sein. In höherem Maße geschah diese Übernahme wahrscheinlich in den f ü r uns verlorenen Psalterillustrationen der christlichen Frühzeit, die in formal extrem verschiedener, ikonographisch aber zum Teil zusammenhängender Weise im Utrechtpsalter und im Stuttgarter Psalter nachleben. Man hat aus der Tatsache, daß in der christlichen Kunst früh Bildzyklen des Alten Testaments auftauchen, noch ehe ein großer Bildzyklus zum Neuen Testament geschaffen war, die Möglichkeit einer jüdisch-hellenischen Ausbildung solcher Bildzyklen in Betracht gezogen 47 . Seit der Entdeckung der Freskenzyklen von Dura-Europos ist diese Möglichkeit Wahrscheinlichkeit geworden. Die Schaffung solcher eng an die Texte anschließender Bildzyklen als Wandmalereien ist ohne voraufgehende Buchillustrationen schwer denkbar. Vielleicht finden sich Beweise d a f ü r bei noch genauerer Untersuchung der Nachwirkung der ältesten verlorenen Psalmenillustrationen in den genannten Werken, und zwar durch Zusammenarbeit von Kunsthistorikern, Archäologen, Theologen und Philologen der hebräischen Textüberlieferung 48 . 8

AUSBREITUNG

BILDTHEMEN

DES

MOTIVS » G R I F F

GÖTTLICHER

FÜHRUNG,

ANS

HANDGELENK»

HEILUNG,

RETTUNG

ÜBER UND

VIELE

CHRISTLICHE

ERWECKUNG

DES

M E N S C H E N VOM T O D E .

Aus den uns erhaltenen Denkmälern muß man wohl schließen: das Motiv »Griff ans Handgelenk« in der christlichen Kunst wurde in der ältesten Psalterillustration f ü r die rettend vom Himmel her zugreifende H a n d Gottes, vielleicht im Zusammenhang mit der hellenisierten jüdischen Kunst des 3. Jahrhunderts und mit judenchristlichen Gemeinden, ausgebildet. Vor Ende des 4. Jahrhunderts ist es für Bildzyklen des Lebens Christi belegt 49 . Bald wurde das Motiv auch für die göttliche Gestalt Christi angewendet, der mit diesem »Griff« Adam im Höllenschlund aus dem Tode erlöst: das alttestamentarische Thema der immer gegenwärtigen H i l f e Gottes, symbolisiert durdi die »Himmels-

hand«, wird für die Bildgestaltung des neutestamentlichen Erlösungsthemas wichtig und das Motiv wurde hier zur bleibenden Norm erhoben. In der »Anastasis«-Szene im Reich der Unterwelt rückt der Gestus ins Zentrum des Erlösungsbildes und zeigt die neue gnadenhafte Verbundenheit des durch Sünde und Tod schwachen Menschen mit der rettenden Allmacht des Gottessohnes. Die folgenden Jahrhunderte des Mittelalters und darüber hinaus bringen eine ungeheure Ausbreitung dieses Griffmotivs über zahllose christliche Bilder, welche in sehr verschiedenen Themen die göttliche Hilfe veranschaulichen. In dieser Skizze wird der Versuch einer auch nur annähernd erschöpfenden Aufzählung der in Betracht kommenden Bilder erst gar nicht unternommen, auch wird hier auf eine detaillierte Untersuchung des historischen Vorgangs dieser Motivausbreitung in Ost und West verzichtet. Die folgenden Beispiele sollen vorläufig nur in freier Auswahl den Umfang der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung des Motivs andeuten. Nach den Jahrtausenden vorchristlichen Brauches in Leben und Kunst, im Alltag und im feierlichen Zeremoniell, wird das Motiv aus der frühchristlichen Kunst durch viele Bildtraditionen ins frühe Mittelalter in Ost und West übernommen und scheint in den Jahren 1000 bis 1300 einen Höhepunkt der Geltung zu erreichen, ohne damit zu enden. Tatsächlich gibt es kaum ein Gebiet christlicher Kunst, in welches das Motiv nicht eindrang - ein Zeichen, wie sehr es überzeugt hat als bildlicher Ausdruck der erlösungswilligen Macht Gottes sowie der von ihm Beauftragten, und der erlösungsbedürftigen Schwäche des Menschen. Nur wenige Beispiele seien, um Raum zu sparen, ohne Angabe von Literaturnachweisen genannt und nach vier Themenkreisen gruppiert. Erstens. Schöpfungsgeschichte: 1. der Schöpfer Gott erhebt den eben geformten Leib Adams, um ihn zu beseelen (Fresko 1. H. 12. Jh. Prado). 2. Gott führt Adam ins Paradies, Venedig, San Marco, Vorhalle, Mosaik (nach frühchristlicher Handschrift), dgl. Mosaik Monreale. 3. Gott hebt Eva aus der Seite Adams (Relief: Giotto, Florenz, Campanile; Glasfenster Chartres, südl. Seitenschiff, I . V . 13. Jh.). 4. Gott führt Eva zu Adam (Mosaik, Monreale). Zweitens. Wundertaten Christi: 1. Christus erweckt die Tochter des Jairus, Elfenbeinrelief, (Brescia, Lipsanothek 2. H. 4. Jh.; dgl. Codex Egberti, Trier um 980). 2.' Christus heilt die Schwiegermutter des Petrus, Miniatur (Darmstadt, Hitda-codex.). 3. Christus der Auferstandene, führt die Hand des zweifelnden Thomas an seine Seitenwunde (Monza, Pilgerampulle). 4. Christus zieht Johannes den Apostel aus dem Grabe zum Himmel empor (Fresko: Giotto, Florenz). 5. Christus errettet Petrus vor dem Versinken, Monza-Ampulle; Mosaik (Monreale 1174-1182). Dieses letzte Thema wird in der russischen Ikonenmalerei häufig ins Bild der »Anastasis« als Teilbild eingeführt: als Analogie zur Errettung Adams aus dem Tode, wodurch auch für die »Anastasis«Darstellung das Thema »Errettung des Menschen« noch einmal betont wird. Drittens. Wundertaten der Apostel, der Muttergottes und der Heiligen: 1. Petrus erweckt Tabitha, Mosaik Palermo, Capeila Palatina. 2. Maria rettet den abstürzenden Maler, späte aethiopische Miniatur, (vgl. Bamberger Apokalypse, Anf. 11. Jh., das Weib

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1 mit der Sonne bekleidet rettet das Kind vor dem Drachen: Griff an Unterarm). 3. Der heilige Fortunatus erweckt den Frater Marcellus zum Leben, Miniatur 12. J h . Viertens.

Engel als Führer und Befreier: 1. Der Engel führt den jungen Johannes,

Vladimir-Fresko 1408; desgl. Ikone Novgorod 16. J h . 2. Der Engel führt Petrus aus dem Gefängnis, Miniatur, byzantinisch; russische Ikone 16. Jh., Recklinghausen;

Konrad

Witz 1444, Basel; Guido da Siena, Siena, Pinakothek um 1230. 3. Der Engel errettet die hl. Katharina vor dem Tod auf dem Rad, Pisa, 13. Jh. 4. Der Engel ergreift die Seele des sterbenden Mönchs, byzantinische Miniatur, Athos. Außer den angeführten Themen gibt es noch viele andere, in denen das Griffmotiv angewendet wird. Trotz vielfältiger Verschiedenheit der Szenen wird durch den »Griff ans Handgelenk« immer der gleiche Sinn in vielen Variationen zum Ausdruck gebracht: die lebengebende, führende, befreiende und erweckende Macht Gottes und seiner Diener. D a ß der vom Tode errettende Griff Christi im »Anastasis«-Bild »kanonisch« wurde, hat zu der Ausbreitung und Dauer des Motivs sicher wesentlich beigetragen. 9

DIE BILDINSCHRIFT » ' H ' A N A C T A C I C « .

Das Bild Christi in der Unterwelt, das in Ost und West eindeutig den Sieg Christi über den Hadesfürsten und die damit verbundene Erlösung Adams aus der Gewalt des Todes darstellt, hätte von sich aus durch keine der verschiedenen Darstellungsformen jemals Anlaß gegeben, es als ein Bild der »Auferstehung Christi« zu bezeichnen. Das geschah in erster Linie wohl deshalb, weil mit diesem Bild das Osterfest als Fest der Auferstehung Christi gefeiert wurde. Zum zweiten gab wohl

die Bildbeschriftung

» ' H ' A N A C T A C I C « dazu Anlaß. Meist ohne jeden Zusatz gegeben bezeichnet aber MOSKAU, HIST. M u s . , PSALTER, BYZANZ 9. J H . , FOL. 6 3 , P s . 6 7 ( 6 8 ) : „ X P d v u n ä n j 'Aöcin EX t o i " A ö o v "

diese Inschrift keineswegs die Auferstehung des Herrn, sondern schlechthin »die« Auferstehung. Diese wird im »Anastasis«-Bild durch die Gottheit Christi Menschen des Alten Testaments zuteil, vor allem - eben durch den Griff des Erlösers - dem Urvater und in ihm, als dem sündig Gewordenen und nun Erlösten, der ganzen Menschheit. Im byzantinischen Chludovpsalter des 9. Jahrhunderts ist auf Blatt 63 Hades als monströser Riese dargestellt 50 . Als von Christus Besiegter liegt er auf dem Rücken, Christus steht als Sieger über ihm und zieht, gleichsam aus seinem Bauch, Adam als Siegesbeute durch den »Griff ans Handgelenk« ans Licht zu neuem Leben. Bei dieser Darstellung steht bekanntlich die Inschrift »TÖV 'A8d(x dvitmöv X Q ex toi "Aöou«, das heißt »Christus macht den Adam aus dem Hades auferstehen«. Diese Inschrift, die, soviel mir bekannt, an anderem Ort nicht wiederholt ist, muß für uns insofern wichtig sein, als sie in Worten des 9. Jahrhunderts genau das ausdrückt, was uns in allen »Anastasis«-Bildern tatsächlich vor Augen gestellt wird: die durch die Erlöserkraft Christi bewirkte Befreiung Adams, Evas und der Anderen aus den Todesbanden, in welche alle infolge des Sündenfalls durch das Urteil Gottes gerieten. Auf der Rückseite desselben Blattes steht eine Illustration, welche in üblicher Form zeigt, wie Christus durch seinen Erlösergriff Adam aus dem Tode ins Leben zieht. Bei ihr steht eine Inschrift, welche auf die Darstellung der vorigen Seite verweist: »äXXr| avaataaig °A5ä[xov«, »eine andere Auferstehung Adams«, wobei hier wie dort der Sinn der gleiche sein muß, das heißt, dieses Wort »dvacrtacric;« muß hier die gleiche Bedeutung haben, wie dort das Verbum »Auferstehen machen«, denn Adam steht nicht aus eigener Kraft auf, wie etwa die Toten in Bildern des Jüngsten Gerichtes es tun, sondern hier wie dort und stets in »Anastasis« Darstellungen ist Adam in ohnmächtiger Passivität der aktiven Kraft des erlösenden Gottes gegenübergestellt. Dannach würde die immer wiederkehrende Bildinschrift »Anastasis« (ohne Zusatz) »die durch Christus bewirkte Auferstehung« bedeuten, wie es der Darstellung entspricht, nicht aber »die Auferstehung Christi«, von welcher das Bild nichts zeigt, das niemals Sarkophag oder Grabbau Christi darstellt, wie sie für die eindeutige Bildsprache eines Auferstehungsbildes Christi unentbehrlich wären. Selten steht im Bild die Beschriftung »avctataaig XY«, »'H TOC XY 'Avaataaig«, »'H 'AUA TOY XY 'ANACTACIC«. Auch hier muß man fragen, bedeutet sie: »Auferstehung Christi«, steht sie also im Widerspruch zur Darstellung? Dann wäre die Inschrift eine über das spezielle fii/t/thema hinausgehende Oster-Verkündigung51. Das ist möglich, wie es im Westen Bilder gibt, welche die Frauen am leeren Grabe vor dem Engel der Auferstehungsverkündigung darstellen, aber die Inschrift tragen »resurrectio«, ohne daß diese dargestellt ist. Oder steht auch diese Inschrift in Übereinstimmung mit der Bilddarstellung, in der Christus die Auferstehung Adams bewirkt - und der Genitiv ist wie im Altgriechischen als Genitiv des Bewirkens zu verstehen? Hat etwa die allgemeine byzantinische Renaissancebewegung in dieser Form des Sprachgebrauchs, entsprechend der bildenden Kunst, sich ebenfalls auf das Altertum zurückbezogen? Hier könnten neue philologische Prüfungen unter Einbeziehung der Bildinschriften von Nutzen sein, um die

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sprachliche Frage, welche für die Bildinschriften zu stellen ist, zu entscheiden. Das Bild selbst freilich ist in seinem Thema rein von seiner Sichtbarkeit aus zu bestimmen, also als die durch die Gottheit Christi bewirkte Auferstehung Adams und damit als Erfüllung und Vollendung des göttlichen Erlösungsplanes. 10

A U F L Ö S U N G DES MOTIVS » G R I F F ANS H A N D G E L E N K « IN O S T UND W E S T .

Wie bedeutend das Motiv des Griffs ans Handgelenk in der christlichen Kunst vieler Jahrhunderte als ein Bildausdruck göttlicher Hilfe gewesen ist, kann uns noch klarer zum Bewußtsein kommen, wenn wir einen Blick auf jene Jahrhunderte werfen, in denen im Westen und im Osten in verschiedener Weise eine Auflösung des Motivs erfolgt. Im Abendland, das der antiken Formüberlieferung ferner steht als Byzanz, bilden sich für das Descensusbild schon früh freiere Formen, in denen die Bedeutung des Griffs zurücktritt und zum Beispiel die Hände des Erlösers in der Unterwelt wie väterlich erbarmend geöffnet sind 52 . Darüber hinaus läßt im Abendland der Sinn für die eigentliche theologische Thematik des Descensusbildes bald nach. Im Altarantependium von Klosterneuburg sehen wir, daß Christus wie schon im Utrechtpsalter Eva am Handgelenk ergreift, während Adam, anders als im Utrechtpsalter, aus eigener Kraft emporsteigt - die Antithese erster Adam / zweiter Adam ist aufgehoben53. Später in Dürers Werk, sind in der gleichen Szene Adam und Eva schon emporgestiegen, sie stehen wie im Gespräch vereint im Rücken Christi, der tief gebeugt Johannes den Täufer (!) am Handgelenk ergreift, um ihm emporzuhelfen54. Die Bildformel der Geste ist also geblieben, aber die große religiöse Spannung der Gegenüberstellung des ersten Menschen und des Gottes, der zur Erde kam, um durch seinen Tod das im Tod gefangene Geschöpf zurückzuholen, diese Spannung aus universaler Schau der Theologie, ist hier verschwunden55. Dabei hatte ein Jahrhundert vorher das Abendland für das Erlösungsthema noch eine selbständige dogmatisch eindrucksvolle Bildform geschaffen59: Christus am Kreuz hat die rechte Hand vom Marterholz losgelöst, mit ihr ergreift er erlösend den in Unterweltsflammen stehenden Adam: eben durch den Tod aus göttlicher Liebe hat er das an Adam und das Menschengeschlecht ergangene Todesurteil Gottes stellvertretend auf sich genommen und den Fluch der ersten Sünde zunichte gemacht. Mit seinem Tod erweckt er Adam zum Leben - und auch hier noch ist der »Griff ans Handgelenk« die Bildformel der Erlösung! Auch der Osten kennt in dieser Zeit eine über die gleichsam »historische« Darstellung der Erlösung im »Anastasis«-Bild hinausgehende zeitlose dogmatische Bildform des Themas: die Inkarnation Christi, sein verwirklichter Wille zur Menschwerdung enthält bereits schon deren Ziel: die Erlösung des in Sünde und Tod gefallenen Menschen. Entsprechend das serbische Psalterbild des 15. Jahrhunderts 57 : das göttliche Kind auf dem Schoß der Mutter Maria streckt beide Arme aus und ergreift Adam und Eva, die beide aus ihren Särgen emporsteigen - und auch in dieser Neuformung des Bildes der Erlösung bleibt der alte »Griff ans Handgelenk« für den Maler verbindlich! Im übrigen vollzieht sich die Auflösung des Motivs im Osten in mehreren Etappen. Wir nannten schon jene Tendenz späterer Ikonen, das alte Bild der Erlösung Adams durch

C h r i s t u s m i t k l e i n e n N e b e n b i l d e r n zu ergänzen und neben dem A n a l o g i e b i l d der E r r e t tung P e t r i v o r dem V e r s i n k e n auch das westliche A u f e r s t e h u n g s b i l d C h r i s t i a u f z u n e h m e n : also w i r d seit dem 1 6 . J a h r h u n d e r t diese E r g ä n z u n g auch im O s t e n als n o t w e n d i g e m p f u n d e n ! D i e z w e i t e E t a p p e der A u f l ö s u n g des alten M o t i v s findet sich in vielen solchen S a m m e l i k o n e n , die als H a u p t s z e n e noch die »Anastasis A d a m s durch die H a n d C h r i s t i « zeigen, a b e r in solchen W e r k e n des 17. und 1 8 . J a h r h . ist die christlich-archaische, letzten E n d e s a n t i k e Geste verschwunden, C h r i s t i H a n d u m f a ß t nicht mehr das H a n d g e l e n k A d a m s in j e n e m ausdrucksvollen K o n t r a s t , wie ihn die K u n s t ein J a h r t a u s e n d lang im O s t e n festhielt. I n den S p ä t f o r m e n der » A n a s t a s i s « - B i l d e r b e r ü h r e n sich die H ä n d e A d a m s und C h r i s t i höchstens noch m i t den Fingerspitzen -

das L e i b h a f t e des

G r i f f s ist ausgeschieden 5 8 . M i t S p ä t g o t i k , R e n a i s s a n c e und B a r o c k e r f ä h r t die K u n s t des W e s t e n s eine immense Steigerung plastischer Illusion. B e i dieser E n t w i c k l u n g w ü r d e m a n vielleicht ein

An-

wachsen der V e r w e n d u n g des alten, so w e i t v e r b r e i t e t e n G r i f f m o t i v s e r w a r t e n . D a s G e genteil ist der F a l l - auch im W e s t e n E u r o p a s t r i t t es nun zurück. D i e Geste, s t a r k a u f den T a s t s i n n des menschlichen Leibes gegründet, ist »haptischer« N a t u r . N a c h der G o t i k a b e r beginnt in der M a l e r e i eine i m m e r s t ä r k e r e V o r h e r r s c h a f t des optischen Sinnes, das A u g e erhält in der K u n s t die V o r h e r r s c h a f t v o r der H a n d auch da, w o im B i l d die M o d e l l i e r u n g der K ö r p e r s t a r k b e t o n t w i r d . F ü r die U m s e t z u n g des gleichen M o t i v s in die neuen D a r s t e l l u n g s f o r m e n rein optischer W e r t e ist es lehrreich, das Ü b e r l e b e n des a l t e n , hier b e h a n d e l t e n Gestus zum Beispiel bei M i c h e l a n g e l o zu p r ü f e n . A u f seinem F r e s k o des J ü n g s t e n Gerichts ist a u f der l i n k e n Seite in m i t t l e r e r H ö h e ein J ü n g l i n g d a r gestellt, der a u f einer W o l k e n b a n k k n i e t , in die T i e f e h i n a b g r e i f t und einen m ü h s a m E m p o r s t r e b e n d e n hilfreich a m H a n d g e l e n k f a ß t , um ihn e m p o r z u z i e h e n . S t ä r k s t e M o d e l lierung aller G l i e d e r und v o l l e n d e t e D a r s t e l l u n g der L e i b h a f t i g k e i t im R a u m werden durch eine k o n s e q u e n t e optische D i s t a n z i e r u n g erreicht - wodurch das alte »haptische« M o t i v des G r e i f e n s eine erstaunliche Abschwächung e r f ä h r t . D a s uralte T h e m a a b e r des G e g e n ü b e r v o n G o t t und Mensch, v o n S c h ö p f e r und G e schöpf, des Gegensatzes v o n s t a r k e r und schwacher H a n d lebt bei M i c h e l a n g e l o w e i t e r in einer V e r w a n d l u n g , die h e r v o r r a g e n d kennzeichnend ist f ü r die neue »optische« F o r m . A m G e w ö l b e der Sixtinischen K a p e l l e im B i l d der Erschaffung A d a m s streckt sich die H a n d des Schöpfers seinem Geschöpf entgegen, aber sie greift nicht m e h r , sondern über die räumliche D i s t a n z hinweg springt der göttliche F u n k e belebend h i n ü b e r zu der noch schlaffen, e m p f a n g e n d e n H a n d Adams 5 ".

ANMERKUNGEN

1 Vgl. Christian Zervos: L'art de la Mésopotamie 1935, Ta}. 102, 204, 253. 2 Vgl. Georges Posener: Lexikon d. aegypt. Kultur, München/Zürich 1960, Abb. S. 276 u. S. 259. 3 Heimführung »XETT> EJIÎ XAQJUO« vgl. E. Simon (Antike Kunst, Ölten, 6. Jhg. Heft 1); Beziehung zum Tod: Sirene entraffl zwei Knaben am Handgelenk, Berlin F 2157 (Jhb. d. J. II). Für diese Hinweise danke ich Frau Kezia Knauer, Berlin.

4 London, Br. Mus. E 458, Museumsphoto: Die mit festem Griff am Handgelenk Geführte hält ihre Hand passiv weit ausgespreizt. 5 Vatikan, Tabula Iliaca, vgl. F. Börner, Rom ». Troja, 1951 Taf. I, II. Der Brauch, Kinder so zu führen, lebt fort und wird in byz. Kunst oft dargestellt, z. B. Elfenbeinrelief (Berlin) mit Einzug Christi in Jerusalem, vgl. Vater mit Sohn unterm Stadttor, Mosaik Daphni. 6 Z. B. E. Buschor, Grab eines attischen Mädchens, 1959 Abb. 5 Fragment: Hand des von Hermes ergriffenen Mädchens weit geöffnet, ihre Passivität betonend (wie oben Anm. 4). 7 London, Br. Mus., Kylix, und Paris, Cab. des Med., Schale des Duris, vgl. AriaslHirmer, 1000 Jahre griech. Vasenmalerei, Taf. 148. 8 André Grabar, L'empereur dans l'art byzantin 1936, 245-249; ders., L'Iconoclasme Byzantin, Paris 1957 (s. v. »Descente«), 9 Münzen, vor allem von der Zeit Hadrians an bis zu den christl. Kaisern (Berlin, Museumsinsel, Münzkabinett) - vor Jahren konnte ich dort die Details der vielen Prägungen studieren, für alle Hilfe danke ich dem damaligen wiss. Mitarb. H. D. Schultz herzlich. 10 Die kniend Flehende ergreift auch die Hand des Kaisers in ihrer Fläche (vgl. Enciclopedia dell'arte, 1957, Bd. I s. v. Achaia Abb. 25), bisweilen aber ist der Griff in diesen Szenen auch ein ganz anderer, z. B. wird die Kniende nicht ergriffen, sondern sie selbst ergreift den Unterarm des Kaisers mit bittender Gebärde. 11 Vgl. Fresko, Rom, Lucinagruft: Gestus des Emporhebens nach Taufe, leider undeutlich. Die älteren Abbildungen, z. B. Neuss, Kunst der alten Christen, 1926, Abb. 31, farbig E. Bock z. B. u. R. Goebel, Die Katakomben, Stuttgart o. /., stimmen mit neueren Farbaufnahmen Propyläen-Weltgeschichte, Bd. IV, S. 440/441 nicht überein, wodurch verschiedene Deutungen des Gestus noch offenstehen. 12 Letzte Übersicht: E. Lucchesi Palli »Anastasis«, Reallex. d. byz. Kunst, hrsg. v. K. Wessel 1963. Für den liebenswürdig gewährten Einblick in die Druckfahnen spreche ich der Autorin meinen verbindlichsten Dank aus. 13 Vgl. z. B. früheste erhaltene Darstellungen des descensus Christi auf syrisch-palästinensischem Email seit Ende 7., Anfang 8. Jh. - zuletzt E. Lucchesi Palli, Rom. Quartalschr. 57, 1962, S. 250-267. Ferner Fresken in Rom, S. Maria Antiqua (705-707). 14 Vgl. Leonid Ouspensky/Wladimir

Lossky:

Der Sinn der Ikonen.

BernlOlten

1952, S.

186-193.

15 Das Thema des in der Finsternis der Unterwelt erscheinenden Gotteslichts der Erlösung stellen auch alle anderen Bildtypen dar, sie verbinden es aber mit dem »Griff der Erlösung«, entsprechend dem Text des Nikodemus-Evangeliums (siehe Abschnitt 3, Anm. 18). 12 Letzte Ubersicht: E. Lucchesi Palli »Anastasis«, Reallex. d. byz. Kunst, hrsg. v. K. Wessel 1963. vgl. z.B. Leningrad, Eremitage, Ikone 12. Jh. (Lasareff), zum Zeichen des Beginns der Vollendung seines Erlöserwerkes durch den Tod am Kreuz, der ihn ins Totenreich brachte, in welchem er nun als lebendiger Gott und Sieger über die »principes inferni« im überirdischen Glanz erscheint. 16a Vgl. die Bildsprache des A.T., z. B. Jes. 35,3 »lasse Hände, wankende Hebr. 12,12 »schlaffe Hände, wankende Knie«.

Knie«, und des N.T. z. B.

17 Vgl. H. J. Schulz: Die »Höllenfahrt« als »Anastasis«, Zeitschr. f . kath. Theol. Bd. 8, Wien 1959, S. 1-60, dort auch ausführliche Literatur angaben; Werner Bieler: Die Vorstellung von der Höllenfahrt Jesu Christi, Zürich 1949. 18 Vgl. »Die apokryphen Schriften zum N. T.«, übers, u. erläutert v. W. Michaelis (Slg. Dieterich Bd. 129), S. 184-194, Nicodemus-Evangelium, II. Teil (vgl. Einleitung u. Anmerkungen). Ohne besonderen Terminus für den im Bild immer dargestellten Griff Christi ist hier das Ergreifen und Halten Adams an vielen Textstellen betont, z. B. »attraxit Adam ad suam claritatem«, «Tenens manum dexteram Adae dixit...«, »tenens dexteram Adae ascendit ab inferis«.

19 Meliton von Sardes: Vom Passa. Übersetzt. .. von Joseph Blank, Freiburg i. Br. 1963 (»Sophia« Bd. 3). 20 Zuerst im Symbol von Aquileia, weit verbreitet 2. H. 4. Jhs. 21 Meliton a. a. O. 22 Vgl. z.B. Julius Tyciak: Das Herrenmysterium im byzant. Kirchenjahr («Sophia» Bd.I), Freiburg i. Br. 1961 (Ostern S. 44-49). 23 Vgl. z. B. Jeanne Villette: La résurrection du Christ, Paris 1957. 24 Deckel des Reliquienkästchens aus Palästina, Vatikan. Mus., vgl. Wilh. Nyssen: Das Zeugnis des Bildes im frühen Byzanz, Freiburg i. Br. 1962 (Gesamt: Taf. 2, Details Taf. 10, 13, 16). Vgl. Günter Ristow, Die Geburt Christi, Recklinghs. 1963, S. 29). 25 Vgl. André Grabar: Ampoules de Terre Sainte, Paris 1956, Tafel 5, 47, 55. 26 Vgl. z. B. E. W. Deichmann: Ravenna, S. A. N. 27 Vgl. z. B. Wilh. Nyssen, a. a. O. Farbtafel 15. 28 Vgl. z.B. André Grabar, L'iconoclasme Byzantin, Paris 1957, Abb. 150 (Pantokratorpsalter Abb. 149). 29 München, lat. 4454 (Cim 59), vgl. z.B. Georg Leidinger, Miniaturen aus Hss. d. Bayer. St.B. München, Bd. VI, Taf. 16, Inschrift des Bildes: »Ecce leo fortis • transit discrimina mortis • Fortia facta stupet • Marcus et nuntia defert.« 30 Stuttgart, Landesbibl., Bibl. Fol. 23, hrsg. v. E. T. Dewald, Princeton 1930, fol. 157 zu Psalm 145 (Christus richtet sich im Sarg des Grabgewölbes auf). 31 Die alttest. »Exempla« göttlicher Errettung (z.B. Noah, 3 Jünglinge im Feuerofen, Jonas, Daniel in Löwengrube, Susanna usw.) sind bildgewordene altchristl. (und jüdische) Totengebete an den Gräbern; entsprechend steht 1000 Jahre später das Anastasisbild z. B. in der Apsis der Totenkapelle des Choraklosters in Cpl. (A. 14. Jh.). 32 E. Berteaux, Ikonographie comparée des roleaux de l'Exultet, Tableaux synoptiques, Paris 1904. Myrtilla Avery, The Exultet Rolls of South Italy. New York/London 1936. 33 Wie so oft formuliert wurde. 34 Stuttgart, Landesbibl. Cod. Bibl. Fol. 23, vgl. E. T. Dewald, Illuminated Manuscripts of the Middle Ages 2, 2, Princeton Univ. 1930 = Facsimile Ausgabe Stuttg. Psalter. 35 Ib. zu Psalm 16, 23, 97 = fol. 16 V, 29 V, 111 R. 36 In der starken Springbewegung (»Knielaufschema«) ist die Figur sehr ähnlich dem männlichen Auferstandenen auf dem karolingischen Elfenbeinrelief der Kreuzigung Christi in München, G. I, 141 (um 870). 37 Exultetrotulus, vgl. Avery a. a. O. Pl. XXXII,2, Gaeta I. 38 Kalkar vgl. Passionsaltar, Inselbücherei Nr. 1, 625, Tafel 22, hrsg. Franz Jos. Nüß. Das Motiv des Trittes gegen das Höllentor ist also keine »einmalige Darstellung, die der Darstellungswelt des niederrheinischen Schnitzers entstammt«, wie der Herausgeber es für möglich hält, sondern entstammt einer sehr alten Bildtradition. Falls die Oster-Mysterienspiele dieses drastische und deshalb bühnenmäßig gut verwendbare Motiv enthalten haben, ist es auch zu ihnen von weit her gekommen. 39 E. Lucchesi Palli, Die Passions- und Endszenen Christi auf der Ciboriumssäule von San Marco in Venedig, Prag 1942, Taf. 5, macht die Notwendigkeit der Spätdatierung wahrscheinlich. 40 Vgl. E. T. Dewald, Stuttg. Psalter, a. a. O., zu Psalm 5, 19, 27, 37, 73, 118. 41 Vgl. E. T. Dewald, The illustrations of the Utrecht-Psalter (Illuminated Manuscripts of the Middle Ages 2, 1), Princeton, Univers. = Facsimile Ausgabe Utrecht. Zu Psalm 14, 15, 26, 29, 72, 76 sowie fol. 84 V. 42 Vgl. z. B. Mosaikzyklus S. Maria Maggiore, Rom; ferner frühchristliche Genesishandschrift, Wien.

43 Dura-Europos, Griff ins Haar, vgl. The excavations at Dura-Europos VI1I/I, New Häven 1956, PI. LXIX; Baruch, Kanael, Die Kunst der antiken Synagoge, München 1961, Abb. 46. 44 Elfenbeinrelief München, Gerke Christus Abb. 88 -, der Griff Vater/Sohn ist zunächst der Hand in Hand, nur die Größe der Vaterhand macht den Griff dem ums Handgelenk ähnlich (Hand in Hand z. B. auch später: St. Albanspsalter); stufenweise wird er dem beherrschenden Griff angeglichen, z. B. Stuttg. Psalter a. a. O. zu Psalm 19,7; Drogosakramentar (Hand Christi passiver), später wird er ganz ausgeprägt, z.B. Gereonpsalter (P.Bloch: Sakr. v. St. Gereon, München 1963, T. 13). 45 Vgl. z. B. E. T. Dewald, Stutt. Ps. zu Psalm 18, fol. 23 (Auge Gottes). 46 Die Bildtradition der aktiv eingreifenden Gotteshand lebt im Mittelalter weiter in romanischen Fresken in Frankreich, z. B. in Tavant, Kryptafresken, Höllenfahrt, sowie in byzantinischen Ikonen der hl. Kosmas und Damian, denen die Hand Gottes die ärztliche Instrumententasche aus dem Himmel herabreicht. 47 So z. B. Oskar Wulff für den Mosaikzyklus in Sta. Maria Maggiore in Rom. 48 Vgl. Dora Panofsky, Nachweis der Wirkung hebräischer Textüberlieferung für einzelne Bilder des Utrechtpsalters, Art. Bulletin, Vol. 25, 1943, 50 ff. 49 Brescia, Elfenbeinkasten, um 370, vgl. Gerke, Christus, Berlin 1941, Abb. 80; dsgl. W. E. Volbach, Frühchrist. Kunst, München 1958, Abb. 88 unten: Erweckung der Tochter des Jairus. Monza, Pilgerampulle: Thomas Hand wird durch Christus zur Seitenwunde geführt. André Grabar, Les ampoulles de la Terre Sainte. 50 Zum Chludovpsalter vgl. u. a. Seminarium Kondakovianum II, Prag 1928, E. O. Kosteckaja, L'iconographie de la résurrection, ferner André Grabar, L'iconoclasme byzantin, Paris 1957. 51 Chludovpsalter fol. 100 V: Ohne Adam und Eva, Inschrift, T| ' A v d o T a c i g X P Y bezeichnet den Sieg Christi über Hades, ohne den Vorgang der Auferstehung Christi darzustellen. 52 Geöffnete Hände Christi z. B. angels. Psalter M. 11. Jh., London Br. M. Cotton Ms. Tiberius C. VI; Christus/Adam Hand in Hand z. B. Psalter St. Albans, 1. V. 11. Jh., Hildesheim, S. Godehard (auch Adams Hand greift). 53 Christus ergreift Eva (vgl. Utrechtpsalter), Klosterneuburg, Altarantependium des Nikolaus von Verdun, vgl. Karl Drexler u. Th. Strommer, Wien 1903. 1512 (vgl. kleine Holz54 Christus ergreift Johannes den Täufer: Dürer, Kupferstichpassion schnittpassion: Inselbücherei Nr. 250). In der Thomasszene (ib.) bewahrt Dürer ebenfalls das Motiv »Griff ans Handgelenk«. 55 In Bräuchen und Bildern des Rechtslebens ist der Gestus »Griff ans Handgelenk« noch lange im Gebrauch geblieben. 56 Vgl. Sachsenspiegel-Handschrift Heidelberg, zu Landrecht III 42, Inselbücherei Nr. 347, hrsg. v. Eberh. Frhr. von Künßberg, Leipzig o.J., Abb. 40. 57 Serbischer Psalter, München St.B. Cod. slav. 4, fol. 229 V., vgl. I. Strzygowski, Die Miniaturen des serb. Psalters, Wien 1906, Taf. 39; Sigrid Esche, Adam und Eva, Düsseldorf 1957, Abb. 32 b. Vorbereitet durch das Thema Danksagung Adam/Evas an Maria, Paris B. N., Ms gr. 1208, 12. Jh., fol. 66 V., Esche, a. a. O., Abb. 31 b. 58 Berührung Christus!Adam nur mit den Fingerspitzen in vielen späten Ikonen z. B. in BerlinDahlem und in Recklinghausen. 59 Das Bildthema zueinander hin ausgestreckter Hände, die sich nicht berühren, schon im 15. Jh., serb. Psalter, München, fol. 160 R zu Psalm 188: Christus, Kind auf Schoß der Mutter und Adam in Erwartung der Erlösung, Esche, a. a. O., Abb. 32 a.

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E D G A R L E H M A N N • K A I S E R T U M U N D R E F O R M ALS IN HOCHKAROLINGISCHER

BAUHERREN

ZEIT

K a i s e r t u m u n d strenges benediktinisches M ö n c h t u m - das M ö n c h t u m seit f r ü h e s t e r Zeit bestrebt, durch » R e f o r m « die alte Strenge des v o n Benedikt gemeinten asketischen Lebens erneut wiederherzustellen - K a i s e r t u m u n d » R e f o r m « also sind als B a u h e r r e n in ihren Absichten v o n tiefer Gegensätzlichkeit. Will das K a i s e r t u m durch R e p r ä s e n t a tion in m o n u m e n t a l e n P r a c h t b a u t e n seine H e r r s c h a f t als legitim erweisen, so will die R e f o r m durch die Schlichtheit ihrer B a u w e r k e u n d deren Beschränkung auf das N o t wendigste die asketische Lebenshaltung auch äußerlich darstellen. Dieser tiefe innere Gegensatz k o n n t e z w a r d a n k einer besonders günstigen Lage im 11. J a h r h u n d e r t zeitweise in einer A r t Synthese a u f g e h o b e n erscheinen, er m u ß t e aber b a l d wieder erneut sich zeigen. Seine Geschichte bildet eines der großartigsten u n d erregendsten K a p i t e l deutschen Bauens im H o c h m i t t e l a l t e r , das ganz u n d teilweise schon mehrfach dargestellt w o r d e n ist - in A n d e u t u n g e n auch v o m Schreiber dieses A u f s a t z e s l . D a h e r soll hier n u r auf einen kleinen Ausschnitt d a r a u s eingegangen w e r d e n , auf einen Ausschnitt, der am Beginn steht u n d zeigen k a n n , d a ß hier noch wesentlich a n d e r e Verhältnisse herrschen als später im H o c h m i t t e l a l t e r . I n erster Linie soll uns K a r l d. G r . als B a u h e r r beschäftigen. D a n e b e n soll g e f r a g t w e r d e n , ob auch die benediktinische » R e f o r m « bereits in dieser Zeit als B a u h e r r i n e r k e n n b a r w i r d . I m J a h r e 800 w i r d K a r l d. G r . durch seine K r ö n u n g in R o m z u m kaiserlichen Bauherrn, z u m ersten kaiserlichen B a u h e r r e n des westeuropäischen Mittelalters. Schon hier

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liegt ein Problem. Denn dieser Zeitpunkt bedeutet für die Bautätigkeit keinerlei Einschnitt. Seine großartigste Bauschöpfung, die H o f k a p e l l e in seiner Lieblingspfalz zu Aachen, w u r d e bereits mehrere J a h r e vor 798 begonnen und erst im J a h r e 805 geweiht 2 . Sie übertraf - mindestens der Absicht nach - alle anderen Kirchen seines Herrschaftsbereiches an Monumentalität und Glanz. Sie ist ein Zentralbau mit achteckigem M i t t e l raum, umgeben von einem doppelgeschossigen U m g a n g bei selbständiger Beleuchtung des Mittelraumes durch Hochfenster. Monumentale Zentralbauten sind in der westeuropäischen Baukunst des frühen Mittelalters Ausnahmen 3 . J a , wenn man von Denkmälern w i e der D a u r a d e in Toulouse oder St. Gereon in Köln absieht, die eigentlich spätrömisch zu nennen sind, oder von den mailändischen und ravennatischen Zentralbauten, die aufs engste mit der nahöstlichen Architektur zusammenhängen, so kann man die Aachener Pfalzkapelle u m 800 getrost einzigartig nennen 4 . W i e ist diese Tatsache zu erklären? W a s hat K a r l d. Gr. mit diesem besonderen Bau ausdrücken wollen? Zentralbauten sind von H a u s aus Denkmalbauten. Ihre Anwendung für alle sepulkralen Zwecke ist daher völlig natürlich. Im übertragenen Sinn gilt das gleiche für Reliquienkirchen. Aus praktischen Gründen werden auch Baptisterien zentral angelegt, wobei der Gedanke, d a ß in ihnen der » a l t e A d a m « begraben w i r d , die Anwendung dieses Grabbautypus erleichtert haben könnte 5 . Sicher seit dem 6. Jahrhundert, vielleicht früher, werden Zentralbauten auch als Palastkirchen verwendet. Uber den dabei zugrunde liegenden Gedanken w i r d noch zu sprechen sein. Schließlich gibt es noch eine Reihe monumentaler Zentralkirchen, die der M a r i a geweiht sind und vielleicht eine eigene Traditionsreihe bilden 6 . D a ß K a r l d. Gr. mit seiner Palastkirche kein Baptisterium errichten wollte, versteht sich von selbst. Zu fragen ist, ob für ihre monumentale Zentralgestalt die Idee der Reliquienkapelle, der Marienkirche, des Grabbaues oder der Palastkirche entscheidend w a r . Für alle vier Möglichkeiten haben sich Verteidiger gefunden. H i e r soll der Meinung Ausdruck gegeben werden, daß die Aachener P f a l z k a p e l l e nicht Denkmal ihres Reliqienschatzes oder der Gottesmutter, auch nicht Denkmal des toten Kaisers, sondern Denkmal des lebenden, des »erscheinenden« Herrschers und Stellvertreters Christi sein sollte, und daß ihre Gestalt von daher, als Palastkirche, voll zu verstehen ist.

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Der Gedanke, daß Palastkirchen im Grunde zentralgestaltige Reliquienkapellen seien, ist von Andre Grabär ausgesprochen, aber vielleicht nicht ganz folgerichtig zu Ende gedacht worden 7 . Denn sowie m a n a n n i m m t , daß zentralgestaltige Palastkirchen von sich aus, auch ohne Reliquien, aus anderen Gründen sinnvoll sind, verlieren seine Uberlegungen ihre Uberzeugungskraft. Dann f ä l l t auch auf, d a ß Reliquienkammern, w i e die C a m a r a S a n t a in Oviedo, als echte Schatzkammern gar nicht zentralgestaltig sind, sondern sich an Sepulkralbauten einer völlig anderen Tradition anschließen. Aber auch die Herleitung der Zentralgestalt der Aachener Kapelle vom Marientitel ist schwierig. Schon die Existenz des gleichrangigen S a l v a t o r a l t a r s in der Oberkirche wie auch die Bezugnahme der Bilder in der Kuppel auf die Wiederkehr Christi müssen bedenklich machen. Aber selbst wenn man beides nur als Begleitung der Himmelskönigin M a r i a gelten läßt, zumal einige zeitgenössische Quellen nur von der Marienkirche sprechen 8 , so w i l l sich

doch die Reihe der zentralgestaltigen Marienkirchen nicht so deutlich zusammenschließen, daß man folgern müßte, Karl habe in Aachen einen Zentralbau geschaffen, um damit eine echte Marienkirche zu errichten. Weder die »Koimesis«-Kirche im Tale Josaphat bei Jerusalem, noch die Kapelle des »Heiligen Reliquiars« (»Hagios Soros«) in Byzanz mit dem »Homophorion« der Gottesmutter 9 können als Vorbilder einen solchen Entschluß recht verständlich machen, da doch die praktische Zweckbestimmung der Aachener Kapelle zur Pfalzkirche feststeht 10 . Eher wird man annehmen dürfen, daß das H e r v o r treten des Marientitels erst allmählich nach dem Tode Karls sich vollzogen hat. So bleibt nur die Erklärung vom Grabbau oder vom Palastbau her. D a ß Karl der Große in der Aachener Pfalzkapelle begraben wurde, ist sicher, daß es in der Hauptachse vor dem Marienaltar geschah, möglich". D a ß Karl diesen Grabort selbst bestimmt hätte, wird zwar von Einhart in Abrede gestellt, braucht darum aber nicht gänzlich ausgeschlossen zu werden 1 2 . Trotzdem will es uns nicht einleuchten, daß er diesen, als Palastkirche benutzten Bau zugleich als Grabmonument, als Mausoleum, f ü r sich errichtet hätte. Dieses müßte man aber annehmen, wenn man die Zentralgestalt der Kapelle vom Gedanken des Grabbaues her erklären wollte. Aachen würde dann in eine Reihe rücken mit den Grabmälern der römischen Kaiser heidnischer und christlicher Zeit, etwa - um nur einige wichtige christliche Beispiele zu nennen - mit dem Grabbau Konstantins an der Apostelkirche im neuen oder dem des Theodosius an St. Peter im alten Rom oder auch mit dem Theoderichgrab in Ravenna. Sie alle sind Monumente, Gedenkbauten, ebenso wie die Kirchen über den Gräbern von Heiligen und Märtyrern, die Johanneskirche in Ephesus oder die Gereonskirche in Köln. Doch sind die fürstlichen Grabdenkmäler sämtlich Nischenrundbauten oder Nischenpolygone, nicht Zentralbauten mit Umgang 1 3 . Dieser letzte Typus wird nur bei den Grabkirchen der Heiligen und bei Palastkirchen verwendet, hier allerdings unterschiedslos. Weiter ist zu beachten, daß die christlichen Grabbauten der Frühzeit nicht dem täglichen Gottesdienst dienen sollten; gewiß nicht die fürstlichen, aber auch die von Heiligen und Märtyrern waren ursprünglich nicht f ü r den Pfarrgottesdienst bestimmt. Wenn Karl der Große sein Grabmonument als Palastkirche zum täglichen Gottesdienst und das Obergeschoß als eine Art Pfarrkirche f ü r den Hof verwendet hätte 1 4 , so wäre das neu und ungewöhnlich. Uns will es daher nicht wahrscheinlich vorkommen, daß Karl selbst den Befehl zu solcher Art der Verewigung seiner Person gegeben haben könnte, wenn er auch sein Herrscheramt gewiß nicht gering eingeschätzt hat, wie noch zu zeigen sein wird. Die Aachener Pfalzkapelle ist also Palastkirche und betont das durch ihre monumentale Zentralgestalt. Die Wurzeln dieser Tradition liegen in Byzanz 1 5 . Ihr großartigstes Beispiel ist Justinians Hagia Sophia. Vor seiner Alleinherrschaft hatte derselbe Herrscher als Mitregent seines Oheims wohl die Sergios- und Bakchoskirche als seine Palastkapelle errichtet, da sie neben dem von ihm damals bewohnten Hormisdaspalast liegt 16 . Ein weiteres Beispiel aus dem 6. Jahrhundert ist die in kaiserlichem Auftrag in der syrischen Provinz errichtete Kirche von Kasr ibn Wardan 1 7 . Die Breite dieser Tradition wird uns aber nicht mehr erkennbar, da eine ganze Anzahl von vermutlich oder sicher zentralgestal-

tigen Palastkirchen in Byzanz verschwunden ist - nur die schriftlichen Quellen überliefern uns ihre Namen - oder unter den erhaltenen der späteren Zeit der Charakter der Palastkirche nicht immer eindeutig feststellbar ist 18 . Klar wird die Stärke dieser Tradition aber sofort, wenn wir auf die christlichen Staaten blicken, die mit Ostrom wetteiferten, auf die Balkanstaaten und Rußland. Meist bildet die zentralgestaltige Palastkirche den Kern eines neuen R e i c h e s E b e n s o spiegeln die Nachfolgebauten der Aachener Kapelle deren höfischen Charakter. Denn mit ganz wenigen Ausnahmen handelt es sich bei diesen wieder um Pfalzkapellen 2 0 , wobei sowohl weltliche wie geistliche Fürsten als Bauherren auftreten, die geistlichen aber doch sicher in ihrer Eigenschaft als Fürsten auch eines weltlichen Herrschaftsbereichs. Was ist nun mit der Feststellung, daß Karl der Große mit seiner Pfalzkapelle in diese Tradition zentralgestaltiger Palastkirchen eintritt, für die Frage gewonnen, was er mit diesem Bau ausdrücken oder wie er sein Herrscheramt aufgefaßt wissen wollte? Wie uns scheint, Entscheidendes. Denn diese Tradition ist mit der Vorstellung der Theophanie verbunden. Es steht hinter dieser Bauform im tiefsten Grunde der uralte vorderasiatische Gedanke des sich durch Wiedergeburt erneuernden Gottes, der jährlich einmal - zum Neujahrsfest - seine Stadt besucht. Der König ist Gott oder vertritt Gott. Königsbesuch wird wie Gottesbesuch gefeiert. In christlicher Zeit treten an die Stelle des Neujahrsfestes das Weihnachts- und das Osterfest, also die Feste von Geburt und Auferstehung Christi. An die Stelle des Einzuges des Gottes in seine Stadt tritt vor allem die Palmsonntagsprozession, der Einzug Christi in Jerusalem. Stellvertreter Christi ist wiederum in Byzanz der Kaiser, worin die spätrömische, ursprünglich orientalische Kaiserverehrung nachklingt. Schauplatz des Einzuges wird die überkuppelte Palastkirche 21 . Gewiß ist die Verknüpfung der zentralgestaltigen Palastkirche mit dem Vorstellungskomplex des »Adventus« nicht streng zu beweisen. Sie ist nur wahrscheinlich zu machen aus der gemeinsamen Heimat beider, die im vorderen Orient liegt, und aus dem bildlichen Ursinn, der jener Bauform zugrunde liegen muß. Denn was drückt ein überkuppelter Zentralraum aus, der nicht »Mal« ist, weder Grab- noch Siegesmal? Die Kuppel ist seit alters Bild des Himmels und des Kosmos 22 . Der überkuppelte Zentralraum ist also hier Zeichen der Welt, der darin Thronende ist als Herrscher der Welt charakterisiert. In diesem Sinne stehen in der Ahnenreihe der zentralen Palastkirche nicht die Gedenkbauten über Gräbern, sondern die überkuppelten Thronsäle gottgleicher oder gottähnlicher Herrscher. Als berühmteste seien hier nur die Domus aurea Neros und der Thronsaal Chosroes II. genannt 23 . Wie vom spätantiken Herrscherkult vielfältig Repräsentationsformen zur Ausgestaltung des christlichen Gottesdienstes übernommen wurden 2 4 , so offenbar auch der zentralgestaltige Thronsaal in der Form der Palastkirche. In ihr thront Christus sinnbildlich als Beherrscher der Welt. Für seinen irdischen Stellvertreter oder Beauftragten, den Kaiser, wird damit der gleiche Anspruch ausgedrückt". Daß die byzantinischen Kaiser sich daneben einen sozusagen weltlichen Thronsaal schufen, in dem sie für die Augen der Welt unmittelbar als Herrscher erscheinen konnten, ist für unsere Betrachtung nur eine Nebenlinie 26 .

Daß die hier dargelegten, sich gegenseitig ergänzenden Gedanken der göttlichen Epiphanie, der Stellvertretung Christi durch den Herrscher und der Weltherrschaft auch in karolingischer Zeit noch eine Rolle spielten, können die »Laudes« für die kaiserlichen Empfänge bei kirchlichen Festen bezeugen 27 . Auch die triumphale Eingangspforte im Vorhof des Klosters Lorsch hinter dem eigentlichen Klostertor ist schließlich nur aus solchen Gedankengängen verständlich. In Aachen selbst darf das Kuppelmosaik

der Pfalzkapelle, das den apokalyptischen

Christus zeigt, dem die

24 Ältesten akklamieren, wohl als Hinweis darauf aufgefaßt werden, in wessen Stellvertretung Kaiser und Hofstaat unten erscheinen 28 . Wenn wir so die Aachener Kapelle mit Gedanken und Vorbildern aus der oströmischen Zeit in Verbindung bringen, so heißt das, daß Karl der Große durch den Bau dieser Kirche und seiner Aachener Pfalz wie ein oströmischer Kaiser in einem »sacrum palatium« residieren und damit sich und seine Herrschaft Ostrom gleichstellen wollte 2 ". Das heißt auch, daß er sich als »Kaiser« oder doch kaisergleich fühlte und sich in dieser Eigenschaft legitimieren wollte, und zwar vor seiner Kaiserkrönung im Jahre 800, ja, wahrscheinlich schon um 790, als die Pfalz wohl schon weitgehend vollendet war und die Pfalzkapelle vermutlich begonnen wurde. Die Wendung gegen Byzanz ist bei Betrachtung der allgemeinen Geschichte jener Zeit um 800 nur natürlich. Man braucht sich nur die Rivalität der beiden Staaten und den von Karl geradezu vorangetriebenen Gegensatz in der Frage des Bilderstreites zu vergegenwärtigen. Bei der Behandlung dieser Frage zeigte sich deutlich, wie Karl sich als »basileus« und Lenker, ja Herr der Kirche fühlte. Wieweit für Karl diese Herrschaft über die Kirche dadurch begründet war, daß er sich als irdischer Stellvertreter Christi empfand oder doch als solcher gesehen werden wollte, ist eine schwierige Frage, deren Beantwortung die Geschichtswissenschaft schon vielfach beschäftigt hat. Hier sind viele Nuancen möglich, für deren Sichtbarmachung die Baugeschichte freilich keine ausreichend feine Sonde darbietet 30 . D a ß für Karl den Großen der Papst aber nur der erste Bischof seines Reiches war, wird man sagen dürfen. Allein dem neugekrönten Kaiser Karl wurde auch vom Papst mit Proskynese gehuldigt 31 . Nur Karl der Große hat dann auch mit einer monumentalen, zentralgestaltigen Palastkirche den Anspruch auf »Weltherrschaft« und »Gottnähe« zu erheben gewagt. Nur

für

Karl war noch die mit jenen Vorstellungen gegebene Nähe zum antiken Denken möglich. Schon Otto der Große widmete seine Kraft und sein Interesse als Bauherr einer Stiftung, die zwar seine Grabkirche, aber nicht im antiken Sinne sein Grabmal werden sollte, sondern die vielmehr dazu bestimmt war, seiner Seele durch das Gebet des von ihm begründeten erzbischöflichen Kapitels über dem Grabe seiner sterblichen Hülle Schutz und Sicherheit im Jenseits zu gewähren. Alles dieses gilt zwar auch schon für Karls Pfalzkapelle. Nicht aber gilt umgekehrt für Ottos Dom, daß er ihm als »Erscheinungskirche« den Rahmen hätte bieten sollen, sich darin als »Stellvertreter Christi« begrüßen zu lassen. Die Herleitung der Idee der Aachener Pfalzkapelle allein aus der byzantinischen Tradition bedeutet nicht, daß auch ihre Gestalt nur von dorther abzuleiten wäre. Nach wie vor meinen wir, daß eine architektonische Leistung dieses Ranges überhaupt nicht rein

ableitbar ist 52 . Es könnte Fränkisches bzw. Provinz-Römisches eingeflossen sein, und es ist sicher sehr viel rein Römisches aufgenommen worden 3 3 . N u r ein W o r t sei hier am Rande zur gestaltlichen Herleitung gesagt. Die Berufung auf S. Vitale in Ravenna liegt nahe 3 4 , ist aber bedenklich, da sich nicht erweisen läßt, daß diese Kirche je etwas anderes als Märtyrerkirche war, Stiftung eines Bankiers 3 5 . Von der Zweckbestimmung her wäre die Ableitung von S. Sergios und Bakchos in Istanbul einleuchtender. Der Einwand, daß Karl ein solches Vorbild persönlich gesehen haben müßte, um seine »Kopie« anordnen zu können, ist doch wohl von einer reichlich romanhaften Vorstellung diktiert. Die Welt war auch damals komplizierter, als sich aus den kläglichen Bruchstücken der uns zur Verfügung stehenden Uberlieferung nachrechnen läßt. Auffällig ist die enge formale Verwandtschaft von Aachen mit dem Oktogon von Hierapolis, die nach den Forschungen Verzones noch größer geworden ist 36 . Grundrißmäßig ist sie enger als mit S. Vitale. Freilich wissen wir nicht, ob der Bau von Hierapolis ein Obergeschoß über den Seiten räumen besaß. Audi war er wie S. Vitale wahrscheinlich nur eine Märtyrerkirche. Wie die enge Beziehung zwischen Hierapolis und Aachen zu erklären ist, muß vorläufig offenbleiben. Sie läßt aber vermuten, daß weitere Zwischenglieder vorhanden waren, die heute verloren sind. Noch in anderer Hinsicht ist unsere bisherige Erklärung des Sinnes der Aachener Pfalzkapelle nicht erschöpfend. Doch können wir uns hier damit begnügen, auf diese anderen, weniger umstrittenen Dinge flüchtig hinzuweisen 3 7 . In den Einzelformen, den Kapitellen, Gesimsen und Portalen, aber auch in den technischen Lösungen, besonders in den Gewölben, lehnt sich Aachen vielfältig an römische Vorbilder an. D a ß damit wirklich eine Berufung auf das römische Imperium gemeint ist, kann durch die Bezeichnung der Aachener Pfalz als »anderen Lateran« und die Aachens als »Roma secunda« gesichert werden 3 8 . Audi die Aufstellung eines Reiterstandbildes und der Bärin im Atrium soll wohl Rom nach Aachen zwingen. Daneben wird das alttestamentliche Königtum durch den salomonischen Thron Karls als Vorbild des fränkischen aufgerufen 3 9 . D a Karl in dem ravennatischen Reiterstandbild, das er in seiner Pfalz aufstellte, wahrscheinlich einen Theoderich sah, ist möglicherweise auch dieser germanische König in der Reihe der Herrscher und Reiche zu sehen, in deren Nachfolge Karl seine eigene Herrschaft stellt 40 . Alle diese Nachfolgevorstellungen, die von der Weite des Blickes am H o f e Karls zeugen, werden in der Pfalzkapelle anschaulich ausgedrückt und so der Anspruch auf legitime Nachfolge erhoben. Doch fällt die führende Rolle dabei der auf Byzanz sich beziehenden G r u n d f o r m der Kapelle zu. Eine besondere Bemerkung ist dem Platz des Kaisers westlich in der Mitte des oberen Umgangs zu widmen. Karls Thron steht dort im Angesicht der beiden Altäre, über dem Marienaltar und gegenüber dem Salvatoraltar. Der Herrscher kann von dort aus »alle sehen und von allen gesehen werden« 41 . Er kann von seinem Palast aus über einen Verbindungsgang ebenerdig seinen Thron erreichen. Schramm meint, daß es f ü r diesen Platz kein oströmisches Vorbild gegeben habe, sondern daß in seiner Wahl die Persönlichkeit des großen Kaisers sichtbar würde, seine ihm eigene Art, wie ein guter Hausvater über

allem zu wachen 4 2 . Smith ist dagegen der Meinung, auch die byzantinischen Herrscher hätten ihren Platz auf der Westempore gehabt 4 3 . N u n ist, soweit ich hier sehe, die Meinung von Smith nicht sehr sicher begründet. Der Platz des Kaisers ist mindestens in der Hagia Sophia nicht auf der Westempore gewesen 44 . Der Kaiser hielt sich nach den Texten, wenn er nicht am Gottesdienst beteiligt w a r , im »Parakyptikon« oder im »Metatorion« auf. Beides waren aber ursprünglich offenbar versetzbare Einrichtungen 45 . Nimmt der Kaiser überhaupt auf der Empore Platz, dann anscheinend auf der südlichen, während die westliche vornehmen Gästen eingeräumt wurde 4 6 . Beobachtet man aber, daß der Platz des Herrschers nicht nur in Westeuropa in allen Nachfolgebauten Aachens auf der Westempore ist, sondern ebenso in allen Palastkirchen der osteuropäischen Reiche, besonders in Rußland 4 7 , so gewinnen die an sich unsicheren Hinweise von Krautheimer und Smith auf einen Platz des Kaisers westlich im Obergeschoß über dem Narthex doch sehr an Gewicht 4 8 . Man möchte daher vermuten, daß es auch in B y z a n z schon Palastkirchen von mehr internem Charakter gegeben hat, in denen der Kaiser weniger o f t mithandelnd aufzutreten hatte und in denen sein Platz auch auf der Westempore war. Die gemeinsame west- und osteuropäische Übung in diesem Punkt ist ohne das byzantinische Vorbild kaum zu erklären. Auch der brückenartige Übergang vom Palastobergeschoß zum Thron im Obergeschoß der Kirche bildet interessanterweise später in Ost und West eine immer wiederkehrende Eigenart der Herrscherkirchen, die ihren Ursprung auch in Ostrom haben wird 4 9 . Eine Besonderheit der Aachener Kapelle gegenüber den älteren Herrscherkirchen Ostroms ist ihr dreitürmiger Westbau. Er ist selbständig fundamentiert, aber er ist darum kein selbständiger, erst im Bauverlauf aufgegriffener Baugedanke. Die Fundamentfuge hat vielmehr eine rein technische Bedeutung 5 0 . Der Westbau fügte das Bild des Stadttores an das Bild der Himmelskuppel a n 5 1 . Durch das heilige T o r kommt man in die heilige Stadt, die zugleich Welt und Himmel bedeutet. Das T o r erhält durch seine mächtige Nische noch ein Motiv besonderer Hoheit. Die Verbindung der Stadttorsymbolik mit der Himmelssymbolik des Zentralbaues könnte vom Baumeister der Aachener P f a l z kapelle das erstemal vollzogen worden sein. Das betonte T o r widerspricht ja im Grunde dem in sich ruhenden Charakter des Zentralbaues, während es sich »natürlich« dem basilikalen Wegbau anfügt. Aber die Bildhaftigkeit der Folge von vorbereitendem Platz (Atrium), T o r und Himmelsstadt w a r wichtiger als solche Bedenken. Das Überwiegen des Gedachten über das formal Gestaltete ist ein vielfach zu beobachtender, echt frühmittelalterlicher Zug. Noch ein zweites Bauwerk ist hier, w o es um K a r l d. Gr. als Bauherrn geht, zu betrachten:

die Klosterkirche

von

Centula,

heute S. Riquier,

in der

Normandie.

Gewiß, unmittelbar ist Abt Angilbert Bauherr in Centula. Aber er selbst preist in einer Inschrift in der Kirche die Verdienste Karls um den Bau 5 2 . D a Angilbert Schwiegersohn des Kaisers und ein Mann des engsten Hofkreises ist, stellt sich der Bau der Klosterkirche von S. Riquier als eine Angelegenheit der kaiserlichen Familie und des Hofes dar. Kaiserlich ist an ihm die Größe und Klarheit seiner Anlage sowie der Reichtum seiner Aus-

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stattung 5 3 . Kaiserlich ist aber an ihm vor allem die von Effmann so genial schon 1913 rekronstruierte westliche Annexkirche, das berühmte »Westwerk«. Wir sehen in ihm - und darin sind wir mit Fuchs, Schmidt und Bandmann im wesentlichen einig 54 - die Pfalzkapelle, die f ü r einen Aufenthalt des Hofes in Centula dort errichtet worden ist. N i m m t man diese Feststellung ernst - und wir sehen keinen Grund, weshalb man das nicht tun dürfte so muß man dieselbe Grundidee, der die Aachener Pfalzkapelle ihr Dasein und ihre Gestalt verdankt, auch für diese Pfalzkapelle als gültig ansehen. Auch das Westwerk in Centula sollte für den Adventus des Kaisers ihm einen Rahmen geben, der ihn als H e r r n der Welt und Stellvertreter Christi auswies. Wenn Karl das Osterfest im Jahre 800 in Centula feiert, so wird f ü r die Wahl dieses Ortes wohl mit entscheidend gewesen sein, daß die Feier sich dort in der neuen, kurz zuvor geweihten Klosterkirche besonders sinn- und glanzvoll gestalten ließ 5 5 . Wenn wir uns damit entschieden zu den Forschern stellen, die das Westwerk mit dem Kaisertum in Beziehung setzen, so bedeutet das in keiner Weise, daß wir meinten, mit dem Westwerk dränge das weltliche Element in den kirchlichen Bereich vor oder es deute sich darin schon ein Gegensatz zwischen kirchlicher und weltlicher Macht an. Im Gegenteil! Bei dem theokratischen Charakter von Karls Herrschaftsvorstellungen blieb ja Weltliches und Geistliches in der Herrschaftssphäre ungeschieden. Ein letztes Mal war in der Gestalt dieses Kaisers jener Gegensatz aufgehoben. Der Kaiser war höchster H e r r f ü r Kleriker und Laien 5 6 . Er war als Leiter des christlichen Weltstaates Sinnbild Christi, als Sieger über alle Feinde des Christentums Sinnbild Michaels. Eine Kaiserkirche oder Pfalzkapelle bedeutet deshalb für die karolingische Zeit keine irgendwie weniger kirchliche Kirche, sondern eine besonders vornehme, hohe Kirche. Die hier f ü r das Westwerk gegebene Deutung läßt sich freilich ebensowenig wie die Deutung der Aachener Kapelle strikt beweisen, schon gar nicht aus der schriftlichen Überlieferung. Sie ist aber sinnvoll und erklärt alle mit dem Westwerk in Zusammenhang stehenden Probleme. Von einigen wird hier noch kurz zu sprechen sein. Es muß aber gesagt werden, daß natürlich die ursprüngliche Grundidee »Erscheinungskirche« und »Pfalzkapelle« andere Formen der Benutzung des Westwerks keineswegs ausschließt. Sicher haben im Westwerk, besonders auf den Emporen, die Knabenchöre von alters her ihren Platz gehabt, um dem im Osten sitzenden Mönchschor aus der H ö h e zu antworten 5 7 . Sicher hat es auch als Hof-Pfarrkirche, als Versammlungsraum für Gerichte und Synoden und als Stationskirche für besondere Feste gedient. O b es auch Pfarrkirche der Klosterleute war, wie man früher gern annahm, scheint mir weniger sicher, da f ü r diesen Zweck gewöhnlich das Langhaus der Hauptkirche bestimmt war oder eine eigene Kirche errichtet wurde 5 8 . Sicher ist aber auch, daß dieses hochgetürmte, imponierende Bauwerk sehr bald als ein Symbol des Kaisertums empfunden wurde und von daher allein schon, unabhängig von jeder festliegenden Zweckbestimmung, als Bauidee Traditionsfähigkeit gewann 5 9 . 81

Wenn wir uns auf Grund dieser Gesamtvorstellung nach der Herleitung des Westwerks fragen, so ist die Antwort leicht: Das Westwerk kommt im weiteren aus dem

gleichen Vorbildkreis wie die Aachener Kapelle, also aus der byzantinischen Palastkirchentradition 6 0 , und es ist im engeren als U m f o r m u n g der Aachener Kapelle f ü r die Anfügung an eine klösterliche Langhauskirche zu verstehen. Die Pfalzkapelle wird auf ein »Krypta«-Untergeschoß gehoben, um den Zugang zu der Längskirche freizugeben; sie verzichtet auf die Schließung des Emporenringes im Osten, um die Blickverbindung mit dem Gottesdienst in der östlichen Kirche nicht zu sehr zu behindern, und sie nimmt quadratische Gestalt an, um die Zusammenfügung der beiden Kirchen zu erleichtern. Datierungsschwierigkeiten stehen dieser Ableitung nicht ernsthaft im Wege. Mit dem Bau des neuen Klosters in Centula wird von Angilbert 790 begonnen. Die Annahme, daß auch das Westwerk bereits in diesem Jahre konzipiert wurde, ist nicht nötig. Man könnte den Entschluß zu seiner Errichtung auch erst später gefaßt haben. Sie ist aber dennoch möglich; denn auch die Konzeption der Aachener Kapelle könnte ja schon auf die Jahre 788/90 zurückgehen. Wenn wir in der Aachener Pfalzkapelle das Vorbild f ü r die Idee des Westwerks sehen, so bedeutet das nicht, daß diese Vorbildlichkeit ausschließlich sein müßte. Die vor rund 25 Jahren von uns schon als Elemente des Westwerks bezeichneten Baugedanken, die westliche Ein- bzw. Dreiturmfront und der westliche Emporenquerbau 8 1 , könnten durchaus in dem Sinne bei der Bildung des Westwerks eine Rolle gespielt haben, als sie die Gestaltfindung f ü r dieses neue Gebilde, die Umwandlung des Aachener Oktogons in einen Rechteckbau, erleichtert haben könnten. Wenn man sich klar macht, wie sorglos o f t das Mittelalter disparate Bauelemente aus Gründen der Bildhaftigkeit oder der Zweckbestimmung aneinanderfügt 6 2 , so begreift man, wie nötig solche Vorbilder f ü r eine so gründliche Umformung der Aachener Kapelle möglicherweise gewesen sind. Trotzdem kann man von den genannten Elementen als Vorformen des Westwerks nur hypothetisch sprechen, weil wirklich sichere Zeugnisse f ü r ihre Existenz vor Aachen und Centula nicht nachzuweisen sind. Fundamentreste u n d literarische Quellen sind zu nennen, aber sie könnten täuschen 63 . Freilich ist es zusammen mit solchen Zeugnissen wahrscheinlich, daß die, an sich natürlichen, Gedanken des westlichen »Logensitzes« f ü r den »Herren« und des westlichen schützenden Turmes oder Turmtores nicht erst zu Ende des 8. J a h r hunderts entwickelt worden sind. Sie würden dann im Westwerk gleichsam »aufgehoben« erscheinen. Im übrigen aber muß dieses als eine großartige Neuschöpfung der Hofarchitekten Karls des Großen angesehen werden. Ältere Beispiele, Vollwestwerke vor Centula, sind nicht bekannt und auch nicht zu erwarten. Das plötzliche Auftaudien des Westwerks p a ß t ebenso zu unserer Deutung wie seine weitere Geschichte. Als Symbol des Kaisertums ist es lange und geradezu eifersüchtig von bestimmten deutschen Bauherren festgehalten worden. Aber seine räumliche Gestalt hat schon seit dem 10. Jahrhundert eine ständige Reduktion erfahren, die nur kurz von den Restaurationsbestrebungen Friedrich Barbarossas unterbrochen wurde. Sein voller Sinn wurde wohl nur von den Enkeln des großen Karl noch einmal neu belebt. Man denke an die spätkarolingischen Westwerke in Sachsen! Schon unter den Ottonen ist kein »Vollwestwerk« mehr entstanden. Auch dem großartigen Bau von St. Pantaleon in

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Köln fehlt das untere Durchgangsgeschoß zur Mönchskirche und die selbständige Beleuchtung des quadratischen Mittelraumes durch Hochfenster. Man darf daher wohl hinsichtlich des Westwerks das gleiche wie hinsichtlich der Aachener Pfalzkapelle selbst annehmen: N u r Karl d. Gr. konnte noch f ü r sich den Anspruch erheben, im Sinne der oströmischen Kaiser als Stellvertreter Christi aufzutreten. Schon f ü r O t t o d. Gr. war ein solcher Anspruch nicht mehr möglich. Ein kurzer Blick auf die Doppelkapellen mag diese Überlegungen abschließen 64 . Ihrer Aufgabe nach sind sie Hofkapellen. Sie stehen darin in der Nachfolge der Aachener Kapelle ganz ebenso wie die bereits erwähnten, meist verkleinerten späteren Nachbildungen derselben. Gestaltlich aber ähneln sie mindestens ebenso den Westwerken, was sich leicht erklärt, wenn Aachener Kapelle und Westwerke in der Grundidee übereinstimmen. Wie die Oktogone der Nachfolge Aachens, so sind auch die Doppelkapellen zentralgestaltige Kleinbauten, die von örtlichen Herrschern errichtet werden. Mit der maßstäblichen Verkleinerung sinkt aber der große, von Karl erhobene Anspruch gleichsam in eine private Sphäre ab. Z w a r dienen auch diese kleinen Zentralbauten noch dem H o f gottesdienst und der Hervorhebung des Herrscherranges ihrer Bauherren, aber sie stellen nicht mehr den Anspruch, f ü r die Bewohner eines ganzen Reiches symbolisch sichtbar zu sein. Sie wollen nicht f ü r die »Welt« das »zweite Rom« festlegen, so wie es Karl d. Gr. mit seiner Aachener Kapelle beabsichtigen konnte. Wir wenden uns zur »Gegenseite«, zur benediktinischen Baukunst der Zeit um 800. Die erste Frage muß lauten: H a t es überhaupt damals unter Karl d. Gr. schon so etwas wie eine »Reform« bei den Benediktinern gegeben und hat sie in der Architektur der Zeit Spuren hinterlassen? Nach der allgemeinen kirchengeschichtlichen Situation möchte man zunächst annehmen, daß unter Karl dem Großen, der f ü r das asketische Mönchtum wenig Interesse besaß und die Klöster vor allem als Kristallisationspunkte der Kultur und der Bildung in seinen Ländern schätzte, ein »reformerisches« Bauwesen nicht bestanden haben kann. Es wird zu zeigen sein, daß die Dinge so einfach nicht liegen, daß vielmehr eine höfische, eine monastische und eine »römische« Riditung innerhalb des benediktinischen Bauens dieser Zeit erkennbar wird, wobei die beiden letzten zur kaiserlichen Architektur doch in einen Gegensatz treten, der keimhaft schon den großen Gegensatz der Zeit um 1100 in sich schließt. Eine ungefähre Vorstellung der höfischen Richtung ist aus den Rekonstruktionen der Klosterkirchen zu Centula, Reichenau und Lorsch zu gewinnen. Für Centula und den Heito-Bau auf der Reichenau ist die betonte Kreuzform und die gestreckte, ausgewogene Gesamtanlage bezeichnend, für Centula darüber hinaus die kaiserliche Westkirche 65 . Auf der Reichenau ist die H e r k u n f t der Ostlösung vom Zentralbau in Form eines griechischen Kreuzes durch die Schwibbogen im Langhaus sozusagen eigens angedeutet 6 6 . Das Langhaus selbst kam vermutlich nur in der H ä l f t e seiner geplanten Länge zur Ausführung. Den Westbauplan Hei tos kennen wir nicht. In Lorsch wiederum ist der westwerkartige Frontbau sicher bezeugt und schattenhaft durch die Ausgrabungen vorstellbar geworden 6 7 . Ebenso ist seine berühmte Torhalle ein sprechendes Zeugnis kaiserlicher Architektur auf

klösterlichem Boden. Die um 770 entstandene Mönchskirche dagegen ist seltsam unentwickelt. Die höfische Richtung scheint hier noch keinen Einfluß ausgeübt zu haben. Wir begegnen ihr jedoch wohl nochmals am Kölner Dom der Periode VI, der in seiner gestreckten Gestalt und betonten Kreuzform sich neben Centula und die Reichenau stellt, vorausgesetzt freilich, daß die noch recht unsichere Rekonstruktion Doppelfelds das richtige trifft 6 8 . D a in Köln Hildebold, Erzkaplan Karls des Großen, Bauherr gewesen sein muß, kommen wir hier in den gleichen Hofkreis wie mit Angilbert, dem Bauherrn von Centula, und Heito, dem Bauherrn der Reichenau, der beispielsweise im Jahre 811 f ü r Karl in diplomatisch schwieriger Mission nach Byzanz reiste. Wir wenden uns zur »monastischen« Richtung. Wir würden Zeugnisse f ü r sie vor allem bei Benedikt von Aniane suchen, der schon unter Karl dem Großen in Aquitanien sein großes Musterkloster leitete, wenn auch wohl die Schärfe seiner Reformen durch den Einfluß des Hofes gemildert worden war. Leider kennen wir seine Bauten in Aniane nicht. Sie müßten deutlich zeigen, ob die »Reform« schon damals zu einer eigenen architektonischen Gestalt sich durchgefunden hatte. Es ist deshalb notwendig, f ü r diese Frage ein Dokument heranzuziehen, das schon oft, vielleicht allzu eilfertig, als Zeugnis der benediktinischen Reform karolingischer Zeit in Anspruch genommen wurde, den St. Gallener Klosterplan 6 9 . Wir fragen nach der geistigen Heimat dieses großartigen Zeugnisses frühmittelalterlicher Bauplanung, in dem alle wesentlichen Elemente der klösterlichen Architektur des Mittelalters schon vorausgenommen zu sein scheinen. Eine Beantwortung dieser Frage müßte f ü r die Einschätzung vieler Einzelzüge der späteren Entwicklung der Klosterbaukunst von größter Bedeutung sein. Einige Tatsachen, die von der neueren Forschung über den St. Gallener Plan festgestellt worden sind, müssen als Grundlagen in diese Überlegungen eingeschlossen werden. 1. Nach Bernhard Bischoff 70 weist der St. Gallener Plan in seiner Schrift auf die Reichenauer Schreibschule als Herkunftsort. Der Absender an Abt Gozbert in St. Gallen (816/37) war also wahrscheinlich Abt Heito von der Reichenau (806/23, nach Abdankung ")" 835). Heito redet dann den jüngeren Amtsbruder mit »dulcissime fili« an. Die Absendung muß also nach 816, dem Amtsantritt Gozberts, liegen, und sie wird vor 830, dem Baubeginn in St. Gallen, erfolgt sein. 2. Der St. Gallener Plan ist nach H o r n und Bischoff 71 eine Durchzeichnung, eine Kopie. Das Original, nach dem die Durchzeichnung auf der Reichenau vorgenommen wurde, kann daher älter sein und an einer ganz anderen Stelle seinen Ursprung haben. 3. Die auffällige Lösung des Planes f ü r den Westabschluß der Kirche mit Apsis, H a l b kreishof und Halbkreisumgang ist um 800 bereits in Köln an der Domkirche Hildebolds verwirklicht worden 7 2 . Möglicherweise ähnelte dieser Dom im ganzen der St. Gallener Plankirche oder sollte ihr ähneln. Das erhebt die Möglichkeit, daß die Planvorlage der St. Gallener Kopie älter ist als diese, daß sie mindestens in die Zeit um 800 zurückreicht, schon fast zur Gewißheit. Was können wir nun aus dem Plan selbst über die H e r k u n f t seines ursprünglichen Entwerfers entnehmen?

Schon Keller hat 1844 darauf hingewiesen, daß die auf dem Plan f ü r die Gärten vorgesehenen Kräuter und Bäume mit denen übereinstimmen, die Karl d. Gr. seinen Staatsgütern im »Capitulare de villis« zur Kultur anempfahl 7 3 . Das könnte f ü r eine gewisse Verbindung des Entwerfers mit dem kaiserlichen Hof sprechen. Auch die T a t sache, daß der Plan auf der Nordseite der Kirche ein großes, abgesondertes Abtshaus vorsieht, könnte in diese Richtung weisen. Weiter könnte man Beziehungen zum Hof dadurch angedeutet sehen, daß gerade Karls Erzkaplan Hildebold bei seinem Dombau in Köln Elemente des Planes verwendete. Weiter paßt die großartige Entwicklung des Kirchengrundrisses auf dem Plan am ehesten zu der von uns eben gekennzeichneten höfischen Richtung zur Zeit Karls d. Gr. Der Zeit vorher und nachher sind Monumentalbauten mit so ausgewogener Grundrißbildung fremd. Sicher gilt das f ü r die Zeit nach dem Tode Karls im Ostfränkischen Reich, d. h. für Zeit und Ort, denen die Kopie f ü r St. Gallen entstammt. H i e r sind sonst die wie zusammengeschoben wirkenden Kirchen mit kurzem Langhaus bezeichnend 74 . Diesen wenigen »höfischen« Zügen des St. Gallener Planes lassen sich ein ganze Anzahl ausgesprochen monastisdier Eigenarten gegenüberstellen. Was dem Bauhistoriker zuerst und vor allem auffallen muß, ist die Tatsache, daß der Plankirche das Westwerk fehlt. Es fehlt aber nicht nur das Westwerk, wie es in Centula die Klosterkirche so bezeichnend erweitert, es fehlt auch eine Capella regia, wie sie z. B. in Fulda nachgewiesen werden kann 7 5 . Für feierlichen kaiserlichen Besuch ist also auf dem Plan architektonisch keine Vorkehrung getroffen worden. Der Kaiser als »rector ecclesiae« steht dem Planentwerfer nicht im Vordergrund. Die Tatsache, daß die beiden Apsiden der Plankirche den Feiern f ü r die Apostelfürsten geweiht sein sollten, ließe sich vielleicht in ähnlicher Richtung ausdeuten 7 6 . Sie bedeutet eine Bezugnahme auf die römischen Hauptheiligen, also eine Hinwendung auf Rom als das verehrungswürdige H a u p t der Kirche, nicht Hinblick auf den Kaiser. Vielleicht darf man auch darauf hinweisen, daß in den beiden »Chören« der Kirche nur Maria und der Ortsheilige Gallus, St. Peter und Paul und die Mönchsheiligen Benedikt und Columban an Altären verehrt werden, so daß hier nur die »Papstseite« der »Laudes regiae« durch Altäre repräsentiert ist, während Altäre für alle Heiligen der »Kaiserseite« fehlen und auch in den anderen Räumen der Kirche nur wenig vertreten sind 7 . N u n hat Reißer beobachtet, daß die Anordnung der vielen Altäre in den Seitenschiffen, der doppelte Zugang im Westen und die Anlage der Umgangskrypta im Osten auf prozessionierenden Besuch berechnet zu sein scheinen, also eine Wallfahrtsanordnung bedeuten 7 8 . Diese Auslegung ließe sich auch aus den Tituli des Planes stützen. So steht auf dem Vorplatz zum Paradies: Adveniens aditum populus hic cunctus habebit (Alles ankommende Volk wird hier Zugang finden), oder in der Gasse, die zur Kirche f ü h r t : Omnibus ad sanctum turbis patet haec via templum quo sua vota ferant unde hilares redeant (Allen Scharen steht dieser Weg zum heiligen Tempel offen, wo sie ihre Anliegen darbringen, von wo sie fröhlich zurückkehren). Neben das monastische tritt hier ein kirchliches Element, das auf die Welt wirken will, das aber weit vom Höfischen abliegt.

Weiter läßt die Planung als Ganzes und lassen viele Einzelzüge an ihr eine ungemein verstandesklare, fast rationale Grundhaltung durchspüren. Die Belange des Mönchischen werden streng gewahrt, doch werden sie nicht zu übertriebener Askese gesteigert. Nicht asketisch ist es, wenn den Mönchen in der Klausur ein Bad zur Verfügung steht, wenn die wallfahrtende Menge in der Klosterkirche geduldet und eine Klosterschule unterhalten wird, mag auch die Schule außerhalb der Klausur nördlich der Kirche untergebracht sein. Ebenso sprechen die großen Räume, die f ü r Schreibstube und Bibliothek vorgesehen werden, f ü r die Freude an kultureller Leistung im Rahmen mönchischer Arbeit. »Rational« ist weiter der Verzicht auf Nebenkirchen im Klosterbezirk. N u r streng zweckgebundene Nebenoratorien, je eines f ü r die Kranken und f ü r die Novizen, sind vorgesehen. Die älteren Klöster auf fränkischem Boden besaßen dagegen alle zwei und mehr o f t nahezu gleichrangige Klosterkirchen. Man denke nur an Centula, dessen drei Kirchen uns aus schriftlichen und bildlichen Quellen bekannt sind, oder an Corbie, das seine drei Klosterkirchen bis in die Zeit der Französischen Revolution nebeneinander bewahrt hatte 7 9 . Die Zusammenziehung aller wichtigen Altäre im Klosterbezirk auf die eine große Kirche schränkt den Wandergottesdienst innerhalb des Klosterbezirks ein, regelt ihn weniger bildhaft, eben »rationaler«. O b die Weisheit in der Verteilung der H a u p t a u f g a b e n des klösterlichen Lebens auf die einzelnen Bezirke des Klosters erst mit unserem Plan ins Leben getreten ist oder ältere Gewohnheiten schon übernehmen konnte, ist heute, soweit ich sehe, noch nicht eindeutig zu beantworten. Diese Weisheit wird ja besonders deutlich sichtbar in der Verteilung der Zwecke auf die vier Flügel des klösterlichen Kernquadrats, von denen jeder seinen eigenen, feststehenden Charakter besitzt, eine Prägung, die weit über das Mittelalter hinaus für alles klösterliche Leben verbindlich geblieben ist. Die Klarheit dieser Festlegung liegt im ganzen jedenfalls durchaus auf der Linie, die vom Planentwerfer auch sonst eingehalten wurde. D a ein gewisser rationaler Zug auch in den hochmittelalterlichen Reformbewegungen eine Rolle spielt, könnte man vermuten, daß durch ihn auch hier Verbindungen zu Reformideen angedeutet werden. Fassen wir unsere Bemerkungen zusammen, so ergibt sich, daß der geistige Urheber des Klosterplans, von dem uns in St. Gallen eine Nachzeichnung erhalten ist, um 800 seine Konzeption geschaffen haben dürfte, daß er dem kaiserlichen H o f e nicht fern stand, daß er aber nicht in einem höfischen, sondern in einem streng monastischen Sinne gedacht hat, worin möglicherweise sogar schon eine gewisse Wendung gegen das Höfische lag, insofern offenbar die Eigenständigkeit des Mönchischen gewahrt bleiben sollte. Andererseits ist das Mönchische auch nicht weltflüchtig, asketisch, sondern es ist kulturschaffend aufgefaßt. Alle diese Bestimmungen sind zu allgemein, als daß durch sie ein bestimmter Personenkreis oder gar eine bestimmte Person als Urheber festgelegt würde. Sie könnten gewiß, als eine von vielen Möglichkeiten, auf Benedikt von Aniane passen, als er noch in Aquitanien als Reformer tätig war. Stand doch Benedikt mit Persönlichkeiten des Hofkreises wie Theodulf und Alkuin damals in freundschaftlicher Verbindung, so daß er auch von beiden um Hilfe bei der Reorganisation von Klöstern gebeten wurde. Zu

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dieser Verknüpfung würde auch die Annahme von Dopsch vorzüglich passen, daß das bereits erwähnte »Capitulare de villis« nicht von Karl d. Gr., sondern von seinem Sohn Ludwig als König von Aquitanien um 794 erlassen worden sei, also wie Aniane nach Südfrankreich gehöre80. Entschieden dagegen würde aber sprechen, daß nach den Quellen Benedikts Gründung in Aniane drei Kirchen besaß 81 . Ebensowenig oder noch weniger ist an den späteren Reformer Benedikt von Aniane zu denken, der nach 814, nach dem Tode Karls d. Gr., unter dem Schutze Ludwigs des Frommen auf den Synoden von Aachen in den Jahren 816 und 817 eine großzügige und weit strenger seinem eigentlichen asketischen Ideal zugewandte Reform des Mönchtums einleitete und diese in seinem neuen Kloster Kornelimünster bei Aachen vorlebte. Schon die Zahl von 77 Konventualen, mit der vom Planentwerfer gerechnet wird, widerspricht strikt der Zahl von 30 Mönchen, mit denen das neue Musterkloster Inden besetzt wurde 82 . Mit dieser Feststellung fällt auch eine schon von Dopsch aufgegriffene Verbindungsmöglichkeit aus, die verlockend erscheint, weil sie uns zufällig genauer überliefert ist. Wir wissen, daß zwei Reichenauer Mönche 817 in Kornelimünster waren, um dort die neue klösterliche Ordnung zu studieren, und voller Lobes darüber nach der Reichenau berichteten. Was lag näher als anzunehmen, daß sie auch von Kornelimünster einen klösterlichen Musterplan mitbrachten, der später für das Schwesterkloster St. Gallen kopiert wurde. Wegen der strengen asketischen Ordnung, die in Kornelimünster befolgt wurde, ist das aber kaum denkbar. Das monumentale Zeugnis von Kornelimünster selbst fehlt uns leider noch. Es wird uns aber hoffentlich bald zu Verfügung stehen und vielleicht Entscheidendes zur Klärung beitragen können 83 . Nach dem jetzigen Stand der Dinge müßte man, um die Herkunft des Klosterplans aus Kornelimünster zu retten, annehmen, man habe dort einen älteren Plan aufbewahrt und den beiden Reichenauer Brüdern ohne Korrekturen in bezug auf die neuen, strengeren Richtlinien mitgegeben. Das ist aber doch sehr wenig wahrscheinlich. Eher könnte man sich neuerlich fragen, ob auf dem Urplan nach den Aachener Reformsynoden jene Maßangaben eingetragen wurden, die der Zeichnung widersprechen, zu den Kirchen mit kurzem Langhaus, wie sie im hohen 9. Jahrhundert weitverbreitet sind, aber so gut passen. Eine Bejahung dieser Frage würde in die Nähe der Boeckelmannschen These führen 84 , nur brauchte man sich jetzt nach den einleitend genannten Prämissen die Festlegung jener Maße nicht mehr als eine Art Konzilsbeschluß vorzustellen, eine Annahme, der von vornherein wenig Glaubhaftigkeit zukommen konnte. Das Verhältnis von Zeichnung und Beschriftung bleibt trotzdem im Grunde ungeklärt 85 . Doch scheint uns eines sicher und von entscheidender Wichtigkeit zu sein: Wenn das St. Gallener Exemplar des Planes eine Nachzeichnung ist, so sind wir nicht genötigt, Zeichnung und eingeschriebene Maße zu harmonisieren, sondern wir sind frei, die Zeichnung als ein »Exemplum« aufzufassen, zu dessen Ausführung die Maßangaben in der Kirche eine, nur eine mögliche Anweisung geben. Andere Ausführungsanweisungen werden dadurch nicht ausgeschlossen86. Doch verlassen wir diese einstweilen nicht abzuschließenden Erörterungen! Für unsere

Fragestellung ist die Feststellung entscheidend, daß der St. Gallener Klosterplan seinem Ursprung nach in die Zeit Karls d. Gr. gehören dürfte, also innerlich dieser hohen kulturellen Blütezeit von höfisch überzüchtetem Charakter entstammt, daß er aber dennoch seine geistigen Wurzeln weniger in der höfischen Welt als in der benediktinisch-mönchischen besitzt und Merkmale erkennen läßt, die später als Wesenszüge an Bauten der benediktinischen Reform immer erneut auftreten 8 7 . Ähnlich wie beim St. Gallener Plan, der, obwohl aus dem höfischen Kreis um den Kaiser herauswachsend, doch einen gewissen Gegensatz zu diesem Höfischen zu verraten scheint, liegt es auch bei dem Bau der Klosterkirche von Fulda. Die Bauherren in Fulda, die Äbte Baugulf und Ratgar, gehören zwar nicht zu dem engeren Aachener Hofkreis, aber sie haben Beziehungen dorthin. Sie schicken Mönche zur Hofschule und zu Alkuin nach Tours. Persönlich besteht also keinerlei Gegensatz zum H o f . Dennoch bedeutet die mächtige neue Fuldaer Klosterkirche aus den Jahren 791-819 in ihrer betonten Anlehnung an St. Peter in Rom eine Absage an die höfische Architektur und eine Hinwendung nach Rom 8 8 . Wie St. Peter wird die Fuldaer Kirche mit einem gestreckten »durchgehenden« Westquerschiff und einem mächtigen Säulenlanghaus errichtet. Das Langhaus nimmt sogar das hochaltertümliche Motiv des Architravs über den Säulen statt der üblichen Arkadenreihe auf. Die enge Beziehung zu Rom war ja im Bonifatiuskloster nicht neu. Sie erhält jedoch jetzt auch ihren architektonischen Ausdruck, und diesen allerdings von geradezu »kaiserlicher« Großartigkeit. Eine ähnliche »Renovatio« der konstantinischen Prachtbasiliken in Rom war, wenn wohl auch nicht ganz so entschieden, vielleicht schon in S. Denis beim Bau Fulrads (um 754-775) in Erscheinung getreten 8 9 . Wenn das zutrifft, so ließe sich das als eine architektonische Demonstration des damaligen Bündnisses zwischen dem neugeschaffenen fränkischen Königtum und dem Papsttum auffassen. Doch mag die Vorläuferschaft von S. Denis vor Fulda dahin gestellt bleiben. Die Klosterkirche von Fulda und gewisse betont monastische Züge am Klosterplan von St. Gallen zeigen jedenfalls, daß schon zu Lebzeiten des großen Kaisers Karl im Bereiche des klösterlichen Bauens K r ä f t e sich regten, die nicht »imperial«, nicht höfisch auszudeuten sind, sondern in einem gewissen Gegensatz zum Kaiserlichen stehen. Wie weit sie unter Ludwig dem Frommen Boden gewannen, ist noch kaum zu überblicken. Wenn es geschah, behielten sie jedenfalls nicht die gleichen Formen bei, die in St. Gallen und Fulda uns engegentreten 90 . Sicher ist, daß im 10. Jahrhundert die Reform neue Bedeutung gewann. Wie sie sich auf die Baukunst auswirkte, ist dagegen ebenfalls noch kaum zu erkennen. Was wir zeigen wollten, läßt sich kurz zusammenfassen. N u r unter Karl d. Gr. entsteht eine monumentale zentralgestaltige Palastkirche als kaiserlicher Repräsentationsbau, nur in karolingischer Zeit gibt es das »Vollwestwerk«. Mit beiden Bauformen wird ein Anspruch auf »Weltherrschaft« und auf »Stellvertretung Gottes« durch den Herrscher erhoben. Schon von den Ottonen kann ein so hoher Anspruch nicht mehr festgehalten werden. Der den Staat repräsentierende Großbau wird unter ihnen die Kirche eines Bistums, die zugleich dem Kaiser als Grabkirche dient. Das Westwerk wird in seiner Gestalt reduziert. Einen deutlichen Gegensatz zwischen kaiserlichem und benediktinisch-»refor-

merischem« Bauen gibt es in hochkarolingischer Zeit nodi nicht. Dodi läßt er sich überraschenderweise bereits erahnen, und z w a r in einer »monastischen« und in einer »römischen« Richtung des klösterlichen Bauens, die vom imperial-höfischen Bauen sich abheben. Darin kann man keimhaft jenen Gegensatz schon beschlossen sehen, der in der Folgezeit in so großartiger Weise die Entwicklung der deutschen Architektur antreibt, zerreißt und belebt. ANMERKUNGEN

Das Manuskript des vorstehenden Aufsatzes wurde im September 1961 abgeschlossen. 1 Vgl. vor allem die Zusammenfassungen bei Lisa Schürenberg, Mittelalterlicher Kirchenbau als Ausdruck geistiger Strömungen. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 14 (18), 1950, S. 23-46; und Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951. Bes. S. 171-245; daneben auch für Teilfragen Hans Reinhardt, Die deutschen Kaiserdome des 11. Jahrhunderts. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 33, 1934, S. 175-194; und Wolf bernhard Hoffmann, Hirsau und die »Hirsauer Bauschule«, München 1950. Vom Autor dieses Aufsatzes vgl. Der frühe deutsche Kirchenbau, Berlin 1938; Über die Bedeutung des Investiturstreits für die deutsche hochromanische Architektur, in: Zeitschr. d. Deutschen Vereins f. Kunstwissenschaft 7, 1940, S. 75-88; Von Sinn und Wesen der Wandlung in der Raumanordnung der deutschen Kirchen des Mittelalters, in: Zeitschr. f. Kunst 1, 3, 1947, S. 24-43; Die Bedeutung des Bauschmucks am Dom zu Speyer, in: Zeitschr. f. Kunstwissenschaft 5, 1951, S. 1-16. 2 Vgl. die Zusammenstellung der zur Verfügung stehenden Daten bei Karl Faymonville, Das Münster zu Aachen, Düsseldorf 1916 (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 2,1), S. 59 f.; sowie die Bemerkungen bei Albert Huyskens, Aachen zur Karolingerzeit, in: Aachen zum Jahre 1951, Rheinischer Verein für Denkmalpflege u. Heimatschutz 1951, S. 27-44, hier S. 29 f. - Seit 788 hält sich Karl d. Gr. häufiger in Aachen auf. Wahrscheinlich war die Pfalz schon damals in wesentlichen Teilen vollendet. Da Pfalz und Pfalzkapelle in ihrer Anlage aufeinander bezogen erscheinen, dürfte spätestens um 788 der Plan zur Errichtung der Kapelle gefaßt worden sein. Der Baubeginn könnte um 790 liegen, denn 798 berichtet Einhart in einem Brief, daß die Säulen in der Kapelle zu Aachen aufgestellt worden seien. Es kann sich dabei wohl nur um die Säulen in den Arkaden des Obergeschosses handeln. Das setzt voraus, daß der Rohbau der Pfalzkapelle 798 vollendet war. Nach den Annales Tielenses wird die Kapelle 805 zum Fest der Heiligen Drei Könige von Papst Leo III. geweiht. 3 Das gilt nicht - das sei ausdrücklich vermerkt - für Kleinbauten. Zentralgestaltige Kleinbauten sind im ganzen frühen und hohen Mittelalter sehr häufig. 4 Auszunehmen sind hier ausdrücklich die zentralen oder zentralisierenden Bauten in Kreuzform. Kreuzbauten scheinen zur Bildung des »normalen« hochmittelalterlichen Kirchengrundrisses mit Querschiff beigetragen zu haben. Es dürfte auch in merowingischer Zeit bereits bedeutende Vertreter dieses Typus gegeben haben, wie einzelne literarische Quellen bezeugen. Vgl. dazu E. Knögel, Schriftquellen zur Kunstgeschichte der Merowingerzeit. In: Bonner Jahrbücher 140, 1936, S. 1-258. 5 Vgl. Richard Krautheimer, Introduction to an iconography of mediaeval architecture. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 4, 1942, S. 1-33. Doch möchten wir darum den Einfluß der römischen Thermenarchitektur auf die Gestalt der Baptisterien nicht ausschließen. 6 Vgl. Schürenberg 1950 (Anm. 1), S.25; und vor allem Rirchard Krautheimer, Sancta Maria Rotunda. In: Arte del primo Millennio, Turin (1953), S. 21—27. 7 Vgl. André Grabar, Martyrium, Bd. 1, Paris 1946, S. 559-579. Es liegt mir fern, dieses groß-

artige Werk hier oberflächlich kritisieren zu wollen. Auch in dem Abschnitt über die Palastkirchen findet sich eine Fülle wichtiger und neuer Gedanken. Trotzdem erscheint mir der Grundgedanke desselben, daß die Palastkapellen gleichsam als riesige Reliquiare Zentralgestalt erhalten hätten, ungenügend begründet. Auch wird nicht immer scharf genug zwischen den einzelnen Bautypen geschieden. Doch ist hier nicht der Ort für eine ausführliche Auseinandersetzung. 8 Z. B. Einhart in seiner »Vita Karoli«. Vgl. Hermann Schnitzler, Der Dom zu Aachen, Düsseldorf 1950, S. 5 f . 9 Vgl. Krautheimer 1953 (Anm. 6), S. 25 f . u. 23 f . 10 Vgl. Einharts Vita Karoli! Gleich nach Kap. 26 (Bericht über die Erbauung der Kapelle) kommt die Erzählung Einharts, daß Karl regelmäßig in ihr dem Gottesdienst beizuwohnen pflegte. 11 Die Bestattung Karls wird von Einhart in der »Vita Karoli« beschrieben. Zur Lage des Karlsgrabes gibt es eine eigene, umfassende Literatur. Ich nenne davon nur: Josef Buchkremer, Das Grab Karls des Großen, in: Zeitschr. d. Aachener Geschichtsvereins 29, 1907, S. 68-210; Eduard Teichmann, Über den Standort des Marienaltars der Aachener Pfalzkapelle sowie über die Ruhestätte Karls des Großen und die Lage des ersten Grabes Ottos III., Aachen 1926; Heinrich Wismann, Grab und Grabmal Karls des Großen, Phil. Diss. Heidelberg 1933; Heinrich Schiffers, Karls des Großen Grab in der Vorhalle des Aachener Münsters, Aachen 1934; Eduard Teichmann, Zu der Lage des Zweikaiser-Grabes in der Aachener Pfalzkapelle, in: Annalen des Histor. Ver. f . d. Niederrhein 128, 1936, S. 126-137; Johannes Ramackers, Das Grab Karls des Großen und die Frage nach dem Ursprung des Aachener Oktogons, in: Jahrb. d. Görresgesellsch. 75, 1956, S. 123-153; Felix Kreusch, Über Pfalzkapelle und Atrium zur Zeit Karls des Großen, Aachen 1958 (Dom zu Aachen, Beiträge zur Baugeschichte IV). - Die als Lage ist danach noch immer nicht völlig geklärt. Die für eine Errichtung der Pfalzkapelle Mausoleum vorgebrachten Argumente erscheinen mir in keinem Falle stichhaltig. 12 Einharts Zeugnis im Kap. 31 der Vita Karoli darf man wohl - wie bekanntlich auch andere seiner Äußerungen in dieser Vita - mit Skepsis aufnehmen, da es überaus unwahrscheinlich ist, daß Karl in dieser für die Vorstellungen der Zeit so außerordentlich wichtigen Fragen keine Vorsorge getroffen haben sollte. Wollte Einhart Karls Bescheidenheit damit hervorheben? Jedenfalls stimmten nach Einharts eigenem Zeugnis alle Leute am Hofe darin überein, daß nur die großartige Aachener Kapelle, Karls persönliche Stiftung, dem Kaiser einen angemessenen Begräbnisort bieten könne. Welche Rolle bei dem angeblichen Schweigen Karls seine ursprüngliche Verfügung spielte, in S. Denis bestattet zu werden, eine Verfügung, die Einhart unerwähnt läßt, ist eine mehrfach erörterte, offene Frage. - Für Ratschläge und Hinweise zu allen in diesem Aufsatz berührten historischen Fragen bin ich Herrn Dr. Ernst Schubert, Halle, zu aufrichtigem Dank verpflichtet. 13 Vgl. vor allem Harald Koethe, Das Konstantinsmausoleum und verwandte Denkmäler, in: Jahrb. d. Dt. Archäolog. Instituts 48, 1933, S. 185-201. Eine Ausnahme unter den kaiserlichen Nischenrundbauten bildet nur die Rotunde für Konstanza, die Tochter Konstantins, in Rom. Doch hat auch der Bautypus von Sta. Costanza mit Aachen nur wenig gemein. 14 Vgl. dazu Schiffers 1934 (Anm. 11), S.21 f . (nach Buchkremer). 15 Diese Ableitung im wesentlichen schon ebenso bei Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 201-207. 16 Vgl. Oskar W u l f f , Altchristliche und byzantinische Kunst, Bd. 2, Die byzantinische Kunst, Berlin-Neubabelsberg 1918 (Handbuch der Kunstwissenschaft), S. 372. 17 Vgl. Wulff 1918 (Anm. 16), S. 387 f . 18 Vgl. Jean Ebersolt und Adolphe Thiers, Les églises de Constantinople, Ebersolt, Sanctuaires de Byzance, Paris 1920.

Paris 1913; und

Jean

19 Beispiele: In Konstantinopel selbst noch die Pantokratorkirche. Im Königreich Epirus: Arta. In Bulgarien: Preslaw und Aboba-Pliska. In Rußland: Kiew, die »Zehnte-Kirche und St. So-

phia; Tschernigow, die Erlöserkathedrale; Nowgorod, St. Sophia; Perejaslawl, die Kathedrale; Wladimir, die Koimesis- und die Demetriuskathedrale; Bogoljubowo, die Kathedrale; Moskau, die Verkündigungskathedrale. Vgl. zu Konstantinopel und Arta: Wulff 1918 (Anm. 16), S. 485 bis 487 u. 469 f.; sowie E. Baldwin Smith, Architectural symbolism of imperial Rome and the middle ages, Princeton 1956, S. 159, 173 f . u. 178. - Vgl. zu Preslaw und Aboba-Pliska: Grabar 1946 (Anm. 7), S.567 f . u. 572 f . - Vgl. zu den Kirchen der russischen Fürstentümer: Michael Alpatow und Nikolai Brunow, Altrussische Kunst, Berlin 1932; und Geschichte der russischen Kunst, Bd. 1, Dresden 1957. 20 Beispiele: Diedenhofen, Compiegne, Groningen, Nymwegen, Muizen, Lüttich - St. Johannes, Brügge - St. Donatian, Ottmarsheim. Von einigen Denkmälern wissen wir nur aus literarischen Quellen, die uns dann aber auch den Bauherren überliefern (für Diedenhofen Ludwig d. Frommen, für Compiegne Karl d. Kahlen), in anderen Fällen besitzen wir nur das Denkmal selbst oder seine Fundamente, ohne den Anlaß zu seiner Errichtung zu kennen. Doch scheint nur im Falle der Nonnenklosterkirche zu Ottmarsheim die Annahme kaum begründbar, daß es sich um die Pfalzkapelle eines lokalen Fürsten handeln könne. Auf Literaturangaben wird hier verzichtet, da in Kürze von Albert Verbeek eine breitangelegte Studie über das Nachleben Aachens zu erwarten ist, die von ihm bereits 1960 in Mainz vorgetragen worden ist. Sie wird alle nötigen Angaben enthalten. 21 Zu dem Gedankenkreis der Epiphanie und des Adventus vgl. z. B. Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 125 f . u. 181 f.; sowie Smith 1956 (Anm. 19), S. 3-9; dazu Andreas Alföldi, Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe, in: Mitteilungen d. Dt. Archäolog. Instituts, römische Abt., 49, 1934, S. 1-118, bes. z. B. S. 88-93. 22 Vgl. z. B. Kurt Lehmann, The Dome of Heaven, in: The Art Bulletin 27, 1945, S. 1-27; E. Baldwin Smith, The Dome, Princeton 1950; und Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 191. 23 Vgl. Smith 1950 (Anm. 22), S. 81 f . 24 Vgl. Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 179. 25 Die vergoldete Kugel, die nach Einharts Vita Karoli (Kap. 32) das Oktogon der Aachener Pfalzkapelle krönte, könnte durchaus als Herrschaftssymbol, Sinnbild der Weltherrschaft, gemeint gewesen sein. 26 Der »Chrysotriklinos« in Byzanz, den Justin II. zu Ende des 6. Jahrhunderts vollendete, war ein großer, überkuppelter Thronsaal, achteckig wie Aachen und wohl auch mit einer umlaufenden Empore, aber auf Füllnischen, versehen, in dem der Kaiser in der östlichen Apsis gottgleich thronte. Vgl. Heinrich Fichtenau, Byzanz und die Pfalz zu Aachen, in: Mitteilungen d. Inst. f . Österr. Geschichtsforschung 59, 1951, S. 1-54. In der gemeinsamen Quelle für Palastkirche und Chrysotriklinos, nämlich dem »kosmischen Thronsaal«, liegt das Richtige des Gedankens von Fichtenau, die Aachener Kapelle vom byzantinischen Chrysotriklinos abzuleiten. An sich halten wir diesen Gedanken jedoch für verfehlt. Denn im Chrysotriklinos sitzt ja der Kaiser wirklich an der Stelle des Gottes in der Apsis. Im übrigen scheint die Empore dort eine untergeordnete Rolle im Zeremoniell gespielt zu haben, ganz im Gegensatz zur Empore der Aachener Pfalzkapelle. 27 Vgl. Ernst Hartwig Kantorowicz, Ivories and litanies, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5, 1942, S. 56-81; und derselbe, Laudes Regiae, a study in liturgical acclamations and mediaeval ruler worship, Berkeley and Los Angeles 1946 (Univ. of California Publications in History 33). 28 Vgl. Wolf gang Lötz in Kunstchronik 5, 1952, S. 65-71 (= Besprechung von Alois Fuchs, Entstehung und Zweckbestimmung der Westwerke, in: Westf. Zeitschr. 100, 1950, S. 227-291). 29 Zum Begriff des »sacrum palatium« vgl. Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 126; und Smith 1956 (Anm. 19), S. 53. Zum amtlichen Gebrauch dieses Ausdrucks am fränkischen Hof vgl. Fichtenau 91

1951 (Anm. 26), S. 13.

30 Vgl. z. B. Percy Ernst Schramm, Karl der Große im Lichte der Staatssymbolik, in: Karolingische und ottonische Kunst, Wiesbaden 1957 (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 3), S. 16-48. Die dort vorgetragene Auffassung stimmt nicht in allen Punkten mit unserer überein. Der Aufsatz gibt aber einen vorzüglichen Einblick in die Vielschichtigkeit dieses Themas. 31 Dieser Hinweis nach Albert Mirgeler, Karl der Große, in: Aachen zum Jahre 1951, Rhein. Ver. f . Denkmalpflege u. Heimatschutz 1951, S. 14-26, hier S. 24. 32 Vgl. Lehmann 1938 (Anm. 1), S. 106. 33 Den römischen Charakter betont Schürenberg 1950 (Anm. 1), S. 27 f . Fränkisches glaubt Walter Boeckelmann bestimmen zu können (vgl. Von den Ursprüngen der Aachener Pfalzkapelle, in: Wallraf-Richartz-]ahrb. 19, 1957, S. 9-38). Ist sein Gedanke eines achtfach gedrehten Saalbaues mit Rechteckchor auch reichlich phantastisch, so muß doch zugegeben werden, daß in der Rektangulisierung, die in Aachen gegenüber den vermutlichen justinianischen Vorbildern vorgenommen wurde, eine gewisse Anverwandlung an das im fränkischen Gallien Gewohnte vollzogen sein dürfte. - Sta. Sophia in Benevent, das oft als mögliches Vorbild Aachens genannt wurde, scheidet im übrigen aus. Es war ein Bau mit drei Apsiden, doppeltem Stützenkranz und seltsam sternförmigem äußerem Umriß. Vgl. die Rekonstruktion von Arturo Rusconi in Kunstchronik 8, 1955, S. 129. in: Aachen zum Jahre 34 Vgl. zuletzt besonders Hermann Beenken, Die Aachener Pfalzkapelle, 1951, Rhein. Ver. f . Denkmalpflege u. Heimatschutz 1951, S. 67-80, hier S. 67. 35 Vgl. Friedrich Wilhelm Deichmann, Gründung und Datierung von San Vitale zu Ravenna, in: Arte del primo millennio, Turin (1953), S. 111-117. ottagono a Hierapolis di Frigia, in: Palladio 10, 1960, 36 Vgl. Paolo Verzone, II martyrium S. 1-19. 37. Für das Folgende vgl. besonders Schnitzler 1950 (Anm. 8), S. 5-17; Schürenberg 1950 (Anm. 1), S. 27 f.; und Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 207 und 230. 38 Zur Bezeichnung »Lateran« vgl. Schnitzler 1950 (Anm. 8), S.5; Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 48; und Fichtenau 1951 (Anm. 26), S. 43 f . - Zur Bezeichnung »Roma secunda« vgl. Huyskens 1951 (Anm. 2), S. 30. (Verwendet in dem Angilbert zugeschriebenen »Carmen de Karolo Magno«, III, 94.) und Staatssymbolik, Bd. 1, Stuttgart 1954 (Schrif39 Vgl. Percy E. Schramm, Herrschaftszeichen ten der Monumenta Germaniae historica 13,1), S. 338-341. 40 Vgl. Schnitzler 1950 (Anm. 8), S. 6; Fichtenau 1951 (Anm. 26), S. 49-53; und Schramm 1957 (Anm. 30), S. 27 f . 41 So Widukind von Corvey in bezug auf Otto I. in Aachen. Vgl. Fichtenau 1951 (Anm. 26), S. 25. 42 Vgl. Schramm 1954 (Anm. 39), S. 342 f . 43 Vgl. Smith 1956 (Anm. 19Jj S. 166 f . 44 Die von Smith 1956 (Anm. 19), S. 167, bei Jean Ebersolt, Sainte-Sophie de Constantinople, Paris 1910, angegebenen Stellen (S. 25, Anm. 7; S. 16, Anm. 1 und S. 27) zeigen das deutlich. Vgl. auch Alfons Maria Schneider, Die Hagia Sophia zu Konstantinopel, Berlin 1939, S. 18-26. 45 Vgl. Smith 1956 (Anm. 19), S. 167-169; und Schneider 1939 (Anm. 44), S. 23 u. 36. 46 Ebersolt

1910 (Anm. 44), S. 27.

47 Die russischen Palastkirchen zeigen anfänglich die Anordnung der Emporen im Norden, Süden und Westen wie die byzantinischen Vorbilder (Sophienkirchen in Kiew und Nowgorod), später bleibt die Westempore allein übrig (Perejaslawl, Wladimir). Sie zieht sich in Jurjew-Podolsk sogar schon auf einen bloßen Westvorbau zurück, eine Entwicklung, die von Moskau zunächst rückgängig gemacht wird (Verkündigungskathedrale). Daß diese Westemporen den Herrschersitz aufnahmen, ist seit dem 12. Jahrhundert durch die Übergangsbrücken vom benachbarten Schloß zur Westempore nachzuweisen (vgl. Anm. 49). Für die ältere Zeit lassen allerdings nur

die großen seitlichen Treppentürme zur Westempore den Sitz des Herrschers an dieser Stellt vermuten. Vgl. die unter Anm. 19 zitierte Literatur! 48 Vgl. Krautheimer 1953 (Anm. 6), S.23}.: Kapelle des »Heiligen Reliqiars« für eine Bekleidungsreliquie Mariae an der Marienkirche im Blachernenpalast, Ende 6. bis Anfang 7. Jahrhundert, mit einem Parakyptikon, wahrscheinlich über dem Narthex. Ferner Smith 1936 (Anm. 19), S. 166 f.: S. Sergios und Bakchos mit Sitz des Kaisers über der »Kaisertür«, ebenso, S. 169, in S. Mokios. 49 Für Westeuropa seien aus der Vielzahl der Beispiele neben Aachen noch die Pfalzkapelle des Bischofs Siegwart von Minden in Idensen und die Servatiuskirche in Maastricht genannt. In Idensen ist nur die hochgelegene Tür zur westlichen Turmkapelle erhalten, in Maastricht auch noch der Ubergang von der Pfalz zur »Westchorhalle« selbst. In Osteuropa ist eine solche Emporentür zuerst in Perejaslawl nachzuweisen, während in Bogoljubowo gerade der steinerne Übergang allein erhalten ist. In Byzanz selbst ist ein solcher Übergang immerhin schon für die »Nea« des Kaisers Basilius Makedo, die 881 geweiht wurde, bezeugt. Vgl. Wulff 1918 (Anm. 16), S. 454 f . 50 Vgl. Joseph Buchkremer, Untersuchungen zum karolingischen Bau der Aachener Pfalzkapelle, Zeitschr. f . Kunstwissenschaft 1, 1947, S. 1-22, hier S. 15 f . Die von Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 106 f . u. S. 207, geäußerte Meinung, daß mit dem Bau des Westteils auch eine Veränderung des symbolischen Sinns der Pfalzkapelle verbunden gewesen wäre, ist von ihm selbst aufgegeben worden. 51 Vgl. zur Stadttorsymbolik besonders Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 90-112; und Smith 1956 (Anm. 19), S. 10 f . 52 Die Inschrift befand sich im Westwerk. Dieser Ort der Anbringung und ihr Text wird von der Chronik Hariulfs überliefert. Vgl. Alois Fuchs, Entstehung und Zweckbestimmung der Westwerke, in: Westfälische Zeitschr. 100, 1950, S. 227-291, hier S. 274. Auch sonst berichtet die Chronik von der Freigebigkeit des Kaisers. Vgl. Wilhelm Effmann, Centula - St. Riquier, Münster 1912, S. 18. 53 Vgl. Effmann 1912 (Anm. 52), S. 19: »fulgentissima ecclesia omnibusque illius temporis ecclesiis praestantissima« (Hariulf). Vgl. auch Effmanns Bemerkungen zur Ausstattung S. 117-132. 54 Vgl. Fuchs 1950 (Anm. 52); Adolf Schmidt, Westwerke und Doppelchöre, in: Westfälische Zeitschr. 106, 1956, S. 347-438 (ah Phil. Diss. bereits 1950 in Gc'tingen abgeschlossen); und Bandmann 1951 (Anm. 1), S. 207-219; in gleichem Sinne auch Hans Thümmler, Die karolingische Baukunst in Westfalen, in: Karolingische und ottonische Kunst, Wiesbaden 1957 (Forschungen zur Kunstgesch. u. christl. Archäol. 3), S. 84-104, hier S. 94-96. Ähnlich öfter! zu den anderen Deutungen des Westwerks gegeben. Eine 55 In aller Kürze sei eine Stellungnahme ausführliche Begründung dieser Stellungnahme würde schon fast ein eigenes Buch erfordern. Westwerke sind Westchöre. (Vgl. Ernst Gall, Zur Frage der Westwerke, in: Jahrbuch d. Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz 1, 1953 [1954], S. 245-252. Gall beruft sich z. T. auf Wilhelm Effmann, den Schöpfer des Begriffs »Westwerk«. Vgl. von Effmann, Die karolingisch-ottonischen Bauten zu Werden, Bd. 1, Straßburg 1899; Centula - St. Riquier, Münster 1912; Die Kirche der Abtei Corvey, hrsg. v. Alois Fuchs, Paderborn 1929; vgl. aber auch bereits zum Aufsatz von Gall die Entgegnung von Alois Fuchs, Zum Problem der Westwerke, in: Karolingische und ottonische Kunst, Wiesbaden 1957 [Forschungen zur Kunstgesch. u. christl. Archäol. 3], S. 109-117.) Diese Erklärung führt im Grunde nicht weiter. Die Fragen, wofür diese Westchöre geschaffen und warum sie so aufwendig gestaltet wurden, bleiben bestehen oder werden mit dem Hinweis auf den Kult besonderer Heiliger nur unzureichend beantwortet. Sicher ist aber auch, daß Westwerke nicht Westchöre, sondern Westkirchen sind, insofern sie nicht nur einen Altarplatz, sondern auch einen Platz für eine »Gemeinde« (in einem allgemeinen Sinne) in sich schließen. Diese Tatsache ist von der französischen

Forschung stets richtig gesehen worden. Man denke an die Bezeichnung »église-porche«! Vgl. Hans Reinhardt und Etienne Fels, Etude sur les églises-porches carolingiennes et leurs survivance dans l'art roman. Bulletin monumental 92, 1933, S. 331-365, u. 96, 1937, S. 425-469. Nimmt man freilich an, daß auch zu den ebenerdigen Westchören stets solch ein eigener Gemeindeplatz hinzugehört und daß auch dort der Altarplatz im allgemeinen östlich davon liegt, so schrumpft der Unterschied zwischen Westchor und Westwerk darauf zusammen, daß der Kirchenraum des Westwerks über der Durchgangs-»Krypta« in ein Obergeschoß gehoben erscheint, während er beim Westchor etwa auf dem gleichen Niveau wie die östliche Kirche liegt. Immerhin könnte auch dieser Unterschied eine begriffliche Trennung rechtfertigen. Westwerke sind Märtyrer- oder Grabkirchen. (Vgl. Wismann 1933 [Anm. 11]; Grabar 1946 [Anm. 7], S. 551-559; und Pierre Francas tel, A propos des églises-porches: du carolingien au roman, in: Mélanges d'histoire du moyen âge dédiés à la mémoire de Louis Halphen, Paris 1951, S. 247-257). Da wir über Reliquien- und Märtyrerverehrung im allgemeinen gute schriftliche Quellen haben, wäre es sonderbar, wenn diese hinsichtlich der Westwerke so völlig schweigen sollten. Aber tatsächlich ist für kein Westwerk aus den Quellen ein besonderer Reliquienkult nachweisbar, so daß dieser in erster Linie von der Zentralgestalt der Westwerke inspirierte Gedanke wohl sicher als irrig ausgeschlossen werden kann. Die Aufgaben der Reliquienverehrung waren ja damals bereits auch im wesentlichen schon vom spätantiken zentralen Denkmalsbau auf den Längsbau mit einer Umgangskrypta für Wallfahrten übergegangen. Daß in den Westwerkkrypten öfter begraben worden ist, sagen uns Quellen und Funde zwar eindeutig. Der Grabplatz vor der Eingangstür ist aber auch sonst aus christlicher Demut beliebt. Jene Gräber haben mit der Zweckbestimmung des Westwerks dem Ursprung nach sicher nichts zu tun. Westwerke sind Michaels- oder Engelskirchen. (Vgl. Jean Vallery-Radot, Note sur les chapelles hautes dédiées à St. Michel, Bulletin monumental 88, 1929, S. 453-478; Leopold Speneder, Gopuram und Westturm, in: Josef Strzygowski-Festschrift, Klagenfurt 1932, S. 152-155; Otto Gruber, Das Westwerk, Symbol und Baugestaltung germanischen Christentums, in: Zeitschr. d. Dt. Ver. f . Kunstwissenschaft 3, 1936, S. 149-173; Paolo Verzone, Les églises du haut moyen âge et le culte des anges, in: L'art mosan, Paris 1953 [Bibliothèque générale de l'école pratique des hautes études, 6. section], S. 71-80; Hans Reinhardt, L'église carolingienne de SaintRiquier, Nouvel essai de reconstruction, Vortrag auf dem 9. Internationalen Frühmittelalterkongreß in Poitiers, Juli 1961.) Daß die dem Erzengel Michael geweihten Tor- und Turmkapellen in der Reihe der Vorläuferbauten für das Westwerk eine Rolle spielen, ist wahrscheinlich. Vgl. auch Fuchs 1950 (Anm. 52), S.251f. Daß das Westwerk nicht allein daraus erklärt werden kann, ist bei dem Unterschied an baulichem Aufwand und räumlicher Differenzierung aber ebenfalls deutlich. Auch der wiederholt, z. B. von Vallery-Radot und von Gruber, geäußerte Gedanke, das Westwerk sei gleichsam ein Bollwerk gegen die bösen aus dem Westen befehlige, drohenden Mächte der Finsternis, in dem St. Michael seine himmlische Heerscharen dürfte etwas Richtiges treffen. Dagegen ist die Annahme Grubers, im Westwerk seien in Anlehnung an die Schrift des Dionysius Areopagita über die himmliche Hierarchie neun Altäre für die neun Engelchöre untergebracht gewesen, gekünstelt und unmöglich. Vgl. dazu die ausführliche Widerlegung bei Fuchs 1950 (Anm. 52), S. 230-241. Nun hat erst kürzlich Reinhardt mit Nachdruck darauf bestanden, die Westwerke seien aus dem Engelskult zu erklären und jede Verbindung derselben mit dem Kaisertum sei abzulehnen. Aber es fehlen für diese Erklärung sichere quellenkundliche Belege mindestens ebensosehr wie für die Hofkirchen-These, und die allgemeine religionsgeschichtliche Situation ist hinsichtlich eines besonderen Engelskultes eher unklarer als hinsichtlich eines besonderen höfischen Zeremoniells. Doch läßt sich gerade zwischen diesen beiden Erklärungen eine feste Brücke finden: Der Kaiser ist nicht nur Stellvertreter Christi, er ist als Sieger über die Feinde der christlichen Welt auch Stellvertreter Michaels, oder

anders gesagt, der drachentötende Michael ist zugleich Symbol des Kaisertums. Damit ist das Ineinander spielen von kaiserlicher »Erscheinungskirche« und Michaelskirche leicht erklärlich. Auch daß die ursprünglich selbständige Bauform der hochgelegenen Michaelskapelle sich mit dem Westwerk vermischt, mit dem Westwerk, dessen Hauptraum westlich in einem Obergeschoß liegt und darüber hinaus noch Emporen besitzt, braucht nicht Wunder zu nehmen. Für eine ursprüngliche Bestimmung des zentralbauartigen Westwerks für den Engelskult sehe ich jedoch keine festen Anhaltspunkte. Westwerke sind Festungen. (Vgl. Edmund E. Stengel, Über Ursprung, Zweck und Bedeutung der karolingischen Westwerke, in: Festschrift Adolf Hofmeister zum 70. Geburstag, Halle 1956, S. 283-311.) Fraglos haben die Westwerke in Notzeiten als Befestigungen gedient. Daß sie als solche im späten 8. Jahrhundert geschaffen worden seien, ist nicht zu belegen und bei der damaligen Machtfülle Karls überaus unwahrscheinlich. Die Bezeichnung »castellum« für den Westbau in Lorsch stammt aus dem Ende des 11. Jahrhunderts; die sehr früh anzutreffende Bezeichnung »turris« ist zu allgemein, als daß sie allein als »Festungsturm« verstanden werden könnte. Aber auch die Annahme, daß der Festungscharakter der Westwerke später zu ihrem Entstehungszweck geworden sei, ist aus den Quellen nicht zu belegen. Die Westwerke blieben doch immer Kirchen. Ihre wehrhafte Gestalt wurde nur zum dankbar angenommenen Nebenzweck. Westwerke sind gestaltlich von der germanischen Königshalle mitbestimmt. (Vgl. Wilhelm Rave, Sint Servaas zu Maastricht und die Westwerkfrage, in: Westfalen 22, 1937, S. 49-75.) Der von Rave zur Begründung dieser These gewählte Ausgangspunkt, ein angenommenes karolingisches Westwerk an St. Servatius zu Maastricht, ist unhaltbar. Wir wissen einstweilen über einen solchen karolingischen Vorgängerbau in Maastricht nichts. Trotzdem verdiente Raves These eine behutsame Untersuchung. Es ist doch auffällig, daß als Vorläufer und vor allem auch als Zerfallsprodukte des Westwerks immer wieder Querbauformen auftreten. Eine klare Antwort darauf, ob hier entfernte Nachklänge des Baugedankens der germanischen Königshalle möglich sind, dürfte allerdings sehr schwierig sein. 56 Zum Thema Theokratie Karls d. Gr. als Hintergrund für die Schöpfung des Westwerks vgl. auch Schmidt 1956 (Anm. 54), S. 389-392. 57 Noch Letzner beschreibt in seiner Chronik des Klosters Corvey 1590 den »chorus angelicus sub turribus in der Höhe«, der den Mönchschören im »Chor« und im Schiff (?) an bestimmten Passagen zu antworten hatte. Vgl. Effmann 1929 (Anm. 55), S. 129. Benutzung 58 Gegen die ursprünglich positive Meinung von Effmann und Fuchs hinsichtlich der der Westwerke als Pfarrkirchen bereits ablehnend Fuchs 1950 (Anm. 52), S. 229. Nach Theodor Rensing, Pfarrsystem und Westwerk in Corvey, in: Westfalen 25, 1940, S. 51-58, waren schon vor Errichtung des Westwerks in Corvey zwei Pfarrkirchen im Umkreis des Klosters vorhanden. Auch die Arbeit von Pierre Héliot, L'Abbaye de Corbie, ses églises et ses bâtiments, Löwen 1957 (Bibliothèque de la revue d'histoire ecclésiastique 29), zeigt, daß in Corbie ursprünglich eigene Pfarrkirchen vorhanden waren und die seelsorgerische Arbeit erst allmählich im Laufe des 11. Jahrhunderts, auch räumlich, stärker ins Klosterleben eindrang. 59 Mit Freude erinnert sich der Verfasser an das Wort des mit dieser Schrift Gefeierten, Peter Metz, auf dem Kunsthistorikertag in Hannover: »Das Westwerk ist ein Symbol«. Es fiel in die mit Spannung geladene Atmosphäre hinein, nachdem Ernst Gall seinen scharfen Widerspruch gegen die Verbindung des Westwerks mit der Idee des Kaisertums vorgetragen hatte. 60 Das ist auch die Meinung Bandmanns, vgl. Bandmann 1951 (Anm. 1), S.207. Da Bandmann andererseits glaubte, das Westwerk mit dem - nach Stutz - aus dem germanischen Rechtsdenken stammenden Begriff der Eigenkirche verbinden zu müssen, ergaben sich für ihn Schwierigkeiten (vgl. S. 213-215). Aber man darf doch wohl sagen, daß solche in Wahrheit nicht existieren, weil das Westwerk als Hofkirche von Haus aus nichts mit dem Rechtsbegriff

der Eigenkirche zu tun hat. Hofkirchen können zwar mit der Eigenkirche den Platz des »Herren« auf der Westempore gemeinsam haben. Aber das Wesentliche der Eigenkirche ist ja die Verfügungsgewalt des Eigenkirchenherren über seinen Besitz und sein Recht zur Einsetzung des leitenden Geistlichen. Danach hat Karl d. Gr. alle Bischofskirchen seines Reiches und alle Reichsabteien als »Eigenkirchen« behandelt. Bandmann sagt, S.211, selbst richtig, daß das ganze Kloster, z. B. Werden, rechtlich als Eigenkirche anzusehen sei. Nur seien die mit dem Eigenkirchenrecht verbundenen Funktionen tatsächlich vor allem im Westwerk ausgeübt worden. Selbst, wenn das in dieser Form richtig sein sollte, müßte man annehmen, daß sich diese Entwicklung erst im Laufe des 9. Jahrhunderts aus praktischen Gründen vollzogen hätte. Für die Schöpfung des Westwerks und seine Herleitung braucht sie keine Bedeutung zu besitzen. Die Vorstellung, daß das Westwerk irgendwie Platz der weltlichen Gewalt sei im Gegensatz zum Platz der geistlichen Gewalt in der eigentlichen Klosterkirche, projiziert, wie oben bereits betont, zu Unrecht spätere Verhältnisse in die karolingische Zeit hinein. 61 Vgl. Lehmann 1938 (Anm. 1), S. 88-93. 62 Man vgl. z. B. die geradezu gewaltsame Anfügung einer Rotunde an einen Langbau bei S. Benigne zu Dijon oder bei St. Marien zu Hexham oder allgemein die »unharmonische« Anfügung von Außenkrypten an die Apsis des Hauptbaues. Westbau63 Vgl. dazu Lehmann 1938 (Anm. 1), S. 88-93; und Georg Weise, Ein karolingischer typus der mittelrheinischen Gegenden, in: Untersuchungen zur Geschichte der Architektur und Plastik des frühen Mittelalters, Leipzig und Berlin 1916, S. 99-117. 64 Vgl. Oskar Schürer, Romanische Doppelkapellen, Marburg 1929. der 65 Zu Centula vgl. Effmann 1912 (Anm. 52); und Irmingard Achter, Zur Rekonstruktion karolingischen Klosterkirche Centula, in: Zeitschr. f. Kunstgesch. 19, 1956, S. 133-154. 66 Vgl. Emil Reißer, Die frühe Baugeschichte des Münsters zu Reichenau, Berlin 1960, S. 36 f. 67 Vgl. Friedrich Behn, Die karolingische Klosterkirche von Lorsch an der Bergstraße nach den Ausgrabungen von 1927/28, 1932 und 1933, Berlin und Leipzig 1934; Heinrich Walbe, Das Kloster Lorsch, in: Dt. Kunst u. Denkmalpflege 1936, S. 126-142; und derselbe, Vom Kloster Lorsch, in: Zeitschr. d. Dt. Ver. f. Kunstwissenschaft 4, 1937, S. 51-62; Werner Meyer-Barkhausen, Die »Ecclesia Triplex« des Klosters Lorsch, in: Zeitschr. d. Dt. Ver. f. Kunstwissenschaft 1, 1935, S. 351-360. 68 Vgl. Otto Doppelfeld, More romano. Die beiden karolingischen Domgrundrisse von Köln, in: Kölner Domblatt 819, 1954, S. 33-61; und derselbe, Die Ausgrabung unter dem Kölner Dom, in: Neue Ausgrabungen in Deutschland, Berlin 1958, S. 322-328. Selbst wenn die von Irmingard Achter und Albert Verbeek vorgeschlagene, aber auch von mancherlei Schwierigkeiten belastete Umdatierung der Perioden VI und VII des Kölner Dombaues das Richtige treffen sollte (vgl. Zur Datierung des Alten Domes. Irmingard Achter, Zur Datierung der Periode VII; Albert Verbeek, Zum äußeren Mauersockel am Alten Dom; Otto Doppelfeld, Entgegnung, in: Kölner Domblatt 14/15, 1958, S. 185-195), d. h. wenn nur die Periode VI, der Bau mit dem St. Gallener Atrium, karolingisch und die Periode VII erst ottonisch sein sollte, so wäre damit noch nicht sicher erwiesen, daß die Periode VI nur mit der Weihe von 870 zusammenhängt und der Bau Hildebolds ins Reich der Fabel gehört. Solange wir von Bau VI nur die geringen, von Doppelfeld ausgegrabenen Reste kennen, muß ihre Beurteilung und das Schicksal des zugehörigen Baues im Ungewissen bleiben. Nichts hindert anzunehmen, daß die nachgewiesenen Westteile von Hildebold angelegt wurden und daß seine endgültige Fertigstellung erst unter Willibert 870 erfolgte, immer vorausgesetzt, daß nicht doch Doppelfelds Meinung recht behält. Es ist zu hoffen, daß die Weiterführung der Arbeiten in Köln noch Anhaltspunkte z«i Klärung dieser Streitfrage liefert. Eine neue These, die unsere im folgenden gegebenen Ausführungen völlig umstoßen würde, hat Fried Mühlberg kürzlich aufgestellt. (Vgl. Fried Mühlberg, Die Frühzeit von St. Pantaleon

und die vorgotischen Domkirchen zu Köln, in: Kölner Domblatt 18119, 1960, S. 41-84.) Danach ist der Hildebolddom in dem - von ihm für karolingisch gehaltenen Vorgängerbau unter der heutigen Kirche St. Pantaleon zu erkennen, wahrend die Periode VI unter dem heutigen Kölner Dom erst in die Zeit nach 818119 zu setzen sei. Da aber Mühlberg dieses späte Datum nicht zuletzt daraus erschließt, daß er den St. Gallener Urplan als den Idealplan ansieht, den Benedikt von Aniane für seine Reformen unter Ludwig dem Frommen aufgestellt habe, welche Meinung wir gerade als äußerst unwahrscheinlich hinzustellen uns bemühen, kann dieser Ansatz wenig überzeugen. Darüber hinaus ist Mühlbergs These mit großen inneren Schwierigkeiten belastet, die einstweilen kaum zu klären sind. Wir lassen sie daher zunächst auf sich beruhen. Kloster69 Vgl. zum Plan allgemein und zur älteren Literatur Hans Reinhardt, Der St. Galler plan, St. Gallen 1952. 70 Vgl. seinen Vortrag auf der internationalen Arbeitstagung in St. Gallen, einberufen vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, 1957. Unveröffentlicht. Vorberichte über die Tagung von Otto Doppelfeld, Eine Tagung über den St. Galler Plan, in: Kölner Domblatt 12/13, 1957, S. 141-143; und Erwin Poeschel, St. Gallen. Klosterplan, in: Zeitschr. f . Schweizer Archäol. u. Kunstgesch. 17, 1957, S. 192 f . 71 Vorträge auf der Arbeitstagung 72 Diese Westlösung ist für Köln, Anm. 68.

in St. Gallen, 1957. Vgl. Anm. 70! Periode VI, gesichert. Über die Frage der Datierung

73 Vgl. Ferdinand Keller, Der Bauriß des Klosters St. Gallen vom Jahre 820, Zürich 74 Vgl. Lehmann 1938 (Anm. 1), S. 19-22, Taf. 36-37.

vgl.

1844.

75 Zur Frage der »Capeila regia« vgl. Fuchs 1950 (Anm. 52), S. 253-257. Beachtenswert auch in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Werner Meyer-Barkhausen, Die frühmittelalterlichen Vorbauten am Atrium von Alt St. Peter in Rom, zweitürmige Atrien, Westwerke und karolingisch-ottonische Königskapellen, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 20, 1958, S. 7-40. 76 Erwin Poeschel, Liturgische Marginalien zum St. Galler Klosterplan, in: Zeitschr. f . Schweizer. Archäol. u. Kunstgesch. 16, 1956, S. 135-139, hat mit guten Gründen in Frage gestellt, ob die Apsiden des St. Gallener Planes wirklich Altäre für die Apostel Petrus und Paulus erhalten sollten. Da mir die Aussage des Planes in diesem Falle doch nicht völlig eindeutig erscheint, andererseits Altäre in Apsiden im Mittelalter das Übliche sind, möchte ich die Frage für nicht sicher entschieden halten. Sie berührt unsere Feststellung freilich nur am Rande. 1946 (Anm. 27). 77 Zu »Papst-« und »Kaiserseite« in den »Laudes regiae« vgl. Kantorowicz 78 Vgl. Reißer 1960 (Anm. 66), S. 78 f . 79 Zu Centula vgl. E ff mann 1912 (Anm. 52); zu Corbie vgl. Héliot 1957 (Anm. 58). - Eine solche klösterliche Kirchenfamilie merowingischer Zeit wurde neuerdings in Nivelles von Josef Mertens nachgewiesen (Vortrag auf dem 9. Internationalen Frühmittelalterkongreß in Poitiers, Juli 1961). Mertens konnte hier nicht nur die Gestalt, sondern auch den Zweck dieser Kirchenfamilie bestimmen! Die ursprüngliche Hauptkirche, die Klosterkirche der Frauen, St. Marien, lag in der Mitte, nördlich von ihr die Kirche der Männer, St. Peter, südlich von ihr die Kirche der Toten, St. Paul. Die Begräbniskirche wird später zur Hauptkirche, weil sie das Grab der Klostergründerin umschloß, deren Patrozinium, St. Gertrud, sie dann auch annimmt. 80 Vgl. Alfons Dopsch, Das Capitulare de Villis, die Brevium Exempla und der Bauplan von St. Gallen, in: Vierteljahrsschrift f . Sozial- und Wirtschaftsgesch. 13, 1916, S. 41-70. Diese These war und ist von historischer Seite allerdings sehr umstritten. 81 Vgl. Ardonis Vita Scti. Benedicti, n. 17 (M. G. SS. XV. S. 205 f.). Diesen wichtigen Hinweis verdanke ich Günter Bandmann, wofür ihm auch hier herzlich gedankt sei. 82 Diese Feststellung nach Albert Knoepfli, Kunstgeschichte des Bodenseeraumes, Bd. 1, Konstanz und Lindau 1961, S. 216.

83 In Kornelimünster sind z. Z. Grabungen im Gange, die hoffentlich die Frage nach dem Aussehen der dortigen karolingischen Klosterkirche (oder Klosterkirchenf) zur Zeit Benedikts von Aniane klären werden. 84 Vgl. Walter ßoeckelmann, Der Widerspruch im St. Galler Klosterplan, in: Zeitschr. f. Schweizer. Archäol. u. Kunstgesch. 16, 1956, S. 125-134, bes. S. 132. 85 Das gilt trotz der jüngsten Bemühung von Wolfgang Schöne um dieses Problem. (Vgl. Wolf gang Schöne, Das Verhältnis von Zeichnung und Maßangaben im Kirchengrundriß des St. Gallener Klosterplans, in: Zeitschr. f. Kunstwissenschaft 14, 1960, S. 147-154.) Er versucht, Zeichnung und Maßangaben in neuer Weise zu harmonisieren. 86 »Exemplum« nennt auch Reinhardt 1952 (Anm. 69) den Plan. Er zieht jedoch etwas andere Folgerungen aus dieser Bezeichnung, die nach den Forschungsergebnissen von Bischoff und Horn u. E. nicht mehr nötig sind. 87 Leider besitzen wir, das muß gesagt werden, von der Auswirkung der Klosterreform unter Ludwig dem Frommen auf die Architektur der Zeit keine rechte Vostellung. The carolingian revival of early Christian architecture, in: The Art 88 Vgl. Richard Krautheimer, Bulletin 24, 1942, S. 1-38. Ähnlich schon Georg Weise, Studien zur Entwicklungsgeschichte des abendländischen Basilikengrundrisses in den frühesten Jahrhunderten des Mittelalters, Heidelberg 1919 (Sitzungsberichte d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, philos.-histor. Klasse, 1919, 21. Abhandl.), S. 63-70. 89 Vgl. Sumner Mac Knight Crosby, L'Abbaye royale de Saint-Denis, Paris 1953, S. 12-18 und Abb. 25. Die Annahme eines Vierungsturmes und die daraus folgende Ablehnung eines »durchgehenderi« römischen Querschiffs gründet sich auf Textstellen, die von einem Vierungsturm berichten. Dieser Turm könnte aber auch nur ein hölzerner Dachreiter gewesen sein, der allein auf dem Dachwerk auf geruht haben könnte. Der chorarmlose Grundriß macht die Ü bernahme der »römischen«, vierungslosen Querschifform doch außerordentlich wahrscheinlich. Ebenso ist die Annahme naheliegend, daß der Westbau erst unter Karl d. Gr. erstellt wurde und eine Art Westwerk bildete. 90 Seltsam ist, daß Ludwig der Fromme in Diedenhofen eine Pfalzkapelle nach dem Muster der Aachener sich errichtete und daß sein Freund, der Erzbischof Ebo von Reims, den Neubau der Reimser Kathedrale, in der 816 Ludwig die Krönung durch die Kirche hatte nachholen lassen und die seitdem Krönungskathedrale blieb, mit einem Westwerk nach dem Muster von Centula versah. (Diese letzte Feststellung beruht auf dem Ergebnis der Ausgrabungen von Deneux in Reims in den letzten Jahren. Der Vortrag von Hans Reinhardt über Centula [Poitiers 1961, vgl. Anm. 55] stellte diese wichtige Tatsache in einen weiten Rahmen.) Die Gegner der »Kaisertheorie« könnten aus diesen Ereignissen ableiten, daß an der zentralen Hofkirche und am Westwerk eben kein »imperialer« Charakter hafte, da der kirchentreue Ludwig sonst solche Bauten nicht errichtet haben würde. Uns will es jedoch wahrscheinlicher vorkommen, daß dieser Charakter nur unter Ludwig bereits entwertet wurde, ohne ganz zu verschwinden, während unter den Enkeln Karls, besonders unter Karl dem Kahlen, mit einer bewußten Restauration dieses Charakters zu rechnen ist.

98

H E R M A N N SCHNITZLER • N A C H T R Ä G E ZUR UND FRÜHOTTONISCHEN

SPÄTKAROLINGISCHEN

GOLDSCHMIEDEKUNST

Es sind Dinge, die im Verborgenen blühen - geziemend zum Strauße gebunden und von artiger Rede begleitet, mögen sie dennoch bescheidenen Reiz entfalten und erfreuen, wem sie dargeboten. H a t doch Peter Metz ihre Gattung von jeher gehegt und gepflegt. 1 An erster Stelle ist ein Fragment aus dem Essener Münsterschatz zu nennen, wenig mehr als die rechte H ä l f t e einer flach aus Kupferblech hervorgetriebenen Figur auf glattem Grund mit abgegriffener Feuervergoldung sowie einer Reihe von Nagellöchern an der rechten Kante und weiteren Löchern oben und unten 1 (Abb. 1). Bei einer heutigen Breite von 8,5 bis 9,5 cm mißt es - und maß es auch ursprünglich - 14,6 cm in der Höhe. Es ist links gewaltsam abgerissen; wenn die vorgeschlagene ikonographische Bestimmung richtig ist, bleibt dort ein Engel zu ergänzen. Das Ganze müßte k n a p p dreimal so breit gewesen sein und könnte sehr wohl eine Altarvorsatztafel oder gar den 1794 zerstörten Essener Marsusschrein geschmückt haben, den die Äbtissin Mathilde (973-1011) begonnen (»vovit«) und die Äbtissin Theophanu (1039-56) vollendet (»solvit«) hatte 2 . Die Figur ist frontal auf einem kissenbelegten, mit Arkade und nachgeahmtem Steinbesatz geschmückten Throne sitzend dargestellt. Das Gesicht, von dem kaum noch etwas zu sehen ist, hat sie nach links gewendet, die linke H a n d mit dem langen Zeigefinger nach dem offenen Buche auf einem Pulte neben ihr ausgestreckt. Es liegt nahe, an einen Evangelisten zu denken, und tatsächlich ist das Relief auch fast immer so angesprochen

worden 3 . N u n kommt es z w a r nicht allzu oft vor, daß karolingische oder ottonische Evangelisten ihren Mantel nach der Weise antiker Philosophen über den Kopf gezogen haben, doch lassen sich als Beispiele d a f ü r der Johannes auf fol. 171 b im touronischen Lothar-Evangeliar, Lat. 266 der Pariser Nationalbibliothek 4 , oder der L u k a s auf fol. 105 b im Fuldaer Evangeliar M . p. theol. fol. 66 der Universitätsbibliothek zu W ü r z burg 5 anführen. Noch seltener tragen die Evangelisten regelrechte Schuhe, aber auch d a f ü r ließen sich Belege finden. Dagegen verbietet mit aller Entschiedenheit das Gewand, hier einen Evangelisten erkennen zu wollen. Eindeutig handelt es sich bei ihm nämlich nicht um das Pallium, wie es die evangelischen Autoren fast ausnahmslos tragen, sondern um das weibliche Kleidungsstück der P a l l a . Sie ist es, die vom linken A r m hochgerafft, schleierartig um das H a u p t gelegt und über beide Knie gezogen w i r d . Eine frontal thronende und nimbierte Frauengestalt also, die auf ein offenes Buch hinweist - dann kann es sich nur um die Gestalt Mariens gehandelt haben, die zu einer Verkündigungsszene gehörte. D a ß die J u n g f r a u beim Anruf des Engels die Augen vom Psalter oder dem Stunden1

ESSEN, DOMSCHATZ. FRAGMENT EINER MARIENFIGUR AUS EINER VERKÜNDIGUNGSGRUPPE

IOO

buche hebt und über ihr die Taube schwebt, gehört zu den mehr genrehaften Zügen, mit denen spätmittelalterliche Fabulierkunst das Marienleben ausstattet 6 . Ihre Wurzeln hat die Szene letzten Endes, wie schon N . Pokrovsky und G. Millet gezeigt haben 7 , in Apokryphen wie dem 6. Kapitel des Pseudo-Matthäus, wo es heißt: »Denique cum senioribus virginibus in Dei laudibus ita docebatur, ut iam nulla ei in vigiliis prior inveniretur, in sapientia legis Dei eruditior. . , in carminibus Davidicis elegantior 8 . Das älteste nachzuweisende Beispiel entstammt der karolingischen Kunst, der jüngeren Metzer Elfenbeinschule: Der Braunschweiger Kasten bringt es auf einer Schmalseite, wo Maria unter dem Baldachin thront, ihre Rechte nach dem Pulte mit dem Buch zwischen ihr und dem Engel Gabriel ausstreckt und mit der Linken ein Bündel Spindeln hält 9 . Zwei angelsächsische Miniaturen übernehmen die Darstellung im späten 10. Jahrhundert, fol. 5 b des Ethelwold-Benediktionales (British Museum Add. Ms. 49598) und fol. 11 im Evangeliar Boulogne MS. 11, Handschriften also, die auch an anderer Stelle aus dem Metzer Zyklus der Kindheitsgeschichte Christi schöpfen 10 . Den weiteren Beispielen, die O t t o Pacht um die Miniatur auf p. 19 des Hildesheimer Albani-Psalters gruppiert - fol. 6 im Pariser Cluny-Lektionar (Nouv. Acq. Lat. 2246) 11 , Prager K r ö nungsevangelistar von 1085 12 , romanisches Kapitel aus St. Martin d'Ainay in Lyon 1 3 und denen H . Swarzenski noch die wohl auf die gleichen Quellen zurückgehenden D a r stellungen der Holztüren von St. Maria im Kapitol zu Köln, fol. 77 b im Liber Pontificalis der Kölner Dombibliothek und die Miniatur im Evangeliar von Cysoing, Ms 33 der Stadtbibliothek von Lille, hinzugefügt 1 3 3 , sind drei ottonische Fuldaer Verkündigungsminiaturen anzureihen, fol. 30 im Göttinger Sakramentar Cod. theol. 231' 4 , fol. 25 b im Sakramentar von Udine 15 und fol. 119 b im Bamberger Sakramentar Msc. lit. 1 (A-II-52) 1 6 (Abb. 2). Wenn auch im Unterschied zu den angelsächsischen Handschriften und ihrem Metzer Prototyp die Jungfrau in Fulda stehend wiedergegeben wird, so scheint doch auch hier das karolingische Vorbild durch. Voraussetzungen mögen aber weiterhin in der byzantinischen Kunst zu suchen sein; etwa auf einem freilich jüngeren Kanzelrelief in Safara (Georgien) sitzt die Jungfrau vor dem Buchpult 17 , und fol. 80 b des Pantocrator-Psalters MS 49 bringt nach einem Hinweis von Kurt Weitzmann im oberen Teil die im Osten übliche Verkündigung mit der Spindel, darunter aber thront die Jungfrau mit dem Buch18.

IOI

Die Ikonographie ist nicht das einzige, das die Schule von Fulda mit dem Essener Relief verbindet. Ebenso deutlich tritt bei einem Vergleich mit Arbeiten des Fuldaer Frühstiles, etwa der Pfingstszene auf fol. 82 des Göttinger Sakramentars (Abb. 3), eine stilistische Verwandtschaft zutage. Der Verfasser hat vor Jahren auf Gemeinsamkeiten mit der sog. Weserschule hingewiesen 19 , und tatsächlich lassen sich Fäden etwa zu der herrlichen Federzeichnung der Majestas Domini auf fol. 12 im Abdinghofer Evangeliar Cod. theol. fol. 60 in der Landesbibliothek zu Kassel knüpfen 2 0 . Bei näherem Zusehen fehlt dem Relief aber gerade das, was f ü r die Weserschule charakteristisch erscheint, die »Größe der Auffassung, Originalität und Sicherheit der Stilfindung« 21 , jene Gewandbehandlung, die »große weiße und ganz unbewegte, in sich abgeschlossene Flächen gegen

dicht gezeichnete Partien und bewegte Gewandsäume mit engen Schattenlagen stellt« (Albert Boeckler) 22 , und die Beziehungen zu Fulda erweisen sich als dauerhafter. In der kurzatmig-schlaffen, dickflüssig-breiten, das Ganze gleichmäßiger überziehenden Zeichnung treten sie unverkennbar hervor, die Proportionen sind ähnlich, und selbst Einzelheiten wie die Form des Buchständers finden sich in den Matthäus- und Johannesbildern des Codex Wittekindeus wieder 23 . Es ist daher die Zuweisung an die Fuldaer Goldschmiedeschule einer Lokalisierung in das Wesergebiet vorzuziehen, wobei die von Albert Boeckler erkannte Beeinflussung durch die Weserschule nicht aus dem Auge zu verlieren wäre 24 . Das Essener Relief wird gleichzeitig mit dem Göttinger Sakramentar, also in die Jahrzehnte um 970—90, anzusetzen sein. Es steht damit am Beginn jener Schule, die im zweiten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts f ü r Kaiser Heinrich II. tätig war 25 , nach zuverlässigen Quellen noch unter den Äbten Rohing (1043-47) und Egbert (148-58) blühte 26 und ihre letzte Glanzzeit im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts erlebte 27 . Von den erhaltenen Fuldaer Goldschmiedearbeiten läßt sich der - freilich wohl etwas jüngere - silberne Buchdeckel 2

BAMBERG,

STAATL. BIBLIOTHEK, M S C .

VERKÜNDIGUNG

(AUSSCHNITT)

LIT. 1

(A-II-52).

FULDAER

SAKRAMENTAR,

102

des Aachener Münsterschatzes mit dem Essener Relief vergleichen 28 . 2 Noch ein zweites frühottonisches Goldschmiedefragment im Essener Münsterschatz läßt ikonographische Anklänge an die Fuldaer Buchmalerei erkennen, und auch bei ihm sind die Wurzeln in jenem karolingischen Kunstkreis zu suchen, der auf das Verkündigungsrelief eingewirkt hat. Es ist eine sehr flach getriebene kupfervergoldete H i m m e l f a h r t Christi 2 9 (Abb. 4), zu der nach der Aussage des Stils ein verlorenes Gegenstück mit den Magiern im Anblick des Sternes gehört hat, das im T a f e l w e r k Georg H u m a n n s nach einem um 1904 noch existierenden Gipsabguß erscheint 30 . D a s Relief ist auf eine H o l z tafel aufgenagelt, 23 cm hoch, oben noch 11,7 cm und unten noch 2,7 cm breit. E t w a zwei Drittel des zu rekonstruierenden Ganzen sind abgerissen. D i e Arbeit ist zierlich, trotz vielerlei Verdrückungen mutet sie besser als das Marienrelief an. Von der Strahlenmandorla umgeben steigt der H e r r mit links geschultertem K r e u z und ausgestrecktem rechtem Zeigefinger zum Himmel, wo aus züngelnden Wolken ein Engelsköpfchen (?) hervorlugt. Auf die M a n d o r l a schreitet von rechts ein Engel hinzu, 3 103

GÖTTINGEN,

UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK,

MENTAR. PFINGSTSZENE

(AUSSCHNITT)

COD.

THEOL.

FOL. 2 3 1 ,

FULDAER

SAKRA-

einer der »duo viri in vestibus albis« der Apostelgeschichte 1,10, dem offenbar auf der Gegenseite der zweite Engel entsprochen hat. Er hebt die Rechte und weist mit der Linken hinab, wo von Maria und den versammelten Jüngern nur wenig mehr als eine ganze Gestalt, drei Köpfe und der ausholende Arm eines Apostels erhalten blieben. Die Fuldaer Buchmalerei bringt die Komposition auf fol. 79 b im Sakramentar von Göttingen 31 , damit fast ganz übereinstimmend auf fol. 41 im Sakramentar von Udine 32 und mit Abweichungen auf fol. 81 des Sakramentars von Bamberg 33 . Die Miniaturen von Göttingen und Udine lassen sich besonders gut vergleichen. Haltung und Gebärde Christi stimmen überein, die Wolken, auf denen der Herr emporschreitet, sind auf dem Relief noch eben zu erkennen. Die Engel auf der rechten Seite unterscheiden sich nur dadurch, daß die Miniaturen sie als Halb- oder Dreiviertelfigur auf Wölkchen bringen, in Göttingen die Haltung des Kopfes, in Udine dagegen die Gebärde abgewandelt werden. Leider ist nicht mehr zu klären, ob der ausfahrende Arm in der Gruppe der Zurückbleibenden den ausgestreckten Armen des hinter Petrus stehenden Apostels auf den 4

ESSEN, CHRISTI

DOMSCHATZ.

FRAGMENT

VON

EINER

DARSTELLUNG

DER

HIMMELFAHRT

104

Miniaturen oder einer nach rechts blickenden Rückenfigur angehörte, wie sie das Fuldaer Elfenbeinrelief im Mindener Domschatz am rechten Bildrand zeigt 34 . Dieses Relief gibt ja die Komposition am vollständigsten wieder. Mit dem Emporschreitenden sowie dem Wechsel der stehenden und hockenden Jünger, von denen einer aufblickt und beide Arme ausstreckt - er kehrt in Göttingen und Udine wieder - ein anderer links daneben sein Gesicht mit den H ä n d e n bedeckt - er kehrt in Bamberg wieder - läßt sie sich bis in die abendländisch-fr.ühchristliche Kunst zurückverfolgen. Treten die genannten drei Figuren doch bereits auf der Reiderschen Tafel um 400 35 und schon früher auf dem Sarkophag von Servanne im Museum zu Arles auf 36 . Eine vorzügliche Parallele zu dem Essener Relief und den Fuldaer Handschriften bietet fol. 64 im Benedictionale des hl. Ethelwold 37 (Abb. 5), wo die Strahlenglorie der Goldschmiedearbeit wiederkehrt und in Übereinstimmung mit den frühchristlichen Arbeiten und dem Mindener Relief die H a n d Gottes beibehalten wird, wenn auch der H e r r sie nicht ergreift. Es wird dabei offenbar, daß in Fulda wie in Winchester ein 5 105

LONDON,

BRITISCHES

HIMMELFAHRT

MUSEUM,

CHRISTI

ADD.

Ms.

49 598,

ETHELWOLD-BENEDICTIONALE.

Prototyp zugrunde liegt, der angesichts der verwandten karolingischen Stilquellen nur deren Kunstkreis angehört haben kann. Wenigstens indirekt wäre auch das verlorene Gegenstück mit den Magiern zu Fulda in Beziehung zu setzen. Die wesentlichen Quellen der ottonischen Fuldaer Elfenbeinbildnerei lassen sich ja in den beiden karolingischen Gruppen von Metz und in der Liuthargruppe fassen 38 , in Schulen also, die ihrerseits mit den Voraussetzungen der Malerschulen von Fulda und Winchester in Verbindung standen. Weiterhin ist bekannt, daß die karolingischen Elfenbeinateliers vor allem in ikonographischer Hinsicht von frühchristlich-abendländischen Elfenbeinen mitgeprägt sind. Gerade in diesem Kreise, aus dem auch die Reidersche Tafel hervorgegangen ist, kommt die Szene der Magier vor, auf dem sogenannten Werdener Kästchen und auf einem der beiden Mailänder Buchdeckel39. Es sind in der T a t ikonographisch die nächsten Verwandten, die sich f ü r die verlorene Essener Tafel linden lassen. Dennoch wird man zögern, auch diese beiden Goldschmiedearbeiten der Fuldaer 6

F R Ü H E R B E R L I N , S T A A T L I C H E M U S E E N . F R A G M E N T EINES R E L I E F S MIT DEM TRIUMP H I E R E N D E N SALVATOR

io 6

Schule einzuordnen. Stilistisch offenbaren sie eine andere Art, die das Karolingische reiner bewahrt. Die knochenlos weichen H ä n d e , die wie aufgeblasen erscheinenden Köpfe mit den stechend vorquellenden Augen, der Wechsel von feingerillten und glatten Nimben mit teilweise punktierten Rändern oder die charakteristischen Doppellinien bei der Zeichnung der Gewänder, das alles steht den Reimser Vorbildern noch nahe, und verbindet die Reliefs zugleich den Malereien und Zeichnungen der Weserschule, von denen so wesentliche Einwirkungen auf die Fuldaer Buchmalerei ausgegangen sind. Irgendwo im niedersächsischen Strahlungsgebiet einer Handschrift wie dem Evangeliar Theol. Lat. 405 aus St. Mauritius zu Magdeburg in der Berliner Staatsbibliothek, wo die Zeichnung des Matthäus und ein weiteres Evangelistenbild mit den Arbeiten der Wesergruppe weitgehend übereinstimmen 40 , ist daher die H e r k u n f t zu suchen. - Uber die ursprüngliche Verwendung der beiden Essener Fragmente lassen sich so wenig sichere Aussagen wie bei dem Marienfragment machen.

7 107

B U D A P E S T , N A T I O N A L M U S E U M . E L F E N B E I N R E L I E F DER K R E U Z I G U N G U N D DER F R A U E N AM G R A B E

3 Näher noch an die karolingischen Ursprünge heran führt ein seit 1896 als Geschenk eines Ungenannten in den Berliner Museen aufbewahrtes, aus Kupfer getriebenes Flachrelief, das dem Verfasser durch eine alte Photographie im Schnütgen-Museum sowie die undeutlichen Wiedergaben bei Vöge 41 und Bange 42 bekannt w u r d e (Abb. 6). Das 25,1 X 23,3 cm. messende Stück zeigt Reste alter Vergoldung. Es ist 1945 verschollen. Es mag verwundern, daß noch 1910 ein Kenner wie Wilhelm Vöge das Relief in die zweite H ä l f t e des 11. Jahrhunderts setzen konnte, eine Datierung, die Bange in das 10. J a h r h u n d e r t zurückverlegte. Ist es doch stilistisch noch durch so enge Fäden mit der »Reimser« Goldschmiedekunst im Umkreis Karls des Kahlen, dem Deckel des Codex Aureus von St. Emmeram, dem jüngeren Deckel des Lindauer Evangeliars und dem Arnulf-Ziborium verknüpft, daß es ohne Schwierigkeiten als » A u s l ä u f e r « dieser Schule anzusprechen ist. Schon das Münchner Ziborium weist in Ansätzen die Feingliedrigkeit, die Streckung und die rieselnde Faltengebung auf, die es in geradezu manieristisch anmutender Steigerung charakterisieren. 8

L O N D O N , V I C T O R I A AND A L B E R T M U S E U M . B U C H D E C K E L M. D. EVANGELISTENSYMBOLEN

108

D a ß sich die Nachwirkung des »Reimser« Stiles nicht auf die Goldschmiedekunst beschränkt, führt um 900 die Tuotilotafel der Verherrlichung Christi mit ihren Übernahmen vom Deckel des Codex Aureus - oder von dessen »besserem« Prototyp - vor Augen 43 . Die St. Gallener Elfenbeingruppe bietet ja geradezu ein Musterbeispiel f ü r das typisch spätkarolingische »Zusammenschrumpfen des Faltenwurfes zu enger Parallelschraffur« 44 . Die Gruppe weist denn auch eine dem Berliner Stück so nah verwandte Platte mit der Kreuzigung und den Frauen am Grabe auf 45 , daß sie dessen Lokalisierung in den alemannischen Raum oder gar nach St. Gallen wie auch die Datierung »um 900« rechtfertigt (Abb.. 7) Vöge und Bange hätten sie demnach zu Recht nach »Süddeutschland« verwiesen. Vielleicht waren ihnen Provenienzangaben bekannt, die sie dem Katalog nicht anvertrauen konnten oder wollten. Dagegen dürfte es sich bei dem Relief nicht um die obere H ä l f t e einer Himmefahrtsszene handeln, wie die Berliner Kataloge es annehmen wollen. Denn wenn auch die untere Kante nicht erhalten blieb und darum der Abschluß kaum genauer zu rekonstruieren sein wird, so kommt doch der frontal mit Kreuzstab und hochgehaltenem Buch in der von Engeln getragenen Mandorla stehende Christus in der otton. Himmelfahrtsikonographie auf 46 . Das erste erhaltene Beispiel scheint das Pariser Elfenbein der Metzer Adalbero-Gruppe (um 984-1005) zu sein47, das bekannteste fol. 104 v des Reichenauer sog. Limburger Evangeliars Cod. 218 im Kölner Domschatz 48 . Offenbar wurde dabei eine Illustration von Psalm 90(91), 11-12 verwendet, wie sie beim Kanon V auf fol. 10 des Soissons-Evangeliars, den Konkordanzen Matthäus 4,5 und Lukas 4,9 mit der Versuchung Christi auf den Zinnen des Tempels, erscheint: »Seine Engel . . . werden Dich auf ihren H ä n d e n tragen, damit du keinen Fuß an einen Stein stoßest 49 .« D a der gleiche Kanon auf fol. 10 b des Codex Aureus von St. Emmeram die Darstellung (ohne den Kreuzstab) wiederholt 50 , liegt es nahe, f ü r das Berliner Relief ein Vorbild aus der Hofschule Karls des Kahlen anzunehmen — derselben Schule also, die auch sonst im St. Galler Bereich ihre Wirksamkeit entfaltet hat. 4 In die Deszendenz der Hofgoldschmiedekunst Karls des Kahlen ist weiterhin ein noch unveröffentlichter Buchdeckel einzuordnen, den das Londoner Victoria and Albert Museum 1893 als »italienische Arbeit des 15. Jahrhunderts« erwarb und der auch später noch lange als eine solche gegolten hat 51 (Abb. 8). Wenn das Stück ein unbeachtetes Dasein in einer der dicht gedrängten Vitrinen der besten Studiensammlung der Welt fristet, gegeschieht ihm das freilich nur zu Recht, denn die Qualität ist nicht sonderlich hoch. Bei näherem Zusehen aber wird der Betrachter gefesselt sein und innewerden, daß zwar die Ausführung ihre Mängel hat und der Erhaltungszustand wenig befriedigen kann, daß dem Stück aber dennoch eine Erfindung zugrunde liegen muß, die offenbar ein Meisterwerk der karolingischen Hofgoldschmiedekunst war. Der 31,5 X 20,1 cm große Buchdeckel setzt sich aus einem Gemmenkreuz und vier in abgegriffener Vergoldung erhaltenen, hochrechteckigen Kupferblechen mit den flach getriebenen Evangelistensymbolen zusammen. Ringsum führen Blechleisten, von denen

die seitlichen erneuert, die oberen und unteren mit je elf Löchern zur Befestigung von Steinfassungen aber noch die alten sind. D i e Ecken werden, dem oval gemugelten Bergkristall der Vierung entsprechend, durch Blechbuckel betont, deren einer in Verlust geriet. Als die Goldschmiedearbeit in neuerer Zeit auf eine 1,2 cm dicke H o l z p l a t t e mit rückwärts aufgesetzten Leisten k a m , wurde sie seitlich verkürzt, so daß die Q u e r b a l k e n der C r u x G e m m a t a den Rahmen anschneiden und die unteren Reliefs von ihm bedrängt werden. - Von der Mitte, unter der ein barockes Marienbildchen durchschimmert, gehen abwechselnd rechteckige und ovale Fassungen aus, deren Steine mit einer Ausnahme durch Glasflüsse ersetzt sind. Alle Fassungen sind gleich: ein breiterer Zylinder mit etwas ansteigender Deckplatte, auf der sich der kleinere Zylinder für den Stein erhebt. Ein k r ä f t i g gestanzter Perlstab umgibt das K r e u z und hat wohl auch die äußeren K a n t e n der vier Felder gegen den Rahmen abgesetzt, dessen Steinbesatz dem Gemmenkreuz entsprochen haben wird. Im A u f b a u folgt der Londoner Deckel einem zumeist als Introitus des Evangelienbuches verwendeten Schema, dessen Ursprung sich in die vorkarolingisch-insulare Kunst zurückverfolgen läßt. D a s Book of Keils im Trinity College zu Dublin weist die K o m position z. B. auf fol. 27 b und 129 b ebenso auf 3 2 , wie sie der Echternacher C o d e x N r . 61 im Trierer Domschatz auf fol. 1 b mit einer Salvatorbüste voranstellt 5 3 . Eine entsprechende Zierseite oder auch ein Buchdeckel wird dem Titelbild auf fol. 8 b des um 820 in der Abtei Fleury (?) entstandenen Evangeliars C o d . 348 der Berner Burgerbibliothek zugrundegelegen haben, w o das gliedernde Gemmenkreuz freilich einer D o p p e l a r k a d e in der Art der Kanonbögen P l a t z gemacht hat 5 4 . D e m 11. Jahrhundert m a g der getriebene Rückdeckel des Gozelin-Evangeliars im Schatz der K a t h e d r a l e von N a n c y entstammen, der die Evangelistensymbole um das L a m m im Kreuzeszentrum ordnet 5 5 . Mehr als ein Gliederungsschema tritt das K r e u z auf fol. 221 im 996-1001 datierten WarmundusSakramentars von Ivrea hervor 5 0 . Der wohl ebenfalls lombardische Elfenbeinbuchdeckel des Schnütgen-Museums aus der ersten H ä l f t e des 10. Jahrhunderts hat mit seinem rahmenden Goldschmiedewerk auch die ursprünglich trennende C r u x G e m m a t a verloren 5 7 . Weist schon eine solche Übersicht auf eine frühe Entstehung des Londoner Deckels, so haben die Fassungen, wenn sie ähnlich auch schon vorher und noch in ottonischer Zeit vorkommen, ein karolingisches Gepräge. Ebenfalls im Wechsel von gerundeten und rechteckigen Formen erscheinen sie beispielsweise auf einem der beiden Deckel v o m Psalter K a r l s des Kahlen (Paris, Bibl. N a t . lat. 1152) 5 8 oder bei dem Nürnberger »Ardennenkreuz« 5 9 . Zumeist umziehen die westfränkischen Werkstätten die Ränder freilich mit einem Filigrandraht, der etwa bei den kleineren Fassungen des genannten Pariser Deckels aber auch fortfallen kann. A m nächsten sind dem Londoner Deckel die Fassungen auf der Burse der Pfarrkirche von Metelen i. W. verwandt, einer spätkarolingischen G o l d schmiedearbeit, deren Datierung sich aus dem Gründungsdatum des Kanonissenstiftes Metelen von 889 ergibt 6 0 . Der gestanzte Perlstab, sonst fast regelmäßig ein Requisit der karolingischen Goldschmiede, fehlt bei der Burse. Noch deutlicher tritt die Verwandtschaft mit den Goldschmiedewerken der spätkaro-

IIO

lingisdien Hofschule in dem rillenartig den Körper überziehenden und gliedernden Gewandstil des Matthäusengels in Erscheinung, wie aus einem Vergleich mit der Versuchung Christi vom Arnulfciborium hervorgeht. Auch die packende Unmittelbarkeit in der Zeichnung der Tiere, das Gefieder der hochgereckten Flügel und der Gegensatz des stehend brüllenden Löwen zu dem breit hingelagerten Stier sind am ehesten im Karolingischen beheimatet. Einer Einordnung des Deckels in das späteste 9. oder das immer noch so dunkle 10. Jahrhundert steht daher nichts im Wege. Schwieriger wird die Lokalisierung sein. Der Hinweis auf die Burse von Metelen könnte auf Westfalen oder Niedersachsen deuten. Aus demselben R a u m ist ebenfalls ein künstlerisch weitaus bedeutenderes Goldschmiedewerk hervorgegangen, bei dem die Komposition und die Evangelistensymbole des Londoner Deckels wie aus der schwebenden Dynamik des Karolingischen in die harte Statik des Romanischen übertragen erscheinen. Es ist der um 1100 wohl im Kloster H e l marshausen entstandene Evangelienbuchdeckel des Rogerus, der mit der Sammlung des Paderborner Domdechanten G r a f Christoph von Kesselstatt ( 1 7 5 7 - 1 8 1 4 ) in den Trierer Domschatz gelangte 91 . So bleibt die Frage, ob nicht beide Goldschmiedearbeiten noch miteinander verbundene Meisterwerke aus der Hofschule Karls des Kahlen voraussetzen, die im Weserraum ihre Spuren hinterlassen hätten.

ANMERKUNGEN

1 G. Humann, Die Münsterkirche zu Essen. Düsseldorf 1904, S. 170. - Katalog »Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr«. Essen 1956*, S. 221 und Nr. 497. - Vgl. auch V. H. Elbern, Das erste Jahrtausend, Tafelband. Düsseldorf 1962, S. 84 (Nr. 386). 2 Humann a. a. O., S. 10. - Weitere Literatur bei P. Bloch, Siebenarmige Leuchter in christlichen Kirchen, in: Wallraf-Richartz-Jahrb. XXXlll (1961), S. 114, Anm. 189-190. - Elbern a. a. O., Nr. 496. 3 Der Verf. zog in: Werdendes Abendland a. a. O., S. 221 die Möglichkeit in Betracht, daß es sich um einen Hieronymus oder Gregor handeln könne. 4 W. Koehler, Die Schule von Tours. Berlin 1933, Taf. 95 b. 5 E. H. limmermann, Die Fuldaer Buchmalerei. Wien 1910, Taf. Xb. - B. Bischoff und J. Hoffmann, Libri Sancti Kiliani. Die Würzburger Schreibschule und die Dombibliothek im 8. und 9. Jahrhundert. Würzburg 1952, S. 48 und 118. 6 E. Mâle, L'Art Religieux de la Fin du Moyen en France. Paris 1925p. 74 ss. - Die weitere ikonographische Literatur bei L. Réau, Iconographie de l'Art Chrétien 2, II. Paris 1957, p. 194. 7 G. Millet, Recherches sur l'Iconographie de l'Evangile. Paris 1916 (Nachdruck 1960), p. 73. 8 Evangelia Apocrypha, ed. C. d. Tischendorf. Lipsiae 1876, p. 63. 9 A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen I. Berlin 1914, Nr. 96, Taf. XLV d. - Chr. Scherer, Die Braunschweiger Elfenbeinsammlung. Leipzig 1931, Nr. 2 (59). - Grundlegend zu dem Thema handelt O. Pacht, in: The St. Albany Psalter, ed. by O. Pacht, C. R. Dodwell, F. Wormald. London 1960, p. 63 ss., PL 118 e.

m

10 11 12 13

Pacht Pacht Pacht Pacht

10c. 10c. 10c. 10c.

cit. p. 66, Pl. 118 f. - F. Wormald, cit., Pl. 118c. cit., Pl. 117c. cit., Pl. 117a.

The Benedictional

of Ethelwold.

London

1959.

13" In der Besprechung der Anm.9 genannten Publikation des Albani-P salters, in: XVI (1963), S. 84. 14 G. Richter und A. Schönfelder, Sacramentarium Fuldense. Fulda 1912, Taf. 19.

Kunstchronik,

a. a. O., S. 43. - Die im letzten Kriege untergetauchte, jetzt aber wieder15 Zimmermann gefundene, leider in nur wenigen Bildern publizierte Handschrift ist kurz beschrieben von Zimmermann a. a. O., S. 17 f., ausführlicher von A. Ebner, Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kunstgeschichte des Missale Romanum, Freiburg i. Br. 1896, S. 258 f f . 16 Wie die meisten Bilder der Handschrift nirgendwo abgebildet, doch beschrieben bei Zimmermann a. a. O., S. 21 f . 43. - Die Bamberger Handschrift ist unter dem Fuldaer Abte Erkanbald (996-1011) entstanden, der ihre Schwesterhs., das Sakramentar Cod. 181 der Kapitelsbibliothek von Vercelli, auf Lebenszeit dem Bischof Heinrich von Würzburg (995-1018) auslieh (Ebner a.a.O., S.282). Die Bilder und die ornamentale Ausstattung der beiden Fuldaer Handschriften rühren von dem gleichen Künstler (bzw. den gleichen, schwer zu unterscheidenden Künstlern) her, dem (oder denen) auch das »bernwardinische«• Hildesheimer Evangeliar Nr. 33 von 1011 zuzuschreiben ist (F.].Tschan, Saint Bernward of Hildesheim. Notre Dame Indiana 1952,3, pl. 17-40. - R. Wesenberg, Bernwardinische Plastik. Berlin 1955, S. 112, Abb. 76-77, 79). Erkanbald war ein Blutsverwandter, Lehrer und Freund des hl. Bernward, der die von Wesenberg (a.a.O., S. 17) einem ihn 1011 zum Erzbischof von Mainz konsekrierte; Fuldaer Elfenbein verglichene Abtskrümme des Erkanbald wird noch in Hildesheim aufbewahrt (Wesenberg, S. 17: »ihre Herstellung könnte in Fulda vermutet werden«). Die kunstgeschichtliche Bedeutung dieser Zusammenhänge beruht darauf, daß der Stil des Bamberger Sakramentars als grundlegend für den Fuldaer Spätstil in dem Sakramentar Cod. lat. 3548 der Bibl. Vaticana und dem lediglich in zwei untypischen Beispielen veröffentlichten Sakramentar Cod. 1275 der Bibl. Puhl, von Lucca (A. Goldschmidt, Die deutsche Buchmalerei II. Firenze und München 1928, Taf. 112) anzusehen ist. Die beiden Handschriften bilden die unmittelbaren Stilparallelen zu den Fuldaer Goldschmiedewerken Heinrichs II. (Zur Fuldaer Goldschmiedekunst siehe weiter unten Anm. 25 und 27): Mit vollem Recht hat daher Wesenberg (a.a.O., S. 112) die Verwandtschaft des Hildesheimer Evangeliars von 1011 mit der Aachener Pala d'Oro hervorgehoben, wie andererseits H. Swarzenski die Hauptfigur des Basler Antependiums neben die Christusfigur der Hildesheimer Bronzetüren gestellt hat (H. Swarzenski, Monuments of Romanesque Art, London 1953, PI. 45. - Vgl. auch H. Schnitzler, Fulda oder Reichenau, in: Wallraf-Richartz-Jahrb. XIX [1957], S.62). Erkanbalds Bedeutung für die Goldschmiedekunst Heinrichs II. erklärt sich wohl dadurch, daß er viele Jahre hindurch als »archicapellanus« eine entscheidende Stellung in der »Hofkapelle« einnahm. Wie stark sich übrigens deren Personenkreis aus dem Hildesheimer Domkapitel rekrutierte, hat Hans-Walter Klewitz nachgewiesen (Königtum, Hof kapeile und Domkapitel im 10. u. 11. Jh., in: Archiv für Urkundenforschung XVI (1939), S. 108 ff. (Neudruck: Darmstadt 1960, S. 15 ff.). 17 Millet loc. cit., Fig. 11. 18 Pacht loc. cit., p. 65, note 2; PI. 118 d. 19 20 21 22 23 24 25

Werdendes Abendland a. a. O., S. 221. A. Goldschmidt, Die deutsche Buchmalerei I. Firenze und München 1928, S.24, 61, Taf. 81. A. Boeckler, Katalog »Ars Sacra«. München 1950, Nr. 78. A. Boeckler, Abendländische Miniaturen. Berlin und Leipzig 1930, S. 52. A. Boeckler, Der Codex Wittekindeus. Leipzig 1938, Taf. XVIII und XXIV. Ebendort, S. 22 f f . T. Buddensieg, Die Basler Altartafel Heinrichs II., in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XIX (1957), S. 133 ff. - Schnitzler a. a. O., S. 39 ff.

26 Derselbe a. a. O., S. 62, Anm.

150.

27 R. Gaettens, Das Geld- und Münzwesen der Abtei Fulda. Fulda 1957, S. 127 f., 148 ff. - Vgl. hierzu W. Hess, in: Hamburger Beitr. z. Numismatik III (1957), S. 467. - T. Buddensieg, in: Kunstchronik XI (1958), S. 65. - Mit C. Nordenfalk (Skiraband »Das frühe Mittelalter (Genf 1957, S.210) weiterhin an Mainz als Entstehungsort der Goldschmiedearbeiten Heinrichs II. zu denken, verbieten schon die Willigistüren (um 1009), deren Inschrift ja deutlich erkennen läßt, daß von einer Metallüberlieferung größeren Ausmaßes dort nicht die Rede sein kann (vgl. A. Goldschmidt, Die deutschen Bronzetüren I. Marburg 1926, S. 12). Die Bischofcstadt wird aber vollends aus der kunstgeschichtlichen Diskussion um diese Fragen ausscheiden, wenn erst einmal die Mainzer Buchmalerei der ersten zwei bis drei Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts genauer erforscht sein wird. Es sind - leider kaum publizierte Denkmäler 'm scheidet. Die auch andersartigen Stil erkennen lassen, der sie von den Goldschmiedearbeiten von H. Swarzenski (Monuments loc. cit., PI. 42-43) verglichene Gruppe um das Missale von St. Alban bei Bodmer in Genf (Evangeliare Fulda Aa 44, Paris lat. 275 und Berlin theol. lat. fol. 18) ist zeitlich später als die Goldschmiedewerke anzusetzen und läßt sich deshalb schwerer als die gleichzeitigen Fuldaer Handschriften heranziehen — ganz abgesehen davon, daß die Mainzer Entstehung der Gruppe nicht gesichert ist. 28 Schnitzler a. a. O., Abb. 18. 29 Humann a. a. O., S. 170. - Werdendes Abendland a. a. O., Nr. 496. - Th. Rensing, Zwei ottonische Kunstwerke des Essener Münsterschatzes, in: Westfalen XL (1962), S. 54 ff., Abb. 35. 30 Humann a. a. O., S. 170. 31 Richter und Schönfelder a. a. O., Taf. 25 - Das »Engelköpfchen« wird im Kat. Werdendes Abendland Nr. 496 als »Gottvater« angesprochen, wegen des Kreuznimbus, der mir fragwürdig erscheint. - Rensing, a. a. O., S. 54 u. 57, will darin einen »Sol« erkennen. 32 Unveröffentlicht. 33 Schnitzler a. a. O., Abb. 50 34 Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen I, Nr. 65. - K. Weitzmann, Eine Fuldaer Elfenbeingruppe in: Das siebente Jahrzehnt. Adolf Goldschmidt z. s. 70. Geburtstag. Berlin 1933, S. 14 ff. 35 P. Metz, Elfenbeine der Spätantike. München 1962, S. 22, 36, Taf. 10-11. der Passionssarkophage, in: Archaeologiai Ertesitö LII (1940), 36 F.Gerke, Die Zeitbestimmung S. 110 ff. - K. Wessel, Der Sieg über den Tod. Berlin 1956, S. 26 ff., Bilder 25-30. 37 Wormald loc. cit. - S. Helena Gutberiet I. St. M., Die Himmelfahrt Christi in der bildenden Kunst. Strassburg 1934, S. 193 ff., Taf. XVIII. 38 K. Weitzmann

a. a. O., S. 14 ff.

39 H. Kehrer, Die heiligen Drei Könige in Literatur und Kunst II. Leipzig 1909, S. 26 ff. W. F. Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters. Mainz 1952, Nr. 118 und 119. - J. Beckwith (The Art Bulletin XL (1958), p. 1 ss.) sieht die > Werdener« Fragmente zu Unrecht als karolingisch an. 40 Goldschmidt,

Buchmalerei

a. a. O., Taf.

83a.

41 W. Vöge, Die deutschen Bildwerke. Berlin 1910, Nr. 508, S. 225, Taf. III. 42 E. F. Bange, Die Bildwerke in Bronze. Berlin und Leipzig 1923, S. 48, Nr. 5584 (m. Abb.). 43 Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen I, Nr. 163. - E. T. DeWald, Notes on the Tuotilo Ivories in St. Gull, in: The Art Bulletin XV (1933), p. 202 ss. - E. G. Rüsch, Die Elfenbeintafeln des Tuotilo, in: Theol. Zeitschr. V (1949), S. 447 ff. - Derselbe, Tuotilo, Mönch und Künstler, St. Gallen 1953. - O. K. Werckmeister, Der Deckel des Codex Aureus von St. Emmeram. Baden-Baden und Strasbourg 1963, S. 94. 44 Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen I, S. 60.

45 Ebendort, Nr. 165. 46 Gutberiet a. a. O., S. 213. - Zum Thema vgl. auch H. Schrade, Zur Ikonographie der Himmelfahrt Christi, in: Vorträge der Bibliothek Warburg. Leipzig und Berlin 1930. I, Nr. 80 b. 47 Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 48 P. Bloch, Die beiden Reichenauer Evangeliare im Kölner Domschatz, in: Kölner Domblatt XVIIXVII (1959), S. 22 f., Abb. 11. 49 W. Koehler, Die Hofschule Karls des Großen. Berlin 1958, Taf. 76. - Vgl. zum Thema T. Buddensieg, Die Basler Altartafel a. a. O., S. 150 f. - Bloch a. a. O., S. 22. - H, Schnitzler, Das karolingische Kuppelmosaik der Aachener Pfalzkapelle, in: Aachener Kunstblätter XXVII (1963). - Fol. 53 b des Utrecht-Psalters verknüpft den Bildtypus mit der Tötung der Bestien nach Vers 13 des gleichen Psalms (E.T. DeWald, The Illustrations of the Utrecht Psalter. Princeton / London / Leipzig s. d., PI. LXXXIV.) Kanonbögen 50 G. Leidinger, Der Codex Aureus. München o. /., Taf. 20. — Zum Verhältnis der des Codex Aureus zu denen des Soissons-Evangeliars vgl. Schnitzler, Kuppelmosaik a. a. O. mit der weiteren Literatur. 51 Inv. Nr. 528-1893. Der Verf. ist dem Leiter des Departments, Dr. Charles Oman, für Rat und Tat bei der Untersuchung des Goldschmiedewerkes wie auch für die Beschaffung der Photographien zu Dank verpflichtet. 52 E. Sullivan, The Book of Keils. London and New York 1952, PI. IV and XII. - Das Buchdeckelschema behandelt umfassend: F. Steenbock, Kreuzförmige Typen frühmittelalterlicher Prachteinbände, in: Das erste Jahrtausend I. Düsseldorf 1962, S. 495 ff. 53 Goldschmidt, Buchmalerei a. a. O., Taf. 4. - Die neuere Literatur bei H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer I. Düsseldorf 1957, Nr. 2. - Elbern, a. a. O., Taf. 234(-237). der Burgerbibliothek Bern. Bern 1962, S. 50 ff., 54 O. Homburger, Die illustrierten Handschriften Taf. 4. 55 R. Hamann-Mc Lean und ]. Verrier, Frühe Kunst im westfränkischen Reich. Leipzig 1939, Taf. 55. 56 L. Magnani, Le miniature del Sacramentario d'Ivrea. Cittä del Vaticano 1934, Tav. XLI. 57 Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen I, Nr. 174. - Die neuere Literatur im Katalog >Das Schnütgen-Museum. Eine Auswahl«. Köln 1961*, Nr. 6. - Hervorzuheben: H. Fillitz, Die Spätphase des »langobardischen« Stiles, in: Jahrb. d. Kunsthist. Sammlungen in Wien N. F., XVIII (1958), S. 7 ff. 58 Ebendort, Nr. 40. 59 Elbern a. a. O., Taf.

288-289.

60 A. Ludorff, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Steinfurt. Münster i. W. 1904, S. 78, Taf. 59. - J. Braun, Die Reliquiare. Freiburg 1940, S. 200. - Katalog >Westfalia Sacra«. Münster 1952, Nr. 26. - Werdendes Abendland a. a. O., Nr. 514. - Elbern a. a. O., Nr. 394. H. Schnitzler, Die Willibrordiarche, in: Der Mensch und die Künste, Festschrift für H. Lützeler. Düsseldorf 1962, S. 397. 61 H. Schnitzler,

Rheinische

Schatzkammer

Photos: Abb. 1,4 Landesbildstelle Düsseldorf; burg Institut London; 6 nach Goldschmidt,

II. Düsseldorf

1959, Nr. 1, mit

2, 3, 6, 8 Aufnahmen Elfenbeinskulpturen.

Literaturverzeichnis.

der betr. Sammlungen;

5 War-

VICTOR H. ELBERN • EINE GRUPPE INSULARER KELCHE DES F R Ü H E N M I T T E L A L T E R S

Im Schatz des Klosters Sto. Domingo de Silos (Spanien) befindet sich ein großer und bedeutender eucharistischer Kelch von besonderer Form (Abb. I ) 1 . Über einem schmalen Standring wölbt sich fast in der Art einer Halbkugel der mit Filigranarkaden verzierte Kelchfuß. Der Nodus hat nahezu reine Kugelform. Er ist durch ein glattes, zylindrisches Zwischenstück sowohl vom Fuß wie von der K u p p a getrennt. Die K u p p a wiederum ist ebenfalls etwa als Halbkugel gebildet, aber mit etwas höher gezogenem Rand. Auch sie trägt Filigranarkaden und mit Filigran besetzte Zierstreifen. Der Kelch von Silos besteht aus Silber. Er mißt in der H ö h e 30 cm bei einem K u p p a durchmesser von 19 cm. Die Kuppa, innen vergoldet, faßt rund 1,5 Liter. Der Kelch von Silos ist daher mit Sicherheit als calix ministerialis, d. h. als Spendekelch zur Kommunion der Gläubigen unter beiden Gestalten anzusprechen 2 . Glücklicherweise kann er auch mit Sicherheit historisch bestimmt werden. Der erwähnte Standring trägt (unten) eine Inschrift mit folgendem Wortlaut: + I N N O M I N E D O M I N I OB H O N O R E M SCI SABASTIANI D O M I N I C Q ABBAS F E C I T l Ein Abt Dominico ist f ü r Silos zwischen 1041 und 1073 bezeugt. Der Kelch ist also um die Mitte des 11. Jahrhunderts oder wenig später entstanden zu denken. Auf Grund dieses beträchtlichen Alters, seiner Ausmaße und seines reichen Filigrandekors zählt er zu den wichtigsten eucharistischen Kelchen, die aus der Zeit des frühen Mittelalters erhalten sind. 115

Dom E. Roulin hat in seinem Buche über den Schatz von Silos »wisigotische« Beson-

derheiten der Buchstabenschrift festgestellt. Darüber hinaus sieht er in den Filigranarkaden mit ihren Überhalbkreisbögen (Hufeisenbögen) maurischen Einfluß. Wenn eine solche Einwirkung möglich erscheint, so betrifft dies freilich nur die besondere Bildung der Arkaden am Kelche von Silos und die dichte, teppichhafte Füllung der Fläche. Denn an sich gehört das Arkadenmotiv zu den frühesten Zierformen, die am christlichen Kelch gefunden werden 4 . Will man versuchen, die einzigartige Erscheinung des Kelches von Silos zu fassen, so wird man sich mit mehr Aussicht auf Erfolg der Untersuchung der morphologischen Eigenarten des ganzen Gefäßes zuwenden müssen. Vor geraumer Zeit hat Peter Metz in seiner Darstellung des »Kunstgewerbes der Karolingerzeit bis zum Beginn der Gotik« mit scharfem Blick bemerkt, daß der Kelch von Silos formal einem anderen Kelche nahesteht, der freilich weit kleiner und überdies völlig schmucklos ist. Es ist ein Kelch, der in Trewhiddle (Cornwall) gefunden wurde und sich jetzt im Britischen Museum zu London befindet (Abb. 2) 5 . Der Kelch von Trewhiddle, auf Grund der Beifunde in der Zeit vor 875 datiert, besteht aus Silber und ist nur 12,7 cm hoch, entspricht also in der H ö h e etwa dem bekannten sog. Liudgerkelch von Werden 6 . Die K u p p a hat einen Durchmesser von 11,4cm, ist also unverhältnismäßig groß und weit ausladend (die K u p p a des Liudgerkelches hat einen Durchmesser von 1

K E L C H V O N SILOS. 3 . V I E R T E L 1 1 . J A H R H U N D E R T , SILOS, A B T E I

2

K E L C H VON T R E W H I D D L E . 9. JAHRHUNDERT, L O N D O N , BRITISCHES MUSEUM

I I6

7 cm). Im Vergleich mit dem Kelch von Silos fällt sogleich auf, daß beide Gefäße einander in der Bildung des kugeligen Fußes mit schmalem Standring sehr nahe kommen. Aber auch der Nodus mit gleichem Abstand zu Fuß und K u p p a scheint vergleichbar, obwohl die Zwischenstücke beim Kelch von Silos zylindrische, beim Kelch von Trewhiddle konische Form haben. Mag ferner auch das Übergewicht der K u p p a beim letzteren weitaus stärker sein: der morphologische Zusammenhang beider G i f ä ß e über fast zwei J a h r hunderte hinweg ist richtig gesehen, es kann nicht daran gezweifelt werden. Schon früher ist bemerkt worden, daß die Form des Kelches von Trewhiddle von derjenigen der karolingischen Kelche auf dem Kontinent stark abweicht 7 . Man wird daher gut daran tun, sich zunächst weiter im Umkreis der insularen Kunst umzusehen, um Parallelen f ü r ihn zu finden. Hier wird man zunächst an den bedeutendsten der erhaltenen irischen Kelche denken wollen, den großen Kelch von Ardagh (Abb. 3)8. Der Kelch von Ardagh, im National Museum von Irland in Dublin aufbewahrt, gehört zur Gruppe der Henkelkelche, ist daher also - wie der Kelch von Silos - als calix ministerialis anzusehen. Er mißt in der H ö h e 17,8 cm, bei einer H ö h e des Kelchfußes von 7,7 cm. Die K u p p a hat einen Durchmesser von 23,1 cm. Reichste Flechtbandverzierung in Filigran und Auflage kleiner Emailknöpfe machen den Kelch zu einem der schönsten und entwicklungsgeschichtlich bemerkenswertesten Werke der irischen Kunst. Er 117

3

K E L C H VON A R D A G H . M I T T E 8. JAHRHUNDERT, D U B L I N ,

NATIONALMUSEUM

k a n n e t w a in die Zeit nach dem Book of Lindisfarne datiert werden, d. h. also in die ersten Jahrzehnte bis um die Mitte des 8. Jahrhunderts. Er rückt damit in die zeitliche N ä h e der karolingischen Kunst, von deren erhaltenen Kelchen G. Haseloff ihm den Grimfriduskelch verglichen hat, weil dieser ebenfalls einen Standring am Fuße a u f weist 9 . Diese Übereinstimmung kann aber gewiß nicht dazu ausreichen, um eine Verbindung zwischen den vorkarolingisch-insularen und den karolingisch-kontinentalen Kelchen herzustellen. Es mag genügen, hierzu auf die Gestalt des von insularen Ornamentmotiven bedeckten Tassilokelches aus dem oberösterreichischen Stift Kremsmünster hinzuweisen, der in der Gesamtform nicht die geringste Entsprechung mit den erhaltenen Kelchen des insularen Bereiches erkennen l ä ß t (Abb. 4) 1 0 . Die kesselähnliche Gestalt des Kelches von A r d a g h kann wohl am ehesten aus der Tradition der irischen » H a n g i n g Bowls« erklärt werden, die ihrerseits von den weitverbreiteten Formen mittelmeerischen Bronzegerätes angeregt sein können 1 1 . Gleichwohl scheint es wichtig, die von G. Haseloff bemerkte Sonderform des Kelchfußes am calix ministerialis von A r d a g h genauer ins Auge zu fassen. Er weist nämlich nicht nur einen Standring a u f : es ist vielmehr deutlich zu sehen, daß er auch in ähnlicher Weise gewölbt ist w i e der Fuß des Kelches von Trewhiddle. Der zwischen dem gewölbten 4

TASSILOKELCH. U M 7 8 0 , STIFT KREMSMÜNSTER,

5

K E L C H VON H E X H A M . 1 1 . J A H R H U N D E R T , L O N D O N , B R I T I S C H E S M U S E U M

STIFTSSAMMLUNGEN 118

Fuß und der K u p p a vermittelnde Ständer ist zylindrisch gebildet, ein Nodus fehlt gänzlich. Dies ist ebenso der Fall bei dem schmucklosen zweiten, henkellosen Gefäß aus dem Fund von Ardagh, das mit dem großen und prächtig verzierten Stück zusammen gefunden worden ist. Es ist nur 9 cm hoch und hat eine K u p p a von etwa 13 cm Durchmesser. Man muß hervorheben, daß der nur etwa 3 cm hohe Fuß dieses kleinen Kelches nicht gewölbt, sondern konkav eingezogen ist 12 . Er kann daher hier außer Betracht bleiben. Fassen wir vorläufig zusammen, so kann gesagt werden, daß der oben zitierte Vergleich zwischen dem Skyphos von Silos und dem Kelch von Trewhiddle, wie P. Metz ihn erstmals formulierte, erweitert werden kann um den großen Kelch von Ardagh. Aber noch ein vierter Kelch gehört in die Reihe der eucharistischen Trinkgefäße dieses Typus, ein in H e x h a m in Northumberland gefundener Kelch, der bisher als romanisch angesehen worden ist (Abb. 5) 13 . Das aus vergoldeter Bronze bestehende kleine Sakralgefäß, das nunmehr ins 11. Jahrhundert datiert wird, weist den charakteristischen gewölbten Fuß auf einer schmalen, am Rande umlaufenden Abplattung auf. Der kugelige Nodus schließt unmittelbar an. Die schön geschwungene Kuppa, die vom Nodus durch einen Perlkranz abgesetzt ist, scheint noch an die frühe K u p p a f o r m des Kelches von Trewhiddle zu erinnern, wenn er auch bereits zur frühromanischen Schalenform der K u p p a hinüber tendiert. Das mächtige Ubergewicht der Kuppa, das f ü r die irisch-insularen Kelche als charakteristisch erkannt wurde — man vergleiche neben dem Kelch von Trewhiddle wieder die Kelche von Ardagh (Abb. 2, 3) - geht offensichtlich im 11. Jahrhundert verloren. Fragt man nach der H e r k u n f t der eben skizzierten Sonderform des abendländischen Kelches, die man als »insulare Gruppe« bezeichnen kann, so ist darauf nicht leicht eine begründete A n t w o r t zu geben. P. Metz hatte f ü r den Kelch von Silos auf »spätantike Überlieferung« hingewiesen, auf die er in Form und Dekor zurückgreife: »Der tektonische Aufbau und die kubische Bildung der Kelchteile erscheinen durch orientalisches Formgefühl bedingt. In die gleiche Richtung weisen die aus Filigran gebildeten Arkaden . . . « , f ü r die weiter oben auch E. Roulins allgemeiner Hinweis auf die maurische Kunstübung zitiert wurde. Es gibt in der T a t gewichtige Anhaltspunkte, die f ü r eine Ableitung der Form der insularen Gruppe von Kelchen aus dem östlich-mediterranen Bereich sprechen. Man vergleiche beispielsweise den Ständer eines »sasanidischen« Pokals, der in Malaja Pereschepina bei Poltawa gefunden worden ist, mit demjenigen des Kelches von Trewhiddle 1 4 . Das Übergewicht der Kuppa, wie es insbesondere bei diesem gefunden wurde, ist auch an anderen östlichen Kelchen wieder zu finden. Es sei nochmals ein Goldpokal aus dem Schatz von Poltawa zitiert 1 5 , ferner kann man auf den Kelch von Zalesie verweisen, der sich im Kunsthistorischen Museum zu Wien befindet 1 6 . Diese Vergleiche, die freilich nicht eng genug sind, um eine unmittelbare Ableitung zu erlauben, werfen gleichwohl Licht auf die Tradition, der die »insularen« Kelche ihre Gestalt verdanken. U n zweifelhaft gehört der Ministerialkelch von Silos mit dieser Gruppe zusammen, - an gesichts der auch sonst bezeugten irisch-iberischen Beziehungen im frühen Mittelalter durchaus nicht verwunderlich " .

Gewiß ist der Austausch des irisch-insularen Kulturkreises mit den Ländern des K o n tinents nicht weniger dicht und von nicht geringerer Tragweite als derjenige mit der iberischen Halbinsel. Insbesondere wird man dabei an die irisch-angelsächsische Mission im Frankenreiche denken dürfen. Es erhebt sich die Frage, ob nicht auch hier ein Reflex der festgestellten insularen Sonderentwicklung des wichtigsten christlichen Kultgerätes aufgespürt werden kann. Der im insular geprägten Salzburger Umkreis entstandene Tassilo kelch wurde bereits genannt (Abb. 4). In seiner Ornamentik sind gewiß zahlreiche insulare Motive nachzuweisen, neben solchen kontinentaler, besonders italischer H e r k u n f t . Von seiner Gesamtform ist jedoch keineswegs das gleiche zu sagen. Sie läßt sich eindeutig mit mittelmeerischen und byzantinischen Kelchen in Beziehung setzen, Gefäßen, die jedoch mit den oben zitierten Vorbildern der »insularen Gruppe« keine unmittelbare Beziehung aufweisen 1 8 . Noch bei einem zweiten kontinentalen Kelche des frühen Mittelalters könnte ein insularer Einfluß vermutet werden: beim sog. Kelch des hl. Liudger im Schatz der Propsteikirche zu EssenWerden. Dieses Gefäß wird von der Tradition mit dem in England erzogenen Gründer der Abtei Werden in Beziehung gesetzt. An ihm fehlt nicht nur jeder sichtbare insulare Einfluß, der Liudgerkelch ist offensichtlich auch später entstanden, als man bisher angenommen hat 19 . Gleichwohl glauben wir, an einem karolingischen Kelch deutliche Spuren einer insularen Formeinwirkung feststellen zu können: es ist der elfenbeinerne sog. Lebuinuskelch von Deventer, im Erzbischöflichen Diözesanmuseum zu Utrecht aufbewahrt (Abb. 6). Die früheren Darstellungen karolingischer Kelche 20 unterlassen es, diesen Kelch zu zitieren, der erst in jüngster Zeit einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Trotz seines hohen Alters kann das Gerät zwar nicht mit der Person des Missionars St. Liafwin = Lebuinus zu tun gehabt haben, da dieser bereits 780 gestorben ist. W. Meyer-Barkhausen hat vielmehr in eindrucksvoller Weise nachgewiesen — und die Forschung ist ihm dabei gefolgt —, daß der Lebuinuskelch mit seinem reichen vegetabilischen Dekor in den Anfang des 9. Jahrhunderts gehört, und daß er im Umkreis der Hofschule Karls des Großen entstanden sein dürfte. Das geschnitzte Blattwerk am Kelch gehört offensichtlich zusammen mit den zarten vegetabilischen Motiven auf den Bronzegittern, die das Obergeschoß des Oktogons in der karolingischen Palastkapelle in Aachen gegen den Mittelraum abgrenzen 2 1 . Auch vom Materiellen her ist der sog. Lebuinuskelch interessant, weil er als einziger von den in den Quellen erwähnten karolingischen Kelchen aus nicht-metallischem Material erhalten geblieben ist 22 . Eine Aussparung am oberen K u p p a r a n d e läßt erkennen, daß der Kelch - vielleicht von Anfang an - einen Kuppaeinsatz aus edlem Metall gehabt hat. Der Lebuinuskelch, der jetzt in einer gotischen, silbervergoldeten Fassung - als Reliquie - geborgen ist, mißt in seiner ursprünglichen Gestalt etwa 12 cm an Höhe, die K u p p a hat einen Durchmesser von etwa 9,5 cm. Der Ständer besteht aus einer leicht gewölbten Fußplatte, die von einer zweiten dünnen Platte geringeren Durchmessers und mit Astragalrand nach oben abgeschlossen wird. Ein Zwischenstück in der Art einer jonischen Basis

120

- Wulst, Kehle, Wulst - vermittelt zum » N o d u s « , der als eine Art Rundscheibe zwischen Perlringen beschrieben werden kann. Es ist hier nicht der Ort, vom architekturbildlichen C h a r a k t e r des Lebuinuskelches und seiner » O r n a m e n t i k « zu sprechen 23 . Hier steht nur die Gesamtform des Kelches und die Proportion seiner Teile zur Diskussion. Dazu ist nun hervorzuheben, daß der Kelch von Deventer morphologisch den übrigen karolingischen Kelchen nicht an die Seite gestellt werden kann, - ein Befund, der G. Haseloff und P. Stollenmayer veranlaßt haben mag, ihn nicht einmal zu nennen, und der den gelehrten P. Braun dahin führte, ihn ins 12. J a h r h u n d e r t zu datieren. Hingegen w i r d bei einem Vergleich mit den beiden Kelchen von A r d a g h und Trewhiddle (Abb. 3 und 2) der Formzusammenhang mit der als »insular« gekennzeichneten Gruppe vorkarolingischer und karolingischer Kelche deutlich, welcher die dem 11. J a h r h u n d e r t entstammenden Kelche von H e x h a m und Silos angeschlossen werden konnten. Der Einordnung des Lebuinuskelches in die »insulare Gruppe« widerspricht sein reicher, klassisch-karolingischer Dekor mit Blatt- und Rankenmotiven. Aber der W i d e r spruch ist nur scheinbar. Weiter oben w u r d e gesagt, d a ß der Tassilokelch z w a r in seiner Gestalt den Kelchen aus dem insularen Kunstkreis nicht entspricht, wohl aber - wenigstens weitgehend - in der Ornamentik, die er auf sich trägt. Vom Lebuinuskelch läßt sich

121

6

SOG. LEBUINUSKELCH. A N F A N G 9 . J A H R H . , UTRECHT, ERZBISCH. DÖZESANMUS.

7

G L A S K A N T H A R U S AUS K Ö L N . R Ö M I S C H , 3 . J A H R H . , K Ö L N , R Ö M I S C H - G E R M .

MUS.

gerade das Gegenteil sagen. Seine antikisch-karolingische Ausstattung steht der irisch insularen Kunst des 8. bis 9. Jahrhunderts fern. In seiner Gesamtgestalt jedoch gehört er zusammen mit den eucharistischen Gefäßen, die auf den Inseln angetroffen worden sind. Eine solche Festlegung ist freilich nicht apodiktisch zu verstehen. Denn möglicherweise sind sowohl antike Kantharusformen wie antikischer Dekor auf Bechern an der Formgebung des Lebuinuskelches mitbeteiligt. Ein gläserner Kantharus mit Facettenschliff aus Köln (Abb. 7) kommt der Gestalt des Elfenbeinbechers aus Deventer recht nahe. Er zeigt auch in den Ziermotiven auf der Becherwand architektonisierende Motive, die den transennenartigen Gebilden am Lebuinuskelch nicht fern stehen. Diese motivische Beziehung wird aufs nachdrücklichste bestätigt von einem weiteren Kölner Fund, einem glokkenförmigen Glasbecher mit Facettenverzierung, dessen Wandung mit einem schrankenartigen, umlaufenden Schmuckmotiv bedeckt ist 2 4 . Übereinstimmungen solcher Art sind gewiß nicht von der Hand zu weisen in einer Epoche der Kunst, die sich mit besonderem Eifer der antiken Traditionen angenommen hat. Am sogenannten Kelch des hl. Lebuinus von Deventer treten uns damit jene Entwicklungsmerkmale der frühen abendländischen Kunst entgegen, die sich auch in der Durchdringung antikischer und insularer Elemente in Gestaltung und Dekor des Initials in Handschriften der Hofschule Karls des Großen finden, - um nur dieses Beispiel zu nennen. Die Verschmelzung solcher heterogener Formfaktoren und ornamentaler Motive kann als ein Charakteristikum der karolingischen Kunstentwicklung gelten.

ANMERKUNGEN

1 E. Roulin, L'ancien Altargerät,

trésor de l'Abbaye

München

1932, p. 74, -V.

de Silos, Paris 1901, p. 32 ff. - ]. Braun, Das christliche

H. Elbern,

Der eucharistische Kelch im frühen

Berlin 1964 (bzw. in: Zeitschr. d. Dtsch. Vereins Kat.-Nr.

für Kunstwissenschaft

Mittelalter,

XVIII1963),

p. 41,

73,

27.

2 Zu den verschiedenen

Kelchtypen

vgl. Braun, Das christliche Altargerät,

»Calix ministerialis«

ausführlich

F. CabrollH.

et de Liturgie,

Leclercq,

Dictionnaire

a. a. O., p. 19 ff. - Zum d'Archéologie

Chrétienne

Bd. II, 2, Sp. 1646 ff.

3 St. Sebastian war Patron der Kirche, später der Abtei von Silos. 4 Zur architektonischen

Gliederung

christliche Altargerät,

von Kelchen,

Abb. 21 ff., mit zahlreichen

insbesondere

mit Arkaden,

Beispielen. - Ferner

vgl. Braun,

Elbern, Der

Das

eucharistische

Kelch, a. a. O., p. 125 ff. (bzw. p. 165 ff.). 5 P. Metz,

in: H. Th. Bossert,

Geschichte

des Kunstgewerbes

Cornwall, Ch. Oman,

in 1774, in: Proceed. English

Church

von D. M. Wilson. - Elbern, 6 Zum sog. Liudgerkelch

Der eucharistische

unten Anm. 19. - Elbern,

St. Liudger Der

of London,

und Völker, found at

2. Ser. 20/1904,

Kelch, a. a. O., p. 22 f., 71, Kat.-Nr. Abendland

und die Abtei Werden,

eucharistische

Kelch,

an Rhein und Ruhr«.

Bd. V,

Trewhiddle, p. 49 ff. -

1957, p. 39. - Vgl. den Anm. 13 zitierten

vgl. Katalog »Werdendes

Nr. 335. - V. H. Elbern, Abb.

of the Soc. of Antiqu.

Plate, London

aller Zeiten

Silver Ornaments

Berlin 1932, p. 243 f. - R. A. Smith, Some Anglo-Saxon

Beitrag 20.

Essen

Essen 1962, p. 17 ff. - Vgl.

1956, weiter

a. a. O., p. 3 ff., 63 ff., 68 f., Kat.-Nr.

9,

1-2.

7 G. Haseloff,

Der Tassilokelch,

München

1951, p. 12

ff.

122

8 L. S. Gogan, The Ardagh Chalice, Dublin 1932. - F. Henry, Irish Art in the Early Christian Period, Dublin 1947 (2. Aufl.), p. 120 ff. - Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 21, 68, Kat.-Nr. 7. 9 Zum Grimfriduskelch vgl. Haseloff, Der Tassilokelch, p. 11. - Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 15 f., 75 f., Kat.-Nr. 36, Abb. 7. 10 Zum Tassilokelch vgl. Haseloff, Der Tassilokelch a. a. O. - P. Stollenmayer, Der Tassilokelch, in: Professoren-Festschrift Kremsmünster, Wels 1949. - Kat. Werdendes Abendland 314. Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 13 f., 70, Kat.-Nr. 17. 11 Zu den irischen »hanging bowls«, vgl. Henry, Irish Art a.a.O., p. 37 ff., 69 f. Ferner dieselbe, in: Journ. Soc. Antiq. Ireland LXVI/1936, p. 209 ff. Zu koptischen Gefäßen entspr. Art vgl. J. Werner, in: Mnemosynon, Th. Wiegand, München 1938, p. 74 ff. 12 Vgl. A. Mahr, Christian Art in Ancient Ireland, Dublin 1932, Taf. 53,3. - Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 22, 68, Kat.-Nr. 8, Abb. 13. 13 Erstmals erwähnt in: Archaeologia Aeliana XVI1892 (dem Verf. nicht zugänglich). Der Kelch ist mir durch freundliche Mitteilung von Herrn R. L. S. Bruce-Mitford, London, bekanntgeworden. Den Trustees des Britischen Museums habe ich für die Überlassung einer Fotografie des Kelches zu danken. - Unlängst ausführlicher erwähnt bei D. M. Wilson, The Trewhiddle Hoard, in: Archaeologia or Miscellaneous Tracts relating to Antiquity, XCVIIII1961, p. 90 ff. Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 48, 69, Kat.-Nr. 10. 1935. - ]. G. Cincik, 14 Cfr. K. A. Orbeli/C. V. Trever, Sasanidskij Metali. Moskau!Leningrad Anglo-Saxon and Slovak-Avar Patterns of Cuthbert's Gospel, Ser. Cyrilomethodiana I. Cleveland/Rom 1958, Tf. XVI, 2. 15 ]. Strzygowski, Altai-Iran und Völkerwanderung, Leipzig 1917, p. 50, Abb. 55. 16 Kat. Vom Altertum zum Mittelalter (R.Noll), Wien 1958, Nr.O. 1,2. - Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 33 und Abb. 16. 17 Zum Verhältnis Irland!Spanien im frühen Mittelalter zuletzt O. K. Werckmeister, Three Problems of Tradition in Pre-Carolingian Figure-Style. From Visigothic to Insular Illumination, in: Proceed. Roy. Irish Academy, Vol. 63, Sect. C, Nr. 5, Dublin 1963, p. 167 f f . 18 Haseloff, Der Tassilokelch, passim. - Vgl. zusammenfassend zur Formentwicklung des Kelches im frühen Mittelalter: Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 57 ff. 19 V. H. Elbern, Zur Entstehungszeit des sog. Liudgerkelches von Werden, in: St. Liudger und die Abtei Werden, Essen 1962, p. 63 ff. - Vgl. auch oben Anm. 6. 20 O. von Falke, Karolingische Kelche, in: Pantheon XV! 1935, p. 140 ff. - Haseloff, Der Tassilokelch a. a. O., p.9 ff. - P. Stollenmayer, Der Tassilokelch a. a. O., p. 53 ff. 21 W. Meyer-Barkhausen, Ein karolingisches Bronzegitter als Schmuckmotiv des Elfenbeinkelches von Deventer, in: Zeitschr. f. bild. Kunst 64!1930-1931, p. 244 ff. - Kat. Werdendes Abendland 260. - Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 19 f f . , 75, Kat.-Nr. 35. 22 Braun, Das christliche Altargerät, p. 44 ff. Zum Material der Kelche vgl. Braun, Das christliche Altargerät, a. a. O., p. 45 u. passim. 23 Vgl. dazu ausführlich Elbern, Der eucharistische Kelch, a. a. O., p. 88 ff. (bzw. 128 ff.). 24 F. Fremersdorf, Figürlich geschliffene Gläser. Eine Kölner Werkstatt des 3. Jahrhunderts, Berlin 1951 (Röm.-German. Forschungen 19), p. 19, Taf. 17,1-2. Es handelt sich um Inv.-Nr. N 324 (Kantharus) und 29,1543 (Becher). Den Herren Dr. O. Doppelfeld und Dr. P. LaBaume sei für Auskünfte und Überlassung von Fotografien herzlich gedankt.

I2

3

PETER BLOCH • EIN OTTONISCHES KREUZ IN DER MINORITENKIRCHE ZU KÖLN

Um 1840 kam in den Besitz der Kölner Minoritenkirche ein Kruzifix, das bislang wenig Beachtung gefunden hat (Abb. 1) *. An einem älteren Metallkreuz hängt mit schräg in die Höhe weisenden Armen der 66 cm hohe, über einem Holzkern mit Silberblech bekleidete hochgotische Korpus. Das edle Haupt mit dem weichmodellierten Haupthaar, dem symmetrisch gelockten Barte und der scharfgrätigen Nase unter feingeschwungenen Brauen ist mit geschlossenen Augen auf die Brust gesunken. Das knielange Lendentuch über den aufeinandergenagelten Füßen wird beidseitig durch das Cingulum gezogen und fällt in doppelter Faltenführung zierlich herab. Schwarz oxydiertes, ehemals völlig vergoldetes Silber ist in kleinen Blechstreifen symmetrisch aufgenagelt. Auf der Brust befand sich ein heute geschlossenes wappen- oder herzförmiges Sepulchrum (F. Bock, Taf. X X V ) , das unter einem silbergerahmten Glasverschluß perlengeschmückte Reliquien sichtbar machte, die laut Inschrift den Aposteln Simon und Judas gehörten. Das Kreuz (Höhe 120 cm, Breite 79 cm) besteht aus vier einzelnen, getriebenen dünnen Kupferplatten, die Kreuzesstamm, Kreuzesarme und Titulus bilden, sowie einer ringsum aufgenieteten, den Titulus gesondert einschließenden etwa 2,5 cm breiten Rahmung. Auf ihr sind in lebhaften Kapitalen und Uncialen, links unten beginnend und stets von innen her lesbar, folgende leoninischen Hexameter graviert: 1

KÖLN, MINORITENKIRCHE, KRUZIFIXUS

U>

124

NOBILIS • O • STIPES • FRVCTV • SATIS • VBER / E. DIVES, VIVIF / ICANE. / PLAGAS ORBIS S / ERVA ANTE / Q • ? • H(?)YDRAS. / ERGO / BE / NIGNE • DS / • I • LIGNO PENDENS / HOMO / VERVS HIC TE / QVERENTES FOVEAS ET • VOTA FIRENTES

Zu deutsch (nach F. Bock): Edler Baum, sey gegrüsst, mit Früchten des Lebens vor der Schlange Werk hüte der Erde Gott voll Erbarmen

beladen,

Rund,

und wahrer Mensch am Holze

sieh, wir suchen Dich hier: Schirm' uns, erhör unser

des

Kreuzes,

Fleh'n.

Die obere Rahmung des Titulus trägt die Inschrift: » + IC. N A Z A R E N V S « , in der Mitte der unteren Titulusrahmung: »REX I V D E O R « . Der untere Kreuzabschluß ist ohne Schriftzeichen; ein eiserner Dorn wurde in jüngerer Zeit angeschmiedet und mit Ölfarbe bemalt. Während die Inschriften aus einem Braunfirnisgrund ausgeschabt und vergoldet sind (Golddekor auf Braunfirnisgrund,), zeigen umgekehrt Kreuzesstamm und Kreuzesbalken ein Astkreuz und die Kreuzmitte den Nimbus in Braunfirnisdekor auf vergoldetem Grund. Auf dem Titulus sind in Öffnungen, von Zackenringen gefaßt, fünf halbkugelförmige Bergkristalle eingelassen, hinterfangen von Leder oder Pergament. Je ein weiterer, grätig geschliffener Bergkristall ist auf den Kreuzesarmen eingelassen, auf dem oberen Kreuzende unterhalb des Titulus sitzt eine Glaskugel. Auf allen vier Kreuzesenden sind alte Befestigungslöcher sichtbar. Der Goldgrund des Kreuzes ist streifig aufgerauht, wie mit einer harten Bürste bearbeitet. Die vornehme Schönheit des Gekreuzigten fällt weitgehend aus der Reihe der Kölner Kruzifixe des frühen 14. Jahrhunderts, die alle mehr oder minder dem expressiven Typus des Pestkreuzes von Maria im Kapitol folgen 2 . Sucht man nach verwandten Denkmälern, so muß man schon entlegenere Zeugen, wie den Kruzifixus in Dinslaken 3 , oder jenen der ehem. Kölner Sammlung Marx, heute in Koblenzer Privatbesitz 4 heranziehen, f ü r den Kopftypus das edle H a u p t des toten H e r r n mit den sanft geschlossenen (nicht gebrochenen) Augen aus der ehem. Kölner Sammlung Seligmann 5 . Vor allem aber wird man in den Kreis der um 1322 entstandenen Chorpfeilerfiguren des Kölner D o m s 0 gewiesen, deren höfischer Stilisierung der Korpus der Minoritenkirche vorzüglich entspricht. In jener Gruppe von Kölner Arbeiten, welche die steingewordene »Musikalität« der Dombauhütte in die reicheren und weicheren Möglichkeiten des Holzes umsetzt genannt sei die Mailänder Madonna im D o m 7 , die Muttergottes aus der Bonner Dietkirche 8 und jene der ehem. Kölner Sammlung Graf Adelmann in der Hamburger Kunsthalle 9, darf man die unmittelbare Heimat auch unseres Kruzifixus erkennen. Höchst ungewöhnlich erscheint das Material des Kruzifixus, eine Bekleidung des Holzkerns mit getriebenem Silberblech, wie sie f ü r monumentale Bildwerke des 14. Jahrhunderts sonst kaum bekannt ist. Es ist vor allem das 10. und 11. Jahrhundert, das diese Technik liebt 10 . Von den gold- und silberbekleideten Figuren sei nur an die unter Bischof Etienne (vor 940-984) entstandene goldene Muttergottes in Clermont-Ferrand erinnert, die 1793 verlorenging, aber in einer Miniatur des 10. Jahrhunderts in Erinnerung b l i e b " , wie auch an die dem gleichen Bischof zu dankende hl. Fides in Conques 12 ; eine der an das Gnadenbild von Clermont-Ferrand anschließenden bekleideten auvergnatischen Madonnen des 12. Jahrhunderts blieb in Orcival erhalten 1 3 . Silberbekleidete ottonische Kruzifixe haben sich etwa im Dom zu Vercelli 14 und in S. Michele zu Pavia 1 5 überliefert;

ein ehemals mit vergoldetem Silberblech überzogener Kruzifixus des späten 11. Jahrhunderts vom T y p des Volto Santo befindet sich in St. Martin zu Emmerich 10 . Auch die Madonna im Hildesheimer Domschatz 1 7 und das spätottonische Gnadenbild von Walcourt 1 8 haben ihr Gold- bzw. Silberkleid teilweise erhalten. N u r noch im Holzkern bietet sich die Paderborner Imad-Madonna 1 9 dar. Für Köln selbst wäre nicht nur die Essener Goldmadonna zu nennen 2 0 , sondern auch eine silberne Muttergottes, die nach des Gelenius Colonia Sacra von 1645 Erzbischof Gero dem Dom geschenkt haben soll: Ponderosa residentis, vero et ingens statua argentea B. M. V. angelorum reginae in argento throno quam in festis maioribus duo sacerdotes thensae impositam deferunt, et iuxta maius altare in mensa ad hoc apparata reponunt, donum est S. Geronis archiepiscopi defuncti anno Christianae aere 97621. Der gleiche Autor nennt in seiner Staurologia von 1631 noch ein großes silbernes Kreuz als Stiftung des Erzbischofs Gero 2 2 . Dieser Bestand an der Goldschmiedekunst zugehörigen Denkmälern der ottonischen Epoche - der sich erweitern läßt 2 3 - zeigt, daß der Korpus der Minoritenkirche sinnvoll nur als materialgetreue Nachbildung eines älteren, vorromanischen Vorbildes zu erklären ist 24 . Das kupferne Kreuz, auf dem der hochgotische Korpus der Minoritenkirche aufruht, gilt als romanisch. Einzig Charles de Linas erwog auf Grund eines Vergleichs mit den Kreuzesdarstellungen im Codex Egberti eine ottonische Entstehung; doch stieß er sich, F. Bock folgend, an der Inschrift, deren Züge nicht vor dem 12. Jahrhundert möglich seien. Tatsächlich ist die Form des Kreuzes Christi, wie sie dreimal übereinstimmend in der Trierer Handschrift wiederkehrt, mit ihrer breit herumgeführten Rahmung und dem großflächigen Titulus, der Form unseres kupfernen Kreuzes eng verwandt. D a ß es sich um eine typisch ottonische Form handelt - im Gegensatz etwa zum spätottonischromanischen Typus des Krückenkreuzes 2 5 - beweisen nidit nur weitere Reichenauer Handschriften, wie das Aachener Otto-Evangeliar, der Münchener Latinus 4453, die Bamberger Apokalypse und das Evangelistar der Augsburger Ordinariatsbibliothek 2 8 , sondern etwa auch das Elfenbein auf dem Echternacher Gothanus zu Nürnberg 2 7 , die stilistisch nicht weit entfernten Stücke der Münchener Staatsbibliothek und der John R y lands-Library zu Manchester 28 , auch das Email auf dem dritten Vortragekreuz des Essener Münsterschatzes 29 . Innerhalb der monumentalen Plastik wäre auf den Nußbaumkruzifix aus der ehem. Sammlung Lüthgen im Frankfurter Liebieghaus hinzuweisen, dessen erhaltenes ursprüngliches Kreuz eine ähnlich breite Randung zeigt, die nun auch den Titulus umschließt und absondert 3 0 . Noch deutlicher ist die Übereinstimmung der Kreuzesform mit dem silbergegossenen Bernwardskreuz im Hildesheimer Domschatz (Abb. 2) 31 : der wiederum in sich gerahmte Titulus trägt die einst mit Niello ausgegossene Inschrift und auf der Rückseite den Vermerk: Bernwardus presul fecit hoc. Aus der Aufzählung von Reliquien der hll. Stephanus, Dionysius und Laurentius sowie eines Kreuzpartikels schließt R. Wesenberg auf eine Entstehung um 1007/08, nach der Rückkehr Bernwards von seiner W a l l f a h r t nach St. Denis und Tours, wo er Reliquien erhalten hatte. So sprechen das edle Material des gotischen Kruzifixus wie die Form des alten Kreuzes d a f ü r , daß wir mit dem Kunstwerk aus der Minoritenkirche eine ursprünglich ottonische

Arbeit vor uns haben. Die These von F. Bock und Ch. de Linas, daß die Inschrift nicht vor dem 12. Jahrhundert möglich sei, müßte von paläographischer Seite nachgeprüft werden; die Grenzen zwischen der ottonischen und romanischen Epoche scheinen keineswegs so klar umrissen, daß sich eine Datierung der Schrift nicht doch den kunsthistorischen und historischen Argumenten (weiter unten) anschließen ließe. Der frische, unkonventionelle Duktus dürfte eher in das 11., als in das 12. Jahrhundert gehören 32 . Ein anderer Einwand könnte von der Verwendung des Braunfirnis her gemacht werden. Fraglos ist diese Technik typisch für Kupferarbeiten des 12. Jahrhunderts, doch taucht sie auch auf einigen hervorragenden Denkmälern des 11. Jahrhunderts auf 3 3 . Die ältesten erhaltenen Beispiele sind wohl die Ornamentplatten und Inschriftenbänder des Aachener Ambo (1002-14), wo wie beim Kreuz der Minoritenkirche der Rankendekor in Braunfirnis auf Goldgrund und umgekehrt die Schrift in Gold auf Braunfirnisgrund ausgespart erscheint, sowie die Rückseite des Einbandes des sog. kleinen Bernward-Evangeliars im Hildesheimer Domschatz (993-1022), wo Ranken und Schrift als Golddekor auf dem Braunfirnis Verwendung finden34. Weiter seien die Rückseite der Willibrord-Arche in St. Martin zu Emmerich genannt (Niederrhein, 3. Viertel des 11. Jahrh.), die in Braunfirnis eingraviert den Kruzifixus, Sol und Luna, die Evangelistensymbole sowie die Inschrift zeigt 35 , und die Ornamentplatten am Kronleuchter des Hezilo im Hildesheimer Dom 36 . Während die Braunfirnistechnik sich somit in ottonischer Zeit zwar nachweisen läßt, aber immerhin Ausnahme bleibt, treffen wir mit der Zeichnung des Astkreuzes wieder auf eine der Epoche geläufige Darstellung 37 . Die Wiedergabe des Kreuzes Christi als Palmstamm findet man seit den Anfängen christlicher Kunst (etwa auf den Monzeser Ampullen) 3 8 als eine Gleichsetzung von »Arbor crucis« und »Arbor vitae«, worauf sich auch die Inschrift des Kreuzes in der Minoritenkirche expressis verbis bezieht: »Nobilis o stipes . . .«. In der abendländischen Kunst begegnet diese Kreuzform als noch antikes »Palmschuppenkreuz« auf dem Elfenbein des Pariser Lat. 9388 aus der älteren Metzer Schule 39 (um 850) und mit den für die künftigen Darstellungen kennzeichnenden Astansätzen auf dem westfränkischen Elfenbein (um 870) vom Deckel des Reichenauer Perikopenbuches Heinrichs II. 4 0 . Aus ottonischer Zeit seien genannt die Kanonbilder des dem Reichenauer Evangelistar der Leipziger Stadtbibliothek Cod. 190 vorgehefteten Sakramentarfragments der Weserschule (um 970/80) 41 , des Sakramentars Bischof Abrahams von Freising (München, Staatsbibl. lat. 6421) 4 2 und des St. Galler Cod. 341 43, das Kreuz auf der Bernwardstür und auf der Grabplatte Bernwards in Hildesheim 44 , das Altärchen mit der Kreuzabnahme Christi in Berlin 4 5 und, als einziges monumentales Zeugnis, das Kreuz von Monheim 46 . - Während bei diesen Beispielen stets das Kreuz selbst mit den Aststümpfen besetzt ist, erscheint das Palmkreuz der Minoritenkirche vom glatten Rahmenkreuz umschlossen oder folienartig hinterlegt. Entsprechendes bieten die Kreuzigungsminiatur des Barberini 711 der Vaticana 4 7 und die Türen von St. Maria im Kapitol 4 8 . Die Vermutung, daß uns mit der Cimelie der Minoritenkirche ein ottonisches Monumentalkreuz überliefert wurde, läßt sich durch seine Geschichte erhärten. Bis zur Uber-

Siedlung nach Köln gehörte das Stück nämlich der Abtei Brauweiler, wo es in der lokalen Tradition von jeher als die »Nachbildung« jenes Kreuzes galt, das die Pfalzgräfin Mathilde bei der Klostergründung nach Brauweiler übertragen hatte 4 9 . Eine Bestätigung findet diese Überlieferung bei Aegidius Gelenius, der in seiner Colonia Sacra für Brauweiler ein goldenes und silbernes Kreuz aufführt: Crux aurea, quam cum privilegio concesso

a Joanne

fixi miraculosi Thomberg

XX. Papa fundatores

argenteis

in Brauviller

vestiti

laminis,

portavit50.

secum Roma attulerunt; quem in processione

monasterii

Et simulachrum

B. Matildis

Fundatrix,

cruciex

Die Tomburg im Flamersheimer Königswald 51 war

die Stammburg der sog. lothringischen Pfalzgrafen. Ihr bedeutendster Vertreter, der Pfalzgraf Ezzo-Ehrenfried, heiratete 991 Mathilde, die Schwester Ottos I I I . Als Morgengabe erhielt die damals etwa 13jährige das Gut Brauweiler, wo auch die Hochzeit gefeiert wurde. Im Jahre 1024 gründete das Ehepaar das Kloster Brauweiler. Zuvor war es nach Rom gepilgert, um sich von Benedikt V I I I . Reliquien zu erbitten, darunter das von Gelenius genannte erste, goldene Kreuz. Auf Anraten Erzbischofs Pilgrim schickte 129

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HILDESHEIM, DOMSCHATZ,

KRUZIFIXUS

Poppo von Stablo sieben Mönche aus Stablo oder St. Maximin zu Trier nach Brauweiler 52 . Ende 1025 starb Mathilde, im Jahre 1034 Ezzo. Beide wurden zunächst im Kreuzgang begraben und spätestens 1061 in die Klosterkirche überführt. Kurz nach 1200 wurde ein neues Doppelhochgrab für die Stifter gearbeitet (Bader, Abb. 98). Auf einem Balken über diesem Grab soll unser Silberkreuz sich erhoben haben, wie auch Gelenius in seiner Staurologia (S. 55) bezeugt: »Hodie eadem (crux ex Tbonaburg) argenteis vestita laminis, dependet in medio choro, supra sepulchrum Beatorum Ezzonis Comitis Palatini et Mathildis, Fundatorum Brauwilerensium«. Wenn wir dieses aus der Tomburg nach Brauweiler überführte Silberkreuz als jenes der Minoritenkirche identifizieren, so erhalten wir mit dem Gründungsdatum der Abtei einen gewissen Anhaltspunkt. Eher vor, als nach 1024 dürfte das Werk, wohl in einem Kölner Atelier entstanden sein. Es stellt sich damit den Kölner Goldschmiedearbeiten an die Seite: der vor 1000 entstandenen Essener Madonna und dem zwischen 973-982 von Herzog Otto von Schwaben und der Äbtissin Mathilde gestifteten Vortragekreuz im Essener Münsterschatz, wie auch jenen monumentalen ottonischen Kreuzen - voran das Gerokreuz mit seinen Repliken - die gerade in jüngerer Zeit in überraschender Fülle aufgetaucht sind 54 . Die augenscheinlichste Verwandtschaft besteht zwischen unserem Kreuz und dem Altarkreuz des Bischofs Bernward von Hildesheim (Abb. 2). R. Wesenberg hat die Verbindung dieses Silbergusses zum Gerokreuz, wie auch der Hildesheimer Türreliefs zur Fassadenplastik der ehemaligen Vorhalle von St. Pantaleon zu Köln deutlich gemacht 55 - »Beziehungen«, die eher noch den Charakter von »Voraussetzungen« haben. So scheint durchaus erwägenswert, ob nicht - neben der Mainz-Fuldaer Komponente ein Werk in der Art des silberbekleideten Kölner Korpus für den silbergegossenen in Hildesheim eine vermittelnde Rolle gespielt haben könnte. In der Inschrift der Bernwardsleuchter58 deutet sich an, daß der Metallguß als etwas Neues empfunden wurde: Primo huius artis flore. Die Tatsache, daß Goderamnus, Propst von St. Pantaleon zu Köln und später erster Abt von St. Michael, der 996 mit mehreren Brüdern nach Hildesheim berufen wurde, im Besitze jener Vitruv-Handschrift des 9. Jahrhunderts war (British Museum, Harley 2767), an deren Ende Rezepte für den Metallguß eingetragen sind, legt die Vermutung nahe, daß auch in Köln die Gießkunst geübt wurde - und eine Übertragung von der rheinischen Metropole nach Hildesheim entspräche durchaus der Stilsituation. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang nicht ganz bedeutungslos, wenn Froumund, der 1012 gestorbene Lehrer Abt Ellingers von Tegernsee und Verfasser einer Schrift über den Erzguß »De mensura cere et metallion in operibus fusilibus« in St. Pantaleon weilte. Er schrieb hier einen Boethius, De consolatione philosophiae ab (heute Maihingen, Cod. I, 2. IV. 3) und versah ihn mit Bildern, die noch in der Kopie den Kölner Stil verraten Doch können wir bislang für Köln keinen einzigen ottonischen Metallguß in Anspruch nehmen. Um so wichtiger ist das kupferne Kreuz der Minoritenkirche als erstes Zeugnis monumentaler Metallarbeit kölnisch-ottonischer Provenienz.

Fassen wir zusammen. Das Kreuz der Minoritenkirche ist eine ursprünglich ottonische Arbeit, die sich um 1024 für Brauweiler nachweisen läßt. Die Kreuzbalken mit Inschrift und Astkreuzzeichnung in Braunfirnis gehören zum originalen Bestand, der silberbekleidete Kruzifix ist eine materialgetreue gotische Erneuerung der Werkstatt der Mailänder Madonna. Ist es nur ein Zufall, wenn gerade diese Werkstatt mit der Modernisierung des Kruzifixus beauftragt wurde? Die »Mailänder« Madonna selbst ist ja offenbar die Erneuerung eines älteren, mit den Gebeinen der hl. Dreikönige nach Köln gelangten Bildwerkes; auch einer kürzlich vom Schnütgen-Museum erworbenen romanischen Muttergottes wurde um 1330 in der gleichen Werkstatt ein neues H a u p t aufgesetzt 58 . So scheinen in diesem Atelier besondere Erfahrungen vorgelegen zu haben - und dank ihrer konnte mit dem Silberkorpus für Brauweiler ein Meisterstück entstehen, das sich in einfühlsamer, der Noblesse ottonischer Kunst zuinnerst verwandter Weise dem alten Kreuz zu schöner Einheit verband.

ANMERKUNGEN

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1 F.Bock, Das heilige Köln. Leipzig 1858, Nr. 87, Taf. 25. - Ch. de Linas, Les Crucifixes champlevés polychromes. In: Revue de l'Art Chrétien 28/1885, S. 470. - Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 11,2: H. Rathgens u. H. Roth, Minoritenkirche - S. Pantaleon - S. Peter S. Severin. Düsseldorf 1929, S. 32 ff., Fig. 29. - Für freundliche Hinweise habe ich Herrn Prof. Dr. H. Schnitzler zu danken. 2 Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 11,1: H. Rathgens, St. Gereon, St. Johann Baptist, die Marienkirchen, Groß St. Martin. Düsseldorf 1911, S.242f., Fig. 177. - F. Mühlberg, Crucifixus Dolorosus. In: Wallraf-Richartz-Jb. 22/1960, S.69ff. - F. Mühlberg, Zwei rheinische Kruzifixe der Gotik. In: Jahrb. d. Rhein. Denkmalpflege 23/1960, S. 179 f f . 3 F. Witte, Tausend Jahre Deutscher Kunst am Rhein. Berlin 1932, Taf. 119. 4 E. Lüthgen, Rheinische Kunst des Mittelalters aus Kölner Privatbesitz. Bonn u. Leipzig 1921, Taf. 56 u. 57. 5 E. Lüthgen, Gotische Plastik in den Rheinlanden. Bonn 1921, Taf. 12 u. 13. - Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte IV (1958), Art. Dornenkrone (E. v. Witzleben), Abb. 5. 6 W. Medding, Die Hochchorstatuen des Kölner Domes und ihr künstlerischer Ursprung. In: Wallraf-Richartz-Jb. 9/1936, S. 108 f f . - Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 1,3: P. Clemen, H. Neu u. F. Witte, Der Dom zu Köln. Düsseldorf 1938, S. 150 f f . 7 Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 1,3, S. 251 f f . 8 J. Eschweiler, Eine kölnische Sitzmadonna der Hochgotik. In: Wallraf-Richartz-Jb. 10/1938, S. 223 ff. 9 O. v. Falke, Sammlung Graf Adelmann, Köln. Versteigerungskatalog Berlin 1927, Nr. 107, Taf. 1 u. 9. - R. Hamann u. K. Wilhelm-Kästner, Die Elisabethkirche zu Marburg II: R. Hamann, Die Plastik. Marburg 1929, S. 210 f., Abb. 322. 10 Grundlegend: H. Keller, Zur Entstehung der sakralen Vollskulptur in der ottonischen Zeit. In: Festschrift für Hans Jantzen. Berlin 1951, S. 76 ff. 11 Clermont-Ferrand, Bibl. Ms. 145. - L. Bréhier, in: Renaissance de l'Art Francais 7/1924, S. 206 ff. - J. Hubert, L'Art Préroman. Paris 1938, S. 136. 12 H. Keller, S. 76 ff. - J. Taraion, La nouvelle présentation du Trésor de Conques. In: Les Monuments Historiques de la France. N. S. 1/1955, S. 121 ff. 13 H. Keller, S. 78 f. - B. Craplet, Orcival. In: Auvergne Romane. Zodiaque 1955, Farbtaf. nach S. 76 - Die heutigen versilberten Kupferplatten aus dem 17. Jahrh.

14 G. de Francovich, Crocifissi metallici del sec. XII in Italia. In: Rivista d'Arte 17/1935, S. 1-31, bes. 14 ff., Fig. 14 ». 18. - G. de Francovich, Arte Carolingia ed Ottomana in Lombardia. In: Römisches Jahrb. für Kunstgesch. 6/1942-1944, S. 217, Anm. 209, Fig. 213. 15 G. de Francovich, Crocifissi metallici, S. 18 f f . , Fig. 15. 16 Frdl. Hinweis von A. Verbeek. - Die Kunstdenkmäler des Kreises Rees. Düsseldorf 1892, S. 44, Fig. 18 - Im Stil verwandt das kupfervergoldete Vortragekreuz in Maria Lyskirchen (Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 11,1, S. 309 f., Fig. 218), das seinerseits dem Heribertschrein nahesteht. Zum Typus: R. Hausherr, Das Imervardkreuz und der Volto-Santo-Typ. In: Zschr. f . Kunstwissenschaft 16/1962, S. 129-170, Abb. 24. 17 R. Wesenberg, Bernwardinische Plastik. Berlin 1955, S. 59 f f . , S.171f., Abb. 111 u. 112, 154 u. 155. - V. H. Elbern, Das Erste Jahrtausend - Tafelband. Düsseldorf 1962, Taf. 430. 18 ]. de Borchgrave d'Altena, La Vierge de Pélerinage à Walcourt. In: La Revue d'Art 27/1926, S. 56 f f . - S. Collon-Gevaert, J. Lejeune, J. Stiennon, Romanische Kunst an der Maas. Brüssel 1962, Nr. 3. 19 A. Fuchs, Von Kreuzen, Madonnen und Altären. Paderborn 1940, S.7 f f . - V. H. Elbern, Das Erste Jahrtausend, Taf. 402/03. 20 H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer I. Düsseldorf 1957, Nr. 39, Taf. 130-33. - V. H. Elbern, Das Erste Jahrtausend, Taf. 370/71. 21 Aegidius Gelenius, De admiranda, sacra, et civili magnitudine Coloniae Claudiae Agrippinensis Augustae Ubiorum urbis. Köln 1645, S. 239 f . - Diese Silbermadonna ist sicher nicht identisch mit jener auf dem Pilgerblatt des Petrus Schonemann von 1671 (Nr. 16), wie der Inventarband (Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 1,3, S. 251) will. 22 Aegidius Gelenius, Staurologia Coloniensis, de ss. crucibus. Köln 1631, S. 13. Kruzifixe 23 H. Keller, a. a. O. - Silberbekleidete romanische, aber auf Älteres zurückgehende im Dom zu Casale Monferrato (A. Venturi, Storia dell'Arte Italiana III: L'Arte Romanica. Mailand 1904, S. 396 f}., Fig. 383. - G. de Francovich, Crocifissi metallici, Fig. 3. - G. de Francovich, Arte Carolingia ed Ottomana, Anm. 210, Fig. 213) und in St. Sernin, Toulouse. 24 Eine vergleichbare materialgetreue Erneuerung bietet das silberverkleidete und goldgetriebene sog. Apostelantependium des Aachener Münsters, das um 1480 die ehemaligen Seitenwände der Pala d'Oro ersetzte. H. Schnitzler, Fulda oder Reichenau? In: Wallraf-Richartz-Jb. 19/1957, S. 39 ff. - H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer I, Nr. 31. - E. G. Grimme, Aachener Goldschmiedekunst im Mittelalter. Köln 1957, S. 89 ff., Taf. 49 u. 50. - Hinzuweisen ist auch auf das Basler Reliquienkreuz Kaiser Heinrichs II. im Kunstgewerbemuseum Berlin, dessen Rückseite im 14. Jahrh. einen silbergetriebenen Korpus erhielt. Die Kunstdenkmäler des Kantons BaselStadt II: R. F. Burckhardt, Der Basler Münsterschatz. Basel 1933, S. 45 f f . , Abb. 20. - Katalog »Kunstgewerbemuseum Berlin« (A. Schönberger). Berlin 1963, Nr. 3. 25 Vgl. H. Schnitzler, Das sogenannte große Bernwardkreuz. In: Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie III. Karolingische und ottonische Kunst. Wiesbaden 1957, S. 380 ff. 26 B. Kraft, Die Handschriften der Bischöfl. Ordinariatsbibliothek in Augsburg. Augsburg 1934, S. 64 ff., Abb. 32. 27 W. Vöge, Ein deutscher Schnitzer des 10. Jahrhunderts. In: Jahrb. d. preuß. Kunstsammlungen 20/ 1899, S. 117 ff. - A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen II. Berlin 1918, Nr. 23. P. Metz, Das Goldene Evangelienbuch von Echternach im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg. München 1956, S. 34 ff. - K. Oettinger, Der Elfenbeinschnitzer des Echternacher Codex Aureus und die Skulptur unter Heinrich III. (1039-56). In: Jahrbuch der Berliner Museen 2/1960, S. 34 ff. 28 A. Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen II, Nr. 29 u. 30. 29 H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer I, Nr. 44, Taf. 149. - V. H. Elbern, Das Erste Jahrtausend, Taf. 377.

30 R. Hamann, Studien zur ottonischen Plastik. In: Städel-Jahrbuch 6/1930, S. 11 ff. - H.-U. Haedeke, Rheinische Holzkruzifixe von ihren Anfängen bis zur hochromanischen Zeit. Ungedr. Diss. 1954, S. 59-68. - H.-U. Haedeke, Der Kruzifixus von Monheim. In: Wallraf-RichartzJb. 20/1958, S.80 ff. Die auf E.Lüthgen zurückgehende Bezeichnung »aus Münstereifel« oder »aus Commern stammend« (nahe Münstereifel), geht auf ein Mißverständnis zurück: die unterste Zeile der dem 16.117. Jahrh. entstammenden Titulusinschrift meint mit KOMMERNVS nicht den Ort; im Zusammenhang mit dem Wort WILGEFORTIS der vorletzten Zeile wird deutlich, daß der Kruzifixus in späterer Zeit als hl. Kümmernis gedeutet wurde (Haedeke, S.81). 31 R. Gesenberg, S. 29 ff., S. 166 ff., Abb. 106, 107, 139. - V. H. Elbern, Das Erste Jahrtausend, Taf. 423. 32 Hingewiesen sei etwa auf die silbergetriebenen Inschriftleisten auf dem Vortragekreuz der Äbtissin Theophanu (gest. 1056) im Essener Münsterschatz. Die Äbtissin war eine Tochter der Gründer von Brauweiler. - Vgl. auch die Braunfirnisinschrift auf der Rückseite einer Leiste des Aachener Ambo (]. Buchkremer, Der Ambo Heinrichs II. im Dom zu Aachen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 1937, S. 98 ff., Abb. 105). - Nach Kreuzform und Schrift vergleichbar auch das 951 datierte Kreuzigungsrelief des Basler Bischofs Landelous im Kantonalmus. Aarau (W. Deonna, La sculpture Suisse des origines à la fin du XVIe siècle. Basel 1946, Fig. 8). 33 Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte II (1948). Art.: Braunfirnis (K. H. Usener). 34 Zum Aachener Ambo: ]. Buchkremer, a. a. O. - H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer I, Nr. 36, Taf. 109. Hier die ältere Lit. Zum Kleinen Bernward-Evangeliar zuletzt: Katalog »Hildesia Sacra«. Hannover 1962, Nr. 1, Taf. 9. 35 H. Schnitzler, Die Willibrordiarche. In: Der Mensch und die Künste. Festschrift H. Lützeler, Düsseldorf 1962, S. 394 ff. 36 A. Bertram, Hildesheims kostbarste Kunstschätze. Mönchengladbach 1913, Nr. 24, Taf. 15. F. J. Tschan, Saint Bernward of Hildesheim II. Notre Dame, Indiana 1951, S. 80 ff. mit der älteren Lit. 37 W. Hildburgh, On Palm-tree Crosses. In: Archaeologia 31/1931. - Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte I (1937), Art.: Astkreuz (H. Bethe). - G. de Francovich, L'origine e la diffusione de crocifisso gotico doloroso. In: Kunstgesch. Jahrb. d. Biblioteca Hertziana 2/1938, S. 147 ff. - R. Bauerreiss, Arbor Vitae. München 1938, S. 7 ff. 38 Zuletzt A. Grabar, Les Ampoules de Terre Sainte (Monza-Bobbio). Paris 1958. 39 A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen I. Berlin 1914, Nr. 73. 40 A. Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen I, Nr. 41. - A. M. Friend, Carolingian Art in the Abbey of St. Denis. In: Art Studies 1/1923, S. 67 ff. - ]. Reil, Christus am Kreuz in der Bildkunst der Karolingerzeit. Leipzig 1930, S. 82 ff., S. 100 f. Hier die Widerlegung der Thesen A. M. Friends. 41 A.Merton, Die Buchmalerei in St. Gallen. Leipzig 1923, Taf. 97 b. 42 Katalog »Bayerns Kirche im Mittelalter«. München 1960, Nr. 21, Abb. 18. 43 A. Merton, Taf. 76,2. 44 R. Wesenberg, a. a. O., Abb. 164 u. 319. - Zur Grabplatte Bernwards vgl. auch K. A. Wirth, Die Nachrichten über Begräbnis und Grab Bischof Bernwards von Hildesheim in Thangmars Vita Bernwardi. In: Zschr. für Kunstgeschichte 22/1959, S. 305 ff. 45 Staatliche Museen zu Berlin, Die Bildwerke des Deutschen Museums III: Th. Demmler, Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton. Großplastik. Berlin u. Leipzig 1930, S. 3 f. - Katalog »Europäische Bildwerke von der Spätantike bis zum Rokoko« (P. Metz). Essen 1957, Nr. 57, Taf. 10. 46 H.-U. Haedeke, Der Kruzifixus von Monheim (vgl. Anm. 30). 47 A. Merton, Taf. 95,2.

48 R. Hamann, Die Holztür der Pfarrkirche zu St. Maria im Kapitol. Marburg 1925, Taf. 35. P. Bloch, Die Türflügel von St. Maria im Kapitol. Mönchengladbach 1959, Taf. 42. 49 Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 11,2, S. 34. - Einen Hinweis auf die Brauweiler Herkunft könnte auch die von F. Bock genannte, später verschlossene Reliquienöffnung auf der Brust des Herrn geben, die Herzform zeigte. Gleichfalls ungewöhnlicherweise tragen in Brauweiler die Bildnisse des hl. Medardus ein Herz als Attribut. Hierzu: J. Braun, Tracht und Attribute der Heiligen in der deutschen Kunst. Stuttgart 1943, Sp. 536. - W. Bader, Die Benediktinerabtei Brauweiler bei Köln. Berlin 1937, S. 52. 50 Aegidius Gelenius, De admiranda, a. a. O., S. 387. - W. Bader, a. a. O., S. 56, Anm. 2. - In den Brunwilarensis monasterii fundatorum actus (hg. G. Waitz, Mon. Germ. SS. XIV, S. 133) wird nur das Goldkreuz genannt. - Zu Papst Johannes XX vgl. Lex. f. Theologie u. Kirche 5/1960, Sp. 992. 51 Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz: E. Polaczek, Kreis Rheinbach. Düsseldorf 1898, S. 161. 52 W. Bader, a. a. O., S. 56 f f . - Vgl. auch K. Hallinger, Gorze-Kluny. Rom 1950, S. 293 u. 313 f f . Jahrtausend, 53 H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer I, Nr. 43. - V. H. Elbern, Das Erste Taf. 376. 54 R. Hamann, Studien zur ottonischen Plastik, a. a. O. - R. Fritz, Der Crucifixus von Benninghausen, ein Bildwerk des 11. Jahrhunderts. In: Westfalen 29/1951, S. 141 f f . - R. HamannMac Lean, Ein ottonischer Kruzifixus. In: Zschr. f. Kunstwissenschaft 6/1952, S. 115 ff. A. Kippenberger, Der Kruzifixus aus Birkenbringhausen. In: Wallraf-Richartz-Jb. 1411952, S. 41 ff. - H.-U. Haedeke, Diss., a. a. O. - Ders., Der Kruzifixus der Stiftskirche zu Gerresheim. In: Forschungen zur Kunstgesch. und christl. Archäologie III, Karolingische und ottonische Kunst, Wiesbaden 1957, S. 298 ff. - Ders., Der Kruzifixus von Monheim (Anm. 30), S. 69 ff. - Ders., Das Gerokreuz im Dom und seine Nachfolge im XI. Jahrhundert. In: Kölner Domblatt 1958 (14. u. 15. Folge), S. 42 ff. - R. Wesenberg, Der Bronzekruzifixus des Mindener Domes, ein sächsisches Werk des 11. Jahrhunderts. In: Westfalen 37/1959. - Ders., Der Kruzifixus aus Brempt. In: Jahrb. d. Rheinischen Denkmalpflege 23/1960, S. 23 ff. - Eine bislang unbekannte Kopie des Gerokruzifixus ist der kleine goldgetriebene Korpus auf dem Vortragkreuz des Osnabrücker Domschatzes (F. Witte, Der Domschatz zu Osnabrück. Berlin 1925, Taf. 3. - V. H. Elbern, Das Erste Jahrtausend, Taf. 398). 55 R. Wesenberg, Bernwardinische Plastik, S. 95 ff. 56 R. Wesenberg, Bernwardinische Plastik, S. 44 ff. 57 E. F. Bange, Eine Bayerische Malerschule des XI. und XII. Jahrhunderts. München 1923, S. 8, Taf. I. 58 Katalog Neuerwerbungen der Kölner Museen 1962. Köln 1962, Nr. 62. - Hingewiesen sei auch auf den ottonischen Kruzifixus aus Zülpich, dessen Kopf in der 1. Hälfte des 14. Jahrh. überschnitzt wurde (H.-U. Haedeke, Der Kruzifixus von Monheim, S. 78, Abb. 47 u. 48).

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F R A U K E S T E E N B O C K • E I N E M I N I A T U R Z U R MESSFEIER IM BERLINER KUPFERSTICHKABINETT

Zu den nur wenig bekannten Cimelien der früh- und hochmittelalterlichen Buchmalerei im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen in Berlin gehört eine Miniatur auf Pergament, die im Katalog von Paul Wescher 1 unter der Nummer 637 verzeichnet ist. Die Erläuterungen beschränken sich auf wenige kurze Anmerkungen und weisen das Blatt versuchsweise der schwäbischen Schule um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu. Weitere Auskünfte fehlen; auch in der zu Rate gezogenen Handschriftenliteratur findet sich keinerlei Erwähnung des Blattes. D a Nachrichten über die Erwerbung der Miniatur, die vielleicht Aufschluß über ihre H e r k u n f t geben könnten, nicht erhalten sind, muß sich das Bemühen um ihre Bestimmung wesentlich auf stilkritische Argumente stützen. - Der Versuch einer genaueren zeitlichen Einordnung und Lokalisierung soll verbunden werden mit Hinweisen auf die Besonderheit der Darstellung. Das im ganzen gut erhaltene Pergamentblatt ist leider an allen Seiten, vor allem aber wohl an der oberen und unteren Kante beschnitten; seine Größe beträgt 220X160 mm, die Maße des Bildspiegels sind 179 x 1 2 5 mm. Darunter liegen drei Zeilen Schrift in sorgfältig ausgeführten Unzialen, die die Eingangsworte der Praefation enthalten. Einige Buchstaben sind durch Größe und Farbe besonders hervorgehoben. Die Miniatur illuminiert den Meßkanon (Abb. 1). Unter einem seitlich auf Säulen lastenden Arkadenbogen steht links ein Priester, der die mit der linken H a n d erhobene Hostie segnet. Er ist mit Alba, Stola und Casula bekleidet; von seinem linken Unterarm

hängt der Manipel herab; die Tonsur kennzeichnet den mönchischen Stand. Der Altar rechts von ihm zeigt am Sockel ein großblumiges Rosettenornament. Auf der mit einem Tuch (Palla) bedeckten Mensa stehen Kelch und Patene, über die das Corporale in großzügigem Schwung gebreitet ist. Über den Arkadenbogen und diesen zum Teil überschneidend neigt sich aus einer Gloriole zwischen Wolken der H e r r segnend über die Hostie; zu beiden Seiten erscheinen adorierende Engel. Doppelt geführte Rahmenborten, die einen Schriftstreifen einschließen, begrenzen das Bild. Ebenso ist eine Inschrift auf dem Arkadenbogen angebracht: V I N V (m) • P A N I S • A Q U A • F I T • X P I • C O R P V S • I N • ARA Wein, Brot und Wasser werden auf dem Altar zum Leib Christi Dieser sich auf die Darstellung beziehende Text wird erläutert durch die in den Rahmen eingeschriebenen Worte: M A R T Y R I O • X R I S T I • P A T E R • A N G E L I C I • Q(ue) • M I N I S T R I • A S I S T V N T • ERGO • F I V N T • VNVM • TRIA • VERBO Beim Opfer Christi sind der Vater und die Engel als Diener zugegen, also werden die drei (Substanzen) zur Einheit im Wort Der farbige Eindruck des Blattes wird durch lichte Töne bestimmt, die im großen und ganzen ihre Frische bewahrt haben. Ein fast transparent aufgetragenes Blau und ein helles Grün in einem nischenförmigen Feld, dessen Begrenzung die Form des Bogens nachzeichnet, füllen den Grund der Arkade. Im selben Ton erscheint das Grün als Grundfarbe in den Zwickeln darüber, während das Blau sich in der Konturierung der Wolkensegmente wiederholt. Es ist bemerkenswert, daß Figuren und Gegenstände ausgespart wurden und großenteils lediglich in Umriß- und Binnenzeichnung sowie im Ornament farbig behandelt sind. Dabei wird f ü r die Zeichnung vor allem Braun und Mennigrot verwendet, ergänzt durch zart bräunliche Tönung bzw. Schattierung sowie Grün und R o t in der Musterung der Säulen und am Altar. Zartbräunliche und -grüne Streifen begleiten die untenstehenden Schriftreihen. Gold und Silber wird auffallend wenig verwendet. Die Goldauflage am Altargerät, an den Schmuckborten der liturgischen Gewänder, in der Gloriole Christi, im Ornament der Säulenkapitelle und im Arkadenbogen sowie auf der äußeren Rahmenborte und am Initial ist teilweise ziemlich abgerieben, dagegen tritt das Silber durch Oxydierung heute unverhältnismäßig stark in Erscheinung. Für die zeitliche Einordnung der Miniatur erscheint es wichtig, die farbige Behandlung besonders zu beachten, da sie die stilistische Grundhaltung wesentlich mitbestimmt. Vielleicht gaben vor allem die Eigenart des mit zeichnerischen Mitteln farbig gestalteten Gewandstiles und die damit verbundene flächenhafte Wirkung der Bildstruktur den Anlaß, das Blatt versuchsweise der schwäbischen Buchmalerei zuzuordnen. Aber wie bereits Löffler 2 in seiner Publikation über diese Gruppe der mittelalterlichen Handschriften betonte, hat sich eine eigenständige, im engeren Sinne schwäbische Schule 1

M I N I A T U R ZUM M E S S K A N O N . STAATL. M u s . , B E R L I N - D A H L E M ,

KUPFERSTICHKAB.

erst seit dem Ende des 11. Jahrhunderts entwickelt. Es genügt ein kurzer Vergleich mit den von ihm behandelten und abgebildeten Werken, um zu erkennen, daß unsere Miniatur nicht in diesem Umkreis und nicht um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden sein kann. Es bleibt also nach besonderen und charakteristischen Merkmalen zu suchen, die einen Hinweis auf die mögliche Lokalisierung geben könnten. Die Gegenüberstellung unserer Miniatur mit einem der bedeutendsten Werke der schwäbischen Buchmalerei, dem reich ausgestatteten dreibändigen sogenannten Stuttgarter Passionale, führt an die Lösung des Problems heran. Albert Boeckler 3 hat nachgewiesen, daß diese Handschrift in dem von der Cluniazenser Reformbewegung in Hirsau gegründeten Kloster St. Peter und Paul entstanden sein muß. Zu dieser Lokalisierung führte die Beobachtung, daß in ihren Illustrationen verschiedenartige Einflüsse wirksam werden, wie sie nur in Hirsau zusammengetroffen sein können. Als eine der wichtigsten Quellen wird Bayern genannt. Dahin weisen die Vorliebe f ü r reich mit Zinnen und Türmen geschmückte Architekturen sowie dekorativ ornamentale Formen, die »Aussparung« der Figuren aus dem Grunde, Einzelzüge in der Ausbildung des Gewandstiles, in der Zeichnung der Gesichter und Hände. Ganz offensichtlich wird diese Anlehnung in der Darstellung des H l . Benedikt in der dem Chorbuch von Prim angeschlossenen Regula Benedicti 4 , die den Zeichnungen des Passionale eng verwandt ist. Im Sitzmotiv des schreibenden, beziehungsweise seine Feder schärfenden Heiligen, besonders aber in der schlichten Arkadenrahmung mit reichgegliederter Architekturbekrönung ist hier der Typus des Autorenbildes der sogenannten bayerischen Klosterschule wiederholt. Diesem Zweig der süddeutschen Buchmalerei widmete E. F. Bange 1923 eine grundlegende Untersuchung 5 . Die Durchsicht der von ihm besprochenen Handschriften erlaubt verschiedene Vergleiche mit unserer Miniatur. Zunächst ist deren Übereinstimmung in Anlage und Bildstruktur mit dieser Gruppe so weitgehend, daß in ihrem Umkreis der Maler gesucht werden muß, genauer gesprochen im Bereich der Klöster Tegernsee und Freising. Tegernsee, das bereits im 10. Jahrhundert eine bedeutende Pflegestätte der Kunst war, erlebte in der ersten H ä l f t e des 11. Jahrhunderts eine neue Blüte unter seinem Abt Ellinger (f 1057), von dem eigene künstlerische Tätigkeit überliefert ist. Mit seinem N a m e n werden verschiedene Handschriften, vor allem aber ein heute in München, Bayerische Staatsbibliothek, bewahrtes Evangelienbuch (Cod. lat. 18005) in Verbindung gebracht Dieses Evangeliar mit Evangelistenbildern und Initialschmuck wird zusammen mit einem ähnlich ausgestatteten Evangeliar aus dem Kloster Niederaltaich (Cod. lat. 9476) richtungweisend f ü r die weitere Entwicklung der Schule. Dem schließt sich ein drittes Evangeliar der Bayerischen Staatsbibliothek an (Cod. lat. 6204,), das aus Freising stammt. Es enthält in seiner bildlichen Ausstattung Elemente der beiden vorgenannten Codices und muß ebenfalls noch vor der Mitte des 11. Jahrhunderts entstanden sein. Diese H a n d schrift, die aus der Freisinger Dombibliothek nach München gekommen ist, leitet einen neuen Aufschwung der in Freising beheimateten Kunsttätigkeit ein.

Bereits Bange" betont, daß es das Verdienst des Bischofs Ellenhard (1052-1078) gewesen ist, nach einer Periode des Stillstandes im 10. Jahrhundert die bereits in karolingischer Zeit in Freising bedeutende Kunsttätigkeit neu belebt zu haben. Enge Verbindungen zum Kloster Tegernsee, Beziehungen zur Metropole Regensburg und weitreichende Kontakte machen es wahrscheinlich, daß Anregungen nicht nur aus der eigenen Tradition gewonnen, sondern auch von außerhalb herangetragen wurden. Mit der Persönlichkeit des Bischofs Ellenhard können mit Sicherheit zwei H a n d schriften in Verbindung gebracht werden: ein Evangeliar und ein Sakramentar, Stiftungen an das von ihm gegründete Andreas-Kollegiatstift. Ein dritter Codex, ein Lektionar 7 , das wie das Evangeliar aus der Stiftskirche in Freising stammt, ist durch Widmungsverse ebenfalls als Schenkung Ellenhards anläßlich der Gründung von St. Andreas im Jahre 1062 erwiesen. Sein einziger bildlicher Schmuck, eine Dedikationsdarstellung und eine Kanontafel auf der Versoseite, gehörte ursprünglich zu dem genannten Evangeliar und wurde erst später der Handschrift eingefügt. Wann dieser Austausch erfolgte, ist nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht geschah er gleichzeitig mit der Veränderung der Einbände beider Codices, von denen der eine den Vorder-, der andere den Rückdeckel desselben Prachteinbandes mit byzantinischen Elfenbeinplatten inmitten gravierter und vergoldeter Kupferbeschläge auf den Rahmen als Schmuck erhielt. Von der gesamten Ausstattung des Evangeliars, zu der neben den Bildern der Evangelisten größere Zierinitialen zu Beginn der Evangelien und viele kleinere Initialen gehören, ist besonders die Dedikation zum Vergleich mit unserer Miniatur geeignet (Abb. 2). Unter einem Arkadenbogen, der dem des Meßbildes ähnlich gestaltet ist, stehen der Bischof Ellenhard in demütig anbetender H a l t u n g und der H l . Andreas, der Patron des Stiftes, der Christus das Buch darbringt. Christus erscheint mit segnend erhobener Rechten und Buchrolle (?) in der Linken halbfigurig in einem Medaillon, das Arkadenbogen und äußeren Rahmen überschneidet. Ein eckig gebrochenes Schriftband, von Borten eingefaßt, führt zu den beiden Darbringenden herunter. Ebenso sind die Streifen zwischen den Borten von Medaillon und äußerem Rahmen mit Inschriften ausgefüllt. Die Texte lauten: Im Rand des Medaillons: SUMMV(m) P R A E S T O B O N V M P E N S A N D O VICES M E R I T O R V ( m ) . Auf dem Schriftband: N E D V B I T E S I N ME R E T I N E T TE P A G I N A VITAE. Auf dem Rahmen: H V N C E L L E N H A R D V S O F F E R R ( I ) T PRESVL V E N E R A N D VS/ A N D R E A E LIBRVM S E D E N I M TIBI X P O P(er) IPSVM. Es ist besonders die Ähnlichkeit des Bildgefüges, die beide Miniaturen verwandt erscheinen. läßt. Die Rahmen mit Schriftstreifen zwischen doppelt geführter Borte umschließen eine Arkadenstellung, deren Säulen mit einfachen Kapitellen zwischen dickem Wulst und Deckplatte den Bogen tragen. Das ist ein für die bayerische Buchmalerei typisches Motiv, wenngleich die die Arkade krönenden Architekturen fehlen; doch gehören sie vor allem zum Autorenbild, während es sich hier um wesentlich freierer Gestaltung überlassene Darstellungen handelt. Aber die Verwandtschaft erstreckt sich auch auf die Figuren, von denen die Gestalt Ellenhards mit dem zelebrierenden Priester vergleichbar ist. Obwohl dieser gegenüber der gedrungenen Figur des Bischofs wesentlich schlanker und

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gestreckter erscheint, liegt beiden eine ähnliche Auffassung und Bildung des Körperlichen zugrunde. Im T y p u s des Kopfes, der die für Ellenhard-Handschriften charakteristische 2

DEDIKATIONSBILD.

MÜNCHEN,

BAYER.

STAATSBIBL.,

C O D . LAT. 6 8 3 1 ,

FOL. 2 R.

140

D a r s t e l l u n g im D r e i v i e r t e l p r o f i l zeigt - die im C h r i s t u s k o p f gegebene F r o n t a l a n s i c h t ist selten —, geht die V e r w a n d t s c h a f t bis in E i n z e l z ü g e ; v o r allem s t i m m e n d e r in Bogen ü b e r 141

3

DEDIKATIONSBILD, BAMBERG, STAATSBIBLIOTHEK, LlT. 2, FOL. 2 V.

der Stirn gezeichnete Haaransatz, die kleine Locke hinter dem O h r und die große Tonsur überein. Das sind keine allgemein an diese Haartracht gebundenen Merkmale, sondern ganz spezifische Eigenheiten, die Bange 9 als charakteristisch f ü r Ellenhard ansieht. Die aufgezeigten Gemeinsamkeiten, die sich noch um den Hinweis auf eine ähnlich gliedernde Gewandbehandlung erweitern lassen, können freilich nicht über viele trennende Unterschiede hinwegtäuschen. Vor allem scheint die Farbigkeit von anderen Stilgrundsätzen bestimmt. Eine andersartige Wirkung wird schon dadurch erzielt, daß die Figuren vor Goldgrund gestellt sind, der allerdings nur bis in Kniehöhe herunterreicht, während über der Bodenzone mit braun gemalten Erdschollen ein blauer Streifen eingefügt ist. Die Gewänder sind innerhalb der Konturen farbig »grundiert«, dann aber nicht »modelliert« sondern zur Andeutung der wichtigsten Faltenzüge mit einem System von farbigen Linien überzogen, die in helleren und dunkleren Schattierungen nebeneinanderstehen. Diese Malweise - ähnlich der »graphischen« Gliederung der Gewandteile mit farbigen Mitteln auf unserer Miniatur - muß als Charakteristikum der Schule notiert werden. Die stärkere Betonung der plastisch-körperlichen Bildung, wie sie besonders bei dem Andreas des Dedikationsbildes deutlich wird, darf als eine Fortführung der in den älteren, bereits genannten Tegernseer und Freisinger Handschriften offenkundigen Stiltendenzen gewertet werden, wie sie allgemein um die Mitte des 11. Jahrhunderts zu beobachten sind. Dagegen entspricht die trockenere, flächengebundenere Strichführung, wie unsere Miniatur sie zeigt, mehr dem spätottonisch-salischen Stilempfinden. Damit ist ein erster Anhaltspunkt f ü r die Datierung gewonnen. Das Dedikationsbild ist durch das Gründungsdatum des Andreas-Kollegiatsstiftes kurz vor 1062 zu datieren, unsere Miniatur muß später entstanden sein. Auch die zweite von Bischof Ellenhard gestiftete Handschrift, ein Sacramentarium Gregorianum 1 0 , ist durch das Dedikationsbild sicher als sein Geschenk erwiesen; zudem finden sich im figürlichen Schmuck seiner Initialen Hinweise auf in Freising besonders verehrte Heilige, und im Memento f ü r die verstorbenen sind die N a m e n der Vorgänger Ellenhards in Goldbuchstaben hervorgehoben 1 1 . Das Widmungsbild am Anfang der Handschrift (Abb. 3) zeigt unter dreifach geteilter Arkardenstellung, die von Architektur bekrönt wird, den segnenden Christus zwischen Maria und Andreas, die sich ihm mit Fürbitt-Gebärde zuwenden. Die Figuren stehen auf dem Rahmen eines sockelartigen Feldes, das sechs Arkadenbögen mit einfacher O r n a mentdekoration im Grunde gliedern. D a v o r kniet zu Füßen Christi der Bischof, der in der auf dem Zwischenrahmen umlaufenden Inschrift genannt wird: XPE RECORDERIS ELLENHARDI FAMVLANTIS An den Seiten unterbricht die Schrift den umlaufenden Rahmen mit Blattdekor zwischen Begleitstreifen, den nach außen ein Goldstreifen umschließt. In den Ecken sind Medaillons aufgesetzt, deren Brustbilder von Heiligen durch Umschriften benannt sind: oben die Hll. V I T A L I S und M A X I M U S EPC, unten die Hll. F E L I C U L A und E U T R O P I A . Die Hervorhebung des hl. Andreas, der wie im Ellenhard-Evangeliar als Greis gekennzeichnet ist, sowie Darstellungen aus seinem Leben auf fol. 121 machen es

wahrscheinlich, daß auch das Sakramentar f ü r das Kollegiatstift angefertigt wurde 1 8 . Schon der Vergleich der beiden Dedikationsdarstellungen erweist die des Sakramentars als die stilistische fortgeschrittenere und im Sinne einer eigenständigen Entwicklung selbständigere. Das zeigt sich gerade in der Übernahme charakteristischer Motive aus älteren Handschriften der Schule, wie z. B. der Architekturbekrönung und der Arkadenreihe in der unteren Zone; diese ist auffallend hoch und steil gebildet, das Dekor stilisiert und trocken. Gestreckter und schlanker, starrer in der beinahe ornamental gegliederten Gewandgestaltung und damit unkörperlich flächenhaft in der Erscheinung sind auch die Figuren. Das sind deutliche Merkmale einer späteren Stilstufe. Offenbar wirken hier auch (bisher noch nicht verzeichnete) auswärtige Einflüsse mit. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man die weitere bildliche Ausstattung des Manuskriptes betrachtet. Die Handschrift gehört in jene Gruppe von Sakramentaren, die auch historisch-christologische Darstellungen und solche nach Heiligenlegenden enthalten (vgl. Bange, S. 70 f., Taf. 25-27). Die Szenen zeigen eine sehr unterschiedlich konzipierte Bildanlage und sind in der formalen Gestaltung so verschieden, daß man versucht ist, zwei ausführende H ä n d e anzunehmen. Doch mögen die Schwankungen auch durch verschiedene Bildvorlagen erklärt werden können. Auffallend ist die ikonographische Anlehnung an Bildtypen der südwestdeutschen, speziell Reichenauer Buchmalerei (Christi Einzug in Jerusalem, Frauen am Grabe, Himmelfahrt) 1 3 . Eine mögliche Anlehnung an außerhalb Freisings entstandene Bildvorlagen muß also bei der Erörterung von bisher in der Schule nicht bekannten Darstellungstypen in Betracht gezogen werden. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Aus dem Vergleich unserer Miniatur mit den Bildern des Ellenhard-Sakramentars ergibt sich Verwandtschaft der Bildgestaltung besonders mit der Dedikation und der Kreuzigung 1 4 , die auch einen an drei Seiten umlaufenden Schriftrahmen aufweist, Übereinstimmung im Figürlichen - besonders bei den Halbfiguren von Christus und den Engeln - mit einigen Gestalten der Szenen Christi Einzug in Jerusalem, Frauen am Grabe und aus der Andreas-Legende 1 5 ; die hier festgestellte Verwandtschaft läßt sich bis in Einzelheiten der Gesichts- und Haarbildung sowie Zeichnung der Handflächen und Gewandteile beobachten. Darin treten wieder vor allem für Freising eigenartige Züge hervor. Freilich genügen die aufgezeigten Gemeinsamkeiten nicht, um das Einzelblatt in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sakramentar zu stellen, vielmehr wirken in beiden Werken verschiedene Voraussetzungen, die mit verwandten Stilmitteln zu ähnlicher Gestaltungsweise umgebildet wurden. Es mag aber unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Voraussetzungen begründet erscheinen, die Miniatur im Berliner Kupferstichkabinett am ehesten in den Umkreis der Freisinger Ellenhard-Handschriften zu setzen. Für diese Lokalisierung lassen sich weitere Indizien anführen, und auch die zeitliche Einordnung ist noch zu präzisieren. Von den Handschriften aus Freising soll hier ein Evangeliar in der Münchener Staatsbibliothek (Cod. lat. 828) angeführt werden, das in seiner Ausstattung zwar eine fortgeschrittene Phase der stilistischen Entwicklung vertritt, aber auf frühere Werke der Schule zurückgreift. Seine Evangelistenbilder sind Wiederholungen der Autoren des

m e h r als ein halbes J a h r h u n d e r t z u v o r entstandenen Freisinger Evangeliars (Cod. lat. 6204), in der Formensprache jedoch der späten Stilstufe a n g e p a ß t . D a n e b e n finden sich M o t i v e , die in d e m f r ü h e n E v a n g e l i a r nicht nachweisbar sind, dem k o p i e h a f t e n C h a r a k t e r des M a n u s k r i p t e s entsprechend aber ebenso ehemals in Freising v o r h a n d e n e n H a n d s c h r i f ten e n t n o m m e n sein müssen. I m Hinblick auf unsere M i n i a t u r interessieren hier vor allem die O r n a m e n t e , z. B. die Rosetten a m Sitz eines Evangelisten 1 6 , wie sie g a n z ähnlich am A l t a r auf dem M e ß b i l d e v o r k o m m e n , o d e r auch die Schmuckborten der G e w ä n d e r . U m die zeitliche E i n o r d n u n g des Berliner Einzelblattes weiter einzugrenzen als es durch den Vergleich m i t den E l l e n h a r d - H a n d s c h r i f t e n geschehen k o n n t e , sei noch ein in der N a c h b a r s c h a f t v o n Freising entstandenes Pontifikalbuch, das sogenannte

Gunde-

k a r i a n u m aus dem Eichstätter D o m k a p i t e l herangezogen. W a r f ü r jene als Ausgangsd a t u m das G r ü n d u n g s j a h r des Andreas-Kollegiatstiftes (1062) zu nennen, so ist dieses durch eine E i n t r a g u n g 1071 datiert. D a s M a n u s k r i p t , das seinen N a m e n nach dem Eichstätter Bischof G u n d e k a r I I . ( 1 0 5 7 - 1 0 7 5 ) t r ä g t , e n t h ä l t eine Reihe Bildnisse v o n Heiligen u n d Bischöfen. D i e ganzfigurigen Darstellungen sind u n t e r A r k a d e n

oder

Giebeln in drei ü b e r e i n a n d e r gestaffelten Reihen angeordnet 1 7 ; die das Bildfeld begrenzenden R a h m e n schließen Schriftstreifen ein, die denen der M i n i a t u r ähneln. In der B e h a n d l u n g des Figürlichen, in der Faltenzeichnung der G e w ä n d e r u n d in der Bildung der K ö p f e zeigt sich viel Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der Gestalt des Priesters unserer M i n i a tur. V o r allem aber v e r b i n d e t beide W e r k e der an die Fläche gebundene B i l d a u f b a u , in dem räumliche Gestaltung weitgehend mißachtet - u n d auch w o h l gar nicht beabsichtigt ist. Deutlich tritt das in den Architekturen h e r v o r , die als Flächengebilde a u f g e f a ß t sind. Auf dem M e ß b i l d w i r d dieser Eindruck allerdings gemildert durch die U b e r - beziehungsweise Unterschneidungen des Arkadenbogens, oder durch die A n d e u t u n g einer Nische in dem z w e i f a r b i g b e h a n d e l t e n G r u n d e ; echte räumliche W i r k u n g k o m m t nicht zustande, auch nicht in der Stellung v o n Priester u n d A l t a r »vor« den Säulen. M i t dieser Beobachtung rückt die Berliner M i n i a t u r in die N ä h e des G u n d e k a r i a n u m s . I n der zeitlichen A b f o l g e der in diesem Z u s a m m e n h a n g b e h a n d e l t e n H a n d s c h r i f t e n stände das Berliner B l a t t nach dem E v a n g e l i a r u n d S a k r a m e n t a r des Bischofs E l l e n h a r d v o n Freising und v o r den M i n a t u r e n des G r u n d e k a r i a n i s m u s , u n d z w a r eher gegen E n d e der 60er J a h r e . Leider k a n n der Themenkreis der H a n d s c h r i f t e n , die f ü r den stilistischen Vergleich herangezogen w o r d e n sind, keinen Aufschluß über die I k o n o g r a p h i e der Berliner Min i a t u r geben. D i e D a r s t e l l u n g ist nicht n u r im U m k r e i s der bayerischen Buchmalerei u n gewöhnlich, es finden sich auch im Bereich der liturgischen Darstellungen keine u n m i t t e l b a r vergleichbaren Beispiele. D i e E r ö r t e r u n g e n müssen sich somit wesentlich auf den Versuch einer E r l ä u t e r u n g einzelner Bildelemente beschränken, wobei insbesondere die E i g e n a r t der D e u t u n g des liturgischen Vorganges zu beachten sein w i r d . D i e M i n i a t u r ist den E i n g a n g s w o r t e n der P r a e f a t i o n vorangestellt, jenem Teil der Messe, der den K a n o n einleitet. D i e Illustration m u ß somit auf das H a u p t s t ü c k der Messe bezogen w e r d e n u n d ist als Verbildlichung des in O p f e r u n d W a n d l u n g sich stets erneuernden Geschehens v o n G o l g a t h a zu verstehen. D a ß der D a r s t e l l u n g v o r allem

144

diese Bedeutung unterlegt ist, erhellen die in den Arkadenbogen eingeschriebenen Worte: V I N V ( m ) • P A N I S • A Q V A • F I T • X P I • C O R P V S • In • ARA. N u r so ist auch die »Gegenwart« des H e r r n zu erklären, der in leiblicher Erscheinung sich segnend über die vom Priester erhobene Hostie beugt. Die Engel zu beiden Seiten sind die während der heiligen H a n d l u n g anwesend gedachten himmlischen Boten, die die gesegneten Opfergaben emportragen zum Thron der göttlichen Majestät und den Jubelgesang zum Lobe des H e r r n anstimmen. In ihrer dienenden Funktion werden sie auch in der Umschrift des Rahmens als »ministri« genannt. Zugleich verweist dieser Text darauf, d a ß das Geschehen am Altare gefeiert wird in Erinnerung an den Opfertod des Gottessohnes; die unblutige Erneuerung des Kreuztodes ist es, die in den heiligen Handlungen am Altar gesetzt wird. Also ist Christus gegenwärtig auf dem Altare und in den zum Vollzug der Gedächtnisfeier dienenden Gestalten. Bereits in den theologischen Schriften des frühen Mittelalters wird der symbolische Bezug zwischen den Vorgängen und den Geräten am Altar und den Stationen der Passion Christi hervorgehoben. In Auslegungen der liturgischen Vorgänge der Messe ist sogar immer wieder versucht, die Handlungen am Altar und das Mysterium der Wandlung mit Ereignissen aus dem Leben und Sterben Christi unmittelbar und konkret in Verbindung zu bringen. Aus karolingischer Zeit sind besonders die Meßerklärungen des Amalar von Metz, eines Schülers Alkuins, aufschlußreich, die in weitgehenden theologischen Spekulationen den Ablauf des liturgischen Geschehens zu deuten suchen. Dort heißt es-18, daß der Priester, der die Hostie erhebt, wie Nikodemus handelt, und der Diakon, der den Kelch erhebt, wie Joseph von Arimathia bei der Kreuzabnahme Christi. Denn die Hostie ist der Leib, der Kelch enthält das Blut Christi. Weiter ausgedeutet finden sich die symbolisch-allegorischen Bezüge in den Schriften des Honorius von Autun 1 9 , der den Kelch als Grab Christi ansieht, das Corporale als das Tuch, in das Joseph von Arimathia den Leichnam Christi hüllte, und die Patene als den das Grab verschließenden Fels. Mit dem Bilde des Kelches als Grab Christi ist das des lebenspendenden Brunnens verschmolzen. Auf diese Sinngebung verweist der vielfach an mittelalterlichen Kelchen auftretende Ranken- und Palmettenschmuck, wie er auch an der Kelchkuppa auf unserer Miniatur eingezeichnet ist 20 . Doch erscheint in der Eigenart der hier vorgeführten Formulierung die Grabsymbolik stärker hervorgehoben. Dieser Gedanke führt zu den Germanus von Paris (f 576) zugeschriebenen Meßerklärungen. Seine Erläuterungen zum Gang der Messe fußen auf dem damals im fränkischen Gebiet verbreiteten gallikanischen Ritus 2 1 . Auch er geht von der Einsetzung der Eucharistie beim letzten Abendmahl aus. Wenn er von der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut des H e r r n spricht, erwähnt er als dritte Substanz das Wasser, das sich mit dem Blut vermischte, als es aus der Seitenwunde Christi floß; so vollzieht sich das Mysterium der Eucharistie in Erinnerung an das Leiden am Kreuze. Audi im Gedankengang des Germanus werden - charakteristisch f ü r die bildh a f t e Vorstellungsweise des frühen Mittelalters - die Altargeräte Abbilder der mit der Passion verbundenen Geräte: das Altartuch vertritt den ungenähten Rode des Herrn,

das Corporale das Leintuch im Grabe, in welches der Leib Christi gehüllt war. Dieses »Bild« verdeutlicht die Berliner Miniatur, auf der das Corporale von rückwärts über Patene und Kelch gebreitet ist, und die Geräte auf der mit einem Altartuch bedeckten Mensa stehen. Wie eine Illustrierung des Textes von Germanus mutet die Darstellung des Priesters an, zu dem der H e r r sich herabneigt. Germanus erinnert hier an Moses als Vorläufer Christi. In der liturgischen H a n d l u n g vertritt der Priester die Person Christi, indem er die Hostie erhebt; Christus aber erscheint in einer Feuersäule zwischen Wolken und neigt sich herab, um auf das Sakrament niederzusteigen 22 . Vielleicht kann der offensichtliche Zusammenhang der Darstellung mit Gedankengut der gallikanischen Liturgie auch zum Verständnis des zweiten Teiles der Rahmeninschrift beitragen: E R G O • F I V N T • V N V M • T R I A • VERBO. In dem Begriff T R I A sollte vermutlich nicht nur der Hinweis auf die drei Substanzen enthalten sein, sondern die Einheit der göttlichen N a t u r hervorgehoben werden. Diese Sinngebung wäre denkbar, da in der gallikanischen Liturgie die A n r u f u n g der Trinität sehr verbreitet war, wie auch die Gebetsanrede sancta trinitas ein gallisches Charakteristikum ist 23 . N u n erlaubt aber eine in der ersten H ä l f t e des 9. Jahrhunderts in Freising geschriebene Sammlung von Benediktionen nach gallikanischem Ritus den Schluß, daß diese Form der Liturgie dort bekannt gewesen sein muß; von daher ließe sich der Versuch der Lokalisierung des Einzelblattes nach Freising also stützen. Aufschluß über die möglichen ikonographischen Vorlagen der liturgischen Darstellung vermag dieser Hinweis allerdings nicht zu geben. Bei den vielen über die Grenzen des Bistums hinausreichenden Beziehungen, die sich in Freising verschiedentlich nachweisen lassen, ist es denkbar, daß auch f ü r die hier besprochene Miniatur eine bisher nicht bekannte Bildvorlage verwendet wurde. Obwohl gerade in dem benachbarten Regensburg die Vorliebe für eine spekulativ-theologische Ausgestaltung des Bildes zu Beginn des 11. Jahrhunderts stark hervortritt (Uta-Codex), erscheint eine direkte Beeinflussung durch diesen Kunstkreis weniger wahrscheinlich, als die Aufnahme von Bildmotiven aus dem südwestdeutschen Gebiet, dessen Werke ihrerseits ja auch die Regensburger Schule befruchtet hatten. Eine solche Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man bedenkt, daß bereits in früheren Jahrhunderten Verbindungen von Freising zum Westen bestanden haben, und noch in dem obengenannten Evangeliar des Bischofs Ellenhard (Cod. lat. 6832) sind die Evangelistenbilder selbständig umgeformte Nachbildungen einer Reichenauer Handschrift des 10. Jahrhunderts, die unter Bischof Abraham nach Freising kam. Wollte man den für die Berliner Miniatur möglichen Vorlagenkreis enger lokalisieren, so müßte man die Vorbilder wohl in der südwestdeutschen - vielleicht auch mittelrheinischen - Buchmalerei suchen. Das Motiv des zwischen Wolkensegmenten erscheinenden H e r r n könnte von den aus Wolken sich herabneigenden Evangelistensymbolen übernommen sein, wie sie - von westlichen Quellen inspiriert - auch in der süddeutschen Kunst zu finden sind. Die Frage, wieweit die ungewöhnliche Ikonographie der liturgischen Miniatur im Berliner Kupferstichkabinett Übernahme eines vorgeformten Bildtypus oder selbständige Umformung eines entsprechenden Bildtypus ist, muß jedoch vorerst unbeantwortet bleiben.

ANMERKUNGEN

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1 P. W escher, Beschreibendes Verzeichnis der Miniaturen - Handschriften und Einzelblätter - des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen Berlin, Leipzig 1931, S. 10, Abb. 12. 2 K. Löffler, Schwäbische Buchmalerei in romanischer Zeit, Augsburg o. ]. (1928), Vorwort. 3 A. Boeckler, Das Stuttgarter Passionale, Augsburg 1923. 4 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. 4° 141; abgeb. Löffler, Schwäbische Buchmalerei, Taf. 15. 5 E. F. Bange, Eine bayerische Malerschule des XI. und XII. Jahrhunderts, München 1923. 6 Bange, Bayerische Malerschule, op. cit., S. 57. 7 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. lat. 6831. 8 Bange, Bayerische Malerschule, op. cit., S. 58 f f . , Abb. 50 u. 53, Taf. 20 u. 21. 9 Bange, Bayerische Malerschule, op. cit., S. 68 f. 10 Bamberg, Staatliche Bibliothek, Lit. 2. - F. Leitschuh, Katalog der Handschriften der Rgl. Bibliothek zu Bamberg, 1. Bd., Bamberg 1898, S. 138 f. - Bange, Bayerische Malerschule, op. cit., S. 70 f f . , Taf. 24, Abb. 62. 11 Katalog Bayerns Kirche im Mittelalter, München 1960, Nr. 30, Abb. 30. 12 Vgl. Bange, Eine Bayerische Malerschule, op. cit., S. 71 ff. Daß hier Andreas und nicht Johannes der Täufer dargestellt ist, geht schon daraus hervor, daß der Heilige über der Tunika das Pallium trägt - so darf man vielleicht den über der Schulter und auf dem Untergrund sichtbaren kreuzbesetzten Streifen deuten. 13 Vgl. Bange, Eine Bayerische Malerschule, op. cit., Taf. 25, 26, 27; es führt über den Rahmen der hier gestellten Aufgabe hinaus, eine Ableitung der einzelnen Szenen zu geben und die Herkunft ikonographischer Merkmale zu klären. 14 Bange, Eine Bayerische Malerschule, op. cit., Taf. 26, Abb. 65. 15 Bange, Eine Bayerische Malerschule, op. cit., Taf. 26, Abb. 66167; Taf. 27, Abb. 71. 16 Bange, Eine Bayerische Malerschule, op. cit., Abb. 122, Taf. 45. Es ist bemerkenswert, daß in dem sehr geschickt kompilierten Cod. lat. 828 wiederum die für die Freisinger Malerschule wichtig gewordenen Elemente der Tegernseer Handschriften auftreten, ein Zeugnis für die Beziehungen zwischen den zu ihrer Zeit bedeutenden klösterlichen Niederlassungen, zugleich aber auch aufschlußreich für die eigenständige Verarbeitung auswärtiger Einflüsse in Freising. 17 fol. 17r und 187; Bange, Eine Bayerische Malerschule, op. cit., S. 92 f., Abb. 91 und 93, Taf. 35; vgl. auch Taf. 36 und 37. 18 Amalar, De Ecclesiasticis Officiis; Migne, PL, t. CV, col. 1144. 19 Honorius, Gemma Animae I, cap. 47; Migne, PL, t. CLXXII, col. 555. 20 Dieses speziell in den Bereich der Kelchikonographie und - allgemein - der Paradiessymbolik führende Motiv soll hier nicht weiter verfolgt werden. Zu diesem Thema vgl. V. H. Elbern, Der eucharistische Kelch im frühen Mittelalter, Teil II, Ikonographie und Symbolik, 4. Kelch - Lebensbrunnen — Grab Christi, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, XVII, 314 (1963), S. 137 ff., 187, Abb. 133. Ich darf hier Herrn Dr. Elbern für freundliche Hinweise danken. 21 Germanus, Expositio brevis antiquae liturgiae Gallicanae ...; Migne, PL, t.LXXII, col. 89 f. 22 Praecepit Dominus Moysi, ut faceret tubas argenteas, quas levitae clangerent quando offerebatur hostia, et hoc esset Signum, per quod intelligeret populus qua hora inferebatur oblatio, et omnes incurvati adorarent Dominum, donec veniret columna ignis aut nubes, qui benediceret sacrificium. Nunc autem procedentem ad altarium corpus Christi non jam tubis inrepraehensibilibus, sed spiritalibus vocibus praeclara Christi magnalia dulci modilia psallet Ecclesia. 23 A. Jungmann, Missarum solemnia (2. Aufl.), Wien 1952, Bd. I, S. 60 f. und S. 369. 24 Benedictiones Episcopales, München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. lat. 6430. Vgl. Katalog Bayerns Kirche im Mittelalter, München 1960, Nr. 15.

KURT ERDMANN f • DREI FIGÜRLICHE HOLZSCHNITZEREIEN

FATIMIDISCHER

ZEIT

I n keinem Kunstkreis h a b e n sich d a n k der klimatischen Verhältnisse des Landes A r beiten in H o l z so gut erhalten wie in Ä g y p t e n . D i e D o k u m e n t e reichen v o n der p h a r a o nischen über die koptische in die islamische Zeit. Besonders zahlreich sind sie in der letzten Periode. H i e r nehmen die Arbeiten der fatimidischen Periode ( 9 6 9 - 1 1 7 1 ) 1 eine deutliche Sonderstellung ein gegenüber denen der v o r a n g e h e n d e n

tulunidischen

und

ikshididischen 2 u n d der f o l g e n d e n mamlukischen P e r i o d e 3 . Was sie kennzeichnet ist die V e r w e n d u n g der v o r h e r u n d nachher v e r p ö n t e n F i g u r 4 . Figürlich dekorierte Holzschnitzereien fatimidischer Zeit sind noch in größerer Z a h l v o r h a n d e n . D a s M u s e u m of Islamic A r t in K a i r o besitzt eine reiche A u s w a h l 5 v o n ihnen, auch in a n d e r e n S a m m l u n g e n , e t w a in der Islamischen Abteilung der Berliner Museen, sind sie vertreten. Meist s t a m m e n sie v o n M ö b e l n u n d G e r ä t e n (Türen, G i t t e r n , Stühlen, Kästen), in die sie als Kassetten eingelegt w a r e n . D e r D e k o r besteht aus l e b h a f t bewegten, lebendig gezeichneten Tieren v o r R a n k e n . Gelegentlich k o m m e n Mischwesen wie Sphingen o d e r H a r p y i e n v o r . Menschliche Figuren fehlen. Sie finden sich in u m so reicherer A u s w a h l auf den ü b e r 30 m langen Friesen, die u m 1911 aus dem M a r i s t a n ( K r a n k e n h a u s ) des Sultans Q a l a u n in das Musée A r a b e (heute M u s e u m of Islamic A r t ) ü b e r g e f ü h r t w o r d e n s i n d 6 . Ursprünglich w e r d e n sie z u m 1058 gebauten W e s t p a l a s t des F a t i m i d e n s u l t a n s al M u s t a n s i r gehört haben, aus dem sie ü b e r n o m m e n

wurden,

als der M a m l u k e n s u l t a n Q a l a u n 1283 an der Stelle des Fatimidenpalastes seine große,

148

als Maristan bekannte Anlage baute. Die 30 cm hohen, verschieden langen Bretter zeigen zwischen schmalen Friesen mit intermittierenden Ranken im Hauptstreifen queroblonge Sechsecke im Wechsel mit Achtpässen (Abb. 1). Die Sechsecke, deren Breite variiert, bringen zwischen rahmenden Arabeskenblättern vor Ranken Szenen aus meist zwei, gelegentlich auch drei Figuren 7 : Löwenjäger mit Lanze oder Schild und Schwert zu Fuß oder beritten, Falkenjäger ebenfalls zu Fuß oder zu Pferd, Musikanten, Zechende, Tänzerinnen, Kamelführer, vereinzelt auch affrontierte Tiere oder Mischwesen. In den Achtpässen ist stets nur eine Figur (Tier oder Mensch) gegeben. Die verwendeten Motive sind von fatimidischen Elfenbeinen 8 bekannt und kommen ähnlich in den Deckenmalereien der Capella Palatina des Palazzo Reale in Palermo vor 9 . Außerhalb Kairos sind m. W. Holzschnitzereien dieser Art nicht bekannt. Es war ein glücklicher Umstand, daß es kürzlich gelang, drei Fragmente dieses Typs f ü r die Islamische Abteilung der Staatlichen Museen, Berlin zu erwerben. Über die Provenienz der Stücke war nichts Sicheres zu erfahren. Die Angabe, daß sie beim Abbruch eines Hauses im fatimidischen Teil Kairos zum Vorschein kamen, kann zutreffen. Auf den ersten Blick scheinen sie zur Qalaun-Serie zu gehören. Bei näherer Untersuchung bestätigt sich das jedoch nicht: bei aller Verwandtschaft gehören sie zu einem anderen Zyklus. J. 26/61 b (Abb. 2): Sechseck mit nach rechts schreitendem (oder in Ausfallstellung stehendem) Mann mit Stoßlanze im Kampf mit einem nach rechts stehenden Löwen, der den Kopf zurückgewendet hat (gr. Dm. 30X17 cm). J. 26/61 c (Abb. 3): Sechseck mit affrontierten Pfauen, links Rest eines Achtpasses, von dessen Füllung nichts erhalten ist (gr. Dm. 39X15,3 cm). J. 26/61 a (Abb. 4): Linke H ä l f t e eines Sechsecks mit affrontierten Hasen vor R a n 149

1

FATIMIDISCHE HOLZSCHNITZEREI.

K A I R O , M U S E U M OF I S L A M I C

CULTURE

ken; unten Leiste mit in Arabeskblattpaaren und Dreiblättern intermittierender Ranke (gr. Dm. 22X14 cm). Die Komposition von Abb. 2 und 3 ist offenbar die gleiche wie bei den Qalaunfriesen, also im H a u p t f e l d Wechsel von queroblongen Sechsecken und Achtpässen mit figürlichem Dekor vor Rankengrund, doch fehlen die oben und unten rahmenden Rankenfriese. Dementsprechend sind die Bretter 17 statt 30 cm hoch. Diese geringere H ö h e ergibt sich aber nicht nur durch das Fehlen der Friese, auch der Hauptstreifen ist etwa 2iU cm niedriger als dort. Diese abweichenden Maße beweisen, daß die Berliner Bretter zu einem anderen Zyklus gehören. Das dritte Brett (Abb. 4) zeigt unten eine Leiste von gleicher Zeichnung wie die Qalaunfriese, war aber, nimmt man eine entsprechende Leiste oben an, intakt nur 20-22 cm hoch, also auch von wesentlich kleinerem Format, wenn auch einige cm höher als die beiden anderen Bretter. Damit ergibt sich die Frage, ob die drei Berliner Fragmente zu demselben Zyklus gehören. Für Abb. 2 und 3 ist es anzunehmen. Abb. 4 könnte aus anderem Zusammenhang stammen, wobei allerdings merkwürdig wäre, daß Abb. 4 und 2 wiederverwendete Bretter einer und derselben älteren Verschalung sind. Beide zeigen nämlich auf der Rückseite plastische Knäufe von 2 cm H ö h e und 9,5 cm Durchmesser in der Form einer sechsstrahligen Wirbelrosette mit Spuren mehrfacher, in der obersten Schicht dunkelroter Bemalung. Zwingende Schlüsse ergeben sich daraus nicht, denn die älteren Bretter können ja auch f ü r zwei verschiedene Friese späterer Zeit verwendet worden sein. Stilistische Untersuchungen helfen nicht weiter. Allenfalls könnte man darauf hinweisen, daß die Berliner Schnitzereien - jedenfalls die Löwenkampfgruppe - weniger 2

F A T I M I D I S C H E H O L Z S C H N I T Z E R E I . B E R L I N , S T A A T L I C H E M U S E E N , ISLAMISCHE A B T E I LUNG I. 2 6 / 6 1 b

150

flächig sind als die Qalaunfriese und Details (z. B. Falten) angeben, die dort fehlen. Der Rankenfries von Abb. 4 andererseits ist nicht so reich detailliert wie dort und erinnert in seiner kompakteren Füllung des Grundes an den Schrägschnittstil der vorfatimidischen Zeit. Aber auch da ist Vorsicht geboten, kann es sich doch um die Arbeit eines geringeren, noch stärker der älteren stilistischen Richtung verhafteten Schnitzers handeln. So läßt sich nur so viel sagen: die drei Berliner Bretter gehören zu zwei Friesen, die in Komposition und Stil dem berühmten Zyklus aus dem Maristan des Sultans Qalaun nahestehen und wie dieser in der Mitte des 11. Jahrhunderts entstanden sind. Postscriptum

(im

Frühjahr

1964

vom

Autor

hinzugefügt):

Die

Angabe

der

Provenienz dieser Friese aus dem Maristan des Sultans Qalaun ist, obwohl sie sich

3, 4 151

FATIMIDISCHE

HOLZSCHNITZEREIEN.

A B T E I L U N G I . 2 6 / 6 1 c UND I . 2 6 / 6 1 a

BERLIN,

STAATLICHE

MUSEEN,

ISLAMISCHE

auch im Katalog des Kairener Museums findet10, nicht richtig. Sieben der Bretter wurden 1911 von Max Herz-Pacha bei Ausbesserungsarbeiten in dem dem Qalaun-Komplex benachbarten Mausoleum des Sultans an-Nasir Mohammed gefunden, wo sie am Kuppelansatz mit der Bildseite nach innen vermauert waren H e r z Pacha gibt ihre Höhe mit 30 cm, ihre Länge mit 310-425 cm an. Sie wurden damals in das Musée Arabe geschafft, wo sie sich noch heute befinden 1 2 . Im Maristan des Qalaun kamen nach ihm kurz darauf drei weitere Bretter zum Vorschein, bei denen die Figuren nur in der Bosse stehen, das heute verlorene Relief also gesondert gearbeitet und aufgenagelt worden ist. Trotz der Differenz der Maßangaben müssen sie identisch sein mit den bei Pauty auf Tafel L I X unter N r . 3196, 4134 und 4135 wiedergegebenen Stücken 13 . Schon 1877 hatte Prisse d'Avennes vier Friese aus dem Maristan des Qalaun publiziert 1 4 . Zwei von ihnen zeigen in den Sechsecken Gruppen von je zwei Musikanten oder Tänzern. Die Maße sind nicht angegeben und die Aquarelle, nach denen die Tafel hergestellt ist, sind unzuverlässig. Die Stücke scheinen aber mit keinem der heute im Museum befindlichen Bretter identisch zu sein. Ganz sicher ist das bei den beiden anderen von Prisse d'Avennes gezeichneten Friesen der Fall, auf denen ein bogenschießender Kentaur zwischen zwei Antilopen dargestellt ist, ein Motiv, das unter dem im Museum erhaltenen Material nirgends vorkommt. Zwei weitere verwandte, aber nicht zugehörige Bretter aus der Kapelle des Nonnenklosters Deir al Banat sind heute im Koptischen Museum von Kairo 1 5 . Beide sind kleinfiguriger als die Bretter der Hauptgruppe. Das eine 16 zeigt in den queroblongen Feldern einen Elefanten, zwei Kamele und einen Mann, der ein gesatteltes Pferd führt, das andere 1 7 einen Seiltänzer zwischen zwei hockenden Musikanten und einen Akrobaten im H a n d stand zwischen zwei stehenden Musikanten. Sie sind stilistisch und in der Größe der Figuren so verschieden, daß sie nicht zu einem Fries gehört haben können. Die heute in Kairo vorhandenen Schnitzereien dieser Art verteilen sich also auf mindestens vier verschiedene Friese, von denen aber keiner mit dem oder den beiden Friesen der drei Berliner Stücke identisch ist.

ANMERKUNGEN

1 E. Pauty,

Catalogue

du Musée

Arabe:

Les Bois sculptés

jusqu'à

l'époque

ayyoubide,

Le

Caire

1931, S. 30 ff. 2 Das. S.

1-29.

3 ]. David-Weill, 4 Zur

Bois à épigraphes

Figurendarstellung

von K. A. C. Creswell, 1946, S. m

(Epoques

in der islamischen The Lawfulness XX1X-XL11I.

6 A. Anm. 1 a. O., Tafel

XLVI-LXI.

findet

8 Die besten Louvre

und

Kunst

et Ottomane),

vgl.

of painting

Le Caire

die ausgezeichnete

in early

Islam,

1936. Zusammenstellung

Ars Islamica,

Bd.

XIIXII,

ff.

5 A. Anm. 1 a. O., Tafel 7 Zweimal

Mamlouke

sich auch nur eine Figur als

Beispiele

sind die vier Leisten

Füllung. der Sammlung

Figdor

in Berlin,

ähnliche

Stücke

im

Bargello.

9 A. A. Pavlovsky,

Paintings

1890; R. Ettinghausen,

from

Painting

the Palatine

in the Fatimid

Chapel period:

in Palermo a reconstruction,

(russisch),

St.

Ars Islamica

Petersburg IX,

1942,

S. 112 ff.; U. Monneret de Villard, Le pitture musulmane in Palermo, Roma 1950. 10 E. Pauty a. Anm. 1 a. O., Taf. XLVI, XLVII und LIX.

al soffitto

della

Cappella

Palatina

11 Max Herz-Pacha »Boiseries fatimites aux sculptures figúrales«. Orientalisches Archiv III, 1912/13, S. 169-174. (S. a. ders. »Die Baugruppe des Sultans Qualäün in Kairo«, Hamburg 1919, S. 44, wo er allerdings das Fundjahr mit 1909 und als Fundort den Qaläün-Bau angibt.) 12 Dort sind heute zehn Bretter, bei denen sich an Hand der Literatur nicht feststellen läßt, welches die sieben von Herz-Pacha gefundenen sind. a. Anm. 11 a.O. gibt die Höhe mit 52 bzw. 32 cm an, Pauty hat die Höhen 13 Herz-Pacha 42 und 35 cm. 14 »L'Art arabe d'après les monuments du Kaire«, Paris 1877, Taf. S3. Danach die Abb. 46, 47 bei St. Lane-Poole »The Art of the Saracens in Egypt«, London 1886 und Abb. 89 A. Gayet »L'Art arabe«, Paris 1893. Zusammenfassend K. A. C. Creswell »Fragments of carved woodwork from the lesser, or Western Fatimid Palace« in »The Architecture of Egypt« I, Oxford 1952, S. 128 ff. 15 Abb. erstmalig bei Herz Pacha a. Anm. 11 a. O., Tafel XXIX, No. 18119. S. a. M. H. Pasha »A Brief Guide to the Coptic Museum«, Cairo 1938, Taf. XXXIII. 16 No. 836 Taf. XXXIII B: 100 X 20 cm. 17 No. 835 Taf. XXXIIIA: 132 X 23 cm. 18 Herz-Pacha schreibt a. Anm. 11 a. O. S. 173 »II faut supposer que de telles frises étaient un moyen de décoration usité dans les demeures riches de l'époque.« Photos:

Abb. 1 Dr'àyer, Zurich; Abb. 2-4

Erdmann.

Simaika

sculptées

DIETRICH KÖTZSCHE • EINE ROMANISCHE

GRUBENSCHMELZPLATTE

AUS D E M B E R L I N E R K U N S T G E W E R B E M U S E U M

1 Unter den zahlreichen Fragmenten rheinischer und maasländischer Goldschmiedearbeiten des 12. Jahrhunderts, die bis 1945 im Besitz des Kunstgewerbemuseums zu Berlin waren und seitdem verschollen sind, befand sich eine 8,5 X 11 cm große Grubenschmelzplatte, die durch ihre figurenreiche Darstellung auffällt 1 (Abb. 1). Sie zeigt mehrere Szenen nebeneinander: In der Mitte Christus am Kreuz mit Sol und Luna sowie Maria und Johannes, die beide zur Rechten des H e r r n stehen; auf der rechten Seite zwei Frauen und der Engel am Grabe; auf der linken Seite die Erscheinung des H e r r n vor Maria Magdalena: Christus hält in der Linken ein breites Spruchband mit der zweizeiligen Aufschrift N O L I ME • TANG(ere) N O N D V ( m enim) • ASC(en)D(i ad patrem meum) (Joh. 20,17); zwischen Kreuz und Grabesengel steht ein heiliger Ritter mit Schild und Märtyrerpalme, auf einem vertikalen Schriftband neben dem Kreuzesstamm S. FERR V C I V S benannt; vor dem Sarkophag liegt zum Kreuz hin ausgestreckt ein Mönch, auf dem Rücken sein N a m e W O L P O (Wolpero). Vor mehrfarbigem, ohne Zwischenstege abgestuftem Schmelzgrund sind Figuren, Schriftbänder und tabula ansata ausgespart und vergoldet, Binnenzeichnung und Buchstaben graviert und emailliert. Mehrere Farbtöne sind am Sarkophag, an der Bodenwelle davor und an den Flügeln des Engels zu erkennen; einfarbig sind Kreuz, Nimben und übriges Beiwerk; verschiedene und getrennte Farbzonen hat der Schild 2 .

Die Platte wird an den Kanten von einem glatten Steg unregelmäßiger Stärke gefaßt, nur die untere Längskante verziert außerdem ein Perlstab. Mehrfach ist die Vergoldung stark abgerieben, der Schmelz von Rissen und Schrammen beschädigt, kleinere Stücke sind abgesprungen, in jeder Ecke eine Befestigungsöse. Das Email kam 1917 mit anderen Goldschmiedearbeiten aus der Sammlung des Prinzen Friedrich Leopold von Preußen in das Berliner Kunstgewerbemuseum 3 . Damals war es einem kleinen Limousiner Reliquienschrein an Stelle der fehlenden Rückwand eingefügt 4 , eine Montage, wie sie der Kunsthandel des 19. Jahrhunderts häufig hervorgebracht hat. Weitere Provenienzen sind nicht mehr zu ermitteln 5 . Später hat man die Platte von dem Schrein wieder abgenommen und getrennt aufbewahrt. D a nur an der unteren Kante der Platte ein Perlstab vorhanden ist, liegt es jedoch von vornherein nahe, daß sie einem größeren Zusammenhang entstammen wird. Eine spätere Veränderung des Rahmens hätte deutliche Spuren hinterlassen. Obwohl Adolph Goldschmidt bereits 1904 auf diese »hervorragend schöne Platte« aufmerksam gemacht und ihren künstlerischen Rang hervorgehoben hat, ist sie kaum weiter beachtet worden und auch unveröffentlicht geblieben 6 . A. Goldschmidt erwähnt sie im Zusammenhang mit dem aus St. Andreas in Köln stammenden sog. Tragaltar der ehem. Sammlung Hüpsch, jetzt im Hessischen Landesmuseum zu Darmstadt 7 . In der Widmungsinschrift nennt sich dort ein Wolbero ohne nähere Bezeichnung. O t t o v. Falke glaubte in ihm den gleichnamigen Abt von St. Pantaleon in Köln (1147-1167) wiederzuerkennen, der dem Kloster seit 1117 als frater und seit 1141 als custos angehört hatte; deshalb nahm er die Entstehungszeit des Wolbero-Tragaltares, da der Stifter keinen Titel trägt, vor 1141 an und wies ihn »Eilbertus Coloniensis« als Frühwerk zu 8 . A. Goldschmidt vermutete nun in der Berliner Einzelplatte eine zweite Stiftung »desselben Mannes«, denn der ohne Zeichen oder Angabe eines Ranges dargestellte Mönch Wolpero sei mit dem Kölner Abt identisch 9 , die etwas veränderte Form des Namens spreche nicht dagegen. D a n n könne das Email aber nur vor 1141 entstanden sein, wenn man O . v. Falke folgen wolle, »daß der bloße N a m e f ü r den noch amtslosen frater spricht«. Das bleibe jedoch zweifelhaft, schränkte A. Goldschmidt schließlich ein, weil der Figurenstil »schon den Fridericus-Werken sehr nahe« komme 10 ; diese Frage wurde von ihm dann aber nicht weiter erörtert 11 . Fünfzig Jahre später hat Hanns Swarzenski 12 die Wolpero-Platte noch einmal beiläufig genannt und eine stilistische Verwandtschaft zum Andreaskasten in St. Servatius zu Siegburg festgestellt 13 . Doch kann ich bei beiden Arbeiten keine Gemeinsamkeiten sehen 14 . Wenn der N a m e Wolbero auch in zahlreichen Varianten zu belegen ist, darunter Wolpero, und beide Schreibweisen sich durchaus auf dieselbe Person beziehen können, so ist gerade wegen der Häufigkeit des Namens 1 5 die Identität des Mönches der Berliner Platte mit dem Kölner Abt keine Notwendigkeit. Das gilt in gleicher Weise f ü r den Tragaltar in Darmstadt 1 0 , so daß auf eine erneute Untersuchung dieses Werkes hier verzichtet werden darf. Für die H e r k u n f t der Wolpero-Platte ergibt sich ein anderer Weg. A. Goldschmidt hat

bereits den wichtigsten Hinweis gegeben, ohne seiner Vermutung damals weiter nachzugehen. Der hl. Märtyrer, der rechts neben dem Kreuz steht und ausdrücklich als St. Ferrutius bezeichnet ist, »läßt darauf schließen, daß es sich um den Rest einer Stiftung für das Benediktinerkloster Bleidenstadt handelt« 17 . 2 St. Ferrutius in Bleidenstadt am Taunus, nordwestlich von Wiesbaden, gilt als das älteste und bedeutendste Kloster in Nassau, nach der Tradition eine Gründung Erzbischofs Lullus von Mainz (758-786). Dieser ließ die Reliquien des hl. Ferrutius, eines Märtyrers der diokletianischen Verfolgung, in Kastel gegenüber Mainz erheben und überführte sie nach Bleidenstadt. Eine Weihe des Klosters ist erst für 812 durch Erzbischof Richulf von Mainz (787-813) bezeugt. Nach sehr wechselvoller Geschichte, mehrmaliger Zerstörung und Wiederherstellung von Kirche und Klostergebäuden, allmählichem Niedergang am Ende des Mittelalters, wurde die Abtei, seit 1495 weltliches Ritterstift, 1

E H E M . B E R L I N , K U N S T G E W E R B E M U S E U M , G R U B E N S C H M E L Z P L A T T E MIT K R E U Z I G U N G , FRAUEN

AM

GRABE

UND

NOLI

ME

TANGERE

IJ 6

im 30jährigen Krieg völlig vernichtet, d a n n noch einmal wiedererrichtet u n d 1803 endgültig aufgehoben 1 8 . D i e Ferrutius-Verehrung beschränkte sich z w a r nicht ausschließlich auf Bleidenstadt, aber die T a u n u s a b t e i scheint immer der H a u p t o r t seines Kultes gewesen zu sein 19 . D a m i t erhält A. Goldschmidts H i n w e i s um so mehr Gewicht, denn n u r f ü r wenige romanische Schmelzarbeiten ist eine mittelrheinische H e r k u n f t gesichert 20 , vor allem aber, weil der einzige noch v o r h a n d e n e , kunstgeschichtlich bedeutende Gegenstand des ehemals w o h l sehr reichen mittelalterlichen I n v e n t a r s der Ferrutius-Abtei gerade ein E m a i l w e r k ist, der Vorderdeckel des sog. C o d e x Blidenstatensis, jetzt in der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin Ms. Lat. q u a r t . 651 2 1 (Abb. 2 u. 3). Sein Schmuck blieb n u r fragmentarisch erhalten 2 2 . Der Kantenbeschlag aus vergoldetem K u p f e r b l e c h h a t gestanzte P f l a n z e n o r n a m e n t e aus vier rosettenartig angeordneten, eingeschlagenen A k a n t h u s b l ä t t e r n ; einige Stücke d a v o n sind abgebrochen 2 3 . In der M i t t e der Außenseite des Deckels ist ein a n n ä h e r n d quadratisches Feld in unregelmäßiger Tiefe 157

2

B E R L I N , D T . STAATSBIBL., B L E I D E N S T Ä D T E R C O D E X , V O R D E R D E C K E L ,

DETAIL

ausgespart 24 , darüber eine ungefähr gleich breite, querrechteckige Grubenschmelzplatte mit der Darstellung der Majestas Domini, flankiert von zwei Cherubim. Ihr muß unten ein gleich großes Email entsprochen haben, das heute am Einband fehlt. Den breiten Mittelteil des Dedcels rahmten beiderseits durchgehende, schmale Grubenschmelzplatten, von denen jetzt nur noch die rechte vorhanden ist, darauf Brustbilder von sechs Aposteln übereinander; sie werden untereinander getrennt durch schmale Streifen mit ihren N a m e n : PAVLVS, IACOB(us), M A T H E V S , P H I L I P P V S , T H O M A S , S Y M O N ; an den Enden die Symbole zweier Evangelisten in Halbfigur mit Schriftbändern, oben MATHEV(s): U B E R GEN(erationis), unten LVCAS: F V I T I N DIEB(us) 25 . Die Wolpero-Platte des Berliner Kunstgewerbemuseums mit der Darstellung des hl. Ferrutius kann ursprünglich nur zu diesem Einband aus St. Ferrutius in Bleidenstadt gehört haben (Abb. 4). Sie war der Majestasplatte gegenüber angebracht. Die Maße beider Emails stimmen überein; im Holzkern erkennt man deutlich die Nagellöcher, über die die Befestigungsösen in den Ecken der Kreuzigungsplatte genau passen; auch erlaubt der einzig an der unteren Kante vorhandene Perlstab nur diese Anbringung auf dem Einband. Für den rechten Apostelstreifen wäre dann ein entsprechender links zu ergänzen, auf dem die sechs übrigen und die fehlenden Evangelistensymbole dargestellt waren 26 . Unverkennbar stimmen Art und Farbigkeit der Schmelzarbeit überein, die A. Goldschmidt f ü r die Wolpero-Platte in einer knappen Beschreibung überliefert hat: »Die Figuren . . . sind in Vergoldung ausgespart, Grund und gegenständliches Inventar emailliert, und zwar in selten vielfarbigen und zarten Tönen, wie dreierlei verschiedenem Grau, Türkis, Gelbgrün, Gelb, wenig gelblichem Rot und Weiß. Das sonst so beliebte kräftige Blau fehlt ganz, auch die rosa fleischfarbene Emaillierung der an den Figuren eingravierten Zeichnung ist etwas Außergewöhnliches« 27 . Bei der Majestas sind die Figuren ebenfalls ausgespart und vergoldet, die Binnenzeichnung durchweg mattrot emailliert, manchmal in Weiß übergehend. Der Schmelzgrund ist taubengrau, innerhalb der Mandorla dreifach abgestuft in Blau, Taubengrau und Weiß, darin ausgesparte und vergoldete Metallsprenkel, die sich in den beiden Zwickeln am Fuß der Mandorla wiederfinden, dort auf hellblaugrauem Grund mit weißem Rand. Mandorla und Regenbogen haben gleichfalls dreifache Abstufung in Türkis, Hellgrün und Gelb, ebenso der Kreuznimbus mit Dunkelblau, Türkis und Weiß, das Kreuz dunkelgrün mit roten Tupfen. Besonders abwechslungsreich variiert sind je zwei Flügelpaare der Cherubim: verschiedenes Blau und Grün, Taubengrau, Gelb und Weiß. Etwas anders ist die Technik auf dem seitlichen Streifen, auch dort Köpfe und H ä n d e in Vergoldung ausgespart, ebenso die Schriftleisten und die Spruchbänder, die gravierte Binnenzeichnung wieder in Rot mit etwas Weiß. Nicht nur der Grund, sondern auch die Gewänder, Nimben und Gegenstände sind überall emailliert, in meistens zwei, seltener drei Farbtönen und stets in so abwechslungsreicher Kombination, daß jegliche Wiederholung einer Abstufung vermieden ist. Verschiedene Variationen von Blau und Grün, dann Rot, Gelb, Türkis, dreierlei Grau und schließlich Weiß ergeben eine lebhafte und helle Farbigkeit. Als Besonderheit erscheint das Lukas-Symbol sogar in Vollschmelz 28 .

Vielleicht ist gleichzeitig mit der unteren Emailplatte auch das Mittelstück vom Buchdeckel abhandengekommen, dessen G r ö ß e von der Vertiefung bestimmt wird, und von dem auch bekannt ist, aus welchem Material es gearbeitet war. A. F. K i p k e hat auf ein am 7. J u n i 1651 im Auftrage des im Bleidenstädter H o f zu Mainz tagenden G e n e r a l kapitels des Ferrutiusstiftes angefertigtes Verzeichnis aller an diesem T a g e in der Registratur zu Bleidenstadt gefundenen Gegenstände aufmerksam gemacht 2 9 . U n t e r den Büchern, die den 30jährigen K r i e g und den B r a n d des Klosters überdauert hatten, befand sich auch »Ein sehr alt buch von pergameno, ausswendig altfrenckisch teilst mit helifenbein, teilst mit Überglasur versetzt« 3 0 . Es handelt sich hier »ohne Zweifel um den C o d e x Blidenstatensis« 3 1 . O b w o h l die Beschreibung nicht ausführlicher auf den Zustand des Einbandes eingeht, läßt der W o r t l a u t der N o t i z immerhin die Möglichkeit offen, daß die K r e u z i gungsplatte und auch der linke Apostelstreifen damals noch mit dem Deckel verbunden

159

3

BERLIN,

DEUTSCHE

STAATSBIBLIOTHEK,

CODEX,

VORDERDECKEL

4

BLEIDENSTÄDTER CODEX, VORDERDECKEL,

Ms.

LAT.

QUART.

REKONSTRUKTION

651,

BLEIDENSTÄDTER

w a r e n . In der H o l z p l a t t e sichtbare Nagellöcher lassen z w a r d a r a u f schließen, d a ß das Elfenbeinrelief u n m i t t e l b a r m i t N ä g e l n auf dem E i n b a n d angebracht w a r ; doch gaben w o h l erst die e i n w ä r t s ü b e r k r a g e n d e n Emails zusätzlichen H a l t . Sonst h ä t t e m a n sie wahrscheinlich nicht eigens so angeordnet, d a ß sie die V e r t i e f u n g iiberfangen, wie die beiden noch v o r h a n d e n e n P l a t t e n zeigen. O h n e die zwei jetzt fehlenden Stücke bleibt es jedenfalls fraglich, ob das E l f e n b e i n ausreichend befestigt w a r . D a n n k ö n n t e der E i n b a n d 1651 n o d i vollständig gewesen sein 32 . D e r Z e i t p u n k t der Beschädigung l ä ß t sich z w a r nicht mehr genau ermitteln, aber m a n k a n n i h n möglicherweise eingrenzen. A m 24. Juli 1651 o r d n e t e das G e n e r a l kapitel an, der gesamte Bestand der 1631 in Bleidenstadt bei der Flucht der Stiftsherren v o r den schwedischen T r u p p e n zurückgebliebenen Archivalien u n d Bücher, v o n dem m a n damals nur einen Teil m i t g e n o m m e n hatte, solle nach M a i n z geholt w e r d e n . Archiv u n d Bibliothek, d a r u n t e r sicher auch der C o d e x , w u r d e n am 25. August 1651 im Bleidenstädter H o f zu M a i n z untergebracht. D o r t blieben sie, da die Stiftsherren t r o t z eines W i e d e r a u f b a u s v o n Kirche u n d Kloster nicht wieder nach Bleidenstadt zurückkehrten, in den nächsten J a h r z e h n t e n in so sorgsamer V e r w a h r u n g , d a ß w ä h r e n d dieser Zeit an eine Beschädigung k a u m zu denken ist. V o r den französischen R e v o l u t i o n s t r u p p e n , die am 4. O k t o b e r 1792 M a i n z besetzten, floh das F e r r u t i u s - K a p i t e l nach Aschaffenburg, w o h i n es einen Teil des Archivs m i t n a h m , ein anderer soll in das Franziskanerkloster zu W ü r z b u r g gekommen sein. N a c h der A u f h e b u n g des Stiftes 1803 gingen der in W ü r z b u r g lagernde Bestand u n d später auch der Aschaffenburger Teil an N a s s a u über 3 3 . Es ist nicht ganz zu klären, ob die Stiftsherren bei der Flucht aus M a i n z 1792 das Archiv vollständig bergen k o n n t e n , oder ob sie auch Archivalien b z w . Bücher in M a i n z

zurücklassen

m u ß t e n ; so ist der Verbleib des C o d e x seit 1792 u n g e w i ß . Erst 1851 n o t i e r t J . F. Böhmer, d a ß sich die H a n d s c h r i f t »mit emailliertem D e c k e l . . . zu W i r z b u r g im Archiv« befindet 3 4 u n d w i e d e r h o l t 1868 denselben A u f b e w a h r u n g s o r t 3 5 , doch ohne genauere A n g a b e n über den E i n b a n d . Spätestens seit 1874 ist der C o d e x im ehem. Reichsarchiv in München. Eine in diesem J a h r e angefertigte Beschreibung gibt schon den gegenwärtigen Z u s t a n d des Deckels wieder 3 6 . Aus München k a m die H a n d s c h r i f t 1913 in die Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin, w o sie auch heute a u f b e w a h r t wird 3 7 . F ü r den Verlust des Elfenbeinreliefs u n d w o h l auch der Emails bleiben mit einiger Sicherheit n u r die J a h r e zwischen 1792 u n d 1874. Wahrscheinlich w a r e n sie aber schon nicht m e h r v o r h a n d e n , als der C o d e x in das W ü r z b u r g e r Archiv k a m , also v o r 1851 38 . 3 D i e H a n d s c h r i f t k a n n weiteren Aufschluß über den E i n b a n d geben 39 . Sie enthält das N e c r o l o g i u m Blidenstatense 4 0 m i t einem Liber confraternitatis 4 1 , sowie weitere A u f zeichnungen historischen I n h a l t s v o m 12. bis z u m 17. J a h r h u n d e r t , die alle Bleidenstadt betreffen 4 2 . Die siebenmalige E r w ä h n u n g eines nicht n ä h e r bezeichneten W o l b e r o im Liber conf r a t e r n i t a t i s oder Liber vitae Blidenstatensis 4 3 besagt wenig, da es sich hier sowohl u m gleichnamige Personen, als auch u m die mehrmalige N e n n u n g eines besonders verdienst-

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vollen Mannes handeln kann, wie es in Verbrüderungsbüchern nicht ungewöhnlich ist. Hingegen findet sich im Necrologium auf Seite 20 zum 6. Januar die Eintragung: „O(biit) Wolbero pr(esbyter) et m(onachus) n(ostrae) • co(ngregationis) 4 4 ." Es liegt nahe, in diesem Priester und Mönch Wolbero, Angehörigen der Benediktinerabtei Bleidenstadt, das sagt der Eintrag deutlich, den auf der Kreuzigungsplatte dargestellten und genannten Wolpero wiederzuerkennen, als den Stifter der Goldschmiedearbeit des Einbandes 45 ; die abweichende Schreibweise hindert hieran nicht 46 . Die Vermutung einer Identität mit dem Kölner Abt könnte dann aufgegeben werden 47 . D a Nekrologeintragungen wohl den Todestag oder den Tag des Totengedächtnisses angeben, nicht aber das Sterbejahr des Genannten, ist von hier aus f ü r eine Datierung des Buchdeckels noch nicht viel gewonnen. Die Mönchstracht, in der Wolpero erscheint, führt vielleicht einen Schritt weiter. Er trägt die knöchellange kluniazensische Skapulierkukulle »faronischen« Typs, hier mit fünffacher, seitlicher Ligatur. Sie ist, wie K. Hallinger dargelegt hat 48 , im Zusammenhang mit der Ausbildung der Duplex vestis der Mönche von Kluny, aus der ursprünglich als Arbeitskleidung getragenen anianischen Skapulierkukulle, die bis zu den Knien reichte 40 , durch Verlängerung bis zu den Knöcheln entstanden. Man findet sie ausschließlich in den Klöstern, die sich seit der Mitte des 11. Jahrhunderts und besonders im 12. Jahrhundert in Gegensatz zur Gorzer Formung gestellt und der jungkluniazensischen Richtung angeschlossen hatten 50 . Bei der Ausbreitung dieser Reformbestrebungen auf deutschem Boden war neben Anchin, St. Blasien, Siegburg, besonders Hirsau führend 5 1 . Für Bleidenstadt findet das Auftreten dieser verhältnismäßig selten dargestellten Mönchsgev/andung 52 eine besondere Erklärung in den Reformbeziehungen der Ferrutius-Abtei. Seit der Jahrtausendwende läßt sich, wahrscheinlich in Verbindung mit der Erneuerung des Klosters durch Erzbischof Willigis von Mainz, die Zugehörigkeit der Bleidenstädter Äbte zum Kreis von Gorze erkennen 53 , was wohl auch bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts so blieb 54 . Der seit 1139 bis 1156 bekannte, vielleicht aber noch länger residierende Abt Baldemar von Bleidenstadt kam aus Lorsch, dem er bis 1141/42 gleichzeitig als Abt vorstand 55 . Dort hielt man bis in die zweite H ä l f t e des 12. Jahrhunderts hinein streng am eigenen »Ordo Gorziensis« fest 50 und begegnete kluniazensischer Kleiderordnung stets mit scharfer Ablehnung 57 . Baldemars Nachfolger in Bleidenstadt, Abt Heinrich (nach 1156 bis um 1184) aber kam aus Hirsau 5 8 . Da Baldemar 1156 bestimmt noch Abt von Bleidenstadt war, andererseits aber nicht sicher ist, wann Abt Heinrich ihm nachfolgte, wäre dieses Jahr ein terminus post quem f ü r den Einband, dessen Entstehungszeit sich dann auch auf die Regierungszeit Abt Heinrichs im Ganzen ausdehnen läßt 59 .

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Für die Verbindung der undatierten Wolbero-Eintragung mit dem dargestellten und gleichnamigen Mönch bleibt die Datierung der Handschrift und der Zeitpunkt der Anlage des Nekrologs wichtig, wenn das auch nur bedingt weiterführt, weil die Eintragungen, wie gewöhnlich in Nekrologen, nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgten, sondern über längere Zeit. Während die ältere Forschung die Anlage des Nekrologs in das 12. Jahrhundert datierte 60 , trat Kipke neuerdings für die 1. H ä l f t e des 11. Jahrhunderts ein 61 und nahm zudem eine Entstehung der Handschrift in Süddeutschland an 82 .

Sie enthält 77 Pergamentblätter, von denen Seite 1 bis 144 illuminiert sind. Die Ausstattung besteht durchgehend auf allen 144 Seiten und übereinstimmend aus einer dreifachen Bogenstellung, die sich jeweils über das ganze Blatt erstreckt. Vier schlanke Säulen, oben durch flache R u n d b o g e n verbunden, teilen die Fläche in drei schmale Spalten f ü r die Aufzeichnungen, eine Einrichtung, wie sie bei Nekrologien und Verbrüderungsbüchern üblich ist, sofern diese Buchschmuck haben; die Zahl der Kolumnen kann dabei wechseln. Basen und Kapitelle sind von den Säulen überwiegend durch einen dreifachen Wulstring mit stärkerem Mittelteil abgesetzt, o f t wachsen die Kapitelle auch unmittelbar aus den Säulen wie Blattkelche hervor. Die Basen haben als Schmuck reich variiertes Blattwerk oder verschiedene Tierformen, wie Vogelköpfe, Fische, H u n d e und Fabelwesen, dann menschliche Gesichter im Profil und en face oder ganze Figuren, kniend und hockend. Die Bogenzwickel sind bis zur Scheitelhöhe der Bögen farbig ausgefüllt, so daß sich oben ein horizontaler Abschluß ergibt; in den Zwickeln Vögel, einzeln oder in gegenständigen Paaren, Fische oder verschiedene Blattformen. Die H a u p t f a r b e n sind Blau, Grün und Gelb, die Zeichnung allgemein in brauner, an den Kapitellen manchmal in roter Feder. Die Malereien vertreten nur recht bescheidenen künstlerischen Anspruch und zeigen in den Einzelheiten kaum bemerkenswerte Besonderheiten. Die Blattformen an Basen, Kapitellen und Bogenzwickeln, die Tiermotive und die menschlichen Köpfe, auch Aufbau und Gliederung der Arkaden lassen aber keinen Zweifel, daß der Buchschmuck der Handschrift nur dem 12. Jahrhundert angehören kann. Ganz allgemein sind zwar viele Einzelformen und auch die Zeichenweise um die Jahrhundertmitte und noch weit in die zweite H ä l f t e hinein in zahlreichen Abwandlungen zu belegen, doch wird man wegen der Provenienz in erster Linie unter mittelrheinischen Handschriften nach Vergleichbarem suchen. Im Detail hat die Ornamentik des Bleidenstädter Codex auch große Ähnlichkeit in den Motiven und im Stil mit einigen Handschriften aus Mainz, Maria Laach und Arnstein 63 . Diese sind alle um oder nach der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden und in ihrer freilich bedeutenderen Qualität unserem Codex nur mit einigem Abstand an die Seite zu stellen. Dennoch gehen diese Beziehungen über den allgemeinen Formenschatz des 12. Jahrhunderts soweit hinaus, daß schon an einen engeren Zusammenhang gedacht werden darf. Für eine Lokalisierung wird man jedenfalls kaum über den mittelrheinischen Bereich hinausgehen können, für eine Datierung bleibt eher die Zeit nach der Mitte des 12. Jahrhunderts als die erste Jahrhunderthälfte 8 4 . Das bestätigt der paläographische Befund, dessen Beurteilung Bernhard Bischoff verdankt wird 65 . Es ergibt sich aus dem Charakter der Schrift, - wenn man von den späteren Einträgen absieht, da sie f ü r unsere Frage unwichtig sind - , daß die Anlage des Nekrologs und die ersten Eintragungen nicht vor der Jahrhundertmitte erfolgten, sondern erst im Verlauf der zweiten H ä l f t e des 12. Jahrhunderts, ohne daß ein Jahrzehnt genauer festzulegen wäre. Die erste Schicht zeigt die H a n d desselben Scriptors. Man kann wegen des übereinstimmenden und gleichmäßigen Duktus annehmen, daß ein älterer Nekrolog vorgelegen hat, aus dem zahlreiche Eintragungen in den neubegonnenen übernommen wurden. Dabei handelt es sich in einigen Fällen um N a m e n anderweitig nachweisbarer Per-

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sonen, besonders Bleidenstädter Äbte des 11. und der ersten H ä l f t e des 12. Jahrhunderts, die von K. Hallinger und A. F. Kipke identifiziert werden konnten 86 . Kipke schloß deshalb auf eine Anlage des Nekrologs im 11. Jahrhundert und hielt die Übernahme von Teilen eines älteren für ausgeschlossen 67 . Dem widerspricht die malerische Ausstattung und nach B. Bischoff die mögliche Datierung der ältesten Schicht der Schrift 68 . Abgesehen davon w ä r e die Übernahme älterer Nekrologe in neuangelegte nichts Ungewöhnliches. Einer Identifizierung des dargestellten Mönches Wolpero mit »Wolbero presbyter et monachus« widerspricht weder der kunstgeschichtliche noch der paläographische Befund der H a n d schrift 69 . Unabhängig davon bleibt zu fragen, ob Nekrolog und Einband von Anbeginn zusammengehörten. Wegen der großen Bedeutung, die Nekrologe für ein Kloster hatten, wäre seine besondere Ausstattung durchaus denkbar; ein vergleichbares Beispiel ist mir freilich nicht bekanntgeworden. Eher möchte man annehmen, daß der Einband ursprünglich für ein liturgisches Buch bestimmt war, worauf vor allem das ikonographische Programm hindeutet. Wenn man die wechselhaften Verhältnisse in der Ferrutius-Abtei berücksichtigt und bedenkt, daß der Codex der einzige Überrest ihres mittelalterlichen Inventars ist, dann ist eine spätere Zusammenfügung von Handschrift und Einband w a h r scheinlich. Da beide aber für Bleidenstadt gesichert sind, steht dieses keineswegs einer Identität des Wolpero mit dem presbyter et monachus des Nekrologs entgegen. Mit dieser Rekonstruktion tritt der Bleidenstädter Buchdeckel an die erste Stelle unter den wenigen Emailwerken mittelrheinischer Provenienz. Damit ist erneut die Frage nach den Voraussetzungen seines Stils aufgeworfen, die nicht hier, sondern im Rhein-MaasGebiet zu suchen sind, wie bereits A. Boeckler und K. H . Usener angemerkt haben 70 . Die engen Beziehungen mittelrheinischer Buchmalerei zu mosanen Handschriften einerseits und zur kölnischen Goldschmiedekunst andererseits wurden neuerdings wieder besonders hervorgehoben 71 und erhalten nun durch den Nachweis der Zugehörigkeit der WolperoPlatte zum Bleidenstädter Buchdeckel für die Emailkunst am Mittelrhein ein besonderes Interesse 72 . ANMERKUNGEN

1 Inventar-Nr. 17,100. - Die Maßangabe nach der Eintragung im handschriftlichen Erwerbungsinventar des Kunstgewerbemuseums in Berlin. Die dort notierte flüchtige Beschreibung enthält daß die zwar viele Ungenauigkeiten, doch ergibt sich aus dem Verlauf der Untersuchung, Maße verläßlich angegeben sind. Freundliche Hilfe verdanke ich Frau Dr. Sabine Baumgärtner (München) und Herrn Rainer Kahsnitz (Rodenkirchen). Herr Direktor Dr. Arno Schoenberger (Berlin) bestätigte, daß die Emailplatte sich nicht unter den Beständen des Kunstgewerbemuseums in West-Berlin befindet. Nach Mitteilung von Frau Dr. Baumgärtner ist das Stück im Ostberliner Teil der Sammlung auch nach dessen Rückkehr 1958 nicht wiedergefunden worden. 2 Im Erwerbungsinventar nur die Angaben »taubengrau« für den Grund, »braun« für die Binnenzeichnung. 3 Lt. Erwerbungsinventar: »Ankauf der Leihgaben Sr. Kgl. Hoheit des Prinzen Friedrich Leopold«, insgesamt 38 Gegenstände, Bronzen und Emailarbeiten, die vorher schon längere

4 5

6

7 8

Zeit im Berliner Kunstgewerbemuseum ausgestellt waren. Vgl. Amtl. Ber. a. d. Kgl. Kunstslgen X X X I X , Berlin 1917118, Sp. 30. Inventar-Nr. 17,99. Vgl. Eintrag im Erwerbungsinventar. Ob Prinz Friedrich Leopold den Limoges-Schrein mit der Emailplatte selbst erworben hat, oder ob er schon zur Slg. seines Vaters, des Prinzen Friedrich Karl v. Preußen gehörte, bleibt unklar; vgl. Anm. 6. A. Goldschmidt, Besprechung von: O. v. Falke und H. Frauberger, Deutsche Schmelzarbeiten des Mittelalters und andere Kunstwerke der kunsthistorischen Ausstellung zu Düsseldorf 1902. Frankfurt a. M. 1904, in: Repertorium f . Kunstwiss. 27, 1904, 159 f., mit der Angabe »Sammlung des Prinzen Friedrich Karl«. Inventar-Nr. Kg 34 : 231 (alte Nr. 743). O. v. Falke, Eilbertus Coloniensis, in: Beiträge zur Kunstgeschichte, Franz Wickhoff gewidmet. Wien 1903, 30 f . - O. v. Falke u. H. Frauberger a. a. O., 25 f . - Später der Wolbero-Tragaltar bei v. Falke nicht mehr unter den Eilbert-Arbeiten, vgl. Der Weifenschatz. Hrsg. v. O. v. Falke, R. Schmidt und G. Swarzenski. Frankfurt a. M. 1930, 64.

9 Goldschmidt a. a. O., 159. 10 Goldschmidt a. a. O., 160. Gemeint ist die von O. v. Falke damals so bezeichnete »ältere Fridericus-Gruppe«, jetzt allgemein, nach dem Gregorius-Tragaltar in Siegburg als Hauptwerk, zutreffender unter dem Begriff »Gregoriusmeister« verstanden. 11 Im Anschluß an Goldschmidt hält B. C. Kreplin, Eilbertus, in: Thieme-Becker X, 417, die Wolpero-Platte, zwar ohne Bezug auf »Eilbertus Coloniensis«, aber neben dem Darmstädter Portatile ebenfalls für eine Stiftung des Abtes von St. Pantaleon. 12 H. Swarzenski, Monuments of Romanesque Art. London o.J. (1954), 75 Anmerkung zu Fig. 438. a. a. O., oder H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer. Die 13 Vgl. die Abb. bei H. Swarzenski Romanik. Düsseldorf o. J. (1959), Nr. 40, Taf. 159. 14 Außer den drei genannten findet sich - soweit ich sehe - in der einschlägigen Lit. keine weitere Erwähnung der Wolpero-Platte. 15 Vgl. Anm. 47. 16 Uber diesen zuletzt: E. Meyer, Goldschmiedekunst des 9. bis 13. Jahrhunderts, in: Zs. f . Kunstgesch. 10, 1942, 202 f . - (A. Boeckler) (Kat.) Ars Sacra, Kunst des frühen Mittelalters. München 1950, Nr. 311. - K. Degen, Führer des Hessischen Landesmuseums Darmstadt 2, Frühmittelalterliches Kunsthandwerk. Darmstadt o. ]. (1955), 26 f . - E. Steingräber, Email, in: RDK IV, 1958, 32. - R. Rückert, Eilbertus, in: NDB 4, 1959, 391. - H. Schnitzler, in: Die Sammlungen des Baron von Hüpsch; Kat. d. Ausst. Köln 1964, Nr. 23. 17 Goldschmidt a. a. O., 160. 18 A. F. Kipke, Die Abtei Bleidenstadt im Mittelalter. Phil. Diss. Mainz 1952 (Maschinenschr.; UB Mainz), dort die ältere Lit. (= Kipke, Diss.); vgl. Autorenreferat in: Nassauische Annalen 64, 1953, 121 f . Außerdem: A. F. Kipke, Gestalt und Wirken der Abtei Bleidenstadt im Mittelalter, in: Archiv f . mittelrhein. Kirchengesch. 6, 1954, 75 ff. (= Kipke, Archiv). Danach bes.: P. Acht, Bleidenstadt, in: LThK 2, 1958, 529. - G. Geisthardt, Bleidenstadt, in: Hdb. d. Hist. Stätten Deutschlands IV, Hessen. Stuttgart 1960, 51 f . - M. Backes u. H. Feldkeller, Kunstwanderungen in Hessen. Stuttgart o. J. (1962), 52. 19 Kipke, Diss., 10 ff., 34 ff. (dort Quellen u. ältere Lit.). Danach bes.: H.Büttner, Frühes fränkisches Christentum am Mittelrhein, in: Archiv f . mittelrhein. Kirchengesch. 3, 1951, 17 f . E. Ewig, Die ältesten Mainzer Patrozinien und die Frühgeschichte des Bistums Mainz, in: Das Erste Jahrtausend, Textbd.I. Düsseldorf o.J. (19632), 122.- A. Brück, in: LThK, IV i9603, 93. 20 Vgl. K. H. Usener, Ein Mainzer Reliquiar im Bayerischen Jb. d. Bild. Kunst (III. Folge) VIII, 1957, 57 ff.

Nationalmuseum,

in:

Münchener

21 ]. F. Böhmer, Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands III. Stuttgart 1853, XXXV, Nr. 13.-C. Will, Monumenta Blidenstatensia saec. IX.X&XI. Quellen zur Geschichte des Klosters Bleidenstadt. Innsbruck 1874, XIX (= Will). - F. Falk, Der heilige Ferrutius und sein Stift in Bleidenstadt, in: Nassovia 1,1881, Nr. 46. - Th. Schneider, Das Kloster Bleidenstadt, in: Religionsgeschichtliche Bilder aus Nassau. Stadt. Oberrealschule zu Wiesbaden. Jahresber. 1905/06. Wiesbaden 1906, 22. - M. ]. Husung, Bucheinbände aus der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin. Leipzig 1925, 5 f., Taf. VIII, Abb. 13 (Farbtaf.). - (Kat.) Jahrtausendausstellung der Rheinlande in Köln 1925, 155 Nr. 49.7. - A. Boeckler, Beiträge zur romanischen Kölner Buchmalerei, in: Mittelalterliche Handschriften (Degering-Festschrift). Leipzig 1926, 25. - G. Swarzenski, Aus dem Kunstkreis Heinrichs des Löwen, in: Städel-Jb. 718, 1932, 292 Anm. 92, 343 Anm. 179, 344 Anm. 184. - K. H. Usener, Kreuzigungsdarstellung in der mosanen Miniaturmalerei und Goldschmiedekunst, in: Revue beige d'archéologie et d'histoire de l'art IV, 1934, 203 Anm. 3. - K. H. Usener, Ein Mainzer R e l i q u i a r a . O., 57 f. u. Anm. 7, 63 Abb. 6 - Kipke, Diss., 4, 36. - Handschriften aus zwei Jahrtausenden. Deutsche Staatsbibliothek Berlin Mai-Juni 1956 (Ausstellungsverz.). je 1,5 cm. 22 Maße des Einbandes: H. 26,5 cm, Br. 17,2 cm, Stärke der Deckelplatten 23 Zwei lose Stücke auf der Innenseite des Vorderdeckels angeheftet, mit der Notiz »zur Decke des Bleistädter Necrologiums gehörig 12./IX. . . . (unleserlich) (Unterschrift)« (Schrift 19. Jh.?). - Zwei je etwa 2 cm lange Stücke der gleichen Stanze über die äußeren Ecken des Rückendeckels genagelt; sie gehörten ursprünglich nicht zum Vorderdeckel, da so große Stücke dort nicht fehlen, sondern zum Rückendeckel, dessen Kanten sicher ebenso mit Stanzen beschlagen waren. - Zwei etwa 8 X 10 mm große, halbrund ausgeschnittene Stücke der gleichen Stanze auf der Außenseite des Rückendeckels angenagelt, zur Befestigung der Lederbänder für die - heute verlorenen - Schließen. 24 Maße: H. 10 cm, Br. 11,5 cm, T. 0,2-0,4 cm. 25 Die Vergoldung bei der Majestasplatte nur geringfügig, in der unteren Hälfte des Apostelstreifens weitgehend abgerieben. Im Schmelzwerk der Majestasplatte zahlreiche Haarrisse, an allen Befestigungslöchern kleine Stücke abgeplatzt, mehrfach auch von der emaillierten Binnenzeichnung. 26 Husung a. a. O., 6, vermutete, ohne Kenntnis der Wolpero-Platte, daß der Majestas »mit größter Wahrscheinlichkeit« eine Kreuzigung entsprochen habe. 27 Goldschmidt

a. a. O., 160.

28 Die allgemein als »norddeutsche Methode« angesehene »Belebung des Schmelzgrundes durch Metallstifte« bei der Majestas hat bereits G. Swarzenski a. a. O. hervorgehoben. Hinzukommt der im 12. Jahrhundert außerhalb des Maasgebietes seltene Vollschmelz beim Lukas-Symbol. Damit nimmt der Bleidenstädter Einband in der Goldschmiedekunst des Rhein-Maas-Gebietes eine Sonderstellung ein. 29 Kipke, Diss., 4, 5. 30 Wiesbaden, Hauptstaatsarchiv, Abt. 14 Nr. I, 9 »In Registratura Pleidenstattensi gefunden den 7. Juny 1651«. - Kipke, Diss., 4 gibt den Inhalt der Akte unklar wieder, wenn er schreibt, daß »bei der Ordnung der Registratur des Stiftes« drei Bücher gefunden worden sind, von denen er neben Cod. Blid. noch ein zweites identifiziert, das aber erst nach 1495 entstanden sein kann. - Die Liste der am 7. Juni 1651 gefundenen Gegenstände verzeichnet jedoch in bunter Folge Bücher, Möbel, Paramente usw. Es werden 19 Bücher (nicht nur 3) aufgeführt, darunter 14 »Chorbücher«, nur bei einem Missale heißt es, daß es »neu« sei. Sonst findet sich überwiegend die Bezeichnung »alt«, allein beim Cod. Blid. »sehr alt«. Kunstgeschichtlich wichtige Bände scheinen, außer Cod. Blid., der an 12. Stelle genannt ist, nach dem Wortlaut der Aufzählung nicht dabei gewesen zu sein. Die sonst noch nachgewiesenen oder heute vorhandenen

Bücher sind lediglich von archivalischem Wert. Keine dieser Handschriften reicht über das 14. Jh. zurück, vgl. Kipke, Diss., 3 ff., 15. 31 Kipke, Diss., 4. - Falk, Der heilige Ferrutius und sein Stift in Bleidenstadt a. a. O. führt, ohne Kenntnis der genannten Akte aus: »Außen auf dem Vorderdeckel befand sich vermutlich ein Elfenbeinschild, dessen Einlaß samt dem Evangelistensymbole noch vorhanden ist.« 32 Von den veröffentlichten Elfenbeinreliefs, auch den byzantinischen, entspricht keines den Maßen der Eintiefung. Das einzige, annähernd maßgleiche, Paris, Coli. M. Le Roy, Echternach (?), M. 11. Jh. (A. Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen II, 32), 10,3 X 12 cm, scheidet aus, weil die Bohrlöcher nicht mit den Nagelspuren im Deckel übereinstimmen. In den ikonographischen Zusammenhang würde eine Himmelfahrt oder auch eine Pßngstdarstellung passen. 33 W. Sauer, Nassauisches Urkundenbuch. I, 3. Wiesbaden 1887, Berichtigungen und Zusätze, 2. Kipke, Diss., 5 ff. 34 Böhmer, Fontes Rer. Germ. a. a. O., III, XXXV zu Nr. 13. 35 Böhmer, Fontes Rer. Germ. a. a. O., IV, XLVII zu Nr. 26. 36 Will, XVIII, der den Codex selbst nicht eingesehen hat, folgt einer Beschreibung von E. v. Oefele. 37 Husung a . a. O., 6. - Kipke, Diss., 7: »vor dem ersten Weltkrieg«, »im Austausch gegen andere Archivalien«. - Auf S. 1 der Handschrift der Erwerbungsvermerk: »acc. ms. 1913, 70«. Ob die Notiz »Raritätenselekt No. 104« auf der Innenseite des Vorderdeckels die Signatur des Würzburger oder des Münchener Archivs ist, war nicht zu klären. Auf eingeklebtem Zettel die Zahl »3389«. Im handschriftlichen Inventar der Berliner Staatsbibliothek nur als »Bleidenstädter Codex« ohne weitere Angaben verzeichnet. Archiv ab38 Kipke, Diss., 7 nimmt an, daß nach 1792 einzelne Stücke vom Bleidenstädter getrennt wurden, besonders des Würzburger Bestandes, von dem später Teile in das dortige Archiv, anderes in das Reichsarchiv in München gekommen sind. Aus dem Franziskanerkloster sei »wohl auch der Codex nach München« gelangt. Folgt man Böhmer, so trifft das nicht zu, denn er kam nicht von dort, sondern aus dem Würzburger ehem. Kreisarchiv nach München. 39 Böhmer, Fontes Rer. Germ. a. a. O. III (1853), XXXV Nr. 13, 152 f . u. IV (1868), XLVII, 392 f . Nr. 26. - Will, XVIII ff., 33 ff. - F. Falk, Der heilige Ferrutius und sein Stift in Bleidenstadt a. a. O., Nr. 46. - Ders., Ferrutius, in: Wetzer u. Weite's Kirchenlexikon 4, Freiburg i. Br. 18862 1383. - Sauer a. a. O., I, 1-2, 1886, XII. - F. W. E. Roth, Nassauer Necrologien, in: Neues Archiv d. Ges. f . ältere dtsche. Geschichtsforsch. 23, 1898, 566. - A. Potthast, Bibliotheca historica medii aevi, 2. Berlin 18962, 811. - Schneider, Das Kloster Bleidenstadt a. a. O., 22. F. W. E. Roth, Aus der Geschichte der Abtei Bleidenstadt, in: Nassovia 14, 1913, 183 f . G. Zedier, Kritische Untersuchungen zur Geschichte des Rheingaus, in: Nassauische Annalen 45, 1918-21, 330, 354, 356, 366, 372 ff. - Husung a. a. O., 6. - K. Hallinger, Gorze-Kluny (Studia Anselmiana XXII-XXIII). Romae 1950, X X I I , 19, 121 Anm. 9. 249, 252, 337. - Kipke, Diss., 3, 7, 36, 70 f., 167 f . - Ders., Autorreferat Nassauische Annalen a. a. O., 122. - Ders., Archiv, 76, 77 ff. ». öfter. 40 Will, 38 ff. 41 Will, 35 ff. 42 Will, XIX f . gibt ein Inhaltsverzeichnis der Handschrift und druckt aus ihr neben Nekrolog und Liber confraternitatis noch ein »Registram reliquiarum Blidenstatensis«. - Teile des Codex bei Böhmer, Fontes Rer. Germ. a. a. O. III (1853), 152 f . »Kalendarium Necrologicum Blidenstatense sec. XII-XV« u. IV (1868) 392 f . »Notae Historicae Blidenstatensis 1346-92«. 43 Will, 45 f . 44 A • kl ianuarii • = 1. Spalte, die sonst keine weitere Eintragung enthält. Vgl. Will, 38. 45 Wolpero wird als der ausführende Goldschmied kaum in Frage kommen, vgl. die graphisch übereinstimmende Figur des Stifters Herlivus Prior am Maurinusschrein

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St. Pantaleon). In Welandus Monachus am Reliquiar Heinrichs II. (Paris, Louvre), hat schon 0. v. Falke, Deutsche Schmelzarbeiten a. a. O., 109 f., eher den Stifter erkennen wollen. 46 Vgl. z. B. für den Mainzer Bereich bei M. Stimming, Mainzer Urkundenbuch 1. Darmstadt 1932, Register, 607. 47 Der Name ist zu häufig, als daß gerade zu Abt Wolbero von Köln eine Beziehung gegeben sein müßte. Für Mainz vgl. Stimming a. a. O., Register, 607; für Köln: R. Hoeniger, Kölner Schreinsurkunden des zwölften Jahrhunderts (Pubi. d. Ges. f. Rhein. Geschichtskde. I) II, 2. Bonn 1894, Register I, 109 f., 124, 132, 148, 157, 193, 202, 218. - In St. Pantaleon sind neben Abt Wolbero sogar noch mehrere gleichnamige Personen bekannt, vgl. B. Hilliger, Die Urbare von S. Pantaleon in Köln (Rheinische Urbare 1, Pubi. d. Ges. f. Rhein. Geschichtskde. XX, 1). Bonn 1902: Nekrolog A u. B: 15.24, 17.16, 82.16, 89.32, 96.21,22. 48 49 50 51

Hallinger, Gorze-Kluny a. a. O., 727 f f . Die Anzahl der Ligaturen ist Hallinger a. a. O., 675 f f . , 680 f f . Hallinger a. a. O., 727 f f . und besonders die Handschriftenliste 731 f f . Hallinger a.a.O., 418.

verschieden.

52 Den von Hallinger a. a. O., 728 f. u. Anm. 186 für den »faronischen« Typ der Skapulierkukulle genannten französischen Beispielen wären hinzuzufügen: Douai, Bibl. Mun., Ms. 250, Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Vol. 1, aus Marchiennes, M. 12. Jh., fol. 134r. - Douai, Bibl. Mun., Ms. 339, Rhabanus Maurus, Kommentar zu Exodus ». Levitikus, aus Anchin, 2. H. 12. Jh., fol. 1 v. - Douai, Bibl. Mun., Ms. 257, Augustinus, De Trinitate Dei, aus St. Sauveur zu Anchin, 3. V. 12. Jh., Widmungsblatt (die Hs. im letzten Krieg verschollen). Paris, Bibl. Nat., Lat. 17767, Sammelhs. aus Gorbie, A. 12. Jh., fol. 11 v, 29 v, 134 v, 135 r, 147 v, 149 v, 152 v, 162 v. - Dijon, Bibl. Mun., Ms. 130, Hieronymus, Jeremias-Kommentar, aus Citeaux, um 1130, fol. 104 v. - Epinal, Bibl. Mun., Ms. 73, Vita S. Martini, aus St. Martin in Metz, 1. H. 12. Jh., fol. 1 r. - Trier, Stadtbibl., Ms. 1378/103, Vita S. Martini, aus Echternach, E. 12. Jh., fol. 133 r, Wiederholung von fol. 1 r der Hs in Epinal. - Avesnes, Soc. Archéol., Einzelblatt eines Evangeliars, Liessies (?J, 2. V. 12. Jh. - Im Maasgebiet sind zu nennen: Brüssel, Bibl. Roy., Ms 9645-49, S. Bernardi Sermones, 3. V. 12. Jh. fol. 81 r. Brüssel, Bibl. Roy., Ms. 9916-17, Dialogi Gregorii magni, aus St. Laurent in Lüttich, 3. V. 12. Jh., passim. - Für die deutschen Klöster (vgl. die Liste der Handschriften bei Hallinger a.a.O., 731 ff) zu ergänzen: München, Bayer. Staatsbibl., Olm. 14055, Rupert v. Deutz, De Victoria Verbi Dei, aus Siegburg, um 1120-26, fol. 5 v. - Münster, Bischöfl. Diözesanmus., Einzelblatt mit Kreuzigung aus einem Sakramentar, Helmarshausen (?), E. 12. Jh., - Köln, Historisches Archiv, W. 232, Cassian, Collationes patrum, aus Gladbach, St. Vitus, E. 11. Jh., fol. 89 v. - Baltimore, Walters Art Gali, Ms. 72, Speculum Virginum, aus Himmerode, 1. H. 12. Jh., fol. 98 r. - London, B. M., Yates Tompson Ms. 2, Collectar, aus Ottobeuren, M. 12. Jh., fol. 103 r. - München, Allg. Staatsarchiv, Kloster Formbach Lit. 1, Traditionsbuch des Klosters Formbach, A. 13. Jh., fol. 2 r. - Cleveland (Ohio), Mus. of Art, Einzelblatt, aus Cod. 20 des Klosters Engelsberg, Moralia Gregorii, zw. 1143-78. - Wien, Österr. Nationalbibl., Ms. 1053, Isidorus Hispalensis, Commentarius in vetus testamentum, Österreichisch, M. 12. Jh., fol. I v. - New York, Morgan Libr., M. 808, Evangeliar, aus Seitenstetten, 1247-50, fol. 23 v. - New York, Morgan Libr., M. 855, Missale, aus Seitenstetten, 2. H. 13. Jh., fol. 206 r. - Auch in der Goldschmiedekunst des 12. Jh. ist der »faronische« Typ faßbar: Köln, St. Pantaleon, Maurinusschrein, unter der Johannesarkade HERLIVVS PRIOR. - Paris, Louvre, Scheibenreliquiar Heinrichs II., Hildesheim um 1160, WELAND(us) M(onachus). Paris, Musée de Cluny, halbrunde Grubenschmelzplatte mit Kreuzigung, Hildesheim um 1160 (»Welandusgruppe«), unbenannter Stifter unter dem Kreuz. - Mettlach, Pfarrkirche, Kreuzreliquiar-Triptychon, Trier um 1220-30, BENEDICTVS CVSTOS auf der Rückseite der Mitteltafel.

53 Hallinger a. a. O., 129, 157, 240, 247, 232 ff. - Kipke, Diss., 167 f . u. Archiv, 77 f . 54 Obgleich sich für den »Mainzer Kreis« der Gorzer Filiationen unter Erzbischof Siegfried von Mainz (1060-1084) »eine auffällige Zuneigung... zu Kluny und seinen Idealen« abzeichnet (Hallinger a. a. O., 259 f., 261. - Kipke, Diss., 167 u. Archiv 78 f.), gehörte Abt Adelger von Bleidenstadt (um 1100) der Junggorzer Richtung an. Über die Einstellung seiner unmittelbaren Nachfolger (Kipke, Diss., 168 f . u. Archiv, 79 f.) ist nichts bekannt. 55 Kipke, Diss., 168, 169 u. Archiv, 79, 80. 56 Hallinger a. a. O., 187, 634 ff., bes. 637. 57 Hallinger

a. a. O., 709 ff., 729.

58 Hallinger a. a. O., 254 f . u. Anm. 79. - Kipke, Diss., 168, 169 u. Archiv, 79, 80. 59 Kipke, Diss., 168 u. Archiv, 79 weist darauf hin, daß Abt Heinrich nicht im Necrologium Blidenstatense verzeichnet ist und schließt daraus, daß »die Reformbestrebungen Hirsauer Prägung in Bleidenstadt keinen Widerhall gefunden haben«. - Die Gewandung des Wolpero könnte aber dagegensprechen, denn wenn der Stifter sich gerade in der »faronischen« Skapulierkukulle auf dem Einband darstellen ließ, möchte man nachhaltigeren kluniazensisch-hirsauischen Einfluß vermuten. Befremdend bleibt allerdings, daß Abt Heinrich im Nekrolog fehlt; über sein Wirken ist auch nichts weiter bekannt. Dennoch wäre es unbegründet, eine Stiftung des Einbandes von auswärts, von einem anderen Wolpero, als dem im Nekrolog verzeichneten, anzunehmen. Auch dann wäre dessen Kleidung in Bleidenstadt sicher auf Widerstand gestoßen. 60 Böhmer, Fontes Rer. Germ. III, XXXV Nr. 13. - F. W. E. Roth, Aus der Geschichte der Abtei Bleidenstadt, in: Nassovia 14, 1913, 183. - Schneider, Das Kloster Bleidenstadt. .. a. a. O., 22. - Zedier a. a. O., 354, 366. - Husung a. a. O., 6. - Will behandelt die Frage zwar nicht, datiert aber 39 ff. keine der Eintragungen vor dem 12. Jh., was wohl auf E. v. Oefele zurückgeht, da Will ausdrücklich hervorhebt, daß er alle Angaben über Cod. Blid. diesem verdanke (Will, XVIII f.). 61 Kipke, Diss., 36: »20er Jahre 11. Jh.«, 67: »etwa Mitte 11. Jh.«; vgl. Archiv, 76. Kipke hat die Handschrift im Original nicht vorgelegen (vgl. Archiv, 77). Schon Böhmer, Fontes Rer. Germ. III, XXXV Nr. 13 gab die zutreffende Datierung in das 12. Jh., die offenbar dann alle anderen Autoren übernommen haben. 62 Kipke, Diss., 168 u. Archiv, 78. 63 Aus Mainz: Mainz, Stadtarchiv II, 77 u. II, 53 (beide aus d. Karthause in Mainz) zeigen in einigen Initialen Ähnlichkeiten mit den Blattformen von Cod. Blid. - Aus Maria Laach: Darmstadt, Hess. Landesbibl., Ms. 891, für die Ornamentik besonders fol. 11 r, dann auch 11 v, 17 r, 18 r, 113 v, 124 v, 138 r, 142 r, 158 v, weniger deutlich in den übrigen Initialen. Vergleichbar mit den Köpfen in Cod. Blid. ist die Zeichnung der Gesichter in Darmstadt Ms. 891, fol. 7 v, 8 r, 8 v, 107 v, 118 v (neben den Malereien zweier weiterer Hände, die hier nicht in Frage kommen), sowie in dem wohl von demselben Maler stammenden Speculum Virginum, Köln, Hist. Archiv, W. 267 a, das zwar aus Andernach stammt, aber sicher nicht dort entstanden ist, sondern vermutlich in Maria Laach. Für Cod. Blid. weiter vergleichbar ein Homiliar aus Maria Laach, Tübingen, Stiftung Preuß. Kulturbes., Depot der Staatsbibl., Theol. lat. fol. 269, bes. fol. 1 v u. öfter; lt. Eintragung auf fol. 1 r unten ist diese Hs. von einem frater Lambertus aus Afflighem in Laach geschrieben. Vgl. dazu in Hinsicht auf die beiden zuerst genannten Hss. die Bemerkungen von H. Frank OSB, Das älteste Laacher Sakramentar, in: Enkainia, Düsseldorf 1956, 263 ff. u. M. Bernards. Die mittelrheinischen Handschriften des Jungfrauenspiegels in: Archiv, f . mittelrhein. Kirchengesch. 3, 1951, 361 f . - Aus Arnstein, London, B. M., Harley 2800-28002, Passionale aus Arnstein (von verschiedenen Händen), vor allem die Blatt- und Tiermotive in Harley 2801, fol. 21 r. Außerdem die Ornamentrahmen im ebenfalls aus Arnstein stammenden Rhabanus Maurus, London, B. M., Harley

3043. - Teilweise vergleichbar die Ornamentik der Bibel aus Arnstein, London, B. M., Harley 2798-99. 64 Die Lokalisierung des Cod. Blid. nach Süddeutschland durch Kipke (vgl. Anm. 62) beruht auj einer mißverstandenen Bemerkung von Will, XIX Anm. 1, der lediglich für den Schmuck der Seiten des Cod. Blid. mit dreiteiligen Arkaden auf einige Beispiele hinweist, dabei den Nekrolog von Obermünster in Regensburg und die Verbrüderungsbücher von St. Gallen und St. Peter in Salzburg nennt. Aus der Formulierung bei Will wird deutlich, daß nicht kunstgeschichtliche Beziehungen gemeint sind, zumal er die Handschrift gar nicht im Original gekannt hat. Kipke, Diss., 168 u. Archiv, 78 sagt, daß die Illuminationen von Cod. Blid. nach Will mit den genannten Handschriften »große Ähnlichkeit« hätten. Das bezieht sich aber lediglich auf das System der Ausstattung. Die deswegen vermutete Entstehung von Cod. Blid. in Süddeutschland, »vielleicht sogar in St. Emmeram zu Regensburg«, geht also fehl, denn die Malereien haben dorthin keine näheren Beziehungen. Eine Herkunft aus St. Emmeram schaltet schon insofern aus, da die von Kipke dafür als Beleg gebrachten Reformbeziehungen der FerrutiusAbtei in das 1. V. 11. Jh. fallen und für Cod. Blid. nicht verbindlich sein können. nach einer Fotokopie 65 Für die freundliche Begutachtung der Handschrift fessor Dr. Bernhard Bischoff (München) zu danken.

habe ich Herrn

Pro-

66 Hallinger a. a. O., 249 ff. - Kipke, Diss., 167 ff., 169 u. Archiv, 77 f., 80. 67 Kipke, Diss., 36. 68 Schon K. Roth, Aus der Geschichte des Klosters Bleidenstadt a. a. O., 184 hat die Übernahme eines älteren Nekrologs vermutet. 69 Nach B. Bischoff ist nicht völlig auszuschließen, daß der Schreiber der ersten Schicht auch die Wolbero-Eintragung vorgenommen hat. Sie muß deswegen aber nicht zwangsläufig dem älteren Nekrolog entstammen. Will datierte den Wolbero-Eintrag erst in das 13. Jh., was sicher zu spät ist. 70 Vgl. Anm. 21. 71 R. Schilling, Studien zur deutschen Goldschmiedekunst des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Form und Inhalt. Kunstgeschichtliche Studien, Otto Schmitt zum 60. Geburtstag. Stuttgart o. ]., (II) a.a.O., 46 zu Nr. 38. - P.Bloch, Das 76 ff. - H. Schnitzler, Rheinische Schatzkammer Steinfeld-Missale, in: Aachener Kunstblätter, 22, 1961, 58. 72 Die stilgeschichtliche und ikonographische Untersuchung des Bleidenstädter Einbandes ist in Vorbereitung.

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GÜNTHER BRÄUTIGAM • DIE NÜRNBERGER FRAUENKIRCHE IDEE UND HERKUNFT IHRER ARCHITEKTUR

1 Als Karl IV. mit der sogenannten Markturkunde vom 16. November 1349 den Nürnbergern die Erlaubnis gab, das Judenviertel abzubrechen, um den Hauptmarkt anzulegen, verfügte er, »daz man aus der judenschul sol machen eine kirchen in Sant Marien ere, unser frawen, und di legen uf den grozzen platz an ain sulch stat, da ez die Burger aller peste dunket«. Wie es auch andernorts geschah, sollte an die Stelle der Synagoge des Alten Bundes die durch Maria verkörperte Ecclesia des Neuen Bundes treten 1 . Der Plan wurde rasch verwirklicht. Möglicherweise schon 1350, spätestens aber 1352 wurde mit dem Bau des Gotteshauses begonnen, am 25. Juli 1358 konnte die Gesamtweihe vollzogen werden. Der Wortlaut der sogenannten Markturkunde erweckt den Eindruck, Karl habe auf den Kirchenbau nur mittelbar Einfluß nehmen wollen. Tatsächlich errichtet worden ist die Frauenkirche aber als kaiserliche Kapelle. In dem von Karl IV. am 8. Juli 1355 in Nürnberg gegebenen Stiftungsbrief heißt es: »nouam Ecclesiam seu Capellam ereximus, fundauimus et creauimus« - der Kaiser wird ausdrücklich als Bauherr und Stifter bezeichnet, woran auch der übrige Text keinen Zweifel läßt. Die Gründe für den Wandel im Verhalten Karls werden noch zu erörtern sein. Der Standort der Frauenkirche spricht für eine wohlüberlegte Konzeption: An der Ostseite des Platzes gelegen, gibt die Kirche noch heute dem Hauptmarkt den beherrschenden Akzent. In besonderem Maße zieht der eigentümliche zweigeschossige Westbau,

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der der Fassade des gedrungenen Langhauses vorgelagert ist, den Blick auf sich. Über einer rechteckig vortretenden Vorhalle erhebt sich, R a u m für einen schmalen, mit einer Brüstung versehenen U m g a n g lassend, ein Chörlein mit Fünfachtelschluß. Sigmund Meisterlin schrieb in seiner um 1488 verfaßten Chronik der Reichsstadt Nürnberg, daß anläßlich der T a u f e von Kaiser K a r l s Sohn Wenzel in Nürnberg am 11. April 1361 die Reichskleinodien, bzw. die zu diesen gehörenden Reliquien (das » H e i l i g t u m « ) » a u f dem umbgang der kaiserlichen capell, die auf diese zeit gar in kurtzer zeit gepawet was worden«, gezeigt worden seien. Meisterlins leider nicht immer zuverlässige Angaben sind in unserem Falle nur für die Tatsache, nicht für den O r t der Heiltumsweisung durch eine zeitgenössische Q u e l l e - die Aufzeichnungen des Chronisten Heinrich von Rebdorf - zu stützen, doch muß der in der Nachricht enthaltene Hinweis auf die Zweckbestimmung der ungewöhnlichen Anlage im Auge behalten werden. D a s Chörlein über der Vorhalle öffnet sich innen, zum Langhaus hin, in Form einer Empore. Es ist dem hl. Michael geweiht, der auf dem Gewölbeschlußstein als Seelenwäger abgebildet wird. D e m Erzengel k o m m e n verschiedene Funktionen z u : Die Westwerkanlagen des 9. bis 11. Jahrhunderts erhielten mit Vorrang sein Patrozinium, damit er, als der Führer der himmlischen Heerscharen in ihrem K a m p f e mit den Mächten der Finsternis, dem von Westen - gegen den Eingang der Kirche - herandrängenden bösen Feind wehre; die Friedhofskapellen wurden ihm vornehmlich in seiner Eigenschaft als Begleiter der Seelen auf dem Weg ins Paradies geweiht. Außerdem galt der hl. Michael aber auch als der Engel der Deutschen, als der spezielle Schutzpatron von Kaiser und Reich. Im Falle der Nürnberger Frauenkirche ist die Stätte mit dem Sitz des Kaisers seinem Schutz anbefohlen, wobei ein Nachwirken der alten Westwerkidee nicht ausgeschlossen erscheint 2 . Von ähnlicher Eigenart wie der Westbau ist auch das Langhaus der Frauenkirche eine im Grundriß nahezu quadratische Hallenanlage, dreischiffig und von drei Jochen Länge, mit nachdrücklicher Betonung des mittleren Mittelschiffsjochs als Zentrum des R a u m e s 3 . D a die in der Anlage zum Ausdruck kommende Zentralbautendenz auch bei anderen Marienkapellen zu beobachten ist, liegt der Gedanke an einen prinzipiellen Zusammenhang zwischen dem Patrozinium und der B a u f o r m nahe 4 . Der Ursprung der in Nürnberg gegebenen Verbindung von Zentralbautendenz und spezieller Westbaulösung ist damit freilich noch nicht erklärt, doch gibt es einen Kirchenbau, in dem beide Elemente vorgebildet erscheinen: das Aachener Münster, wie es um die Mitte des 14. Jahrhunderts aussah. 2 D e r dem Polygon des Zentralbaus vorgelagerte Westbau der Pfalzkapelle K a r l s des Großen in Aachen enthält im Untergeschoß die Eingangshalle. D a s Obergeschoß öffnet sich nach innen, zur Empore des Polygons hin, vom Königsstuhl nur durch eine Arkatur getrennt. Der R a u m im Obergeschoß des Westbaus dient seit Jahrhunderten keiner sakralen Funktion mehr. Gedeutet wird er als Königsloge sowie als Privatoratorium 171

K a r l s des Großen, und es wäre denkbar, daß er einen dem hl. Michael geweihten Altar

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N Ü R N B E R G , S . M A R T H A , R I E T E R F E N S T E R . D I E F Ü N F Z E H N Z E I C H E N VOR DEM J Ü N G S T E N G E R I C H T

die Zahl der Zeichen, noch an die Art und Reihenfolge hält und weder die Bibelstellen, noch die einschlägigen Kirchenväter benutzt. Diese freien Variationen blieben aber in der Literatur durchaus eine Ausnahme und stören nicht die geschlossene Form, zu der sich die Legende der fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Ganz anders verhält es sich in der bildenden Kunst, wo dieses ikonographische Thema als selbständige Gattung weitgehend unbekannt und noch niemals ausgewertet worden ist. Ein wesentlicher Grund dafür mag darin zu suchen sein, daß die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht verschiedene Themenkreise berühren unnd nicht eindeutig zu lokalisieren sind. Sie können in apokalyptischen und eschatologischen Darstellungen eingegliedert sein, finden sich aber besonders häufig in Verbindung mit dem Antichristen, in dem das Auftreten desselben bereits als eines der Zeichen vor dem Weltende gedeutet werden kann. Offenbar sind aber die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht als selbständige Bildgattung nur selten dargestellt worden und heute nur mehr in wenigen Beispielen bekannt und greifbar. Nicht zufällig finden sich die meisten Darstellungen in Handschriften oder Blockbüchern und lassen die enge Verbindung zur Literatur erkennen, ohne dabei einem festen literarischen Typus, wie Beda, Comestor oder Thomas von Aquin zu folgen 5 . Das bisher einzige, uns bekannte Beispiel, wo die fünfzehn Zeichen als selbständiges monumentales Programm behandelt sind, befindet sich in einem Fenster der S. MarthaKirche zu Nürnberg (Abb. 1). Das Thema ordnet sich hier folgerichtig in ein weitgespanntes ikonographisches Gesamtprogramm ein: Während die (heute nur mehr in Fragmenten erhaltene) Farbverglasung der Langhausfenster ganz im Zeichen der Allerheiligen-Allerseelenverehrung steht, behandeln die Chorfenster in detaillierter Abfolge das Leben Christi: Annen-Marienzyklus, Kindheit Jesu, Leben Christi, in der Chorhauptmitte das Mysterium des hl. Abendmahles, Passion, Vorzeichen und Jüngstes Gericht Im Chor n III befindet sich das dreibahnige Vorzeichenfenster, eine Stiftung der Nürnberger Patrizierfamilie Rieter, das vor einheitlichem Teppichgrund hohe, schmalrechteckige gerahmte Felder zeigt, deren Ecken von Medaillons angeschnitten werden. In diesen Kreisfeldern knien vor rotem Grund jeweils zwei Propheten, die mit ausdrucksvoller Geste auf das darüberbefindliche Vorzeichen des Hauptfeldes weisen. Nur in der untersten Fensterzeile weicht die Darstellung ab. Hier sind es Würdenträger der Kirche: ein Papst, ein Kardinal, drei Bischöfe und ein Heiliger (Apostel?). Eine nähere Identifizierung der Dargestellten ist zwar nicht möglich, doch handelt es sich offensichtlich um jene Propheten und weisen Männer der Kirche, die von den Vorzeichen vor dem Weltuntergang berichtet haben. Die gesamte Fensterkomposition wird von einem umlaufenden Schriftband gerahmt. Die gelben Unzialen auf grünem Grund sind auch noch teilweise lesbar und ergeben folgenden Text:

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DAS • S I N T • D I E • Z E I C H E N • D I E • BEDEUTEN • VOR • DEM • IUNGSTEN • (Maßwerkumschrift 1945 zerstört; zu ergänzen: G E R I C H T • DAR) NACH • K O M E T • G O T • UND • WILL • R I C H T E N • ÜBER • ALL • MENSCHEN • Stilistisch gehört das Fenster zum Nürnberger Glasmalereikreis böhmisch-parlerischer. Herkunft mit Einflüssen aus dem mittelfränkischen Glasmalereizentrum Rothenburg o. d. Tauber. Die Datierung ergibt sich aus der Baugeschichte und den Stifterdaten des Chorzyklus: um 1390 7 . Das ikonographische Programm läuft zeilenweise, von links oben nach unten ab und beginnt mit einer Szene, die eigentlich noch dem Antichrist-Thema zugehört und streng genommen nichts mit den fünfzehn Zeichen zu tun hat. Vielmehr bedeutet die Scheibe 6 a, auf der die beiden Propheten Jesaias und Enoch dargestellt sind, wie sie dem Volk wider den Antichristen predigen, den Abschluß des Antichrist-Zyklus und die Überleitung zu den Vorzeichen vor dem Endgericht (Abb. 2). In der Inkunabel »vor dem Enndkrist« heißt es dazu: »So der Endkrist syn leben in aller bosheit vollendet und ein böß end genomen hat. So kumen denn aber durch die verheneknüß gottes. Die heiligen propheten Helyas und Enoch. und predigen christenlichen geluoben in den landen dorynn der Enndkrist obgelegen ist. und bekeren fürsten und herren und alle mencklih das sy all cristen werden. Und wirt denn nitmer denn ein geluob. . . . Und ist denn niemanß sicher / wenn der jungstag kunt.« (Edition E. Kelchner) Mit der Aufnahme dieser Szene in dem Fenster verschieben sich natürlich die Zeichen und stimmen nicht mehr mit der Aufzählung in der »legenda aurea« überein. 2

STADTBIBL.

FRANKFURT

A. M . ,

P R O P H E T E N JESAIAS UND E N O C H

„DER

ENNDKRIST"

(EDITION

KELCHNER).

DIE

Scheibe 6 b bringt das erste Zeichen, von dem es bei Jacobus de Voragine heißt: »Des ersten Tages so hebet sich das Meer auf über alle Berge vierzig Ellen hoch und steht als eine Mauer an seiner Statt.« - Vor blauradiertem Rankengrund, der auf dem ganzen Fenster einheitlich gestaltet ist, erheben sich blaugraue schwellende Fluten, rechts und links von steil abfallenden rotvioletten Hügeln gerahmt. Scheibe 6 c: »Des andern Tages so schwindet das Meer unter sich, daß man es kaum sehen mag.« - Auf rotvioletten, senkrecht herabfallenden Felsen, die links mit einer Baumgruppe bewachsen sind, knien rechts oben ein Mann und eine Frau und blicken in die Schlucht hinab, in der ganz unten das Meer versickert. Scheibe 5 a: »Des dritten Tages so gehen die Meerwunder aus und lassen sich sehen, und brüllen auf gen Himmel. Der Stimme verstehet niemand denn Gott.« - Auf rotvioletten steilen Felsen, die in der Mitte wiederum Wasser umschließen, stehen links oben ein Hirsch und darunter ein Hase, auf der rechten Seite oben ein Löwe und etwas tiefer ein Eisbär. Alle diese Landtiere, die von der schriftlichen Version abweichen, haben die Köpfe hochgereckt und brüllen. Scheibe 5 b (vgl. auch Abb. 4 oben): »Des vierten Tages so verbrennet das Meer und alle Wasser.« - Auf dem blaugrauen Wasser, welches von roten Felsen umschlossen wird, auf denen rechts und links Bäume wachsen, brennen sechs große rote Flammen. Scheibe 5 c (vgl. auch Abb 4 unten'): »Des fünften Tages so geben alle Bäume und Kräuter blutfarbenen Tau. Man sagt auch, daß dann alle Vögel der Luft sich auf das Erdreich sammeln, ein jeglicher nach seiner Ordnung, und essen noch trinken nicht von Furcht der Zukunft des strengen Richters.« - Hinter einem, von einem gelben Flechtzaun umschlossenen Paradiesgärtlein stehen ein Mann und eine Frau und blicken auf einen im Garten stehenden großen Baum, auf dem Blutstropfen sichtbar sind. Auch der Erdboden ist mit Blutflecken bedeckt. Diese Szene gibt nur den ersten Teil der Beschreibung in der legenda aurea wieder, weicht vom Schema ab und ist symbolhaft aufgefaßt. Scheibe 4 a: »Des sechsten Tages so fallen alle Städte und was gebauet ist, und fahren feurige Blitze wider das Antlitz des Firmaments vom Untergang der Sonne bis gen den Aufgang.« - In der rechten Bildhälfte befindet sich ein rotviolettes Gebäude, aus dem ein Mann zu Boden stürzt. Rotviolette Architekturen mit weißen, herabstürzenden Dächern, Steinen und Türmen in der linken Bildhälfte künden von dem Untergange einer Stadt. Wiederum ist nur der erste Teil der schriftlichen Fixierung dargestellt. Scheibe 4 b (vgl. auch Abb. 5): »Des siebenten Tages so schlagen die Steine aneinander, daß sie brechen, und spalten sich jeglicher in vier Teile und reiben sich aneinander. Das Getöne, das weiß niemand denn allein Gott.« - Die rot- und hellvioletten Felsen, auf denen kleine Bäume stehen, stürzen, wie bei einem Erdbeben zusammen. Im Vordergrund reckt ein Mann in rotvioletter Kleidung erschreckt die Arme empor. Ein zweiter Mann in grünem Gewand verschwindet nach rechts in einer Höhle. Eine von Jacobus de Voragine völlig abweichende Darstellung, die aber mit dem als achtes Zeichen wiedergegebenen Text des Blockbuches »von dem Entkrist« übereinstimmt, in dem es heißt: » . . . und fliehen die lüt in die hol und verbergen sich.«

Scheibe 4 c: »Des achten Tages so wird ein großes Erdbeben, so groß, daß alle Menschen und Tiere niederfallen zur Erde und niemand stehen kann.« - Vor blauradiertem Rankengrund stehende Frau in weißem Gewand und rotem Mantel, die die Arme ergeben über der Brust gekreuzt hat. Vor ihr stürzen zwei Männer in rotviolettem und grünem Gewand zu Boden. Scheibe 3 a: »Des neunten Tages so wird alles Erdreich gleich eben und werden alle Berge und Bühel zu Pulver.« - Inmitten eines hellblauen Wolkenkranzes mit Sonne, Mond und den Sternen erstrahlt das »Sonnenweib«. Im unteren Scheibendrittel ist das eingeebnete Erdreich dargestellt und zur genaueren Charakterisierung mit einer Inschrift versehen. Infolge der sehr schlechten Erhaltung der Scheibe sind nur mehr wenige Worte zu entziffern: ». . . . erdrich das w e r t . . . .« - Die Szene weicht vom üblichen Schema insofern ab, als zu der geläufigen Darstellung des ebenen Erdreiches noch ein rein apokalyptisches Thema hinzugefügt ist. Scheibe 3 b (vgl. auch Abb. 7): »Des elften Tages so erstehen die Gebeine der Toten und stehen über den Gräbern. U n d tun sich alle Gräber auf von Sonnenaufgang bis Untergang, daß die Toten können heraus gehen.« Zwei Männer in rotem Gewand und gelben Schuhen und eine Frau in rotviolettem Gewand und mit weißem Kruseler stehen betend auf rotvioletten Sarkophagdeckeln. Zu ihren Füßen ein bleicher Totenschädel. Geläufige Darstellung; im Vergleich zu Jacobus de Voragine findet hier aber eine Vertauschung zwischen dem 10. und 11. Tage statt. Scheibe 3 c (vgl. auch Abb. 6): »Des zehnten Tages so gehen die Menschen aus den 3

STAATSBIBL. M Ü N C H E N , C O D . GERM. 4 2 6 . D A S ZWÖLFTE U N D D R E I Z E H N T E Z E I C H E N

4

STAATSBIBL. M Ü N C H E N , C O D . GERM. 4 2 6 . D A S VIERTE U N D F Ü N F T E Z E I C H E N

D a s acht jact)« i ft Das alte item faren vff in Den lufft vno fct)tal)e fid)an eVnanoer o a e f p j n fluchenb?rct>«n 0 0 POII wirt emgref? getSn oorl) wcie CÖ memant Denn got allein vnD fliehen Die Tut m Diel)ol vno verbergen fiel)«

Höhlen, darein sie geflohen waren, als wären sie von Sinnen, und mag eins zu dem andern nicht reden.« — Zwei Männer in rotem Wams und gelben Beinlingen wenden sich voneinander ab. Dahinter ein hellvioletter Engel mit Flügeln. In der Hinzufügung der Engelsgestalt weicht die Szene vom üblichen Schema ab. Scheibe 2 a (vgl. auch Abb. 3): »Des zwölften Tages so fallen die Sterne vom Himmel und alle Planeten und Fixsterne lassen feurige Schweife ausgehen; und es wird abermals ein Feuerregen. Auch sagt man, daß an diesem Tage alle Tiere auf den Feldern mit Brüllen sich sammeln, und essen und trinken nicht.« - Elf gelbe Sterne vor hellblauer Wolkenbank, darunter der hellviolette Erdboden. Geläufiges Schema; thematisch identisch mit dem »Sternenfall« der Apokalypse. Scheibe 2 b: »Des dreizehnten Tages so sterben die Lebenden, daß sie mit den Toten auferstehen.« - Niederstürzende Männer und Frauen, denen die Seele in Form einer kleinen, nackten rotvioletten Gestalt aus dem Munde entfährt. Scheibe 2 c: »Des vierzehnten Tages so verbrennet Himmel und Erde.« Eine große rote Feuerlohe erhebt sich vor blauem Rankengrund. Die folgenden Scheiben 1 a bis 1 c enthalten die Fensterstifter und deren Stammwappen Rieter 8 . Mit dem fünfzehnten Zeichen, bei dem es in der legenda aurea heißt »Des fünfzehnten Tages so wird ein neuer Himmel und eine neue Erde, und erstehen die Menschen alle« beginnt im anschließenden Otmandfenster die Darstellung des Weltgerichtes (geläufiges ikonographisches Schema!). Damit ordnet sich das Vorzeichenfenster in S. Martha sinnvoll in den ikonographischen 5

STADTBIBL. FRANKFURT A. M . , „ D E R E N N D K R I S T " ( E D . KELCHNER). D A S ACHTE ZEICHEN

»Das nünt zeichen ist es kumen die lüt wider uß den gebürgen und uß den hülen und genn glich als ob sy nit synnig synd und mögen nit mit einander reden und die wilden thier werden so heimlich das sy zu denn lüten gend.«

Gesamtkomplex des Jüngsten Gerichtes ein, indem es die einzelnen Abschnitte: Antichrist, Vorzeichen und Gericht zu einer Einheit verbindet: Die illustrierten Handschriften, Blockbücher und Incunabeln, die den Endchrist u n d die fünfzehn Zeichen behandeln, geben im Vorwort übereinstimmend als Quelle a n : » U n d hat sand Jeronimus die selben fünfzehn zaichen genomenn von kriechischen püchern und die daraus zu lathein bracht. Als man geschribens findet bey dem anfang des puochs ,Das man nennet Legenda sancti f r a t r i Jacobi Ordinis predicatorum alio nomine hystoria lombardica.« (Edition K. Pfister) Eine in der Münchener Staatsbibliothek befindliche Handschrift Cod. germ. 426 aus dem A n f a n g des 15. Jahrhunderts hält sich in Text und Reihenfolge der Zeichen noch wörtlich an die legenda aurea. Ergänzend zu dem Fenster in S. M a r t h a sind bei einigen Vorzeichen Darstellungen gegeben, die den Text eingehender illustrieren, z. B. beim 12. Vorzeichen, w o die Sterne vom H i m m e l fallen und die Tiere auf dem Felde brüllen und nicht essen, noch trinken (Abb. 3). Beim 5. Zeichen, w o alle Bäume und Sträucher Blut schwitzen, sind auch die Vögel dargestellt, wie sie sich auf dem Erdreich, jeder nach seiner Ordnung, sammeln (Abb. 4). Die bei A. Stange beschriebene oberrheinische Handschrift aus der Mitte des 15. J a h r hunderts hält sich ebenfalls an die Systematik des Jacobus de Voragine, illustriert aber den Text nur sparsam, meist mit landschaftlichen M o t i v e n 9 . Die uns bekannten Exemplare des Blockbuches vom Endchrist geben z w a r immer noch Hieronymus und Jacobus als Gewährsmänner an, weichen aber in der Reihenfolge der Zeichen ab und geben teilweise neue Textzugaben. W ä h r e n d Zeichen 1 bis 5 in der üblichen Weise gestaltet sind, 6

STADTBIBL. FRANKFURT A. M . , „ D E R ENNDKRIST" ( E D . KELCHNER). D A S NEUNTE ZEICHEN

f o l g t als 6. Zeichen d a s große Erdbeben, welches bei J a c o b u s de V o r a g i n e erst a m achten T a g e geschieht. B e i m 7. Zeichen stürzen alle G e b ä u d e u n d B ä u m e (6. Zeichen der legenda aurea). Z u m 8. Zeichen lautet der T e x t : » D a s acht zeichen ist das alle stein faren uff in den lufft u n d schlahen sich an einander das sy zu stüdken brechen d o v o n w i r t ein groß getön doch weis es nemant denn got allein u n d fliehen die lüt in die hol u n d verbergen sich.« ( A b b . 5). Weiter heißt es hier z u m 9. Zeichen: » D a s nünt zeichen ist es kumen die lüt wider uß den gebürgen u n d uß den hülen u n d genn glich als ob sy nit synnig s y n d u n d mögen nit mit einander reden u n d die wilden thier werden so heimlich d a s sy zu denn lüten g e n d . « ( A b b . 6) (10. Zeichen der legenda aurea). D a s 10. Zeichen weist keine Besonderheiten gegenüber der legenda a u r e a auf u n d bringt zu dem geläufigen T e x t nur noch den Z u s a t z : ». . . d y toten ersten auß den grebern das es d y lebentigen sehen.« ( A b b . 7) (11. Zeichen der legenda aurea). D a s 11. Zeichen weicht v o n J a c o b u s de V o r a g i n e erheblich ab, indem es heißt: » D a s eilfft zeichen ist d a s die Sternen fallen v o m hymel u n d geben v o n in füren schyn d o mit reynigen sy sich u n d es wirt wider u m b wiß u n d luter u n d die lüt schryen v o n groser forcht u n d louffen u n d essen u n d trinken nit.« (12. Zeichen der legenda aurea). B e i m 12. Zeichen sterben die lebenden Menschen, u m mit den a n d e r n T o t e n wieder aufzuerstehen. U n d im T e x t z u s a t z heißt es: ». . . Ouch alles g e f u g e l u n d alle thier sterben mit innen.« ( A b b . 8) (13. Zeichen der legenda aurea). D i e Zeichen 13 bis 15 sind z w a r anders in der R e i h e n f o l g e , stimmen aber im T e x t mit der legenda a u r e a überein. 7

S T A A T S B I B L . M Ü N C H E N , „ D A S P U C H VON DEM E N T K R I S T " ( E D . P F I S T E R ) . D A S Z E H N T E Z E I C H E N

S>ae?wolfftjeicbcn ifl Die Irbentigen mnifctxn 0 e r b e n o a e f r mit cwn annern toten w i o e r e r i t e m v ® u r b a l l e s gefugel w i o a l i e thier fterbenn mit ;nnen.

Aus dem Vergleich der bildlichen Darstellungen der fünfzehn Zeichen mit den Sprachdenkmälern des gleichen Themas ergibt sich, daß die erhaltenen Beispiele in der bildenden Kunst sehr gering und lange nicht so variationsreich wie in der Literatur sind. Vielmehr scheint allen Buchillustrationen mit erläuterndem Text vorwiegend die Fassung der legenda aurea zugrunde gelegen zu haben. Jacobus de Voragine setzt das Traditionsgut des Stoffes fort, indem er in der Reihenfolge der Zeichen an Petrus Comestor anknüpft, dessen knappen Text aber gedanklich erweitert und bildhaft ausschmückt 10 . Die exakte Einordnung der 15 Zeichen in ein spezifisches ikonographisches Thema bereitet Schwierigkeiten, da die Vorzeichen sowohl apokalyptische, als auch eschatologische Züge tragen. Mit dem Endgericht, welches sie ankündigen, haben die Vorzeichen insofern wenig zu tun als sich das Jüngste Gericht nicht in der Weltgeschichte vollzieht, sondern deren Ende bedeutet. Auffallend ist dagegen die enge Verknüpfung der Vorzeichen mit dem AntichristThema, so daß sie damit in einen geschichtlich fixierbaren Zeitraum rücken. Der ganze Zeitabschnitt zwischen Christi Verklärung und Parusie ist Endzeit und zwar nicht nur im Sinne einer zu Ende gehenden, sondern in Jesu Erhöhung bereits zu Ende gegangenen und somit vom Ende umgriffenen Zeit. Was nun den Antichristen betrifft, so ist es kein Einwand gegen die Lehre der Kirche von den Vorzeichen des Endes, wenn man von Anfang an nach antichristlichen Gestalten Aussdiau gehalten und bestimmte geschichtliche Personen der jeweiligen Gegenwart als solche warnend namhaft gemacht hat. 8

S T A D T B I B L . F R A N K F U R T A. M . , „ D E R E N N D K R I S T " ( E D . K E L C H N E R ) . D A S Z W Ö L F T E Z E I C H E N

Ähnlich verhält es sich auch mit den Vorzeichen, die zu allen Zeiten, besonders dann, wenn die apokalyptische Erwartung sehr groß war, Anlaß zu Spekulationen boten. Naturkatastrophen, wie Meteorregen, Sonnenfinsternis, bestimmte

Planetenkonstella-

tionen und Erdbeben wurden mit den Vorzeichen in Verbindung gebracht zur Erklärung des zu erwartenden nahen Weltendes. Trotz der großen Aktualität, die beide Themen Antichrist und Vorzeichen zu allen Zeiten besessen haben, waren sie doch vorwiegend Gegenstand geistiger Auseinandersetzungen und blieben ihrem Wesen nach der Bildgestaltung und der Ausbildung bestimmter Bildtypen verschlossen. Wo sich im Falle des Antichristen ein fester Bildtypus entwickelt hat, geht er auf die Aussagen der Johannes-Apokalypse zurück. So viele geistige Impulse diese Offenbarung auf allen Gebieten der Literatur und Kunst vermittelt hat, blieb sie für die Ausbildung der 15 Zeichen so gut wie bedeutungslos. Das im frühen Mittelalter durch die Kirchenväter sich entwickelnde Lehrgebäude der Kirche nimmt in der Lehre von den Vorzeichen des Endes auch die Vorzeichen auf, indem die verstreuten Stellen des Alten und Neuen Testamentes und des apokryphen apokalyptischen Schrifttums gesammelt und dogmatisch präzisiert und systematisiert werden. Die Einordnung in die Abfolge des Kirchenjahres ist auf die vierte Woche des Adventes festgelegt, die von der Wiederkunft des Herrn zum Jüngsten Gericht handelt. Von hier aus gesehen verspannt sich das Thema der 15 Zeichen als endgeschichtliches Ereignis mit dem Beginn eines neuen Äons von überirdischer Seinsform, der durch das 15. Zeichen (!) eingeleitet wird: »Des fünfzehnten Tages so wird ein neuer Himmel und eine neue Erde und erstehen die Menschen alle.« Somit umschließen in Verbindung mit dem Antichristen vierzehn der Vorzeichen unsere endgeschichtliche Zeit,greifen aber mit dem fünfzehnten Zeichen über die Zeiten hinaus in eine übernatürliche, eschatologisch bestimmte neue Wirklichkeit Gottes. ANMERKUNGEN

1 Vgl. vor allem G. Nolle: Die Legende von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gerichte, in: Paul, H., und Braune, W., Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur, Halle 1879, VI. Bd., S. 413 f. Der Verfasser gibt eine große Übersicht über die Texte, in denen die fünfzehn Zeichen vorkommen. Dort auch Literaturangaben zum Thema. 2 Vgl. zu den Wunderzeichen an Himmel und Erde: Jes. 13,10; Hes. 32,7 und 38,20.; Jo 2,2.10.11.; Jo 3,3-4,15.; 2. Ptr. 3-10; Matth. 24,29-31; Mk 13,24-25; Lk 21,25; Offenb. 6,12-16. 3 Das von Augustinus benutzte griech. Akrostichon aus den Sibyllinischen Weissagungen diente bereits dem Lactantius ah Quelle. Von den 34 Hexameter übersetzt Augustinus nur die ersten 27 und teilt sie in seinem Werk »De civitate Dei« lib. XVIII, cap. XXIII mit: »Judicii signum tellus sudore madescet, E caelo Rex adveniet per saecla futurus: Scilicet in carne praesens ut judicet orbem. Unde Deum cernent incredulus atque fidelis Celsum cum sanctis, aevi jam termino in ipso. Sic animae cum carne aderunt, quas judicet ipse,

Cum jacet incultus densis in vepribüs orbis. Rejicient simulacra viri, cunctam quoque gazam: Exuret terms ignis, pontumque polumque Inquirens, tetri portas affringet Averni. Sanctorum sed enim cunctae lux libera carni Tradetur, sontes aeternum flamma cremabit. Occultos actus retegens, tunc quisque loquetur Secreta atque Deus reserabit pectora lud. Tunc erit et luctus, stridebunt dentibus omnes. Eripitur solis jubar, et chorus interit astris. Volvetur caelum, lunaris splendor abibit. Dejiciet colles, valles extollet ab imo. Non erit in rebus hominum sublime, vel altum. ]am aequantur campis montes, et caerula ponti. Omnia cessabunt, tellus confracta peribit. Sic pariter fontes torrentur, fluminaque igni. Sed tuba tum sonitum tristem demittet ab alto Orbe, gemens facinus miserum variisque labores: Tartareumque cbaos monstrabit terra dehiscens. Et coram hic Domino reges sistentur ad unum. Recidet e caelis ignisque et sulphuris amnis.« Für die überaus große Beliebtheit, die dieses Augustinische Akrostichon gefunden hat, spricht die Tatsache, daß es vielfach als selbständiger Text in der Literatur vorkommt. Vgl. Nolle, a. a. O., S. 420. 4 Vgl. dazu Nolle, a. a. O. 5 Die uns bekannten Exemplare xylographischer und typographischer Antichrist-FünfzehnZeichen-Bücher sind folgende: 1. Bayerische Staatsbibl. Xyl. 1 bzw. 2 geschnitten von Hans Spoerer, Nürnberg um 1472. Ediert v. K. Pfister, Das puch von dem entkrist, Leipzig 1925. 2. Stadtbibl. Frankfurt a. M. Typograph. Ausgabe. Straßburg um 1482. Ediert v. E. Kelchner, Der Enndkrist, Frankfurt a. M. 1891. Beide Editionen haben unseren Untersuchungen zugrunde gelegen. 3. »Hye hebt sich an von dem Entchriste / genommen und getzogen ussz vil bü- / ern der heilige geschriffl.« - Sine loco et anno. Typograph. Ausgabe. 4. »Dis büchlein sagt vo des Endtkrist's leben vo I regierung durch verhengniss / gottes, wie er die weit dut verkeren mit synen falsche ler / und rat des tufels.« - . . . Getruckt zu Strassburg. Von Mathis Hupfuff. Sine anno. Typograph. Ausgabe. 5. »Dys büchlein sagt / von des Endkrist's leben und regierung durch verhengnuss gottes, wie er der werlt thut verkeren mit seyner falschen leer un / rath des teuffels« . . . Zu Erffordt hat gedruckt mich / Matthes Maler fteyssigklich / zu dem schwartzen horn bey der kremer brücken. / Do will ich der keuffer warten. M.C.C.C.C.C.xvi Jar.« - Typograph. Ausgabe. 6 Vgl. G. Frenzel: Corpus vitrearum medii aevi, Deutschland Bd. X (in Vorbereitung). 7 S. Martha, 1363 Stiftung des an der Regensburger Straße gelegenen Pilgerspitals durch Conrad Waldstromer d. Ä. und dessen Ehefrau Agnes Pfinzing; 1365 Chorbau der Kirche erwähnt. 1376 Ablaß für »hospitale seu capella«. 1366-80 Ablässe für »fabrica capellae«, 1381182 Kirche wohl benutzbar. 1385 Weihe von Kirche, Chor und den drei Altären (Hlg. Dreifaltigkeit, Maria und 12 Apostel), wohl unmittelbar nach der Weihe Erstellung der Farbverglasung von Chor (1385 bis 1390) und Schiff (1390 bis 1400). Zu den Stifterdaten vgl. Anm. 8. 237

8 Stifter

des Fünfzehnzeichenfensters

sind Hans Rieter

d. Ä. (Scheibe

1 a), gestorben

1414 am

Samstag nach Ostern, verheiratet in erster Ehe mit einer Behaimin, in zweiter Ehe mit einer Vorchtelin. Zur Zeit der Fensterstiftung war Hans Rieter noch mit der Behaimin verheiratet. In Scheibe 1 c is dargestellt Hans Rieter d. ]., gestorben 1404 am Samstag vor Valentin, verheiratet mit einer Stromerin (Stromerarchiv, Historische Denkmale Nürnberger Kirchen, 1622). 9 A.Stange: Eine oberrheinische Handschrift aus der Mitte des Ii. Jahrhunderts: Beiträge zur Forschung. Studien aus dem Antiquariat Jacques Rosenthal N. F. II, München 1929, S. 25 ff. 10 Petrus Comestor, Historia evangelica, cap. CXLI: De signis quindecim dierum ante Judicium. Hieronymus autern in annalibus Hebraeorum invenit signa XV dierum ante diem judicii, sed utrum continui futuri sint dies Uli, an interpolati non expressit. Prima die eriget se mare XL cubitis super altitudinem montium stans in loco suo quasi murus. Secunda tantum descendet, ut vix posset videri. Tertia marinae beluae apparentes super mare dabunt rugitus usque ad caelum. Quarta ardebit mare et aquae. Quinta herbae et arbores dabunt rorem sanguineum. Sexta ruent aedificia. Septima petrae ad invicem collident. Octava fiet generalis terrae motus. Nona aequabit terra. Decima exibunt homines de cavernis et ibunt velut amentes, nec poterunt mutuo loqui. Undecima surgent ossa mortuorum et stabunt super sepulcra. Duodecima cadent stellae. Tredecima mortient viventes, ut cum mortuis resurgant. Quartadecima ardebit caelum et terra. Quintadecima fiet caelum novum et terra nova et resurgent omnes.

238

H E I N R I C H R A G A L L E R • DAS V I T U S L E G E N D E N - F E N S T E R I M C H O R

DER

P F A R R K I R C H E ZU I P H O F E N

In der Pfarrkirche der kleinen mittelfränkischen Stadt Iphofen, auf halbem Wege zwischen Nürnberg und Würzburg, haben sich in dem aus dem frühen 15. Jahrhundert stammenden Chor umfangreiche Teile der alten Chorverglasung erhalten 1 . Kürzlich konnte ein Teil dieser Glasgemälde mit der Darstellung der Legende des H l . Sebald erstmals vorgestellt werden 2 . Unbesprodien geblieben ist bis heute der andere, schönere Teil dieser Glasmalereien mit der Darstellung der Legende des H l . Veit, von dem hier gehandelt werden soll 3 (Abb. 1 und 2).

239

Wie der Zyklus des H l . Sebald, so ist auch der des H l . Veit bei der 1913 erfolgten Restaurierung der Glasmalereien oder schon im 19. Jahrhundert aus einem hinter dem barocken Hochaltar gelegenen Fenster im Chorhaupt hervorgeholt und ausgebessert worden. D a n n hat man den unteren Teil des Zyklus in das westliche Fenster der Chornordseite, den oberen Teil in das gegenüberliegende der Südseite eingesetzt. Messungen ergaben, daß der nun auf diese Weise auseinandergerissene Zyklus ursprünglich die Verglasung f ü r das, wie alle Chorfenster zehnzeilige, Chorhauptfenster gewesen sein muß, da - abgesehen von anderen G r ü n d e n 4 - die Bahnbreite nur dieses Fensters der Breite der Vitusscheiben (34 cm) entspricht 5 . Trotz der im Laufe der Zeit erfolgten Beschädigungen haben sich immerhin acht Zeilen dieses vierbahnigen Fensters - zusammen also 32 Sdieiben - erhalten 6 . In der richtigen Weise zusammengesetzt (vgl. Rekonstruktion Abb. 3) zeigt der Zyklus vier Szenen aus der Legende des Märtyrers, die - von unten

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bergers Landshuter Rosenkranzmadonna um 1516-18", der Altar von Mauer bei Melk, um 1515-17 10 , der Niederrothweiler Altar des Meisters H L , um 1516-18 11 . Die kurze Reihe macht bewußt, wie sehr diese Phase durch das Explosive bestimmt wird, durch die ekstatische Steigerung, in der sich eine im Künstlerischen wie im Religiösen enorme Spannung in gewaltiger Entladung löst. In der Tat läßt sich das Verhältnis zwischen den beiden H ä l f t e n des zweiten Cinquecento-Jahrzehnts mit den Bezeichnungen Spannung und Lösung charakterisieren. Das frühere Lustrum - das der Vollendung der Sixtinischen Decke, des Isenheimer Altars, der Meisterstiche Dürers, der Johannestafel Altdorfers und des Beginns der Innsbrucker Grabmal-Statuen - steht unter einem ernsten, drückenden, bedrohenden Himmel: das zweite Lustrum drängt brausend zum Himmel empor: man kann es geradezu das himmelstürmende nennen. Aber nur bis 1518 herrscht die Ekstase. Um die Wende gegen 1519 liegt eine erstaunlich scharfe Grenze. Der pathetische Rausch erlischt und die gleichen Meister setzen sich verblüffend entgegengesetzte Ziele. Beruhigung tritt ein, statuarische Einzelgestalten und Einzelcharaktere geben dem Plastischen ein neues Gewicht. Monumentale Bodenschwere und Standfestigkeit treten dem Schweben und dem Aufflug gegenüber. Das unerschütterliche Stehen und Einstehen der Gestalten bietet im sakralen Bereich f ü r das Zeugenhafte, das Bekennerhafte die besten Möglichkeiten. Wieder eine Reihe von Hauptzeugnissen f ü r diese Wendung: Dürers Marien-Stich von 1519 im Vergleich mit dem vorangehenden von 1518 (B 36, B 39); Baidungs ApostelHolzschnitte 1 2 von 1519 im Vergleich mit den schon zitierten Schnitten der AssuntaPhase; Grünewalds Stuppacher Maria von 1519 und seine Mauritius-Tafel in München um 1520-22 1 3 ; Altdorfers zweiter St. Florianer Altar 1 4 ; der Erbsenschotenstich des Meisters H L von 1519 und die ihm verwandten Blätter 1 5 ; Hans Leinbergers N o t h a f t - E p i t a p h in Landshut, um 1521 16 . Wie dieses Ende der Assunta-Phase um 1519, so läßt sich auch ihr Beginn um 1514/15 besonders gut bei Dürer verfolgen. 1514 ist das Vollendungsjahr jener Trias der Schwermut, die 1513 mit dem Ritter zwischen Tod und Teufel begonnen und nun mit »Melancholie« und »Hieronymus im Gehäus« abgeschlossen wird. Im selben Jahr entsteht die gnadenlose Zeichnung der dem Tod geweihten Mutter 1 7 , 1514 sind auch die zwei schwermütigen Federstudien nach dem Bruder Endres 1 8 datiert. Die zweite von ihnen, Halbfigur im verlorenen Profil, hat Dürer f ü r den ersten der vier großen Kaltnadelstiche verwendet: f ü r die unvollendete »Verzweiflung« (B 7 0 ) l t . Das Thema dieses unheimlichen und noch ungedeuteten Stiches fügt sich wohl noch zu der Stimmung von 1514. Doch beginnt lebhaftere Aktion, runde, kreisende Formen wirken im Kompositionellen wie in der Gestaltung der Akte: die Spannung beginnt sich zu entladen. Kein Zufall, daß die Kaltnadeltechnik damit für Dürer Bedeutung gewinnt, daß sie für einige Jahre den geliebten Kupferstich zurückzudrängen vermag, denn sie ist, rauh und großzügig, f ü r das Expressive und Wilde, das Konstraststark-Malerische, besonders geeignet. Der »ölberg« (B 19) 20 von 1515 bringt rasche Stei-

gerung, mit dem Sturmwind im Baum, dem mächtigen Engelskopf. Aber erst bei den beiden K a l t n a d e l b l ä t t e r n von 1 5 1 6 , der »Entführung auf dem Einhorn« (B 7 2 ) 2 1 und dem »Schweißtuchengel« (B 2 6 ) bricht das volle Pathos in grellem Helldunkel und rauschender Bewegung ganz durch 2 2 . Auch bei Altdorfer vollzieht sich eine analoge W a n d l u n g 2 3 . D e n tragischen Stil bezeichnen die Florentiner Beweinungs-Zeichnung von 1513, der Christophorus-Holzschnitt des gleichen Jahres und eine Reihe verwandter Stücke. Dagegen bietet die kleine »Heilige Familie« der Wiener Galerie von 1515 das Hauptbeispiel jenes (bei Altdorfer und der Donauschule schon zweiten) Parallelfaltenstils, der sich in Süddeutschland wie bei D ü r e r 1515 durchsetzt und dann zu den wichtigsten Formenmitteln der Assunta-Phase überhaupt gehört. Grünewald und Baidung vollziehen innerhalb der A l t ä r e von Isenheim und Freiburg analoge Schritte, worauf hier nicht eingegangen werden k a n n 2 4 . K u r z : überall kündigt sich 1515 die Umschmelzung von Hagerkeit und Last in runde und kreisende Formen an. Aber erst 1 5 1 6 wird die Schwere überwunden, wird der Aufschwung nach oben erreicht. Mein Vorschlag, diese Phase nach Tizians Assunta, ihrem berühmtesten W e r k , zu bezeichnen, l ä ß t sich mehrfach begründen. D e n n erst sie bringt jene formale Konzeption zur Herrschaft, die Tizians B i l d bezeichnet und die bei grundverschiedenen Themen wiederkehren k a n n : vor allem aber ist das T h e m a der Assumptio geradezu das zentrale dieses historischen Augenblicks. DIE

DREI-ZONEN-KONZEPTION

Tizians Assunta wird durch Vertikalordnung und klare Dreischichtigkeit bestimmt: Erdenzone der Apostel, Schwebezone der M a r i a , Himmelszone Gottvaters. D e n gleichen A u f b a u zeigt der im selben J a h r 1 5 1 6 begonnene Schrein des Zwettler Altars: unten, noch enger gedrängt, die Apostel, in der Schwebezone M a r i a mit Engeln in W o l k e n 2 5 , oben die Himmelszone mit den göttlichen Figuren, wieder in relativ schmalem, niedrigem Streifen. Bei dem A l t a r von M a u e r geht es nicht um die Assunta, sondern um die M a r i a in throno. Doch ist der A u f b a u verwandt. D i e unterste Zone zeigt »Alleheiligen«

und

»Alleseelen«, die Schwebezone M a r i a über W o l k e n mit P u t t e n 2 6 , in der Himmelszone sind G o t t v a t e r und die T a u b e mit den Kronenengeln wieder in den Bogenstreifen gedrängt. Ein anderes T h e m a gibt Dürers Veronaikon-Engel von 1516. D a s Schwergewicht ist noch mehr in die Mittelzone verlegt: U n t e n die Engel mit den Leidenswerkzeugen, darüber die riesige Schwebefigur mit W o l k e n und Putten, im schmalen Oberstreifen aber, auf dem emporwehenden Tuch, zu dem der Engel aufblickt wie Tizians Assunta zu G o t t vater, das H a u p t Christi als Repräsentant der Himmelszone. N u n ein profanes Gegenstück: der foliogroße Moresken-Tanz-Holzschnitt des Breisacher Meisters H L , der sich gegen 1 5 1 6 datieren l ä ß t 2 7 . D a s T a n z t h e m a ist u. a. aus Grassers Münchner Figuren und den Reliefs vom Goldenen Dachl in Innsbruck b e k a n n t 2 8 , von dort auch schon das Zuschauer-Motiv (Maximilian, einmal mit Minister und N a r r , einmal mit seinen Frauen B i a n c a und M a r i a ) . D e r T a n z um die F r a u mit dem Apfel

wird von H L durch Spiegel, Krone und das Kugelpostament eindeutig als Tanz um Frau Venus gedeutet. Ein größerer Gegensatz zur Assunta scheint zunächst kaum denkbar. So mutet es fast blasphemisch an, wie hier die aufblickenden Tänzer im Vordergrund die Apostel vertreten, die auf der Kugel schwebende Venus die Madonna und der uralte König mit seinem Gefolge den Gottvaterbereich in dem obersten Zonenstreifen. Ist die dreiteilige, vertikalisierende Anordnung aber nicht wenigstens für die echten Assunta-Konzeptionen schon früher geläufig gewesen und natürlich? Ein Blick auf die großen Schnitzaltäre und die Gemälde seit 1470 beweist das Gegenteil. Soweit sie die Handlung des Assumptio-Festes vom 15. August darstellen, geben sie traditionsgemäß entweder den Marientod oder die Marienkrönung (Gries, St. Wolfgang). Also die beiden Stationen vom Anfang und vom Ende des Geschehens: nicht aber den Weg dazwischen, nicht den Flug. Einen ersten Schritt zur Zweizonigkeit kündigt leise der Krakauer Schrein an, wenn über der sterbenden Maria die Jungfrau noch einmal kleiner mit Christus erscheint, der ihre Seele holt. Oberhalb des Schreins im Gespreng ist Maria ein drittes Mal in der Krönung dargestellt. Eine Tafel der Wiener Altarflügel des Malers Rueland Frueauf des Älteren aus den Jahren 1490/1491 bringt dann bereits eine echte Zweizonigkeit und auch schon die reine Schwebezone. In Creglingen hebt sich Maria - wenn auch noch nicht scharf geschieden über die Apostel empor. Dürers Helleraltar bot über den Jüngern schwebend die Marienkrönung. In seinem Wiener Allerheiligenbild kündigt sich - bei anderem Thema, das 2

DÜRER, ENGEL MIT DEM SCHWEISSTUCH DER VERONIKA

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BALDUNG, HIMMELFAHRT DES LEICHNAMS CHRISTI

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MEISTER H L , M A R U S K A T A N Z

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Dreifaltigkeit und Allerheiligen kombiniert - sogar eine Dreizonigkeit an, dank der Landschaft mit dem kleinen Selbstporträt. Hier dominiert aber noch die Himmelszone mit dem Gnadenstuhl. Aus den tragischen Jahren nach 1510 fehlt eine mehrzonige Mariendarstellung. Baidung kehrt bei der Fassung f ü r Freiburg von 1513 sogar zur einzonigen Marienkrönung zurück. Erst 1516-18 aber wird schlagartig die vertikalisierende dreizonige Konzeption entdeckt und breit aufgenommen. Sie gehört der Assuntaphase also besonders zu. U n d ebenso schlagartig verschwindet sie wieder mit der Wende von 1518/19. Kein H a u p t w e r k eines der Großmeister bedient sich ihrer mehr, und an Stelle der vertikalen Ordnung tritt die horizontal bestimmte, wie sie dem Statuarischen und dem Zeugenhaften entspricht. Neben der Anordnung um eine zentrale Mittelfigur tritt die Neigung zu freier Mitte bei zwei oder vier Gestalten und zur Zweipoligkeit in der Breite hervor: so bei Grünewalds Mauritius-Bild in München, so bei dem Tympanon (!) des Meisters von Zwettl an der Wiener Salvator-Kapelle 2 ", so mutatis mutandis bei Dürers AbendmahlHolzschnitt (B 53) von 1523. Auch noch Dürers Vier Apostel von 1526 sind diesem Prinzip verpflichtet. Erst spätere Epochen werden die dreizonig vertikalisierende Konzeption wieder aufgreifen. Sie drängt zur Höhe: wie Tizians Assunta in Venedig, so war die des Zwettler Altars in Süddeutschland vielleicht die höchste überhaupt. Auch dies gehört zu dem Wesen dieser unbändigen Zeit und zu ihrem Himmelssturm. Dieser hat in Deutschland noch eine weitere zugehörige Konzeption in Gipfelwerken Gestalt gewinnen lassen: die schwebende Skulptur im Kirchenraum. 1517-18 entstand der Englische Gruß für St. Lorenz zu Nürnberg durch den alten Veit Stoß 3 0 , um 15161518 H a n s Leinbergers grandiose Landshuter Maria 3 1 , einst ebenso schwebend im Rosenkranz aufgehängt. Auch diese Schwebewerke sind dreizonig. Maria wird zwischen Erde und Himmel versetzt. Nicht als Assunta, sondern als Entrückte, am Anfang ihrer Berufung, bei der Verkündigung und am Ziel ihrer Berufung, als Himmelskönigin. Wie in diesen Fällen nur die Schwebezone »gestaltet« wird, gibt Dürers »Schweißtuchengel« trotz dreiteiliger Komposition die Erdenzone preis. Alles spielt im Wolkenbereich. Hierin ist Baidungs kühner Holzschnitt mit der Himmelfahrt des Leichnams Christi ein Gegenstück. N u r die Schwebezone im Wolkenbereich und die Himmelszone sind dargestellt; die letztere mit dem kleinen Gottvater in die Ferne gerückt, die erstere groß und beherrschend. Auch damit tritt ein Wesentliches der neuen Assunta-Kompositionen hervor. Auff a h r t und Flug sind wichtiger als Tod und Krönung Mariae, der Weg wichtiger als das Ziel, wie das Treppenhaus im deutschen Barock größer und großartiger werden kann als der Festsaal. In der Eroberung und Gestaltung der Schwebezone hat die neue vertikale Konzeption ihren Ursprung und ihr Herzstück. Sie bedeutet im Sakralen Verbindung zwischen Erde und Himmel und die Sehnsucht, ihn zu erreichen, zu erobern. Dies ist die Antwort auf den schweren, ehern lastenden Himmel der Jahre vorher, von der Sixtinischen Decke bis zu den Meisterstichen und der Kreuzigung von Isenheim.

ZUR THEMATIK D E R

ASSUNTA-PHASE

Das kleine, heute in drei Teile zerschnittene Täfelchen Raffaels von 1507 aus Perugia in der Vatikanischen Galerie, das sich dank einer alten Kopie rekonstruieren läßt 3 2 , zeigt eine Rasterkomposition mit den Halbfiguren von Fides, Caritas und Spes in Halbrunden, von Putten flankiert. Oben der Glaube, unten die Hoffnung, in der Mitte die Liebe, auch kompositionell besonders betont. Es war jener Zeit allgemeiner religiöser Bildung gewiß selbstverständlich, diesen Gedanken auch auf die neuen Assunta-Kompositionen von 1516-18 und ihre Dreizonigkeit zu beziehen. Gottvater oben ist Urgrund des Glaubens, die Apostel vertreten die Hoffnung, Maria aber ist Sinnbild der Liebe, die den Menschen über sich selbst erhebt, die allein den Himmel eröffnet, die Gott zur Gnade bewegt. Und in diesen Kompositionen ist, wie bei Raffael, die Liebe nicht die höchste der drei Kardinaltugenden, aber »die größeste unter ihnen«. In diesem Sinn ist Maria die Verkörperung der Liebe, die den Himmel erobert. Sie ist die beherrschende Hauptgestalt und zu ihr gehört die Farbe der Liebe, das grandiose Rot, das Tizians Gemälde überwältigend durchstrahlt. Entgegen der verzweiflungsnahen Schwermut unter drohendem Himmel in den Jahren vorher bedeutet dies schon im Verhältnis der Geschlechter etwas Neues. Das Weibliche, Marianische kulminiert noch einmal. Dieser Höhepunkt liegt knapp vor dem Niedergang der Marienverehrung und dem Zusammenbruch der Marienwallfahrt, der in den zwanziger Jahren offensichtlich wird. Aber schon mit dem neuen Stil von 1519 treten männliche Gestalten in den Vordergrund: der Salvator, die Apostel, Bekenner, Zeugen, bei Dürer, Grünewald und Baidung 33 . Auch in der Skulptur kommt dagegen um 1516-18 der Maria noch die größte Bedeutung zu: Mauer, Zwettl, Niederrothweil, die Landshuter Maria und der Englische Gruß in Nürnberg sind die Hauptwerke schlechthin in Deutschland. Und Mauer zeugt davon besonders gewichtig, denn hier waren nur Dreifaltigkeit und Allerheiligen als Altarpatrozinien gegeben - und doch wurde ein Weg gefunden, Maria in den Schrein zu bringen, ja sie zur Königin des Ganzen zu machen: es ist sogleich die Rede davon. Dies führt auf weitere charakteristische Züge unserer Phase. Sie ist dem Gedanken der Assumptio, des Aufflugs und der Himmelfahrt wie im Zwang hingegeben und überträgt ihn selbst auf fremde, z. T. logisch widersprechende Themen, wie bei Baidungs Himmelfahrt des Leichnams. Und sie kombiniert in einer geradezu entfesselten Phantasie dieses Assunta-Programm mit anderen Motiven. Die Freude an solchen Legierungen ist für die deutsche Kunst besonders bezeichnend. In Zwettl

werden Assunta und Marienkrönung verbunden, beide aber in den durch

ein Wunder im Winter grünenden Eichbaum der Stiftungslegende eingeschlossen, an dessen Stelle der Altar errichtet war. Den Wurzelstamm zeigte die Predella. Im Schrein teilt er sich mit neuen Wurzeln in die zwei Bäume zu den Seiten. Sie wuchsen durch die Schreindecke, bildeten mit mächtigen, vielfach ausschlagenden Ästen das noch einmal die Mutter Gottes mit Heiligen umschließende Gespreng und einigten sich darüber zu dem Eichengipfel, an dem der Kruzifixus hing. So wurde auch noch der Gedanke des Lebensbaumes einbezogen.

In Mauer wird schon in der untersten Zone Allerheiligen mit Allerseelen kombiniert. Bei der Dreifaltigkeit werden die gewohnten Traditionen - Gnadenstuhl, zwei göttliche Personen mit Taube, drei göttliche Personen 3 4 - preisgegeben und zu Gottvater und der Taube tritt als dritte Person das Christkind auf dem Schoß der Mutter. Damit wird es möglich, das Motiv der thronenden Maria einzuschmelzen - und den Herzgedanken der Epoche, den des Schwebens; denn der Thron schwebt auf Wolken und oben warten die Engel mit der Krone. Wieder beherrscht die göttliche Liebe das Ganze: die Heiligen flehen liebend f ü r die Seelen. Maria ist die Gnadenvermittlerin, und die dreieinige Gottheit selbst verkörpert sich mit einer Person in dem Liebesmotiv des göttlichen Kindes. Das Schweißtuch-Thema hat Dürer vorher in dem Kupferstich von 1513 behandelt. Das Tuch wird von zwei Engeln gehalten, Breitformat, die Ikone en face: schwermütig und streng das Ganze, heraldisch gebunden. Bei dem Kaltnadelblatt von 1516 tritt es verwandelt und in mehrfacher Legierung auf. Das Veronaikon wird mit den Leidenswerkzeugen verbunden, aber nach Größe und Bedeutung weit über sie erhöht. An die

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HOCHALTAR VON ZWETTL (JETZT A D A M S T H A L / M Ä H R E N )

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A L T A R I N M A U E R BEI M E L K

Stelle der zwei Engel tritt der eine, riesengroße mit seinem A u f f a h r t - M o t i v , von Wolken und Putten umschlossen. Er hält das Tuch, wie es sonst die hl. Veronika, die liebend Mitleidende, tut, und tritt damit an ihre Stelle. Indem es emporweht, verliert das Antlitz Christi seine Hieratik, und der Mitleidsblick des Trägers kann es erreichen. Zugleich aber wird es zur Repräsentanz der göttlichen Zone. Wieder steht der Liebesgedanke, diesmal in Mitleidsbetonung das Ganze beherrschend, auf. Hierin ist Baidungs Himmelfahrt des Leichnams dem Dürer-Blatt eng verwandt. Man nimmt eine der Visionen der hl. Birgitta von Schweden als anregend an »wo Engel, zahllos wie Sonnenstäubchen, den vom Kreuze abgenommenen Heiland, Ihrem H e r r n und Schöpfer, Anbetung und Ehre erweisen«. Aber wie weit geht Baidungs Holzschnitt darüber hinaus! Denn dort ist nicht von einer Himmelfahrt die Rede, nicht von Schweben in den Wolken, nicht von dem auf die A n k u n f t des emporgetragenen Leichnams Christi harrenden Vater. Die Szene ist auch im Evangeliengeschehen nicht unterzubringen. Sie muß so gedeutet werden, daß Gottvater den Leichnam in der Zeit der Grabesruhe von den Engeln sich nahe bringen läßt, obwohl Christus bald wieder auferstehen und vierzig Tage später zum Himmel auffahren wird, um zu seiner Rechten zu sitzen. Das bedeutet, in Analogie zur Marienklage, eine »Gottvaterklage«. Sie wirkt doppelt erschütternd, weil es Kinderengel sind, die den Leichnam in die Wolken schleppen und beweinen. Gewiß ein der Mystik verbundener Gedanke - sie trägt ja allen besprochenen Konzeptionen entscheidende Züge bei. Aber die Vorstellung, daß auch der Allmächtige, alles Vorherwissende, den Leichnam zu sich ruft, um über ihn zu trauern: das ist ein neues Motiv der himmlischen Liebe. Auch bei der profanen, scheinbar blasphemischen »Assunta-Komposition« des Meisters H L, dem Moreskentanz-Holzschnitt, ist die kombinatorische Phantasie analog am Werk. Das Grundthema, der T a n z um das Weib mit dem Apfel, wird zunächst zum Tanz um die Venus bereichert; dann aber: es ist kein beliebiges Königspaar, das aus der zweigeteilten Loge zusieht: ein uralter weißbärtiger König und eine junge, blondgelockte Königin, also ein ungleiches Paar. Das Motiv hat damals gewiß nicht in namenloser Fabel gelebt, wie in dem Heine-Gedicht. Am Oberrhein besonders, in der Heimat G o t t fried von Straßburgs und seines Tristan-Epos, hat man es gewiß mit dem N a m e n von König Marke und Isolde verbunden. Welcher Einfall aber, ein solches Königspaar zum Zuschauer des lasziven Werbespiels um Frau Venus zu machen! Sie, die formal und in der Bewegungskomposition Oben und Unten verbindet und die Mitte beherrscht, wird damit als Königin der irdischen Welt sichtbar gemacht, der alle verfallen sind, von den Rüpeln in der niederen Zone bis zu den Königen: mit N a r r e n unten und oben. Wieder also steht das Liebesmotiv alles bestimmend in der Mittelzone. Die Venus wird als Sinnbild der irdischen, der unheiligen Liebe, Maria als Sinnbild der himmlischen Liebe entgegengestellt. Damit verliert die Verwendung der gleichen Dreizonenkomposition das Blasphemische und die scheinbar ganz profane Darstellung gewinnt einen auch moralischen Sinn.

Einen auch moralischen: denn ganz eindeutig ist sie nicht, und dies führt auf einen bestimmten Zug auch der sakralen Kompositionen, der ihnen Hintergründiges verleiht. Schon bei Tizians Assunta ist unverkennbar, daß der machtvollen, sich breit entfaltenden Liebeskönigin nur ein schmalstreifiger und beengter Himmelsbereich entspricht. Gottvater spiegelt gnadenhafte Güte, teilnehmendes Gewährenlassen, bleibt aber, horizontal vorfliegend gedacht, unbestimmt, beinahe unansehnlich, eigentümlich kraftlos. Der Engel rechts wirkt wie ein notwendig stützender Helfer. Allmacht ist diesem Gott weit weniger verliehen als der grandiosen Mariengestalt erobernde Stärke. Die Antwort von oben ist schwächer als ihr Anruf. Bei den deutschen Schöpfungen trifft man dieselbe Erscheinung: nur viel radikaler und »gefährlicher«, so wenig behauptet werden soll, daß sie mit gezielten Gedanken die Allmacht gegenüber der Macht der Liebe in Frage stellen wollen. Eine Wirkung dieser Art, zumindest auf den Betrachter von heute, ist aber nicht zu leugnen. Überall tritt eine dämonische Verzauberung der christlichen Vorstellungswelt hervor, der auch das Bild des Göttlichen selbst mit verfällt. In Zwettl

dringt, wie schon andernorts genauer dargetan wurde 3 5 , die N a t u r , die

Landschaft, der Wald im Geist des Celtes in den Schrein ein. Die Apostel werden zu Rübezahlgestalten. Zwischen ihre Zone und die Maria mit ihren Schleppenengeln fügen sich links und rechts der wie buddhistisch verzauberte K o p f des Stifters und der GnomenPutto mit der geheimnisvollen N u ß ein. Die Engel um Maria singen: aber es ist mehr ein Schreien und Seufzen, Trunkenheit, doch ohne lächelnde Fröhlichkeit, unheimlich in ihrem Ernst. Dann aber die Himmelszone: Gottvater und Christus, auffallend gleichaltrig und brüderlich, sind paarig, nicht hierarchisch geordnet, klein und eingeklemmt zwischen Regenbogen und Krone, sind zwei Assistenzfiguren, in Stellung und R a n g der Kronenengel bei Mariendarstellungen sonst: eingesponnen in ein N e t z trunkener Putten von gnomischer Verhexung und Mimik, grimassierend ohne Fröhlichkeit. Welch' f r a g würdiger, ohnmächtiger Himmel! Der Meister von Mauer, anderer H e r k u n f t und Schulung, steht auch dem Temperament nach zu dem Meister von Zwettl in Gegensatz. Alles Dunkle ist ins Helle gewandelt. Doch die Verzauberung wirkt auch hier. Unter den Heiligen finden sich, zumal unter den Frauen rechts, aber auch mit dem zahnlosen Alten und dem Hutträger neben ihm, höchst unheilige, triebbeherrschte Typen. Bei den Frauen trifft man Hochmut, derbste Sinnlichkeit bis zu trunkenem Gelächter. Maria, die das wilde K i n d auf dem Knie balanziert, ist ein erdhafter Typus, rundköpfig, unvergeistigt, doch in der Haltung von fast theatralischem Selbstgefühl. Die musizierenden Putten um sie sind voll jauchzender Fröhlichkeit, aber auch sie ins Gnomische verzaubert, frech und respektlos, köstliche Kobolde. Und darüber wieder die Zone des Göttlichen: Gottvater, zum Gegenstück der skurrilen, sich im Stehen spreizenden Taube gemacht, erscheint nur in Halbfigur. Die Engel mit der Marienkrone drängen ihn in den Bogenwinkel. So ist er kaum mehr eine vollwertige Assistenzfigur der thronenden Königin. Sein Antlitz spiegelt eher Ohnmacht als All291

macht.

Auch der kleine G o t t v a t e r über d e m a u f f a h r e n d e n Leichnam Christi auf Baidungs H o l z s c h n i t t t r ä g t ähnlichen A k z e n t . W i e der K ö r p e r des toten Sohnes v o n zu schwachen H e l f e r n , die F ü ß e voraus, emporgeschleppt w i r d , zeugt nicht f ü r seine Allmacht, auch seine T r a u e r nicht. E t w a s v o n einem Angriff gegen den H i m m e l klingt mit, besonders zwielichtig, da nicht erwachsene Engel schalten, wie es das D e k o r u m e r w a r t e n ließe, sondern weinende, v e r z w e i f e l t e P u t t e n mit der Last den H i m m e l zu erreichen suchen. G e w i ß h a t D ü r e r seinem g a n z e n C h a r a k t e r nach bei seinem V e r o n a i k o n - B l a t t eine b e w u ß t e F r a g e oder etwas wie E m p ö r u n g f e r n gelegen. A b e r auch dieser Ausbruch gegen oben h a t Unheimliches, Dämonisches. I n N a c h t u n d G e w i t t e r s t u r m w i r d das heilige Tuch emporgebracht. Wehrlos w e h t das Bild Christi k o p f ü b e r im W i n d . Sicher ist ein M e m e n t o f ü r den schuldhaften Menschen gewollt, wie bei Baidungs Leichnam Christi: Aber es ist doch beidemal ein Aufschrei gegen den H i m m e l , dem keine sichere, unbedingte A n t w o r t zuteil w i r d . V o n hier aus noch einmal zu dem M o r e s k e n - H o l z s c h n i t t des Meisters H L zurück. A u d i d a ist die oberste, herrscherliche Z o n e in ihrer Sicherheit u n d Macht m i t dem M a r k e I s o l d e - M o t i v in F r a g e gestellt, ins Schwanken gebracht. Auch diese Erscheinung gehört zu der Assunta-Phase, zu ihrem H i m m e l s s t ü r m e n u n d zu der Rolle, die dem Bereich der Liebe zugeteilt ist. D i e Z o n e zuoberst, die Zone des Glaubens, ist zu ihren Gunsten schmal g e w o r d e n , ist g e f ä h r d e t . Welcher W a n d e l des G o t t v a t e r b i l d e s innerhalb eines J a h r z e h n t s ! Aus dem strengen u n d f u r c h t b a r e n G o t t über dem Geschlecht der Sixtinischen Decke, des Isenheimer A l t a r s u n d des » V e r z w e i f e l n d e n « D ü r e r s ist m i t Tizians Assunta, m i t dem W a n d e l v o n Desp e r a t i o z u r E x a l t a t i o ein milder, dem A n s t u r m der Liebe nachgebender G o t t der G n a d e geworden, ein leidender G o t t in Baidungs »Vaterklage« u n d ein in seiner H e r r s c h a f t b e d r o h t e r G o t t in M a u e r u n d Z w e t t l . D i e E x a l t a t i o n der Assunta-Phase entbindet die P h a n t a s i e v o n jedem o r d n e n d e n D o g m a , jedes Geschehen z ü n d e t in Explosion gegen die W o l k e n e m p o r . D a s A f f e k t i v e herrscht v o r der R a t i o u n d auch der H i m m e l w i r d v o n einer dämonischen V e r z a u b e r u n g e r f a ß t , die ihn in unendlichem G e w o g e einer A l l n a t u r pantheistisch einschließt u n d - auch bei A l t d o r f e r s Passionsaltar - eines chaotischen, diabolischen Zuges nicht entbehrt. U n d d a n n noch einmal a m E n d e dieses J a h r z e h n t s geschieht w i e d e r u m eine nicht m i n der r a d i k a l e W a n d l u n g . T e s t i m o n i u m w i r d n u n ein brauchbares K e n n w o r t . D a s Zeugenh a f t e bestimmt die neue Bilderwelt. Alle Gestalten k e h r e n z u r Erde, z u m sicheren S t a n d e zurück. D e r S a l v a t o r u n d die Apostel v e r d r ä n g e n das C h r i s t k i n d u n d M a r i a . D e r G l a u b e u n d die H o f f n u n g treten hervor, die Macht der Liebe u n d d a m i t des Weiblichen t r i t t zurück. D a s Geschlecht der späten D ü r e r - P o r t r ä t s steht h i n t e r den neuen Bildern. D e s p e r a d o , E x a l t a t i o , T e s t i m o n i u m sind auch f ü r den Weg des religiösen Deutschl a n d in jenem Schicksalsjahrzehnt brauchbare Begriffe. Auf dem H ö h e p u n k t der E x a l tatio 1517 f ü h r t der Thesenanschlag v o n W i t t e n b e r g z u r gigantischen Explosion. V o r h e r , in den J a h r e n zwischen der Sixtinischen Decke u n d Isenheim, ringt auch L u t h e r noch in V e r z w e i f l u n g mit der H o f f n u n g s l o s i g k e i t einer R e t t u n g des schuldbeladenen Menschen

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aus eigener K r a f t und hat als erster mit seinem Paulus-Brief-Erlebnis die erlösende Vision des kommenden Gottesbildes: des Gottes der Gnade. Wenn dann um 1 5 2 0 die Parteien ihren Stand finden, geht es nicht nur in Worms um Zeugenschaft und Bekennen. ANMERKUNGEN

1 Ich habe zuletzt in den »Altdorf er-Studien« (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft III), Nürnberg 1959, S. 72, den terminus »Assunta-Phase« im Zusammenhang mit Altdorfers St. Florianer Passionsaltar von 1518 eingeführt. Er wird nun umfassender begründet. 2 B 26: eine 1515 datierte Vorzeichnung zu dem Engel in London. »Sie ist recht treu übertragen, aber erst die Radierung arbeitet das visionäre Element heraus . . .« (F. Winkler, Albrecht Dürer, Berlin 1957, S. 257). 3 O. Benesch, Der Maler Albrecht

Altdorf er, Wien 1938 bzw. 1943, Abb. 24 f f .

4 Bruno Bushart, Meisterwerke der Stuttg. Staatsgalerie 1960, S. 38, Taf. 19 f f . , Farbtafel IV. 5 Katalog der Älteren Pinakothek, Mündjen, 1936, Nr. 685. 6 Beweinung Christi, Himmelfahrt des Leichnams Christi, Christus an der Martersäule, der letztere 1517 datiert. Die Ansetzung der übrigen Blätter nach Carl Koch und Katalog Karlsruhe, Ausstellung Hans Baidung Grien, 1959, II H 12, S. 231; II H 59, S. 260; II H 15, S. 234; II H 14, S. 233. 7 K. Oettinger, Anton Pilgram und die Bildhauer von St. Stephan, Wien 1951, Abb. 172 f f . 8 G. Lill, Hans Leinberger, München 1942, Abb. S. 115, 117, 119: Die 1516 datierte Kreuzigung wird von Lill mit Recht an den Anfang der drei Stücke gestellt. Die Kreuzabnahme ist das reifste, doch ist mit ihr kaum über 1517118 hinauszugehen (Werkverzeichnis, Nr. 20, S. 315). 9 G. Lill, a. a. O., S. 175 mit Abbildungen. 10 K. Oettinger, Anton Pilgram, Abb. 153 f f . ; R. Feuchtmüller, Ein Wunder gotischer Schnitzkunst, Wien 1955, mit vielen Abbildungen. Die Entstehung des Altars für die Pfarrkirche von Mauer ist nicht ganz gesichert, doch sehr wahrscheinlich. Der Altar dort wurde 1509, zugleich mit der Vollendung des neuen Chorbaues und des Sakramentshauses geweiht. Doch ist der Aufsatz zweifellos erst nach dem von Seiberl auf den Meister bestimmten Valentins-Altar im Wiener Diözesan-Museum (um 1512/13) entstanden und keinesfalls früher als 1515-17 zu datieren. Spätdatierung, die 11 Zu dieser Ansetzung neigt, gegenüber der noch von Noack vertretenen Mehrzahl der neueren Forscher. Eine Untersuchung des Autors über die Graphik des Meisters H L, die abgeschlossen, aber noch nicht veröffentlicht ist, bestätigt die Datierung und erlaubt die obige Eingrenzung. W. Noack, Der Breisacher Hochaltar des Meisters H L, Deutsche Kunst, Angelsachsen-Verlag, 8 (1942); Thieme-Becker, Band XXXVII, S. 54; G. v. d. Osten, Ein Schüler des Veit Stoß am Oberrhein, Zschr. d. deutsch. Ver. f. Kw. 2 (1935), S. 446, Abb. 13. 12 Katalog Karlsruhe, Ausstellung Hans Baidung Grien, 1959, II H 37-49; O. Hagen, Hans Baidungs Rosenkranz ..., 12 Apostel, München 1928, Abb. 73-85, S. 103-115. 13 W. K. Zülch, Der historische Grünewald, München o. ]. (1938), Abb. 146 und 150. 14 O. Benesch, a. a. O., Abb. 57 f f . Dieser heute an verschiedene Orte zerstreute kleinere Altar ist zweifellos bald nach dem Passionsaltar in Angriff genommen worden. Innerhalb der datierten Zeichnungen läßt sich bei Altdorfer die Wendung zu dem neuen Stil noch in das Ende des Jahres 1518 zurückverfolgen. Vgl. Oettinger, Altdorf er-Studien, S. 74, 75. 15 M. Loßnitzer, Hans Leinberger, Graph. Ges. XVIII. Veröff. Berlin 1913, Nr. 23, Taf. X. Eng verwandt »Ecce homo« und »Barbara-Martyrium« im Lorbeerkranz, Nr. 6 und 8, Taf. 3. Loßnitzers irrtümliche Monogrammdeutung auf Hans Leinberger wurde durch Demmler zugunsten des Breisacher Meisters H L korrigiert.

16 G. Lill, a. a. O., S. 137. Ihm noch vorangehend die Epitaphien in Geisenhausen und Marklhofen, G. Lill, S. 196, 197; etwa gleichzeitig die Maria von St. Kassian in Regensburg (G. Lill, a.a.O., S.201), die im Vergleich mit der Landshuter Rosenkranzmadonna von 1516-18 den Wandel der Proportionen schlagend dartut. 17 F. Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, III, Berlin 1938, Nr. 559. 18 F. Winkler, a. a. O., III, Nr. 557/58. 19 Die Züge dieser Figur gleichen jetzt dem Antlitz Michelangelos, an dessen Geist man sich bei dem großartigen Akt der Hauptfigur erinnert hat. Vgl. G. F. Hartlaub, Zschr. d. deutsch. Ver. f . Kw. 7 (1940) S. 172. 20 Vgl. die Zeichnungen Winklers a. a. O., III, Nr. 584, 585. York. 21 Dazu die Vorzeichnung Winkler, a. a. O., III, Nr. 669 in New 22 Besonders anschaulich wird der analoge Weg in Dürers Bildniszeichnungen. Er führt von den zwei Blättern nach Endres Dürer und der Zeichnung der Mutter von 1514 zu den Mädchenköpfen von 1515 in Stockholm und Berlin, Winkler, a. a. O., III, Nr. 561, 562, und damit zur Rundform und zur kreisenden Form, zum »Parallelfaltenstil«: Die beiden Männerbildnisse, Winkler, a. a. O., III, Nr. 563 und 564 von 1515 und 1516 in Berlin und London charakterisieren dann den nächsten Schritt im Sinn der Steigerung des Ausdrucks, der Straffung von Linien und Konturen, und - wohl auch schon ursprünglich - der Vertikalisierung. Entsprechend wandelt sich von 1514-16 das Psychologische. 23 K. Oettinger, Altdorfer-Studien, bes. S. 55, 60, 63. Das Wiener Gemälde bei O. Benesch, a. a. O., Abb. 16. Die Schulzeichnungen bei K. Oettinger, Altdorf er-Studien, Abb. 51, 52, 60, 61. 24 Unmittelbar neben der Magdalena der Isenheimer Kreuzigung findet sich das Salbgefäß, auf dem das Datum 1515, z. T. das Doppeldatum 1512-15 gelesen wird. In der Tat ist die Kreuzigung Magdalenenfigur nach Bewegung und Gewandstil von den übrigen Gestalten der unterschieden: weniger spröde, schwingend, gerundet. Bei dem Freiburger Hochaltar ist der Wandel von der 1513 konzipierten Haupttafel zu den Marienszenen der Flügelaußenseiten bezeichnend. 25 Mond und Wolken sind in der Mitte zu tief montiert, die Trennung von Erd- und Himmelszone ist durch den Hiat an falscher Stelle verwischt. 26 Die Marienfigur ist ein wenig zu hoch montiert und rückt zu nahe an die Krone. 27 M. Loßnitzer, a. a. O., Taf. XVI. der Stadt Innsbruck, Innsbruck-Wien-München 1952, 28 Vgl. zuletzt Hammer, Kunstgeschichte Abb. 66-70, S. 94 ff. Die Originale neuerdings im Ferdinandeum. 29 K. Oettinger, Anton Pilgram, Abb. 192, 193. 30 E. Lutze, Veit Stoß, 1952, Abb. 54-59. 31 G. Lill, a. a. O., Abb. S. 157 ff. 32 K. Oettinger, Mouseion, Studien aus Kunst und Geschichte für O. H. Förster, Köln 1959, Abb. 104, 105, S. 101 ff. 33 Zunächst wird um und nach 1520 manchmal noch ein Gleichgewicht von Christus und Maria gesucht, so bei dem Wiener Salvator-Tympanon des Meisters von Zwettl (K. Oettinger, Anton Pilgram, Abb. 192 und 193), und in den Epitaphien mit dem Abschied Christi von seiner Mutter (Oettinger, ebda. Abb. 114, 115; Lill, a.a.O., S. 137). Dann wird in den Epitaphien die Maria zugunsten des Resurrectus oder des Kruzifixus ganz zurückgedrängt. 34 So bei dem Töpfer-Altar aus St. Stephan in Baden bei Wien, K. Oettinger, Anton Pilgram, Abb. 131. 35 K. Oettinger, Anton Pilgram, S. 66 f f .

294

FEDJA ANZELEWSKY • EIN UNBEKANNTER ENTWURF H A N S BURGKMAIRS FÜR DAS REITERDENKMAL KAISER MAXIMILIANS

U n t e r den künstlerischen P r o j e k t e n Kaiser Maximilians I., die der V e r e w i g u n g seines N a c h r u h m s dienen sollten, ist sicher der P l a n f ü r ein R e i t e r s t a n d b i l d des Monarchen eines der Interessantesten. E r zeigt, d a ß der »letzte Ritter« durchaus der Zeit entsprechende G e d a n k e n f ü r seine künstlerischen P l a n u n g e n entwickelte. D a s D e n k m a l sollte nach dem Wunsch M a x i m i l i a n s v o r dem C h o r v o n St. Ulrich zu Augsburg aufgestellt w e r d e n D e r G e d a n k e , sich ein »gedechtnuß« dieser A r t zu schaffen, ging vielleicht schon auf das J a h r 1500 zurück, als der Kaiser am 13. J u l i den G r u n d s t e i n z u m C h o r der Kirche v o n St. Ulrich u n d A f r a gelegt h a t t e . Erst a m 20. O k t o b e r 1509 w u r d e der Stein f ü r das gep l a n t e M o n u m e n t auf dem Wasserwege nach Augsburg geschafft, u n d der mit dem W e r k b e a u f t r a g t e G r e g o r E r h a r t k o n n t e seine Arbeit an dem grob zugehauenen Block beginnen. I n der Zwischenzeit w a r M a x i m i l i a n z u r W ü r d e des Römischen Kaisers a u f g e r ü c k t : A m 4. F e b r u a r 1508 h a t t e M a t t h ä u s L a n g , Bischof v o n G u r k , späterer Erzbischof v o n S a l z b u r g u n d K a r d i n a l , im D o m v o n T r i e n t die P r o k l a m a t i o n z u m Kaiser v o r g e n o m men 2 . M a x i m i l i a n n a n n t e sich f o r t a n e r w ä h l t e r Römischer Kaiser, d a ihm die päpstliche K o n s e k r a t i o n fehlte. - I m gleichen J a h r 2 1 h a t t e H a n s B u r g k m a i r zwei Holzschnitte v e r öffentlicht, die mit G o l d u n d Silber gedruckt w a r e n 3 . Die beiden als Gegenstück gedachten Holzschnitte stellten M a x i m i l i a n zu P f e r d e u n d den H l . G e o r g d a r (Abb. 1 u. 2). Schon L u d w i g Baldass vermutete, d a ß die beiden Blätter in Beziehung z u r K a i s e r p r o k l a 295

m a t i o n u n d der dabei anwesenden St. Georgs Ritterschaft s t a n d e n 4 .

D I W S •G E ORGTV S CHRISTIANORVM* M I L T T V M -PRO PVGNArOR ^

Beide Blätter zeigen Reiterdarstellungen in einer Renaissancearchitektur. Diese eigenwillige Zusammenstellung macht wahrscheinlich, daß die Holzschnitte Reitermonumente darstellen sollen, ähnlich wie die spätere Ehrenpforte ein B a u w e r k wiedergibt. 1

HANS BURGKMAIR, H L . GEORG,

HOLZSCHNITT

296

Wie das Standbild wirklich aussehen sollte, zeigt eine Zeichnung Hans Burgkmairs in der Albertina zu Wien (Abb. 3) 5 . Zwischen Burgkmairs Zeichnung und seinem Holzschnitt scheint zunächst keine Verbindung zu bestehen. Hier vermag eine bisher un297

2

H A N S BURGKMAIR, KAISER MAXIMILIAN.

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e r k a n n t e Zeichnung des Berliner Kupferstichkabinetts w e i t e r z u f ü h r e n , da sie zeigt, wie sich der E n t w u r f z u r endgültigen F o r m entwickelte. D a s Blatt (Abb. 4 u n d 5), das »in der A r t Albrecht D ü r e r s « im Berliner K a t a l o g 6 genannt w i r d , gilt heute als sichere augs3

B U R G K M A I R , E N T W U R F FÜR DAS D E N K M A L K A I S E R M A X I M I L I A N S . W I E N , A L B E R T I N A

298

burgische Arbeit. D a s beidseitig b e n u t z t e Blatt zeigt auf der Vorderseite drei geharnischte Reiter u n d drei H e l m e u n d auf der Rückseite noch einmal, aber wesentlich flüchtiger, Reiterstudien. Bei näherer Betrachtung der H a u p t s e i t e w i r d jedoch deutlich, d a ß hier nicht drei Reiter dargestellt sind, sondern der gleiche R i t t e r in Rück- u n d V o r d e r ansicht u n d v o n der linken Seite. V o n den drei H e l m e n in der rechten oberen Ecke zeigt der mittlere u n t e r dem geöffneten Visier das Profil Maximilians. D i e zweizeilige Inschrift über den H e l m e n lautet: »maximilianus 1510 / kaysers diesen (?) k o p f « 6 a . An der Eigenh ä n d i g k e i t der Schrift ist nicht zu zweifeln, wie e t w a ein Vergleich m i t den T e x t e n auf den Zeichnungen v o n 1497/98 in der Albertina oder den Beischriften zu den P f e r d e studien v o n 1516 in Berlin beweist. Die Schrift auf dem Skizzenblatt ist flüchtiger als auf den Vergleichsbeispielen, Schriftcharakter u n d Buchstabenform lassen aber die H a n d B u r g k m a i r s erkennen. V o m letzten W o r t der Beischrift weist ein Strich auf den mittleren H e l m mit dem Profil des Kaisers. A m unteren B l a t t r a n d e , e t w a in der M i t t e der rechten B l a t t h ä l f t e , ist in etwas größerem M a ß s t a b noch einmal der v o r d e r e Sattelsteg gezeichnet; daneben die Buchstaben A u n d D , die f r ü h e r w o h l als Signatur D ü r e r s angesehen w u r d e n . Elfried Bock, der Verfasser des Kataloges der Deutschen Zeichnungen, h a t t e bereits e r k a n n t , d a ß das Blatt mit den beiden Holzschnitten Burgkmairs im Z u s a m m e n h a n g steht, h a t aber merkwürdigerweise nicht die K o n s e q u e n z gezogen, es dem Augsburger Meister zuzuschreiben. H e u t e stimmen die K e n n e r altdeutscher Zeichnungen d a r i n ü b e r ein, d a ß es sich hier um eine Arbeit H a n s Burgkmairs handelt. Alle Anzeichen sprechen d a f ü r , d a ß diese Reiter- u n d H e l m d a r s t e l l u n g e n erste Skizzen Burgkmairs f ü r das geplante Reiterstandbild Kaiser M a x i m i l i a n s sind. D i e Zeichn u n g gibt A u s k u n f t über ein Entwicklungsstadium, d a ß zwischen den Holzschnitten von 1508 u n d dem D e n k m a l s e n t w u r f von 1 5 1 0 7 steht. D a s Wiener B l a t t geht stilistisch u n d in der V e r w e n d u n g der zeichnerischen Mittel - Federzeichnung u n d L a v i e r u n g - eng m i t der Vorzeichnung f ü r »die fünf berittenen T r o m m l e r « des T r i u m p h z u g e s in der S a m m l u n g des University College zu L o n d o n zusammen 8 .Die D a t i e r u n g in das J a h r 1510 erscheint daher durchaus gerechtfertigt, z u m a l der n u r in groben Zügen bearbeitete Sandsteinblock erst spät im v o r a u f g e g a n g e n e n J a h r e nach Augsburg g e k o m m e n w a r . V o n den E r f a h r u n g e n f ü r die beiden Holzschnitte ausgehend entwickelte B u r g k m a i r das D e n k m a l f ü r M a x i m i l i a n . Die nächstliegende Möglichkeit w ä r e gewesen, den H o l z schnitt Maximilians ohne große Ä n d e r u n g e n f ü r das S t a n d b i l d zu übernehmen. D i e Berliner Zeichnung l ä ß t aber erkennen, d a ß B u r g k m a i r sich viel m e h r an den Holzschnitt des H l . G e o r g hielt. Welche G r ü n d e ihn d a z u v e r a n l a ß t haben, w i r d sich k a u m feststellen lassen. Sowohl technische E r w ä g u n g e n f ü r die A u s f ü h r u n g in Sandstein als auch k ü n s t lerische Gesichtspunkte oder fürstliche Wünsche k ö n n t e n die P l a n ä n d e r u n g b e w i r k t haben. D e r H o l z s c h n i t t zeigt den nach links gewendeten Herrscher in einem sogenannten Riefelharnisch auf einem leicht g e p a n z e r t e n P f e r d . M i t der Linken, der eigentlichen Z ü g e l h a n d , h ä l t M a x i m i l i a n den auf dem Sattel a u f g e s t ü t z t e n K o m m a n d o s t a b , w ä h r e n d 299

er mit der Rechten die Zügel ergriffen h a t . D e r Pferdeharnisch, der in seiner O r n a m e n -

tierung noch spätgotisches Gepräge trägt 9 , mag dem Künstler oder dem Auftraggeber nicht mehr zeitgemäß für das Denkmal erschienen sein. Der Harnisch und die falsche Haltung der Hände könnten Burgkmair veranlaßt haben, den Hl. Georg zum Ausgangspunkt zu wählen; denn sowohl das Kostüm des Heiligen als auch die Pferdepanzerung entsprachen dem modischen Empfinden der Zeit um 1510 besser. Der Künstler hielt sich bei seinem Entwurf für das Denkmal so eng an das Vorbild seines eigenen Holzschnittes, daß es zunächst schwerfällt, überhaupt Unterschiede zu entdecken. Fast möchte man glauben, die Berliner Zeichnung wäre eher eine Studie zu dem Holzschnitt als eine Weiterentwicklung der Graphik. Aber die Jahreszahl 1510, die sicher gleichzeitig mit der Zeichnung ist, verbietet eine solche Annahme von vornherein. Zunächst rückte Burgkmair den Reiter, wie es für den Denkmalsentwurf notwendig war, aus der Diagonalstellung des Holzschnittes in eine Profilansicht, wobei er die Beinstellung des Pferdes gewechselt hat. Das nun angehobene rechte Bein wirkt allerdings merkwürdig, besonders, wenn man es mit dem entsprechenden auf dem Holzschnitt des 4

H A N S B U R G K M A I R , S K I Z Z E N ZUM D E N K M A L S P R O J E K T K A I S E R M A X I M I L I A N S . B E R L I N KUPFERSTICHKABINETT

300

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Kaisers vergleicht. Burgkmair hat auf der Zeichnung offensichtlich die Haltung der Vorderbeine erst nachträglich verändert, indem er durch kräftiges Herausarbeiten und die Schattierung das angehobene Bein als das dem Betrachter nähere kennzeichnete. Bei dem Pferdepanzer und dem Sattel lassen sich verschiedene Änderungen feststellen: Der Federschmuck an Kopf und Schwanz sind fortgelassen worden und die Roßstirn hat eine phantastische Form erhalten 1 0 . Statt der doppelten Zügel, sind nur einfache verwendet, die an einer übermäßig großen Kandare befestigt sind. Auch der Reiter gleicht in den meisten Einzelheiten dem Heiligen. Gegenüber dem Werk von 1508 fällt der geschlossene Helm auf. Der im Verhältnis zum Georg ein wenig gestrecktere rechte Arm hält im Gegensatz zum Holzschnitt ein mit der Spitze schräg aufwärts weisendes Schwert. Die Waffe wurde vom Künstler erst später hinzugefügt, wie die darunterliegenden, das Schoßwams andeutenden Strichlagen klar erkennen lassen. Der obere Teil des Degens ist nur flüchtig skizziert, u m die Zügelhand nicht zu verdecken, die in der Art ihrer Bewegung von den beiden Holzschnitten abweicht. Schwer zu entscheiden ist die Frage, in welcher Reihenfolge Burgkmair die drei An301

5

R Ü C K S E I T E DES BLATTES I N A B B .

4

sichten seines Reiters zu P a p i e r brachte. Die natürliche Zeichenweise geht wie beim Schreiben v o n links nach rechts. D a aber k a u m a n z u n e h m e n ist, d a ß der Meister mit der Rückansicht begonnen haben sollte u n d diese a m linken R a n d e des Blattes auch nicht mehr ganz P l a t z g e f u n d e n h a t , m u ß m a n eine a n d e r e Abfolge v e r m u t e n . Die v o n späterer H a n d am unteren B l a t t r a n d mit dem Bleistift angebrachten Z i f f e r n I u n d II legen eine a n d e r e Lösungsmöglichkeit nahe. Vermutlich w u r d e das B l a t t schon v o r der B e n u t z u n g gefaltet, was durch den scharfen M i t t e l f a l z bestätigt w i r d . D a n n h ä t t e sich die P r o f i l ansicht wie die I a n d e u t e t auf der Vorderseite des ersten Blattes b e f u n d e n , dessen Rückseite leer blieb, da die T i n t e der Zeichnung durchgeschlagen w a r . Auf der Vorderseite des zweiten Blattes skizziert der M a l e r flüchtig eine Vorderansicht u n d z w e i m a l den K r u p p teil des P f e r d e p a n z e r s v o n schräg rückwärts. Als nächstes folgte auf der Rückseite die Vorderansicht des Reiters, d a f ü r spricht das hier bereits gehobene rechte Vorderbein des Pferdes. Die rechte H a n d des Ritters blieb noch leer. Diese Tatsache unterstreicht noch die Beobachtung, d a ß das Schwert auf der Seitenansicht erst später h i n z u g e f ü g t w u r d e . Als letztes zeichnete B u r g k m a i r schließlich die volle Rückenansicht. Eine Bestätigung f ü r die V e r m u t u n g , d a ß die Berliner Zeichnung eine Studie z u m R e i t e r d e n k m a l Kaiser Maximilians ist, erbringt der Vergleich mit B u r g k m a i r s E n t w u r f in der Wiener N a t i o n a l b i b l i o t h e k . Wie auf dem Holzschnitt ist der Monarch auf dem g e p a n z e r t e n Schlachtroß nach links g e w a n d t dargestellt. D a s jetzt ruhig stehende P f e r d ist n u n mit einem schweren P a n z e r wie auf dem Holzschnitt des H l . G e o r g u n d der Berliner Zeichnung gerüstet. D e r Schutz des Halses u n d des K o p f e s stellt eine V e r b i n d u n g der entsprechenden Teile beider Holzschnitte d a r , eine W a n d l u n g , die sich auf der Berliner Zeichnung schon in der n u r skizzierenden A n d e u t u n g des K e t t e n p a n z e r s anzuzeigen scheint. D e r Sattel mit dem R i n g u n d den beiden rosettenförmigen N i e t e n a m v o r d e r e n Sattelsteg sowie R o ß s t i r n , Trensenzügel u n d Steigbügel gleichen in allen Teilen d e m jenigen auf dem Holzschnitt mit dem Kaiser. A m eindeutigsten lassen sich die Z u s a m m e n h ä n g e zwischen dem Kaiserbildnis v o n 1508 u n d den beiden Zeichnungen an der Figur des Reiters erkennen. Wie auf dem Berliner B l a t t hält M a x i m i l i a n auf dem Wiener E n t w u r f in der rechten H a n d ein entblößtes Schwert. D e r gegenüber dem f r ü h e r e n E n t w u r f stärker angewinkelte U n t e r a r m bedeutet nicht n u r eine künstlerische Verbesserung, sondern gibt der W a f f e u n d ihrem T r ä g e r z u s a m m e n mit K r o n e " , Szepter u n d Reichsapfel erst den rechten Sinn: der Kaiser als defensor imperii. V o n Interesse f ü r den Vergleich sind auch die verschiedenen R ü s t u n g e n , die M a x i milian auf den drei Darstellungen trägt. D e r H o l z s c h n i t t zeigt ihn in einem sogenannten Riefelharnisch, der f r ü h e r auch Maximiliansharnisch g e n a n n t w u r d e , weil m a n meinte diese F o r m ginge auf seine E r f i n d u n g zurück. Auf der Berliner Zeichnung t r ä g t er in A n l e h n u n g an den H l . G e o r g einen Faltenrock zu einer glatten Rüstung, die ebenfalls bis in die Einzelheiten, wie z. B. die N i e t e n auf der H a n d s c h u h s t u l p e , dem K r a g e n aus Kettengeflecht u n d den Ellenbogenkacheln mit dem H o l z s c h n i t t übereinstimmt. F ü r den Wiener E n t w u r f greift B u r g k m a i r wieder auf die H a r n i s c h f o r m ohne Schoßrock zurück. M a x i m i l i a n t r ä g t jetzt einen glatten K ü r a ß , der an den R ä n d e r n mit Schmuckstreifeii

302

verziert ist. Mit Ausnahme des Kragens aus Kettengeflecht, der durch einen geschobenen Kragen ersetzt ist, finden sich die meisten Details der Berliner Zeichnung wieder: die Nieten der Unterschenkelröhren, die gezackten Folgenränder unter- und oberhalb der Kniekacheln, die Handschuhe, die »Mäusel« an den Ellbogen 1 2 . Die zahlreichen Übereinstimmungen der beiden Holzschnitte von 1508 und der Zeichnung in Wien und Berlin geben ein ziemlich klares Bild über die formale Entwicklung des Reiterstandbildes für Kaiser Maximilian. Wie fast alle seine künstlerischen Pläne wurde auch das Reiterdenkmal nicht zu Ende geführt, da der Nachfolger des Abtes K o n r a d Möhrlin die für das Denkmal bestimmten 5 0 0 Gulden anderweitig verbraucht hatte. Der rohbehauene Stein blieb bis Anfang des 19. Jahrhunderts bei St. Ulrich stehen

l3 .

Außer den Zeugnissen von der H a n d Burgkmairs blieb noch das Bronzemodell des stehenden Pferdes erhalten

14,

das heute in der von dem Jubilar geleiteten Sammlung auf-

bewahrt wird.

ANMERKUNGEN

Das Manuskript wurde 1962 abgeschlossen; es deckt sich in den Ergebnissen mit den Ausführungen Peter Halms (Hans Burgkmair als Zeichner, Teill: Unbekanntes Material und neue Zuschreibungen, in: Münchner Jahrbuch der bild. Kunst, 3. Folge, 13, 1962, S. 128 ff.). 1 Vgl. Ludwig Baldass, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen d. allerh. Kaiserhauses, Wien, 31, 1913114, S. 359 ff.; Georg Habich, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 8, 1913, S. 255 f.; Gertrud Otto, Gregor Erhart, 1943, S. 53 ff. 2 Vgl. Heinrich Ulmann, Kaiser Maximilian L, 1884-91; 11, S. 339. 2a Nur im ersten Zustand zeigt der Holzschnitt mit dem Kaiser die Jahreszahl 1508, doch ist die Null nicht gedruckt, sondern mit Tinte eingesetzt. In späteren Drucken wurde die fehlende Ziffer durch einen Schrägstrich ersetzt. Vgl. Arthur Burkhard, Hans Burgkmair d. Ä., 1932 (Meister der Graphik XV), Nr. 14. 3 Die Technik hatte Burgkmair von Lukas Cranach übernommen, der 1507 einen »Kürisser« in dieser Art gedruckt hatte. Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen hatte ein Exemplar an Konrad Peutinger in Augsburg gesandt und ihn angeregt, ebenfalls Versuche in dieser Richtung unternehmen zu lassen. Vgl. Lukas Cranach, Sammlung von Nachbildungen seiner vorzüglichsten Holzschnitte und seiner Stiche, herausgegeben von Friedrich Lippmann, 1895, S. 9. Peutinger war als Berater Maximilians auch an dem Projekt des Reiterbildes beteiligt. 4 Ludwig Baldass, Der Künstlerkreis Kaiser Maximilians, 1923, S. 45, Nr. 58. Über die Rolle der St. Georgs-Ritterschaft bei der Kaiserproklamation. Vgl. Heinrich Ulmann II, S. 330 u. 339. 5 Die Zeichnung wurde 1913 bei Börner in Leipzig von einem Privatmann (Sammler) erworben, der sie der Albertina schenkte. Sie wurde gleichzeitig von Baldass im Wiener Jahrbuch und von Habich im Jahrbuch der bildenden Kunst veröffentlicht (vgl. Anm. 1) und mit dem geplanten Denkmal in Verbindung gebracht. 6 Friedländer-Bock, Die Zeichnungen alter Meister im Kupferstichkabinett: Die deutschen Meister, 1921, S. 36 f., K. d. Z. Nr. 65: 31,3 X 42,6 cm, Feder in braunschwarz. 6a Die Bemerkung »oben greser« links neben der Vorderansicht stammt mit Sicherheit ebenfalls von Burgkmair. Die Beschriftungen auf der Rückseite links sind später von fremder Hand. 7 Sowohl Baldass wie Habich setzen die Wiener Zeichnung zu dem Bildnis Maximilians in der »Genealogie« in Beziehung und kommen so zu einer Datierung um 1510. Burkhard (Nr. 123) setzt den Beginn der Arbeit an den über 90 Holzschnitten der »Genealogie« auf den Herbst 1509 an, so daß eine Ansetzung der Wiener Zeichnung auf 1510 durchaus berechtigt erscheint.

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11

Otto Benesch (im Katalog der Ausstellung »Maximilian /.«, Wien 1959, Nr. 406) datierte ohne Angabe der Gründe »um 1509«. Abb. in: Old Master Drawings VI, 1931132, Taf. 29. Bruno Thomas und H. Lhotzky, in: Belvedere 13, 1938-44, S. 191 ff. Eine sehr ähnliche Roßstirn ist auf dem Reitertaler von 1509 zu erkennen, was dafür spricht, daß sich Burgkmair an originale Waffenstücke des Kaisers bei seinem Entwurf gehalten hat. Vgl. Ausstellungskatalog »Maximilian /.«, Nr. 640 und Taf. 95. Maximilian trägt nicht die Reichskrone, die nur zusammen mit dem gesamten Kaiserornat angelegt werden durfte, sondern die habsburgische Hauskrone wie auf dem Bild von Bernhard Strigel in der Augsburger Galerie, auf dem Reitertaler und auf dem Bildnis in der »Genealogie«.

12 Die Einzelheiten der Rüstung des Hl. Georg wie auch auf dem Wiener Blatt scheinen vom Künstler nicht frei erfunden worden zu sein, vielmehr lassen einige besondere Formen erkennen, daß Burgkmair entweder originale Rüstungsstücke des Kaisers als Vorlage benutzt hat oder - was wahrscheinlicher ist - die Zeichnung des sogenannten Thunschen Skizzenbuches. Wie Ortwin Gamber (in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen, Wien 53 [N. F. XVII], 1957) nachgewiesen hat, enthielt dieses leider nur noch in Photographien erhaltene Buch die Werkzeichnungen des Augsburger Holfplattners Lorenz Helmschmied für Harnische Maximilians. Merkwürdigerweise handelt es sich bei den Stücken, die Ähnlichkeit mit denen des Denkmalsprojektes aufweisen, zumeist um Teile von Turnierharnischen. Auch für die drei Helme der Berliner Zeichnung finden sich dort Vorbilder; vgl. die Abb. 83, 86 und 90. 13 Gertrud Otto, a. a. O., S. 55. 14 E. F. Bange, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, 45, 1924, S. 212 f.; ders., Die deutschen Bronzestatuetten des 16. Jahrhunderts, 1949, Nr. 132. Nationalbibliothek. Abbildungsnachweis: 1, 2, 4, 5 Walter Steinkopf; 3 Bildarchiv der Österreich.

3°4

G E R T V O N D E R OSTEN • ZU B E N E D I K T D R E Y E R U N D SEINEM U M K R E I S

Benedikt Dreyer hat seit Hermann ©eckerts Schrift 1 noch keine umfassende Würdigung wieder erfahren; hiernach stehen nur Skizzen und Umrisse. D a ß sie nötig ist, zeigt eine beträchtliche Zahl einzelner Aufsätze, die neue Beiträge zum Oeuvre 2 brachten, in denen aber zum Teil wohl über Dreyers Werkstatt hinaus bloß zum Umkreis des Meisters Neues geliefert wurde. So bietet auch diese kleine Schrift nur einzelne Beiträge. Sie gibt etwas zum Meister selbst, liefert den Versuch einer Chronologie, versucht zwischen Dreyer und seinem Umkreis möglichst zu scheiden und bietet einen kleinen Beitrag zu diesem Umkreise. Dies alles, in der Hoffnung auf eine künftige Monographie 3 , mag dem lieben Jubilar doch ein wenig Freude machen, wenn auch in der von ihm geleiteten Sammlung nichts Dreyerisches vorhanden ist. I D R E Y E R IN L Ü N E B U R G

Dreyer war, wie Goldschmidt 4 es zuerst bemerkt hat, 1 5 0 5 - 1 5 0 7 Schaffer der Lucasbüchse in Lüneburg, bekleidete damit ein Vertrauensamt eines älteren Gesellen. Dazu haben sich Werke gefunden, die vor und nach diesen Jahreszahlen entstanden sein können. Meine 1951 und 1957 erfolgte Zuweisung des Nikolaus(?)-Altars aus Uelzen (Abb.l) im Landesmuseum Hannover scheint nunmehr auch bei den Skeptikern keinen klaren Widerspruch zu finden 5 . Der ebenfalls von mir 1951 eingeführte Rätzlinger Altar von 1514 bereitet mir heute größere Zweifel als einst, es könnte sich auch um eine Parallelentwicklung zu Dreyer handeln. Denn inzwischen ist der künstlerische Umkreis klarer geworden,

in welchem Dreyer in seinen frühen Jahren in Lüneburg gelebt haben dürfte. Er wird wohl bei Hinrick Reymers dort gearbeitet haben, von dem auch der Rätzlinger Altar 1

H A N N O V E R , L A N D E S G A L E R I E . M I T T E L T E I L D E S N I K O L A U S ( ? ) - A L T A R S AUS U E L Z E N

306

ausgegangen sein könnte. K e i n Zufall andererseits, daß die von mir 1951 noch dem Reymers zugewiesene Figur Johannes des Täufers auf einem der Lüneburger R a t h a u s leuchter von M e y n e 1 9 5 9 nun mit Vorsicht wiederum dem Gesellen, eben vermutlich D r e y e r zugewiesen wurde; wahrscheinlich mit Recht. D a s Uelzener wie das Lüneburger W e r k sind k r a f t v o l l e Arbeiten, kantig in großzügiger Schnitzerei aus dem H o l z gewonnen, unter Vernachlässigung allzu feiner Details, von verhältnismäßig derber Psychologie, mitunter humorig. II C H R O N O L O G I E DES L Ü B E C K E R

LETTNERS

D a ß so der A n f a n g gewesen ist, w a r schon aus der Chronologie von Dreyers sieben Statuen, einst am Oberbau des Lettners der Lübecker Marienkirche, zu erschließen. Dieser Aufbau, der an die Stelle des 1 5 0 8 verbrannten trat, war vielleicht 1 5 2 0 volle n d e t 7 . 1522 ist das einzig gesicherte W e r k Dreyers datiert, der Antoniusaltar.

Die

L e t t n e r - W e r k e , Zuweisungen, die man längst als gesichert empfindet, könnten also von etwa 1 5 1 0 an entstanden sein. Es ist mißlich, Teile eines Gesamtwerkes, die doch in enger Verflechtung entstanden sein könnten, in eine zeitliche Ordnung zu bringen. Ich erkenne zwei Gruppen: drei in B i n n e n f o r m und U m r i ß leidenschaftlich bewegte, tief eingeschnittene Bildwerke (Abb. 7 - 8 ) : Michael,

Johannes der T ä u f e r und Rochus, in denen die

Gestalt hinter einem allgemeinen Formenzug zurücktritt (was sie mit einem vierten, dem Antonius, gemeinsam haben); es sind die Figuren, auf denen Dreyers R u h m vor allem beruht, in ihnen ist das Psychologische, Schmerzliche, Fühlsame enthalten und das H e r r lich-Splittrige der Michaelsgestalt. Diesen W e r k e n gehen, meine ich, drei frühere voraus, Standbilder klareren Umrisses, stillerer

Binnenform,

empfundener

Körperlichkeit,

derbförmiger

Gesichter,

welche

K a n t e n und Schnitzweise erkennen lassen: Johannes der Evangelist, A n n a Selbdritt und die genialisch erfundene, grob-großartige Muttergottes v o r dem Sonnengesicht. M i t diesen Figuren wäre es ohnedies sinngemäß, den Lettner-Schmuck zu beginnen: Muttergottes in der Mitte, A n n a Selbdritt links von ihr, rechts stand vielleicht zeitweilig Johannes d. E v . Sucht man diese sieben W e r k e nach dem Antoniusaltar hin auszurichten, so steht ihm die bewegtere Gruppe in der Gesamthaltung nahe, während man für die stillere Gruppe den größtmöglichen Abstand suchen möchte. Sie ist die stilistisch frühere. D a r f man diese Skizze in Zeitfolge ausdeuten, so würde diese Gruppe in die erste H ä l f t e oder M i t t e des zweiten J a h r z e h n t s gehören, die bewegtere Gruppe in die zweite H ä l f t e oder in die Zeit um 1 5 2 0 8 . IN E I N O R D N U N G DES L E N D E R S D O R F E R

ALTARS

D i e neu aufgefundenen Lüneburgischen W e r k e bestätigen, j a fordern diese C h r o n o logie der Lettnerbilder. F ü r die übrigen neuerlich entdeckten Arbeiten wohl schon aus der Lübecker Zeit bietet sich nun mancher A n h a l t . D e r Lendersdorfer A l t a r (Abb. 3) und das dazugehörige, allein in alter Fassung erhaltene R e l i e f : Magdalena wäscht Christi F ü ß e in Simeons Haus ( A b b . 2) - j e t z t in P r o v i d e n c e - entsprechen der stilleren G r u p p e . D a s H u m o r i g e der Lüneburgischen W e r k e hat sich nun ganz ausgebildet. D i e Gestalten haben eine ähnlich gewichtige Leiblichkeit, sind von derb geschnitzten Gesichtern. D i e

plastische Ausarbeitung ist, typisch bei Dreyer, sehr verschieden entwickelt; das Relief des Simeon ist auf eine ganz bestimmte Sicht (welche die Photographie nicht richtig getroffen hat) gearbeitet. Die plastische Vereinfachung geht enorm weit. Die Briiste der Frau am Tisch sind fast ungeteilt. Die Front ihres Kopfes ist scharfkantig etwa im rechten Auge zur Seite geknickt. Kastenartig ist der Kopf des Pharisäers ganz links, sehr ausgebildet; ganz flach das Gesicht des Zahnstocherers. Außerordentlich frei und schön der Haarfluß Magdalenas, die Darstellung Christi; durch verschiedene Bearbeitung des H o l zes ist Charakteristik und Betonung des Wesentlichen gewonnen. Ein virtuoser Schnitzer, vehement kennzeichnend, nirgends ebenmäßig, kaum jemals gleichmäßig in der Durchführung. Man möchte sagen: ein cholerischer Bildhauer. Der Lendersdorfer Seelenwäger steht nun auf der Stilstufe der Lübecker Lettner-Muttergottes. Dieser Vergleich zeigt allerdings auch, daß an jenem Altar (der uns freilich durch Neufassung weitgehend entzogen ist) teilweise nachlässig gearbeitet worden ist; vermutlich ist manches Gesellenarbeit. Ein Motiv der Lübecker Maria der Selbdrittdarstellung kehrt in Lendersdorf immer wieder: die Gewandfelder fliegen gleichsam dem Körper an, über runden Partien sich fangend. In diesen vollrund sich durchwölbenden Teilen wie in der als Ganzes empfundenen Gestalt ist ein Gefühl für das Dinghafte des Menschenkörpers. Allerdings zeigen die Lendersdorfer Gewänder schon die Neigung, sich eigengesetzlich im Raum zu bewegen, 2

PROVIDENCE ( R I ) , MUSEUM OF A R T , R H O D E ISLAND SCHOOL OF D E S I G N . M A G D A L E N A SALBT C H R I S T I F Ü S S E , R E L I E F AUS D E M L E N D E R S D O R F E R

3

LENDERSDORF

BEI

DÜREN

SELIGEN IN DEN HIMMEL

(RGBZ.

KÖLN).

ALTAR

WELTGERICHT,

DIE

AUFNAHME

DER 308

»vertretende Formenhandlungen« 9 zu vollziehen, wie bei den späteren Lettnerskulpturen. Man wird hiernach den Lendersdorfer Altar um oder bald nach 1515 datieren. Das bedeutet, daß Dreyer, der für H e r m a n n Deckert fast nur ein Statuariker und schwäbisch geschult war (was übrigens zutreffen mag), daneben aus norddeutscher Tätigkeit zumindest eine starke Ader für die kantige Stilisierung, volkstümliche, derbfröhliche Erzählung, f ü r das Relief im Geschehensaltar hatte. Die Typen sind von der Art der bald folgenden Tragefiguren der einstigen Hauptorgel der Marienkirche, die 1516-18 entstanden sind, Darstellungen der Luxuria (Abb. 10) und Stultitia. H ä t t e es einen zweiten Meister, mit Orgelprospekt und -trägem, dem Lendersdorfer, Uelzener und etwa dem Sippenaltar und dem Kruzifix aus der Lübecker Katharinenkirche 10 , hätte es einen solchen »Pseudo-Dreyer« gegeben (man bewahre uns), so hätte er aber auch vom Lettner die Madonna und die Selbdrittgruppe gemacht und man müßte dann zumindest die wichtigsten, für Dreyer in Anspruch zu nehmenden Werke dieser Schattengestalt noch mitgeben. - Also: es gab nur diesen einen Meister. Den Sippenaltar aus der Burgkirche zu Lübeck, den ich mir am ehesten zwischen dem Uelzener Altar und den frühen Lettnerfiguren oder während der Arbeit an diesen entstanden denke, lasse ich in dieser Erörterung f o r t " , iv

WEITERE

STANDBILDER

Doch von hier aus möchte ich noch eine Standfigur aus dem Lübecker Heiliggeistspital im Annen-Museum in das Werk Dreyers einführen (Abb. 9). Es ist eine Maria der Ver4 5 309

KOPENHAGEN.

ALTAR

AUS B I R K E T ,

KOPENHAGEN.

ALTAR

AUS B I R K E T ,

DER AUFERSTEHENDEN

MITTELFELD: MITTELFELD:

WELTGERICHT WELTGERICHT,

TEILAUFNAHME

:he, liebliche Gestaltung, wie sie im Thema liegt, war von seiner H a n d bisher nicht bekannt. Sie mag auch überraschen in der späteren Folge von Dreyers oftmals dem Schmerzlichen nachhängenden Männercharakteren. Doch zeigen die drolligen Wesen des Silberpokals und der Schifferpfeife, die gesunden Menschlein des Lendersdorfer Altars, wie sehr auch das Fröhliche vorher und nachher in Dreyers Bereich lag. D a ß es so ins Feine, in die zarte Entschiedenheit gewandt werden konnte, entspricht der stimmungshaften Rochusgruppe des Antoniusschreins von 1522. Der Zusammenhang dieses Marienwerkes, dessen Fassung z u m großen Teil erhalten ist, mit den Lettnerfiguren war mir augenscheinlich geworden, als diese vor ihrem Untergang von ihrem weißen Anstrich befreit worden waren. Auch hier das wie vom Wind anfliegende Tuch es ist der A n s t u r m des Engels. Auch hier der fein gekniffte, beherrschende Faltensteg - er wirkt wie ein Reif. Diese Maria mag mitten während der Arbeit für den Lettner entstanden sein (siehe Vorbemerkung zu den Anmerkungen). Hiernach erst folgen die sehr persönlichen Schöpfungen dafür in bewegtester Form, 6 — 8 EHEMALS LÜBECK, M A R I E N K I R C H E . LETTNER : H L . A N N A SELBDRITT, H L . M I C H A E L , J O H A N N E S DER T Ä U F E R ( N A C H DER S Ä U B E R U N G UM 1 9 3 7 )

310

tief aufgeschlossenem Block, starker Beseelung: Michael, Rochus und Johannes der Täufer. Aus dieser vorbarocken Welle folgt der Antoniusaltar aus der Burgkirche (im Annen-Museum,). Deckert hat das Manieristische darin vorzüglich herausgearbeitet, Gestalten in einer »verhaltenen Wendung und Windung, . . . die etwas Schmerzvolles h a t « . Der Eremit ist überlängt. Rochus und sein Engel haben ihr Gleichgewicht nur im Bezogensein aufeinander (wie später noch der Mönch zum Geldkasten). Die Gesamtform bleibt vergittert, umschalt, verschränkt und übersponnen von eigengesetzlichen Linien. Bezeichnend d a f ü r die Stützen der Nebenfiguren. W i e Filigran umgittert spätgotisches Rankenornament renaissancemäßige Balusterformen, die als Gewicht, als r a u m v e r d r ä n gende Plastik, gar nicht da sind. Eine luftleere Stille entsteht. Die gleichsam überscharf gesehene Oberfläche der Dinge ist allein da, es ist kein Volumen, nichts Kerniges dahinter. Dreyers Kunst hatte bis zum Lendersdorfer A l t a r und den Orgelträgern immer noch an Lebenswärme zugenommen. Jetzt aber ist er trotz der perspektivisch verkürzten H a n d Johannes des Täufers, trotz der sehr modischen, nahezu gefältelten Tracht über den spätgotischen Naturalismus längst hinweg. B a l d muß er den Geldmann der Lübecker Marien311

9

LÜBECK,

S T . ANNENMUSEUM.

MARIA

AUS

DEM

HEILIGEN-GEIST-KLOSTER

kirche geschaffen haben, diesen humorigen Kastenschädel, diese F o r m , die ganz zweckhaft hindeutende Gebärde ist. E r ist der große Meister, der nun nicht mehr mit dem Gefühl für die Statue schuf, die in Deutschland für etwa zwei J a h r z e h n t e eine immerhin erreichbare Möglichkeit war. D r e y e r in seinem Abschluß 1 5 2 2 , mit dem Geldmann vielleicht um 1 5 2 5 , hatte diese Möglichkeit nicht mehr. v

NEBENMEISTER

D a r u n t e r verstehe ich solche, die dem Meister nahestanden, die aber in sein eigenes W e r k nicht aufgenommen werden können. E i n e Nebenlinie von Bedeutung wäre der Künstler des Altars in Rätzlingen, 1 5 1 4 (?). D i e M a d o n n a im A l t a r aus Römstedt im Lüneburger Museum, in ihrer Übermalung schwer zu beurteilen 1 2 , gehört einer D r e y e r wohl nur umgebenden Gruppe an, zu der ich zum Beispiel auch die M a d o n n a und den Johannes E v . aus Tolstrup im Nationalmuseet in Kopenhagen rechne. Das Abendmahlsrelief im Museum für K u n s t und Gewerbe in H a m b u r g hat ebenfalls keinen nahen Zusammenhang zu D r e y e r l s . Aus dieser Aufstellung scheint sich zu ergeben, daß D r e y e r in jungen J a h r e n nur eine geringe Resonanz fand, was auch der Tatsache entspricht, daß er verhältnismäßig lange Geselle gewesen zu sein scheint. v i NACHFOLGER

DREYERS

Schließlich sind ein Anzahl zum Teil sehr umfangreicher Schnitzwerke in der Nachfolge Dreyers entstanden. I n Lübeck hatte er sicher eine W e r k s t a t t , also wohl auch Leute, die sich später einmal von ihm trennten. 10

EHEMALS LÜBECK. E I N E R DER T R Ä G E R DER HAUPTORGEL, D I E FRESSSUCHT

11

WALSRODE ( K R . FALLINGBOSTEL, R B . LÜNEBURG), E V . DAMENSTIFT. ABENDMAHL

312

Schon f ü r den Sippenaltar ist der Vorbehalt anzumelden, ob er von Dreyer oder nur in seiner N ä h e entstand aus den H ä n d e n eines, der ihm folgte. Hierher gehört der Altar aus Birket (Abb. 4-5) im Nationalmuseet zu Kopenhagen, freilich nur das Mittelfeld. Es ist lange Zeit im Umkreis der großen Bildhauer des Nordens lokalisiert worden, zumal bei Claus Berg, auch dachte man an einen eigenen Meister des Birketer Gerichts 14 . Aber ganz richtig, wie ich meine, ist es schon 1910 als Arbeit des Dreyer publiziert 1 5 und um 1506 - spätestens 1512 datiert worden. Dies würde sich genau zu unserer Datierungslinie des Lübecker Lettners und zu dem inzwischen gefundenen Lendersdorfer Weltgerichtsbild fügen. Das Gericht aus Birket muß früher entstanden sein als das in Lendersdorf, doch ist die kantige Schnitzweise schon bei den meisten Figuren angewandt. Das Groteske und Humorige tritt schon auf. Dies Relief ist vielleicht von Dreyers H a n d , Gehilfen mögen mitgewirkt haben. Vielleicht gehört der kleine, über den Hochaltar zu Wittstock gesetzte Altar in Dreyers Nachfolge 1 6 . Ebenso der hl. Georg aus Wiek 1 7 in Tallinn. Sicherer hängen mit Dreyers Werkstatt oder Nachfolge zusammen die Altäre in K v e f j o r d und in Lüneburg, St. Johannes. Eine Zuschreibung dieser beiden Altäre an Dreyer selbst hat mir lange Zeit nahegelegen 18 . Ich bin heute zu größerer Vorsicht geneigt, da der Altar in Lüneburg unter dicker Übermalung des X I X . Jahrhunderts nicht voll zu würdigen ist und einen Eindruck hinterläßt, der in hohem Maße dreyerisch ist und doch als großes Werk eines großen Meisters zur Zeit nicht voll befriedigt. Zu diesem Material füge ich ein Abendmahlsrelief (Abb. 11) im Damen-Stift Walsrode (Lüneburger Heide) hinzu, das bisher entweder ganz unbeachtet oder jedenfalls in der Dreyer-Literatur unerörtert geblieben ist 10 . Es ist eine durchaus charakteristische Werkstattarbeit aus der Zeit des Lüneburger Altars - Werkstatt oder Nachfolge. Die Aufnahme ist etwas zu niedrig genommen. Die Frage bleibt bei allen in diesem Abschnitt genannten Werken: was ist für Dreyer selbst damit gewonnen? Wir wissen von der Danziger Schifferflöte und der Tatsache, daß er 1540 Leuchterentwürfe f ü r die Marienkirche machte, aber nichts von Schnitzarbeiten Dreyers nach dem Antoniusaltar 1522. Bald nach 1530 hat sich die Reformation in Lübeck durchgesetzt. Dreyer ist erst nach 1555 gestorben. 33 Jahre seines Lebens sind uns fast ganz unbekannt, konnte, durfte er gelegentlich noch arbeiten, sei es auch für den Export?

ANMERKUNGEN

Dieser Beitrag wurde 1961 niedergeschrieben. Inzwischen sind zwei Schriften zu diesem Gegenstande erschienen: Gerhard Eimer, Der Christophorus-Meister, ein Lüneburger Steinbildhauer des ausgehenden Mittelalters (Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft XVII, 1963, pp. 189-214, inbesondere 209 f f . und Max Hasse, Lübeck St. Annen-Museum, die sakralen Werke des Mittelalters, Lübeck 1964, Nr. 74-76. - Eimer bezweifelt denn nun doch die Zuweisung des Uelzener Nikolaus-Altars (I); Hasse weist, von meiner Attribution in Kenntnis gesetzt, die Verkündigungs-Maria (IV) dem Claus Berg zu. 3:3

1

Hermann

Deckert, Studien

zur hanseatischen

Skulptur

im Anfang

des 16. Jahrhunderts

I (Mar-

burger Jahrbuch I, 1924, pp. 55-98). - Idem, Die lübisch-baltische Skulptur im Anfang des 16. Jahrhunderts (ibid. III, 1927, pp. 1-75, c f . pp. 60-62, 73). 2 Walter Paatz, Bildschnitzer und Goldschmiede in Lübeck (Pantheon 3, 1929, pp. 258 f f . ) . Rudolf Verres, Ein unerkanntes Werk B. D.s (ibid. 5, 1930, pp. 60 f f . ) . - Walter Mannowsky, Die Pfeife der Danziger Seeschiffer (ibid. 16, 1935, pp. 407 f f . ) . - Carl Georg Heise, Reyge, Jacob (Thieme-Becker). - Eivind S. Engelstad, Senmiddelalderens Kunst i Norge, Taf. 118-143. - Max Hasse, Ein unbekanntes Werk B. D.s (Jb. P. K. 59, 1938, pp. 173 f f . ) . - Gert von der Osten, Spätmittelalterliche Bildschnitzerei zwischen Weser und Elbe (Z. f . Kgesch. 1939, pp. 171-175). - F. Stuttmann und Gert von der Osten, Niedersächsische Bildschnitzerkunst des späten Mittelalters, Berlin 1940, p. 109, 114 f., Nr. 94. - Max Hasse, Der Flügelaltar, Dresden 1941, pp. 98 f f . - Hans Wentzel, in: Fornvännen 44, Stockholm 1949, pp. 77-79. - Gert von der Osten, Lüneburger und Lübecker Bildschnitzer um 1500 (Niedersächsisches Jb. für Landesgeschichte 23, 1951, pp. 103-110). - Hans Wentzel, in: Jb. d. Hamburger Kslgen 2, 1952, p. 183. - Max Hasse, Neue Beiträge zur Geschichte der lübeckischen Kunst (Z. d. Ver. f . lübeckische Gesch. u. Altertumskde., 34, 1954, p. 114). - Gert von der Osten, Katalog der Bildwerke in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover, München 1957, p. 131. - Willi Meyne, Lüneburger Plastik des XV. Jahrhunderts, Lüneburg 1959, pp. 140-142, 147. - Max Hasse, in: Kchronik 13, 1960, pp. 22 f . 3 Ich habe mit Max Hasse durch Jahrzehnte hindurch über das Thema Benedikt Dreyer diskutiert, meist mit abweichenden Ergebnissen, auch mit mancher Remis-Partie, aber so, daß wir uns vermutlich doch angenähert haben. Ich weiß heute nicht mehr zu sagen, ob nicht einige meiner Aussagen hier von Hasse beeinflußt sind, wie vielleicht auch später einmal vice versa. 4 Adolph Goldschmidt, Lübecker Malerei und Plastik, Lübeck 1890, p. 34. 5 Diese Attribution erfuhr nachträglich noch Hermann Deckerts Billigung. Gegen die Datierung um 1505 sprechen die gedrehten Säulen nicht (cf. Holzschnitt aus dem »Chevalier délibéré«, Gouda um 1488 (M. J. Friedländer, Altniederländische Malerei V, p. 62, Taf. 26); c f . ferner die »Leka«-Gruppe von norwegischen Altären aus dem Umkreis des Utrechter Meisters des steinernen Frauenkopfes (Middeleeuwse Kunst der Noordelijke Nederlanden, Amsterdam 1958, Nr. 318, Abb. 150). 7 Dieser Zeitpunkt scheint mir im Gegensatz zu Decken 1924, p. 85, nicht ganz sicher auch die Bildwerke verbindlich. - c f . Inv. Lübeck II, 2, pp. 189 f f . 8 So in meiner ungedruckten Berliner Habilitationsschrift 1941-44: Der Manierismus in deutschen Kunst um 1520. 9 Wilhelm Pinder, Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Wildpark-Potsdam 1929). naissance II, pp. 480-482 (Handbuch der Kunstwissenschaft, 10 Von Hasse 1960 mit Detailfoto vorläufig in die Literatur eingefügt. 11 c f . neuestens Max Hasse, Der Meister der Rosenkranzaltäre (Niederdeutsche Beiträge Kunstgeschichte, I, 1961, pp. 201-217, zumal S. 216).

für der Re-

zur

12 Gert von der Osten, 1951. 13 Wentzel, 1952. 14 Deckert, 1927, pp. 60-62, 73. 15 Johnny Roosval, in: Jb. P. K. 30, 1909, pp. 271 f f . , zumal 275. 16 Deckert, 1927, pp. 41 f . 17 Wentzel, 1949, p. 79. - Sten Karling, Medeltida Träskulptur i Estland, Göteborg 1946, Abb. 261. 18 Engelstad • von der Osten 1939 u. 1951 - das Werk in Kvefjord habe ich nicht gesehen. Der Lüneburger Altar wurde von Hasse 1960 der Hamburger Werkstatt des Fischer Altars zugewiesen. 19 Galt am Ort als »Brüggemann?«. Eiche, Höhe 0,28, Breite 0,31, Tiefe 0,11 m. Bildnachweis: 1, 2, 4, 5 Museumsphotos; 3 Rhein. Bildarch. Köln; 6-8 Wilh. Castelli iun.; 9 Veröff. m. Genehm, der Museen zu Lübeck; 11 Photo Landesgal. Hannover mit Genehm, der Frau Äbtissin zu Walsrode.

3*4

KARL-ADOLF KNAPPE • PETER T R Ü N K L I N , EIN NÖRDLINGER BILDSCHNITZER DER

DÜRERZEIT

W ä h r e n d das Schaffen d e r N ö r d l i n g e r M a l e r v o n 1 4 6 0 bis in die d r e i ß i g e r J a h r e des 16. J a h r h u n d e r t s hinein l ä n g s t k l a r überschaubar g e w o r d e n i s t 1 , bietet die P l a s t i k der a l t e n Reichsstadt noch manche ungelöste P r o b l e m e . N a c h w i e v o r ist der N a m e des gen i a l e n Meisters der H o c h a l t a r f i g u r e n v o n St. Georg u n b e k a n n t . W i r wissen nicht e i n m a l , ob sich d e r K ü n s t l e r l ä n g e r e Zeit in N ö r d l i n g e n a u f g e h a l t e n h a t ; n u r seine stilistische H e r k u n f t aus d e m K r e i s N i k o l a u s G e r h a r t s erscheint gesichert 2 . Erst u m 1500 w e r d e n in A r c h i v a l i e n u n d W e r k e n einige B i l d h a u e r besser g r e i f b a r 3 ; doch auch hier blieben U m f a n g u n d A b g r e n z u n g der P r o d u k t i o n der einzelnen W e r k s t ä t t e n bisher w e i t g e h e n d im D u n k e l n . Es sind a l l e s a m t k e i n e K ü n s t l e r ersten R a n g e s , die d a zu B e g i n n des neuen J a h r h u n d e r t s w i r k e n , u n d insofern h a l t e n sie d e m Vergleich mit d e m g r o ß e n M e i s t e r des H o c h a l t a r s in der Georgskirche nicht s t a n d , doch sie v e r d i e n e n i m m e r h i n unser Interesse als V e r t r e t e r eines b e d e u t e n d e n K u n s t z e n t r u m s zwischen S c h w a b e n u n d F r a n k e n . D e r wichtigste dieser N ö r d l i n g e r Bildschnitzer der D ü r e r z e i t ist Peter T r ü n k l i n a l i a s S t r a u ß , v o n dessen T ä t i g k e i t hier e r s t m a l s a u s f ü h r l i c h e r im Z u s a m m e n h a n g die R e d e sein soll. Es w i r d sich d a b e i zeigen, d a ß T r ü n k l i n u n d seine W e r k s t a t t nicht n u r , w i e schon bisher gelegentlich b e h a u p t e t , einen wesentlichen A n t e i l a n der Ausschmückung der H e i l s b r o n n e r K l o s t e r k i r c h e hatte, sondern auch in seiner H e i m a t s t a d t a n einem H a u p t w e r k b e t e i l i g t w a r , d e m H o c h a l t a r der K a r m e l i t e r k i r c h e . 315

B i o g r a p h i s c h e D a t e n stehen f ü r den K ü n s t l e r seit den Forschungen v o n A . G ü m b e l 4 ,

H . R o t t 5 und G. W u l z 6 ausreichend zur Verfügung. N u r schweigen die archivalischen Nachrichten fast gänzlich von den Werken des Meisters 7 . Peter Trünklin erscheint in den Nördlinger Steuerlisten zuerst 1497 8 . Schon damals tritt er mit zwei Familiennamen auf, die ihn bis zu seinem Lebensende 1522 - ständig wechselnd - in allen Dokumenten ausweisen: Strauß und Trünklin; der erstere ist hier allerdings in »Truncklin« korrigiert. Den N a m e n Strauß f ü h r t der Meister offenbar von seinem Stiefvater, dem Schneider Stephan Strauß, von dem Peters Mutter einen Sohn gleichen Vornamens hatte, ebenfalls Bildhauer, der 1505 in Luzern, von 1508 bis nach 1535 in Bern lebte 9 . D a ß Peter und Stephan nicht leibliche Brüder waren, wie A. Gümbel 1 0 annahm, beweist ein von H . R o t t 1 1 publizierter Brief, den »Caspar und Peter, die Truncklin« als »Stiefbrüder« in Erbschaftsangelegenheiten 1505 dem auswärtigen Stephan Strauß schreiben ließen. Caspar Trünklin, der leibliche Bruder des Bildschnitzers Peter, war Schneider l ä . Der Vater der beiden dürfte demnach der Schneider Hans Trunk oder Trünklin aus Ulm gewesen sein, der schon in den sechziger Jahren bis 1471 in Nördlingen genannt wird 1 3 . Der eigentliche Familienname unseres Meisters war somit Trünklin; noch nach seinem Tod 1522 heißt es: »Petter Trincklins, bildhawer, wittib 1 4 .« Zwischen 1497 und 1522 berichten die Quellen sehr regelmäßig von ihm, jedoch fast ausschließlich von Steuerleistungen und sonstigen Zahlungen an städtische Ämter, Kaufverträgen und Erbschaftsdingen; aus dem Jahr 1518 ist immerhin eine Klage des Lauinger Malers Matthias Reyßer überliefert, den der Nördlinger mit einer Lieferung von »etlich kreutz, hergot und grab hergot« 15 hatte aufsitzen lassen. Ohne den Eintrag von 1510 aber im Ausgabenbuch des Zisterzienserklosters Heilsbronn über den dortigen Peter-Pauls-Altar wäre unser Bildhauer dennoch nur einer der vielen Namen, die sich in H . Rotts »Quellen und Forschungen zur Kunstgeschichte des XV. und X V I . Jahrhunderts« ein schattenhaftes Stelldichein geben und in der Kunstgeschichtsschreibung oft mehr Schaden denn Nutzen stiften. In dem Heilsbronner Dokument heißt es: Expensae tabulae altaris beatorum Petri et Pauli anno domini 1510 in die Gregory papae. Scrinitori Hans Schmid et Petro pildsnitzer in Nördlingen 26 fl. Eisdem pro sumptibus in via 5 t. seratori pro laboribus 6 t., pro vectura 2 fl., 6 t. 12 d. Item 2 t. 24 d. für leym und eysen negelein. Item scrinitori Johanni Paldauf 4 fl. pro laboribus, eidem iterum pro laboribus 6 t. d. et duobus filiis propina 2 t. 3. d., dein Jorg schlosser 2 t. f ü r 3 eysene schrauben zu der tafel. Summa 35 fl. 6 t. 9 d. 1 6 . D a in Nördlingen zu dieser Zeit kein anderer Schnitzer namens Peter lebt, anderseits Trünklin bereits 1507 mit dem Kloster Heilsbronn ein privates Rechtsgeschäft tätigt 1 7 , ist der Urheber des Schnitzwerks an dem heute noch bestehenden Peter-Pauls-Altar zweifelsfrei identifiziert. Niemand hat den Rechnungstext bislang anders ausgelegt 18 . D a ß dem Nördlinger Bildhauer ein Auftrag von dem doch weit entfernten, viel stärker dem Nürnberger Kunstkreis zugewandten Heilsbronn zufiel, darf nicht verwundern, war doch die Stadtpfarrkirche St. Georg zu Nördlingen bis in die Anfänge der Reformation (1523) hinein dem Patronat der Äbte von Heilsbronn Untertan, sehr zum Mißvergnügen des auf Selbständigkeit auch im kirchlichen Bereich pochenden Rates der freien Reichsstadt 19

F ü r Peter T r ü n k l i n bot sich allerdings gerade hierdurch eine nicht zu verachtende Einnahmequelle; denn w i r w e r d e n gleich sehen, d a ß er dem fränkischen Kloster noch weitere 317

1

P . T R Ü N K L I N , S C H R E I N DES P E T E R - P A U L S - A L T A R S ( 1 5 1 0 ) , H E I L S B R O N N , K L O S T E R K I R C H E

A u f t r ä g e verdankt, wahrscheinlich schon den leider im 19. Jahrhundert verschollenen Michaelsaltar von 1503 für die Heilsbronner Patronatspfarrkirche Weißenbronn (Lkr. Ansbach) 2 0 . Der Peter-Pauls-Altar ist aber das einzige erhaltene, urkundlich beglaubigte W e r k Trünklins. Von ihm haben alle übrigen Zuschreibungen auszugehen. Der Altar, heute am Ostende des zweischiffigen, 1427-1430 erbauten Mortuariums an der südlichen Längsseite der Kirche, stand ursprünglich an der östlichen S t i r n w a n d des südlichen Querschiffs 21 . Über einer Schreinpredella erhebt sich der Mittelschrein mit einem beweglichen und einem Standflügelpaar. Ein im 19. J a h r h u n d e r t erneuertes Gesprenge bekrönt den A l t a r 2 2 . Im Schrein stehen getrennt durch R u n d a r k a d e n , deren Bögen mit M a ß w e r k gefüllt sind, die beiden Titelheiligen Petrus und Paulus mit ihren Attributen (Abb. 1). Die Flügelinnenseiten zeigen in flachem Relief unter geschnitzten Astwerkbögen vier Szenen aus dem Leben der zwei Apostel: links oben Petrus im Gefängnis (Abb. 3), darunter die Kreuzigung Petri (Abb. 4), rechts unten die Bekehrung des hl. Paulus vor Damaskus und darüber die Enthauptung des Heiligen. In geschlossenem Zustand stellt der A l t a r in acht Gemälden weitere Episoden der Peter- und Pauls2

P . T R Ü N K L I N , PREDELLENSCHREIN P E T E R - P A U L S - A L T A R , HEILSBRONN,

KLOSTERKIRCHE

318

geschichte dar 2 3 , die Wolf T r a u t aus Nürnberg um 1517 hinzugefügt hat 2 4 . Von ihm stammen auch die Predellenflügel 2 5 . Der Predellenschrein bietet eine ikonographische Besonderheit (Abb. 2): die vier Evangelisten 2 6 als Fischer zu Schiff, zu denen links Christus hinzutritt; die Ecken des Hochreliefs besetzen die vier apokalyptischen Wesen als Evangelistensymbole. Historisches und Symbolisches ist so untrennbar ineinander verschränkt: der nächtliche Fischzug im See Genezareth 2 7 , das Wort Jesu von den »Menschenfischern« 28, das Wirken der Apostel als Beispiel für das geistliche Wirken der Mönche des Klosters Heilsbronn, dessen Gründer, Bischof Otto von Bamberg, und damaliger Abt, Sebald Bamberger, zu beiden Seiten auf den gemalten Flügeltüren knien. Die symbolische Darstellung v e r k n ü p f t die Sockelzone der Predella inhaltlich mit dem H a u p t teil des Altars, der »Repraesentatio« der Heiligen Petrus und Paulus im Schrein und den »Historien«, Taten und Leiden der Apostelfürsten, auf den Flügeln. Eine einheitliche geistige Konzeption bestimmt das Ikonographische. Jedoch von der Bedeutsamkeit des Grundgedankens, der Zeugenschaft der Apostel in Predigt und Glaubenstod, leuchtet 3—4

319

PETER T R Ü N K L I N , LINKEN F L Ü G E L

IM G E F Ä N G N I S ,

KREUZIGUNG

DES P E T E R - P A U L S - A L T A R S ,

PETRUS

HEILSBRONN,

PETRI,

RELIEFS

KLOSTERKIRCHE

VOM

in der Form kaum ein Funke auf! Wohl nehmen sich die beiden Heiligen in ihren Gehäusen wuchtig, bekennerhaft aus, aber in den derben Köpfen, wahren Q u a d r a t schädeln, ist von solchem Geist wenig zu spüren. Der für Petrus und Paulus gegebene Typenkanon ist ganz ins bäuerisch-kleinbürgerliche übersetzt, auf das Niveau von »Gevatter Schneider und Handschuhmacher« herabgemindert. Feierlicher Repräsentationswille schlägt in linkische Befangenheit um, wie es kleinen Leuten ergeht, wenn man sie plötzlich in ein Schloß versetzt. Auch die Gewandung, die den Körper unlösbar dicht umschließt, hat wenig Bewegung. Senkrecht und steif wie Gewänderrippen gliedern Röhrenfalten die Unterkleider, während die Mäntel - um Schulter und Rücken ziemlich glatt anliegend - nur vor dem Körper spärlich isolierte Faltenecken und -muscheln in den breiten Überwürfen aufweisen, die sich ihrerseits löffeiförmig an den Säumen nach vorn biegen, oder - bei Paulus - wie eine Gummischürze an den Rändern einrollen. In denkbar einfacher Weise soll durch große, möglichst glatte gewölbte Goldflächen, die im Licht reflektieren, ein Höchstmaß an prächtiger Wirkung erzielt werden. Dieser Absicht dienen auch die sehr flachen, ganz als Lichtträger wirkenden vergoldeten Figuren der Flügelreliefs und des Predellenschreins. In diesen wirkt sich die geringe Fähigkeit des Schnitzers, organisch bewegte, durchgegliederte Gestalten zu schaffen, noch mehr als bei den immerhin männlich kraftvollen Schreinfiguren aus. Lebkuchenmännchen gleich erscheinen da die skelettlosen Menschen, gummiartig weich und wie von innen aufgeblasen, mit stets mehr breiten als hohen Kugelköpfen. Doch bei allen Mängeln versöhnt die naive Frische der Erzählweise. Erzählt wird hier, wie man Kindern erzählt: in unendlich vereinfachter und verharmloster Deutung geraten die Martyrien der Heiligen zu burlesken Marionettenstücken, der Sturz Pauli von seinem Spielzeugpferd läßt nichts vom Einbruch einer himmlischen Macht ahnen, ist vielmehr ein gefahrloser Unfall; gottergeben und zufrieden blickt Petrus links oben aus dem angenehm weiten Fenster des Kerkers, den ein Scherge des Puppenkaisers rechts gerade mit einer Gebärde schließt, als seien er und der Schlüssel das Wichtigste der ganzen Geschichte, wie denn auch bei der Kreuzigung Petri mit besonderem Eifer auf ein übriggebliebenes Strickbündel im Vordergrund hingewiesen wird. Völlig in seinem Element mag sich der Schnitzer bei dem Predellenreliet gefühlt haben. Der tiefe Symbolgehalt, zu dem ihn sein Auftraggeber nötigte, bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen; er konnte ein Holzschiff schildern, einen Apostel, der tüchtig in den Wogen rudert, einen anderen, der sich voll Hingabe abmüht, ein reusenähnliches Netz, in dem soeben ein Fischlein verschwindet, an Bord zu ziehen. Damit das N e t z auch richtig gezeigt werden kann, schnitzt der Bildhauer unbekümmert eine Bucht in das »Seeufer«. So erweist sich unser Nördlinger Bildschnitzer am Peter-Pauls-Altar zwar nicht als ein großer Künstler, aber als ein gerade in seiner Primitivität liebenswerter Erzähler. D a ß er fähig war, über die hier vorherrschende, manchmal sicher unfreiwillige Komik seiner Vortragsweise hinauszuwachsen, wird sich noch zeigen. Im übrigen wissen wir vorläufig nicht, wieweit Trünklin selbst für die Ausführung des Altars verantwortlich zu machen ist29. Neben dem Peter-Pauls-Altar (1510) hat Trünklins Werkstatt, wie wir glauben, f ü r

Kloster Heilsbronn in der Folgezeit mindestens noch zwei weitere A l t ä r e geliefert, den M a r i e n a l t a r 1511 und den 1513 datierten E l f t a u s e n d - J u n g f r a u e n - A l t a r , auch sie ver321

5

J . J . K U R Z , HOCHALTAR V. 1 5 1 8 , SALVATORKIRCHE NÖRDLINGEN, AQUARELL

(1769)

a n l a ß t durch den Abt S e b a l d B a m b e r g e r ( 1 4 9 8 - 1 5 1 8 ) , dem es trotz schwerer Pressionen von Seiten der Schirmvögte ( ! ) des Klosters, den M a r k g r a f e n 3 0 , gelang, die Kirche m i t zahlreichen K u n s t w e r k e n auszustatten 3 1 . D i e beiden A l t ä r e w u r d e n bereits öfter T r ü n k l i n zugewiesen 3 2 , doch erscheint es z w e c k m ä ß i g e r , v o r einer neuerlichen B e g r ü n d u n g dieser Zuschreibungen einen Blick auf einige, soweit w i r sehen, noch nicht in Betracht gezogene S k u l p t u r e n in N ö r d l i n g e n zu w e r f e n , n a h e V e r w a n d t e der Schreinfiguren des P e t e r - P a u l s - A l t a r s u n d zugleich die beste »Brücke« z u m Heilsbronner M a r i e n a l t a r . Die N ö r d l i n g e r St. S a l v a t o r k i r c h e birgt noch Figuren v o m einstigen 1518 d a t i e r t e n 3 3 H o c h a l t a r , zu dem der M a l e r Sebastian D a y g den A u f t r a g erhalten h a t t e 3 4 und der 1805 v o n in der Kirche einquartierten österreichischen Kriegsgefangenen großteils zerstört

wurde35.

Bei

Rekonstruktion

des riesigen

Altarwerks

können

wir

auf

eine

Aquarellzeichnung v o n J . J . K u r z (1769) (Abb. 5) sowie auf schriftliche Nachrichten des N ö r d l i n g e r Chronisten J o h a n n e s M ü l l e r zurückgreifen. Der Schnitzaltar bestand aus einem Schrein mit A u s z u g . In der M i t t e b e f a n d sich die hl. A n n a S e l b d r i t t 3 6 f l a n k i e r t 6—8

H L . JOSEPH, H L . ELISABETH (JETZT SCHOLASTICA), H L . W A L P U R G I S VOM EHEM. HOCHALTAR, NÖRDLINGEN, ST. SALVATOR

322

von den Heiligen Antonius und Joseph links und den Heiligen Zacharias 3 7 und Elisabeth 3 6 rechts; über der Mittelgruppe im Auszug die Krönung Maria. Die Innenseiten der Flügel - beträchtlich tief - waren mit je drei Heiligen unter Eselsrückenarkaden besetzt: linker H a n d von links nach rechts Wendelin 3 9 , Severus 40 und Bernhard, rechter H a n d Rochus 41 , Leonhard und Cyprian. Unter diesen Flügelfiguren befanden sich kleine Plastiken der vier Kirchenväter mit den Evangelistensymbolen 42 , welche jeweils Büsten von undefinierbaren Heiligen, links einem Bischof, rechts einem Pilger(?), einrahmten. Der ornamentierte Goldgrund mit den Aussparungen für Figuren und Maßwerk ist heute noch auf den Rücken der Gemälde Sebastian Daygs zu sehen, die die Außenseiten der Flügel bildeten: links oben Verkündigung, rechts oben Heimsuchung, links unten Darstellung im Tempel, rechts unten Tod Mariä. Von einem zweiten beweglichen Flügelpaar, das J. Müller 4 3 erwähnt, ist nichts erhalten, nur drei Teile der schmalen Standflügel, ebenfalls von Dayg. Der Schrein und die sehr ausladenden Flügel erhoben sich über einer ungewöhnlich hohen Predellenzone, die in ihrem Schrein geschnitzt die 9—11 323

H L . ROCHUS, H L . ANTONIUS

(JETZT L A U R E N T I U S ) , H L . S E B A S T I A N VOM EHEM.

H O C H A L T A R , N Ö R D L I N G E N , S T . SALVATOR

Beweinung Christi, oder besser, eine Pietà mit Begleitfiguren, barg, umgeben von den Heiligen W o l f g a n g u n d M a r g a r e t h a 4 4 . Die gemalten Flügel stellten die A n b e t u n g der K ö n i g e d a r 4 5 . Ü b e r dem mindestens 4,50 m (mit Auszug e t w a 5 m) hohen A l t a r b a u wuchs das Gesprenge noch einmal beinahe zu gleicher H ö h e e m p o r m i t mehrstöckigen Baldachingehäusen, in denen weitere neun Figuren P l a t z f a n d e n : neben der M a r i e n k r ö n u n g des Schreins links die hl. W a l p u r g i s 4 6 , rechts die hl. K a t h a r i n a , d a r ü b e r in der M i t t e der hl. C h r i s t o p h e r u s mit dem hl. Sebastian u n d einem heiligen Bischof z u r Seite; über W a l p u r g i s u n d K a t h a r i n a b e f a n d e n sich zwei u n b e s t i m m b a r e Gestalten; über dem C h r i s t o p h e r u s im mittleren T a b e r n a k e l f i a l e n - » T u r m « die hl. A n n a Selbdritt u n d zu oberst der Schmerzensmann. N u r einige der zehn Plastiken in St. S a l v a t o r , die gemeinhin als Bestandteile des einstigen H o c h a l t a r s gelten 4 7 , lassen sich m i t denen auf dem A q u a r e l l u n d den Beschreibungen Müllers festgehaltenen sicher identifizieren: die Heiligen J o s e p h 4 8 (Abb. 6), Elisabeth 4 9 (Abb. 7), Walpurgis 5 0 (Abb. 8), Rochus 5 1 (Abb. 9) u n d Sebastian 5 2 (Abb. 11). D i e beiden Letzteren aber weichen stilistisch schon etwas v o n der H a u p t g r u p p e ab. N a c h trägliche V e r ä n d e r u n g e n der A t t r i b u t e u n d N e u f a s s u n g 5 3 erschweren in manchen Fällen die Entscheidung, w o nicht die H a n d desjenigen Künstlers k l a r zu spüren ist, der Joseph u n d Elisabeth geschnitzt hat. I m m e r h i n m u ß der besonders s t a r k abweichende hl. W o l f g a n g 5 4 f ü r die Gestalt neben der Beweinung in Betracht gezogen w e r d e n , da ohnedies bei einem so umfangreichen A l t a r mit mehreren Schnitzern gerechnet w e r d e n darf u n d ebenso mit einer gehörigen Zeitspanne v o m Beginn bis z u r Vollendung, w a s n o t w e n d i g e r weise auch beim gleichen K ü n s t l e r einen W a n d e l bedingt. So sind selbst die heutigen Heiligen Laurentius (Abb. 10) u n d Ulrich 5 4 3 wahrscheinlich doch identisch m i t dem St. Antonius(?) beziehungsweise St. Severus des einstigen A l t a r w e r k s . D a s K ö r p e r g e f ü h l dieser Gestalten erscheint allerdings »moderner«. Die G e w ä n d e r sind im ganzen bewegt u n d z w a r durch die Bewegung der K ö r p e r , weniger mittels »aufgelegter« Faltenzüge. D e r hl. Joseph bildet f ü r uns n u n die Schlüsselfigur; keine Gestalt u n t e r den hier zu behandelnden

S k u l p t u r e n gleicht den Heiligen Petrus u n d P a u l u s des H e i l s b r o n n e r

Altars m e h r : in der wenig beweglichen, dem Holzblock gleichsam noch nicht völlig entrissenen Gestalt mit dem ganzen körperverwachsenen U n t e r g e w a n d , das sich u n t e n zu stabigen R ö h r e n senkrecht f a l t e t , dem M a n t e l v o n ähnlich lappiger S t r u k t u r , dessen R ä n d e r sich gleichfalls l ö f f e l a r t i g v o r w ö l b e n . W i r finden vor allem die gleiche Seelenh a l t u n g in dem d u m p f e n , etwas stierenden Blick u n d in dem b e m ü h t w ü r d e v o l l e n Stehen. Bis zu Einzelheiten geht die Ü b e r e i n s t i m m u n g , namentlich mit dem H e i l s b r o n n e r P e t r u s : so den geschwungenen Stirnrunzeln, den kerbschnitthaften Falten an den Nasenflügeln, den Löckchen des Bartes! Freilich, die Q u a l i t ä t der N ö r d l i n g e r Figur ist höher: alle Formelemente sind präziser herausgearbeitet, die F a l t e n f ü g u n g feingliedriger, straffer u n d zugleich bewegter, die Gestalt im ganzen schlanker, der H a b i t u s weniger bäuerlich, der Ausdruck doch fast schon b e w u ß t . Eben diese Eigenschaften zeichnen in besonderem G r a d e die hl. Elisabeth aus, die mit Joseph f o r m a l völlig z u s a m m e n s t i m m t u n d ihresteils zu den kleineren Figuren hin vermittelt, insbesondere z u r hl. Walpurgis, bei der noch

324

eine zartere, bisher u n g e w o h n t e lyrische S t i m m u n g h i n z u k o m m t . D e r verhaltene Lyrismus dominiert in den Gestalten des hl. Rochus und des hl. Sebastian d e r a r t , d a ß m a n 32J

12

S C H R E I N DES M A R I E N A L T A R S , ( 1 5 1 1 ) H E I L S B R O N N ,

KLOSTERKIRCHE

auf den ersten Blick wohl kaum an den Meister der Heiligen Petrus und Paulus in Heilsbronn denken wird. Die zierliche Gestalt des Sebastian wirkt zudem in ihrer, Körper und Gewand doppelt »verschraubenden« Bewegung im Hinblick auf das für den Altar gegebene Datum »um 1518« altertümlich. Lassen wir diese Frage vorerst noch offen. Ohne die Annahme mehrerer Mitarbeiter in der Trünklinwerkstatt wird man jedenfalls schwerlich auskommen, so sehr sich selbst Rochus und Walpurgis mit Elisabeth und Joseph, ja sogar mit Peter und Paul berühren. Ein klares Urteil wird über die Arbeitsteilung in der Trünklinwerkstatt nicht möglich sein, ehe wir weitere Werke aus Heilsbronn herangezogen haben. Erst von da her erfährt auch unsere These vom Zusammenhang der Nördlinger und Heilsbronner Plastiken ihre volle Bestätigung. Hier wird der Marienaltar in Heilsbronn wichtig. D a ß dieser Altar aus Nördlingen importiert wurde, bezeugt bereits die Inschrift auf der Schreinwand hinter der Marienfigur: »von mir bastian Dayg maller zu nördlingen. 1511« 55. Wie beim Hochaltar der Nördlinger Karmeliterkirche hat also Dayg, der Maler, den Auftrag erhalten, aber gewiß nur die Marienszenen 5 6 der Flügelbilder eigenhändig ausgeführt, die heute den 13

A N B E T U N G DER K Ö N I G E , P R E D E L L E N F L Ü G E L M A R I E N A L T A R , H E I L S B R O N N , K L O S T E R K I R C H E

326

Schrein mit seinen drei Figuren - Muttergottes auf der Mondsichel, umgeben von St. Lucia und St. O t t i l i a 5 7 (Abb. 12) - rahmen. Ursprünglich w a r e n sie Außenseiten, Reliefs füllten die inneren Flügelseiten 5 8 . Einstmals stand der A l t a r auch frei im R a u m 5 9 ; die Rückseite des Mittelstücks ist ebenfalls als Schrein ausgebildet, der wieder mit drei Figuren besetzt w a r . Das bis zum Gewölbe hinaufragende Sprengwerk zeigt unter Baldachinen die Krönung M a r i a mit musizierenden Engeln. In der Predella befindet sich die M a r i a von einem M a r i e n t o d 6 0 . Die Flügelreliefs stellen links die Anbetung des Kindes durch einen(!) König 6 1 dar (Abb. 13), rechts die Flucht nach Ä g y p t e n . Gerade diese Flügel verbinden sich nun am unmittelbarsten mit den Peter-Pauls-Altarflügeln in der naiven, volkskunsthaften Auffassung der Themen, in der anekdotischen Erzählungsart: wie Joseph am Ziehbrunnen w e r k t und gleichzeitig neugierig sein Gesicht in voller Breite dem Betrachter zukehrt, das erinnert sehr an den »abgedrehten« Kopf des Henkers auf dem P a u l u s m a r t y r i u m . Die Josephsköpfe der Reliefs könnte man auch gut mit dem des Petrus im Gefängnis vergleichen, den Königskopf mit dem des Paulus, das Eselchen mit dem stürzenden Pferd. Im ganzen w i r k e n die Reliefs des M a r i e n a l t a r s allerdings etwas 327

14

JUNGFRAUENALTAR ( 1 5 1 3 ) , HEILSBRONN, KLOSTERKIRCHE

spröder, die Gestalten nicht so rund und weich; die Qualität ist noch schwächer, typische Predellenarbeit. Einen völlig anderen Eindruck gewähren die Schreinfiguren. Wenn auch etwas zu ruhig und gemessen, sind sie doch in den Köpfen und Gewändern vorzüglich modelliert, Wesen von stiller Anmut. In dem lieblichen, sanft gerundeten Antlitz der Madonna mischt sich kindliche Versonnenheit mit hoher Würde. Der Abstand vom Peter-Pauls-Altar erscheint erheblich. Dennoch: die Nördlinger Figuren, die besonders im Joseph schon eine schlagende Parallele zu den Gestalten Peters und Pauls von 1510 abgaben, verklammern nun auch die Großplastiken des Marienaltars mit denen des Peter-Pauls-Altars. Vor allem die Heiligen Elisabeth und Walpurgis eignen sich für einen Vergleich: das Gewandarrangement bei Maria und Ottilia nähert sich bis auf Details der hl. Elisabeth: man beachte die senkrechten Falten des Kleides, die Drapierung des Kopftuches. Die Gesichter ähneln am meisten der hl. Walpurgis. Hier wie dort finden sich die gleichmäßig schmalen, langen Nasen, die Grübchen in den Mundwinkeln und die nur halb geöffneten, verträumten Augen. Wohl gibt es Unterschiede, etwa im Faltenstil: ist die Lageverteilung der Faltengrate und Mulden auch o f t nahezu dieselbe, so laufen doch bei der Nördlinger Elisabeth zum Beispiel die Grate nicht ebenmäßig glatt durch, sondern schnüren sich mitunter krampfig ein. Damit erfaßt ein Bewegungselement von der Peripherie her die im Kern ganz in sich ruhende, stille Gestalt. Dies entspricht aber nur der Stilstufe »um 1518«, die gegenüber der von 1510/11 noch eine Steigerung des Expressiven zum Dramatischen hin vollzieht 0 2 . Wenig genug lassen die Nördlinger Figuren davon merken! Die Plastiken der Marienkrönung und des Engelskonzerts oben in den Gesprengefialen und die Prophetenfigürchen in den Schreinzwickeln 63 stammen von einer anderen H a n d . Doch sind sie sicherlich nicht erst in Heilsbronn hinzugefügt worden, denn dazu ist die kompositioneile Verwandtschaft mit der Marienkrönung des Karmeliteraltars zu eng, wie das Aquarell von 1769 deutlich erkennen läßt 6 4 . In die folgerichtige Entwicklungslinie vom Peter-Pauls-Altar mit seinen schweren, gedrungenen, seelisch stumpfen Schreingestalten wie den aufgeplusterten Figürchen der Flügel über die viel mehr durchformten, adeligen Figuren des Marienaltars von 1511 zu den statuarisch festen, zugleich aber bewegungsfähigen Plastiken des Nördlinger Karmeliterhochaltars »um 1518«, ordnet sich der 1513 datierte Elftausend-Jungfrauen-Altar 6 5 (Abb. 14) nicht ebenso leicht ein. Doch trägt auch er untrügliche Merkmale der Trünklinwerkstatt. Man darf nur nicht übersehen, daß die Schreinfiguren als Hochrelief geschnitzt sind, nicht als Voll- oder Dreiviertelplastiken wie bei den anderen Altären. Schon deshalb wirken die weiblichen Heiligen, die sich in zwei Schichten eng um die Muttergottes drängen, viel flacher. Aber ähnlich wie beim Peter-Pauls-Altar ergeben sich weite, glatte durch Vergoldung aufleuchtende Flächen. An Maria und der hl. Barbara links finden wir wieder die schon mehrfach charakterisierten »Faltenlöffel«, die der Petrus von 1510 so besonders ausgeprägt zeigt. Die vielen gleichgeordneten Köpfe mit den Kronen muten sehr stereotyp an; die zarte Beseelung der Heiligen des Marienaltars vermissen wir hier. In pausbackiger Naivität recken sich alle Gesichter dem Betrachter entgegen. Vergleicht man

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jedoch die Heilige ganz rechts im Schrein mit der hl. Lucia des M a r i e n a l t a r s , so w i r d m a n u n m i t t e l b a r f ü h l e n , d a ß beide A l t ä r e aus einer W e r k s t a t t stammen. Die Heilige erscheint in vielem geradezu als eine - vergröberte - Kopie. Die feine, zurückhaltende Geste der M u t t e r g o t t e s des M a r i e n a l t a r s sehen w i r in der M a r i a des J u n g f r a u e n a l t a r s ebenfalls lediglich in eine drastischere Weise übersetzt: mit beiden H ä n d e n packt die H i m m e l s königin da ihr K i n d , das aber im übrigen n u r wie ein etwas drallerer B r u d e r des Jesuskindes v o n 1511 aussieht 66 . Als noch enger stellen sich die Beziehungen z u m Peter-PaulsA l t a r heraus, u n d z w a r besonders die zwischen den Flügelreliefs; m a n betrachte die knochenlosen, weichlichen Schergengestalten der M a r t y r i e n u n d die Gesichtstypen! Ein gewisser Fortschritt l ä ß t sich angesichts des J u n g f r a u e n a l t a r s nicht leugnen. Die Figuren erscheinen weniger lahm, freier beweglich; sie rhythmisieren die Fläche mehr. D i e hl. Barb a r a rechts unten kniet in edler H a l t u n g aufgerichtet, Paulus dagegen sinkt wie ein Mehlsack in sich zusammen. I n s o f e r n macht sich doch eine Reihe von Zügen geltend, die auf die spätere Entstehungszeit - um 1513 - hinweisen. D i e E i n o r d n u n g bleibt aber schwierig. Sie ist befriedigend n u r bei A n n a h m e eines W e r k s t a t t g e h i l f e n zu lösen, der bereits die Flügel des P e t e r - P a u l s - A l t a r s u n d die Predellenreliefs des M a r i e n a l t a r s geschnitzt haben müßte, ehe ihm der durchaus homogene J u n g f r a u e n a l t a r im G a n z e n ü b e r t r a g e n w u r d e 6 7 . Auf dem Schrein des E l f t a u s e n d - J u n g f r a u e n - A l t a r s stehen in erneuerten Gesprenget a b e r n a k e l n noch drei weibliche Heilige, in der M i t t e die hl. M a r i a M a g d a l e n a mit dem Salbgefäß, links die hl. B a r b a r a mit dem Kelch, rechts eine Heilige mit P a l m z w e i g . O b sie z u m ursprünglichen Bestand des Altars gehörten, ist fraglich 6 8 . Auf jeden Fall sind es Arbeiten aus T r ü n k l i n s W e r k s t a t t , w i r k e n aber g e k o n n t e r als die Schreinfiguien u n d vermitteln stilistisch zwischen den weichlappigen, bewegten Gestalten des J u n g f r a u e n altars u n d den ruhigen, eleganten des Marienaltars. Gegenüber den K ö p f e n in diesem W e r k sind die Gesichter hier rundlicher geworden, ohne in jene übertreibende M i m i k zu verfallen wie die J u n g f r a u e n im Schrein. Zeitlich passen die Plastiken zu dem A l t a r v o n 1513; die M a g d a l e n a w ü r d e m a n allerdings lieber etwas später ansetzen. D i e Gestalt der hl. B a r b a r a , einmal schon sehr v e r w a n d t mit der M u t t e r g o t t e s v o n 1511, v e r k n ü p f t diese Figur noch mit einer weiteren, bisher unbesprochenen M a r i a . Diese steht heute a m ersten östlichen Pfeiler des M o r t u a r i u m s 6 9 . Wie bei der M a d o n n a des A l t a r s von 1511 halten zwei Engelchen zu ihren Füßen über der hier a b w ä r t s g e w a n d t e n Mondsichel das G e w a n d . D a s reizvolle A n t l i t z g e m a h n t in seiner mondigen Rundlichkeif - eng beieinanderliegend Augen, N a s e u n d M u n d - a m meisten an die hl. B a r b a r a . D i e d r i t t e Beziehung u n d zugleich der Beweis f ü r die H e r k u n f t aus der T r ü n k l i n w e r k s t a t t f ü h r t wieder zurück nach N ö r d l i n g e n , zu dem hl. Sebastian, bei dem das Verhältnis von K ö r p e r u n d M a n t e l ganz ähnlich ist; auch d o r t »umschalt« der Stoff k u r v i g den Leib ein M o t i v , welches das über die Brust g e r a f f t e K o p f t u c h der P f e i l e r m a r i a noch einmal a u f n i m m t . Die M a d o n n a d ü r f t e u n g e f ä h r gleichzeitig mit dem hl. Sebastian entstanden sein. Mit der H e i l s b r o n n e r P f e i l e r m a d o n n a sind alle sicher mit T r ü n k l i n zu v e r b i n d e n d e n 329

S k u l p t u r e n e r f a ß t . D e r S c h w e r p u n k t blieb H e i l s b r o n n , denn abgesehen v o n N ö r d l i n g e n

selbst 7 0 h a t sich w e d e r im n ä h e r e n schwäbischen U m l a n d , dem Ries 7 1 , noch in den f r ä n kischen R a n d g e b i e t e n bis gegen Günzenhausen 7 2 , soweit w i r überblicken, etwas erhalten was z w i n g e n d ihm oder seiner W e r k s t a t t zugeschrieben w e r d e n k ö n n t e 7 3 . Die Frage nach dem F r ü h w e r k bleibt vorerst offen. I m Zuge der R e f o r m a t i o n ist eben in der v o r wiegend evangelisch gewordenen Gegend viel verloren gegangen; auch dem Bauernkrieg, der das Ries 1525 stark verwüstete, d ü r f t e manches z u m O p f e r gefallen sein 7 4 . I m m e r h i n mögen sich verstreut, auch im K u n s t h a n d e l , noch W e r k e des Meisters finden lassen. I n n e r h a l b der W e r k s t a t t T r ü n k l i n s sind die einzelnen M i t a r b e i t e r nicht immer leicht zu unterscheiden. Es fallen weithin n u r zwei, sich o f t bis zur Deckung n ä h e r n d e G r u n d richtungen auf, eine q u a l i t a t i v höherstehende, aber altertümliche, u n d eine meist schwächere, die aber dem zweiten J a h r z e h n t des 16. J a h r h u n d e r t s voll entspricht. N e b e n dem k o n s e r v a t i v e n H a u p t m e i s t e r , sicherlich T r ü n k l i n selbst, der die Schreinfiguren des P e t e r Pauls-Altars, des M a r i e n a l t a r s u n d - mit einigem V o r b e h a l t - die M a d o n n a am Pfeiler in H e i l s b r o n n , sowie einen G r o ß t e i l 7 5 der Plastiken des K a r m e l i t e r a l t a r s in N ö r d l i n g e n geschaffen h a b e n d ü r f t e , k o n n t e n w i r einen zweiten, jüngeren B i l d h a u e r feststellen, der möglicherweise schon die Flügelreliefs des P e t e r - P a u l s - u n d M a r i e n a l t a r s , sicher aber 1513 die des J u n g f r a u e n a l t a r s samt den dortigen Schreinfiguren a u s g e f ü h r t hat. A n f a n g s noch in völliger stilistischer A b h ä n g i g k e i t v o m Meister, w a r er 1513 jedoch bereits soweit emanzipiert, d a ß m a n ihm - eigenständige E n t w i c k l u n g vorausgesetzt - sogar noch die Schnitzereien des H e i l s b r o n n e r R i t t e r a l t a r s (um 1516/18) z u t r a u e n möchte 7 6 . Schließlich betätigte sich an der K r ö n u n g M a r i ä u n d dem M a r i e n t o d des M a r i e n a l t a r s in H e i l s b r o n n anscheinend ein dritter Schnitzer, der n u r dies eine Male - 1511 - f a ß b a r w i r d . Es bleibt uns noch, nach der H e r k u n f t v o n Peter T r ü n k l i n s Stil zu f r a g e n . Dabei treten zwei recht verschiedenartige Quellen zutage. Die Großfiguren weisen eindeutig auf U l m als W u r z e l p u n k t u n d hier speziell auf den U m k r e i s J ö r g Syrlins des Jüngeren. D i e ein w e n i g m ü d e Eleganz seiner Plastiken w i r d z w a r bisweilen ins Hausbackene übertragen, aber in den Gestalten des P e t r u s u n d P a u l u s in H e i l s b r o n n oder Josephs u n d Elisabeths in N ö r d l i n g e n schimmern doch als V o r b i l d Figuren v o n der A r t der Heiligen Peter u n d P a u l v o m A l t a r in Bingen (um 1496) 7 7 durch. D e r hl. Rochus in N ö r d l i n g e n ist mit dem H o h e n p r i e s t e r v o m ehem. Verspertolium im U l m e r M ü n s t e r (1482) 7 8 zu vergleichen. Auch die M u t t e r g o t t e s des H e i l s b r o n n e r M a r i e n a l t a r s erinnert an ein Ulmisches W e r k , die M a r i a des Altars v o n H a u s e n (1488, S t u t t g a r t , L a n d e s m u s e u m ) 7 9 . I n ihrer stillen, dabei durchaus nicht k r a f t l o s e n Zuständlichkeit lebt stets etwas statuarisch Festes in der U l m e r Plastik. G e r a d e d a r i n h a t sie T r ü n k l i n das Beste vermittelt. Beharrlich, ja r e a k t i o n ä r h ä l t der N ö r d l i n g e r Meister bis u m 1518 an dieser T r a d i t i o n fest; noch die Walpurgis des K a r m e l i t e r a l t a r s w u r z e l t zutiefst in der K u n s t der neunziger J a h r e des 15. J a h r h u n d e r t s . M a n s p ü r t noch immer A n k l ä n g e an Plastiken wie die hl. Scholastika des Blaubeurener A l t a r s G r e g o r E r h a r t s (1493) 8 0 - n u r in den manchmal konvulsivisch sich abschnürenden F a l t e n z ü g e n der N ö r d l i n g e r Figuren wacht etwas v o m Zeitstil auf. D e r ständige Rückgriff auf U l m e r W e r k e »um 1490« l ä ß t m i t ziemlicher Sicherheit auf einen A u f e n t h a l t T r ü n k l i n s d o r t in dieser Zeit schließen, v o n dessen Eindrücken er sich nicht mehr zu

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befreien vermochte. U m sich dennoch durch zwei Jahrzehnte hindurch konkurrenzfähig zu erhalten, bedurfte der Meister allerdings noch einer anderen Anregung, weniger unzeitgemäß als die feinsinnigen Ulmer Reminiszenzen. Sie erwuchsen ihm aus der Kunst der von Albrecht Dürers Schaffen berührten Nördlinger Maler Hans Schäufelein und besonders Sebastian D a y g , mit dem Trünklin mehrfach in Arbeitsgemeinschaft gestanden war. Ihr Einfluß macht sich selbst bei den Großplastiken gelegentlich geltend 8 1 ; man kann also nicht sagen, nur der Werkstattgehilfe sei für diese Tendenzen verantwortlich. Für die Reliefs des Peter-Pauls-Altars und des Jungfrauenaltars möchte man allerdings geradezu annehmen, D a y g habe Visierungen geliefert 8 2 . Ein Hinweis soll genügen: die Henkersknechte auf den Altarflügeln in Heilsbronn ähneln frappierend den beiden Gestalten der Tuchstriegler D a y g s 8 3 auf eben dem Karmeliteraltar, für den Trünklin Figuren geschnitzt hat. So mischen sich in Trünklins Werkstatt zwei heterogene Stilrichtungen. Eine wirkliche Synthese ist dem Meister nie gelungen, dazu hätte er sich ernstlich mit dem Aktuellen auseinandersetzen müssen, wofür aber seine schöpferische K r a f t nicht ausreichte. E r verharrte rückwärtsgewandt bei den Idealen seiner Jugend. Ein biederer Handwerker-Künstler nur, w a r es ihm nicht darum zu tun, auf der H ö h e der Zeit zu stehen; ihm genügte, mit Hilfe der ihm einmal zuteil gewordenen »Exempla« seine Altaraufträge auszuführen. D a ß er darin den

an ihn gestellten Ansprüchen gerecht wurde,

beweist seine wiederholte Tätigkeit für die Abtei Heilsbronn, die immerhin auch N ü r n berger Künstler zu Auswahl hatte. ANMERKUNGEN

1 Es handelt sich im wesentlichen um die Maler Friedrich Herlin und Hans Schäufelein. 2 Versuch einer Namensgebung durch H. Rott, Quellen und Forschungen zur südwestdeutschen und schweizerischen Kunstgeschichte im XV. und XVI. Jh. Bd. II, Stuttgart 1934; XLV. Vgl. auch G. Wulz, Der Meister der Figuren des Nördlinger Hochaltars, Jh. d. hist. Vereins f. Nördlingen 18 (1934/3}), 41 ff. und zuletzt W. Paatz, Süddeutsche Schnitzaltäre der Spätgotik, Heidelberg 1963, 24 ff. 3 Neben Peter Trünklin vor allem Paul Ypser (steuert 1495-1524) und Hans Fuchs (steuert 1517-1562); vgl. G. Wulz, Die Nördlinger Bildhauer vom 15. bis 18. Jahrhundert, Jb. d. Rieser Heimatvereins, Nördlingen 20 (1937), 31. 4 Peter Strauß (alias Trünklin) von Nördlingen, der Schnitzer des Peter- und Paulsaltars in Kloster Heilsbronn. Rep. f. Kunstwiss. XXVIII (1905), 135 ff. - Peter Strauß und Sebastian Dayg in Kloster Heilsbronn. Rep. f. Kunstwiss. XXVIII (1905), 448 ff. - Nochmals Sebastian Dayg in Kloster Heilsbronn. Rep. f. Kunstwiss. XXX (1907), 330. - Kurze Zusammenfassung: J. Baum, Peter Trünklin, Art. im Thieme-Becker, Bd. XXXIII (1939), 451, dort weitere Literaturangaben, seither noch: Die Kunstdenkmäler von Bayern, S. II, Stadt Nördlingen, München 1940, 22. 5 Quellen und Forschungen II; XLV f., XLVIII, 187 f f . , 199. 6 Jb. d. Rieser Heimatvereins, Nördlingen 20 (1937), 31. Herrn Archivrat Dr. Gustav Wulz gilt mein besonderer Dank für seine wertvollen Auskünfte zur Biographie des Künstlers. 7 Mit einer Ausnahme. 8 Er wohnt damals in der langen Gasse in dem Haus, in dem vorher zwei Jahre lang Stephan Weyrer, der letzte Baumeister an St. Georg, gewohnt hat; vgl. A. Gümbel, Rep. f. Kunstwiss. XXVIII (1905), 137. Das Geburtsdatum ist unbekannt. Da sein Vater, der Schneider

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Hans Trünklin, bereits 1471 stirbt, muß Peter vor diesem Termin geboren sein, wenn auch vermutlich nicht sehr viel eher, da seine Mutter auch aus der zweiten Ehe mit Stephan Strauß noch einen Sohn hat, den nachmaligen Bildhauer Stephan. Bei seinem Tod 1522 hinterläßt Peter noch unmündige Kinder (A, Gümbel, a. a. O., 142). Vgl. G.Wulz, Jb. d. Rieser Heimatvereins, Nördlingen 20 (1937), 31. Die Mutter Triinklins war eine Tochter des Schneiders Tünzel (Wulz, briefl. Mittig. 25. VIII. 61). Rep. f. Kunstwiss. XXVIII (1905), 138 f. Quellen und Forschungen II, 187 f. Vgl. A. Gümbel, Rep. f. Kunstwiss. XXVIII (1905), 138 f., und G.Wulz (briefl. Mittig. 25. VIII. 61): demnach steuert Hans Trünklin von Juni 1463 bis 1471 in Nördlingen und wohnt im Haus Weinmarkt 6, das dann Stephan Strauß, seine Ehenachfolger, übernimmt. Trünklins Haus am alten Graben wird von seinen Gläubigern im Januar 1523 an den Bildhauer Hans Fuchs verkauft. Die Witwe des Künstlers heiratet im Mai des gleichen Jahres den Rotfärber Paul Schneider (Wulz, briefl. Mittig. 29. XII. 61). Vgl. A. Gümbel, a. a. O. Vgl. A. Gümbel, a. a. O., 142. H. Rott, Quellen und Forschungen II, 189. G. Muck, Geschichte von Kloster Heilsbronn von der Urzeit bis zur Neuzeit, Nördlingen 1879,1, 226; A. Gümbel, a. a. O., 136, Anm. 1; H. Rott, Quellen und Forschungen II, 199. Aus der Rechnung geht die Arbeitsteilung klar hervor, ebenso, daß der Altar in Nördlingen selbst angefertigt wurde. Vgl. H. Rott, Quellen und Forschungen II, 188. Trünklin war bis 1514 Besitzer des Hauses Neubaugasse 7 und dadurch Nachbar von Zehentstadel und Kastenhaus des Klosters Heilsbronn; auch deshalb mochten sich die geschäftlichen Beziehungen zu der Abtei entwickelt haben (Wulz, briefl. Mittig. 25. VIII. 61). Nur G. Muck, Heilsbronn, I, 226. Vgl. G. Muck, Heilsbronn, I, 258 ff., II, 531 ff. Vgl. auch Anm. 17. Im »Registrum parochialis ecclesie in Weißenprunn« (Nürnberg, Staatsarchiv) steht: »Was die tafel kost auf dem koeraltar des heiligen sant Michaelis, in gezeucht und gemacht im 15c und drei jar; am freitag vor Bartholomei wurd si aufgesetzt zum ersten: Item ausgeben einem boten, der zwhe(zog) gen Nördlingen, der wurd mit in eins aller ding des leikaufs und geltz halber von der tafel, verzert 3 Pfd. Item den weibern zu leikauf 3 Pfd. und 23 d. Item den knechten zu leikauf 2 Pfd. Item dem furman, der die tafeln herfurt von Nördlingen hieher 11 Pfd. Item für den bildschnitzer und den schreiner und für den furman haben sie herre verzert, do sie die tafeln aufsetzten, verzert 8 Pfd. 20 d. Item dem bildschnitzer und dem schreiner haben wir geben für tafel 18 fl. Item dem schlosser für band und zu henken die tafeln 3 Pfd. Item als mir die tafeln am ersten angedingt haben, haben sie verzert 77 d. Summa in toto, was die tafel gesteet 18 fl. 33 Pfd. 17 d.« A. Gümbel, Rep. f. Kunstwiss. XXVIII (1905), 456. Trünklin wird namentlich nicht genannt!

21 R. G. Stillfried, Kloster Heilsbronn, Berlin 1877, Taf. 4. Die Maße des Altars: Schrein: h. 188 cm, b. 147. - Figuren: 133 bzw. 135. Predella: h. 75, b. 85,5. - Literatur: Muck, Heilsbronn, I, 226 f., III, 249, 297. - Stillfried, Kloster Heilsbronn, 70. - G. F. Waagen, Kunstwerke und Künstler in Deutschland, I, Leipzig 1843, 302. - M. Schütte, Der schwäbische Schnitzaltar, Straßburg 1907, 133 f., 226 f. - A. Weber, Die Münsterkirche in Heilsbronn, Ansbach 1911, 21 ff. - G. Dehio, Handbuch, III, 201. - R. Hoffmann, Bayerische Altarbaukunst, München 1923, 265, Taf. 40. - H. Rott, Quellen und Forschungen II, XLV f., 199. - Ch. Loose, Der Schnitzaltar in Mittelfranken im XV. Jh., Straßburg 1928,26. - J.Baum, Th.-B. XXXIII (1939), 451. - Th. Schmidt, Münster zu Heilsbronn, Neuendettelsau (1955), 27. - E. Zachmeier, Studien zur nürnbergischen Holzplastik der Spätgotik, Phil. Dissertation Universität

Erlangen 1956, 97, 146. - G. Fehring, Kurzinventar Ansbach, München 1958, 104. 22 Im Gesprenge drei vielleicht nicht zum ursprünglichen Bestand gehörige Figuren: ein Bischof in der Mitte (Otto von Bamberg?), der hl. Benedikt (?) links, rechts ein weiterer Bischof. A.Gümbel, Rep. f . Kunstwiss. XXVIII (1905), 136, nennt Bischof Bernhard, Otto (?) und Benedikt. Der Trünklinwerkstatt entstammen wohl alle. Daß die Figuren nicht zum Altar gehören, nimmt auch H. Rott an, Quellen und Forschungen II, XLVI, Anm. 2. Kranken. 23 Außenseite des linken Flügels: Predigt des hl. Petrus. Der hl. Petrus heilt einen Außenseite des rechten Flügels: Taufe des hl. Paulus. Gefangennahme des hl. Paulus. Linker Standflügel: Petrus erweckt eine Tote. Petrus wird von Engeln zum Papst gekrönt. Rechter Standflügel: Die Seefahrt des hl. Paulus. Predigt des hl. Paulus. 24 Vgl. Ch. Rauch, Die Trauts, Straßburg 1907, 96 f f . und Kat. Meister um Albrecht Dürer, Nürnberg 1961, 208, Nr. 366. 25 Der linke Flügel wurde 1857 von dem Maler Engelhard total neugeschaffen; G. Muck, Heilsbronn, 1, 277. 26 Allerdings ist unter ihnen auch wieder Petrus, ein Hinweis auf Petri Fischzug! 27 Markus VI,47-52. 28 Matthäus IV,19. Das Schiff ist auch als Symbol der Kirche zu verstehen. 29 Vgl. dazu S. 326 ff. Heilsbronn. 30 Vgl. Stillfried, Kloster 31 Vgl. Stillfried, a. a. O., 44 f . 32 U. a. von A. Gümbel, Rep. f . Kunstwiss. XXVIII (1905), 142, 453. 33 Datum von ]. Müller überliefert; Nachricht von Kunstsachen und Künstlern der Reichsstadt Nördlingen. Museum für Künstler und Kunstliebhaber, hrsg. v. ]. G. Meusel, X (1790), 335. Der Altar war eine Gemeinschaftsstiftung der Geschlachtwanderbruderschaft und des Karmeliterkonvents, vgl. Anm. 34. 34 Dies geht aus einer Supplikation des Malers von 1522 an den Rat der Stadt hervor, in der er Hilfe bei Erlangung eines Schuldscheins über nicht erhaltenen Lohn bittet: »Fürsichtig, erbar und weyß, günstig lieb Herrn. Vergangener Jar ist mir ein Taffei zu fassen durch Prior und Convent unser Frawen Prüder allhie und der Geschlachtwandergeseln Pruderschaffl verliehen worden laut zwayer KorfSettel, deshalb auffgericht. den ich dann biß an ir vellig Benügen Volg gethan. Wiewol sie mir mittler zeyt zugesagt einen Schuldbrief}, so das Werk auffgericht, mir zu geben . . . das ich aber auf mein offlmals Erfordern von in(en) nit (zu) bekommen weiß. Euer fürsichtige Weyßheit als mein günstig lieb Herrn untertenig bittend in Ansehung meiner große(n) Müh und Unkostens derhalben erlitten, mit erweiten Prior, Convent und Pruderschaffl (zu) verfügen, mir ein Schuldbrief}, als sich gebürtt laut ires Zusagens, mir off(t)mals von in(en) bescheen, auffzurichten, damit ich der Suma als noch zwayhundert und zwantzig Weyßheit Guldin verwissen und mit der'Zeyt bezalt werd. Das will ich umb Euer fürsichtige als mein günstig lieb Herrn geflißen sein zu verdienen. E. F. W. underteniger Burger Sebastian tayg.« Zitat nach H. Kauert, Sebastian Dayg, Phil. Diss. Freiburg 1922, 79. Irrtümlicherweise wurden bisher häufig die Tafeln Daygs nicht zum Hochaltar gerechnet (vgl. H. Wescher-Kauert, Der Karmeliteraltar des Sebastian Taig. ]b. f . Kunstwiss. V (1928), 21 ff. - Die Kunstdenkmäler in Bayern, S. II, Stadt Nördlingen, München 1940, 322. - K. Gröber, Nördlingen, St. Salvator, München 1940, 7. - P. O. Riedmatter, Die Salvatorkirche in Nördlingen, Nördlingen 1955, 11. - Gelegentlich wurde auch der jetzige (1497 für St. Michael in Fürth) gestiftete Hochaltar mit dem einstigen verwechselt; G. Dehio, Handbuch III, 358.

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35 Vgl. ]. Müller; bei H. Wescher-Kauert. Jb. f . Kunstwiss. V (1928), 32. 36 Von Kurz auf dem Aquarell mit Mater dei und Elisabeth verwechselt (ebenso von Müller). 37 Bei Kurz als Joachim. Die Gestalt trug aber das Täfelchen des jüdischen Priesters auf der Brust; vgl. J. Braun, Tracht und Attribute der Heiligen i. d. dt. Kst., Stuttgart 1943, Sp. 763.

38 Durch die Darstellung des Zacharias (vgl. Anm. 37) kommt man, statt zu St. Anna (so Kurz), die sonst viermal auf dem Altar dargestellt gewesen wäre, auf die hl. Elisabeth, die Frau des Zacharias. 39 Bei Kurz als hl. Urban. Ganz unmöglich, da dieser stets als Papst dargestellt wird. Der Pilgertypus und das Tier weisen vielmehr auf den hl. Wendelin; vgl. ]. Braun, Tracht. . ., Sp. 742 f. 40 Bei Kurz fälschlich Severinus. Der hl. Severus war Patron der Weber (und damit auch der Geschlachtwander, die den Altar mit gestiftet hatten); vgl. J. Braun, Tracht. . ., Sp. 656 f f . Siehe auch den Zunftschrein der Nördlinger Lodweber, um 1620. Inventarbd. Nördlingen, 355, Abb. 385. 41 Nicht ganz sicher, da die für den Heiligen charakteristische Gebärde zur Wunde am Bein hier fehlt. 42 öfters vorkommende Kombination, vgl. Scheibenrisse des Hans von Kulmbach (WK 103-105) und Erhard Schöns (E.Bock, Kat. d. Zeichnungssammlung d. Universitätsbibliothek Erlangen, Frankfurt 1929, Taf. 107, Nr. 262). 43 Vgl. H. Wescher-Kauert, Jb. f. Kunstwiss. V (1928), 32: Die Szenen ergänzen die noch vorhandenen Darstellungen mit Marien- und Kindheit-Jesu-Geschichten (wobei die Reihenfolge zweifelhaft bleibt, da der Chronist Johannes Müller offenbar »Links« und »Rechts« bald im heraldischen Sinn, bald vom Beschauer her gesehen gebraucht): links oben: Geburt Mariä, rechts oben: Geburt Christi, links unten: zwölfjähriger Jesus im Tempel, rechts unten: Bethlehemitischer Kindermord. Auf den Außenseiten dieses Flügelpaars: links unten: die Opferung des Osterlamms im Tempel, links und rechts (?) oben: Petrus aus dem Meer steigend, rechts unten: Jesus und die Ehebrecherin. Auf den Standflügeln: links oben: hl. Petrus, rechts oben: hl. Margaretha, links unten: Schutzmantelmadonna mit Karmelitermönchen und Geschlachtwandern, rechts unten: zwei Geschlachtwander bei der Arbeit. Auf der Rückseite: Jüngstes Gericht. Maße der erhaltenen Flügel: Marienleben: h. 125, b. 157, Standflügel, etwa h. 131, b. 73 cm. Abgesehen von den tuchstriegelnden Geschlachtwandern (München, Bay. Nat. Mus.) befinden sich sämtliche erhaltenen Tafeln im Städt. Museum Nördlingen.

44

45 46 47

48 49 50 51 52 53

Nachtrag: Die Rückseite des Schreins bedeckte eine Darstellung des Hostienwunders von 1381 (vgl. H. Wescher-Kauert, Jb. f. Kunstwiss. V [1928] 22 u. 32). Die Betonung dieser Zone mit der Darstellung des Leichnams Christi hängt wohl mit dem Hostienreliquienkult zusammen, dem die Karmeliterkirche ihre Entstehung verdankt. Bezeichnenderweise wird der Altar auch von einem Schmerzensmann bekrönt. Wahrscheinlich ursprüngliche Außenseiten; flankiert waren sie von St. Jakobus u. e. anderen Pilgerheiligen; J. Müller, zit. nach H. Wescher-Kauert, Jb. f. Kunstwiss. V (1928), 32. Kurz verzeichnet hier erneut eine hl. Anna! Es sind die Heiligen Joseph, Elisabeth (jetzt Scholastika), Georg, Sixtus, Laurentius, Sebastian, Rochus, Walpurgis, Wolf gang und Ulrich. Inventarbd. Nördlingen, 122. - K. Gröber, St. Salvator, 7 f. - Dehio-Gall, Handbuch, östl. Schwaben, München 1954, 62. Die Figuren haben oftmals ihren Standort gewechselt. Kurz, Nr. 7, jetzt auf dem rechten Seitenaltar: Joseph der Arbeiter, h. 180 cm. Kurz, Nr. 11, jetzt hl. Scholastika, im Chor links vom Hochaltar, h. 180 cm. Kurz, Gesprenge, jetzt oben im Mittelschiff links, h. ohne Sockel etwa 120 cm. Kurz, Nr. 12, jetzt Orgelempore, h. mit Sockel 142, t. 30 cm. Kurz, Gesprenge, jetzt an der Orgelempore, h. mit Sockel 136, t. 25 cm. Die Figuren wurden seit Abbruch des Altars vielfach übermalt. Waagen, Kunstwerke und Künstler I, 1843, 359, sah sie für Steinfiguren an! In späterer Zeit wieder farbig gefaßt, sind sie z. T. in jüngster Zeit ganz neu vergoldet worden.

54 Inventarband Nördlingen, Abb. S. 141. 54a Maße: Laurentius: h. mit Sockel 142, t. 22; Ulrich: h. etwa 155 cm. Unklar bleibt der

überaus

primitive hl. Sixtus, während der hl. Georg deutlich auf die Zeit kurz vor 1500 weist und hier ausscheidet. 55 Vgl. A. Gümbel, Rep. f . Kunstwiss. XXVIII (1905), 454. Heute im südlichen Nebenchor der Kirche. - Die Maße: Schreinvorderseite: h. 161, b. 139, t. 26. Die Figuren: Maria h. 93, Lucia und Ottilia h. 89. Schreinrückseite: t. 14. Predella: h. 75 cm. - Literatur: Waagen, Kunstwerke und Künstler I, 303 f . - G. Muck, Heilsbronn, 1, 244 (falsche Identifizierung), III, 246, 299. Stillfried, Kloster Heilsbronn, 71. - M. Schütte, Schwäbischer Schnitzaltar, 133, 277 (Trünklin). - A. Weber, Münsterkirche Heilsbronn, 17 f . (Trünklin). - Dehio, Handbuch, III, 201. R. Hoffmann, Bayerische Altarbaukunst, 265 f . (Trünklin, Taf.41). - Ch. Loose, Schnitzaltar in Mittelfranken, 49 (Trünklin). - H. Rott, Quellen und Forschungen II, XLVI (Trünklin oder Paul Ypser). - ]. Baum, Th.-B. XXXIII (1939), 451 (nicht Trünklin). - Th. Schmidt, Münster Heilsbronn, 15 f . - G. Fehring, Kurzinventar Ansbach, 104. 56 Links oben: Maria Tempelgang, rechts oben: Geburt Mariä, links unten: Maria als Fürbitterin der Menschheit mit Christus vor Gottvater, rechts unten: Vermählung Mariä. 57 Öfters fälschlich als Birgitta angesehen, z. B. G. Dehio, Handbuch III, 201. 58 Hier wären wahrscheinlich: Verkündigung, Heimsuchung, Geburt Christi, Darbringung im Tempel. 59 Vgl. Anm. 55. Der Altar stand an der Nordostecke der Ritterkapelle; Stillfried, Kloster Heilsbronn, 71. Die liegende Maria der Predella war ursprünglich von beiden Seiten her zu sehen und stand völlig waagerecht. Ob in dem rückwärtigen Schrein wieder eine Muttergottes stand? Abgesehen von Lucia und Ottilia sind weitere Patrozinien nicht genannt. 60 Erst seit 1955 wieder an dieser Stelle. 61 Man vergleiche die Spaltung der Szene auf dem ehem. Karmeliteraltar. Die Flügelreliefs hatten bereits A. Gümbel (Rep. f . Kunstwiss. XXVIII [1905], 452) dazu geführt, den Altar Trünklin zuzuschreiben. 62 Vgl. K. Oettinger, Die Assunta-Phase, Festschrift für Peter Metz, S. 282 f f . Man vgl. unter diesem Aspekt auch den hl. Laurentius mit Lucia, den hl. Ulrich mit Maria, was das Gewandarrangement betrifft. 63 Sie steigen aus dem Rankenwerk des Rahmens empor, das eine leise Anspielung auf die Wurzel Jesse bietet. 64 Dürers Marienleben-Holzschnitt B 94 von 1510 stand vermutlich dabei Pate. 65 Der Altar war 1512 bereits in Arbeit; Stillfried, Kloster Heilsbronn, 68. - Die Maße: Schrein: h. 150, b. 124,7. Figuren: 89-104. Flügelbreite: 62. Predella: h. 56,5 cm. - Das zentrale Thema ist trotz des Patroziniums nicht die hl. Ursula und die Elftausend Jungfrauen, sondern die Vermählung der hl. Katharina mit dem Jesuskind. Auf den Flügelreliefs links oben: Martyrium der hl. Katharina, links unten: Martyrium der hl. Barbara, rechts oben: Martyrium der hl. Apollonia, rechts unten: Martyrium der hl. Christina. Die Außenseiten der Flügel und die Standflügel sind wieder von Wolf Traut mit Gemälden geschmückt. Literatur: G. Muck, Heilsbronn, I, 222, III, 249, 299. - Stillfried, Kloster Heilsbronn, 68 f . - A. Gümbel, Rep. f . Kunstwiss. XXVIII (1905), 142. - A.Weber, Münsterkirche Heilsbronn, 15 f . - Ch. Loose, Schnitzaltar in Mittelfranken, 48 (nicht Trünklin). - Th. Schmidt, Münster Heilsbronn, 16 (Trünklin). - G. Fehring, Kurzinventar Ansbach, 104 (Trünklin). 66 Auch der Mond zu Füßen der Madonna

ist völlig

gleich.

Vgl. S. 330. 67 Später dann vielleicht sogar noch den Ritteraltar. 68 Es gab in Heilsbronn z. B. einen Magdalenenaltar, für den allerdings bereits 1500 eine »Tafel« beschaff wurde; Stillfried, Kloster Heilsbronn, 71. 69 Wahrscheinlich ursprünglich auch Schreinfigur. Heute abgelaugt mit Resten alter Fassung. Das Kind ist abhanden gekommen. 70 Hier sind drei Figuren von einem Altar im Stadt. Museum zu erwähnen (Abb. Inventarbd.

Nördlingen, S. 345, rechts außen), die möglicherweise doch auch noch zur Trünklinwerkstatt gehören, und zwar als Frühwerke (der Inventarband datiert aber zu früh: um 1490). Der heilige Mönch ähnelt dem sog. hl. Benedikt im Gesprenge des Peter-Pauls-Altar sehr, beide sind zu vergleichen mit der hl. Walpurgis des Karmeliteraltars. 71 72 73 74 75

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82

Vgl. Die Kunstdenkmäler von Bayern, S I, Bezirksamt Nördlingen, München 1938. Vgl. Die Kunstdenkmäler von Bayern, MF VI, Bezirksamt Günzenhausen, München 1937. Vgl. Anm. 71. Vgl. G. Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 1956, 212 ff. Vielleicht doch auch Rochus und Sebastian, die am stärksten den retrospektiven Charakter widerspiegeln. Es zeigt sich ja, wie der Meister, bald mehr, bald weniger, aber immer wieder auf Vorbilder aus dem letzten Jahrzehnt des 15. Jhs. zurückgreift. Sonst müßte hier eine eigene Hand angenommen werden, die dann auch die Heilsbronner Pfeilermaria geschaffen hätte. Ch. Rauch, Die Trauts, Taf. 26. Die Gemälde der Flügelaußenseiten wieder von Wolf Traut. Die Flügelreliefs ebenfalls stark von Traut bestimmt. Das könnte für den Schnitzer des Jungfrauenaltars sprechen: dort sind aber die Reliefs von Dayg beeinflußt. ]. Baum, Die Ulmer Plastik um 1500, Stuttgart 1911, Taf. 25. Der Zusammenhang mit Syrlin d. ]. ist im Falle Josephs und Elisabeths bereits K. Sitzmann, Unbekannte Altarwerke von Dürer und Grünewald in Nördlingen und Wimpfen, Straßburg 1933, 5, aufgefallen. Er datiert allerdings »um 1500«. J. Baum, a. a. O., Taf. 19. J. Baum, a. a. O., Taf. 34. Gertrud Otto, Gregor Erhart, Berlin 1943, Taf. 19. Neuerdings ist man geneigt, dem Vater Gregors, Michel Erhart, den Hauptanteil an diesem Altar zu geben, vgl. W. Paatz, Süddeutsche Schnitzaltäre der Spätgotik, Heidelberg 1963, 35 ff. Vgl. Peter und Paul, nur um die stilistische Verwandtschaft zu spüren, mit dem allerdings erst 1521 entstandenen Paulus Schäufeleins vom Ziegleraltar in St. Georg in Nördlingen, Inventarbd. Nördlingen, Abb. S. 91. Schnitzaltarvisierungen durch einen Maler finden sich aus dieser Zeit öfter, etwa von Hans von Kulmbach (z. B. WK 82, 85) und Wolf Traut; vgl. auch die allgemeinen Bemerkungen von H. Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Augsburg 1928, 36 ff., 85 f .

83 München,

Bayerisches

Nationalmuseum.

Inventarband

Nördlingen,

Abb. S. 357.

336

F R I E D R I C H WINKLER • DIE ANBETUNG DES KINDES BEI N A C H T IM DOM ZU KRAKAU

Das Nachtbild der Anbetung des Kindes im Krakauer Dom (Abb. 1) verrät sich auf den ersten Blick als das Werk eines rätselhaften, sehr originellen Malers, des Verfertigers der großen Tafel mit dem »Tod Maria in einer Kirche«, die mit der Sammlung Binder in das Kunstmuseum in Düsseldorf gekommen ist (Abb. 2). Der Maler wurde von einigen mit Aertgen van Leyden, von anderen mit Abraham Schöpfer identifiziert. Der Tod Mariä besitzt neben den beträchtlichen künstlerischen Eigenschaften, von denen noch zu sprechen sein wird, einige sehr eigentümliche Kennzeichen mehr äußerlicher Art. Es wimmelt in ihm von halbwüchsigen Engeln, die die Gesimse des hohen Tonnenbaues besetzt halten. Die Bögen, Pilaster, Kapitelle sind durchweg mit feinem Rankenwerk in italienischem Stil bemalt. Die Heiligenscheine sind gleichsam aus Golddraht, der die Scheiben fächerförmig unterteilt hat. Leider sind die so schlagenden Übereinstimmungen in Abbildungen nur schwach zu erkennen. Man sieht im Krakauer Bild zwei ebenso schlaksige nackte Engel ganz oben über die Brüstung als Zuschauer der Anbetung gebeugt, alle Architekturteile sind mit ähnlichen Ornamenten übersponnen. Der Heiligenschein Mariä ist ebenfalls wie ein feines Gespinst aus Draht mit vielen Strahlen aufgefaßt, die am Rande in Bögen übergehen. Man könnte daran denken, daß beide Tafeln vom selben Altarwerk herrühren, doch halte ich es für wenig wahrscheinlich. 337

Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist uns der eigenartige Künstler durch drei weitere Bilder und einige Zeichnungen bekannt geworden. Eine Vorarbeit zur sterbenden Maria

des Düsseldorfer Bildes und ein als Arbeit Kulmbachs in der Eremitage in Leningrad figurierendes Gemälde mit der Fürbitte Christi und Maria vor dem Thron Gottes habe ich nachgewiesen 1 . Hier kann man die Engel, die das Bild bevölkern, und die dünnen, zierlichen Ornamente, mit denen er die seitlichen Pilaster schmückt, auch in der Repro1

A N B E T U N G DES K I N D E S BEI N A C H T . K R A K A U , D O M (EHEMALS)

2

T O D M A R I A E , DÜSSELDORF, KUNSTMUSEUM

[>

338

duktion gut erkennen (Abb. 3). Der hervorragend porträtierte Abt und sein Wappen in den unteren Ecken sehen deutsch aus. Leider konnten sie noch nicht identifiziert werden. Die anderen beiden Bilder mit der Schlüsselübergabe an Petrus und dem Abschied der Apostel (Abb. 4/5) tauchten im holländischen Handel auf und wurden vom Düsseldorfer Kunstmuseum erworben 2 . Die donauländischen Züge der Aposteltrennung sind unver3

C H R I S T U S U N D M A R I A ALS F Ü R B I T T E R V O R G O T T V A T E R , EREMITAGE

ZWEI T A F E L N ,

LENINGRAD, 340

kennbar. Sowohl in der Landschaft w i e in den Figuren ist der Einfluß Wolf Hubers spürbar. Es bestätigt dies erneut, d a ß der M a l e r , der in der dichtgedrängten Gruppe der Apostel des Binderschen Bildes w i e in dem Inneren der Kirche ebenfalls Zusammenhänge mit Huber und der südostdeutschen Kunst bekundet, die Donauschule an Ort und Stelle studiert hat, wofern er ihr nicht angehört. Die Annahme, daß die Tafeln die Flügel zu dem 4/5 341

SCHLÜSSELÜBERGABE A N P E T R U S , A B S C H I E D DER A P O S T E L , D Ü S S E L D O R E , MUSEUM

KUNST-

Binderschen Tod Maria seien, hat sich nach Mitteilung von H e r r n D r . G. Adriani nicht bestätigt. Der T o d Mariä in Düsseldorf zeigt auf der Altartafel hinter der Sterbeszene mehrere Zeilen mit Auszügen aus den zehn Geboten in niederdeutschem Text. Elemente der Bildergruppe kehren in der holländischen Malerei wieder, sodaß die Bestimmung des Marientodes auf Aert Claesz (Aertgen) van Leyden durch M. J. Binder neuerdings von verschiedenen Seiten wieder aufgenommen worden ist. J. Q. van Regteren Altena hat ein Verzeichnis aufgestellt, das eine gewaltige Zahl von Werken u m f a ß t 3 . Friedländer hat den Maler nicht in seine Altniederländische Malerei aufgenommen. E r erklärte, daß er nichts von der Kunst des Leydeners wisse. U n d schließlich gibt es eine Tafel des Historienmalers Abraham Schöpfer von 1534 (Stockholm) und eine 1945 zugrunde gegangene große Vorzeichnung (ehemals in Bremen) 4 , die stilistisch in engem Zusammenhang mit unserer Bildgruppe stehen. Schöpfers Tafel gehört zu dem Zyklus von Schlachten- und Historienbildern, die Herzog Wilhelm IV. von Bayern in Auftrag gegeben hatte und deren H a u p t stück Altdorfers grandioses Schlachtenbild der Pinakothek war. Buchner und ich haben Schöpfer f ü r den Urheber der Bildergruppe um den Tod Mariä gehalten. Fragen über Fragen! Im allgemeinen scheint man geneigt zu sein, die Arbeiten dem Aertgen van Leyden zuzuschreiben. Man weiß allerdings nichts von einer Reise desselben außerhalb seines Landes, und auch Regteren Altena fügte die Werke nur mit dem Vorbehalt seinem Verzeichnis ein, daß sie auf einer Fahrt nach Süddeutschland entstanden seien. Andererseits besteht mit Abraham Schöpfers Gemälde und Zeichnung eine Ähnlichkeit, die kaum geleugnet werden kann. Wie immer das Rätsel gelöst werden wird, die Bildergruppe, die sich um den Tod Mariä schart, wird durch die nächtliche Szene in K r a k a u schärfer umrissen. Beim Vergleich mit dem Tod Mariä erscheinen mehrere hervorstechende Eigenschaften ihres U r hebers. Einmal ist es der Sinn f ü r die Atmosphäre, die seine Darstellungen kennzeichnet. Es ist ein dämmeriges Licht, in dem die Gestalten zu schweben scheinen. Zum anderen beherrscht eine feierlich große Architektur von gewichtiger Einfachheit die Anlage derselben. Sie ist f ü r niederländische wie f ü r deutsche Bilder des 16. Jahrhunderts recht ungewöhnlich. Schließlich erschließt der Maler den Raum mit bemerkenswerter Sicherheit. Bauten und Figuren stehen in wohldurchdachter Abstufung im weiten und tiefen Raum. Die Gruppen von zwei, drei und mehr Figuren und ihre Absonderung von einander ist eine Eigentümlichkeit sowohl des Todes Mariä wie der hinzugekommenen Tafeln mit der Schlüsselverleihung und dem Apostelabschied. In dem Krakauer Nachtbild stellt der Maler Maria mit einem gleichgroßen Engel geschwisterlich zusammen, ihnen gegenüber baut er eine Pyramide aus drei Engeln auf. Zwischen beiden Gruppen steht eine dritte dichtgeschlossene von Hirten, in nächtliches Dunkel gehüllt. Die neuen Bilder in Düsseldorf verstärken den Zusammenhang mit donauländischen Arbeiten. Die Trennung der Apostel mit ihrer Berglandschaft hinten, den hochstämmigen Eichen, Lärchen usw. im Vordergrund kann nur von einem Maler geschaffen sein, der

Bilder von Altdorfer oder Huber gesehen hat. Die Schattenstreifen, die die Figurengruppen des Apostelabschieds und der Schlüsselverleihung auf den Boden zeichnen, rühren, wie in Hubers Flucht nach Ägypten (Berlin), von der hochstehenden Mittagssonne her. Auch schleierige Wolken des Apostelabschieds - sie kehren im Krakauer Bilde rechts oben wieder - dürften charakteristisch für die südostdeutsche Malerei des 16. J a h r hunderts sein. In mehreren Bildern scheinen italienische Eindrücke verarbeitet zu sein. Am deutlichsten werden sie in den Gebäuden im Mittelgrund der Aposteltrennung sichtbar. Der hohe, steil aufgerichtete Bau mit flachem Dach über der linken Gruppe ist schwerlich anders als durch persönliche Anwesenheit des Künstlers in Italien zu erklären. Dasselbe möchte man von den großen Köpfen in den Zwickeln der Kuppel des Marientodes annehmen, die wie die gesamte Chorpartie trotz der gotischen Füllungen der großen Fenster Reminiszenzen lombardischer Bauformen sein könnten. Es ist möglich, daß der Künstler Stiche benutzt hat, seine Architekturen haben aber bemerkenswert reine Verhältnisse und spielen eine ungewöhnlich eindrucksvolle Rolle in seinen Gemälden: der Chor im Tod Maria, der triumphbogenförmige Abschluß der Anbetung des Kindes. Dazu gesellt sich die merkwürdige Gruppe von Bauwerken im Mittelgrund der Schlüsselverleihung. Sehr eigenartig ist die Landschaft am unteren Rande des Bildes in Leningrad. Sie ist weder deutsch noch niederländisch, sondern erinnert in dem blockmäßigen Hügel vorn mit einer Brücke am ehesten an venezianische Landschaften in der Art des C a m pagnola. Die Bauten im Tod M a r i ä in Düsseldorf und in der Geburt Christi in K r a k a u berühren sich mit den hochinteressanten Architekturzeichnungen in Rötel in Wolfegg, denen P . H a l m eine umfassende, vortreffliche Würdigung hat zuteil werden lassen 5 . Obwohl die Blätter in Wolfegg alte Bauwerke und Wohnhäuser wiedergeben, spricht aus ihnen doch ein ähnliches neues Raumerlebnis. Ich lasse die Gruppe, die ebenfalls, wie H a l m gezeigt hat, mit Altdorfers und Hubers Raumwiedergaben verbunden ist, hier beiseite und die Frage offen, in welchem Verhältnis sie zu unserem Maler stehen. Ob sie wirklich schon im 2. oder 3. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts entstanden sind, wie H a l m annimmt? Der in seinen hier aufgeführten Bildern und einigen Zeichnungen 6 mit Sicherheit greifbare, im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts tätige Maler scheint in Italien, an der Donau und am Niederrhein gewesen zu sein. Sollte er zuguterletzt auch in K r a k a u gew i r k t haben? ANMERKUNGEN

343

Das recht ansehnliche Nachtstück (etwa 80 cm hoch) ist heute nicht mehr im Dom zu Krakau nachweisbar. Es wurde mir mit dieser Ortsangabe während des zweiten Weltkrieges in einer Restauratorenwerkstatt gezeigt, die das deutsche Gouvernement eingerichtet hatte. 1 Jahrbuch der Preuß. Kunstsammlungen 1935, S. 117 f f . 2 Zuerst von G. Adriani kurz eingeführt (Wallraf-Richartz-Jahrbuch XIX, 1957, S.274) als »Aertgen van Leyden (?)«.

3 Oud Holland 1938. - Wescher in Old Master Drawings IX, 1935, Taf. 67. Die hier veröffentlichte Erlanger Zeichnung hatte E. Bock als süddeutsch katalogisiert. Ich hatte sie A. Schöpfer zugeschrieben. Sie gehört zweifellos zu der Gruppe um das Bindersche Bild. 4 Buchner-Feuchtmayr, Beiträge I, 1924, S. 230 ff. 5 Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge, Bd. 2, 19} 1. 6 Außer der Vorarbeit zur Maria des Todes Maria in London (und der Rückseite) sind besonders zwei Blätter mit dem Tod Mariä in ganzen Figuren (Versteigerung Geismar, Paris 1928) und mit drei Köpfen (Berlin, Kupferstichkabinett) zu nennen. Auch der Hl. Sebastian mit dem knienden Mönch in Erlangen (Wescher in Old Master Drawings, März 1933, Taf. 67), eine sehr ansehnliche Pinselzeichnung, ist ein sicheres "Werk des Anonymus. Kürzlich kam in Dresden eine schöne Kopf Studie eines bartlosen Jünglings zutage, die O. Benesch geneigt war, Grünewald zuzuschreiben (Altdeutsche Zeichnungen, Ausstell, im Kupferstichkabinett zu Dresden 1963, Nr. 33, Abb. 57). Ich halte sie für eine Arbeit unseres Anonymus. Sie ist wohl eine Vorstudie für den Apostel am rechten Rande der Schlüsselübergabe an Petrus in Düsseldorf.

G E R H A R D BOTT • SCHMERZENSMANN U N D

SCHMERZENSMUTTER

N A C H LUCAS V A N L E Y D E N

In den bewegten Jahren der Gegenreformation setzte auch in Antwerpen diese Glaubensbewegung mächtig ein. Den alten Glaubenssätzen sollte — besonders mit den Mitteln der Kunst - neuer Inhalt gegeben werden 1 . In der Architektur und Plastik 2 jener Jahrzehnte nahm man spätmittelalterliche Formen wieder auf. Man sah, daß im mittelalterlichen Gotteshaus die Einheit von Glaube und Kirche bestanden hatte und suchte mit überlieferten Formen, diese Einheit wieder zu erwecken. So griff man in der Zeit der Gegenreformation in den südlichen Niederlanden die Form des Andachtsdiptychons wieder auf, die schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr f ü r Gemälde verwendet worden war. Auf der Suche nach einer Neubelebung der Kunst, die man für die Glaubensziele der streitbaren katholischen Kirche einsetzen konnte, lehnte man sich in Flandern an die Werke des Lucas van Leyden, des niederländischen Gegenspielers von Albrecht Dürer, an. Auch Lucas von Leydens Kunst erlebte also genau wie die Dürers um 1600 eine Wiederentdeckung. Während man sich aber mit den Werken Dürers mehr wissenschaftlich oder künstlerisch auseinandersetzte 3 , verwendete man die Gestalten des Lucas van Leyden, um der Volksfrömmigkeit ein neues Ziel zu geben. Eine unter sich ähnliche Gruppe von kleinen Bildern mit der Darstellung des Schmerzensmannes und der Schmerzensmutter nach dem Vorbild des Lucas van Leyden, die wir hier vorführen wollen, beweist dies unter anderem. Es muß in Antwerpen eine Werkstatt gegeben haben, die diese Bilder öfters gemalt und f ü r einen größeren Absatz gesorgt hat.

Die Gemälde können Teile eines Diptychons gewesen sein, das - ohne oder mit Flügelklappen - für die Hausandacht bestimmt w a r . Im Kreuzgang des Aachener Münsters hängt über der Tür zur Schatzkammer 4 ein Diptychon aus der Zeit um 1600 mit ähnlicher Darstellung (Abb. 1), das eine Vorstellung von der ursprünglichen Verwendung dieser Bilder geben kann, und auf einem Interieurbild in München findet sich ein B i l d p a a r mit der Darstellung von Christus und M a r i a an einer mit Gemälden geschmückten Zimmerwand5. Der Bildtypus des auf die Schmerzensmutter bezogenen Schmerzensmannes stammt aus Italien. Auf den ersten italienischen Diptychen des 13. Jahrhunderts, die als Andachtsbilder verwendet wurden, ist meist ein mariologisches Thema einem christologischen gegenübergestellt. Dies »blieb auch für die folgenden J a h r h u n d e r t e der charakteristischste Vorwurf für gemalte Diptychen« 6 . M a r i a erscheint auf diesen frühen Diptychen gleich zweimal, einmal mit dem Christuskind auf dem A r m und ein andermal als Trauernde unter dem Kreuz neben Johannes 7 . Auch das Gemälde der C a s a Hörne, das den Schmerzensmann nach dem berühmten römischen Vorbild des Schmerzensmann-Gnadenbildes in Santa Croce in Gerusalemme 8 mit der ihn umfangenden M a r i a zeigt, w a r nach E. B. Garrison der Flügel eines Diptychons. Die Aufhängevorrichtungen sind rechts erkennbar, so d a ß w i r uns noch einen Flügel, e t w a mit der das Christuskind haltenden Muttergottes, vorstellen müssen 9 . Der böhmische Meister, der um 1360 auf einem Diptychon in Karlsruhe M a r i a mit dem Kinde dem im Typus des Santa Croce-Bildes gemalten Schmerzensmann gegenüberstellte, muß die italienischen Diptychen gleichen Themas gekannt haben, die nicht lange 1

A A C H E N , K R E U Z G A N G DES M Ü N S T E R S , D I P T Y C H O N MIT SCHMERZENSMANN UND SCHMERZENSMUTTER, UM 1 6 0 0

v o r seiner Zeit oder gleichzeitig m i t seiner Malerei entstanden sind, sonst h ä t t e er nicht

M

den römischen Schmerzensmanntypus so getreu aufgegriffen 1 0 . i

Ein J a h r h u n d e r t nach dem ersten A u f t r e t e n der Diptychen, auf denen M a r i a mit dem K i n d der K r e u z i g u n g oder dem Schmerzensmann gegenübergestellt w a r 1 1 , w u r d e d a n n der Schmerzensmann 1 2 oder das E c c e - H o m o - A n d a c h t s b i l d 1 3 gleichberechtigt der Schmerzensmutter alleine beigegeben. Diese dem W o r t l a u t des Bibelberichtes gegenüber f o r t schreitend »ahistorische« D a r s t e l l u n g lag in einer geistigen H a l t u n g begründet, die eine » t r a n s z e n d e n t e R e a l i t ä t « k l a r e r fassen w o l l t e u n d der es auf das p r ä g n a n t e r e H e r a u s h e b e n der sinnbildlichen Bedeutung einer Person oder H a n d l u n g a n k a m 1 4 . Es spielte hierbei keine wesentliche Rolle, ob der Schmerzensmann oder das

I

M a r i a gegenüberstanden . D e r Weg zu den niederländischen Andachts-Diptychen des 15. J a h r h u n d e r t s , zu den Bildern des Dieric Bouts u n d des Rogier v a n der W e y d e n ist

^

00

Ecce-Homo-Andachtsbild

15

deutlich. Dieric Bouts (um 1410-1475,) u n d seine W e r k s t a t t haben eine ganze Reihe v o n D i p tychen m i t den H a l b f i g u r e n Christi u n d Mariens als A u s f u h r a r t i k e l , die besonders in Deutschland, den nordischen L ä n d e r n u n d in Spanien verbreitet w u r d e n , hergestellt 1 ' 1 . Christus als »Ecce H o m o « t r ä g t auf diesen Bildern die D o r n e n k r o n e u n d erscheint als lebend-leidender Gottessohn in der G e s t a l t des Menschen ohne die W u n d m a l e seiner Todesstunden. M a r i a ist als M a t e r D o l o r o s a u n d m i t ihren z u m Gebet gefalteten H ä n d e n auch als M e d i a t r i x vorgestellt. M i t a r b e i t e r u n d N a c h f o l g e r des Dieric Bouts haben dieses T h e m a d a n n mehr oder weniger a b g e w a n d e l t . D e r zweite Sohn A l b e r t des Dieric Bouts h a t den E c c e - H o m o - T y p des Vaters in einen Schmerzensmann v e r w a n d e l t , indem er Christus die W u n d m a l e auf den Innenseiten der H ä n d e vorweisen l ä ß t 1 7 . Auf einem D i p t y c h o n des A l b e r t Bouts im S u e r m o n d t - M u s e u m in Aachen 1 8 ist durch die dem T y p u s des Santa-Croce-Bildes f o l g e n d e leichte H i n w e n d u n g des K o p f e s Christi z u r betenden G o t t e s m u t t e r , die ihr tränenreiches Gesicht dem d o r n e n g e k r ö n t e n

Sohn

z u w e n d e t , die v o n Dieric Bouts v o r g e f ü h r t e , auf den Betrachter gerichtete, f r o n t a l e Ausrichtung des Ecce H o m o zugunsten eines Aufeinanderbezogenseins der beiden Figuren verlassen. H i e r sehen w i r einen A u s g a n g s p u n k t z u r V e r k n ü p f u n g v o n Christus u n d M a r i a als Versinnbildlichung der Passio Christi u n d Compassio M a r i a e ; aus der » M e d i a trix« w i r d die » C o - r e d e m p t r i x « . Ein D i p t y c h o n mit dem Schmerzensmann u n d der Schmerzensmutter (Abb. 2), das F r i e d l ä n d e r dem Simon M a r m i o n zuschreibt, geht auf einen P r o t o t y p des Rogier v a n der W e y d e n zurück, der w o h l gleichzeitig mit Dieric Bouts das T h e m a auf einem Diptychon b e h a n d e l t h a t 1 8 . D i e Christusfigur m i t geneigtem H a u p t , geschlossenen Augen, den gek r e u z t e n A r m e n u n d den W u n d m a l e n auf den H a n d w u r z e l n weist auf den römischen S a n t a - C r o c e - T y p . M a r i a ist mit ihrer K ö r p e r h a l t u n g u n d K o p f s t e l l u n g ganz auf C h r i stus bezogen. D i e v o r dem K ö r p e r gekreuzten A r m e - im Gegensatz zu den betend zus a m m e n g e f ü h r t e n H ä n d e n des Bouts-Typs - h a t Lucas v a n Leyden d a n n in der M a r i e n figur auf einem H o l z s c h n i t t aufgegriffen (Abb. 6). 347

Christus u n d M a r i a sind auf einem Bild des A d r i a e n I s e n b r a n t im M e t r o p o l i t a n M u -

seum in N e w York 2 0 in gleicher Größe als Dreiviertelfigur nebeneinander dargestellt. Unter einer baldachinartigen Säulenarchitektur mit einem Durchblick auf Jerusalem erscheint der dornengekrönte und gegeißelte Christus, die Rute in den gefesselten H ä n d e n haltend, neben Maria, die ihre Arme vor dem Körper gekreuzt hält. Die Mittelsäule der Architektur ist durch die daran angebrachte Geißel und das Rutenbündel als Martersäule charakterisiert. Auf dem Bild zeigt sich die Verschmelzung zweier ehemals getrennter Flügelteile eines Diptychons zu einem einzelnen Bild als allgemeine Entwicklung in der Geschichte des Diptychons. Aus der Serie der um 1600 in Antwerpen entstandenen Tafeln mit der Darstellung des Schmerzensmannes und der Schmerzensmutter befinden sich zwei etwa handspannbreite und anderthalb Handspannen hohe Bilder in der Gemäldesammlung des Historischen Museums der Stadt F r a n k f u r t am Main (Abb. 3). Sie sollen näher betrachtet werden 2 1 . Über einem marmorierten Steinsockel wächst die Gestalt Christi als Halbfigur vor dunkelbraunem, fast schwarzem Grund empor. Das leicht geneigte H a u p t ist von zarten 2

B R Ü G G E , M U S E E DES B . - A . , S I M O N M A R M I O N ?, S C H M E R Z E N S M A N N U N D S C H M E R Z E N S MUTTER

348

S t r a h l e n eines goldenen N i m b u s umgeben. Auf dem auf die Schulter f a l l e n d e n d u n k e l b r a u n e n u n d goldschimmernden H a a r sitzt die locker g e w u n d e n e D o r n e n k r o n e ; drei D o r n e n sind in die Stirn gedrückt. D i e lebend geöffneten Augen beherrschen das A n t l i t z . D e n nackten O b e r k ö r p e r h ä l t bis auf einen weiten Brustausschnitt ein ziegelroter, stoffreicher U m h a n g umschlungen, der mit seinen E n d e n ü b e r die beiden v o r d e m K ö r p e r gek r e u z t e n A r m e f ä l l t . Ein graues Lendentuch ist d a r u n t e r sichtbar; die S e i t e n w u n d e Christi ist verdeckt. D i e W u n d m a l e auf den m i t den Außenflächen z u m Beschauer gekehrten H a n d w u r z e l n heben sich tief b l u t r o t v o n dem hellen I n k a r n a t des O b e r k ö r p e r s u n d des Gesichtes ab. M a r i a ist wie der Schmerzensmann als H a l b f i g u r v o r g e f ü h r t . Sie t r ä g t über dem meerblauen Kleid m i t goldenem U n t e r k l e i d , das an den Ä r m e l n herausschaut, einen b l a u weißen, locker h e r a b f a l l e n d e n U m h a n g u n d hebt sich s t a r k v o n dem d u n k l e n G r u n d ab. D a s K o p f - u n d Brusttuch M a r i e n s ist ebenfalls aus b l a u w e i ß e m Stoff. G o l d e n e N i m b u s strahlen umgeben ihr vorgeneigtes H a u p t . M u t t e r u n d Sohn sind durch ihre K o p f h a l t u n g , die W e n d u n g ihrer K ö r p e r u n d die F a l t e n ihrer G e w ä n d e r a u f e i n a n d e r bezogen. D e r m a r m o r i e r t e Steinsockel schließt auch die T a f e l mit der G o t t e s m u t t e r ab. F a r b a u f t r a g u n d Pinselstrich, die F a r b n u a n z i e r u n g m i t den k o n t r a s t r e i c h e n

und

k ü h l e n T ö n e n v o r dem d u n k l e n H i n t e r g r u n d , der Gesichtsausdruck der Figuren u n d die besondere A r t des Strahlennimbus bestimmen die Entstehungszeit der Bilder auf die J a h r e u m 1600. Zugleich ist e r k e n n b a r , d a ß der Maler der F r a n k f u r t e r T a f e l n , der v e r mutlich in A n t w e r p e n oder in der katholischen U m g e b u n g d e r S t a d t lebte, an den V o r bildern der spätmittelalterlichen niederländischen Malerei geschult ist. E r greift deren W i r k u n g s m i t t e l b e w u ß t wieder auf. Dieselbe W e r k s t a t t , die die F r a n k f u r t e r Bilder schuf, h a t auch die f a s t gleichgroßen T a f e l n im Musee de D i j o n gemalt. Sie b e f a n d e n sich a m E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s im C a b i n e t d u Conseiller au P a r l a m e n t de Bourgogne, J e h a n n i n de C h a m b l a n c 2 2 .

Die

S t r a h l e n der N i m b e n u m Christus u n d M a r i a sind in D i j o n u m wenige v e r m e h r t , sonst k a n n m a n bis in das Detail der F a r b e n u n d Falten keine wesentlichen Unterschiede erkennen. E t w a s gröber dagegen w i r k e n die Schmerzensmannfiguren auf einer T a f e l , die 1912 bei H e l b i n g in München z u r Versteigerung k a m e n 2 3 u n d auf einem Bild, das v o r 1940 die K u n s t h a n d l u n g W. Paech in A m s t e r d a m besaß 2 4 . W ä h r e n d auf dem Bild bei H e l b i n g der Christuskopf m i t den golddurchsetzten lockigen H a a r e n den gleichen Ausdruck, die gleiche B a r t t r a c h t u n d die gleiche locker aufgesetzte D o r n e n k r o n e t r ä g t , h a t d e r M a l e r des Bildes bei Paech den Christuskopf leicht v e r ä n d e r t . D i e D o r n e n k r o n e ist kleinteiliger g e w o r d e n u n d liegt enger an, die Strahlen des N i m b u s , durch einen kreisförmigen Strahl m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n , sind dichter g e w o r d e n

D e r N i m b u s erscheint »realer« als der

z a r t e S t r a h l e n n i m b u s der Bilder in F r a n k f u r t u n d D i j o n . D i e M a d o n n e n f i g u r e n weichen k a u m v o n e i n a n d e r ab. I n L o n d o n k a m 1961 ein B i l d p a a r z u m Vorschein, das sich der Reihe eng anschließt 2 5 . D i e H a l b f i g u r e n v o n Christus u n d M a r i a sind o h n e S t r a h l e n 349

nimben v o r d u n k l e n G r u n d gestellt.

Bekannt sind noch drei einzelne Tafeln mit der Schmerzensmutter. Ob die möglicherweise dazugehörenden Schmerzensmannbilder verlorengegangen sind oder ob diese Tafeln nur als Einzeldarstellungen existierten, läßt sich nicht mehr klären. Der Gruppe Frankfurt-Dijon kommt das Bild, das sich in der Galerie S. Hartveld in Antwerpen befand, am nächsten. Maria ist ohne Strahlenkranz vor dunklen Grund gesetzt 26 . Das bei Lempertz im Katalog N r . 424 abgebildete Tafelbild ist arg beschnitten 27 . Es fehlen sowohl der marmorierte Sockel als auch an den Seiten wesentliche Teile des Gewandes der Schmerzensmutter, deren H a u p t mit Strahlen umgeben ist. Bei A. Wollenberg in Berlin tauchte 1932 eine Schmerzensmutter auf, deren Gesicht etwas gröber wirkt 2 8 . Der marmorierte Sockel schneidet das Gewand der Halbfigur höher ab, so daß der Mantelumschlag, der in Frankf u r t weit hinübergezogen ist, schon unter der linken H a n d hinter dem Sockel verschwindet. Der Strahlennimbus fehlt auch hier. Der Maler zweier Tafeln mit dem Schmerzensmann und der Schmerzensmutter (Abb. 4), die sich in Schottland befinden, hat sich mit einer eigenen Erfindung aus der Reihe gelöst 29 . Einmal hat er die Figuren vor einen hellen Hintergrund gesetzt, und zum andern hat er die hochrechteckige Form der Tafeln in die des Tondo verwandelt. Aus der 3

FRANKFURT

A. M . ,

HISTORISCHES

M U T T E R , A N T W E R P E N ? UM 1 6 0 0

MUSEUM,

SCHMERZENSMANN

UND

SCHMERZENS-

35°

diptychonartigen Zuordnung sind zwei selbständige Einzeltafeln geworden. Der gröbere Pinselauftrag und die unpräzise Malerei der H ä n d e und Gesichter wie auch einige mißverstandene Faltenbildungen lassen vermuten, daß die Bilder zeitgenössische Kopien nach Tafeln aus der Antwerpener Werkstatt sind. Etwas sorgfältiger w i r k e n dagegen die beiden Tondi, die 1929 in Berlin bei Loeb versteigert worden sind und die ebenfalls die Halbfiguren - genau wie bei den schottischen Bildern ohne Strahlennimbus - vor hellem Grund zeigen 3 0 . Die Werkstatt, aus der die kleinen Andachtsbilder mit dem Schmerzensmann und der Schmerzensmutter stammen, benutzte als Vorlage einen Kupferstich (Abb. 5) von Simon W y n o u t s Frisius (geboren etwa 1580 in H a r l i n g e n und gestorben 1629 in 's-Gravenhage), der um die J a h r h u n d e r t w e n d e erschienen w a r und beide Figuren von einer felsigen Landschaft mit Durchblick auf Golgatha und Jerusalem zeigt. Der Kupferstich von Frisius ist rechts oben 1522 datiert und mit dem von Lucas van Leyden gebrauchten, im senkrechten Balken durchkreuzten L monogrammiert. Deshalb hielt man ihn lange für ein Werk des Lucas van Leyden 3 1 . Der Vergleich zeigt deutlich die Bild Mariens auf abgewandelt. Bei 4

351

der abgebildeten F r a n k f u r t e r Tafeln mit dem Kupferstich des Frisius enge Abhängigkeit der Malerei vom Vorbild der Druckgraphik. Das der H o l z t a f e l erscheint gegenüber dem Kupferstich des Frisius k a u m der Formulierung der Christusfigur hat sich der M a l e r des Frankfurter

G O S F R O D H O U S E ( S C H O T T L A N D ) , S A M M L U N G E A R L OF W E R N Y S S , UND SCHMERZENSMUTTER, A N T W E R P E N ? UM 1 6 0 0

SCHMERZENSMANN

Bildes dagegen etwas mehr Freiheit gelassen. Wohl stimmen die allgemeine Haltung und das Faltendetail überein. Den realistisch-schmerzvollen Gesichtsausdruck des im Leiden gealterten Mannes bei Frisius verwandelte der Maler in ein idealistisches Bild des über die Schmerzen triumphierenden Gottessohnes. Während bei der Druckgraphik die Dornenkrone realistisch schwer auf das H a u p t Christi drückt, ist sie bei den ihr folgenden Malern mehr zum Symbol geworden; die Dornenkrone berührt kaum noch das H a u p t des Herrn. Die Jahreszahl 1522 ist nicht die Zeit der Entstehung des Kupferstiches von Frisius und das Monogramm nicht die richtige Künstlersignatur. Der Kupferstecher weist uns durch beide Beigaben auf sein Vorbild, das er nachzuahmen versuchte, auf Lucas van Leyden. Unter den nicht sehr zahlreichen Holzschnitten des Lucas van Leyden gibt es eine großformatige Darstellung der Schmerzensmutter mit dem Rosenkranz 3 2 (Abb. 6). Maria ist als Halbfigur vor eine halbrunde Nische gesetzt. Eine Guirlande aus Weintrauben und Weinblättern schließt das Blatt nach oben ab, während, abgeteilt durch eine Linie, in der Sockelzone der verschlungene Rosenkranz ausgebreitet ist. 5

S I M O N W Y N O U T S F R I S I U S , S C H M E R Z E N S M A N N U N D SCHMERZENSMUTTER, K U P F E R S T I C H

352

Die Schmerzensmutter im Kupferstich des Frisius scheint genau nach dem zwei Menschenalter vorher entstandenen Holzschnitt kopiert. Doch bei näherem Betrachten offenbaren sich deutlich Unterschiede, die nicht nur aus der anderen Technik der Arbeit mit dem Schnitzmesser gegenüber der Benutzung des Grabstichels bedingt sind. Sie beruhen vielmehr auf einem W a n d e l der stilistischen Aussagemittel. Die Veränderungen sind bedingt durch die neuen künstlerischen Prinzipien des Manierismus. Frisius löste die großflächig und ruhig w i r k e n d e G e w a n d f ü l l e des Umhanges der M a r i a in ein Geflimmer von Licht und Schatten auf, knäulte und bauschte den Stoff an Stellen, an denen er auf dem Holzschnitt nicht hervortrat. Besonders deutlich zeigt sich dies unter den gekreuzten H ä n d e n Mariens, auf der rechten Schulter, im Gewandbausch unter dem linken A r m und im Gewandende, das über dem rechten Arm herunterhängt. Die mit dem Rosenkranz und den Weintrauben als Schmerzensmutter besonders gekennzeichnete Darstellung der Muttergottes auf dem Holzschnitt hatte in jener Zeit der besonderen Betonung des Rosenkranzes allein ihre genügende Berechtigung. Das von dem Dominikaner Dominicus Lupus im J a h r e 1500 in Brügge veröffentlichte Rosenkranzbuch 353

6

L U C A S V A N LEYDEN, SCHMERZENSMUTTER,

HOLZSCHNITT

weist darauf hin, daß gerade die theologische Mariologie zu Lebzeiten des Lucas van Leyden Maria nicht nur indirekt, sondern durch ihr eigenes Leiden selbst an der Erlösung als »co-redemptrix« beteiligt sein ließ 33 . Die Zufügung der Weintraubenguirlande macht den Holzschnitt in diesem Sinne zu einem ikonographisch geschlossenen Bild. Es erhebt sich die Frage, ob Frisius f ü r seine Christusfigur ebenfalls einen einzelnen Holzschnitt des Lucas van Leyden mit dem Schmerzensmann, der auf die Schmerzensmutter bezogen war und der heute verschollen ist, gekannt und kopiert hat und ob er es war, der die beiden Einzelfiguren vor der Landschaft erst zusammengefügt hat. Vermutlich f a n d der Stecher schon bei Lucas van Leyden mit dem Entstehungsjahr 1522 das Vorbild mit den beiden zueinander geneigten Halbfiguren zusammen auf einem Blatt. D a ß die Darstellung beider Figuren auf einem Bild möglich war, beweist das genannte Gemälde von Adriaen Isenbrant. Den Typus des Schmerzensmannes mit dem gleichen Gesichtsausdruck treffen wir jedenfalls öfter bei Lucas van Leyden in der Graphik jener Jahre an 3 4 . Die Wiederbelebung des spätmittelalterlichen Andachtsbildes im flämischen Gebiet 7

M E I S T E R S , M A R I A DER SIEBEN S C H M E R Z E N ,

8

H Ö N I G E N , K R S . G R E V E N B R O I C H , P F A R R K I R C H E , M A R I A D E R SIEBEN S C H M E R Z E N

KUPFERSTICH

354

ist nicht allein von den Doppelbildern mit dem Schmerzensmann und der Schmerzensmutter ausgegangen. Viele andere Themen wurden wieder aufgegriffen oder neue B i l d formen gefunden, die der mittelalterlichen Ikonographie fremd w a r e n 3 5 . H i e r sollen nur als Beispiel die Andachtsbilder der M a r i a der Sieben Schmerzen genannt werden, denn auch hier gibt es vorher Druckgraphik vom Beginn des 16. J a h r h u n d e r t s 3 6 . Ein K u p f e r stich (Abb. 7) des Meisters S., genannt Sandersz Alexander van Brugsal (geboren in Brüssel, seit 1 5 0 5 in Antwerpen, dort gestorben 1 5 5 4 )

37 ,

diente vermutlich einem T a f e l -

bild (Abb. 8) in der Pfarrkirche in Höningen, Kreis Grevenbroich, als Anregung. Es ist um 1600 entstanden 3 8 . Auch in der Karlskapelle des Aachener Münsters befindet sich ein T a f e l b i l d mit der M a r i a der Sieben Schmerzen aus dem gleichen K r e i s 3 9 . D i e M u t t e r gottes wird hier mit den sieben Schwertern als S y m b o l ihrer Schmerzen den Gläubigen zur Andacht vorgeführt. Auch die kleinen, um 1600 entstandenen und auf K u p f e r gemalten Bildchen mit dem jugendlichen Christus als Kreuzträger, die nach einem Stich von Hieronymus W i e r i c x gemalt sind 4 0 , gehören in die Reihe der serienweise angefertigten flämischen Andachtsbildchen 4 1 . Sie haben diesmal schon ihr V o r b i l d in der Druckgraphik des 15. hunderts 4 2 .

Jahr-

D e r Christusknabe in langem, gegürtetem G e w a n d schleppt seine Leidens-

werkzeuge; in einem K o r b in der Linken trägt er N ä g e l , Zange und H a m m e r , über der rechten Schulter hält er neben dem K r e u z die lange Lanze, den Stab mit dem Schwamm und die Leiter der Kreuzesabnahme. A u f dem Stich von Wiericx erscheint im Hintergrund Jerusalem, während die Christusfigur auf den Kupfertäfelchen

vor

dunklem Grund steht. So dringen wir mit der Betrachtung der Serie der T a f e l n des Schmerzensmannes und der Schmerzensmutter, mit den Bildern der M a r i a der Sieben Schmerzen und mit dem jugendlichen Christus als Kreuzträger tiefer in die Glaubenswelt der flämischen Gegenreformation ein, die ihren höchsten künstlerischen Ausdruck in den religiösen Gemälden eines Rubens und van Dyck fand. ANMERKUNGEN

1 Reiches Material zum Verhältnis der Kunst zur Gegenreformation mit über 400 Abbildungen in dem Werk von B. Knipping, De Iconografie Van De Contra-Rejormatie In De Nederlanden, Hilversum 1940, 2 Bde. 2 Siehe u. a. auch P. Metz, Spätgotische Reminiszenzen in der Plastik des deutschen Barock, in: Festschrift Friedrich Winkler, Berlin 1959, S. 330 f f . 3 Vom Nachleben Dürers, Beiträge zur Kunst der Epoche von 1500 bis 1630, Nürnberg 1954, bes. S. 18 ff.: Hans Kauffmann, Albrecht Dürer in der Kunst und im Kunsturteil um 1600. 4 Gesamtbreite ohne Flügel 84 cm, Gesamthöhe 56,7 cm. Flügel: Breite 42 cm, Höhe 56 cm; Öl auf Holz. Alter Besitz des Aachener Münsters. Auf dem Klappflügel neben der Ecce-HomoDarstellung steht der 12. Vers des 1. Kapitels der Klagelieder Jeremias. Neben der Schmerzensmutter ist Vers 11 des 3. Kapitels aus dem Hohelied Salomos aufgeführt. Die Inschrift der Predella hat keinen näheren Bezug auf die Tafelbilder. Die den Dargestellten beigegebenen der Worte beziehen sich jeweils auf das Gegenüber und betonen so die enge Verbindung beiden Figuren. 5 Auf dem Gemälde

des Frans Francken

II, Gastmahl

im Hause

des Bürgermeisters

Rockox

(Alte Pinakothek München, Inv. Nr. 858, Kat. I, Deutsche und niederländische Malerei zwischen Renaissance und Barock, München 1961, S. 26, Abb. S. 84, dort weitere Lit.), gemalt um 1630-1635, ist rechts neben dem Kamin an der Zimmerwand das Diptychon mit Maria und Christus unter anderen Bildern zu sehen. 6 Artikel Diptychon im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte (RDK), Stuttgart 1958, IV. Band, Sp. 63 f . 7 E. B. Garrison, Italian Romanesque Panel Painting, Florenz 1949, S. 97, Nr. 241, Nr. 243, S. 98, Nr. 244, Nr. 245 und Nr. 247. Alle diese Diptychen sind von 1275 bis 1340 entstanden. Von einer Reihe weiterer Diptychen ist jeweils nur noch ein Flügel erhalten: siehe E. B. Garrison Nr. 248 ff. 8 W. Mersmann, Der Schmerzensmann, Düsseldorf 1952, S. 6, Abb.: Stich von Israel von Meckenem, um 1495. - In den Niederlanden wurde im 16. Jahrhundert das Urbild verbreitet durch einen Stich von Allaert Claesz, geb. 1508, Abb. bei F. W. H. Hollstein, Dutch and Flemish Etchings Engravings and Woodcuts, Amsterdam o. ]., Band IV, S. 111. Nr. 42: The man of Sorrows with spectators in the jrame. - E. Panofsky, »Imago Pietatis«, ein Beitrag zur Typengeschichte des »Schmerzensmannes« und der »Maria Mediatrix«, in: Festschrift für Max. J. Friedländer, Leipzig 1927, S. 262, Abb. 1. - Eine frühe Kopie hing in Arezzo, Pinacoteca (zerstörst 1942), 1295-1305, von einem toskanischen Schüler des Cimabue gemalt. Abb.: E. B. Garrison, a. a.O., S. 70, Nr. 150. 9 E. B. Garrison, a. a. O., S. 103, Nr. 268. - Abb. 4 bei W. Mersmann, a. a. O. - Abb. 2 bei E. Panofsky, »Imago Pietatis«, a. a. O. 10 Altdeutsche Meister aus der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Karlsruhe 1958, Kat. Nr. 112, Abb. Dort weitere Literatur. Im RDK, a. a. O., Artikel Diptychon, IV. Band, Sp. 65/66, ebenfalls abgebildet. — Eng an das weit verbreitete römische Vorbild lehnt sich auch eine Zeichnung des Hans von Tübingen (?) in Erlangen (um 1430) an, die zusammen mit der Muttergottes in Dreiviertelfigur »vielleicht den Entwurf für ein Diptychon darstellt«. Abb. bei: F. Winzinger, Deutsche Meisterzeichnungen der Gotik, München 1949, Nr. 12/13. 11 E. B. Garrison kennt schon einen Schmerzensmann mit gekreuzten Armen nach dem SantaCroce-Bild (a.a.O., Nr. 267), Venedig, spätes 13. Jahrhundert, als Flügel eines Diptychons, der ohne trauernde Maria vermutlich Maria mit dem Christuskind allein gegenüberstand. 12 Die Problematik und den Wandel des Schmerzensmannbildes versucht Hubert Schrade zu erhellen: H. Schrade, Beiträge zur Erklärung des Schmerzensmannbildes, in: Festschrift, Friedrich Panzer zum 60. Geburtstag überreicht, Heidelberg 1930 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, NF, XVI). Romuald Bauerreis spürt die Abhängigkeit auf, in der sich Schmerzensmannbild und Frömmigkeit befinden: R. Bauerreis, Pie Jesu, Das Schmerzensmannbild und sein Einfluß auf die mittelalterliche Frömmigkeit, München 1931. 13 Über die Darstellung des »Ecce Homo«-Bildes in der Kunst siehe: RDK, IV. Band, Sp. 674 f f . Hier wird neben den Bildern mit der Ecce-Homo-Szene die herausgelöste Darstellung Christi mit der Dornenkrone ohne Wundmale als »Ecce-Homo-Andachtsbild« charakterisiert (Sp. 692). Die Entstehung dieses Bildtypus wird nicht allein auf die Reduktion szenischer Ecce-HomoBilder zurückgeführt, sondern es wird auf eine Beziehung zu geläufigen Andachtsbildern aus der Passion Christi hingewiesen. - Siehe auch: E. Panofsky, Jean Hey's »Ecce Homo«, Speculations About Its Author, Its Donor And Its Iconography, in: Bullet. Kon. Musea voor Schone Künsten, Brüssel 1956, Nr. 3-4, S. 111 f . 14 D. Frey, Kunstwissenschaftliche Grundfragen, Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Wien 1946, S. 107 ff.: Der Realitätscharakter des Kunstwerkes, bes. S. 113 und S. 119. 15 Im spätmittelalterlichen Bild- und Sprachgebrauch kann sich der Unterschied zwischen Schmerzensmann und Ecce Homo verwischen. Auch die Figur des Christus im Elend kann Ecce Homo genannt werden. Der Schmerzensmann erscheint mit der Bezeichnung Ecce Homo

auf folgenden Darstellungen: P. Heitz, Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts, Straßburg 1939, Band 88, Nr. 2, Band 26, Nr. 22, Band 95, Nr. 27 usw. Siehe auch Artikel Ecco Homo im RDK, IV. Band, bes. Sp. 675. 16 W. Schöne, Dieric Bouts und seine Schule, Berlin-Leipzig 1938, S. 129-133, kennt allein 31 Exemplare. Über die Verstreuung dieser Diptychen siehe: M. J. Friedländer, Die Altniederländische Malerei, Band III: Dieric Bouts und Joos van Gent, Berlin 1925, S. 68. - Die Bedeutung dieser Bildergruppe für die Verbreitung des Diptychons im 15. Jahrhundert wird erwähnt im: RDK, a. a. O., IV. Band, Sp. 64 f f . - Siehe auch: Katalog der Ausstellung: Dieric Bouts, Paleis voor Schone Künsten, Brüssel 1957-1958, Nr. 22-24. - Die deutsche spätmittelalterliche Kunst verwendete den in der niederländischen Malerei geprägten Bildtypus ebenfalls, siehe: Tafeln im Germanischen National-Museum, Inv. Nr. 197,198; Breite 52,7 cm, Höhe 46,6 cm; nürnbergisch, um 1490, in: Die Gemälde des 13. bis 16. Jahrhunderts, Bilderband, Leipzig 1937, Abb. 53 und 54. 17 M. ]. Friedländer, a. a. O., Band III, S. 119, Nr. 63 i. W. Schöne, a. a. O., S. 199, Nr. 107/28. Abb. auch im Katalog der Ausstellung Dieric Bouts, a. a. O., 1957-1958, Nr. 54. Dazu auch Katalog Nr. 55, in der die Abhängigkeit von Dieric Bouts noch deutlicher ist. 18 Christusbild: Breite 27 cm, Höhe 45 cm; Marienbild: Breite 24 cm, Höhe 38 cm, öl auf Holz; seit 1912 im Suermondt-Museum in Aachen. Kat. der Gemäldegalerie des Suermondt-Museums 1932, S. 20. Dort Lit. Weitere Lit.: M. ]. Friedländer, a. a. O., Band III, S. 118, Nr. 63. W. Schöne, a. a. O., S. 196, Nr. 107-1. Kat. der Ausstellung Dieric Bouts, a. a. O., 1957-1958, Nr. 56-57; dort weitere Hinweise. - In den oben abgerundeten Originalrahmen, die in rechteckigen Kastenrahmen eingefügt sind. Zugehörig Flügel (Werkstattarbeiten) mit der Verkündigung in Anlehnung an die Leningrader Verkündigung des A. Bouts. - Freundliche AusAachener Bilder erteilte Dr. E. Grimme, Aachen, wofür ihm kunft über die erwähnten gedankt sei. 19 Abb. in: Katalog der Ausstellung: Le Siècle Des Primitifs Flamands, Musée Communal des Beaux-Arts, Bruges 1960, S. 70 f., Nr. 19/20. Hier auch Literatur. Der Bearbeiter des Kataloges schreibt S. 70: ». . . Le prototype a vraisemblablement été créé par Roger Van der Weyden. Plusieurs autres répétitions du motif, attribuées à Thierry Bouts, en dérivent également.« Zusammen20 Abb. bei: E. Panofsky, Jean Hey's »Ecce Homo«, a. a. O., S. 118, Abb. 22. - Die fügung von Christus und Maria zu einer Szene, bei der die Gottesmutter, auf einem Thron mit Christus sitzend, die Rechte ihres Sohnes ergriffen hält und dabei die Wundmale berührt, entweder »Beweinung Christi« genannt (siehe RDK »Beweinung Christi«, Band I) oder »Christus erscheint Maria« bezeichnet, die angeblich auf eine verlorene Erfindung Stefan Lochners zurückgeht, gehört nicht in diese Reihe. Siehe Katalog der Ausstellung- Christus und Maria. Westdeutsche Kunstwerke der Gotik, Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1956, Nr. 71 und 108. (Eine späte plastische Ausformung dieser Szene zeigt die als Beweinung Christi bezeichnete Gruppe von Amt van Triebt d. J. (um 1540): Abb. Katalog: Große Kunst des Mittelalters aus Privatbesitz, Schnütgen-Museum, Köln 1960, Nr. 78. Hier wird eine Plakette von H. Schwartz, die E. F. Bange in: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton, Berlin und Leipzig 1930, S. 12, Nr. 2114, veröffentlichte, in Zusammenhang gebracht). - In der italienischen Malerei des Trecento kennen wir aus Siena die Darstellung der Maria neben Christus auf einem Thron; E. B. Garrison, a. a. O., S. 73, Nr. 161, »Ciarisse Master«, 1285-95. Gert von der Osten, Der Schmerzensmann, Typengeschichte eines deutschen Andachtsbildes von 1300 bis 1600, Berlin 1935, bildet auf Tafel XLV1II, Nr. 96, ein nürnbergisches Holzrelief, um 1520, aus der Sammlung Thomée, Altena, ab, das den Schmerzensmann neben Maria gleichgeordnet zeigt. Es ist das einzige Beispiel dieser Art, in dem auf Vollständigkeit bedachten Werk. - Ein französischer Holzschnitt aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zeigt den Schmerzensmann und die Schmerzensmutter zusammen auf einem Blatt, das Kreuz steht

zwischen beiden Dreiviertelfiguren im Hintergrund (Abb. 29 bei E. Panofsky, ]ean Hey's »Ecce Homo«, a. a. O., S. 126). Wolf Traut hat um 1515 ebenfalls beide Dreiviertel figuren auf einem Blatt vereint; das Kreuz steht zwischen den Gestalten, die Marterwerkzeuge sind über den Hintergrund verteilt. Der Holzschnitt mit dieser Darstellung aus der Albertina in Wien war ausgestellt 1961 in Nürnberg. Siehe: Kat. Meister um Dürer, Nürnberg 1961, Nr. 380. Dort Lit. — Hans Holbein der Jüngere hat auf zwei aufeinander bezogenen kleinen Tafeln in Basel den sitzenden Schmerzensmann und die kniende Schmerzensmutter in eine über beide Tafeln laufende großartige Renaissancearchitektur gesetzt (Datierungsvorschlag 1519120 im Katalog: Die Malerfamilie Holbein in Basel, Basel 1960, Kat. Nr. ISO, S. 181). 21 Breite 24 cm, Höhe 29 cm, Öl auf Holz; Inv. Nr. B 371 und B 372. Die beiden Tafeln stammen aus der Sammlung der Frankfurter Museumsgesellschaft, die 1815 in das Eigentum der Stadt Frankfurt überging. Der Museumsgesellschaft wurden die Bilder von Geheimrat und Domherrn von Haake 1820 geschenkt. Sie erschienen in dem von Georg Schütz 1820 aufgestellten »Verzeichnis der altdeutschen Bilder und einiger anderen, dem Museum Frankfurt a. M. zuständigen Gemälde« auf S. 29 (Verzeichnis nicht mehr erhalten). 22 Breite 21 cm, Höhe 26 cm, Öl auf Holz; Inv. Nr. G 15. Lit.: Catalogue de la collection Grangier, Dijon 1917, Nr. 15 und 15 bis; Abb. des Schmerzensmannes. - Un cabinet d'amateur dijonnais au XVIII" siécle, collection Jehannin de Chamblanc. Musée de Dijon 1958, Nr. 16 und Nr. 17. - Cat. 1933, S. 206, als Quinten Matsys. - Die zu den Frankfurter Tafeln um einige Zentimeter unterschiedlichen Maße ergeben sich wohl daraus, daß an den Bildern in Dijon die unteren marmorierten Randstreifen abgesägt worden sind und auch - wie man beim Vergleich der Bilder deutlich sieht - an den Breiten gekürzt wurde. 23 Breite 18,5 cm, Höhe 29 cm, Öl auf Holz. - Versteigerung Helbing, München 25. 2. 1907, Nr. 60/61 und 21. 11. 1912, Nr. 82 (nach Paris gegangen), als »Schule des Lucas van Leyden«. W. Paech, Amsterdam, vor 1940. 24 Breite 20 cm, Höhe 26,5 cm, Öl auf Holz. - Kunsthandlung Foto im Rijksbureau voor kunsthistorische Documentatie, 's-Gravenhage. 25 Breite 25,4 cm, Höhe 30,5 cm; Öl auf Holz. Abb. im Katalog The Arcade Gallery, London, Nov. 1961. 26 Keine Daten bekannt. Galerie S. Hartveld, Antwerpen. - Foto im Rijksbureau voor kunsthistorische Documentatie, 's-Gravenhage. 27 Breite 16 cm, Höhe 21 cm, Öl auf Holz. - Versteigerung Lempertz, Köln, Kat. Nr. 424, Tafel 8, Nr. 121, als »Schule des Lucas van Leyden«. 28 Breite 22 cm, Höhe 25 cm, Öl auf Holz. - Versteigerung A. Wollenberg, Berlin 17. 3. 1932, als »Werkstatt des Lucas van Leyden«. 29 Durchmesser 26/27 cm, Öl auf Holz. - Amiesfield, Scotland, Cat. 1771, Nr. 154 und Nr. 155, als »Rottenhammer«. Jetzt Sammlung Earl of Wemyss, Gosford House, Scotland, Inv. Nr. 1948, Nr. 201 und Nr. 202. 30 Durchmesser 26,8 cm, Öl auf Holz. - Versteigerung Loeb, Berlin 8. 6.1929, Nr. 19 und Nr. 20. Für die Auffindung und Beschaffung von Fotos zu dieser Bildergruppe bin ich dem Rijksbureau voor kunsthistorische Documentatie mit Herrn Direktor Dr. Gerson in 's-Gravenhage zu großem Dank verpflichtet. - In unserem Zusammenhang sei genannt, daß 1949 das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 5, 1960, S. 190 Abb.) zwei Ebenholzrahmen mit der Darstellung des Schmerzensmannes und der Schmerzensmutter aus Silber, getrieben und gegossen (Augsburg [?], 1. Drittel des 17.Jhs.) erworben hat. Zweifellos gehören die beiden Teile zusammen. Sie bilden eine Andachtsgruppe, die mit den vorgeführten flämischen Bildern verwandt ist und in Süddeutschland geschaffen wurde. Die Christusfigur greift, wie auf den gleichzeitig entstandenen flämischen Gemälden, den spätgotischen Typus des Christusbildes (nach Lucas van Leyden, Dürer usw.) auf. 31 F. W. H. Hollstein,

a. a. O., Vol. VII, S. 35, Nr. 194, Breite 18,4 cm, Höhe 13 cm. Abb.

auch

im: Bulletin Of The Art Division, Los Angeles County Museum, Vol. 6, Nr. 3, 1954, S. 20, als »Style of Lucas van Leyden«. Von Frisius sind noch zwei weitere Kupferstiche nach L. van Leyden bekannt (Hollstein, VII, S. 34, Nr. 193 und S. 36, Nr. 195). - Th. Volbehr zählte noch den Kupferstich zum Werk des Lucas van Leyden: Th. Volbehr, Lucas van Leyden, Verzeichnis seiner Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte, Hamburg 1888, S. 23, Nr. 81. Er kannte auch schon einen ähnlichen Kupferstich mit der gleichen Darstellung vor einem architektonischen Hintergrund, den er als »freie Copie« bezeichnet. Dieser Kupferstich, von F. W. H. Hollstein, a. a. O., Vol. X, S. 243, Nr. 79, abgebildet und einem unbekannten Stecher gegeben, ist kleiner und in den Einzelheiten, besonders den gekreuzten Händen der beiden Halbfiguren von dem Stieb von Frisius abweichend, kann aber durchaus auf ein gemeinsames Vorbild des Lucas van Leyden zurückgehen. 32 F. W. H. Hollstein, a. a. O., Vol. X, S. 219, Nr. 35, Breite 20,8 cm, Höhe 31,2 cm. - Bei W. Nijhoff, Nederlandsche Houtsneden 1500-1550, 's-Gravenhage 1939, Tekst bij de Bladen 335-414, S. 167, erscheint das einzige bekannte Exemplar dieses Holzschnittes im British Museum in London mit »Lucas van Leyden (?)«. Die Zweifel an der Autorschaft des L. van Leyden werden mit technischen Unterschiedlichkeiten gegenüber den übrigen bekannten großformatigen Holzschnitten des Meisters begründet. Auch Campbell Dodgson meldet in: The Print Collector's Quarterly, X X I I I , 1936, p. 9, Bedenken an. Für Hollstein dagegen scheint es keine Zweifel zu geben, denn er rechnet den Holzschnitt zu den sicheren Werken des Lucas van Leyden. F. W. H. Hollstein, The Graphic Art Of Lucas Van Leyden (1494-1533), Amsterdam, o. ]., S. 163, Nr. 35 (siehe oben Vol. X, S. 219). Es ist hier nicht der Ort, näher auf diese Frage einzugehen. 33 St. Beissel, Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während des Mittelalters, Freiburg a. Br. 1909, S. 528, Anm. 1. Titel beginnt: »Cum Secundum Sanctos Doctores . . . Brugis 1500 . . .« Vgl. Brunet, Manuel du libraire IV5, Paris 1863, 1391. - Uber Maria als co-redemptrix siehe auch: E. M. Vetter, Mulier Amicta und Mater Salvatoris, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Dritte Folge, Band IX/X 1958/59, S. 32 ff., bes. S. 56 u. 57. - R. Berliner erwähnt in seinem Aufsatz: Bemerkungen zu einigen Darstellungen des Erlösers als Schmerzensmann, in: Das Münster, 9. Jahr 1956, Heft 3/4, S. 114, besonders die wachsende Bedeutung der Schmerzensmutter gegenüber dem Schmerzensmann seit dem 15. Jahrhundert. - Siehe weiter A. von Oertzen, Maria, die Königin des Rosenkranzes, Eine Ikonographie des Rosenkranzgebetes durch zwei Jahrhunderte deutscher Kunst, Augsburg 1925. 34 Vgl. den Ecce Homo der Passionsfolge von 1521: F. W. H. Hollstein, a. a. O., Vol. X, S. 98, Nr. B 50, und auch den Schmerzensmann von 1517: F. W. H. Hollstein, a. a. O., Vol. X, S. 112, Nr. B 76. 35 Siehe B. Knipping, a. a. O., bes. Bd. 1. Mono36 Abb.: F. W. H. Hollstein, a. a. O., Vol. XIII, S. 67: Meister mit dem verschlungenen gramm I SS, Nr. 1; beginnendes 16. Jahrhundert. - S. 230: Meister mit dem Monogramm W R, Nr. 1; beginnendes 16. Jahrhundert. - Auch in der deutschen Druckgraphik finden sich ähnliche Darstellungen, siehe z. B.: R. Muther, Die deutsche Bücherillustration der Gotik und Frührennaissance, 1. Bd., München 1922, Tafel 171 (Hans Burgkmair 1520) und Tafel 178 (Hans Schäufelein 1513). 37 F. W. H. Hollstein, a. a. O., Vol. XIII, S. 121, Lebensdaten und Lit., S. 176 Abb. der Darstellung der Maria der Sieben Schmerzen mit der Inschrift: Sicut Lilium inter spinas; Breite 5,5 cm, Höhe 7 cm. - Eine der ältesten gedruckten Abbildungen der Maria mit den sieben Schwertern ist in dem 1494 erschienen Buch »Quodlibetica Decisio« des Franz Michael von Lille, gedruckt zu Antwerpen, zu finden. Weitere Beisp. siehe: St. Beissel, a. a. O., S. 410 f . B. Knipping, a. a. O., bildet eine Maria der Sieben Schmerzen nach einem Stich von Adr. Collaert ab (Bd. 2, S. 50), die in ähnlicher Haltung vorgeführt wird.

38 Abb.: Jahrbuch der rheinischen Denkmalpflege, 52 cm, Höhe 74 cm, Öl auf Eiche.

Band

XIII,

1960, S. 333, Abb. 379,

Breite

39 Breite 51,5 cm, Höhe 62,8 cm; Öl auf Holz. Alter Besitz des Aachener Münsters. Bisher unpubliziert. 40 B. Knipping, a.a.O., geht auf das Thema des Jesuskindes im Leiden ausführlich ein (Bd. 1, S. 153 f.) und bildet (Bd. 1, S. 154) einen Stich von Hieronymus Wiericx ab, der den Christusknaben mit Kreuz und Leidenswerkzeugen zwischen zwei Engelsputten mit der Dornenkrone, Nägeln und Geißelwerkzeugen schreitend zeigt. Darmstädter 41 Ein Beispiel sei genannt: Breite 12,5 cm, Höhe 15,7 cm, Öl auf Kupfer, in Privatbesitz. - Uber die Verbreitung der »kleinen« Andachtsbilder als »Propagandamittel« der Gegenreformation, besonders der graphischen Werkstätten und Verlage in Antwerpen (Wiericx, Galle, Collaert usw.) siehe: RDK, Band I, Artikel Andachtsbild, bes. Sp. 685. 42 2. B.: Der Jesusknabe mit den Marterwerkzeugen, deutscher Holzschnitt, Ende 15. Jahrhundert (Staatsbibliothek München); abgebildet in: E. Reiners-Ernst, Das freudvolle Vesperbild und die Anfänge der Pieta-Vorstellung, München 1939, S. 76, Abb. 22. Andere Beispiele bei P. Heitz, Dreißig Neujahrswünsche des fünfzehnten Jahrhunderts, Straßburg 1917.

H A N S W. G R O H N • E I N W I E D E R E N T D E C K T E S G E M Ä L D E V O N G E R R I T D O U

»Lediglich durch einen Stich bekannt«, nennt W. Martin in seinem Buch über Gerrit Dou das kleine Bild einer »Brei essenden Alten«, das sich als eines von vier Werken dieses Meisters in der Galerie Orléans befand Diesen Stich von Joseph Ignaz Huber bildet derselbe Autor auch in seinem Band über Gerrit Dou, Klassiker der Kunst, als Zeugnis für das verschollene Gemälde a b 2 (Abb. 1). Er entstammt dem großen Tafelwerk »Galerie du Palais Royal«, das Jacques Couché 1784 bis 1808, anfangs unter der Protektion des Herzogs von Orléans, herausgab, dessen reiche Kunstsammlung darin so sorgfältig reproduziert wurde, daß die Gemälde in den Stichen seitengetreu erscheinen. Bei Smith wird das Bild einer breiessenden Alten von Dou als einst in der OrléansSammlung befindlich aufgeführt 3 ; Wurzbach erwähnt in einer Aufstellung von Stichen nach Gemälden des Gerrit Dou die Arbeit von Huber (bei ihm fälschlich H u b e r t genannt), ohne das Vorbild nachweisen zu können 4 . Für Hofstede de Groot gilt es gleichfalls als verschollen, die Darstellung ist auch ihm nur durch einen Stich geläufig 5 . In seinem Katalog beschreibt er sie wie folgt: Eine alte Frau »sitzt, dreiviertel nach links gewandt, in einer Dachkammer und ißt Brei aus einem Topf, den sie auf dem Schoß hat und mit der Linken festhält. Links auf einem Ständer brennende Öllampe«. Dieses seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert verschollene Bild haben wir gelegentlich der Inventarisierung einer englischen Kunstsammlung aufgefunden und stellen es hier im Photo vor (Abb. 2). Die kleine Tafel, Höhe 0,32 m, Breite 0,24 m, befindet sich

1 J O S E P H IGNAZ HUBER, „ B R E I ESSENDE A L T E "

W A R W I C K CASTLE

362

bereits seit langer Zeit in der Sammlung des Earl of Warwick auf Warwick Castle 0 . Das Gemälde ist in seiner Wirkung durch den stark nachgedunkelten Firnis zur Zeit etwas beeinträchtigt, besonders der obere Teil, die Dachkonstruktion der Kammer und das Fenster links ist fast völlig verschwunden. Die Gestalt selbst und das öllämpchen zeigen eine feine, unbeschädigte Malerei. Weiche Lichter beleben Gesicht und H ä n d e der Alten, geben der Halskrause duftige Lockerheit, dem Metall des Kerzenständers warmen Glanz. Die Rückseite der Tafel trägt in alten Schriftzügen die Notiz »Galerie Orleans«. Über die Geschicke der Orléans-Sammlung geben die »Memoirs of Painting« von Buchanan, die Darlegungen des Kunsthändlers C. J. Nieuwenhuys und die Aufzeichnungen des Berliner Galeriedirektors Waagen nähere Auskünfte 7 . Der Herzog von Orléans, der in der Revolution von 1789 als Parteigänger Dantons Mitglied der N a tionalversammlung wurde und dann unter dem Namen Philippe Égalité auch dem Nationalkonvent beitrat, lebte in der Hoffnung, Generalleutnant des Reiches, später sogar König zu werden und entschloß sich, um im Verfolg seiner Pläne Geld für Agitationszwecke zu gewinnen, seinen in Jahrzehnten zusammengetragenen Kunstbesitz zu veräußern. Zweihundertfünfundneunzig Bilder der italienischen und französischen Schulen verkaufte er 1792 geschlossen f ü r 750 000 Francs an einen Brüsseler Bankier Walkuers. Dieser jedoch gab die Gemälde schon nach wenigen Tagen sämtlich an den französischen Adligen Laborde de Mereville weiter und konnte bei der Transaktion den nicht unerheblichen Gewinn von 150 000 Francs verbuchen. Die flämischen, holländischen und deutschen Bilder der Sammlung brachte im selben Jahr für 350 000 Francs der Engländer Thomas Moore Slade in seinen Besitz. Als Laborde de Mereville im Verlauf der Revolution aus Frankreich fliehen mußte, führte er seine Gemälde, die er ursprünglich in der Absicht erworben hatte, sie seinem Vaterlande zu erhalten, mit sich fort; sie gelangten so gleichfalls nach England und wurden von dem in Geldnot geratenen Emigranten für 40 000 P f u n d an das Handelshaus Jeremias H a r m a n in London verkauft. Einem englischen Kunstfreund Bryan, der den Wert der Galerie erkannte und bemüht war, diesen Kunstschatz seinem Lande zu bewahren, gelang es, drei vornehme Sammler, den Duke of Bridgewater, den Earl of Carlisle und den Earl of Gower für die Bilder zu interessieren. Als die Gemälde, nachdem sie von Dezember 1798 bis August 1799 ausgestellt gewesen waren, zum Verkauf kamen, wurden die Hauptstücke f ü r eine Summe von 43 000 P f u n d von ihnen erworben. Der zweite Teil der Galerie, hundertunddreizehn Bilder umfassend, gelangte am 14. Februar 1800 in London bei Coxe, Burrel und Foster zur Versteigerung 8 . Waagen gibt im Anhang seines Buches über Kunstwerke in England ein Verzeichnis aller nach London verbrachten Gemälde der Galerie Orléans, das 404 Werke u m f a ß t 9 . Er teilt hier die für einzelne Bilder erzielten Preise mit und zwar die des ersten Verkaufs in P f u n d , die der späteren Versteigerung in Guineen. Soweit die Ermittlungen gelangen, hat er auch die ersten Käufer aufgeführt und die Besitzer der Bilder zur Zeit seiner Englandreise genannt. Unter den Gemälden aus der deutschen und niederländischen Schule erscheinen vier Werke von Gerrit Dou. Unser Bild erzielte 63 Guineen, doch sind Waagen leider weder ein Käufer noch der damalige Besitzer

bekannt. Audi Buchanan hat in seinem K a t a l o g der Orleans-Sammlung den K ä u f e r nicht n a m h a f t gemacht 1 0 . Wahrscheinlich ist das Bild schon zu jener Zeit nach Warwick Castle gelangt. D a s Gemälde gehört in eine Gruppe von halbfigurigen Darstellungen alter Frauen, essend, lesend oder handarbeitend, die der Maler, wohl nach dem gleichen Modell, in den J a h r e n zwischen 1 6 6 0 und 1665 geschaffen hat. An ähnlichen Beispielen seien zwei Bilder in Leningrad ( H . d. G . 9 4 und 160), eines in Dresden ( H . d. G . 2 4 2 ) , eines vormals bei B a r o n Erlanger, Paris ( H . d. G . 1 7 5 ) und schließlich ein Bild ehemals bei Charles Sedelmayer, ebendort ( H . d. G . 2 5 0 ) genannt. Das Gemälde einer lesenden Alten in der Ermitage ( H . d. G . 9 4 ) , das Hofstede de G r o o t als Gegenstück zur »Frau mit der Haspel« dieser Sammlung ansieht ( H . d. G . 160), möchte M a r t i n für das Pendant des Orleans-Bildes h a l t e n 1 ' . Doch wird eine derartige Vermutung einzig durch die Tatsache gestützt, daß die Dargestellten einander zugewandt erscheinen. D i e M a ß e differieren hingegen beträchtlich, das Leningrader B i l d (0,26 X 0 , 2 0 m) ist erheblich kleiner als das Gemälde

in Warwick Castle. Auch scheint die verschiedene Provenienz dagegen zu

sprechen, es sei denn, man vermutet, daß die Paarstücke schon verhältnismäßig

früh

auseinandergerissen wurden, denn das W a r w i c k - B i l d befand sich bereits 1727 in der Sammlung Orleans, während die »Lesende Alte«, wie auch die » F r a u mit der Haspel« aus der Collection de Julienne kommend, 1767 in Paris versteigert wurde 1 2 .

ANMERKUNGEN

1 W. Martin, Het Lewen en de 'Werken van Gerrit Dou, Leiden 1901, S. 239, Nr. 342. 2 W. Martin, Gerard Dou, Klassiker der Kunst, Stuttgart-Berlin 1913, S. 163 u. 185. 3 ]. Smith, A catalogue raisonne of the works of dutch, flemish and frencb painters, London 1829, S. 25, Nr. 75. 4 A. v. Wurzbach, Niederl. Künstlerlexikon I, Wien-Leipzig 1906, S. 420, Nr. 57. 5 Hofstede de Groot, Beschr. u. krit. Verzeichnis d. Werke der holl. Maler I, Eßlingen-Paris 1907, S. 420, Nr. 245. 6 Lord Warwick sei hier verbindlichst gedankt für die Überlassung der Photographie und die freundliche Erlaubnis, das Bild zu veröffentlichen. 7 W. Buchanan, Memoirs of Painting, London 1824, S. 9; C. ]. Nieuwenhuys, A review of the lives and works of some of the most eminent painters, London 1834, S. 191: G. F. Waagen, Kunstwerke und Künstler in England I, Berlin 1837, S. 44. 8 F. Lugt, Rep. des Cat. de Ventes I, La Haye 1938, Nr. 6017. 9 Waagen, a. a. O., S. 515. 10 Buchanan, a. a. O., S. 201. 11 W. Martin, a. a. O., S. 185. 12 Vgl. Hofstede de Groot, a. a. O., S. 420 und 371.

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G Ü N T H E R S C H I E D L A U S K Y • B E I T R Ä G E Z U M W E R K DES G E O R G S T R A U C H

Man kann o f t beobachten, daß es um einen Meister still wird, sobald eine Arbeit über ihn erschienen ist, die einigermaßen erschöpfend sein Leben und seine Werke beschreibt. Eine solche Auswirkung ist auch erklärlich, weil zunächst wohl kaum mehr wesentliches über einen Künstler gesagt werden kann, zumal wenn es sich um einen minder wichtigen handelt. U n d doch kann die Zusammenstellung eines Oeuvres und die sich daraus ergebende Kenntnis des persönlichen Stils eines Künstlers den Weg zu neuen Funden oder Zuschreibungen weisen. Dies soll hier mit einigen Werken geschehen, die dem 1927 von Hannshubert Mahn veröffentlichten Oeuvrekatalog angefügt werden k ö n n e n E s handelt sich in diesem Beitrag nicht um die Frucht systematischer Suche, sondern vielmehr um zufällige Begegnungen, die der Beschäftigung mit einer Neuerwerbung des Germanischen Museums zu verdanken sind 2 . Zunächst soll Georg Strauchs Werk als Porträtmaler durch ein Bildnis erweitert werden, das sich ebenfalls im Germanischen Museum befindet (Abb. 1). Es stammt aus dem Geschworenenbuch der Nürnberger Barbiere und Wundärzte 3 , einer Sammlung von kostümgeschichtlich sehr aufschlußreichen Bildnissen, die von 1546 bis in die 2. H ä l f t e des 18. Jahrhunderts reichen, interessant auch deshalb, weil bei vielen der Dargestellten ihre H e r k u n f t angegeben und ein kurzer Lebenslauf beigefügt ist. In selbstbewußter Pose stehen sie, ein ärztliches Instrument oder eine Heilpflanze in der H a n d haltend, meist neben einem Tisch mit allerhand Büchern u n d medizinischem Anschauungsmaterial.

Dieser konventionellen, durch den Zweck des Buches vorgeschriebenen H a l t u n g f ü g t sich auch das Bildnis des Stadtarztes Friedrich K ü h n e ein 4 , das mit wenigen anderen P o r t r ä t s in T e m p e r a auf P e r g a m e n t und nicht auf P a p i e r gemalt ist. U n t e r der Schmalseite des k o m m o d e n a r t i g e n Tisches befindet sich die Inschrift: Georg Strauch P i n x i t A n n o 1636. Dieses Blatt zeichnet sich durch eine Q u a l i t ä t aus, die den künstlerischen W e r t der meisten a n d e r e n Blätter des Geschworenenbuches überragt. Bei vielen der Dargestellten l ä ß t das p r o p o r t i o n a l e M i ß v e r h ä l t n i s zwischen K o p f u n d dem übrigen K ö r p e r darauf schließen, d a ß sie nicht gleichzeitig entstanden sind; auf dem Bildnis von Strauchs H a n d ist alles aus einem G u ß . D a s W o h l g e f a l l e n am Reiz des Stofflichen k o m m t in der meisterlichen B e h a n d l u n g des G e w a n d e s aus schwarzem D a m a s t z u m Ausdruck. H a l t u n g u n d Tracht des S t a d t a r z t e s spiegeln die gespreizte W ü r d e seiner Zeit wider, aus dem

modisch

frisierten K o p f spricht persönliches Selbstbewußtsein. U n t e r den nicht gerade wenigen Bildnissen v o n Georg Strauch w ü r d e dieser Zuwachs einer weiteren Arbeit nicht sonder1

GEORG

S T R A U C H : B I L D N I S DES STADTARZTES F R I E D R I C H K Ü H N E ,

AUF P E R G A M E N T . G E R M A N I S C H E S

NATIONALMUSEUM

NÜRNBERG,

BUCH DER N Ü R N B E R G E R B A R B I E R E U N D W U N D Ä R Z T E , H S 8 1 4 1 2

1636;

TEMPERA

GESCHWORENEN-

lieh ins Gewicht fallen, w e n n sie nicht f ü r die Frühzeit des Künstlers wichtig wäre, die n u r durch wenige W e r k e belegt ist. Es h a n d e l t sich um die zweitfrüheste, durch D a t i e r u n g gesicherte Arbeit des damals 23jährigen, die mit seinem frühesten W e r k , der 1633 d a tierten H a l b f i g u r eines U n b e k a n n t e n , n u r schwer vergleichbar ist, weil dieses eine Gouache-Miniaturmalerei ist 5 . Unser Bildnis des S t a d t a r z t e s K ü h n e n i m m t auch deswegen eine besondere Stellung ein, weil sich Strauch hier an ein ganzfiguriges Bildnis h e r a n g e w a g t h a t , das in seinem W e r k allein steht. Angesichts der guten künstlerischen Leistung ist der Verlust zweier Bildnisse v o n Wallenstein u n d G u s t a v Adolf zu beklagen, die Georg Strauch 1632 nach dem Leben m a l t e 0 . M a h n s nicht sehr hohe M e i n u n g v o n den künstlerischen Fähigkeiten Strauchs in seinen jungen J a h r e n bedarf nach K e n n t n i s des hier veröffentlichten Bildnisses doch w o h l einer kleinen K o r r e k t u r . D a s Germanische Museum e r w a r b v o r einigen J a h r e n ein P a a r sechskantige Schraubflaschen, deren Flächen aus hochrechteckigen bemalten E m a i l p l a t t e n gebildet w e r d e n , die in silbervergoldeter Fassung m o n t i e r t s i n d 7 (Abb. 2). Von diesen Schraubflaschen gibt es ganz ähnliche E x e m p l a r e , deren Emailmalereien durch mehrere »G. St.« signierte Arbeiten f ü r G e o r g Strauch gesichert sind; die v o n M a h n genannten Stücke 8 k o n n t e E. W. B r a u n durch einige andere, z u m Teil bereits bei R o s e n b e r g 9 a u f g e f ü h r t e , ergänzen

10

.

Dieser G r u p p e v o n Emailmalereien des G e o r g Strauch k a n n das Flaschenpaar des Germanischen Museums, o b w o h l nicht signiert, wegen der augenfälligen Übereinstim2

E I N PAAR SCHRAUBFLASCHEN;

E M A I L M A L E R E I VON G E O R G S T R A U C H , D I E

SILBER-

MONTIERUNG VON M E I S T E R M S . G E R M A N I S C H E S N A T I O N A L M U S E U M N Ü R N B E R G

368

mung angeschlossen werden u . Die Flächen der sechs Wandungen jeder Flasche enthalten abwechselnd figürliche Darstellungen und ornamentale Füllungen, die aus Frucht- und Blütengebinden, von bunten orientalischen Vögeln durchsetzt, bestehen. Die figürlichen Darstellungen zeigen reich gewandete Frauengestalten mit Ausnahme einer unvermeidbar spärlich bekleideten Venus und eines feisten Bacchusknaben. Uber allen Figuren schwebt ein Spruchband, dessen Text den Zweck der Flaschen, bei fröhlichem Gelage zu dienen, verrät 1 2 . In der abwechselnden Verwendung der figürlichen Darstellung mit ornamentaler Füllung ist das Flaschenpaar den Exemplaren im Cluny-Museum und im sächsischen Privatbesitz verwandt, unterscheidet sich aber von ihnen durch den weißen Grund, auf den das Ornament gemalt ist ,2a . Diesen weißen Grund besitzt eine sechskantige Flasche in Detmold, die auch als Büchse gedient haben kann; sie hat nur ornamentale Füllungen 1 3 , die mit denen auf unserem Flaschenpaar überraschende Ähnlichkeit, z. T. sogar völlige Übereinstimmung aufweisen. Es sind die gleichen bunten Vögel zwischen Blüten oder auf Fruchtgebinden. Das bei Rosenberg erwähnte Flaschenpaar in der Eremitage (Abb. 3) stimmt hinsichtlich der Emailmalereien weitestgehend mit dem Detmolder Exemplar überein I 4 . Außerdem stammen die Fassungen vom gleichen, noch nicht identifizierten Goldschmied R 3 N r . 4215. Diesen Emailmalereien gesellen sich fünf einzelne Platten im Londoner Kunsthandel 1 5 3 369

E I N P A A R SCHRAUBFLASCHEN; EMAILMALEREI VON G E O R G STRAUCH, DIE M O N T I E R U N G V O N EINEM N Ü R N B E R G E R G O L D S C H M I E D . L E N I N G R A D ,

SILBER-

EREMITAGE

p ««"^fej

}

zu, von denen zwei das Blumen-Frucht-Gebinde mit Vögeln aufweisen, w ä h r e n d drei Platten jene fülligen Frauenspersonen und Schriftbänder zeigen, denen w i r schon auf dem Nürnberger Flaschenpaar begegnet sind (Abb. 4). Eine im Straßburger Museum befindliche Platte mit dem jugendlichen Bacchus zeigt nicht nur motivische, sondern auch weitgehende stilistische Übereinstimmungen mit der entsprechenden Füllung auf dem Flaschenpaar des Germanischen Museums; auch die M a ß e sind die gleichen 1 5 a . Die H e r k u n f t dieser Emails aus der Werkstatt Georg Strauchs ist a u g e n f ä l l i g ; eine andere Frage ist, ob sie eigenhändig sind. Dies gewissenhaft zu entscheiden, w ü r d e einen Vergleich aller erreichbaren Stücke erfordern, wobei zunächst von der Annahme auszugehen wäre, d a ß die signierten Arbeiten auch die eigenhändigen sind, w a s jedoch bei einem Vergleich der Photos durchaus nicht überzeugt. Die fünf Einzelplatten in London zeigen keine Spuren einer ehemaligen Montierung, w o f ü r sie ohne Zweifel bestimmt waren. Es erhebt sich die Frage, ob Strauch seine Emailtafeln in enger Verbindung mit wenigen, ihm bekannten Goldschmieden verarbeitet sehen wollte oder ob er sie ohne Einfluß auf die spätere Verwendung an Goldschmiede oder gar H ä n d l e r veräußerte. Hierüber aber gibt es keine Hinweise, wie überhaupt die Frage des H a n d e l s mit Silberarbeiten und Schmuck im Nürnberg des 16. und 17. J a h r hunderts noch ungeklärt ist. Es muß verschiedene J u w e l e n h ä n d l e r gegeben haben, die das Silberschmiedehandwerk gar nicht oder nur im Nebenberuf ausübten 1 6 . 4

D R E I VON FÜNF E M A I L P L A T T E N , BEMALT VON G E O R G HANDEL

(1959)

STRAUCH. LONDON,

KUNST-

37°

Die meisten dieser Schraubflaschen sind von dem noch nicht identifizierten Goldschmied R 3 N r . 4215 gefaßt worden, nämlich das Paar in Leningrad und die zwei Einzelstücke in Detmold und Tutzing. Während aber die Fassungen der beiden letztgenannten Stücke mit ihren breiten geschweiften Stegen und der darauf angebrachten Ornamentik weitgehend übereinstimmen, isolieren sich die Leningrader Exemplare durch die schlicht profilierten schmalen Rahmen, die den Emailplatten mehr Raum geben und dadurch deren Wirkung erhöhen. E. W. Braun schreibt auch die Pariser Flasche wegen der übereinstimmenden, gegossenen Maskarons auf der Schulter demselben Goldschmied zu. Dies trifft nicht zu, vielmehr trägt dieses Stück neben der Nürnberger Beschau und dem Tremolierstich eine Meistermarke, die zwar undeutlich (zwei Buchstaben im Queroval), aber keineswegs mit R 3 N r . 4215 identisch ist 17 Die gegossenen Maskarons, die sich auf allen Flaschen mit Ausnahme der Leningrader Stücke befinden, werden also von einem anderen Goldschmied bezogen worden sein. Auch das Nürnberger Paar besitzt die gleichen Maskarons, die ganze übrige Goldschmiedearbeit stammt aber von einem bei Rosenberg nicht aufgeführten Meister MS, dessen N a m e wahrscheinlich Michael Schmidt oder Matheus Ströbel lautete 1 8 . An Stelle einer emailgemalten Plakette, wie sie sich im Innern der meisten Schraubdeckel befinden, enthalten die beiden Nürnberger Flaschen die Vorder- und Rückseite einer Medaille auf Wallenstein. Sie trägt zwar die Jahreszahl 1631, erweist sich aber 5 371

R H E T O R I C A , AUS EINER F O L G E DER SIEBEN FREIEN K Ü N S T E . VON G E O R G STRAUCH. W Ü R Z B U R G , U N I V . BIBL.

KREIDEZEICHNUNGEN

durch die Signatur P . C . B , als eine Arbeit des kaiserlichen Kammermedailleurs Philipp Christoph Becker (1674-1743) 1 9 , ist also eine posthume Prägung und überdies sehr wahrscheinlich ein zeitgenössischer Nachguß 2 0 . Der verlockende Gedanke, dieses Flaschenpaar wegen der darin befindlichen Medaille mit Wallenstein, der 1632 vor N ü r n b e r g lagerte und damals von Strauch porträtiert wurde, in Verbindung zu bringen, entbehrt mithin jeder Grundlage, weil die Medaille mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Schraubflaschen entstanden ist. D i e erwähnten Schraubflaschen sind entweder vier-, sechs- oder achtkantig. Wenn die M o t i v e der Emailmalereien als maßgebend für die Zahl der Flächen der Flaschen zu gelten haben, dann hat es möglicherweise auch eine siebenkantige Flasche gegeben. Diese Vermutung legen sieben Kreidezeichnungen von Georg Strauch mit halbfigurigen Personifikationen der sieben freien Künste nahe 2 1 . Die »Geometria« trägt die Signatur G S . D i e Artes liberales sind in den von Strauch bevorzugten Halbfiguren dargestellt. Auch die etwas derben Gesichter mit der knolligen N a s e und den dicken Augenlidern entsprechen dem bei Strauch gewohnten Frauentypus, desgleichen die faltenreichen, verhüllenden Gewänder und Schleier, sowie die mit Blüten, K r ä n z e n und Diademen geschmückten Frisuren. In der Rebekka auf dem Kasseler Walzenkrug 2 2 tritt uns das gleiche Modell entgegen. D i e Zuschreibung dieser Blätter an Georg Strauch ist bereits von Baumeister-Boll vorgenommen worden 2 3 , publiziert sind sie bisher noch nicht, weshalb eine Zeichnung hier gezeigt sei (Abb. 5), die zugleich Zeugnis von den graphischen Fähigkeiten Strauchs 6

K E L C H , GOLDEMAIL, G E O R G STRAUCH 1648. KOPENHAGEN, SCHLOSS ROSENBORG

372

abzulegen vermag. Es liegt nahe, diese Blätter als Vorzeichnungen f ü r Emailmalereien anzusehen, die eine siebenkantige Schraubflasche schmücken sollten. Strauchs bedeutendstes und zugleich das am frühesten datierte, gesicherte Werk unter seinen Emailarbeiten ist ein goldner Pokal im Schloß Rosenborg in Kopenhagen, der dem Oeuvre des Künstlers hinzugefügt werden kann 2 3 a . Über achtpassigem Fuß erhebt sich ein durchbrochen gearbeiteter, reliefierter Schaft mit Nodus, der die flache, ebenfalls achtpassige K u p p a trägt (Abb. 6). Die Emailmalerei bedeckt fast völlig den Pokal und bezieht sich inhaltlich in der für die Zeit typischen Symbolträchtigkeit auf die acht Seligpreisungen nach Matthäus 5, 3-10, deren Personifikationen an der Außenseite der K u p p a durch Beischriften erläutert sind: Fides, Modestia, Calamitas, Simplicitas, Patientia, Pax, Candor und Caritas. Ihnen entsprechend sind das Innere und der Fuß ebenfalls mit symbolischen Darstellungen bedeckt. Den Fond im Kelchinnern bildet ein Medaillon, das einen Engel zeigt, der eine Kugel und einen Ring hält und auf dem am Boden liegenden Chronos (oder ist es der Tod?) steht. Ohne Zweifel sind dem Künstler die recht vertrackten Symbolismen von gelehrter Seite zur Verfügung gestellt worden. An Qualität der Malerei ist diese Arbeit nur der Malerei am Dillherr-Pokal 2 3 b zu vergleichen. Das Stück ist auch deshalb wichtig, weil es - an versteckter Stelle, nämlich wo der Schaft an die Unterseite der K u p p a stößt - voll signiert und 1648 datiert ist. Beschau- und Meistermarken sind auf einem aus Gold gefertigten Werk nicht zu erwarten; das kostbare Material läßt aber auf einen bedeutenden Auftrag schließen und die Jahres373

7

B U C H E I N B A N D MIT EMAILMALEREI V O N G E O R G S T R A U C H , C H A N T I L L Y , M U S E E C O N D E

zahl die Vermutung zu, daß dieser Kelch mit den Feiern zum Friedensschluß des 30jährigen Kriegs in Zusammenhang steht. Er scheint auf direktem Weg an das dänische Königshaus gelangt zu sein, denn er wird bereits 1696 im Inventar des Schlosses Rosenborg genannt 2 3 0 . Aus der nicht geringen Zahl von Emailmalereien, die in \ielen Sammlungen anzutreffen und vielfach Nürnberger oder Augsburger Ursprungs sind, lassen sich einige noch mit Georg Strauch in Zusammenhang bringen. Zwei hochrechteckige Tafeln im Wiener Museum f ü r angewandte Kunst, in Format und Abmessungen ganz den bereits betrachteten entsprechend, gehören durch die Darstellungen der Verkündigung an Maria und der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth thematisch zusammen. Sie sind wohl als Füllungen eines Bucheinbandes angefertigt worden 2 4 . Das Fehlen gewisser ornamentaler Eigentümlichkeiten, etwa der Schlängelbänder, die die Zwischenräume füllen, fällt etwas aus dem gewohnten Rahmen, doch ordnet sich diese Arbeit zwanglos, auch in der Bevorzugung der Farbe Orange, dem Werkstattstil ein. Die etwas unsichere Malweise und die gedrängte Fülle des Ornaments lassen an ein frühes Werk denken. Ähnlich verhält es sich bei einem Bucheinband im Musée Condé, dessen Silberfassung wiederum hochrechteckige Emailtafeln mit gleichen Abmessungen wie die bisher betrachteten enthält, die mit Darstellungen der Verkündigung und der Geburt Christi bemalt sind 2 5 (Abb. 7). Hier treten, wenn auch nicht so auffallend wie an den gesicherten Werken Strauchs, die Schlängelbänder zwischen den Blüten auf. Zu den Darstellungen werden Stiche als Vorlagen gedient haben, was wohl auch für die beiden Wiener Tafeln zutrifft. An einer H e r k u n f t aus der Werkstatt des Georg Strauch kann auch hier kaum gezweifelt werden. D a das im Einband befindliche Buch 1649 in Nürnberg erschien, darf angenommen werden, daß die Emailtafeln bald darauf entstanden sind. Wir hätten also ein frühes Werk in dieser Technik vor uns. Es scheint, daß viele solcher Emailtafeln die Werkstatt Strauchs verließen, um dann für die verschiedensten Zwecke gefaßt zu werden. D a ß der Künstler Lehrlinge und Gesellen sowie Gehilfen in einem nicht erkennbaren Arbeitsverhältnis beschäftigte, ist erwiesen 26 . In den fast vier Jahrzehnten, die seit seiner Meisterprüfung 1635 bis zu seinem Tode verstrichen, wird nicht nur sein persönlicher Stil manchem Wandel unterworfen gewesen sein, sondern es werden auch viele nicht oder nicht ganz eigenhändige Arbeiten seine Werkstatt verlassen haben. Es scheint auch, daß Strauch erst verhältnismäßig spät, wohl erst Ende der 40er Jahre mit der Malerei auf Email begonnen hat, wofür die datierten Stücke sowie die Schaffensdaten der Goldschmiede, die seine Arbeiten faßten, sprechen. Ein Vergleich der Werke Strauchs wird auch dadurch erschwert, daß er sich o f t fremder Vorlagen und Anregungen bediente, die er nicht zu einem einheitlichen, persönlichen Stil umzubilden vermochte, wodurch seinen Arbeiten etwas Unausgeglichenes, einer sinnvollen Entwicklung Widersprechendes anhaftet. Die Frage, ob Georg Strauch auch auf Glas gemalt habe, wird erst entschieden werden können, wenn entweder Urkunden oder signierte Stücke auftauchen oder ein plausibler N a m e f ü r den Maler einer G r u p p e von Gläsern vorgeschlagen wird, von denen Mahn

trotz seiner Ablehnung einige abbildet 2 7 . Eine vierkantige Schraubflasche aus Milchglas im ö s t e r r . Museum für Angewandte Kunst, mit Szenen aus Ovids Metamorphosen, kann ohne Bedenken dieser Gruppe zugeordnet werden 2 8 : dem Gotte Apoll und der N y m p h e Isse haftet nichts Göttliches an; wie so o f t bei Strauch sind es recht ordinäre Typen, die wie Spießbürger auf einem Maskenball wirken, eher posierend als in unbeobachteter Zweisamkeit. Die Proportionen der Gesichtsteile, die eng beieinanderliegenden Augen, mit dem Blick aus den Augenwinkeln, die weiten verhüllenden Gewänder, die antikische Verkleidung des Mannes, die kurzen Beine - eine von Mahn f ü r Georg Strauch als typisch bezeichnete Eigentümlichkeit - und auch die großen Blumen in den Zwickeln der Schultern sprechen f ü r Strauch. Ein Vergleich mit gesicherten Emailarbeiten 2 9 bestätigt dies, wobei allerdings berücksichtigt werden muß, daß diese feiner und miniaturhafter ausgeführt werden konnten als die Malereien auf Glas. Die andere Seite der Vierkantflasche zeigt Pygmalion bei der Bildhauerarbeit; die D a r stellung hat, worauf Mrazek aufmerksam machte, als nahezu identisches Vorbild einen Stich in Ovids Metamorphosen von Joh. Wilh. Baur, 1641 erschienen 30 . Die Autorschaft Strauchs an dieser Flasche kann durch diesen Hinweis gestützt werden, weil der Künstler noch einen anderen Stich von Baur auf einer signierten Emailmalerei seitenverkehrt kopiert hat, nämlich Dädalus und den stürzenden Ikarus auf einem 1664 datierten Medaillon in einer ovalen Platte des Kunsthistorischen Museums Wien 3 1 . Selbst wenn die Zerbrechlichkeit des Materials in Rechnung gestellt wird, lassen die wenigen erhaltenen bemalten Gläser, die Georg Strauch zugeschrieben werden können, den Schluß zu, daß er auf diesem Gebiet nicht sehr produktiv war, worauf wohl auch zurückzuführen ist, daß seine frühen Biographen diesen Zweig seiner künstlerischen Tätigkeit unerwähnt ließen. Der schon erwähnte Würzburger Klebeband enthält noch eine andere Folge von Zeichnungen, die ohne Zweifel mit Georg Strauch zu tun haben und deshalb hier noch kurz besprochen werden mögen, nachdem Baumeister-Boll auf sie hingewiesen haben 3 2 . Es handelt sich um acht Blätter mit Personifikationen von Tugenden, die auf Sockeln in Nischen stehen. Alle Blätter sind »G. S.« oder G. St.« signiert, und zwar - mit Ausnahme von N r . 1, der Gerechtigkeit - spiegelbildlich, was im Oeuvre Strauchs nicht selten ist. Die Blätter sind in Rötel gezeichnet, denen nachträglich in Tintenschrift die Bezeichnung der jeweiligen Tugend, eine Zahl, sowie am unteren Rand ein Zweizeiler, alles in der f ü r Strauch bezeichnenden verschnörkelten Fraktur, hinzugefügt worden sind. Wie schon erwähnt, macht nur das erste Blatt, die Gerechtigkeit, insofern eine Ausnahme, als auch die Signatur G. S. f. nachträglich ebenfalls mit Tinte hinzugesetzt wurde. Es scheint, als ob besonderer Wert darauf gelegt wurde, daß diese Signatur vom Kopisten auf seinem Werk angebracht werden sollte. Falls diese Vermutung zutreffen würde, wäre der oben geäußerte Zweifel an der Eigenhändigkeit der signierten Arbeiten Georg Strauchs nicht unbegründet. - Dieses Blatt der Gerechtigkeit unterscheidet sich von den sieben übrigen noch dadurch, daß der obere Teil der Nische mit einem Muschelabschluß versehen und daß ihre seitliche Begrenzung durch Ornamente und Fruchtgehänge sehr viel genauer an-

gegeben ist. Überdies ermöglicht ein Maßstab am unteren Blattrand eine Berechnung des auszuführenden Werks: es ergibt sich eine Höhe von etwa 3,5 Fuß bis zum Nischenscheitel, was ungefähr 1,10 m entspricht. Es kann sich demnach keinesfalls um Entwürfe für Emailmalereien oder Stiche handeln, sondern vielmehr für Gemälde. Offensichtlich wird bei allen Blättern besonderer Wert auf die räumliche Wiedergabe und den Schattenwurf gelegt, was auch durch eine spiegelbildliche Inschrift auf Blatt 6, die Wahrheit vorstellend, bestätigt wird: »gesicht ist falsch im Schatten ist ungefehr beschehen«. Die auf mehreren Blättern befindliche Datierung 1662 könnte dazu beitragen, den Anlaß für diese Entwürfe ausfindig zu machen. Vielleicht waren sie für eine Festdekoration oder Ehrenpforte bestimmt. ANMERKUNGEN

1

2

3 4

} 6 7

Mahn, Hannshubert: Lorenz und Georg Strauch, Beiträge z. Kunstgesch. Nürnbergs im 16. u. 17. Jh., Tübinger Forschungen zur Archäologie u. Kunstgesch. Bd. VIII, Reutlingen 1927, S. 46-78. - Baumeister, Engelbert u. Walter Boll: Eine Sammlung v. Zeichnungen in d. Univ. Bibl. zu Würzburg, in: Münchner Jb. d. bild. Kunst NF 1934, Bd. XI, S. 26 f f , Kat. Nr. 14-20 und 227-233. — Strieder, Peter: Ein Nürnberger Kunstsammler, Bildnis Joh. Christ. Harsdörffers von Georg Strauch 1667 im St. Annen-Museum Lübeck, in: 2s. Frankenspiegel, 2. Jg. 19} 1, H. }, S. 30 f. m. Abb. S. 31. Ein archivalischer Fund ist wesentlicher für den Maler Joh. Philipp Lemke (1631-1713), der 16}1 zu Strauch kam und 16}3 die Meisterprüfung machte: Georg Strauch bescheinigt am 31. Dezember 16}7, auf Befehl von Joh. Wilh. Kress und Burkart Löffelholz aus der RatsLosung-Stuben dem Lemke »anietzo noch zu Rom« für dessen Studium empfangen und gegeben zu haben 1}0 Gulden, die Lemke durch Wechsel von Strauch erhalten habe (Staatsarchiv Nürnberg, Stadtrechnungsbelege Rep. 54 b2 Nr. 944). Bibl. des German. Mus. Nr. 81412. - Zwei farbige Abb. aus diesem Buch bei Königer, Ernst: Aus d. Gesch. d. Heilkunst, München 19}8, Taf. III u. IV. Tempera auf Pergament, H. 31,8 cm, Br. 22,} cm, über dem Dargestellten die Inschrift: »Friedrich Kühne Statt Artzt der Zeit, Er weist sein Ampt im werckh bereit, Danckt Gott vndt giebt deme den preiß, Ward dreymahl gschworner, thet sein fleiß Anno 163}, Anno 1636, AETATIS suae 36.« Sein Wappen trägt den Spruch: De manu artificium cum laudatur opus, Syr. c. 9 x 24. (Vulgata-Text: In manu artificium opera laudabuntur.) Das davor befindliche Blatt zeigt übrigens ein ebenfalls sehr qualitätvolles Bildnis von 1632, das auch ein Werk Strauchs sein dürfte. Leider ist die Temperamalerei durch feuchte Wischspuren sehr beeinträchtigt. Gotha, Museum, 8,} : 7 cm. Mahn, a. a. O., S. 67. Mahn, a. a. O., S. 77. Die beiden Bilder befanden sich 182} in der Sammlung von Derschau (Nr. 4}/46). Inv.-Nr. HG. 10841alb. Erworben 19}7. H. (mit aufgestelltem Bügelgriff) 19 cm, Dm. (von Ecke zu Ecke) 13,} cm. - Abb. in RDK Bd. V, Sp. 61. Die Maße der einzelnen Emailplatten schwanken zwischen },3-},} cm Br. und 9,}-9,8 cm H. - Die Emailglasur haftet auf einer Silberfolie von ziemlich unebener Oberfläche; eine zweite Silberfolie, einst von der darüber befindlichen Folie durch eine graugrüne Emailschicht getrennt, bildet die Unterseite und hält mit umgeschlagenen Rändern die emaillierte Platte.

8 9 10

Mahn, a. a. O., S. 66 oben, Abb. 82-89. Ri Nr. 4215 n-p. E. W. Braun: Ein unbekanntes Werk von Georg Strauch, in Zs.: Weltkunst, Jg. X X , Nr. 9 v. 1. 5. 1950, S. 1 f f . - Hier Abb. d. in Priv.-Bes. Rühmer, Tutzing, befindlichen Schraubflasche, die wie das Pariser Stück, achtkantig ist. H. 19,5 cm (m. aufgestelltem Griff). R3 Nr. 4215.

11

Diese Schraubflaschen treten meist paarweise auf. Auch das Stück im Cluny-Museum (Mahn, a. a. O., S. 66 oben) ist Teil eines Paares gewesen, denn es enthält nur vier personifizierte Tugenden, während die restlichen vier Tugenden sich auf dem verschollenen Gegenstück befunden haben müssen. Die Sprüche lauten auf der einen Flasche: Es kan der Reben - Ein Freuden Leben. - Den Menschen geben. Auf der anderen Flasche: Wo leres nicht sitzt. - Die Venus nicht hitzt. - Da Bacchus nicht schwitzt.

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12a Mahn, a. a. O., S. 66, Abb. 82-89. - Ob sich die vierkantige Büchse noch in sächsischem Privatbesitz befindet, konnte nicht ermittelt werden. 13 R3 Nr. 4215 p. - H. 21cm (m. hochgestelltem Bügel); H. (mit heruntergeklapptem Bügel) 17 cm, Durchmesser (v. Ecke zu Ecke) 12,5 cm. Abb. nach einer Zeichnung bei Kisa, A.: Aus dem Schloß zu Detmold, in: Kunstgewerbeblatt N. F. II 1891, S. 105. - Im Innern des Deckels befindet sich in Emailmalerei ein Medaillon mit einem Blumenstrauß in einer Vase. 14 H. 21 cm, Durchmesser 12 cm. R3 Nr. 4215 n. o. - Inv.-Nr. 1650/51. London (1959). H. 9,6 cm, Br. 5 cm. Email auf Kupfer. Unsigniert. - Gleich15 Kunsthandel zeitig tauchten an anderer Stelle im Londoner Kunsthandel zwei Platten auf, die ebenfalls der Werkstatt Strauchs entstammen. 15a H. (ohne die spätere Rahmung) 9,6 cm, Br. 5,5 cm. Das Schriftband trägt den gleichen Text. 16 Bei Hampe finden sich Hinweise, daß es in Nürnberg seit dem 2. Jahrzehnt des 16. Jhs. Juweliere gab, die mit Billigung des Rats Schmuck und Kleinodien verkauften, ohne selbst Hersteller zu sein (Ratsverlässe I 1237, II 2603). Sie mußten nur ihre Ware von auswärts beziehen Hampe, (Ratsverlässe II 2872, 2885, 2907). Über den Händler Merkurius Herdegen vgl. a. a. O., I, S. 475, Anm. 2 und R3 Nr. 3815, wo auch Arnold Wenck und Georg Schultheß erwähnt werden, die viel an auswärtige Fürstenhöfe geliefert haben; vgl. Joh. Voigt: Dt. Hofleben im Zeitalter der Reformation, Dresden (1927), S. 35 f f . , 96, 109, 171. - Weitere Goldschmiede, die wohl Händler waren und weder bei R3 noch in anderen einschlägigen Verzeichnissen genannt werden, sind Hans Thomas Fischer (1654), Hans Erhard Haller (1661) und Martin Nürnberger (1661, 1662, 1665, 1666). Auch ein Johann Wuttich (nicht identisch mit R3 Nr. 3945; gest. zw. 1650 und 1657) und dessen Witwe Anna Regina scheinen sich nur als Händler betätigt zu haben, wie aus den für diesen Zeitraum noch nicht ausgeschöpften Stadtrechnungsbelegen hervorgeht (Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 54 b 2). - Erinnert sei auch an Hans Hauer (1586-1660), der auf einem Stich als »Maler und Kunsthändler in Nürnberg« bezeichnet wird (Mitt. d. Germ. Mus. 1899, S. 117). 17

18

Der linke Buchstabe im Queroval der Marke könnte ein I sein. Vielleicht Johann Höffler, dessen Lebensdaten sehr gut passen würden. R3 Nr. 4238. - Inv.-Nr. 20771. H. (m. aufgestelltem Bügel) 21,5 cm, größter Durchmesser 12 cm. — Erworben 1922. Beide wurden sehr alt: Matheus Ströbel wurde 83jährig am 12. Juli 1691 begraben. Er trat am 21. Juni 1621 als Lehrling auf sechs Jahre in die Werkstatt des Felix Hillebrandt ein, war Meister seit August 1644 und wurde als Gold- und Silberarbeiter geführt. - Michael Schmidt wurde 95 Jahre alt, er wurde am 22. März 1663 beerdigt. Meister war er mit 60 Jahren im Juni 1628; in den Listen wurde er als Drahtarbeiter, im Totenbuch als Gold- und Pariser Arbeiter geführt (Lehrlingsrolle der Goldschmiede 1596-1639 in der Berliner Kunstbibliothek, Goldnach einer Abschrift von Theod. Hampe im Germ. Mus.; Stockbauer: Die Nürnberger und Silberschmiede von 1285-1868, Beil. z. Bayer. Gewerbezeitung 1893, S. 10 f.). Freundl.

19 20 21 22 23 23a

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Mitt. des Landeskirchl. Archivs Nürnberg. Aus Altersgründen kommt eher Ströbel in Frage. Außerdem trägt jede Flasche die Nürnberger Beschau und den T remoller stich. Domanig, Karl: Die deutsche Medaille, Wien 1907, Nr. 305, Taf. 33, S. 158. Durchmesser des Originals 39 mm, Durchmesser des Nachgusses 38,5 mm. Würzburg, Univ.-Bibl. Delin 712, 14-20, Kreide, weiß gehöht, auf blauem Papier, etwa 285 X 225 mm. Auf fol. 15 (Dialéctica) ist auch Rötel verwendet worden. Mahn, a. a. O., Abb. 76. Baumeister-Boll: a. a. O., S. 46, Kat.-Nr. 227-233. H. 14,5 cm; Durchmesser des Fußes 9 cm; Durchmesser der Kuppa 11,8 cm. - Herr Kons. Boesen hat das Objekt zur genauen Betrachtung vorgelegt, wofür ihm herzlich gedankt sei. Rosenborg Castle, a guide to the chronological collection of the Danish Kings, Copenhagen 1963, Nr. 1566. Mahn, a. a. O., Abb. 73/74. - Im German. Mus. HG 3566. Verf. begegnete diesem Pokal erst kurz vor der Drucklegung, so daß keine Zeit mehr war, den Vermutungen über den Auftrag zu diesem Pokal nachzugehen. Wien, Österr. Mus. f. Angewandte Kunst, Inv.-Nr. Em 289, H. 10,5 cm, Br. 6 cm. Musée Condé, Chantilly, »Clypeus Pietatis«, Nürnberg 1649, H. 9,5 cm, Br. 5 cm jeder Tafel. Die Emailtafeln sitzen etwas verschoben in der Fassung, was daher kommt, daß sie in der Rahmung ziemlich viel Spielraum haben. Mangels Goldschmiedemarken ist es nicht sicher, ob die Fassung nürnbergisch ist. - Schneeberger, Pierre-F.: Les peintres sur émail genevois au XVIIe et au XVIIIe siècle, in: 2s. Genava, 1958, S. 94, Abb. 13. Bosch, Hans: Die Nürnberger Maler, ihre Lehrlinge, Probestücke, Vorgeher usw. von 1596 bis 1659, in: Mitt. d. Germ. Mus. 1899, S. 184 f., Mahn, a. a. O., S. 57 f f . Mahn, a. a. O., S. 75 f f . , Abb. 127-145. Wien, Österr. Mus. f. Angewandte Kunst, Inv.-Nr. Gl 364. Der silberne Schraubverschluß trägt keine Goldschmiedemarken. Z. B. Mahn, a. a. O., Abb. 54, 90-92. Des . . . Ovidii. . . Metamorphoseon . . . durch . . . Wilhelm Bauer in Kupffer gebracht. . Wien 1641, Taf. 96. Eine neue Aufl. erschien 1688 in Nürnberg. Mahn, a. a. O., Abb. 94, Bauer, a. a. O., Taf. 75. Würzburg, Univ.-Bibl. Delin II, 6-13. - Baumeister-Boll, a. a. O., S 26 f f .

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R Ü D I G E R K L E S S M A N N • Z U M S P Ä T W E R K V O N J O H A N N B A P T I S T STRAUB U N D ZUR AUSSTATTUNG DER STIFTSKIRCHE I N WIESENSTEIG

Im Jahre 1704 wurde Johann Baptist Straub in Wiesensteig geboren, einem (damals bayerischen) Städtchen im Filstal, in dem schon sein Vater als Bildschnitzer tätig war. Die ehemalige Stiftskirche und heutige Pfarrkirche St. Cyriacus, in der Johann Baptist am 1. Juni getauft wurde, birgt sowohl Zeugnisse seines frühen Schaffens 1 als auch Werke seiner Spätzeit. Anfang und Ende der Entwicklung dieses Künstlers sind noch ungenügend erhellt. Naturgemäß stellen sich der Erforschung der Anfänge größere Schwierigkeiten entgegen, da das Werk seiner Lehrer und ihre verschiedenen Einflußkreise, von denen sich der junge Bildhauer erst allmählich abwendet, nicht ausreichend bearbeitet sind. Die Spätzeit bietet Probleme anderer Art. Hier gilt es, das Oeuvre gegen die Schüler und Nachfolger abzugrenzen, denen der alternde Künstler mehr und mehr Aufgaben anvertrauen und überlassen mußte. Unsere Kenntnis von der spätesten Schaffenszeit Straubs, in die (seit 1775) der Auftrag zur plastischen Ausstattung der heimatlichen Pfarrkirche fällt, ist neuerdings durch einen kurzen Hinweis von Josef Blatner um ein gesichertes und bemerkenswertes Kunstwerk bereichert worden: in der Wolfgangs-Kapelle des Ehemaligen Kollegiatsstifts St. Wolfgang im Kreise Wasserburg befindet sich die Skulptur einer »Schmerzhaften Maria«, die nicht nur Straubs Signatur, sondern auch das Datum 1777 trägt. Da das Werk - das späteste gesicherte überhaupt - bisher unbeachtet und unveröffentlicht blieb, sei es im folgenden vorgestellt und beschrieben (Abb. I ) 2 .

Der W o l f g a n g s - A l t a r - a u s der ersten H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s - z e i g t einen malerischen, von vier Säulen gebildeten Aufbau, in den als Seitenfiguren die Heiligen Petrus und Paulus aufgenommen sind. Während der Titelheilige durch eine kleine spätgotische Figur auf der Mensa repräsentiert wird, erscheint die von Strahlen umgebene Gottesmutter in einem Bilderrahmen, der - flankiert von dem inneren gewundenen Säulenpaar teilweise von einer goldenen Draperie verhüllt wird 3 . Die lebensgroße Skulptur, die noch ihre alte Fassung besitzt, zeigt Maria in einem königsblauen Mantel mit goldenen Borten über einem violett lasierten Silberkleid. Ihr H e r z ist von einem Schwert durchbohrt, doch ihre Züge und H ä n d e bleiben vom Schmerz unberührt. Stille und Verhaltenheit kennzeichnen ihre leicht zur Seite gebeugte H a l t u n g wie auch die sanft fließenden Falten ihres Gewandes. Bildhaft ausgebreitet steht sie vor der lichtdurchbrochenen Folie des Strahlenkranzes. Mit diesem Marientypus folgt Straub einer Tradition, die auf das berühmte Gnadenbild der Herzogspitalkirche in München zurückgeht, das Tobias Baader 1651 geschaffen hat. Das Schema seiner Haltung und Faltenführung hat Straub - wie auch andere Künstler 4 - nur wenig verändert übernommen, nicht aber seine säulenhafte Plastizität, seine lineare Schärfe und die Herbheit der Stimmung. Das Lyrisch-Weiche, das Träumerische und Wohlklingende des Marienbildes von Straub ist als Charakteristikum seiner spätesten Schaffenszeit anzusehen. Dieses wird deutlich im Vergleich mit der neun Jahre früher entstandenen lebensgroßen Marienfigur zur Rechten des Hochaltars in Berg am Laim 5 . Der herbe Ausdruck ihres Gesichts entspricht den erregten Gebärden ihrer H ä n d e und den heftigen Knickungen ihres Mantels. Freilich ist bereits hier bei aller Räumlichkeit der Skulptur Straubs Neigung zum bildhaften Ausbreiten seiner Gestalten erkennbar, eine Tendenz, die ja auch in der Gesamtkonzeption des Hochaltars in Berg am Laim spürbar wird". Ist diesen Figuren der späten sechziger Jahre noch ein reich bewegter, stets unruhiger Umriß eigen, so ist ein Jahrzehnt später die Madonna von St. Wolfgang mit fließender Geschlossenheit des Umrisses und äußerster Beruhigung der Komposition gestaltet. Im Entstehungsjahr dieses Werkes 1777 war Straub 74 Jahre alt und wie wir wissen, konnte er »altershalber« nur noch wenige seiner Aufträge selbst ausführen 7 . Die Dolorosa ist schon durch ihre ausgezeichnete Qualität als eigenhändiges Werk ausgewiesen, welche Besonderheit der Künstler in seinem hohen Alter mit seiner Signatur und Jahreszahl wohl ausdrücklich bezeugen mochte. Zwei Jahre zuvor hatte Straub den umfangreichen Auftrag für die Ausstattung seiner Heimatkirche in Wiesensteig erhalten. Mit Rücksicht auf sein Alter konnte er jedoch nur die Entwurfszeichnungen liefern und mußte die Ausführung seinem bewährten Mitarbeiter Joseph Streiter überlassen 8 . Die Ausstattung der an sich bescheidenen Kirche ist bisher im Hinblick auf die künstlerische Urheberschaft nur sehr oberflächlich betrachtet worden. Lediglich in der Beurteilung des Kruzifixes als zweifellos eigenhändiges Werk Straubs herrscht Einmütigkeit 9 . Dieses Kruzifix nimmt denn auch, wenngleich als eines